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Korrespondenz-Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg
XLVI. Jahrffan«: 1915
&>
Braunschweig
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn
19 15
Inhalt des XL VI. Jahrganges 1915.
Seite
Nr. 1 bis 4. Mitteilung des Vorstandes 1
Karl v. Spiess, Persönliche und unpersönliche Kunst 2
Nachruf auf Max Höfler 20
Nr. 5 bis 8. J. B. Loritz, Über die Herkunft des südbulgarischen Dolichocephalus 21
Hugo Mötefindt, Über Alter und Herkunft der Kultur des Speltes (Triticum spelta L.) .... 26
Max Stein, Ein mineralogisches Erkennungszeichen prähistorischer Feuersteinartefakte 30
Emil Fischer, Dionysos-Sabazios 31
L. Knoop, Rechter Calcaneus eines Paläolithikers aus dem Diluvium von Gr.-Winnigstedt im Kreise
Wolfenbüttel 34
Mitteilung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 34
Ernst Lentz, Methodische Siedeluugsforschung 35
Nr. 9 bis 12. Albert Kiekebusch, Das Aufsuchen und Feststellen vor- und frühgeschichtlicher Siede-
lungsspuren 37
Emil Fischer, Der Anteil des Slavischen im Rumänischen 56
Mitteilungen aus den Lokalvereinen:
Bonner Anthropologische Gesellschaft 62
Literaturbesprechungen 73
Außerordentliche Allgemeine Versammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft in Hamburg, am
18. Oktober 1915 74
Zum Gedächtnis: Prof. Dr. Eberhard Fraas und Hofrat Dr. med. Alfred Sehliz 74
Korrespondenz -Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
XLVI. Jahrg. Nr. 1/4 Jänpiien 12 Nummern. Jan. /April 1915.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw. tragen die wissenschaftl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren; e. S.16 des Jahrg. 1894.
Inhalt: Mitteilung des Vorstandes. — Persönliche und unpersönliche Kunst. Von Karl von Spiess. —
Hofrat Dr. Max Höfler. Nachruf.
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Mitteilung des Vorstandes
Infolge des Krieges, der viele Mitglieder unserer
Gesellschaft zu den Fahnen rief, fiel die allgemeine
Versammlung im Jahre 1914 aus, gelegentlich der die
Wahl eines zweiten stellvertretenden Vorsitzenden,
des Generalsekretärs und des Kassenführers statt-
zufinden hatte. Der Vorstand hat beschlossen, in
seiner bisherigen Zusammensetzung die Geschäfte
bis zur nächsten allgemeinen Versammlung weiter-
zuführen.
Der Generalsekretär
Thilenius
1
Persönliche und unpersönliche Kunst.
Von Karl v. Spiess, Wien.
(Mit 36 Abbildungen im Text.)
Vor einigen Jahren haben die kgl. preußi-
schen Kunstsammlungen zu Berlin1) eine Zier-
platte aus Bronze (Fig. 1) erworben, die dein
skj tb.isoh-sibiri8cb.en Kunstkreise zugewiesen wird
und eine menschliche Gestalt zwischen zwei
Tieren zeigt. Die Leiber dieser Tiere sind
lang, schmal, in der Mitte eingeknickt und
enden unten in Köpfe mit aufgesperrten Rachen,
in denen sich die Füße der Figur befinden.
Bei der oberen Endigung der Tierleiber ist es
nicht deutlich, ob es sich bloß um den ge-
ringelten Schwanz oder um Vogelköpfe handelt,
die nach dem Kopfe der Figur picken. Das
Fig. l.
Fig. 2.
Aus Neu-Guinea J) ist seit kurzem ein Schnitz-
werk (Fig. 3) bekannt, das seinem Aufbaue nach
mit der zuerst erwähnten Zierplatte große Über-
einstimmung zeigt. Auch hier ist ein mensch-
liches Wesen beiderseits von Tieren umgeben.
Die menschliche Figur ist durch Stilisierung
ungemein rückgebildet. Der Körper, der keine
Gliedmaßen hat, ist säulenförmig gestaltet und
geht an beiden Enden in einen Kopf aus, von
denen der obere kreisrund ist. Zu beiden Seiten
pickt oben und unten ein Vogel an dem Körper
dieses seltsamen Wesens. Die Körper der Vögel
einer Seite bilden eine Einheit, so daß sich da-
Fig. 3.
letztere scheint mir wahrscheinlicher zu sein.
Demnach würde es sich beiderseits um ein Tier
mit zwei Köpfen handeln.
Abgesehen von der Seltsamkeit der Tier-
gestalten und der steifen symmetrischen Haltung
der Glieder der menschlichen Figur ist es ohne
weiteres ersichtlich, daß es sich hier nicht um
die Darstellung eines iu der Natur beobachteten
Vorganges handelt.
Diese Zierplatte steht mit ihrem Vorwurfe
in diesem Kunstkreise nicht vereinzelt da.
Aspelin bildet unter den mordwinischen Alt-
sacheu 2) eine Bronzeplatte (Fig. 2) ab , die
gleichfalls eine menschliche Gestalt, von zwei
Tieren umringt, wiedergibt. Die Tiere besitzen
hier nur unterseits Köpfe, ihre Leiber sind mond-
sichelförmig gekrümmt. Von dem menschlichen
Wesen in der Mitte ist nur der Kopf und ein
Teil des Leibes deutlich zu erkennen, während
alles andere durch Stilisierung iu Linien auf-
gelöst ist.
x) Amtl. Ber. d. kgl. preuß. Kunstsammlg. 1907,
8. 57 ff., Fig. 49.
-i Aspelin, L'äge du Bronce, 8. 192, Fig. 901.
durch Übereinstimmung mit der Anordnung der
Tiere in Fig. 1 ergibt.
Sicherlich ist dieses Schuitzwerk aus Neu-
Guinea nicht als das Erzeugnis einer seltsamen
Laune aufzufassen, da schon nach dem bis jetzt
bekannten Material Darstellungen vom selben Auf-
bau daselbst ungemein verbreitet sein müssen.
S ch lagin häuf en 2) bildet ein beschnitztes Brett
aus Sigrin ab* das in allen Stücken mit Fig. 3
übereinstimmt. Wir finden zu beiden Seiten
zweier in gegensätzlicher Stellung übereinander
befindlicher menschlicher Gesichter je einen Nas-
hornvogel, wozu nur zu bemerken ist, daß die
obere Partie deutlicher als die untere heraus-
gearbeitet ist, die, obschon noch erkennbar, doch
stark verwischt ist.
Diese Bildwerke aus fernem Osten und Westen
stehen nicht vereinzelt da. Auf dem ganzen
1) v. Luschan, F., Zur Ethnographie d. Kaiseriu-
Augustaflussea, Baessler Arch. I, 2.
2) Schlaginliauf en , Ethnogr. Sammig. vom
Kaiserin - Augustafluß. Publikat. d. ethnogr. Abt. d.
Dresdener Museums, XIII, 2; S. 21.
3
Wege finden wir ähnliche Darstellungen. Sie
können nicht zufällig entstanden sein.
Hierher gehört die Darstellung der sume-
rischen Untenveltsgöttiu Ereskigal (babylonisch
Allatu) auf einem assyrischen Bronzerelief :)
(Fig. 4). Die Komposition zeigt mit Fig. 3 auf-
fallende Übereinstimmung. Die Gruppe befindet
sich in einem Halbmonde (Nachen), der an den
Enden Schwanz und Kopf eines Vogels hat. Mit
den Händen wehrt die Göttin zwei Schlaugen
ab, ihre Brüste werden von zwei Löwen bedroht.
Aus Ägypten kennen wir eine Darstellung
der Göttin Buto2), nach deren Brüsten zwei
Krokodile schnappen (Fig. 5). Die ganz unmög-
liche Stellung der Tiere zeigt, daß es sich hier
nicht um die Wiedergabe eines tatsächlichen
Geschehens, sondern um eine Darstellung mit
untergelegter Bedeutung handelt.
Von Vorderasien gelangten derartige Dar-
stellungen nach Griechenland und Italien, wie
Fig. 5.
mit den Händen nieder, indes zwei andere ihre
Schnäbel nach ihrem Kopfe richten ') (Fig. 7).
Das Bild erinnert seiner Gestaltung nach an
jeue Formen, wo die mittlere Figur von zwei
Tierpaaren oder zwei Doppeltieren flankiert
wird, zugleich aber macht es den Eindruck,
als wäre sich der Verfertiger über die rich-
tige Anordnung nicht mehr recht im klaren
gewesen.
Unmittelbar damit verwandt ist die Dar-
stellung auf einer Bronzeplatte aus Perm2)
(Fig. 8). Hier sind es wieder zwei Vögel, die
sich jederseits an den Kopf der Figur anlehnen.
Die ganze Art der Darstellung läßt vermuten,
daß sich auf ähnlichen Platten Gegenstücke zu
den Vögeln am Kopfe au den Fußenden be-
funden haben.
Auf einer korinthischen, in Italien gefun-
denen Vase3) sehen wir in konventioneller
Stellung eine herausgeputzte Frauengestalt mit
Fig. 6.
Q
Q O QCr-O Q OOOJO/
Fig. 8.
sie in der Frühzeit hellenistischer und etruski-
scher Kultur auftreten.
Radet hat in seinem Aufsatze Cybebe3), an-
läßlich eines in Sardes gefuudenen gebraunten
Tonstückes mit der Darstellung der nöxvia
drjgäv, 47 ähnliche Formen gräko - italischer
Herkunft beschrieben und abgebildet.
Zu den ältesten auf griechischem Boden ge-
fundenen Formen ist die Göttin mit Sichel-
flügeln4) eines Elfenbeinreliefs aus der untersten
Schichte unter dem Orthiaheiligtume in Sparta
(Fig. 6) zu rechnen, die zwei Vögel an den
Hälsen hält (8. Jahrh.). Auffallend sind die
vorn an der Brust angesetzten Flügel von aus-
gesprochener Halbmondform.
Auf einer weiteren Elf eubeinplatte aus Sparta
(Ende des 7. Jahrh.) hält eine Frauengestalt mit
heraushängender Zunge (Gorgo?) zwei Vögel
x) Revue archeologique. N. S., vol. 38.
2) Champollion, Pantheon egyptien.
3) Bibliotheque des universitös du midi XIII.
4) Poulsen, Der Orient und die frühgriechische
Kunst, S. 113, Fig. 119.
hittitischer Kopfbedeckung zwei Gänse an den
Hälsen packen (7. bis 6. Jahrh.). Seltsam be-
rühren die auf den Rücken aufgeklebten, sichel-
förmigen Flügel. Die Darstellung läßt deutlich
erkennen, daß der Künstler zwischen realistischer
und durch die Tradition festgelegter Manier
schwankte.
Im Vergleiche zu diesen Gestalten ist die
Göttin auf der Francois-Vase (Fig. 9) zu Chiusi4)
(6. Jahrh.?) eine raffinierte Modedame.
In Indien sehen wir die in griechischer Früh-
kunst als notvw &rjQä>v bezeichnete Gestalt
zwischen zwei Elefanten 6).
Bezeichnend ist, daß die genannte Gruppe
— wir können sie als die Gruppe zu Dreien be-
x) Poulsen, Dei Orient und die frühgrieohische
Kunst, Fig. 121.
s) Aspel in, Antiquites du Nord finno-ougrien,
Fig. 536.
3) Eadet, Cybebe, S. 24, Fig. 33.
4) Badet, Cybebe, Fig. 43 u. 44.
5) Maindron, L'ärt Indien, S. 185, Fig. 79. Elfen-
beinkamm , der als Gegenstand eines konservativen
Kunstgewerbes alte Formen erhalten zeigt.
1*
zeichnen — in der Kunst Vorderasiens nicht
verschwindet und in Europa überall dort auf-
tritt, ho wir es mit sogenannter Frühkuust zu
tun haben.
Mit Darstellungen auf alten persischen Siegel-
steinen, wo der Held auf zwei Greifen' stehend
zwei Löwen in der Luft hält und würgt, stimmt
ilas Muster des Viktor-Sudariums1) aus Sens
(Fig. 10), eines juugpersischen Stoffes des 7. bis
9. Jahrhunderts überein. Der Held hält hier
zu ei Löwen an der Kehle, die mit den aufge-
sperrten Rachen Dach seinem Kopfe schnappen,
indes zwei andere, in I >;u aufsieht gegebene
Löwen mit Tatzen und Rachen seine Füße ge-
packt halten. Denken wir uns die Körper der
Tiere entlang der beiden Seiten verschmolzen,
Fig. 10.
Fig. 9
hat der Held zu Begleitern Pferd, Hund und
Vogel, die seine Schicksale teilen und oft
geradezu Entsprechungen des Helden selbst
sind.
Iu der Füllung des Talismantores zu Bagdad ')
(Fig. 11) aus der Abbasidenzeit sehen wir eine
Gestalt mit Kreisnimbus und ausgestreckten
Armen zwischen zwei Drachen mit geöffneten
Rachen. Dasselbe Motiv tritt uns in Stein ge-
hauen als Füllung eines Rundfensters der Vor-
halle des Domes zu Trau2) (Fig. 12) wieder
entgegen, hier noch bewußter und deutlicher
gestaltet, die menschliche Gestalt, Jonas genannt,
zwischen zwei halbmondförmig gebogenen Dra-
chen, die seine Beine bereits in ihrem Rachen
haben.
Fig. 11.
Fig. 12.
so bekommen wir ein Bild, wie es die be-
sprochene Bronzeplatte des Kgl. Museums zu
Berlin zeigt.
Eine byzantinische Nachahmung des Viktor-
stoffes (8. bis 10. Jahrh.), die Cahier und
Martin aus dem Walburgisstifte zu Eichstätt2)
veröffentlicht haben, zeigt den Helden gleich-
falls im Kampfe mit zwei wilden Tieren, deren
Nacken er umschlingt. Auch hier wie in allen
weiteren Darstellungen sind die Mittelfiguren in
strenger Vorderansicht, die Tiere durchaus in
Profilstellung 3) wiedergegeben. Die letztere
Darstellung ist insofern von Interesse, als hier
als Begleiter des Helden Hund und Vogel er-
scheinen. Nach der mythischen Überlieferung
1) Falke, Kunstgeschichte der Seidenweberei,
Fig. 129.
-) Ebenda, Fig. 133.
3) Eine einzige Ausnahme finden wir auf der cine-
sischen Steinskulptur, Fig. 34, wo die zu beiden Seiten
der menschlichen Figur befindlichen Löwen in einer
Mittelstellung zwischen Vorderansicht und Profil, der
eine in % l'rofil, gegeben sind. Bezeichnenderweise
ist dieses Denkmal eine Übergangsform von der unper-
sönlichen zur persönlichen Kunst!
Dieselbe Gruppe — nunmehr ein Held mit
Rinderohren, der zwei Ungeheuer bändigt —
gewahren wir auf einem Kapitell3) der Kathe-
drale von Canterbury (Fig. 13) (Anfang des
12. Jahrb.).
Mit diesen wenigen Beispielen sei die unge-
mein weite Verbreitung im Westen, das immer
wieder sich wiederholende Auftauchen des
gleichen Motives aus ganz anders geartetem
Formenkreise nur skizziert.
Neu-Guinea ist nicht als die äußerste Grenze
der Verbreitung dieser Gruppe im Osten anzu-
sehen. Als v. Luschau das genannte Schnitz-
werk aus Neu-Guinea beschrieb, zog er zum
Vergleiche ein Schnitzwerk der Maori aus Neu-
seeland (Fig. 14) heran, wo ebenfalls Vögel mit
ihren Schnäbeln sich am Kopfe des Helden zu
schaffen machen 4).
*) Strzygowski, Amida, i'ig. 31.
ä) Ivekovic, Dalmatieus Architektur und Plastik,
II, S. 106.
3) Mohrmann u. Eichwede, Germanische Früh-
kuust, Fig. 109.
*) Schurtz, Urgeschichte der Kultur, Taf. bei S.548.
Schurtz hat in seinem Aufsatze über das
Augenornament1) auf vielfache Beziehungen hin-
gewiesen, die zwischen polynesischer und uord-
westamerikauischer Kultur bestehen. Jedenfalls
hat hier in alter Zeit eine Übertragung von
Kulturgut über den Ozeau nach Amerika statt-
gefunden. Näher und bequemer für Kultur-
übertragung nach Nordwestamerika von Westen
her ist der Landweg. Daß solche Übertragungen
in reichem Maße stattgefunden, davon zeugen
die Sprachen Nordwestamerikas und des nord-
östlichen Sibiriens, die alle zusammen in eine
große Sprachengruppe gehören, davon zeugen
die übereinstimmenden Züge iu den Mythen 2)
beider großer Gebiete.
Es wird daher nicht wundernehmen, die
Gruppe zu Dreien zunächst auch in Nordwest-
amerika anzutreffen. Auf einer aus dunklem
Schiefer geschnittenen Pfeife von den Aleuten3)
(Fig. 15) finden wir das genannte Motiv in einer
Ausbildung, die ungemein an die vorhin er-
wähnte neuseeländische Schnitzerei erinnert. In
der Mitte die menschliche Gesalt, nach deren
Haupte zwei Vögel mit langen Schnäbeln ihre
Köpfe richten.
Von Westasien übernommenes Kulturgut ist
aber nicht allein für Nordwestamerika festzu-
stellen, wir finden solches auch in Mittel- uud
Südamerika (Peru). So hat Bork4) nachge-
wiesen, daß die Bezeichnung der einzelnen Tage
des Monats außer bei den Majavölkern und
anderen Stämmen Mittelamerikas nur mehr bei
den iranischen und den durch sie beeinflußten
Völkern zu finden ist, wobei als letzter Aus-
gangspunkt das alte Elam anzusehen ist. Über-
einstimmung in Kalenderfragen mit elamischen
Verhältnissen geht über Mittelamerika bis nach
Peru. In Peru ist die Stadt Cuzco 5) ein riesiges
Tierkreisdenkmal. Um einen großen Sonneu-
tempel liegen im Kreise V2 Stadtteile, die ebenso
vielen Zeichen des Tierkreises entsprechen.
Was die Namen der Tierkreiszeichen betrifft,
so weisen sie teils unmittelbar nach Westasien,
teils mittelbar über Mittelamerika dorthin.
1) Schurtz, Das Augenornament usw., Abhandl.
d. säohs. Ges. d. Wissensch. XV, 8. 2.
2) W. Schultz, Vergleichende Bemerkungen zu
Sagen der nordpazifischen Indianer. Sitzuugsber. d.
Mitt. d. Anthropol. Ges. Wien 1911/12 (143 bis 147).
3) Wien. Naturhistor. Hofmuseum, ethnogr. Abt.-
Inv.-Nr. 11956. Die Abbildung wurde nach einer Photo-
graphie angefertigt, die ich der Liebenswürdigkeit des
Direktors der anthropol.-ethnogr. Abt., des Herrn Be-
gierungsrat Fr. Heger, verdanke.
4) F. Bork, Amerika und Westasien. Orientalisches
Archiv III, 1; Weitere Verbindungslinien zwischen der
Alten und der Neuen Welt. Orientalisches Archiv III, S. 4.
5) F. Bork, ebenda HI, 7.
Der bereits gelief erte Nach weis westasiatischen
Kulturgutes in Peru ist für die richtige Ein-
schätzung einer Darstellung auf einem alt-
peruanischen Tonkruge1) aus Chimbote (Fig. 16)
von größter Bedeutung. Wir sehen nämlich, daß
nicht nur die mythische Überlieferung, sondern
auch die darstellende Kunst hinsichtlich ihrer
Motive letzten Endes von Vorderasien beeinflußt
erscheint.
Die genannte Darstellung zeigt mit der Bronze-
platte des sibirisch - skythischeu Kunstkreises
(Fig. 1) und dem Schnitz werke aus Neu-Guinea
(Fig. 3) derart weitgehende Übereinstimmung,
daß es sich in diesen drei Fällen nicht jedes-
mal um ein Neuschaffen, sondern nur um ein
Zurückgreifen auf gemeinsame alte Überlieferung
handeln kann.
Wir wollen bei der peruanischen Darstellung
zunächt vom Helme der menschlichen Gestalt
und seiner Zier absehen. Der Held wehrt mit
Fig. 15.
Fig. lfi.
den Händen zwei Tiere ab, deren Natur durch
starke Stilisierung kaum zu erkennen ist, jedoch
scheint es sich um Vögel zu handeln. Merkwürdig
ist nun, daß jedes dieser vogelartigeu Tiere zwei
Köpfe hat, einen, der nach aufwärts, und einen,
der nach abwärts gerichtet ist. Die Füße der
menschlichen Gestalt stehen in den aufgesperrten
Rachen der nach abwärts gerichteten Köpfe.
Wenn wir die drei genannten Darstellungen
miteinander vergleichen, so linden wir, daß die
peruanische mit der sibirisch -skythisclien die
größte Übereinstimmung aufweist. Beide Male
in der Mitte der Held, der mit ausgestreckten
Armen zwei Tiere mit Doppelköpfen abwehrt,
während seine Füße in den aufgesperrten Rachen
der unteren Köpfe sich befinden.
Bei dem Schnilzwerke aus Neu-Guinea macht
sich eine starke Abwandlung in der Form inso-
weit geltend, als von der Gestalt in der Mitte
nur mehr der Kopf übrig geblieben ist, während
der Leib zu einem Pfeiler zusammenschrumpfte.
Die Vögel zu beiden Seiten der Figur dagegen
zeigen hinsichtlich ihrer Anordnung deutliche
Beziehung zu den Tieren der peruanischen Dar-
stellung2).
J) Baessler, Altperuanische Tongefäße, Fig. 275 a.
2) Am Ende der Formenreihe möchte ich der Christus-
darstellungen auf dem Werdener-Beliquienkästchen(Zeit-
Weitere Klarheit über das Wesen und die
Bedeutung der Gruppe zu Dreien werden wir
erhalten, wenn wir durch den Vergleich fest-
stellen, welche Veränderungen und Abwand-
lungen im ganzen Verbreitungsgebiete auftreten.
Ich beginne mit Gürtelschnallen und Zieraten
aus der Völkerwanderungszeit. Auf einer
st alt in der Mitte der Tiere schon sehr ver-
kümmert, im Gegensatze zu anderen Fundstücken
[Schnalle von Lavigny1) und von Cossouay 2)],
wo sie wohl ausgebildet zwischen zwei Löwen
steht, die au ihren Füßen lecken (genannt Daniel
in der Löwengrube). Auf der Gürtelschnalle
von Wallis ist der Körper nur in Form eines
Pig.i;
Fig. 18.
IV'. 2i>.
Piß. 19.
Schweizer Gürtelschnalle aus dem Kanton
Wallis1) (Fig. 17) ist die menschliche Ge-
schrift f. christl. Kunst 1901, U.Bd.: W. Effmauu,
Kruzifixus, Christus, Engeldarstellungen am Werdener-
Eeliquienkasten) Erwähnung tun , die als nordische
Arbeit angesehen und für das 8. bis 9. Jahrhundert
angesetzt werden. Ich halte mich zunächst an jenes
Beintäfelchen, das den auferstandenen Christus in recht
ungelenker Art mit erhobenen , in den Ellenbogen-
gelenken abgebogenen Armen und dem Beschauer zu-
gekehrten Handflächen wiedergibt (Fig. 18). Drei Strah-
len gehen von dem Haupte aus. An dem oberen picken
zwei Greif en. Zu beiden Seiten der Christusgestalt sehen
wir zwei seltsame , langgestreckte Fabeltiere bis zur
Hüftenhöhe emporreichen , die Tatzen gegen Leib und
Schenkel gerichtet. Auf einer Engeldarstellung ähn-
licher Art auf demselben Kästchen finden wir längs der
Beine ebenfalls zwei Tiere, von welchen das eine den
Kopf gegen die Füße nach abwärts, das andere den
Kopf nach aufwärts gekehrt hat. Das läßt im Zu-
sammenhange mit den vorhergehenden Darstellungen
und den bereits bekannten vermuten, daß ursprünglich
jederseits ein Tierpaar vorhanden war der Ausge-
staltung, daß das eine Tier den Kopf nach oben, das
andere den Kopf nach unten gerichtet hatte. Diese
Darstellung wäre dann von demselben Aufbau wie das
Bild auf dem Viktorsudarium (Fig. 10). Die Vögel, die
an dem einem Strahle picken, erinnern wieder unge-
mein an die gleiche Darstellung auf dem altperuani-
schen Tonkruge (Fig. 16) (die Ähnlichkeit ist keine
zufällige oder verwunderliche, da hinter beiden Dar-
stellungen die gleiche mythische Überlieferung steht.
Es ist nicht zu verkennen, daß in den "Werdener -Dar-
stellungen christliche und mythisch-heidnische Elemente
zusammengeströmt sind) und finden sich in ähnlicher
Beziehung auch auf dem Elfenbeintäfelchen von Sparta
(Fig. 7). Sicherlich gehört somit die genannte Christus-
darstellung iu die hier angeführte Formenreihe hinein.
Die Datierung dürfte zutreffend sein. Ein Abglanz der
sogenannten Völkerwanderungskunst ist noch über diese
Darstellung gebreitet Es dürfte nicht leicht fallen, aus
späterer Zeit — von volkstümlicher Kunst abgesehen, in
der sich oft in geradezu wunderbarer Weise uralte Motive
erhalten haben — ein von so merkwürdigen Motiven
durchtränkti-s Werk ähnlicher Art ausfindig zu machen.
*) Salin, Iüp altgermanische Tierornamentik, S.:ioS,
Fig. 664.
Schleifenbandes vorhanden; die Löwen
trachten hier den Kopf zu verschlingen. Auf
einem Ortbande aus Schleswig8) (Fig. 19) ist
nur mehr der Kopf allein erhalten, der zwischen
den weit geöffneten Rachen von zwei Unge-
heuern liegt. Die gleiche Bildung, den Kopf
zwischen den Rachen zweier Tiere, finden wir
weiter auf einem Ortbande aus Norwegen4) und
einem solchen aus der Provinz Naraur6). Auf
Gürtelbeschlägeu aus Italien und dem Küsten-
lande findet sich an Stelle des menschlichen
Hauptes eine Scheibe. Löwen- und katzen-
artige Raubtiere flankieren die Scheibe (Fig. 20)
auf den Bronzestücken, die sich im Museum zu
Aquileia") befinden. Auf dem Bronzezierate aus
Italien 7) sind es Hasen, während die Zugehörig-
keit der Tiere auf dem Fundstücke aus Dal-
matien 8) nicht festzustellen ist.
Das Motiv „Scheibe zwischen zwei Tieren."
kennen wir aus viel früherer Zeit. Auf einer
Brouzeschüssel der Hallstattzeit9) (Fig. 21), um
nur ein Beispiel anzuführen, sehen wir die Scheibe
zwischen zwei euteuartigen Vögeln, die ihr mit
den Schnäbeln zugekehrt sind.
'! Forrer, Beallexikon, Taf. 264, 1.
'-) Ebenda, Taf. 264, 3.
s) Salin, a.a.O., S. 166, Fig. 394.
4) Ebenda, S. 126, Fig. 340.
6) Ebenda, S. 110, Fig. 290.
") Biegl, Die spätrömische Kunstindustrie nach
den Funden in Österreich-Ungarn. Abbildung nach
eigener Aufnahme.
7) Salin, a.a.O., S. 127, Fig. 343.
8) Ebenda, S. 127, Fig. 343.
9) Sacken, Hallstatt, Taf. XXIV, Fig. 6. Das
gleiche Motiv auf einem Bronzeringe bei L i n d e n s c h m i t,
II, 13, 141.
Aus gleicher Zeit und vom selben Fundorte
kenneu wir eine Schüssel1), au deren Rande
zwei kleine Vögel sitzen. In diesem Falle stellt
das Rund der Schüssel die Scheibe vor, zu deren
beiden Seiten sonst die Vögel stehen2); das
Ganze entspricht dem oft sich wiederholenden
Ziermotiv3): Scheibe zwischen paarigen Vögeln.
In einer Ausbildung, die unmittelbar an die
der Hallstattzeit erinnert, rinden wir das gleiche
Motiv „Scheibe zwischen paarigen Vögeln" auf
neupersischem Silberschmucke (Ohrringen)4), auf
einer in Südrußland gefundenen alten Silber-
schüssel5) und dann in der russischen Bauern-
kunst auf Holzschnitzereien 6) (Fig. 22) häutig.
Dasselbe Motiv erscheint dann wieder auf
Zierplatten venetiauischer Paläste 7) (Fig. 23) des
12. bis 14. Jahrhunderts. Zwei Vögel picken an
einer Kugel, die hier als das Ende eines Baumes
Links und rechts davon sieht man zwei Tiere
mit gegeneinander gekehrten Köpfen, die schon
stark durch Stilisierung umgeformt sind. Die
Köpfe sind noch als die von Vögeln zu erkennen,
während die Leiber lang ausgedehnt und in ein
Band aufgelöst sind.
An Stelle des Menschenhanptes ist ein Rinder-
kopf getreten. Daß wir es hier mit einer weit
verbreiteten, durch Tradition festgehaltenen Kom-
position zu tun haben, geht aus einem Bilde auf
einer boiotischeu Vase1) (Fig. 24) des 6. Jahrb.
v. Chr. hervor, das dieselbe Gruppe in gleicher Zu-
sammenstellung zeigt: ein Rinderhaupt zwischen
zwei Gänsen.
Bei dem ungemein starken Hange der Ci-
neseu jener Zeit, alles Bildliche in Linien auf-
zulösen, wurden, wahrscheinlich noch begünstigt
durch die schwindende Kenntnis der Bedeutung
Fig. 22.
Fig. 23.
Fig. 24.
Fig. 25.
Fig. 27.
gedacht ist. Das Ganze ist in ein Kreisrund
komponiert, von strenger Stilisierung. Die Leiber
der Vögel sind halbmondförmig gebogen.
Die als Taotie- bezeichnete Tierfratze, die
auf den alten cinesischen Bronzen so ungemein
häufig anzutreffen ist, geht ebenfalls auf die
Gruppe zu Dreien zurück.
Auf einem Brouzegefäße der Schangdynastie
im Museum Cernuschi (Nr. 14) ist die Gruppe deut-
lich ausgeführt. In der Mitte befindet sich ein
Kopf mit Hörnern und langen schmalen Ohren,
deutlich erkennbar als ein Rinder- (Büffel-)Kopf.
x) Sacken, Hallstatt, Taf. XXIV, Fig. 4.
2) Ähnliche Gefäße : Sogenannter Becher des Nestor
(Forrer, Reallexikon, Taf. 137, 1), silberner Becher,
aus dem die Chewsuren das heilige Bier tranken (Radde,
Die Chewsuren und ihr Land, S. 108), ostgotische Schale
mit zwei leopardartigen Tieren aus dem Schatze von
Petreossa (Forrer, a.a.O., Taf. 268, 10). In meinem
Aufsatze: Die Behälter des Unsterblichkeitstrankes,
Mitt. d. Anthrop. Gesellsch. , Wien 1914, sind sie als
Rauschtrankbehälter charakterisiert.
3) Daß es kein bloßes Ziermotiv ist, daß es sich
um eine symbolische Darstellung handelt, betont auch
Dechelette, Manuel d Archäologie ; II Archäologie
celtique ; L'äge du Bronce, S. 445.
4) Das Budapester Ethnograph. Museum besitzt eine
hübsche Kollektion davon.
5) Smirnow, Argenterie Orientale, Fig. 152.
6) Bobrinsky, Russische Holzarbeiten, Taf. 13, 5.
7) Nationalmuseum München.
tQ_^*V^
dieser Tiergruppe, allmählich aus den zunächst
fest umrisseneu Gestalten Ornamente, die den
ursprünglichen Befund unmöglich mehr erkennen
lassen. Für die Formwandlung dieser Gruppe
(Fig. 25) kommen zwei verschiedene Wege in
Betracht. Entweder bildet sich der mittlere
Teil, der Kopf des Rindes, zurück und fällt
schließlich ganz aus 2) (Fig. 26), oder die Vögel
verkümmern, entarten schließlich zu kleinen orna-
mentalen Schnörkeln (Fig. 27), in welchen man
ohne Vergleichsmaterial niemals mehr die Vogel-
gestalt vermuten würde 3) , und verschwinden
schließlich ganz.
Die letztere Art der Formwaudlung trat iu
den meisten Fällen ein und führte zu der Tier-
fratze, die als Taotie allgemein in der Literatur
bekannt ist.
:) Moriu, Le Dessin des animaux en Grece, S. 140.
In der koptischen Kunst der Widderkopf zwischen einer
Gans und einem Pfau. Kapitell, 4. bis 5. Jahrh. n. Chr.,
bei Strzygowski, Koptische Kunst, Nr. 7345.
2) Beispiele dafür bei Muth, Germanische und
chinesische Tierornamentik. Zunächst auf Taf. 22,
Fig. 189, 190, dann in der Figurenerklärung zu Taf . 22
die Bilder der zwei einander zugekehrten Vögel, zwischen
welchen das Mittelstück vollständig ausgefallen ist.
3) Muth, 1. c. In der Figurenerklärung zu Taf. 22
der Rinderkopf zwischen den zwei Vögeln; Taf. 22,
Fig. 299, der Tierkopf mit zwei geschlossenen Zierlinien
rechts und links, als Rudimente der paarigen Vögel.
Die Weiterbildung der Gruppe zu Dreien in
der Richtung, daß an Stelle des Hauptes die
Scheibe tritt, findet sich in Cina gleichfalls. Im
Heft 8S der Kokka ist eine Scheibe (eherne
Teinpelpauke) mit einem Triskeles in der Mitte
und acht solchen Figuren am Rande abgebildet,
die von zwei Drachen umrandet wird. Im Heft 97
derselben Zeitschrift linden wir die gleiche
Gruppe ]). Diesmal ringeln sich zu beiden Seiten
der Scheibe je zwei Drachen empor. Das Ganze
ruht auf dem Rücken eines Löwen. Die Kom-
position zeigt weitgehende Übereinstimmung mit
dem Hilde der .sumerischen Unterweltsgöttin
Ereskigal. An die Stelle der Göttin ist die
Scheibe getreten, die zwei Paare von Tieren
werden hier durch Drachen ersetzt. Ereskigal
kniet auf dem Rücken eines Pferdes, hier ruht
die Scheibe mit den Drachen auf dem Rücken
eines Löwen.
Die Scheibe oder vielmehr die Kugel zwischen
zwei Drachen ist ein in der früheinesischen
Kunst ungemein verbreitetes Motiv.
Auf dem Gebälke der Ehrenpforte in der
großen Tempelanlage der Göttin Kuan Yin2)
Fig. 28.
auf P'u-t'o-shan sehen wir die Scheibe zwischen
jederseits zwei Drachen (Fig. 28), von denen in-
folge von Verwitterung die zwei äußersten nahezu
unkenntlich sind, in derartiger Ausbildung, daß
das Motiv als direkte Parallele zu den Zierstücken
der Völkerwanderungskunst erscheint. Ein an-
deres Mal wieder gewahren wir auf dem Sockel
einer Säule3) eine kleine Scheibe, von einem
halbmondförmigen Träger umgeben — die Dar-
stellung gemahnt an die Vereinigung von Voll-
nioudscheibe und Sichel bei den alten Ägyptern — ,
im Innern eines kleineu Tempels, zu dessen
Seiten zwei Drachen mit aufgerissenen Rachen
und erhobenen Pranken lagern. Die Scheibe
wird von den Cinesen als Perle bezeichnet und
soll ein Symbol der Vollkommenheit sein. Es
ist klar, daß es sich hier um eine nachträgliche
Deutung und nicht um eine ursprüngliche Be-
deutung handeln kann. Der dem weltlichen Ge-
triebe abgeneigte Sinn des Buddhisten hat hier
nach seiner Art und Auffassung dem Bilde eines
*) Sollten die beiden Stücke auch in Japan ange-
fertigt „worden sein, so weist doch der Stil unbedingt
nach Cina.
2) Boerschmann, Die Baukunst und religiöse
Kultur der Chinesen I, S. 47, Fig. 40.
3) Ebenda, S. 87, Fig. 86.
tatsächlichen Geschehens eine ungreifbare, blut-
leere Vorstellung als Deutung unterschoben. Der
buddhistische Priester wird uns die Deutung
einer auf uralter, ihm fremder Tradition aufge-
bauten Komposition nicht zu geben vermögen,
das könnte lediglich durch das naivere Volks-
bewußtsein geschehen.
Wie innerhalb eines und desselben Bildwerkes
in der Gruppe zu Dreien die mittlere Figur durch
die Scheibe ersetzt werden kann, das sehen wir
deutlich an einem Schnitzwerke aus Timor1),
Fig. 29.
wo zu oberst eine menschliche Gestalt zwischen
Tieren zu sehen ist, während unterhalb derselben
paarige Vögel nach einer Scheibe picken. Wie
sehr es sich in allen diesen Fällen um ein durch
die Tradition geheiligtes Motiv handelt, ist dar-
aus ersichtlich, daß wir in Neu - Pommern 2)
auf Kanus Darstellungen von gleicher Form
und Ausbildung wie auf Timor finden, nur
sind es hier Kasuare, die nach der Scheibe
picken.
Hoffmanu3) hat in seiner Arbeit über die
Inuit Nordamerikas ein Knochenstück (Fig. 29)
abgebildet, auf welchem ein rundes menschliches
Haupt zwischen zwei langgestreckten Robben
eingeritzt ist. Dieses Stück ist ein Beleg für
die weito-ehende Wanderung derartiger Motive.
Fig 30
Auf Pauken der Ilaida iu Nordwestamerika4)
(Fig. 30) finden wir die Scheibe — von den
Eingeborenen als Mond bezeichnet — und da-
neben den Halbmond dargestellt, beide mit ein-
gezeichneten kleinen Gestalten. Wenn wir diese
Zeichnungen mit der Darstellung auf der ge-
schnitzten Wand einer hölzernen Schüssel der
Tlinkitindianer5) (Fig. 31) vergleichen, so fällt
*) Loeber, Timoreesch Snijwerk en Ornament.
s'Gravenhage 1903.
ä) Meyer, Die Schiffahrt bei den Bewohnern von
Vuaton (Neu-Pommern). Baessler, Archiv I, Taf . XII,
Nr. 22.
3) Hoffmann, The Graphic Art of the Eskimos.
(Report of the U.S.Museum f. 1895.) Taf. 32, 7.
*) Seier im Globus Bd. 61, S. 332, Fig. 18.
6) Krause, Die Tlinkitindianer, Taf. I, Fig. 4.
die große Übereinstimmung auf. In der Mitte
haben wir das Kreisrund und zu beiden Seiteu
ähnliche Ovale. Der Unterschied zur vorher-
gehenden Darstellung besteht darin, daß das
Kreisrund und die Ovale hier nur als Ge-
sichter gedacht, Körper und Gliedmaßen nicht
hineiugezeichnet, sondern außerhalb derselben
wiedergegeben sind. Während die mittlere Figur
mit ihren Anhängen noch deutlich zu erkennen
ist, sind die in Profilstelluug gedachten seit-
lichen Figuren — spitze Köpfe mit einem Auge
— stark stilisiert und wären, wenn sie als Einzel-
bildungen aufträten, kaum erkenntlich.
Stellen wir diesen zwei Darstellungen noch
die Tonpfeife von den Aleuteu (Fig. 15) zur
Seite, so wird es deutlich, daß in allen Fällen
die Art der Darstellung und der zugrunde
liegende Naturvorgang der gleiche ist, nämlich
der Phasenwechsel des Mondes.
So ähnlich diese Bildwerke untereinander
sind, so grundverschieden ist doch die Um-
setzung des Geschauten ins Bildhafte. Bei der
Haidazeichnung ist der Umriß des Naturobjektes
beibehalten und das „Erschaute", die Gestalten,
als leibhaftiger Mann im Monde hineiugezeichnet.
Lassen wir die Ausfüllung der Fläche fort, so
erhalten wir die tatsächliche Gestalt des Mondes,
die Scheibe und die Sichel. Bei der Schnitzerei
der Tlinkit ist aus dem zeitlichen Hintereinander
ein räumliches Nebeneinander geworden, die auf-
einander folgenden Phasen siud nach Art primi-
tiver Künstler *) gleichzeitig dargestellt (auf-
nehmender, Vollmond und abnehmender Mond),
Körper und Gliedmaßen als Anhänge der Mond-
gestalt gegeben.
Am meisten „Erschautes", Gedachtes und
Abgeleitetes, und am wenigsten „Geschautes",
direkt Beobachtetes gibt die vorher beschriebene
Pfeife von den Aleuten.
Die drei Stücke sind insofern von Bedeutung,
als sie zeigen, wie das Geschehen am Monde
das eine Mal getreu wiedergegeben wird, das
andere Mal nach eingetretener Deutung als ein
dramatischer Vorgang zwischen bestimmten Ge-
stalten mit gesetzmäßiger Anordnung dargestellt
wird. Aus der Mondscheibe wird eine mensch-
liche Gestalt mit einem runden Gesicht, umge-
kehrt kann diese Gestalt in einer anderen Dar-
stellung wieder durch die Scheibe ersetzt werden.
Was wir bei der Völkerwanderungskunst beob-
achten konnten, die Umwandlung der mensch-
lichen Gestalt in eine Scheibe (bzw. umgekehrt),
das sehen wir in gleicher Weise in Nordwest-
amerika vor sich gehen. Nun wird es immer
deutlicher, daß alle Darstellungen der Gruppe
zu Dreien infolge einer inneren Notwendigkeit
eine natürliche Einheit bilden.
Auf Tongefäßen aus Alt-Mexiko ') findet sich
die Zeichnung eines drachenartigen Tieres, das
eine Scheibe verschlingen will, in einer Aus-
bildung, die auch hinsichtlich der Stilisierung
an cinesische Vorbilder erinnert. Bis nach Peru
läßt sich das gleiche Motiv verfolgen. Auf
dem Mouolithtore der Steinpfeilerumfriedung
von Tiahuanaco 2) kehrt elfmal ein Haupt von
paarigen Vögeln umgeben wieder, von denen
immer zwei Paare zugekehrt, zwei Paare abge-
kehrt sind.
Die Beispiele, die hier angeführt wurden,
geben kaum eiuen Begriff von dem Reichtume
des Stoffes. Wo immer man in diese Art primi-
tiver Kunst Einblick nimmt, überall wird man
die beschriebene Gruppe vorfinden. Es erscheint
zunächst unwahrscheinlich, an so weit ausein-
ander liegenden Orten, im selben Verbreitungs-
gebiete zu ganz verschiedenen Zeiten, stets die
gleichen Formen anzutreffen. Eine innere Not-
wendigkeit muß hier vorliegen, aus der heraus
die Menschen immer wieder zur Darstellung
desselben Motives schritten. Dem Motiv muß
eine bestimmte Bedeutung zugrunde liegen, sonst
könnte es nicht so oft von den verschiedensten
Völkern dargestellt worden sein.
In Nr. 3889 der London-News (Vol. 143) ist
folgende Szene aus einem in Alt-Ciua üblichen
Neujahisspiele abgebildet: Ein Mann schwingt
eiue Kugel, die zwei zu beiden Seiten befindliche
Drachenmasken zu verschlingen suchen. Die Szene
ist das getreue Abbild des im alten Cina üb-
lichen Motives der Scheibe zwischen den Drachen.
Wenn wir nun hören, daß im Spiele der Ball den
Mond3) bedeutet, der von feindlichen Mächten
bedroht und verschlungen wird, um alsbald in
neuer Schönheit wieder zu erstehen, so haben
wir damit mehr als eine Andeutung für das
Verständnis der wahren Bedeutung des genannten
Motives gewonnen.
Daß hier eiue Szene aus einem Spiele zur
Erklärung von Bildwerken herangezogen wird,
enthält nichts Unerlaubtes, da Spiele, auch Kinder-
x) Wickhoff u. Härtel, Die Wiener Genesis, S. 6.
1) Strebe], Über Tierornamentik auf Tongefäßen
aus Alt-Mexiko, Taf. XIII, Fig. 129.
2) Stübel u. Uhle, Tiahuanaco, Taf. 17.
3) Wenn, wie mir gesagt wurde, in manchen Gegen-
den Cinas Drachen und Ball als Personifikation von
Cina und Japan angesehen werden, so ist es klar, daß
hit-r an Stelle der alten, nicht mehr gewußten Bedeu-
tung eine neue Deutung gesetzt wurde. Das Spiel ist
seiner ganzen Art und dem Stile der Masken nach
zweifellos älter als die maritime Rivalität Cinas und
Japans.
10
spiele, als Bewahret' uralter mythischer Vor-
stellungen bekannt sind '). Vielleicht sind sie
noch mehr, die Reste der ältesten Form des
\l\ thos.
In Nordwestamerika übrigens sahen wir die
Gruppe in einer Ausbildung, aus der ohne wei-
teres— von den übereinstimmenden Erklärungen
der Eingeborenen ganz abgesehen — ihre wahre
Bedeutung erkannt werden konnte.
Dali die der Gruppe ZU Dreien ursprünglich
zugrunde liegende Idee auf das Geschehen am
Monde abzielt, das können wir übrigens aus ge-
wissen Bildwerken direkt ablesen:
In Alt-Peru wurde in der Nasenscheidewand
häufig ein Goldamulett von Halbmondform ge-
tragen. Neben den goldenen Halbmonden gab
es aber auch Amulette reicherer Ausgestaltung2).
Ein Halbmond in der Mitte wird von zwei stili-
sierten Vögeln (Fig. 3'2), die ihre Schnäbel gegen-
einander kehren, flankiert. Diese Amulette /.eigen
eine ganze Reihe von Formwandlungen. Die
Vögel können so klein werden, daß sie nur mehr
in Andeutung vorhanden sind, der Halbmond
schließt sich zu einer Scheibe. An anderen
Stücken wieder nehmen die Vögelköpfe an Größe
zu und die Stelle des Halbmondes nimmt eine
kleine Scheibe ein.
Hierher gehören auch die paarigen Vögel,
die an der halbmondförmigen Helmzier des
Helden auf dein peruanischen Tongefäße (Fig. 16)
picken. Die Anbringung dieses Motives gibt
uns zugleich einen Einblick in den Stil solcher,
unserem gauzen Empfinden nach fremdartiger
Kunstwerke, für welche Wiederholung, Häufuug
und Durchdringung ähnlicher Motive besonders
Fig. 32.
Fig. 33.
charakteristisch ist. Wir haben hier zwei ähn-
liche Motive übereinander und entnehmen, daß
dem in der Mitte befindlichen Helden unten
der Halbmond oben entspricht. Der Held
unten ist also identisch mit der Mondgestalt
oben, nur ein anderes Bild derselben.
Die Mondgestalt ist das Geschaute, die
Gruppe mit der Menschengestalt das Ergebnis
der Umwandlung des Go schauten in das Er-
J) Näheres bei A. Jeremias, Handbuch der alt-
orientalischen Geisteskultur, S. 303: „Die antiken Spiele
sind sämtlich kosmisch-kalendarisch...."
-) Anitl. Ber. d. Kgl. Kunstsammlungen z. Berlin,
1911. Seier, Neue Erwerbungen von Goldschmuck aus
rika.
schaute. Die beiden Darstellungen überein-
ander verhalten sich zueinander wie Beobach-
tung und Deutung.
Amerika steht mit Bildungen dieser Art
lacht vereinzelt da, wir finden sie auch in der
Alten Welt.
Hin Silberanhängsel vorptolemäischer Zeit aus
Luxor in Gestalt eines Doppellöwen (Fig. 33)
zeigt über dem Rücken des Tieres die Mond-
scheibe und die Mondsichel '). Auf einem mili-
tärischen Abzeichen 2) (Fig. 34) spätrömischer
Fig. 34.
Fig. 35.
Zeit sehen wir den Halbmond zwischen zwei
nach entgegengesetzten Seiten schauenden Tieren.
Auf einem sarazenischen Gewebe s) (14. bis
15. Jahrh.) finden wir den Halbmond, dessen
dunkle Ergänzung zugleich angedeutet ist,
zwischen zwei anspringenden Löwen (Fig. 35),
wo sonst gewöhnlich die Scheibe zu sehen ist.
Wenn wir kurz zusammenfassen, so haben
wir es hier mit Kunsterzeugnissen zu tun, deren
gleiche Formgebung auf die Gleichheit des Ge-
dankens zurückzuführen ist, den sie verkörpern.
Parallel den Kuustformen geht die mythische
Überlieferung der Völker, die in den wesent-
lichen Motiven ebenfalls völlige Übereinstim-
mung zeigt. Die Grundlage der Mythen aber
erweist sich als gleich mit der der hier be-
sprochenen Motive einer primitiven Kunst. Diese
wie jene spiegeln, wo älteste unverderbte Über-
lieferung im Spiele ist, lunare Vorgänge wieder.
Der gemeinsame Schatz an Kunstformen und
das gemeinsame Gut mythischer Überlieferung
sind demnach der Ausdruck einer geschlossenen
Weltanschauung, einer Weltanschauung, die von
der unsrigen völlig abweicht.
Die Weltanschauung, in der wir aufgewachsen
sind, die unser ganzes Denken ausfüllt, möchte
ich als die wissenschaftliche bezeichnen. Als
deren Begründer gelten die Griechen , die bei
ihren Untersuchungen nicht von Voraussetzungen
übersinnlichen Charakters ausgingen, sondern an
das Zuuächstliegende, die umgebende Natur,
J) Museen z. Berlin, Mitteil. d. ägypt. Abteil. Bd. I.
Agypt. Goldschmiedearbeiten, Fig. 78.
2) Otto Seeck, Notitia dignitatum, Taf. VIII.
8) Fischbach, Die wichtigsten Webeornamente,
Taf. 103 b.
11
anknüpften. Schon die Vertreter der inilesi-
schen Naturphilosophie ringen um eine auf
Beobachtung gegründete Naturerkenntiiis. Pro-
tagoras spricht später den stolzen Satz aus:
Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Es ist
klar, daß die darstellende Kunst, die solchem
geistigen Nährboden entsproß, verwandter Art
sein mußte. Der Leib des Menschen als Er-
gebnis körperlicher und geistiger Pflege ist das
höchste Ziel des Kunstschaffens.
Während bis zu dieser Zeit die Menschen
als armselige Schatten erscheinen, die kommen
und gehen, während die ägyptischen Könige
ihr ganzes Leben lang, das ihnen als ein flüch-
tiges Nichts erscheint, ungeheure Grabbauten
aufführen, um sich ein Weiterleben wenigstens
im toten Stein zu erzwingen , steigert sich bei
den Griechen das Leben des Einzelnen zur un-
vergänglichen Persönlichkeit. Solange es Men-
schen unserer Art geben wird, werden die Ge-
stalten eines Sokrates, eines Alkibiades nicht
verblassen. Merkwürdig, daß der Name eines
Phidias in aller Munde ist, wo doch nicht ein
einziges Werk dieses Mannes auf uns gekom-
men ist.
Die Griechen sind die Begründer einer bis dahin
unbekannten Kunst, der Persönlichkeitskunst.
Den Gegensatz zur wissenschaftlichen Welt-
anschauung bildet jene Weltanschauung, welche
die Begründung für alle Erscheinungen nicht
in den Dingen selbst sucht, sondern alles ab-
hängig von einer außerhalb derselben befindlichen
Gewalt macht. So erschien der Pflanzenwuchs
den alten Indern nicht durch das Sonnenlicht
bedingt, sondern abhängig vom Monde, und
zwar in der Weise, daß der Mond sich ins
Wasser begibt, dieses befruchtet und auf diesem
Mittelwege durch das Wasser auf das Gedeihen
der Pflanzen Einfluß nimmt. Das Leben des
Einzelnen, das Los der Völker, das Schicksal
der Welt, alles war nur eine Wiederholung: der
Vorgänge am Himmel, des Geschehens am
Monde.
Der Urahne aller Könige ist ein Sohn des
Mondgottes. Sein Lebenslauf und der aller
seiner Nachfolger ist damit festgelegt. Ihr aller
Schicksal ist das des Gottes, wie es der Mythos
erzählt. Mag die Macht eines orientalischen
Despoten in jener alten Zeit noch so groß ge-
wesen sein, für die Betätigung eigenen Willens
und Strebens gab es in einem solchen Leben
wenig Raum. Ungeheurer Glanz und schwerer
Prunk umgab ihn, unter dem sein Ich erstickte.
Es ist klar, daß unter solchen Verhältnissen
von dem Hervortreten der Persönlichkeit des
Künstlers in unserem Sinne nicht die Rede sein
konnte. Im Banne der alles beherrschenden
Überlieferung steht sein Schaffen. Er ist in
allen wesentlichen Stücken gebunden, nur in
unbedeutenden Einzelheiten frei. Dieser Art
Weltanschauung entspricht eine völlig andere
Kunst, die unpersönliche 1).
Es ist leicht zu zeigen, daß die Kunst des
auf eigene Faust lebenden Jägers rein natura-
listisch, die des in Verbänden lebenden Acker-
bauers unpersönlicher Art ist2).
Dort, wo die mythische Weltanschauung die
Grundlage eines größeren Staatswesens ist, wird
selbstverständlich die unpersönliche Kunst an-
zutreffen sein. Das ist der Fall bei den alten
Staaten Vorderasiens, in Babylonien und Ägypten.
Allerdings finden wir zu jenen Zeiten auch
') In meinen Aufsätzen: „Prähistorie und Mythos",
1910, und „Der Mythos als Grundlage der Bauernkunst1',
1911, wies ich bereits auf die auffallende Erscheinung
hin , daß im alten Orient zu allen Zeiten Kunstwerke
ganz verschiedener Art gleichzeitig auftreten, nämlich
solche, die auf Grund vorzüglicher Naturbeobachtung,
und solche, die getreu nach der Überlieferung in
strenger Stilisierung geschaffen wurden.
Unabhängig von mir hat Bela Läzär die gleiche
Beobachtung gemacht und sie in einer Abhandlung
„Die beiden Wurzeln der Kruzifixdarstellung" (Zur
Kunstgeschichte des Auslandes, Heft 98, 1912) nieder-
gelegt.
Wenn wir in der Feststellung des Tatsächlichen
übereinstimmen , so gehen wir in der Erklärung des-
selben weit auseinander.
Läzär erklärt die zwei verschiedenen Arten der
Darstellung durch zwei verschiedene Strukturen der
künstlerisch schaffenden Phantasie. Nach seiner Mei-
nung gibt es Künstler mit konkreter und solche mit
abstrakter Phantasie. Damit ist nicht viel gesagt. Es
ist selbstverständlich, daß die Psyche zweier Künstler,
die Kunstwerke von so verschiedener Art, wie beispiels-
weise das „Hundertguldenblatt" und das hier abgebildete
Rundfenster zu Trau, schufen, von Grund aus ver-
schieden sein muß. Die Annahme zweier verschiedener
Phantasiestrukturen ist nichts anderes als ein Zurück-
schrauben des Problems. Nun muß man erst von
neuem wieder fragen: Wie kommt es denn, daß die
Struktur der Phantasie so verschieden ist?
Die Phantasie eines Künstlers ist durchaus nicht
völlig frei. Sie reicht nirgends über die Bewußtseins-
mannigfaltigkeit, über das, was wir Weltanschauung
nennen, hinaus. Das von der Phantasie des Künstlers
angeregte Werk ist der getreueste Spiegel seines Ichs,
seiner Weltanschauung. Sehen wir zwei Werke von
ganz verschiedener Art der Auffassung nebeneinander,
so müssen wir notgedrungen schließen , daß die Welt-
anschauung der beiden Künstler, die sie schufen, in
allen Stücken verschieden war. Hinreichend erklärt
weiden die beiden Kunstwerke hinsichtlich ihres Ge-
haltes dann sein, wenn wir den Weltanschauungen der
Schaffenden nachgegangen sind und ihre Verschieden-
heit klargelegt und begründet haben.
Diesen Weg zu gehen, habe ich mit diesen Zeilen
versucht. Und es hat sich gezeigt, daß es durchaus
nichts Zufälliges ist, keine Frage des Nervensystems
im psychologisch-naturwissenschaftlichen Sinne, ob ein
Künstler naturalistisch-persönlich oder stilisiert-unper-
sönlich schafft, sondern immer eine Frage der kultu-
rellen Verfassung des Einzelnen.
2) v. Spiess, Die kulturgeschichtliche Bedeutung
von Tiurdarstellungen. Programm 1913.
2*
12
Regungen der anders gearteten Kunst, der per-
sönlichen. Die Mittelpunkte jener Staaten waren
große Städte und dort setzten bereits wissen-
schaftliche Bestrebungen1) ein, freilich noch
durchaus in Verbindung mit Voraussetzungen
aus dem Mythos. Derartige geistige Strömungen
Bind im Kunstschaffen sogleich fühlbar. Im baby-
lonischen und ägyptischen Kulturkreise finden
wir neben den nach der landläufigen Tradition
geschaffenen Kunstwerken auch solche, welche
die Persönlichkeit des Künstlers schon stark
fühlen lassen. Man denke au die Wildeseljagd
auf einem Relief Asurbanipals aus Kujund-
scliik 2) oder an die lebensvolle Gestalt eines
ägyptischen Kriegers aus dem alten Memphis
auf einem Holzrelief aus dem Grabe des Hesi3).
In Städten, wo die mythische Weltanschauung
durchaus herrschend war, wie in den Städten
von Mittelamerika und von Peru, die sogar in
ihrem Bauplane oft den Tierkreis widerspiegeln,
ist man nicht imstande, ein Werk zu finden,
welches die Züge des persönlichen Künstlers
trüge. Hier ist alles streng im Rahmen einer
unveränderlichen Tradition geschaffen.
Der Untergang der Antike ist verknüpft
mit dem Niedergänge wissenschaftlichen Den-
kens und in dessen Gefolge mit dem Erlöschen
persönlicher Kunst. Die ganze byzantinische
Kunst ist ein Beweis dafür.
Wenn man in Italien im 13. Jahrhunderte
sich an ausgegrabenen griechischen Bildwerken
in römisch- hellenistischer Nachschaffung be-
geistert, so setzt das ein Vorhandensein einer
neuen Weltanschauung voraus. Mit dem Er-
wachen der Persönlichkeit ersteht eine neue
Kunst. Notwendig muß sie dort ergänzend
und erweiternd eiusetzeu, wo die Hand des
Griechen erlahmte.
Von Italien griff die neue Kunst nach allen
Kulturländern über, wobei zu beachten ist, daß
die unpersönliche Kunst entsprechend der Un-
bildung und der Abgeschlossenheit der großen
Menge und der Zähigkeit der Überlieferung
nie tranz zum Erlöschen kam. Sie haftet in
Resten sogar noch den Werken eines Dürer4)
an, der gelegentlich mit alten Symbolen ar-
beitet; sie ist in starkem Maße im Kunsthand-
werk nachzuweisen und erfüllt in hohem Maße
') Wir verdanken den Babyloniern die Grundlage
aller exakten Wissenschaft, die Festlegung der Zeit-
und Längeneinheit.
2) Hunger u. Lamer, Altorientalische Kultur im
Bilde, Fig. 124.
3) Maspero, Ägyptische Kunst, S. 60, Fig. 101.
4) Näheres bei lt. Wustmann, Von einigen Pflanzen
und Tieren bei Dürer. Zeitschr. f. bildende Kunst,
46. Jahrg., 8. 109 ff.
die Volkskunst. In dieser Kunst, die so sehr
von Überlieferung beherrscht ist, hat sie noch
heute Leben.
Es wird sich nun darum handeln, alle jene
Merkmale herauszuholen, durch welche beide
Arten von Kunstschaffen einerseits ausreichend
charakterisiert sind , anderseits sich vonein-
ander wesentlich unterscheiden.
Ein rein äußerliches Kennzeichen gibt uns
einen wertvollen Fingerzeig. Das Werk der
persönlichen Kunst ist eng verknüpft mit der
Person des Künstlers, es trägt seiuen Namen,
es ist signiert. Ein Werk der unpersönlichen
Kunst kann von irgend jemandem verfertigt
worden sein, es ist namenlos ]).
Sämtliche Kunstschöpfungen des alten Orients
sind insofern als unpersönlich anzusehen, als
auf keinem Werke der Name des schaffenden
Künstlers zu finden ist, auch literarische Werke2)
niemals mit dem Namen eines bestimmten
Künstlers verknüpft, Künstlernamen überhaupt
unbekannt und nur hie und da durch Zufall auf
uns gekommen sind.
In der ägyptischen Kunst sind wir außer-
stande, die einzelnen Kunstwerke mit bestimmten
Namen zu verknüpfen. Aus den Merkmalen
Schulen zusammenzustellen und diese auf den
Namen eines Königs oder einer Reihe von
Herrschern zu beziehen, ist alles, was sich tun
läßt. Ein seltsames Geschick hat uns aus der
memphitischen Zeit den Namen eines Bild-
hauers, Ptah-anch, zugetragen, der sich im
Grabe des Bestellers abgebildet hat, in einer
Barke beim Mahle sitzend, vom Gesinde be-
dient 3). Ein anderer Künstler gräbt an einer
leeren Stelle in einem Grabe sein Bild ein, das
ihn an der Staffelei mit Pinsel und Farbtopf
fleißig arbeitend zeigt, jedoch vergißt er seinen
Namen beizusetzen. Aus späterer Zeit sind
uns die Namen von einigen Bildhauern und
Malern dadurch bekannt geworden, daß sie in
den Akten als Beamte geführt wurden (Ober-
und Unterbildhauer !), nicht aber im Zusammen-
hange mit bestimmteu Werken.
Bei den Sumerern, Babyloniern, Assyrern ist
es Regel, daß das Kunstwerk namenlos ist. So
gilt es schon als etwas Besonderes, wenn in
x) Wir kennen freilich Werke der personlichen
Kunst, die nicht signiert sind. Hier ist das Fehlen
des Namens ein bloßer Zufall. Wir sind dann immer in
der Lage, die besagten Werke einem bestimmten
Künstler oder wenigstens einer Schule seines Namens
zuzuschreiben.
2) Vgl. 0. Weber, Die Literatur der Babylonier
und Assyrer, S. 34 ff.
3) Maspero, Geschichte der Kunst in Ägypten,
S. 65, Fig. 111.
13
den Quellen einmal der Name eines Künstlers
zufällig auftaucht. Für die alte persische Knust
vermögen wir nicht einen einzigen Künstler-
namen anzugeben , haben aber durch Quellen
bezeugt, daß der griechische Künstler Telephanes
von Pkokaia am Hofe des Dareios und Xerxes
arbeitete.
Während wir für die hohe Kunst des alten
Orieut nur sehr wenige Künstlernamen und kein
einziges signiertes Kunstwerk angeben können,
stoßen wir im griechischen Kunstgewerbe schon
zu Anfang des 6. Jahrhunderts auf Künstler, die
ihre Werke signierten. Auf der Fraucoisvase
(Florenz) lesen wir: Ergotimos hat sie geformt,
Klitias sie bemalt. Von 500 an ist alle bessere
Keramik signiert. Da erscheint dann im wei-
teren Laufe der Eutwickelung eine so weit
gehende Differenziertheit im Gestalten, daß wir
auch ohne Signatur zwei Vasen aus gleicher
Zeit, mit gleicher Art der Bemalung dennoch
als von zwei verschiedenen Künstlern herrüh-
rend erkennen können. Ganz verschieden ist
die Auffassung eines Brygos von der eines
Euphrouios.
Der Kunst der byzantinischen Zeit ist ein
Reichtum an Formen und eine Höhe der Tech-
nik nicht abzusprechen. Und doch macheu die
Werke einen ganz anderen Eindruck auf uns
als die der klassischen und hellenistischen Zeit.
Diese andere Art wird von denen, die nur auf
Leistungen der persönlichen Kunst eingestellt
sind, als Altersschwäche oder Entartung der
Kunst bezeichnet. Was nach den bisherigen
Ausführungen vorauszusagen ist, den mit der
Unpersöulichkeit der Kunst zusammenhängenden
Maugel au überlieferten Künstlernamen und sig-
nierten Werken, finden wir in der byzantini-
schen Kunst glänzend bestätigt. Nur durch
Zufall ist uns von beiläufig einem Jahrtausend
byzantinischer Kuustentfaltung eine kleine Zahl
von Künstlernamen erhalten. Signierte Werke
gibt es in dieser Kunst, in der der Begriff der
Persönlichkeit eine unbekannte Größe ist, über-
haupt nicht 1). Der Orient hat seine Pforten
geöffnet, uralte Motive, die Jahrhunderte lang
diesem Bodeu fremd waren, tauchen wieder auf.
Halten wir dagegen eine Schaumünze aus
der Zeit der Frührenaissance. Auf der Rück-
seite finden wir den Namen desseu, der sie ent-
worfen, Pisano, in genau so großen Lettern
l) Bei F. W. Unger, Quellen zur byzantinischen
Kunstgeschichte finden wir I, S. 52 ff. zehn Namen von
Malern, einen Namen eines Metallarbeiters. Von Bild-
hauern ist nur ein Name überliefert und bei diesem
ist es nicht gewiß, ob er nicht der Name des Stifters
des Werkes ist.
wie den Namen dessen, für den sie geprägt
wurde. Die Renaissance gilt als die Zeit der
großen Persönlichkeiten. Die Persönlichkeit des
Künstlers erhob sich hier zu einer Größe wie
nie später. Die stolzen Künstlernamen auf den
Schaumünzen sind ein handgreiflicher Beweis
hierfür.
Wiewohl der Umstand, ob ein Kunstwerk
zur Gruppe der signierten oder der niemals
signierten gehört, für die Bewertung, ob es der
persönlichen oder der unpersönlichen Kunst ent-
stammt, von großer Bedeutung ist, so ist dieses
Merkmal zunächst rein äußerlicher Natur und
es wird sich nunmehr darum handeln, beide
Schaffensarteu miteinander zu vergleichen.
Wir wollen zunächst die Person des Ver-
fertigers einer nähereu Betrachtung unterziehen.
Der Schöpfer der Werke der persönlichen
Kunst ist der Künstler, eine besondere Art
Mensch. Er bildet mit den Genossen gleichen
Strebens eine eigene Gesellschaft, deren An-
schauungen von den Anschauungen der gewöhn-
lichen Menschen, der Bürger und Philister,
wesentlich abweichen. Der Küustler vertritt
zumeist einen besonderen Zweig der Kunst, er
ist wie alle Städter Spezialist, Maler, Bildhauer,
Musiker, Dichter. Zuweilen tritt wohl eine
Sehnsucht darnach auf, die Künste, die in der
Urzeit einander durchdringend als eine selbst-
verständliche, organische Eiuheit auftraten, künst-
lich zu verschmelzen. Allein diese Versuche
können nie von Erfolg begleitet sein. Die
Künste haben bei den Kulturvölkern, vonein-
ander getrennt, eine lauge Eutwickelung durch-
gemacht, haben dadurch die Beziehung zuein-
ander verloren, woraus sich die Unmöglichkeit
ergibt, die weit voneinander abliegenden Sproß-
enden zu einem einheitlichen Ganzen zu ver-
einigen. Stehen nun schon die Künstler der
verschiedenen Kunstzweige notgedrungen ein-
ander fremd gegenüber, so werden sie von der
breiten Menge durch eine noch größere Kluft
getrennt. Es ist immer nur eine bald größere,
bald kleinere Minderzahl von Menschen, mit
denen sie wirklich in Verbindung stehen. Dürer
war iu den Städten Deutschlands noch durch
seine Holzschnitte im guten Sinne populär, wäh-
rend die Renaissaucekünsüer vielleicht zum
kleinsten Kreise von Verständigen sprachen.
Der Durchschnittsstädter ist in Dingen der dar-
stellenden Kunst völlig unproduktiv und befindet
sich daher ganz außerhalb der Entwickelungs-
linie des Kunstschaffens. Derartige Menschen
stehen Kunstwerken fremder gegenüber als
Wilde. Sie sind auf das Abbildungsmaterial
einer bestimmten illustrierten Zeitung eingestellt
14
und erklären alles andere für Schwindel, ver-
rückt oder abscheulich.
Ganz im Gegensatze zum Schöpfer der Per-
sönlichkeitskunSt steht der Verfertiger von
Werken der unpersönlichen Kunst. Derartige
Werke entstehen heute noch in Dörfern, in
Gebieten geringer Kultur (Osten von Europa),
oder in Gebieten von hochkonservativem Geiste,
wie in Tirol, als Erzeugnisse des Ilausfieißes,
ferner durch den Kunsthandwerker des Orients
und in den weiten Gebieten der sogenannten
kulturlosen Völker. Wenn es auch in den Dör-
fern besonders Begabte gibt, so kann als Er-
zeuger der Kunstwerke doch jedermann ange-
sprochen werden. Der Bauernküustler sticht
in Nichts von seiner Umgebung ab. Er steht
mit den Gefühlen und dem Verlangen aller
seiner Mitmenschen in engster Beziehung. Bei
ihm wie bei allen anderen ist noch die Verbin-
dung mit den Schwesterkünsten vorhanden. Er
dichtet, singt, schnitzt und malt. Und das alles
bildet eine natürliche Einheit. Auch einzelne
besonders begabte Individuen bleiben hier völlig
im jeweiligen Rahmen der Gesellschaft. Es ist
also, wie wir sehen, gar kein Grund vorhanden,
daß hier der Einzelne ein Kunstwerk mit seinem
Namen verknüpft.
Das Leben des Persöulichkeitskünstlers ist
völlig mit den Ideen seiner Kunst ausgefüllt.
Das bringt oft vollständige Weltfremdheit mit
sich, die sich in seinen Werken widerspiegelt.
Die Kunst wird auf diesem Wege Selbstzweck
— l'art pour Part. Mit diesem Ausspruche
soll uns versichert werden, daß künstlerisches
Schaffen auch ohne irgend einen Zusammenhang
mit dem Leben der Allgemeinheit bestehen
könue.
Der Schöpfer von Werken der unpersön-
lichen Kunst ist im gewöhnlichen Leben Bauer.
Nur wenn er freie Zeit hat und gut auf-
gelegt ist, wird er Künstler. Hier entspringt
das Kunstschaffen aus einem Überfluß an Kraft,
hier ist die Kunst Begleiterin auf dem Lebens-
wege.
Auch hinsichtlich der Wahl des Gegenstandes
und der Verarbeitung verhalten sich die Künstler
beider Kunstarten verschieden.
Der Persöulichkeitsküustler ist völlig frei in
der Wahl seines Vorwurfes und in der Ver-
arbeitung desselben. Die Wahl des Stoffes, das
„Was", als etwas Zufälliges ist von geringerer
Bedeutung als die Ausführung, das „Wie". So
ist die Art der Ausführung für die Wertung
der Persönlichkeit allein ausschlaggebend. Hier
liegen ungezählte Möglichkeiten vor und wir
bewerten die Persönlichkeit eines Künstlers um
so höher, je reicher und origineller der Auf-
wand seiner äußeren Mittel ist. So erleben wir
eine so intensive Steigerung der äußeren Aus-
drucksmittel, daß die Technik als solche schon
(die Wahl der Farben, die Linienführung) psychi-
sches Erleben widerspiegelt.
Der Persönlichkeitsküustler gestaltet den
Stoff nach seinem inneren Erleben. Die großen
Persönlichkeitsknnstwerke sind große Konfes-
sionen. Wir schätzen solche Werke nach dem
Maße des ihnen allein zukommenden, eigenen
Gehaltes. Die Kunstgeschichte der hohen Kunst
ist nichts anderes als die Aufeinanderfolge
einiger weniger starker Persönlichkeiten und
derjenigen, die ihrem Beispiele nacheiferten,
wobei die Schule immer den Niedergang be-
deutet, denn sie bietet nichts Neues, nichts
Eigenartiges.
Wenden wir die naturgeschichtliche Betrach-
tungsweise folgerichtig auf Erscheinungen im
Kunstschaffen an , so haben wir es hier eigent-
lich gar nicht mit einer Entwickelung — vom
rein Technischen abgesehen — zu tun. Die
großen Künstler sind das, was man natur-
geschichtlich als Mutation bezeichnet, eine neue
Art, die sprunghaft, völlig fertig, in dem für
sie Charakteristischen ohne Bezug auf Früheres
auftritt. Daraus ergibt sich, daß die entwicke-
lungsgeschichtliche Betrachtung nur auf die
Schule anwendbar ist. Hier werden bestehende
Merkmale weiter gebildet und abgeändert.
Dadurch, daß man vom Künstler fortgesetzt
Neues fordert, tritt oft ein ungesundes Haschen
nach Orginalität bei schwächeren Naturen ein,
beim Publikum eine übergroße Wertschätzung
äußerer Merkmale. Der Blick wird vom Ganzen
abgezogen uud zu sehr auf das Technische, die
Mache hin gerichtet.
Die feine Abschätzung von Kleinigkeiten in
der Arbeitsweise bringt es mit sich, daß wir
für jeden Künstler nicht nur den ihn kenn-
zeichnenden Stil, den Stil seiner Persönlichkeit,
feststellen , sondern an den Werken aus ver-
schiedener Zeit — von Jugendweihen ganz ab-
gesehen — verschiedene Entwickeluugsstufen
dieser Persönlichkeit herausfinden.
Insofern als die schwächeren Individualitäten
von einer größeren Persönlichkeit abhängig sind
und die Arbeitsweisen sich in gewissen Punkten
berühren, können wir von einem Zeitstile
sprechen, in dem allerdings die Eigenart des
starken Einzelnen nicht verschwindet. Die Gegen-
wart freilich mag eines ausgeprägten Zeitstiles
ermangeln, da das universelle Bewußtsein, das
in der ganzen Welt, in den Kunststilen aller
15
Völker nach Vorbildern sucht, ein Schaffen nach
einer bestimmten Richtuni;' verhindert.
Der ßauernkünstler verhält sich hinsichtlich
Vorwurf und dessen Verarbeitung völlig gegen-
sätzlich. Die Anzahl der zur Verfügung ste-
henden Motive ist eine geringe uud in einem
bestimmten Gebiete durch die jeweilige Über-
lieferung gegeben. Diese reicht weit zurück,
oft bis in die Vorzeit l) und wurzelt teils in
mythischen Vorstellungen, die dem Landvolke
heute kaum mehr bewußt sind , oder in reli-
giösen Mysterien, deren bildliche Formung oft
auf die alten Darstellungen mythischen Gehaltes
zurückgeht 2).
Ebenso wie der Bauernkünstler in der Wahl
seines Vorwurfes eingeengt ist, ist er auch in
der Ausführung gebunden. Im Laufe der Zeit
hat sich eine bestimmte Anzahl von Auffas-
sungen und Ausführungen herausgebildet, die
nun getreu nachgebildet werden, ohne daß der
Einzelne darüber hinausginge oder Neues er-
streben würde. Während beim Persönlichkeits-
künstler die Technik allein nicht nur ein Be-
stimmungsmerkmal für die Person, sondern sogar
für eine bestimmte Zeit abgibt, ist die Technik
von Werken der Volkskunst zunächst unab-
hängig von der Person uud durch lange Zeit,
oft durch Jahrhunderte dieselbe 3).
:) Bobrinsky (Volkstümliche russische Holz-
arbeiten 1911) führt das auf russischen Holzarbeiten
auftretende Motiv „Scheibe mit paarigen Vögeln" auf
das in der Hallstattzeit häufige Motiv gleicher Art
zurück und legt ihm zugleich mit Dechelette eine
besondere Bedeutung zu.
Ahnliches habe ich in meinem Aufsatze „Der
Mythos als Grundlage der Bauernkunst" 1911 ausge-
führt, wo ich die Gruppe: Paarige Vögel zu seiten
eines Baumes, Gefäßes, der Scheibe usw. eingehend be-
handelte und reichliches Ver^leichsinaterial beibrachte.
Auch die russischen Holzschüsseln in Vogelform
bringt Bobrinsky in Zusammenhang mit prähistori-
schen Formen, wie ich das in meinem 1912 gehaltenen
Vortrage „Die Behälter des Unsterblichkeitstrankes"
getan habe, und hält auch die Form nicht für zu-
fällig, sondern im Zusammenhange stehend mit be-
stimmter mythischer Überlieferung Allerdings bezieht
er das Motiv in der jetzt noch geläufigen Weise auf
die Sonne, ohne sich für die Beweisführung anderer
Argumente als abgebrauchter Schlagwörter und unbe-
wiesener Vermutungen zu bedienen. (Nach dem deut-
schen Texte, S. 18 ff.)
Die Stärke der Tradition zeigt sich auch darin,
daß in der Reliefschnitzerei von Gefäßen, Klopfhölzern
und Teilen von Pferdegeschirren ein Flechtmuster er-
scheint, daß 2500 Jahre v. Chr. in Vorderasieu geläufig
war und das Morgan als „Torsade elamite" bezeichnet
(Memoires VII, 129), zu dem noch ein von den ältesten
Zeiten bis zur Sassanidenkunst verfolgbares, herzför-
miges Muster (Memoires VIII, 94) tritt (Bobrinsky,
1. c, Deutscher Text, 8.46).
2) K. v. Spie ss, Trinitätsdarstellungen mit dem
Dreigesicht. Werke der Volkskunst 1914.
3) In der Bauernkuust finden sich oft die Nieder-
schläge der großen Stile der Stadtkunst, wie der Renais-
sance, der Barocke usw. Sie sind als fremdes Gut stets von
Insofern als gewisse Nationen oder Völker
bestimmte Motive bevorzugen und dem Dar-
gestellten eine eigene Ausgestaltung erteilen,
woraus die Volkszugehörigkeit ohne weiteres
erkenntlich ist, können wir von einem National-
stile sprechen, insofern als gewisse Motive der
Unpersönlichkeitsknnst ihrer Formgebuug nach
auf dem ganzeu Kreise Europa — Asien— Ame-
rika in gleicher Ausbildung auftreten, von einem
Ewigkeitsstile. Denken wir an die Gruppe zu
Dreien , so handelt es sich dabei um Formen,
die nicht dem Wandel der Zeit unterliegen, die
nicht ein Geschehen von dieser Welt, son-
dern letzten Endes Vorgänge am Himmel, die
Formwandlungen am Monde darstellen. Seine
Gestaltsänderung ist aber nur ein Beispiel für
die allgemeine Wandlung, für die des Menschen
und des Weltalls. Über Mikrokosmos und Ma-
krokosmos waltet das gleiche Gesetz: Geburt,
Tod, Wiederkehr.
Wie verhalten sich die Werke beider Kunst-
arten hinsichtlieh ihrer Bestimmung und ihres
Endzweckes?
Die Werke der Persönlichkeitskunst auf Ver-
anlassung weniger, der Befehlenden und Be-
sitzenden, ausgeführt, haben den Zweck, ihre
Paläste zu schmücken. Für wenige berechnet,
sind sie der großen Menge unzugänglich :).
Auch dort, wo derartige Kunstwerke in Kirchen,
in öffentlichen Gebäuden und auf Plätzen auf-
treten, rühren sie nicht an die Seele des Volkes,
da sie ja vor allem dazu bestimmt sind, die
Macht der Herrschenden nach außen hin kund-
zutun.
Diese Umstände bringen es mit sich, daß
die Persönlichkeitskunst nicht in die breiten
Schichten des Volkes dringen kann.
Wenn der Endzweck der persönlichen Kunst,
wie der jeder Kunst, der ist, bestimmte Ge-
danken und Gefühle zum Ausdrucke zu bringen,
so ist es nach dem bereits Gesagten leicht ver-
ständlich, daß dieser Endzweck der persönlichen
Kunst am besten dort erreicht wird, wo per-
sönliche und unpersönliche Kunst noch näher
dem Bodenständigen zu trennen. Die Volkskunst eines
Landes ist um so reiner und ursprünglicher, je weniger
sie derartige städtische Anleihen aufweist. Schwedische,
isländische, russische Volkskunst.
:) Mau denke an die Trostlosigkeit der Bilder-
galerien, wo zumeist noch die Bilder wahllos über-
und nebeneinander hängen. Es gehört eine große Ab-
härtung dazu, um in dem grenzenlosen Durcheinander
der verschiedensten Eindrücke auch nur ein wenig ge-
nießen zu können. Demjenigen aber, der in unbefan-
genem Verlangen zum ersten Male derartige Kata-
komben betritt, wird auf lange Zeit, wenn auch nicht
für immer der Appetit vergehen. In der Mehrzahl der
Fälle allerdings ist der Besuch der Galerien keine
seelische, sondern nur eine touristische Leistung. '
16
der gemeinsamen Wurzel liegen. Die weitere
Entfaltung iler Persönlichkeitskunst bringt es
mit sich, <lnß die Künstler von der Darstellung
allgemeiner Ideen immer mehr abgedrängt und
dazu geführt werden, nicht nur die Umwelt,
sondern auch Szenen mit bestimmter Über-
lieferung nach eigenem Gutdünken auszuge-
stalten. In steigendem Maße wird auf das rein
Technische und rein Äußerliche ein zu großes
Gewicht gelegt, oder aber derartig willkürlich
mit der Ausgestaltung bestimmter Motive ver-
fahren, daß dann Schöpfungen entstehen, die
mit dem Namen dessen, was sie eigentlich dar-
stellen sollen, nichts mehr zu tun haben.
Das große Wandbild eines Unbekannten im
Campo santo zu Pisa, der Triumph des Todes,
ist sicher das Werk eines persönlichen Künst-
lers, eines Realisten ungebrochenster Kraft, und
doch ist alles in diesem Bilde einer großen
Idee so unterstellt, daß das Bild der Gegenwart
völlig entrückt als eines der größten Mensch-
heit swerke vor unseren Augen sich aufrollt.
Die Versuchung Christi von Tintoretto in
der Scuola di San Koeco zeigt uns, wie die
Phantasie des persönlichen Künstlers mit Szenen
bestimmter Überlieferung umgeht. Vor Christus
steht hier nicht der Teufel, sondern eine schöne
geflügelte Frauengestalt. Der biblische Gehalt
der Szene ist hier bereits völlig umgewertet.
Tintoretto will uns etwa sagen: Der sittliche
Wille des Menschen muß die Sinnlichkeit über-
winden. So entsteht Kultur.
Die Bilder religiösen Stoffes von Rubens
und Jordaens verdeutlichen uns, wie am Ende
fortgesetzter persönlicher Auffassuug von einem
ehemaligen Inhalte überhaupt nichts mehr zu
verspüren ist. Die Altarbilder Rubens über-
raschen uns durch die Schönheit der dargestellten
Menschen, durch die spielerische Leichtigkeit
der Komposition , durch den sinnlichen Glanz
der Farben. Das alles aber vermag nicht hinweg-
zutäuschen über den Mangel jeglichen geistigen
Gehaltes. Die Gestalten, verkleidete Satyrn
und Faune, langweilen sich in der ihnen auf-
gezwungenen Pose. Die Altarbilder Jordaens
sind mühsam gestellte Gruppen von Trunken-
bolden und Fettwänsten, die mißmutig sind, weil
sie nicht an der langen Tafel bei vollen Schüsseln
und Humpen sitzen.
Wollte man derartige Bilder nur vom rein
inhaltlichen Standpunkte aus beurteilen, so würde
man dem Künstler schwer Unrecht tun.
Wir sehen immer das gleiche Spiel. Der
Künstler, der eigene Ziele verfolgt, gewinnt zwar
für seine Persönlichkeit, vereinsamt aber und
verliert au Beziehung zu seiner Mitmeuschheit.
Die unpersönliche Kunst ist ausschließlich
Zweckkunst1). Da gibt es kein \YTerk, das als
Prunkstück nur zum Bestaunen und zum Be-
wundern geschaffen wäre, das nicht irgend eine
Verwendung hätte. Diese Kunst greift überall
ins alltägliche Leben ein. Die Wände des Hauses
werden mit Ornamenten bemalt, die Türstöcke
geschnitzt, die Giebel verziert. Jedes der Ein-
richtungsstücke zeigt irgend einen Schmuck,
meist von der Hand des Besitzers oder dessen
Vorfahren selbst geschaffen. Die Gebrauchs-
gegenstände bis zum hölzerneu Trinkgefäß und
zur irdenen Schüssel, die Arbeitsgeräte bis zum
Wetzsteinbehälter und zum Wäscheklopfholz,
alle sind in reichstem Maße ausgeschmückt, mit
Ornamenten und Gestalten bedeckt. Den Fest-
tagen wird erhöhte Weihe gegeben durch Spiele
mit eigenen Masken (Paradies- , Fastuachts-,
Ptingstspiele usw.), durch Gebäcke besonderer
Form, die Gebildbrote usw. Besonders dort
setzt diese Kunst ein, wo es gilt, die für den
Menschen wichtigsten Abschnitte seines Daseins,
die, wie wir sahen, in Beziehung zum Kosmos
gesetzt wurden, zu feiern : Geburt, Hochzeit und
Tod. Er begeht sie in besonderem Kleide, das
die Frauen nach altüberkommener Art fertigen
und ausschmücken, im Tauf-, Hochzeits- und
Totenhemd. Jedes Volk, jeder Kreis hat im
Zusammenhange mit seinen eigenen Gebräuchen
auch seine eigenen Gewänder, Schmuckgegen-
stände, Geräte mit bestimmter Verzierung für
diese besonderen Tage, da der Mensch heraus-
tritt aus der Allgemeinheit.
Es ist klar, daß die kunstgeschichtliche Be-
trachtung, die bis jetzt fast ausschließlich den
Werken der persönlichen, auf eine bestimmte
Zeit abgestimmten Kunst galt, für die Werke
der unpersönlichen Kunst keinen Raum hatte.
An manchen Stellen war es freilich notwendig,
auch auf diese Werke einzugehen, die dann als
Erzeugnisse einer frühen, verwilderten oder
Barbarenkunst den Werken der hohen Kunst
gegenübergestellt wurden. Waren derartige
Werke aus edlem Stoffe gefertigt und von
vollendetem Stile, so ordnete man sie ins Kunst-
gewerbe ein oder wies sie der Kleinkunst zu,
wo die heterogensten Schöpfungen friedlich
nebensammen stehen mußten. Daß man in Ver-
folgung der „hohen" Kunst oft unmittelbar auf
die „Barbaren"-Kunst stieß und sich mit dieser
') Das Kunstgewerbe, vertreten durch Namen be-
rühmter Meister, ist bis auf unsere Zeit nie Zweckkunst
gewesen, da es lediglich als eine Verkleinerung der
großen Kunst erscheint. Vgl. hierzu die treftenden
Ausführungen 0. Kümmels in „Illustrierte Geschichte
des Kunstgewerbes" II, S. 722 ff.
17
notgedrungen abgeben mußte, erwuchs aus der
ohne jede Begründung und Notwendigkeit von
der Naturwissenschaft übernommenen Entwicke-
lungshypothese. Nach ihr bewegen sich alle
Kunsterscheinungen in einer ununterbrochen
nach aufwärts strebenden Linie. Da die Ge-
schichte aber das Gegenteil zeigt, nämlich am
Ausgange einer jeden Kulturepoche ein Zu-
sammenbrechen der Persönlichkeitskunst, so
mußte dann die „ Barbaren "-(Völkerwanderungs-)
Kunst herhalten, um das „Stillstehen" und die
„toten Punkte" in der angeblichen Ent-
wickeln" zu illustrieren. Wie völlig
falsche Vorstellungen erweckt eine der-
artige Auffassung! Dieses Stillstehen
der Entwickelung besteht in Wahrheit
darin, daß Völker niedriger Kultur mit
ihrer unpersönlichen Kunst die Gebiete
ehemaliger persönlicher Kunstübung be-
zogen, daß sich eine neue lebeusfrische
Kulturschichte allenthalben auf eine
alte, abgestorbene legte.
Entsprechend den drei hervor-
stechenden Kulturstufen, der Höhlen-,
Dorf- und Stadtkultur, rinden wir auch
drei verschiedene Kunstübungen: die
ausschließlich naturalistische, die un-
persönliche und die persönliche.
Diese drei Stämme des Kunst-
schaffens, die wesensfremd einander
gegenüberstehen, greifen in der Ge-
schichte der Menschheit oftmals über-
einander. Auch heutigen Tages beob-
achten wir bei genauerem Zusehen zwei
Kulturschichten übereinander, die länd-
liche und die städtische. Wollen wir
nun bei Besprechung des künstlerischen
Schaffens den tatsächlichen Verhält-
nissen gerecht werden , so dürfen wir
nicht eine Reihe von Erscheinungen,
wenn sie uns auch zunächst liegen und
am verständlichsten sind, herausgreifen
und die anderen dabei völlig übersehen.
Demnach wäre der Stoff der Kunstgeschichte
dreifach zu teilen :
1. Rein naturalistische Kunst.
2. Unpersönliche Kunst.
3. Persönliche Kunst.
Bevor ich nun daran gehe, das Forschungs-
feld der unpersönlichen Kunst näher zu ent-
wickeln, sei erwähnt, daß in Übergangszeiten
oft beide Kunstarten an einem Kunstwerke
nebeneinander vorkommen werden.
Als Beispiel sei ein Flachrelief früheine-
sischer Kunst (524 n. Chr) angeführt. Auf dem
den Steinuntersatz der Maitreyatigur (Nordwei)
zierenden Flachrelief ') (Fig. 36) sehen wir auf
zwei übereinander liegenden Streifen eine Pro-
zession des Stifters abgebildet, der mit großem
Gefolge des Weges zieht. Die Darstellung, die
eigentlich nichts anderes ist als eine Über-
tragung von Malerei auf Stein, da ihr jedes
räumliche Gestalten fehlt, ist von großer Le-
bendigkeit und setzt gute Naturbeobachtung
voraus. Ihr liegt das Bestreben zugrunde, einen
tatsächlichen Vorgang möglichst getreu wieder-
zugeben. Befremdend wirkt nur die Füllung
Fig. 36.
«r n f"_
jeglichen leeren Raumes durch Rankenwerk
und stilisierte Tiere.
In schroffem Gegensatze zu diesen beiden
Streifen steht der darunter befindliche dritte
Streifen. Da sehen wir zwei Löwen mit zausiger
Mähne und aufgesperrtem Rachen zu beiden
Seiten einer aus einer Lotosblüte auftauchenden
weiblichen Gestalt, die auf dem Haupte eine
große flache Schale mit einem Räuchergefäße in
Kucelform trägt. Auch hier sind Zwisehen-
*) Abgebildet bei Miinsterberg, Chinesische Kunst-
geschichte nach Bushell 1, 141, Fig. 102.
3
18
räume mit stilisierten Blüten, Blättern und Tieren
erfüllt.
Die regelmäßige Anordnung dieser Gruppe
und ihre Stilisierung läßt sofort erkennen, daß
es sich hier nicht um die Wiedergabe irgend
eines Erlebnisses handelt, sondern um die Ver-
körperung eines bestimmten Gedankeniuhaltes.
Das ergibt sich ferner daraus, daß die darüber
dargestellte Szene in genau derselben Ausbil-
dung nicht wieder nachzuweisen ist, während
die darunter dargestellte Gruppe sich in genau
gleicher Ausführung noch öfters vorfindet. Als
Beispiele seien angeführt die Vorderseite des
„Tama-muschi"-Schreiues (etwa 600 n. Chr.), auf
der wieder das kugelförmige Räuchergefäß
zwischen zwei geflügelten Fabeltieren abgebildet
ist, und von weit abliegendem Gebiete das gleiche
Motiv auf einem bemalten Stoffe aus Tun Huang
(Sammlung Peliot, Louvre).
Uns bietet diese Gruppe nichts wesentlich
Neues. Das kugelförmige Weihrauchbeckeu steht
au Stelle der Perle, die von den Drachen ge-
hütet oder bedroht wird.
Wir haben für diese Zeiten des Überganges
noch mit einer anderen Möglichkeit zu rechnen,
nämlich mit der Vermischung beider Dar-
stellungsarten.
Als Beispiel hierfür führe ich einen der
babylonischen Etana-Siegelzylinder an, und zwar
den im Louvre befindlichen (Zeit ungefähr 1. Hälfte
des 2. Jahrtausends). Von der ganzen Darstellung
greife ich den Einporflug des Helden mittels
des Adlers heraus. Die Gruppe zeigt streng
symmetrische Anordnung. Unterhalb des Adlers
zwei Hunde beiderseits eines behenkelten Ge-
fäßes, zu beiden Seiten dieser zwei Gestalten.
Diese Darstellung geht offenbar auf eine ältere,
ganz anders geartete zurück. Darauf weist auch
der Kopf des Adlers hin, der auf dem Pariser
Zylinder nicht zu erkennen, auf dem Berliner
aber löweuköpfig ist. Es handelt sich hier also
nicht um die Darstellung eines tatsächlichen Ge-
schehens, um den Raub eines Menschen durch
einen Vogel, sondern um die Darstellung eines ge-
dachten Vorganges, einer Szene aus dem Mythos.
Die diesem Stoffe entsprechende Darstellungsart
wäre die der unpersönlichen Kunst. Den Grund-
sätzen der persönlichen Kunst entspricht die
Behandlung der zwei dem Etana nachblickenden
Gestalten. Sie sind trefflich in der Bewegung,
so gut nach dem lebenden Vorbilde erfaßt, daß
durch sie die Bedeutung des Vorganges zurück-
gedrängt, das Gegenständliche in den Vorder-
grund gerückt wird. Diese zwei Menschen sind
bereits das Werk eines persönlichen Künstlers.
Aus den bis jetzt augeführten Beispielen
ergibt sich, daß ein Erzeugnis der unpersön-
lichen Kunst an der Wahl und Verarbeitung der
Motive rein äußerlich erkannt werden kann, ab-
gesehen davon, daß ein solches Werk niemals
ein tatsächliches Ereignis darstellt, sondern immer
auf etwas Gedeutetes, Erdachtes zurückgeht und
dies bei aller gegenständlichen Darstellung betont.
Auf beschränktem Räume wurden hier einige
Abwandlungen der Gruppe zu Dreien besprochen
und es seien hier noch einige der wichtigsten
Motive der unpersönlichen Kunst genannt.
Zu der Gruppe zu Dreien gehört noch das
Motiv der Dreiköpfigkeit (drei Köpfe über- oder
nebeneinander) und der Dreigesichtigkeit, ferner
das Motiv des Lebensbaumes mit den Tieren.
Dadurch, daß das Mittelstück wegfällt, erhalten
wir die Gruppe zu Zweien. Formen: 1. Paarige
Tiere getrennt, a) einander zu-, b) einander ab-
gekehrt. 2. Paarige Tiere vereinigt, Doppel-
tiere, z. B. Doppeladler. Oft soll ein Gegensatz
in der Beleuchtung ausgedrückt werden; dann
finden wir eine helle und eine dunkle Gestalt ein-
ander gegenübergestellt. (In übertragener Be-
deutung z. B. Hase und Kröte.) Daneben gibt
es Formen, die halb hell (weiße, glatte, goldene
Haut), halb dunkel (rauhhaarig, mit Schuppen
bedeckt) gedacht sind (Meerweibchen, Melusine,
Skylla). Als bedeutsames Motiv finden wir in
ganz eigenartiger Ausbildung über die ganze
Erde verbreitet den Kampf des Helden mit den
Tieren. Gewissermaßen ein Verkürzungsmotiv
hiervon ist der „Kopf im Rachen" und eine
Parallelform der Kampf der Tiere. Hiermit
wären einige der wichtigsten Motive der unper-
sönlichen Kunst hinsichtlich ihrer gegenständ-
lichen Seite aufgezählt.
Wenn es sich darum handelt, das Gebiet der
unpersönlichen Kunst abzugrenzen, so umfaßt es
der Hauptsache nach die Kunsterzeugnisse ge-
schichtsloser Völker und solcher bereits im Be-
sitze der Schrift befindlicher Völker, deren Welt-
anschauung noch im Mythos wurzelt.
Es kommen daher in erster Linie die Kunst-
werke der vorgeschichtlichen Zeit in Betracht,
insofern es sich um Ackerbauer und nicht um
Jägervölker handelt, also die Fundstücke aus
neolithischer Zeit und der folgenden Entwicke-
luugsstufen. Die Bildwerke frühgeschichtlicher
Zeit tragen, wenn sie aus Ägypten oder Baby-
lonien kommen, oft schon fremdartige Züge an
sich, die davon herrühren, daß wir es bereits
mit einer Vermischung zweier Kunstarten, per-
sönlicher und unpersönlicher, zu tun haben.
Wenn auch die Weltanschauung der 'Ägypter,
Phöniker und Babylonier durchaus im Mythos
19
fußt, so hatte die hoch ausgebildete Stadtkultur
bereits den Ansät/, zu dem gezeitigt, was wir als
persönliches Element erkennen. Derartige Ein-
flüsse verschwiuden sofort, wenn wir auf Zeiten
zurückgreifen , wo die Stadtkultur noch nicht
bestand, oder wenn wir uns zu anderen Völkern
begeben, die zur selbeu Zeit noch keine Stadt-
kultur besaßen. Die älteste Frühkunst Griechen-
lands, z.B. die Fundstücke der tiefsten Schichten
von Mykenä und Tyrins J), vielleicht gleichaltrig
mit den babylonischen Siegelzylindern, weisen
uns die unpersönliche Kunst in schönster Aus-
prägung, während wir bei den Siegelzyliudern
die starke Einwirkung von persönlicher Kunst
zu fühlen bekamen. Dort aber, wo die ausge-
sprochene Burgenkultur (Kreta, Mykenä usw.)
einsetzt, die Persönlichkeit innerhalb einer kleinen
Gesellschaft, der Burgherren, erwacht, dort er-
steht mit einem Male die Persönlichkeitskunst
in einer Stärke des Ausdruckes, der den Be-
schauer der Wandmalereien von Knossos in das
größte Erstaunen versetzt.
Man ruft verwundert aus: Wie war das zu
dieser Zeit nur möglich, und bedenkt nicht, daß
das Kunstschaffen nicht von der Stellung in der
Zeitlinie, sondern einzig und allein von der
psychischen Verfassung des Verfertigers ab-
hängig ist.
Mit dem Verfalle der Mittelmeerkultur setzt
überall die unpersönliche Kunst ein, byzantinische
und Völkerwanderungskunst genannt, wobei letz-
tere in die Abschnitte: Kaukasus-, skythische,
gotische, langobardische, angelsächsische, irische
Kunst zu gliedern wäre. Bei der byzantinischen
Kunst wäre besonders auf das Moment der
Stadtkultur hinzuweisen, durch welches die un-
persönliche Kunst wesentlich getrübt erscheint.
Über Deutschland (Merovinger Zeit) ist das
Wirken der unpersönlichen Kunst bis nach Eng-
land und Irland zu verfolgen. Im Figürlichen
des romanischen Stiles findet diese Art Kunst
ihre letzte, große Wiederbelebung auf euro-
päischer Erde.
Auf dem Boden der Volkskunst hat sich die
unpersönliche Kunst bis auf den heutigen Tag
erhalten. Die uralten Motive, deren mythische
Bedeutung dem Bewußtsein des Volkes zum
größten Teile verloren gegangen ist, die zum
Teile christliche Deutung erhalten haben, treten
heute noch in derselben Ausbildung auf wie
vor 3000 Jahren. Das Volk freilich — ich habe
hier ursprüngliche Verhältnisse vor Augen, mög-
lichstes Fehlen des städtischen Einflusses —
x) Ich denke an die weiblichen Tonidole, deren
Körper bald als Sichel, bald als Scheibe gestaltet ist.
Schliemann, Tyrins, Taf . 25 a, d.
spürt nichts vom Flusse der Zeit, das Volk, das
vielfach noch ohne die Kenntnis der Schrift
ebenso dahinlebt wie in vorgeschichtlicher Zeit.
Unter ähnlichen Verhältnissen schafft der
Kunsthandwerker im Orient seine Teppiche und
Metallarbeiten. Wir werden uns daher nicht
wundern, wenn wir an diesen Erzeugnissen oft
uralte Motive unverändert auftauchen sehen.
Morin bildet in seinem Werke »Le Dessin des
Animaux en Grece« vier Tiere ab1), die zu-
sammen nur einen Kopf haben. Von den ägäi-
schen Inselsteinen 2) sind die zwei Löwen mit
gemeinsamem Kopfe bekannt. Auf einem sassa-
nidischen Gewebe 3) finden sich vier Löwen mit
nur einem Kopfe, von Halbmonden rings uni-
geben. Das Motiv, das Morin abbildet, ent-
stammt einer ganz modernen orientalischen
Met allarbeit. Das Zurückgreifen auf so alte
Motive ist nach den früheren Ausführungen
nicht nur begreiflich, sondern vielmehr vorher-
zusagen. ■
Die Erkenntnis der beiden Arten des Kunst-
schaffens ist weiter von Bedeutung für die richtige
Einschätzung der Kunstbetätigung der Gegen-
wart.
Wir finden heute einerseits extreme Betonung
der Persönlichkeit, anderseits dein demokratischen
Zuge des Zeitalters entsprechend das Bemühen,
die Kunst der Allgemeinheit zugänglich zu
machen. Nach dem vorher Ausgeführten würde
sich ergeben, daß in diesem Falle die Persön-
lichkeit des Künstlers wird zurücktreten müssen,
was auch tatsächlich zutrifft. So erklärt es sich,
daß das Gegenständliche mit seiner Mannig-
faltigkeit in der Erscheinung im Kunstgewerbe
womöglich vermieden wird , daß die mensch-
liche Gestalt weitgehende Stilisierung erfährt
und das Ornament vorherrscht. Instinktiv knüpft
man dort an, wo gleiche Voraussetzungen hin-
sichtlich der Wirkung auf die Masse bestehen,
an die Volkskunst. So feiern uralte Motive im
heutigen Kunstgewerbe, der Kunst für die breitere
Menge, ihre Auferstehung. Das Motiv der
paarigen Vögel mit dem Lebensbaume fand
ich unverändert in graphischen Zierleisten und
auf bemalten Tellern , das hier besprochene
Motiv des Löwenwürgerstoffes als Flächen-
schmuck einer bemalten Vase, zn meinem Er-
staunen einmal sogar ein iu Silber und Glas ge-
arbeitetes Likörgefäß in Gestalt einer Doppel-
ente als bewußte getreue Nachbildung eines
Gefäßes aus vorgeschichtlicher Zeit, dann wieder
Taf.'
!) Morin, I.e., 8.139, Fig. 13.
2) Lichtenberg, Ägäische Kultur, S. 118, Fig. 69.
3) Fischbach, Die wichtigsten Webeornamente,
'20
ein Gefäß in Fisohgestall mit vorne anhaftendem
Menschenkopfe (Kunstgewerbemuseum in Buda-
pest) als getreue Nachbildung eines altetrus-
kischen Gefäßes ").
Bestrebungen ähnlicher Art sind über das
Kunstgewerbe hinaus auch in der Persöulieh-
keitskunst zu spüren. Auch hier strebt man
nach Vereinfachung, mau stilisiert und sucht
den Vorgang bei aller persönlichen Anschauung
möglichst absolut zu geben. So kommt es, daß
man nicht nur beim Schmucke großer Flächen,
sondern auch im Bilde auf Giotto und die
Primitiven zurückkommt. Die Anlehnung be-
zieht sich nur auf die eindringliche Art der
Darstellung, nicht auf die Motive. Man ver-
meidet nach Möglichkeit die Wiedergabe be-
stimmter Vorgänge und bevorzugt dekorative
Bilder allgemeinen Inhaltes mit Überschriften
wie Sommer, der Strand usw. Weun wir auf
einem Bilde Frauen sehen, die mit Kindern
spielen, die sich im Freien ergehen, die im
Grünen ruhen, die baden, so soll damit nicht
ein persönlicher Eindruck, sondern das Gefühl
der ganzen Menschheit zur Sommerszeit zum
Ausdrucke gebracht werden. Man vergleiche ein-
mal ein solches Bild mit einem Mosaik aus San
Vitale. Obwohl hinsichtlich Material und Technik
ganz andere Verhältnisse vorliegen, überrascht
J) Spiess, Behälter des Unsterblichkeitstrankes,
Fig. 37.
doch die Ähnlichkeit des Kindruckes, der auf
der Übereinstimmung in der Hervorhebung der
Linie, der dekorativen Wirkung und der be-
tonten Zeitlosigkeit des dargestellten Vorganges
beruht.
Es ist interessant zu beobachten, wie Be-
strebungen, die auf die exzessive Äußerung der
Persönlichkeit abzielen, bei Schöpfungen landen,
die die Vernichtung des Individuums bedeuten.
Die Werke der Kubisten, Expressionisten, Or-
phisten usw. zeigen uns in eindringbeher Weise
eine neue Arbeitsweise, aber keine Persönlich-
keit. Der Einfluß einer Zeit ist stärker als der
Einzelne mit seinem Willen. So sehen wir, daß
diejenigen, die die Großstadt und ihr Leben
mit noch so sensiblen Nerven des besonderen
Menschen erfassen und uns ihr Wesen sozusagen
in kristallisierter Form geben wollen, schließlich
der Möglichkeit des persönlichen Ausdruckes
verlustig gehen.
Im kulturgeschichtlichen Zusammenhange er-
scheinen derartige Bestrebungen als notwendig
und es ist daher nicht angebracht, diese Rich-
tungen — wobei natürlich leere Reklamesucht
und offenkundige Absicht zum Betrüge auszu-
schalten sind, ein Unternehmen, das einem in
heutiger Zeit allerdings nicht immer leicht ge-
macht wird — von vornherein mit dem Schwer-
gewichte einer nichts besagenden Überzeugung
als „neueu Schwindel" abzulehnen.
Am 8. Dezember 1914 verschied im 67. Lebensjahre in Bad Tölz, dessen
Ehrenbürger er war,
Hofrat Dr. Max Höfler.
Der Verstorbene war einer der fruchtbarsten und erfolgreichsten Forscher auf
dem Gebiete der vergleichenden Volksmedizin und der deutschen Volkskunde.
Seine grundlegenden Untersuchungen über Volksmedizin, die er in einer Anzahl
von Werken niederlegte, sowie seine reich illustrierten Arbeiten über die Opfer-
kulte und namentlich über die anläßlich der verschiedenen Feste hergestellten
Gebildbrote, die in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde und im Archiv
für Anthropologie erschienen sind, werden immer ihren Wert behalten und den
Namen des Dahingeschiedenen nie vergessen lassen.
Die Redaktion.
Reklamationen and sonstige Mitteilungen
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. K. Hagen, Hamburg 13, Binderstraße 14, zu senden.
Ausgegeben am 10. Mai 1915.
Korrespondenz- Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
XLVL Jahrg. Nr. 5/8.
Jährlich 12 Nummern.
Mai/Aug. 1915.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw. tragen die wissenBchaftl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren; s. S. 16 des Jahrg. 1894.
Inhalt: Über die Herkunft des südbulgarischen Dolichocephalus. Von Dr. J. B. Loritz. — Über Alter und
Herkunft der Kultur des Speltes (Triticum spelta L.). Von Hugo Mötefindt. — Ein mineralogisches
Erkennungszeichen prähistorischer Feuersteinartefakte. Von Max Stein. — Dionysos-Sabazios. Von
Dr. Emil Fischer. — Rechter Calcaneus eines Paläolithikers aus dem Diluvium von Gr.-Winnigstedt
im Kreise Wolfenbüttel. Von L. Knoop. — Mitteilung der Schweizerischen Naturforschenden Gesell-
schaft. — Methodische Siedelungsforschung. Von Ernst Lentz.
Über die Herkunft des südbulgarischen Dolichocephalus.
Von Dr. J. B. Loritz (München).
Eine vor kurzem erschienene Untersuchung
von Krum Drontschilow1) gibt mir Veran-
lassung, vorläufige Mitteilungen zu machen über
Untersuchungen, die ich im Münchener Anthro-
pologischen Institut im Winter 1914 an 104 bul-
garischen Studenten ausführte. Des weiteren
sollen hier kurz Ergebnisse zur Sprache kommen,
die meine Untersuchungen an mazedonischen
Flüchtlingen in Bulgarien im Jahre 1913 ergaben.
Die letzterwähnte Arbeit wird in Bälde im Arch.
f. Anthr. veröffentlicht werden.
Drontschilows Arbeitsfeld ist Südwest-
bulgarien, ein Gebiet, das geographisch etwa
festlegbar ist im Norden durch die Stara Planina
(= Altes Gebirge) sowie den Westabfall des
Balkans, im Osten durch das Quellgebiet des
Staria Isker und die Höhen Ikunita Kara Bair
und im Süden durch das Rila Planiua sowie
das nordwestsüdöstlich streichende Osogowska
Planina. Im Westen ist die Grenze der Drou-
tschilow sehen Arbeit durch die politische
Grenze gezogen, welch letztere nur zum Teil
') Krum Drontschilow, Beiträge zur Anthro-
pologie der Bulgaren. Arch. f. Anthr. Bd. XIV, Heft 1.
mit den Kulmiuationsrücken der Crkvena Pla-
uina sowie der Vidlic Planina zusammenfällt.
Daß Drontschilow auch dem Ort Orchauie
in seine Untersuchung mit einbezog, ist nicht
sehr vorteilhaft, da der genannte Ort geo-
graphisch nicht mehr zu Südbulgarien gerechnet
werden kann, denn er liegt auf der Nordseite,
richtiger gesagt an den Nordabhängen der west-
lichen Balkanausläufer. Das von ihm untersuchte
Material umfaßt 601 Manu, und zwar im Alter
von 20 bis 52 Jahren. Da unter diesen 601 Indi-
viduen etwa 330 nicht ausgewachsene Individuen
zwischen 20 bis 23 Jahren sich finden, so ist
natürlich der Einfluß dieser mehr als 50 Proz.
nicht vollkommen erwachsenen auf die metrischen
Werte der ganz ausgewachsenen nicht zu unter-
schätzen, was Drontschilow auch genügend
betont. Die Körpergröße sowie die Extremitäts-
maße leiden darunter besonders, alter auch auf
die übrigen Körpermaße, wie Schädel- und
Gesichtsmaße, werden geringere Einflüsse wohl
vorhanden sein.
Jedenfalls aber sind die Ergebnisse der sehr
hübschen Arbeit Drontschilows als sicher zu
betrachten und mit meinen sehr gut vergleichbar,
22
um so mehr, als meine Studenten eben auch nicht
ganz ausgewachsene Leute waren, wenigstens
in der Mehrzahl der Fälle.
Unter meinen 104 Studenten, die den ver-
schiedensten Gebieten Bulgariens entstammen,
mehrere sind auch aus Mazedonien, fand ich auch
als größte Schädellänge, den Höchstwert von
210, und danebenher gehen 201, 203 und 206.
Das sind sehr beträchtliche Längen. Mein
Minimum liegt mit 175 mm 5 cm höher als das
von Drontschi low gefundene.
Die Dolichokephalie findet Drontschilow
mit nur 10 Proz. in Südwestbulgarien vertreten,
denen stehen 43,0'J Proz. Mesokephale und
47,25 Proz. Brachykephale gegenüber. Die breiten
Schädelforuieu überwiegen hier unzweifelhaft.
Manche Sätze aus Drontschilows Arbeit kann
ich, was mich überaus freut, Wort für Wort
bestätigen, und meine Untersuchung über bul-
garische Schädel1), die im Druck ebeu der
Fertigstellung entgegengeht, wird das auch tun.
So schreibt Drontschilow über die Brachy-
kephalie in seinem Untersuchungsgebiet: „Diese
ist auch reichlich im Distrikt Sofia vertreten,
wo eine bedeutende Anzahl der Gemesseneu
sogar hytjerbrachykephal ist." Ganz richtig.
Ich finde unter meinen Sofiater Schädeln aus
moderner Zeit 55,6 Proz. Brachykephalie. Ein
erstaunlich hoher Betrag für Bulgarien. Di
römischer Zeit war dem anders, da hatten
wir in einer römischen Serie, die ich im Ethuo-
graphitscheski Musei maß, nur 14,2 Proz. Brachy-
kephalie, und 11 Proz. Dolichokephalen in der
rezenten Serie standen 28,4 Proz. in der römischen
gegenüber. Auch Wratza ist nach den Beob-
achtungen Wateffs und nach allem, was ich
an Wratzaer Schädeln sah — untersuchen konnte
ich nur 2 — ein Gebiet hohen Längen-Breiten-
indexes.
Drontschilow findet als Gesichtsindex in
seinem Gebiet ein Überwiegen der Mesoprosopie.
88 als Index tritt in 10 Proz. auf. Chamäprosopie
ist häufig. Ganz meine eigene Anschauung. In
meiner schon zitierten Arbeit wird beim Ver-
gleich zwischen Sofiater Schädeln aus römischer
Zeit und denen aus rezenter der Satz zu finden
sein : „Es können nur die aus der Obergesichts-
höhe und der Mittelgesichtsbreite resultierenden
Indices miteinander verglichen werden (Material-
erhaltung!). Danach ist zu konstatieren
eine Zunahme der chamäprosopen Ober-
gesichter in neuerer Zeit." Und bezüglich
meiner zwei Wratzaer Schädel schreibe ich: „Was
J) J. B. Loritz, Craniolo^isphe Untersuchungen an
bulgarischen Schädeln aus alter und neuer Zeit. Eben
im Druck.
die Gebiete betrifft, die westlich von Sofia
gegen die bulgarische Grenze zu gelegen
sind, so scheinen mir kürzere Gesichter dort
ziemlich h auf i g vorzuko m m e n. Noch weiter
nach Serbien hinein herrschen sogar die kurz-
gesichtigen Formen vor." Also was Dron-
tschilow am Lebenden fand, konnte ich bei
meinem Aufenthalt in dem fraglichen west-
bulgarischen Gebiet durch Beobachtung am
Lebenden sowie durch Messungen am Schädel
feststellen.
Wie liegen nun die beiden Indices, Gehirn-
schädellängen-Breiteniudex und Gesichtsiudex im
übrigen Bulgarien ''. Das führt uns zu der Er-
örterung der im Titel dieser Zeilen aufgeworfenen
Frage sowie zu einem richtigen Verständnis der
Ergebnisse von Drontschilow im Kabinen der
Bevölkerung Bulgariens überhaupt. Was den
Längen -Breitenindex anbelangt, so ist er in
Bulgarien an verschiedenen Stellen überaus ver-
schieden, einer von den vielen Beweisen für die
reichen Mischungen, die in diesem Volke
sich zu einem heute politisch und national
so einheitlichen Grundstock vereinigt
haben.
Ich erwähne da zuerst wieder die Ergebnisse
meiner craniologischen Untersuchungen. Für
Schuneu (Nordbulgarieu) finde ich da:
doliehokephal 44,4 Proz.
mesokephal 44,4 „
brachykephal 11,2 „
Was das heißt, ist ganz klar, die Dolicho-
kephalen sind reichlich vertreten, die Brachy-
kephalen nur spärlich, aber die Mesokephalen
halten den Dolichokephalen ganz die Wage.
Meine Serie ist eine rezente. Aber einmal lagen
die Verhältnisse wohl anders. Hellichs ') Arbeit
ergab höhere Längen -Breitenindices, und Hel-
lichs Schädel stammen aus dem 4. Jahrhundert.
Das Gesamtmittel für meine rezente Serie ergab
75,31, der Durchschnitt der Hellich sehen Serie
liegt mit 79,46 beträchtlich höher. Also im
4. Jahrhundert breitere, heute längere Schädel,
das ist der Ausdruck der angeführten Zahlen-
werte.
Von Norden gegen den Balkan zu
steigen die Längen-Breitenindices an,
mit Annäherung an den Balkan erreichen
sie ihre Maxima. Überschreiten wir nun den
Balkan nach Süden, so beobachten wir den
entgegengesetzten Prozeß. Mit Entfernung vom
Balkan fallen die Längen-Breitenindices ab, und
') Bog. Hellieh, Tscherepi.Iavertija russk. archael.
instit. wof Kongtantinopofja. Tom. X, Gl. 16. Prag
1905.
23
zwar außerordentlich beträchtlich. Man be-
tritt mit der Maritzaebeiic ein von Nord-
bulgarien weit verschiedenes anthro-
pologisches Gebiet.
Unter den Schädeln aus Tschirpan (Süd-
bulgarien), die ich untersuchte, sind (Ji),3Dolicho-
kephale und kein einziger Brachykephaler. Das
Zentrum der Doiichokephalie in Bulgarien ist das
Gebiet um Plowdif (Philippopel) — Tschirpan.
Was ich hier für Schädel zeigte, fand ich
genau so an Lebenden. Meine 52 Studenten aus
Nordbulgarien zeigen einen mittleren Index von
81,33. Wateff findet genau dasselbe, nämlich
81,4. Die Studenten aus Sotia sind hier nicht
mit eingerechnet, ebenso wie ich sie auch in der
südbulgarischen Gruppe nicht mit einbezog. In
Südbulgarien finde ich als Mittel nur TU, 30, und
dabei sind einige hohe Indices aus Dupnitza
und Samokoff mit einbezogen, also aus Gebieten,
für die auch Drontscbilow eine hohe Zahl
von Brachykephalen aufwies. Meines Erachtens
muß bei einer Untersuchung Südbulgariens ganz
exakt geographisch vorgegangen werden. Die
Gebirgsgebiete Südwestbulgariens können nur
zum Vergleich mit dem anthropologisch einheit-
lichen Gebiet der Maritzaebene herangezogen
werden. Lasse ich diese fraglichen hohen In-
dices meiner Studenten aus Dupnitza und Küsteu-
dil beiseite, so bekomme ich ein ganz ähnliches
Resultat wie Wateff, nämlich es liegt in der
Mitte des Index 78.
Recht anschaulich wird das anthropologische
Bild, wenn wir mit Querschnitten arbeiten. Legen
wir einen geographischen Querschnitt durch Bul-
garien von Nord nach Süd, und zwar sollen dar-
gestellt werden die Ergebnisse meiner Unter-
suchungen an den schon mehrmals erwähnten
Studenten bezüglich Körperhöhe, Längen-Breiten-
index, Gesichtsindex und Nasaliudex. Das Bild
ist folgendes:
Nordbulgarien
Südbulgarien .
Körper-
höhe
1665
1669
Längen-
Brei ten-
index
81,33
78,7
Gesichts-
index
87,05
88,64
Nasal-
index
68,63
65,38
Klarere Verhältnisse wären wohl undenkbar.
Von Nord nach Süd fortschreitend nimmt die
Körperhöhe zu und der Längen- Breiteuindex ab,
von Nord nach Süd fortschreitend werden die
Gesichter und ebenso die Nasen schmäler.
Drontschilow hat ganz das Richtige ge-
troffen, wenn er vom Dolichocephalus schreibt,
„auch durch ziemlich große Körperstatur und
recht schmale Nase ausgezeichnet". Die vor-
stehende Übersicht bestätigt das. Hohe Statur,
brünett, langes Gesicht und schmale Nase ist
für den südbulgarischen Dolichocephalus typisch.
Drontschilows aufmerksamer Untersuchung
gelang es, noch eine zweite Form als Dolicho-
cephalus zu finden; er beschreibt ihn: „selten
ganz rein, der blonde, schmalgesichtige, große
Dolichocephalus, d.h. der nordische Typ". Ich
habe ihn noch nie gesehen. Er ist jedenfalls,
wie auch Drontschilow sagt, selten, und
ich glaube nicht, daß er am heutigen anthro-
pologischen Bilde irgendwie auffällt. Ob er je
in größerer Masse auftrat, ist wohl vorerst nicht
zu entscheiden. Das eine aber kann wohl sicher
gesagt werden, daß er gegenüber dem brü-
netten großen Dolichocephalus in der
Minderheit von vornherein war. Denn
während der brünette Typ sehr häufig anzutreffen
ist, tritt der blonde eben nur ganz sporadisch
auf. Südbulgarien, genauer noch gesagt die
Maritzaebene, ein Tal, das, wie kurz bemerkt
sei, tektonisch gebildet ist und ein riesiges
Einbruchsbeckeu darstellt, ist das Zentrum des
bulgarischen Dolichocephalus. Die Maritza-
ebene ist wohl das Ausstrahlungsgebiet
für ganz Bulgarien.
Nun werfen wir die Frage auf: woher kommt
denn dieser bulgarische Dolichocephalus? Dron-
tschilow legt sich diese Frage in seiner zitierten
Arbeit auch vor und glaubt, „daß die brünetten,
langköpfigen Bulgaren seiner Serie mit jener
älteren Bevölkerung Rußlands in Zusammenhang
zu bringen sind". Jene ältere Bevölkerung Ruß-
lands war wohl großenteils laugköpfig, soweit
mau bis heute die Ergebnisse überblicken kann.
So ergeben nach Topinard, was auch Dron-
tschilow zitiert, 10 neolithische Schädel vom
Ladogasee 72,1 als Längen - Breiteuindex und
140 Schädel aus Moskau 75,9. Dem stehen
gegenüber 34 Kurganschädel, die aber bereits
einen Index von 78,3 aufweisen. Es darf aber
dennoch als richtig betrachtet werden, besonders
auch nach den Untersuchungen von Toldt, daß
die alten slawischen Schädel langköpfig waren
oder doch den langen Gehirnschädelformen recht
nahe standen.
Der Gedanke ist es, an den Drontschilow
in seiner Arbeit anknüpft und der ihn dazu
bestimmte, unseren bulgarischen Dolichocephalus
mit jener altrussischen Bevölkerung in direkten
Zusammenhang zu bringen.
Über die Zeit, wann die brünetten Lang-
köpfe nach dem Süden kommen , äußert sich
Drontschilow folgendermaßen: „Entweder sind
diese brünetten Langköpfe schon vor den Slawen
in den nördlichen ßalkauländern ansässig ge-
21
wesen oder sie sind zugleich mit den Slawen
eingewandert. Dann aber mußte man annehmen,
daß diese Slawen, ehe sie über die untere Donau
nach der Balkanhalbinsel kamen und dann das
heutige bulgarische Volk bilden halfen1),
lauere Zeit in inniger Berührung mit der älteren
finnischen2) Bevölkerung Rußlands gestanden
haben". Das ist der fragliche Gedanke und
Satz, der Drontschilow dann weiterhin bewegt,
seiner Arbeit als Schlußsatz beizufügen, „daß
unter den heutigen Bulgaren neben dem slawi-
schen auch ein numerisch recht bedeutendes
finnisches Element vertreten ist".
Wir haben nun oben gesehen, daß die Lang-
köpfigkeit in Bulgarien von Nord nach Süd in
ihrer Häutigkeit fortschreitet, wir fanden weiter,
daß die Häufigkeit der Zunahme der Dolicho-
kephalie zusammentrifft mit einer Zunahme des
Größenwuchses. Wir konstatierten für Nord-
bulgarien die niedrigsten Körperhöhen und
gleichzeitig relativ breite Schädel. Wir
konnten weiterhin übereinstimmend mit Watef f
feststellen, und indirekt bestätigt das auch
Drontschilow, daß für diesen Dolichocephalus
eine schmale Nase typisch ist. Wir fanden auch
die Leptorrhinie viel häufiger in Südbulgarien
als in Nordbulgarien. Weiterhin möchte ich
beifügen, daß dieser süd bulgarische Dolicho-
cephalus eine beträchtlichere Naseneleva-
tion besitzt, als sie in Nordbulgarien anzutreffen
ist, und daß für ihn der gerade bis konvexe
Nasenrücken eigentümlich ist. In Nord-
bulgarien treten dagegen neben der breiteren
Nase viel häufiger die konkaven Nasenrücken auf.
Weist das nun nicht alles nach Süden hin?
Und zum zweitenmal fragen wir: Woher kommt
denn eigentlich dieser südbulgarische Dolicho-
cephalus V Ich habe schon dargetan, daß in
Nordbulgarien auch Dolichokephalie nicht selten
ist, muß aber beifügen, daß Schunen, woher
meine nordbulgarische Serie stammt, jedenfalls
dolichokephaler ist als viele andere nordbulga-
rische und danubische Gebiete. Wir sahen auch,
daß im 4. Jahrhundert dort in Nordbulgarien
höhere Schädeliudices nachgewiesen wurden, als
das heute der Fall ist.
Für Sofia zeigen die von mir untersuchten
Schädel aus römischer Zeit, daß diese alte
Sofiater Bevölkerung schmalschädelig war, daß
ihr relativ viel längere Schädel eigen waren als
der heutigen Sofiater Bevölkerung, von der ich
ja das bestätigen konnte, was Drontschilow
') Von mir gesperrt gedruckt.
-) Von Drontschilow gesperrt gedruckt.
von ihr sagt bezüglich ihrer Brachykephalie.
Demnach konstatieren wir für Nordbulgarien
(Schunen) in historischer Zeit eine auftretende
längere Schädelform, für Sofia einen vorhanden
gewesenen längereu Gehirnschädeltyp und ein
modernes Überwuchern der brachykephalen Ele-
mente. Und im Süden, in der schönen breiten
Maritzaebene haben wir ein Zentrum niedriger
Schädeliudices. Lassen wir den Dolicho-
cephalus von Norden kommen, so ist
das Auftreten seiner größten Energie
und Intensität im Süden des Balkans und
sein geringes Auftreten im Norden des
Balkans gar nicht zu erklären.
Auch daß wir im 4. Jahrhundert in Schunen,
einer nordbulgarischen Stadt, eine Bevölkerung
von beträchtlich höheren Schädeliudices haben
als heute, spricht jedenfalls nicht für eine Nord-
südrichtung der Verbreitung des doliehokephalen
Typs. Daß wir andererseits in sehr alter Zeit
Sofias viel längere Schädel antreffen und in
moderner Zeit viel kürzere, spricht für eine
ehemalige viel weitere Verbreitung und
noch größere Häufigkeit der dolieho-
kephalen Schädelform in Bulgarien. Dieser
in der Jetztzeit so häufig auftretende Sofiater
Brachycephalus mit seinem niedrigen Gesieht
hat sein Verbreitungsgebiet nicht in Bulgarien,
sondern im Westen. Ich stimme auch ganz mit
Drontschilow überein, wenn er sagt, daß der
hochwüchsige brünette Brachycephalus als her-
zegowinischer Typ zu bezeichnen ist. Es ist das
ein typischer Bewohner adriatischer Küsten-
länder. Drontschilow fügt diesem dunklen hoch-
wüchsigen Brachycephalus noch einen blonden
hochwüchsigen Brachycephalus bei. Auch den
konnte ich finden1), aber neben ihm ist noch ein
relativ niedriger blonder Brachycephalus 2) in
Bulgarien vertreten. Ein früher in München wei-
lender bulgarischer Student war sein Repräsen-
tant. Es ist ein kurzgesichtiger, niedriger,
hellfarbiger Brachykephaler. Weisbach3) fand
für seine „Serbokroaten Kroatiens und Slawo-
niens" die niedrigsteu Körperhöhen mit blondem
Typ und Brachykephalie vereint. Ich bringe
diesen kleinen bulgarischen blonden Brachy-
cephalus mit Weisbachs eben genanntem
serbokroatischen Typ in Zusammenhang. Er ist
sehr selten. Wieweit armenische Bestandteile
auf das heutige anthropologische Bild von Ein-
fluß sind, läßt sich vorerst noch nicht ent-
scheiden.
') Student.
2) Student.
3) A. Weisbach, Die Serbokroaten Kroatiens und
Slawoniens. Wien 1905.
25
Wir können also jedenfalls ein Überhand-
nehmen kurzköpfiger Elemente in der modernen
Zeit Bulgariens konstatieren.
Wie liegen denn nun die Verhältnisse noch
weiter südlich über Südbulgarien hinaus. Es
schließt da Mazedonien an, und ich kann da nun
meiner Untersuchungen an erwachsenen Männern
und Frauen Kukuschs — die Kinder lasse ich
hier beiseite — kurz Erwähnung tun.
Die Dolichokephalie, die wir so mächtig in
Südbulgarien vertreten fanden, erreicht iii diesem
mazedonischen Gebiet, das nach dem Meere
gelegen ist, ihr Maximum. Ich verlängere den
Schnitt, den wir von Nordbulgarien über Süd-
bulgarien zogen, damit er auch dieses Gebiet
rings um Kukusch trifft. Eine solche Zusammen-
stellung wirkt am klarsten.
Nordbulgarien . .
Südbulgarien . . .
Mazedonien cf • •
(Kukuschko) $ . .
Körper-
hohe
1665
1669
1677
1543
Längen-
Breiten-
index
81,33
78,7
74,23
72,77
Gesichts-
index
87,05
88,64
86,14
83,48
Nasal-
indes
68,63
65,38
73,93
70,13
Die Körperhöhe nimmt in Mazedonien noch
weiterhin zu, und gleichzeitig auch werden die
Gehirnschädel noch dolichokephaler. Anders
liegen die Verhältnisse bezüglich der Gesichts-
maße. Da treffen wir etwas kürzere Lang-
gesichter und vor allem breitere Nasen. Dadurch
unterscheidet sich jedenfalls der hier vorliegende
mazedonische Dolichocephalus vom südbulga-
rischeu. Geradezu erstaunlich sind die niedrigen
dolichokephalen Werte. So liegen aber die
Verhältnisse durchaus nicht in ganz Maze-
donien. In Westmazedonien herrschen viel
kürzere Schädel vor und kürzere Gesichter, so-
weit ich Leute aus jenen Gebieten sehen konnte,
in Thrazien dagegen finden wir nach Wateffs
Mitteilungen ebenfalls lange Gehirnschädel-
formen. Hinweisen möchte ich noch darauf,
daß ich unter meinen Männern aus Kukuschko
(= Gebiet von Kukusch) relativ häufig Augen
fand, die ich als „grau-grün" notierte. Ich er-
inuere mich übrigens, bei dem bulgarischen
Dichter Karaweloff einmal gelesen zu haben
von Nymphen mit „sivo-seleni otschi", mit
graugrünen Augen. Auch in Bulgarien selbst
sind graue Augen sehr häufig und wenn man
besonders noch schwarze Haare damit vereint
findet, so hat man die Sicherheit, einen Repräsen-
tanten reicher Typenmischung vor sich zu haben.
Die mazedonischen Frauen zeigten dagegen viel
häufiger dunkle Augen, die sie selbst als „kes-
teni", kastauienfarbig, bezeichneten. Noch eins
soll hervorgehoben werden, mongoloide Eigen-
tümlichkeiten fand ich unter diesen Mazedoniern
viel weniger als in Bulgarien. Nur zwei Mädchen
mit sehr ausgeprägten asiatischen Merkmalen
sind notiert und eine im Bilde festgehalten.
Auf Grund der angeführten Tatsachen
glaube ich, dieses südmazedonische Ge-
biet verantwortlich machen zu sollen für
den südbulgarischen Dolichocephalus.
Im Süden liegt das Maximum der Dolicho-
kephalie und das Maximum der Körperhöhe,
nach Norden zu fallen beide Eigentümlichkeiten
metrisch ab *). In Mazedonien am Ägäischen
Meer fanden wir als Gesichtstypen lange und
kurze, und in meinem Untersuchuugsgebiet herr-
scheu kürzere vor, mit denen sich breitere Nasen
verbinden.
Für Nordbulgarien ist es gar nicht von der
Hand zu weisen, daß ein Dolichokephaler von
Norden kam, sei es mit den Slawen oder sei es,
daß er bereits vor ihnen eingewandert war. Der
nordbulgarische Dolichocephalus ist. höher als
der südbulgarische; in der Höhe beider faud
ich für Schunen (Nordbulgarien) und Tschirpau
(Südbulgarien) unterscheideude Momente. Daß
alier auch der südbulgarische Dolichocephalus
von Norden kam, halte ich aus den angeführten
Gründen und Tatsachen für sehr unwahrscheinlich.
Hinweisen möchte ich noch auf v. Luschan2),
der bei seinen „Middle Minoan"- Schädeln als
Längen -Breitenindex 73,6 fand, bei seinen re-
zenten Kretern 78,0. Unter deu „Middle Minoan" -
Schädeln waren 58,8 Proz. dolichokephale, unter
den rezenten Kreterschädeln 21,4 Proz. Unter
den „Middle Minoau"-Sehädelu stehen 5,9 Proz.
brachykephale, unter den rezenten 50,0 Proz.
brachykephale. Also eine stark dolichokephale
Urbevölkerung für Kreta. Gleichzeitig paart
sich mit der hohen kretischen Dolichokephalie
eine breitere Nase vom Index 49,5 und mit den
brachykephalen rezenten Kreterschädeln eine
schmalere Nase vom Index 47,6.
Also sehr schmale Schädel und etwas breitere
Nase in der alten Kretaer Bevölkerung. Für
die Mazedonier fand ich schmale Schädel und
breite Nase. Es klingt das etwas ähnlich. Freilich,
bis zu dem nun naheliegenden Schluß von
einer einheitlichen Urbevölkerung, die sich über
die Inseln des Ägäischen Meeres ausbreitete
und den europäischen Kontinent im heutigen
Mazedonien mit besiedelte, ist noch ein gut
J) Was aber für die Körperhöhe wichtig ist, si
hält sich innerhalb einer Grenze, die den südbulgarischei
Werten nahesteht.
2) v. Luschan, Beiträge zur Anthropologie vo
Kreta. Berlin 1913. (Zeitschrift für Ethnologie, Heft 3
26
Stück Weg, und der führt über die Prähistorie.
Die Prähistorie der Inselwelt des Ägäischen
Meeres, und zwar denke ich da ganz besonders
:m die somatisch anthropologische Seite, sowie
die Prähistorie Bulgariens und Mazedoniens, wird
uns die heute noch dunklen Fragen klären helfen.
Das eine aber glaube ich sagen zu dürfen,
daß das Zentrum des südbulgarischen Dolicho-
cephalus nicht im Norden, sondern im Süden
des Kontinents zu suchen ist, woraus sich der
Zusammenhang mit der Mittelmeerbevölkerung
der verschiedenen Zeiten ergibt
über Alter und Herkunft
der Kultur des Speltes (Triticum spelta L.).
Von Hugo Mötefindt, Wernigerode.
Unter allen Fragen aus dem Gebiete der prä-
historischen Botanik ist im letzten Jahrzehnt
wohl keine so brennend gewesen und hat den
Pflanzenhistorikern so viel Kopfzerbrechen ver-
ursacht, wie die Frage nach dem Alter und der
Herkunft der Kultur des Speltes oder Dinkels
(Triticum spelta L.). Um die Lösung dieser
Frage hat sich eine ganze Reihe von Forschern
bemüht. Wir begnügen uns, von einschlägigen
Arbeiten aus neuerer Zeit nur folgende anzu-
führen :
1. Georg Buschan, Vorgeschichtliche Bo-
tanik der Kultur- und Nutzpflanzen der alten
Welt auf Grund prähistorischer Funde, Breslau
1895. S. 2 1 ff .
2. Robert Gradmann, Der Dinkel und die
Alemannen. Jahrbücher für Statistik und Landes-
kunde. Jahrgang 1901. Erschienen Stuttgart
1902. S. 103—158.
3. Johannes Ho ops, Waldbäume und Kul-
turpflanzen im germanischen Altertum, Straß-
burg 1905. S. 411— 443.
4. G rad mann , Der Getreidebau im deutscheu
und römischen Altertum. Beiträge zur Verbrei-
tungsgeschichte der Kultnrgewächse. Jena 1909.
5. H. L. Krause, Besprechung von Grad-
mann, Der Getreidebau usw. Maunus II, 1910.
S. 254—255.
6. H. L. Krause, Spelz- und Alemannen-
grenze. Maunus II, 1910. S. 200.
7. August Schulz, Die Geschichte der
kultivierten Getreide, I, Halle a. S. 1913. S. 23 ff.
Wir wollen zunächst versuchen, an der Hand
dieser Arbeiten einen Überblick über den Gang
der Forschung und den augenblicklichen Stand
der Frage zu geben. Daran sollen sich einige
Ausführungen über Speltfunde aus vorgeschicht-
licher Zeit schließen, die für den Pflauzen-
historiker neues Material bieten werden.
Buschan ging bei seiner Untersuchung von
der Voraussetzung aus, daß Spelt in prähisto-
rischer Zeit noch unbekannt gewesen sei. Mit
de Candolle1) und Schweinf urth 2) hielt er
den Emmer (Triticum dicoecum Schrenk) für
die älteste Kulturform des Speltes. Die Um-
wandlung des Emmer in den Spelt habe sich
erst in sehr junger historischer Zeit, ziemlich
gleichzeitig mit dem ersten Auftreten des
Namens spelta, im Jahre 301 n. Chr. vollzogen,
so daß der neue Name zugleich auch eine neue
Pflanze bezeichnet hätte. Als Ursprungsland
der Speltkultur, d. h. als dasjenige Land, in
dem sich dieser Umwaudlungsprozeß vollzog,
kommt nach Buschan „das gemäßigte Ost-
europa und seine benachbarten asiatischen
Gebiete" in Frage. Hier im Osten reiche die
Speltkultur möglicherweise bis in prähistorische
Zeiten zurück, was für Mittel- und Südeuropa
jedoch ausgeschlossen sei.
Gradmann vertritt in seiner ersten Ver-
öffentlichung folgende Ansichten: „Der Spelt
ist ebenso wie der Roggen und Hafer zuerst
von nordalpinen, keltischen und germanischen
Völkern in Kultur genommen" (S. 125) und
„könnte recht wohl auch auf mitteleuropäischem
Boden unmittelbar aus einem wildwachsenden
Steppengrase gezüchtet worden sein, nur müßte
man diesen Vorgang in eine ziemlich frühe Zeit
hinaufrücken, eine Zeit, in der das Klima einen
etwas kontinentaleren Charakter hatte und von
einer steppenartigen Quartärflora noch mehr vor-
handen war als in der Gegenwart" (S. 123). Die
Geschichte und Ausbreitung der Speltkultur ist
nach Gradmann auf das engste verknüpft mit
dem germanischen Stamme der Alemannen. Die
Sueben oder Alemannen seien schon in ihren
Irsitzen östlich der Elbe im Besitz dieser Ge-
treideart gewesen und hätten sie aus ihrer
ostelbisehen Heimat nach Süddeutschlaud mit-
gebracht. Die scharfen Grenzen des heutigen
*) Ursprung der Kulturptlanzen, Leipzig 1884. S. 485.
•) Ägyptens auswärtige Beziehungen hinsichtlich
der Kulturgewächse. Verhandl. d. Berlin. Anthropol.
Ges. 1891, S. 654.
27
Speltgebietes deckten sich weder mit klima-
tischen, noch mit geographischen, noch mit
wirtschaftsgeographischen Grenzlinien; sie seien
vielmehr vom Staudpunkt der physischen und
Wirtschaftsgeographie aus völlig unverständlich
und müßten als willkürlich erscheinen. Grad-
mann schließt sich darum den jüngeren For-
schern an, die sich einer historischen Erklärungs-'
weise zugewandt haben, bekämpft jedoch die
von Stalin1), Titot2) und Volz3) vertretene
Ansicht, daß die Römer die Träger der Spelt-
kultur waren. Im Anschluß an Buschan unter-
nimmt er es, auf Grund eines reichen, aus der
klassischen Literatur zusammengetragenen Ma-
terials den Nachweis zu führen, daß die Römer
in vorchristlicher Zeit den Spelt überhaupt noch
gar nicht kannten, daß die Alemannen ihn nicht
erst bei ihrer Niederlassung in den Agri decu-
mates von den Römern, sondern daß diese ihn
umgekehrt etwa im dritten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung' samt dem germanischen Nameu
von den Alemannen erhielten. Gradmann weist
dabei vor allem darauf hin, daß der Wohn-
bezirk des schwäbisch -alemannischen Stammes
zugleich das Ilauptverbreitungsgebiet des Spelt-
baues sei, was schon Ed. Langethal4) und Th.
Engelbrecht5) bereits früher bemerkt hatten.
Grad mann geht aber noch weiter, indem er
wahrscheinlich zu machen versucht, daß das
heutige südwestdeutsche Speltgebiet im fünften
Jahrhundert zur Zeit der endgültigen Festsetzung
des schwäbischen - alemannischen Volkes ent-
standen sei, zumal der heutige Umfang des
Speltgebietes fast bis ins einzelne der gleiche
geblieben ist wie im Mittelalter. Auch die
verstreuten anderen Speltgebiete in der Rhein-
provinz, Italien, Herzegowina, Ungarn möchte
Gradmanu auf versprengte Alemannenscharen
zurückführen, welche auf den zahlreichen weit-
reichenden Kriegszügen dieses Volksstammes in
den fremden Ländern hängen geblieben seien.
Einzig und allein für das belgische Speltgebiet
gesteht Gradmann selbständigen keltischen
Ursprung zu. Hinsichtlich des Speltbaues in
Serbien und Südrußland bezweifelt er dagegen,
daß es sich hier wirklich um Triticum spelta
') Wirtembergische Geschichte 1, Stuttgart u. Tü-
bingen 1841. 107.
2) Beiträge zu einer Geschichte des Feldbaues usw.
Korrespondenzblntt des Kgl. Württemb. Landwirtschaft!.
Vereins, N. F., 29, 1846, 130.
3) Die Getreidearten und Hülsenfrüchte der Alten.
Korrespondenzblatt des Kgl. Württemb. Landwirtschaftl,
Vereins, N. F., 29, 1846, 130. Beiträge zur Kultur-
geschichte, Leipzig 1852. S. 145.
4) Geschichte d. deutsch. Landwirtschaft 1, 18+7, 47.
6) Die Landbauzonen der außertropischen Länder
1, 1899, 41.
handle, und wenn ja, daß sich dasselbe zeitlich
weit zurückverfolgen lasse.
Ganz erheblich abweichende Ansichten äußerte
wenige Jahre später Johannes Iloops in
seinem bekannten dickleibigen Werke „Wald-
bäume und Kulturpflanzen im germanischen
Altertum", das die Forschung in dieser Spezial-
frage ebenso gefördert, wie es für das ganze
Gebiet der Pflanzengeschichte befruchtend ge-
wirkt hat. Hoops ging in der Speltfrage von
Anfang an von einer ganz anderen Basis aus.
Im Gegensatz zu WTeizeu, Einkorn und Emmer
war Spelt in vorgeschichtlichen Fundstätten bis
jetzt nirgends nachgewiesen. Nun hatte aber Os-
wald Heer1) Körner und Ährchen des Speltes
in den bronzezeitlichen Pfahlbauresten der Peters-
insel im Bieler See entdeckt. Buschan hatte
gegen diesen Fund Bedenken vorgebracht, ob
es sich überhaupt wirklich um Spelt handele,
weil dieser Fund von der Petersinsel in der
ganzen prähistorischen Botanik vereinzelt da-
stände2). Diesem Zweifel, den vor Buschan
bereits de Candolle3), Kör nicke4),
Schweinfurth 5) ausgesprochen hatten, schloß
sich G r a d m a n n 6) in seiner ersten Abhand-
lung noch an. Hoops ging jedoch der Sache
auf den Grund. Auf seine Veranlassung unter-
suchte der vorzügliche Botaniker E. Schröter
in Zürich das von dem betreffenden Funde auf
der Petersinsel erhaltene einzige Ährchen, jetzt
im botanischen Museum des eidgenössischen
Polytechnikums in Zürich befindlich, noch ein-
mal eingehend und gelangte trotz der gegen-
teiligen Behauptungen Buschans und de Can-
dolles zu der Ansicht, daß das Ährchen ganz
sicher Spelt sei. Auf dieses Ergebnis der Unter-
suchung von Schröter baute Hoops seine
Folgerungen auf: der Spelt müsse bereits in der
Bronzezeit in der Schweiz gebaut sein. Für
jeden, der die Richtigkeit dieser Folgerungen
anerkannte, fielen damit die von Buschan und
Gradmanu aufgestellten Kombinationen über
Alter und Herkunft der Speltkultur, über die
Stammesgeschichte der Alemannen usw. in sich
zusammen. Bedenklich mußte aus der Hoops-
schen Folgerung jedoch immer das eine bleiben,
daß sie sich nämlich nur auf einen einzigen
bisher für unsicher gehaltenen Fund stützte.
x) Die Pflanzen der Pfahlbauten. Mitteil. d. anti-
quarischen Ges. zu Zürich 1865, S. 15.
'-) A. a. 0., S. 24.
3) A. a. O., S. 458.
4) Die Arten und Varietäten des Getreidebaues.
Band 1 des Handbuches des Getreidebaues von Kör-
nicke, und "Werner, S. 76, 83, 110. Berlin 1885.
5) Verhandlungen usw. 1891, S. 653.
G) A. a. O., S. 118, Audi. 7.
28
Hoops begnügte sich mit diesem Ergebnis
nicht, sondern ging noch weiter. Im weiteren
Verlauf seiner Untersuchungen wies er nach,
daß der Name spelta germanischen Ursprunges
ist und wahrscheinlich eines der frühesten deut-
schen Lehnwörter im Lateinischen sein dürfte.
Aus dieser Feststellung folgerte er jedoch nicht,
daß die Kömer mit dem Namen auch die Pflanze
von den Germanen erhalten hatten — womit
er sich an Gradmanns Ansicht angeschlossen
hätte — , sondern er griff auf den Fund von
der Petersinsel zurück und begründete durch ihn
folgende Ansicht: Es gibt keine Belege von
einem prähistorischen oder auch frühhistorischen
Anbau des Speltes in Deutschland und den
nordischen Landen; die schweizerischen Pfahl-
bauer haben den Spelt dagegen sicher gebaut.
Auch im Mittelalter und in der Neuzeit ist
außerhalb des Alpeugebietes und des südwest-
lichen Deutschlands, in Mittel- und Nordeuropa,
gleichfalls nirgends Speltbau getrieben worden.
Deshalb spricht " alle Wahrscheinlichkeit dafür,
daß die Germauen in ihren ursprünglichen
Wohnsitzen in Norddeutschland und den nor-
dischen Ländern den Spelt nicht besaßen, son-
dern ihn erst bei ihrem Vorrücken nach Süd-
deutschland und den Alpeuländern kennen lernten,
und weiter, daß der Name spelta zwar deutsch,
die Frucht aber undeutsch ist; den Romanen
sollte der Spelt bereits früher bekannt gewesen
seiu , das germanische Fremdwort spelta sei
ihnen aber erst im Laufe des dritten und
vierten Jahrhunderts durch den Getreidehandel
bekanut geworden und habe sich bei ihnen
durchgesetzt.
Hoops leugnet nicht, daß der Speltbau in
Deutschland vorzugsweise eine Eigentümlichkeit
des schwäbischen Stammes ist. Er erkennt es
vielmehr als unbestreitbares Verdienst von
Gradmann an, daß er auf Grund eines um-
fassenden Materials für die Gegenwart wie für
das Mittelalter diesen Nachweis erbracht hat.
Aber die Alemannen kann Hoops nicht als
die Urheber des Speltbaues anerkennen; der
letztere ist nicht durch sie nach Südwestdeutsch-
land eingeführt worden. Hoops nimmt an, daß
die Alemaunen den Spelt selber erst im Deku-
matenlaude kennen gelernt haben ; sie seien hier
sozusagen in die Speltkultur hineingewachsen,
hätten sie dann vielleicht in manche Gegenden
eingeführt, wo sie vorher nicht zu Hause gewesen
wäre, und hatten auf jeden Fall bis auf den
heutigen Tag mit großer Zähigkeit an ihr fest-
gehalten. Hoops bezweifelt aber auch die
Richtigkeit der Ansicht Gradmanns, daß sich
das Speltgebiel überall genau mit dem Siede-
lungsbereich des schwäbischen Stammes decke,
und wendet sich vor allem gegen Gradmanns
kühne Hypothese, daß die zahlreichen außer-
schwäbischen Speltgebiete auf dem Hunsrück,
in der Eifel, in Frankreich, Spanien, Italien und
Österreich auf einwandernde Alemannenscharen
zurückzuführen seien. Diese heutigen Spelt-
gebiete sind nach Hoops vielmehr als Reste
eines ehemaligen größeren Speltkulturgebietes
aufzufassen. Hoops hat sofort anch daraus die
Konsequenzen gezogen und die Frage, wann
denn jenes große Speltreich entstanden sei und
ob bei der Ausbreitung desselben vielleicht
irgend ein Volk besonders beteiligt war, zu
beantworten versucht. Hier wies er zunächst
darauf hin, daß die Römer zur Einführung und
Förderung der Speltkultur in ihren Provinzen
wohl ziemlich viel beigetragen haben werden.
Dann aber erinnerte er an die Tatsache, daß in
der Umgegend der Schweizer Seen der Spelt
bereits in der Bronzezeit kultiviert wurde. Er
zieht daraus den kühnen Schluß, daß der „Spelt
zur Bronzezeit schon im ganzen Mittelmeer-
gebiet heimisch war; denn wenn der Spelt zur
Bronzezeit schon nördlich der Alpen bekannt
war, so wurde er sicher auch in Südfrankreich
kultiviert, denn die alte Völkerverkehrsstraße
vom Mittelmeer nach der Westschweiz führte
das Rhouetal aufwärts". Hoops sprach dabei
die Überzeugung aus, daß „bei genauerer
archäologischer Nachforschung nicht nur in
Italien, sondern auch in anderen Mittelmeer-
ländern noch Spuren einer prähistorischen Spelt-
kultur zum Vorschein kommen werden".
Wenige Jahre nach dem Erscheinen des
Hoopsschen Werkes erschien eine neue Schrift
von Gradmann über den „Getreidebau im
deutschen und römischen Altertum" (Jena 1909).
In dieser Schrift nahm Gradmann ganz ent-
schieden Stellung gegen die von Hoops vor-
getragenen Ansichten. Gradmanu läßt dort
seine Vermutung, daß die Alemannen den Spelt
aus ihrer nordostdeutscheu Heimat mitgebracht
hätten, auf die von Hoops vorgebrachten Ein-
wände hin fallen. Die Differenzen zwischen
Gradmanns jetzigem Standpunkt und dem
Hoopsschen Buche drehen sich vor allem um
die Auffassung und Interpretation einiger ein-
ander widersprechender Pliniusstellen, über die
man allerdings verschiedener Meinung seiu kann.
Hoops hat bisher zu diesen Ausführungen
Gradmanns noch nicht Stellung genommen.
Wie ein Motiv hört man überall aus der
Darstellung heraus, daß die Germanen keine
einzige Getreideart den Römern zu verdanken
halien. Andererseits wird der römische Ursprung
29
des deutschen Gartenbaues voll anerkannt. Fin-
den Orient und Osteuropa läßt sich mit ziem-
licher Sicherheit behaupten, daß man dort nie-
mals Spelt gekannt hat; für Italien ist das
wenigstens möglich. In der Literatur erscheint
der Spelt erst 301 n. Chr. Die Grenze des
Hauptspeltgebietes fällt in Südwestdeutschland
im Mittelalter wie noch jetzt auf weiten Strecken
in auffälliger Weise zusammen mit den Grenzen
der alemannischen Siedlung. Den Ausnahmen
gesteht Gradmann wenig Bedeutung zu, wäh-
rend Hoops gerade diese hervorgehoben hatte.
Der Ursprung des Speltes erscheint nun ganz
dunkel. Aus den vorgeschichtlichen Funden
ergibt sich, daß der Spelt in der Schweiz be-
reits lange vorher gebaut wurde, bevor die
Alemannen kamen, und in deren Wohnsitzen
ist kein Speltbau erkennbar. Gradmaun sucht
deshalb den Ursprung dieses Getreides jetzt in
einer vorgeschichtlichen deutschen Steppe. Diese
letztere Hypothese ist aber, worauf bereits
E. II. L. Krause in seiner Besprechung des
Grad mann sehen Buches hingewiesen hat, durch-
aus unannehmbar; denn soweit wir die post-
glazialen Felder auf Grund von Fossilien und
Relikten wiederherstellen können, müssen sie in
Fauna und Flora einen durchaus sibirischen
Charakter gehabt haben, und dort im Osten
wird ja gerade jede Spur von Spelt vermißt;
dieser muß demnach wohl westeuropäisch sein.
Ernst H. L. Krause lehnte in seiner Be-
sprechung des Gradmannschen Buches die
Gradmannsche Hypothese vom alemannischen
Ursprung noch einmal entschieden ab, konnte aber
für das auffällige Zusammentreffen der Stammes-
und Wirtschaftsgrenze keine anderweitige Er-
klärung geben. Jetzt glaubt er in dem Haferbau
der alten Alemannen und den klimatischen Bedin-
gungen des Weizenbaues eine Erklärung für das
auffällige Zusammentreffen gefunden zu haben.
Schließlich hat noch August Schulz in
seinem oben angeführten Buche eingehend zu
diesen Fragen Stellung genommen (S. '23 ff.).
Er setzt sich wieder eingehend mit der römi-
schen Literatur auseinander und kommt dort zu
der Ansicht, daß die Römer und Griechen bis
zum zweiten Jahrhundert nach Christus den
Spelt gar nicht gekannt haben. Neue Gesichts-
punkte bietet Schulz eigentlich nicht. Er
unterscheidet sich von Hoops vor allen Dingen
durch die Meinung, daß der Anbau des Speltes
im nördlicheren Europa bereits in neolithischer
Zeit begonnen haben soll (S. 40). Für diese
Ansicht kann Schulz jedoch keinerlei Beweise
vorbringen, und es handelt sich lediglich um
eine Sache der persönlichen Überzeugung.
Seit dem Erscheinen des Schulzschen Buches
hat sich meines Wissens noch niernaud wieder
über die uus hier beschäftigenden Fragen ge-
äußert. Wir können deshalb unseren Überblick
über die bisher dargelegten Meinungen über
Alter und Herkunft der Speltkultur hiermit ab-
schließen und wenden uns dem zweiten Teile
unseres Aufsatzes zu, in dem wir auf einige
neue Funde hinweisen möchten.
Als Basis der Hoops scheu Ansicht bezeich-
neten wir bereits oben den Fund von der
Petersinsel. Es mußte immer sehr unsicher er-
scheinen, einen einzigen derartigen Fund zum
Grundstock für Theorien zu machen, zumal
dieser Fund noch von mehr als einer Seite an-
gezweifelt war. Das letzte Wort nach dem Alter
des Speltbaues mußte deshalb immer noch der
zukünftigen Spatenforschung überlassen bleiben.
Und diese Forschung ist seitdem auch nicht
müßig gewesen. Seit der Veröffentlichung des
Hoopsscheu Buches sind zwei neue Funde von
prähistorischein Spelt entdeckt, von denen einer
in der Literatur noch so gut wie völlig un-
bekannt ist; es verlohnt sich deshalb, hier auf
diese beiden neuen Speltfunde näher einzugehen.
Ein Speltfund ist zunächst unter den Fund-
stücken aus dem brouzezeitliehen Pfahlbau von
Möringen im Bieler See im Jahre 1908 im
historischen Museum in Bern wieder entdeckt
worden. Es gelang hier dem um die Erforschung
der prähistorischen Pflauzenreste hochverdienten
Botaniker Neuweiler, ein verkohltes Ähren-
stück sicher als Spelt zu rekognoszieren; meines
Wissens ist dieser Fund bisher leider noch nir-
gends eingehend veröffentlicht; er findet sich nur
in Gradmanns Buche auf S.81, Anm.2 angeführt.
Dieser Fund besitzt eigentlich wissenschaft-
lich keine große Bedeutung; denn abgesehen
davon, daß Funde von prähistorischem Spelt
bisher so selten sind und deshalb jeder weitere
Fund als willkommener Beleg mit großer Freude
begrüßt wird, wurde unsere Kenntnis des prä-
historischen Speltbaues durch diesen Fund von
Möringen in keiner Weise erweitert, denn dieser
Fund sagte uns ja nichts Neues, was wir nicht
durch den Fund von der Petersinsel bereits
gewußt.
Anders dagegen der zweite Fund.
Am Südende des Thüringer Waldes befinden
sich in der Nähe von Römhild zwei große Be-
festigungen aus vorgeschichtlicher Zeit, der
große und der kleine Gleichberg, die zahlreiche
Funde aus der La-Tene-Zeit geliefert haben1).
*) Vgl. G. Jacob, Die Gleichberge bei Rönibild
als Kulturstätten der La-Tene-Zeit Mitteldeutschlands.
Vorgeschichtliche Altertümer der Provinz Sachsen,
30
Am kleinen Gleichberge entdeckte im Jahre
1901 der Technikumslebrer Kumpel aus Hild-
burghausen eine Wohn- oder Vorratsgnibe, über
welcher früher der Wall mit seiner ganzen
Mächtigkeit gelagert haben soll und die dem-
nach alter als der Wall selbst sein müßte. Bei
der Untersuchung des Inhaltes dieser Grube
stieß Kumpel auf einige Körner und, nun auf-
merksam geworden, durchsuchte er durch Sieben
und Schlämmen große Bodenmassen an der
Stätte und erhielt so aus einer bestimmten
Schicht an Zerealien 1/i Liter, au Mohn 1 Liter,
an Ackerbohnen l/« Liter, von anderen Frucht-
sorten kleinere Mengen a).
Um zunächst über das Alter des Fundes zu
sprechen, so ist die von Kumpel gegebene
Datierung des Fundes in die Bronzezeit völlig
unsicher. Leider sind die bei dem Funde ge-
hobenen „zahlreichen Scherben" in der Küm-
pelscben Publikation weder näher beschrieben
noch abgebildet, trotzdem gerade Scherben ein
Leitfossil des Prähistorikers sind. Der Fund
dürfte vielmehr, wie die übrigen Siedlungsfunde
vom Gleichberg, in die La-Tene-Zeit gehören.
Nach der Bestimmung von Braungart in
München sind in dem Gleichbergfuude folgende
Fruchtsorten vertreten :
1. Triticum monocoecum L., Einkorn;
2. Triticum spelta L., Spelt;
3. Triticum vulgare compactum nuticum,
Dinkel- oder Igelweizen;
4. Triticum vulgare antiquorum O. Heer,
kleiner Pfahlbauweizen ;
5. Hordeum hexastichum sanetum, kleine
Pfahlbaugerste;
6. Vicia faba L. varia celtica nana O. Heer,
keltische Zwergbohne;
7. Pisum sativum L., Erbse;
Heft 5—8, 1887 ff. Außerdem die Aufsätze von Götze
in den Verhandl. d. Berl. Antbropol. Ges. 1900, S. 416,
in den Neuen Beitr. z. Gesch. d. deutsch. Altertums,
Lieferung 16, Meiningen 1902, und in den Bau- und
Kunstdenkmälern Thüringens, Heft 31, 1904, S. 466.
l) 0. Kumpel, Ein Zerealienfund vom kleinen
Gleichberg bei Kömhild. Ohne Ort und ohne Jahr.
8. Papaver somniferum var. antiquorum,
Gartenmohn;
9. Ein unbestimmbares Fruchtkorn, wahr-
scheinlich ein Apfelkern.
Dieser zweite neue Speltfund erweitert unsere
Kenntnis der prähistorischen Verbreitung des
Speltes in bisher ungeahnter Weise. Durch ihn
wissen wir jetzt, daß der Speltbau in der
La-Tene-Zeit über beträchtliche Teile von Siid-
deutschland verbreitet gewesen sein wird, und
zwar ziemlich weit nördlich reichte, wie es bis-
her kein Forscher vermutet hatte.
Gradmann suchte in seiner Arbeit zu be-
weisen, daß „überall da, wo für das Mittelalter
Dinkelbau nachweisbar ist, auch heute noch
Dinkel gebaut wird" (S. 115). „Die Behauptung,
daß der Dinkelbau seit alter Zeit beständig zu-
rückgegangen sei", sagt er, „hat demnach zum
mindesten für das deutsche Sprachgebiet keine
Geltung. Das heutige Dinkelgebiet hat seine
enge Umgrenzung nicht erst allmählich im
Laufe der Zeiten erhalten; vielmehr hat der
Dinkelbau die gleichen Grenzen wie heute schon
im frühen Mittelalter inne gehabt, und erst in
den letzten Jahrzehnten hat die Intensität des
Anbaues besonders in der Schweiz und im
Oberelsaß beträchtlich abgenommen, wodurch
jedoch das geographische Verbreitungsbild kaum
eine Veränderung erlitten hat". Dieser Hypo-
these Gradmanns ist der neue Fnnd am Gleich-
berge nicht günstig; denn aus ihm scheint her-
vorzugehen, daß tatsächlich das Speltgebiet in
vorgeschichtlicher Zeit größer gewesen ist als
im Mittelalter und heutiarestaus.
Dagegen tragen diese beiden neuen Funde
wesentlich zur Stützung der von Hoops und
Schulz vertretenen Ansicht bei. Hoffentlich
sind diese beiden neuen Funde aber noch nicht
die letzten und erhalten wir bald weitere Be-
lege. Vielleicht werden wir dann unsere An-
sichten über Alter und Herkunft des Speltes
noch etwas umändern müssen, wobei sie aber
auf jeden Fall auch eine weit sichere Grund-
lage als bisher erhalten werden.
Ein mineralogisches Erkennungszeichen prähistorischer Feuersteinartefakte.
Von Max Stein1), Dresden.
Bei Aufsammlung der Feuersteiuartefakte
bemerkte ich auf denselben immer wieder-
kehrend schwarzbraune, halbkugelige Ansamm-
') Vorgetragen in der Sitzung der Prähistorischen
Sektion der Isis, Dresden, am 19. November 1914.
hingen eines Minerals, welches meine Aufmerk-
samkeit auf sich lenkte. Bei näherer Untersuchung
durch die Lupe stellte sich dasselbe als eine
Eisenverbindung heraus, wofür mir eine Er-
klärung der Entstehung anfänglich fehlte, da
ich die Beobachtung immer nur an Feuerstein-
31
splittern machte, welche sich als von Menschen-
hand bearbeitet erwiesen.
Die äußere Form dieses in oft winzig kleiner,
oft auch größerer kugeliger und oft auch ring-
förmiger Gestalt auftretenden Minerals ließ mich
auf die Vermutung kommen, daß ein zersetzter
Pyrit vorliegen müßte. Und zwar deshalb:
Beobachtet man das Vorkommen des Pyrits
in der Natur, so findet man denselben
1. als Ausscheidung auf Erzgängen in der
oben beschriebenen Form (z. B. auf den Erz-
gängen von Freiberg) oder
2. als Vererzungsmittel (z. B. innerhalb der
Gehäuse der Kephalopoden, im Ton von Löt-
hain bei Meißen als Vererzung von Holzteilen,
in der Braunkohle von Böhmen und vielen
anderen Orten).
Die Chemie hat nun nachgewiesen, daß der
Pyrit aus einem chemisch flüssigen Prozeß her-
vorgeht. Besonders bemerkenswert aber ist der
Umstand, daß die Abscheidung desselben immer
an Stellen geschieht, an welchen ein Verwesungs-
prozeß stattgefunden hat, wo Schwefelammonium
aus Eisenvitriol Schwefeleiseu fällte oder auch
die Bildung der Ansammlungen von Eisensultid
(FeS2, Pyrit) veranlaßte.
Chemische Formel:
FeS04 + (NH4)2S
(Eisenvitriol -\- Schwefelammonium)
= FeS-f(NH4)2S04
(Schwefeleisen -\- Ammonsulfat).
In dieser letztgenannten Form erscheint
dieser nun an den Artefakten (wenn auch im
Laufe der Zeit wahrscheinlich wiederum eine
Zersetzung eingetreten ist) als ein Beweis, daß
auch hier eine Verwesung organischer Stoffe
stattgefunden haben muß. Die Feuersteinarte-
fakte, welche beim Gebrauch durch Menschen-
hand eine Menge Fett aufgesogen hatten oder
auch mit tierischen Resten behaftet waren,
kamen in die Erde, wo nun gleichfalls der
oben geschilderte Prozeß zur Bildung von
Schwefeleisenverbindungen in Tätigkeit treten
konnte.
Es ist mir möglich gewesen, nachzuweisen,
daß diese Schwefeleisenverbiiiduugen an allen
Artefakten aller Altersstufen sich vor-
finden, teils häufiger, teils seltener, aber sie sind
vorhanden !
Sie zeigten sich an den Artefakten der
jüngsten Steinzeit unserer Gegend, an den Arte-
fakten von Rügen, an denen von Spiennes
(Belgien), an einem mir vorliegenden Schaber
von Nordamerika, an allen Altersstufen der
paläolithischen Funde des Vezeretales und selbst
an den Eolithen von Kent (England).
Bei meinem letzten Besuche in Markklee-
berg bei Leipzig konnte ich auch dort an den
aufgesammelten Artefakten das Vorhandensein
dieser Schwefeleisenverbindung feststellen, aller-
dings immer nur an den vor nachträglicher natür-
licher Bearbeitung geschützten Stellen.
Niemals aber konnte ich diese Schwe-
feleisenablagerung an Feuersteinen und
Splittern aus natürlichen Fundplätzen
(Kiesgruben usw.) nachweisen.
Wenn nun diese Beobachtung auch von
auderer Seite gemacht würde und eine che-
mische Untersuchung von fachmännischer Seite
meine oben angeführte Mutmaßung der Bildung
dieser Schwefeleisenablagerung bestätigte, hätte
man vielleicht ein Erkennungsmittel mehr, um
die künstliche oder natürliche Entstehung zweifel-
haft erscheinender Artefakte nachzuweisen.
Dionysos-Sabazios.
Von Dr. Emil Fischer (Bukarest).
Einleitend muß bemerkt werden, daß ich in
mehreren Arbeiten („Anthropos" 1913, Bd. 8,
1915; Korrespondenzbl., Hamburg 1914, Heft 1/2;
Zeitschr. f. Ethnol. 1914, Heft 2) nachgewiesen
zu haben glaube, daß sich thrakische Völker-
schaften ehemals von Iiätien und Venetien bis
nach Phrygien hin ausgedehnt haben und daß
die Pelasger — ein nordgriechischer Stamm,
der seinen Volksgenossen in der Kultur wohl
um einiges vorausgeeilt war — mit demselben
Recht als die Voreltern der späteren Griechen1)
angesehen wurden und als solche verehrt werden
durften, wie die späteren "EXlog oder Hekhog
(um Dodona) als die Stammväter der Hellenen.
Alle diese Völker: die Pelasger, die Thraker,
Illyrier, Daker, die Hellenen, die Kreter, die
Phryger (Bryger), Myser (Moeser) waren, da
l) Nach Jacobitz und Seiler lautete der alte
Name der Griechen rgnixög, früher als "jSXXrjr (Arist.
Apd. St. B.).
32
wir sie kennen lernen, noch Hirten, die erst
zum Ackerbau überzugehen im Begriffe waren.
Das schließt nicht aus, daß z. B. bei den Thrakern
auch schon der Weinbau einigermaßen geübt
wurde.
Die alten griechischen (und ein Teil der
lateinischen) Schriftsteller verlegen den Ursprung
der hellenischen Theogonie zu den nörd-
lichsten thrakischen Völkern. Viele späteren
Riten und Mysterien, den „Musendienst" der
Griechen linden wir schon bei diesen „Barbaren",
so z. B. bei den Dakern eine Priesterkaste, die
im Zölibat lebte, eine eigene Kleidung trug und
sich strenge von gewissen Speisen enthielt, bei
den Thrakern die „Orphiker", die den Wert
des Diesseits leugneten und das wahre Leben
erst in das Jenseits verlegten, die Askese übten,
an die Seelenwanderung glaubten und sich
reinigenden, heiligen Weihen unterzogen, wie
wir sie auch im späteren Hellas antreffen.
Daß Apollo (dak. Aplu), Hermes (dak.
Armi(s), Sarmiz), Dionysos (thrak. Sabazios,
Sabadios), daß Zeus1) (thrak. Z«, artic. ZaA,
macedovlax. dza = Gott, vgl. Delametra) bei
den Dakern und Thrakern verehrt wurden, steht
unwiderleglich fest. Richtig ist es, daß die
erwähnten Gottheiten nicht die spätereu helle-
nischen Namen trugen und daß mancher ihrer
Kulte noch nicht die Ausgestaltung der folgenden
O Ö ö
Jahrhunderte an sich hatte.
Die griechischen Urstämme, die im
Norden des Balkans und des Ister, seinerzeit
vielleicht noch jenseits der sogenannten „Hyper-
boreer" saßen, waren sicherlich weniger volk-
reich, als am Ende ihrer Südwanderung, sie
waren in Sprache und Gewohnheiten auch noch
einheitlicher, fremde Volkssitten waren auf sie
noch von geringem Einfluß gewesen — man
denke z. B. an die Phryger (Bryger) und Myser
(Moeser) in Kleinasien, an die Griechen in
Kypern, die mancherlei Einrichtungen orien-
talischer Völker kennen gelernt und zum Teil
angenommen hatten. Aber eins darf mit aller
Bestimmtheit gesagt werden: daß es unter ihnen
schon damals eine Gemeinsamkeit der Idee der
großen Gottheiten, der Nationalgott-
heiten gab, die sie nicht erst von anderen
Völkern entlehnen mußten. Zu ihnen gehört
vor allem der echte „thrakische" Gott Bdt,%%og,
der bei den Hellenen Dionysos [Zagreus 3),
J) Hierher gebort auch Z(ti.un'iig {Za, ZuX = Zeus
und *mox = rumän. mos, Vater, Ahnherr, also etwa
„Gott Vater"); vgl. N. Densusianu „Dacia preistoriea"
1913, S. 1110.
2) Beiname des ersten Bakchos, Sohn des Zeus und
der Persephone, der von den Titanen hald nach der
Geburt zerrissen und verzehrt wurde. Das Herz rettete
der „Jäger" = Z -f- äygsvg] hieß, jedoch mit
dem vorigen vollkommen wesensgleich ist.
Bakchos hatte auch den thrakischen Namen
Sabazios, Sabadios. Die Vorstellung der
Thraker von ihrem Gott, die Feste (Mänaden,
Korybanten) nnd Mysterien, mit denen er ge-
feiert wurde, sind zu bekannt, um hier des
breiteren dargelegt zu werden. Nur so viel sei
erwähnt, daß Bakchos als der Ausdruck der
Zeugungskraft der Natur auch als Stier
gedacht wurde, wie bei einem Hirtenvolk
auch nicht anders zu erwarten. In derselben
Gestalt aber verehrten die alten Ägypter ihren
Osiris, auch die Kreter ihren Minos (Mino-
taurus), sogar die alten Juden ihren Stiergott
Jahve. Gleiche Lebenslagen erzeugen ja bei
den Völkern gleiche Deutungsversuche.
Ich halte deshalb die Meinung Belochs
(„Griech. Geschichte" 1912 bis 1913, Zweite Auf-
lage, I, 1, S. 165) für unbegründet: „Daß
Dionysos nicht aus Thrakien gekommen ist,
zeigt schon der Name, der mit Zeus zusammen-
hängt; der Versuch Kretschmers, diesen
Namen aus dem Thrakischen abzuleiten, hat
mich so wenig überzeugt, wie Rohde. Der
entsprechende thrakische Gott heißt Sabazios.
Auch die allgemeine Verbreitung des Dionysos-
kultes schon in homerischer Zeit, als die thra-
kischen Küsten noch gar nicht von Griechen
besiedelt waren, würde diese Annahme sehr
unwahrscheinlich machen." Darauf mnß nun
gesagt werden, daß die Einwanderung der
Griechen mit ihren Herden in ihre Halbinsel
doch am natürlichsten über Thessalien, d. h.
auf dem Landwege, vor sich gegangen ist und
nicht über das Meer, etwa vom thrakischen
Chersonnes her. Eine andersartige, gekünstelte
Annahme ist nur danach angetan, das Erkennen
der tatsächlichen Ereignisse unmöglich zu machen.
Ferner kaun gezeigt oder mindestens sehr wahr-
scheinlich gemacht werden, daß beide Gott-
heiten: Dionysos und Sabazios anfänglich
mit Zens zusammenhängen1). Auch Zeus
hatte, wie sie, chthonischen Charakter als Gott
des Erdsegens (Beloch, 1. c, S. 164). Sabazios
läßt sich ungezwungen zerlegen in: S-aba-zios.
Das prothetische S (eine dialektische Aspiration)
kommt im Dakischen und Thrakischen mehrfach
vor: Armi(s) = Sarmi(z) — Hermes; Sarmi-
zegetusa; Zagreus; Sirmus (König der Triballer
Athena. Zeus verschlingt es und zeugt dann mit Semele
einen anderen Dionysos.
x) Ed. Meyer, „Geschichte des Altertums" 1893,
II, S. 116. „. . . Naturgott Dionysos ursprüngliche Gestalt
des Zeus", II, S. 733. „Der kretische Zeus entspricht
dem kleinasiatischen Sabazios und dem griechischen
Dionysos."
33
in Moesien) = Rimus = Irmus (Transposition)
-f- S (dialektische Aspiration) ; aba = aßßä
= pater (Said.) = uimu, ana,1); zios (Zaog
bei Sext. Empir. African.) = Zeus; demnach
(S)-aba-zios = Gott Vater oder Himmel Vater
[griech.Z£i)sjr«ri}p, ind.Dyauspitar, ital.Juppiter.
- Deivos (Gott) ist von djeus (Himmel) ab-
geleitet. Kretschmer, Einleitung SO]. N.Deu-
susian, I.e., S. 891, leitet Sabazius von Saba
und dius her: „In Thrakien wurde Liber pater
oder Bacchus, als Gottheit der Sonne, unter dem
Namen Sebazius, Sabazius, Sabadius verehrt
(Macrobius, Sat. I, 18). Diese thrakische Gott-
heit ist eine und dieselbe mit dem altnationalen
Sounenheros Sabus2) der Latiner, Sabiner, (Sa-
beller) und Umbrer (Dionys. II, 49. — Sil. Ital.
VII, 424)"; Völkerschaften, die mit den Massa-
piern, Venetern und Thrakern ehemals im engsten
ethnischen Zusammenhang gestanden haben.
Dieser Eponymus Sabus war ein Sohn des Gottes
Semo Sancus.
Aber Bkx%os (Dionysos) wurde gerade so
wie Zeus auch als Stier vorgestellt3). *Baku
bedeutete im Thrakischen = Stier, femin. bacca
= vacca (Act. frat. arval.), in der Lingua latina
ruetica lautete es boca[Bocas dieunt esse boves
mariuos quasi boacas. Isid.] 4). Im Istrovlachi-
schen bedeutet bäc heute noch Stier.
Osiris wurde auch als Stier gedacht. Beider
Hauptfeste fielen bezeichnenderweise in dieselbe
Jahreszeit; beide waren halb chthonische Wesen 6),
und es ist dabei griechischer Einfluß (nament-
lich seit Alexander d. Gr.) nicht ausgeschlossen.
BovxEQCog = mit Rindshörnern, wurde von
Herodot und Aeschylos für Bakchos gebraucht
(Jakobitz und Seiler).
Auch bezüglich der orphischen Lehre
äußert Beloch, 1. c, I, 1, S. 434, seine Bedenken
wie folgt: „Ob diese Religion sich ganz selb-
ständig auf griechischem Boden entwickelt hat
1) Teste N. Densusianu „Dacia preistoricä": „Bex
Samuel (c. 1040), qui pro sua pietate Oba vocabatur".
Anonym. Belae, 32. Aba war also auch in Pannonien
noch zur Zeit der Arpaden gebräuchlich.
2) Ed. Meyer, I.e., II, S. 740. „— die Sonne ist
eine Manifestation des Dionysos." — Sabazios ist aber
mit Dionysos identisch. — N. Densusianu erwähnt
gelegentlich der Nennung dieses Sabus den halkanischen
Heil. Sava, den er für eine volkstümliche Fortsetzung
jenes Sonnenheros Sabus erklärt, eine Deutung, der wir
doch nichtfolgen können, ebensowenig jener für Sabbath,
Sabbato (Samstag) = Sabus.
3) So hat Zeus, in Stiergestalt, unter der berühmten
Platane bei Gortyn (Kreta) mit Europa Hochzeit gefeiert.
4) Teste N. Densusianu, 1.0.
6) Le boeuf Hapi est l'äme d'Osiris. G. Maspero,
„Histoire ancienne des peuples de l'Orient. S. 36/37.
1905.
oder wieweit etwa mythologische und kosmo-
gonische Vorstellungen der benachbarten Thraker
und Phryger bzw. der Kulturvölker des Orients
auf ihre Ausbildung von Einflulj gewesen sind,
läßt sich zurzeit noch nicht entscheiden."
Darauf ist zu erwidern, daß es gar keinem
Zweifel unterliegt, daß Orpheus in der Vor-
stellung der Hellenen stets als Thraker gegolten
hat. Auch was wir vom Hermeskult derBesser1)
wissen, weist ebenfalls manche verwandte Züge
auf, die also wohl im thrakischen Volks-
charakter begründet sein müssen. Die Grund-
lage auch der orphischen Lehre ist zweifellos
thrakisch2). Da aber die Hellenen auf ihrer
Südwanderung lange Zeit mit den Thrakern in
naher Berührung gestanden haben müssen, da
sie weiteres anfänglich sogar desselben ethnischen
Ursprunges mit ihnen sind, so ist es ganz aus-
geschlossen, daß „mythologische und kosmogene
Vorstellungen der Thraker" auf sie hätten aus-
bleiben können.
Weiter. Die Phryger waren, wie heute
festgestellt ist, ebenfalls thrakischer Herkunft
(Bryger), sie haben daher, falls eine Einwirkung
von ihrer Seite auf die Griechen stattgefunden
hat, sich vorwaltend in diesem genetischen Sinne
geltend gemacht. Dabei soll aber nicht ver-
gessen weiden, daß gerade diesen (phry-
gischen) Einflüssen auch „Vorstellungen der
Kulturvölker des Orients" (Mithraskult usw.)
beigemischt sein mußten.
Es kann also diesbezüglich festgestellt werden,
daß wir zurzeit zwar den Ursprung aller Einzel-
heiten der Entlehnungen, welche die Hellenen
in der Ausbildung der „orphischen Lehre"
gemacht haben mögen, noch nicht angeben, daß
aber ihre Grundlage thrakischer, besser gesagt,
thrako-hellenischer Herkunft, in letzter Linie ein
gemeinsames indogermanisches Gemüts-
erbe ist. Zügelloser Lebensgenuß und Welt-
flucht waren von jeher allen alten Balkanvölkern
gemeinsam, ihr Hang zu Mysterien, zum aske-
tischen Lebenswandel 3) hat sich bis auf unsere
Tage rege erhalten, selbst bei ihren weitest
entfernten Nachkommen.
1) Sie waren die Hüter des (dein Hermes geweihten)
Nationalheiligtums, vornehmlich einer Grotte in der
Ehodope. Der Name der Besser ist etwa mit Priester-
volk wiederzugeben (albanisch besf = Glaube).
2) Ed. Meyer, I.e., II, S. 739. Den Orphikern ist
alle göttliche Macht nur Ausfluß einer ursprünglichen
weltbildenden Gottheit, die zugleich Dionysos und Zeus
ist. II, S. 740. Dionysos ist — wie Zeus — zugleich
männlich und weiblich — (Orphikerlehre).
3) Vgl. die zahlreichen Balkanklöster, die teilweise
nur im Hängekorb zugänglich sind.
34
Rechter Calcaneus eines Paläolithikers aus dem Diluvium von
Gr.-Winnigstedt im Kreise Wolfenbüttel.
\<>n L. Knoop, Börßum.
Zur neolithischen Zeit war der südliche Teil
des Kreises Wolfenbüttel — die Ufer der Oker
von Ohrum bis Hebungen und des Hasenbaches
von Kalme nach Börßum — stark besiedelt1).
Spuren aus paläolithischer Zeit konnten dagegen,
Fig. l.
b
Von der unteren Seite.
von den Eolitheu der Interglazialzeiten ab-
gesehen, bislaug nur zweimal festgestellt werden.
In dem einem Falle bandelt es sich um das
Mittelstück eines Oberschenkels1), das 1892 in
dem feinkörnigen Kiese nördlich von Börßum
beim Brunnenbau ausgegraben wurde, während
der zweite Fund 1908 bei Gr.-Winnigstedt2)
x) 8iehe Braunschw. Magazin 1915, Nr. 4: „Die
vorgeschichtlichen Siedelungen in der Umgebung von
Börßum" von L. Knoop.
2) Er wird aufbewahrt in der Sammlung des
Lehrers Fr. Thiemann daselbst.
gemacht wurde. Obgleich der hier in Betracht
kommende Knochen nicht tadellos erhalten ist,
machte seine Bestimmung als menschlicher Cal-
oaneus keine Schwierigkeiten. Er wurde mit
verschiedenen anderen Knochen, die wegen ihrer
mangelhaften Erhaltung nicht bestimmt werden
konnten, in der westlichen Kiesgrube, die sich
auf der Höhe von Gr.-Winnigstedt nach dem
Bahnhofe Mattierzoll befindet, nebst zahlreichen
Senonpetrefakten aufgefunden. Der Kies gehört
seinem Alter nach der zweiten Interglazialzeit
an und ist vermutlich als Anschwemmungs-
produkt eines größeren Stauwassers aufzufassen.
Jener Calcaneus fällt durch seine geringe Größe
auf. Die stark ausgeprägten Berührungsflächen
Von der Innenseite.
mit dem Talus beweisen aber, daß es sich
keineswegs um ein jugendliches Individuum
handeln kann. Zur weitereu Charakteristik mögen
folgende Maßverhältnisse dienen :
Fig. 1: ab (Durchmesser) = 70 mm, m n (Quer-
schnitt) = 24 mm, cd = 29 mm, il = 12 mm,
ef ■= 8 mm, gh = 37 mm, ko = 25 mm, kp
= 21 mm.
Fig. 2: ab = 22 mm, ac = 42 mm, ad
= 61 mm und ae = 39 mm. (Die Längen be-
zeichnen die geraden Luftlinien.)
Mitteilung: der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft.
Die Schweizerische Naturforschende
Gesellschaf t wird am 12. bis 15. September d.J.
in Genf ihre 97. Jahresversammlung abhalten
und gleichzeitig die Jahrhundertfeier ihrer Grün-
dung begehen. Mit Rücksicht auf die gegen-
wärtigen Umstände hat das Komitee der
( >i Seilschaft beschlossen, diese Feier in sehr
bescheidenem Rahmen zu halten und die üblichen
Einladungen an die gelehrten Gesellschaften
des Auslandes und die außerhalb der Schweiz
wohnenden Naturforscher zu unterlassen.
Der Präsident des Jahreskomitees
Prof. Dr. Arne Pictet.
35
Methodische Siedelungsforschung.
Von Ernst Lentz, Berlin-Lichterfelde.
„Beim Ausschachten eines Hauses stießen die Ar-
beiter auf Knochen und Gefäße; der sofort benach-
richtigte Leiter des Museums in Z. konnte feststellen,
daß . . ." oder „Schon längst hatte eine Stelle im Ge-
lände meine Aufmerksamkeit geweckt, weil . . .", so
beginnt fast ohne Ausnahme die Veröffentlichung vor-
geschichtlicher Forschung. Je nach der Zahl und
örtlichen Verteilung der so angebahnten und zur Ver-
öffentlichung oder doch zur Aufzeichnung gelangten
Untersuchungsergebnisse ist die Grundlage zustande
gekommen , auf der sich die Schlüsse allgemeiner
Überblicke aufbauen. Selbst bei vorausgesetzter Er-
schöpfung des Möglichen an Zuverlässigkeit bleibt es
mißlich, die Vollständigkeit des Materials zu beurteilen.
Es fällt heute keinem Forscher ein , aus dem Fehlen
von Beobachtungen Schlüsse zu ziehen, bevor er glaubt,
das gesamte Gebiet lückenlos zu überblicken, aber in
der Sache liegt es, daß ihn jeder neue Zufallsfund zu
einem unser Vertrauen schwächenden Rückzug nötigen
kann. Es erübrigen sich Beispiele.
Dies und der in der Vorgeschichte bereits stark
veredelte, aber noch kaum organisierte Dilettantismus
machen es verständlich, wenn heute noch der „exakte
Historiker" und der „klassische Archäologe" die Vor-
geschichte und besonders die Sachforschung nicht be-
dingungslos als ebenbürtig anerkennen. Nun bietet
aber die vorgeschichtliche Sachforschung mindestens
die gleiche Möglichkeit exakter Arbeit, wie diese
älteren Lehrgebiete.
Was zurzeit an Beobachtung von Siedelung und
Bestattung , Hausrat und Ernährung in der Vorzeit
vorliegt, genügt durchaus, um die Wege zu beleuchten,
auf denen sich die vorgeschichtliche Forschung von
Zufallsfunden unabhängig machen kann.
So gut sich die von Dr. Kiekebusch bei Küstrin
untersuchte Siedelung in den Urkunden als slawisches
Dorf Klößnitz erkennen ließ, so wird es der Forschung
möglich sein, mindestens die Mehrzahl der z. B. im
Codex diplom. Brandenb. oder im Landbuch Kaiser
Karls genannten und heute verschollenen Siedelungen
im Gelände einwandfrei festzustellen. Dabei sind wir
durchaus nicht auf Volksmund und Flurnamen, alte
Salz-, Hoch- oder Heerstraßen und Verteilung der Ge-
wanne allein angewiesen.
Soweit wir uns über die Bedürfnisse der früheren
Kulturabschnitte unterrichten konnten, gibt uns diese
Kenntnis beachtenswerte Winke. Keine Siedelung
ohne Wasser ; keine , bei welcher wir Hütten mit
Lehmbewurf voraussetzen dürfen ohne Lehmgrube in
unbeschwerlicher Nähe; keine Haustierzucht, ohne den
Pfad der Tiere und ohne Hürde. Das gilt von jeder
Zeit. Je weiter zurück, je mühsamer mit dem vor-
handenen Gerät die Bodenbearbeitung , um so kost-
barer die fruchtbare Ackerkrume und um so be-
schränkter das Gebiet für den Suchenden. Das Unland
für Siedelungen muß schnell trocknenden Boden haben ;
Sand wird um so mehr bevorzugt, je unvollkommener
das Grabgerät. Ein Platz , zu dem man von allen
Seiten leicht Zutritt hat, muß nach allen Seiten weiten
Überblick bieten , aber ein Schlupfwinkel mit nur
einem Zugang ist unbrauchbar. Im wildesten Luch
führt uns das von Horst zu Horst wechselnde Wild
heute sicher auf alte Furten. Gewachsene Furten gibt
die geologische Landkarte an, und da fast jede vom
Menschen vervollkommnet werden mußte, muß die
Stelle zu finden sein , von der die Furtschüttung ent-
nommen wurde. Daheim am Kartentisch müssen wir
Siedelungen ermitteln, wie Galle den Planeten Xeptun,
und mit dem Spaten dann unsere Schlüsse beweisen.
Daß die Bücher füllende Frage der Runddörfer
mit dem Spaten beantwortet werden wird , ist ein
Trost der Prähistorie angesichts des Versagens der
Dokumentenforschung. Für die Zeit, worin die
Rundlingform geschaffen wurde, bietet der Grundriß
des Dorfes einen guten Anhalt, verglichen mit den
Grundrissen ausgesprochener Rundstädte. Man halte
z. B. die bei der Kolonisation entstandenen Stadtbilder
von Demmin, Templin oder Neubrandenburg neben die
Dorfanlage von Lüdersdorf (Kr. Teltow) oder Räsdori
(Kr. Zauche). Das Runddorf ist nie ein gewachsenes,
sondern nur als gegründete Siedelung mehrerer Zeit-
genossen denkbar. Dabei kann natürlich die Koloni-
sation zu jeder Zeit stattgefunden haben, wie die
wendische Siedelung bei Hasenfelde (Kr. Lebus) be-
weist.
Was von der Siedelungsstätte vorauszusetzen ist,
gilt auch von der Siedelungsform. Soweit in der
Steinzeit Gefäße zurückverfolgt werden können , die
unterhalb des Umbruchs Verzierungen aufweisen oder
gar auf der ganzen Unterseite, so weit müssen wir die
Spuren von Pfostenbau und Schwellenbau finden.
Diese Gefäßverzierungen haben nur Sinn, wenn sie an
ihrem Aufbewahrungsort oder beim Gebrauch dem
Auge des Beschauers zugänglich sind. Sie standen
nicht auf dem Erdboden, nicht in Zelten, sondern ihr
Standort fußte lotrecht in der Erde und muß in ihr
zu finden sein.
Einige Forscher rechnen noch für die Steinzeit
mit Teilen der Bevölkerung, welche weder Ackerbau
noch Viehzucht , sondern Jagd trieben. Sie sollen
Zeltbau über Wohngruben gehabt und nach den
gefundenen Knochenresten ausschließlich Jagdtiere
verspeist haben. An solche Siedelungen vermag ich
nicht zu glauben. Entweder sind das Jagdlager oder
Wanderlager, aber keine Siedelungen. Die typologisch
oder , wenn man will , chronologisch bestimmbare
Töpferei der Steinzeit ist so durchgebildet , daß erst
in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ein
kleiner Fortschritt festzustellen ist. So hoch ent-
wickelte Töpferei setzt einen mindestens gleich alten
Ackerbau voraus , dessen Alter wohl ethnologische
Gliederung der nordeuropäischen Bevölkerung verträgt,
aber für kulturelle Reste einer Jägerbevölkerung
keinen Raum läßt. Töpfe mit mühsam und kunstvoll
gearbeiteter Verzierung entstehen in festen Siedelungen;
der Jäger braucht solche Zierstücke nicht, so wenig
dem Ackerbauer jemals Zelte genügten.
Wenn z. B. die Erforschung südwestdeutscher
Steinzeitsiedelungen keine Spuren von Pfostenbau um
sogenannte Wohngrubeu gefunden hat, so bleibt nur
die Möglichkeit einer noch nicht gesuchten und des-
36
halb uns verborgenen Technik des Baues lotrecht
stehender Wände. Eine noch offene Frage ist, ob wir
jede gefundene Siedelung auch zu erkennen vermögen.
Nach den zurzeit vorliegenden Veröffentlichungen ge-
winnen wir die Erkenntnis aus der vom gewachsenen
Hoden sich abgrenzenden Kulturschicht und aus den
sie begleitenden Einschlüssen des Bodens. Durchweg
beschränken sich die Beweismittel auf Artefakte und
Steinpackungen auf Pfostenlöcher, Vorrats- und Abfall-
gruben und ihren Inhalt. Grab! aber der Mensch in
jungfräulichem gewachsenen Boden ohne andersfarbige
Decke, so wird die rohe optische Spur davon sich der
Wahrnehmung um so öfter entziehen, je länger zer-
setzende und ausgleichende Faktoren, wie Witterungs-
wechsel, Feuchtigkeit und Druck einwirken konnten.
Nicht einmal die Holzkohle ist unbedingt haltbar, ge-
schweige denn gebrannter Lehm, Knochen oder pflanz-
liche Stoffe. Wohl aber ist jeder nicht an der Ober-
fläche liegende Stein — solange nicht eine Sendung
durch Auswaschung seines Untergrundes oder durch
wühlende Kräfte ersichtlich ist — als dort eingelagert
anzusehen , wo ihn die letzte Bewegung bettete. In-
mitten von Sandaufwehungen darf kein Stein uu-
befragt bleiben. Aufgewehter Boden und im Wasser
allgelagerter Niederschlag ist unschwer zu erkennen,
aber auch in anderem Boden ist die Einwirkung von
Pflanzen oder Lebewesen noch optisch ohne besonders
abweichende Färbung an der Struktur zu erkennen.
Die Pfahlwurzel eines Baumes kann im Mergel , be-
sonders im Anschnitt gesehen, Erscheinungen ähnlich
einer Grube hervorrufen. Trocknet der Anschnitt im
Sonnenbrand , so verrät er sich schnell durch die
schuppigen Abblätterungen, weil die saugenden Faser-
würzelchen den Mergel in kleine Würfel zerlegten.
In wirklich bewegtem Boden bewirkt die verschiedene
Schwere der einzelnen Bestandteile und ihr abweichen-
des Verhalten gegenüber der durchsickernden Feuchtig-
keit, Sonnenbestrahlung und Frost ein Bestreben gegen-
seitigen Lagerungsausgleichs, der im frischen Anschnitt
optisch stets als gewisse Maserung erscheint und noch
leichter bei photographischer Vergrößerung zu er-
kennen ist. Es ist dringend zu wünschen, daß durch
photographische Aufnahme und Veröffentlichung ver-
größerter Ausschnitte von jeder erwiesenen Kultur-
schicht unser Erkenntnisvermögen bereichert wird.
In ähnlicher Weise wirken die als Ortsteinbänder,
Eiserlinien bekannten Sickerungserscheinungen und
ihre auffälligen Ablenkungen , auf die hingewiesen zu
haben ein Verdienst Dr. Kiekebuschs ist.
Im Flämingdorfe Grubo fand ich einen Anschnitt
in der Richtung dreier gleichmäßiger Pfosten, die in
jungfraulichem Sand, also in nur mühsam zu be-
grenzenden Pfostenlöchern von gleicher Tiefe und
gleichem Durchmesser stehend, lediglich als senkrechte
Bahnen winziger Kohleteilchen einwandfrei festzustellen
waren. Wenn diese außergewöhnlich kleinen Reste
nicht das Ergebnis natürlicher Oxydation sind , so
haben wir es hier mit Pfählen zu tun, die vor ihrer
Fjinsenkung dem Feuer oberflächlich ausgesetzt waren
und von deren Kohlenhaut ein großer Teil optisch
unerkennbar wurde.
Aber chemisch müssen die Pfähle noch wahr-
nehmbar sein. Die als Oxyd flüchtig gewordene Kohle
muß sieh als Anreicherung ihrer Lagerstelle mit
Kohlensäureverbindungen verraten, genau so, wie sich
behauptete Abfallgruben als Anreicherung bestimmter
Salzverbindungen chemisch im Erdreich erweisen
müssen. Deshalb ist wünschenswert, daß die chemische
Untersuchung der Erdproben mehr in den Bereich
vorgeschichtlicher Siedeluugsforschung gezogen wird.
Bei dieser Gelegenheit sei einer in allen bisherigen
Veröffentlichungen empfindbaren Mißachtung des Mate-
rials gedacht , weil sie uns Wege der Erkenntnis ver-
schleiert. Die Forscher beschränken sich auf Mit-
teilung von grob augenfälligen Merkmalen, wie Form
der Gefäße und Art und Technik der Muster, während
nur selten von feingeschlemnitem oder geraultem oder
klingend hart gebranntem Material und dann auch
nur flüchtig geschrieben wird. Die hierauf gestützte
Chronologie kann bestenfalls nur eine des Geschmacks
sein ; wenig aber finden wir Beiträge zur ungleich
wichtigeren Chronologie der Technik. Und doch hilft
uns diese in all den vielen Fällen, wo wegen Kleinheit
der Scherbenreste die Chronologie oder Typologie des
Geschmacks glatt versagt. Wir müssen fortan einmal
das typologisch genau bestimmbare Scherbenmaterial,
auf seine Masse untersucht, veröffentlichen und zum
anderen auf die Verarbeitung der Masse. Der ver-
größerte Dünnschliff des Scherbeudurchschnitts zeigt
nicht nur die Mischung des Materials , sondern auch,
ob die Oberfläche rein mechanisch geglättet , ver-
strichen oder aufgelegt ist — innen und außen. Ich
weiß nicht, ob schon chemisch untersucht wurde,
welche kohlenstoffhaltigen Aufbaumittel in den kera-
mischen Perioden dem Ton oder Lehm beigemengt
wurden. Verständlich aber kaum gewürdigt ist z. B.
die häutig wiederkehrende Beobachtung, daß der Ober-
flächenstrich der Außenwand horizontal, der der Innen-
wand senkrecht oder schräg verläuft. Beobachtungen,
die am trockenen Gefäß nur schwer , aber fast stets
leicht am feuchten Scherben nach der Waschung
augenfällig sind. Ich habe Scherben vor mir, in die
sich der polierende Graswisch eingrub und solche,
deren feiner Strich nur durch Sand oder Gewebe (?)
erklärlich erscheint. Daneben Scherben, die nur im
Aufstrich , nicht aber in der Masse die metallisch
glänzenden Blättchen der Hornblende enthalten. Zahl-
reich sind ferner die mit leeren Abdrücken der beim
Brennen vergangenen Reste abgerissenen Glättungs-
materials.
Reklamationen und sonstige Mitteilungren
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. K. Hagen, Hamburg 13, Biuderstraße 14, zu senden.
Ausgegeben am 12. Oktober 1915.
Korrespondenz- olatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Di
uck
und Ver
*g
von Fried r. Vieweg & Sohn
in
Braunschweig.
XLVI. Jahrg.
Nr.
9/12.
Jährlich 12 Nummern.
Sept. /Dez.
1915.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw
tragen die wissenschaftl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren ; s.S. 36 des Jahrg. 1894.
Inhalt: Das Aufsuchen uud Feststellen vor- und frühgeschichtlicher Siedelungsspuren. Von Dr. Albert Kieke -
busch. — Der Anteil des Slavischen ira Rumänischen. Von Dr. Emil Fischer. — Mitteilungen
aus den Lokalvereiuen : Bonner Anthropologische Gesellschaft. — Literaturbesprechungen. — Außer-
ordentliche Versammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft in Hamburg am 18. Oktober
1915. — Zum Gedächtnis: Prof. Dr. Eberhard Fraas und Hofrat Dr. med. Alfred Schliz.
vor-
Das Aufsuchen und Feststellen
und frühgeschichtlicher Siedelungsspuren.
Von Ur. Albert Kiekebusch.
In meinem Vortrage über „Vorgeschichtliche
Wohnstätten und die Methode ihrer Unter-
suchung", den ich auf der Anthropologeu-
versammlung in Weimar hielt ]), habe ich auch
kurz über die „Gelegenheiten 7.ur Entdeckung
vorgeschichtlicher Ansiedelungen" gesprochen.
Da ira engen Rahmen jeues Vortrages nur das
Wichtigste gesagt weiden konnte und ira Laufe
dreier Jahre naturgemäß neue Erfahrungen hin-
zugekommen sind, dürfte eine ausführlichere
Behandlung dieses Gegenstandes wünschenswert
sein. Besonders aber die in unserer Mark
Brandenburg in Angriff genommene systematische
Erforschung vorzeitlicher Siedelungen macht es
notwendig, den freiwilligen Helfern und auch
sonstigen Altertumsfieuuden und -forschem zur
Erkennung alter Wohnstätten möglichst genaue
und ausführliche Anleitung zu geben. Festzu-
halten bleibt da immer, daß es sich hier nur
um die Entdeckung, nicht um die Unter-
suchung vorgeschichtlicher Wohnstätten han-
delt. Das Recht der Ausgrabung ist ja jetzt
glücklicherweise beschränkt und geregelt durch
das Ausgrabuugsgesetz vom 26. März 1914.
J) Korrespondenzblatt der Deutschen Gesellschaft
für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1912,
S. 63—68.
1. Die äußeren Kennzeichen vor-
geschichtlicher Wohnstätten.
Vorgeschichtliche Siedelungen verraten sich
in erster Linie durch Scherben, die auf oder
in dem Boden der Fundstelle beobachtet werden
können. Liegen die gut erhaltenen Kulturreste
der Wohnstätte auch tiefer, so daß sie fast
immer von der modernen Humus- oder Acker-
schicht bedeckt werden, so reißen Pflug oder
Spaten bei jeglicher Kulturarbeit stets einige
alte Überreste mit nach oben. An Stellen, die
lange und dicht bewohnt waren, ist die Ober-
fläche des Ackers nicht selten mit Gafäßresten
dicht besät, so daß ein auch nur flüchtiges
Sammeln meist schou die Bestimmung der in
Frage kommenden Zeit ermöglicht. Werden
an der Stelle Bodenverbesserungeu vorgenommen
oder Baugruben ausgehoben, so daß der Boden
auch aus tiefer liegenden Schichten nach oben
kommt, so finden sich neben den Scherben vor
allem auch große Mengen von Tierknochen
vor. Sie sind schon ein einigermaßen sicheres
Zeichen dafür, daß es sich wirklich um eine
Wohnstätte und nicht um ein Gräberfeld han-
delt. An verschiedenen Stellen, wenn auch
nicht so häufig wie Scherben und Knochen,
treten auch Lehmbrocken auf, die, wenn sie
38
deutliche Abdrücke von Rundhölzern, von
kantigen Stämmen oder von Rutengeflecht auf-
weisen, mit fast unfehlbarer Sicherheit auf
Siedelungsspuren schließen lassen. Ganz sichere
Anhaltspunkte sind kleinere oder größere Stein-
packungen aus Feldsteinen, die sorgfältig an-
gelegt sind, fasl immer auf und zwischen den
Steinen größere Massen von Holzkohle, Scherben
und Knochen enthalten und aus teilweise ganz
mürbe gebrannten Feldsteinen bestehen , die
sich leicht zwischen den Fingern zerreiben
lassen. Der sicherste Beweis für eine Wohu-
stätte mit lang andauernder Besiedelung ist eine
schwächere oder stärkere alte Kulturschicht,
die sich oft ganz gleichmäßig unter der modernen
Schicht hinzieht und neben alten Kulturresten
viel Branderde enthält. Von dieser Schicht aus
reichen dann schmalere oder breitere Gruben
(Pfostenlöcher, Herdgruben, Abfallgruben usw.)
in den gewachsenen Boden hinein. Das Bneher
Profil x) ist in seiner Anschaulichkeit der Aus-
gangspunkt zur "Entdeckung vieler Siedelungen
geworden. Ein ähnliches Profil wiederholt sich
auf allen Siedelungsstätteu, die vou der Stein-
zeit an bis in die Weudenzeit hineinreichen
und ist der untrüglichste Beweis für das Vor-
handensein einer vorgeschichtlichen Wohnstätte.
Das Bucher Profil hat denn auch in neuester
Zeit am häufigsten zur Entdeckung vorgeschicht-
licher Siedelungen beigetragen. Auch die stein-
zeitliche Wohnstätte bei Trebus und das ger-
manische Dorf bei Kleiubeereu aus den ersten
Jahrhunderteu unserer Zeitrechnung sind an
diesem Profil erkannt worden i). Sind uns erst
die Kennzeichen vorgeschichtlicher Siedelungen
vertraut geworden, so kommt es nur darauf
an, die Plätze mit diesen Kennzeichen aufzu-
finden.
2. Ältere Berichte in Fachzeitschriften,
Zeitungen u. dgl.
Eine große Fülle derartiger Fundstätten
ließe sich zunächst feststellen beim Durchstöbern
der vorgeschichtlichen Literatur. Zuweilen sind
in früherer Zeit die Wohnstätten als solche
erkannt worden ; meist aber standen die Forscher
vor einem Rätsel und wußten nicht recht, was
sie aus dem Befunde macheu sollten. Da sie
fast nur in der Untersuchung von Gräbern geübt
waren, so erkannten sie nicht selten, daß man
es au bestimmten Stellen sicher nicht mit
J) Brand enburgia 1910, Taf. VIII; Prähistor. Zeit-
schrift II, 1910, 8.379.
a) Vgl. außerdem Zeitsohr. f. Ethnol. XL VI, 1914,
S. 887; Prähistor. Zeitsohr. VI, S. 307.
Gräbern zu tun hatte. Eine weitere Deutung
lag ihnen meist fern. Einige kamen einen Schritt
weiter und schlössen aus mannigfach beob-
achteten Abfällen, daß hier einmal Leute ge-
wohnt haben mußten. Noch andere bezeich-
neten die in den Wohnstätten vorkommenden
größereu Gruben als „Wohngruben". Bei vielen
hat dieser Begriff auch Unheil angerichtet, weil
sie glaubten, daß diese elenden, bestenfalls
D/s111 ur,d wenig darüber messenden Erdlöcher,
iu denen ein Erwachsener kaum hocken, viel
weniger aber stehen oder liegen konnte, wirklich
als die ganze Wohnung menschlicher Wesen
zu betrachten wären. Andere sahen wenigstens
die Unmöglichkeit und Widersinnigkeit dieser
Ansicht ein und rechneten ganz richtig damit,
daß diese „Wohngruben" nur ein Teil mensch-
licher Wohnstätten gewesen sind. Auf jeden
Fall läßt sich ans der großen Zahl mehr oder
weniger klarer Berichte eine unendliche Fülle
von Ausgangspunkten zur Erforschung neuer
Siedelungen gewinnen. Eines der besten Bei-
spiele findet sich in der Zeitschrift für Ethno-
logie [IX, 1877, S. (254)]. Aus dem Virchow-
schen Bericht über eine Fundstelle bei Selchow
(Mark) entnehmen wir trotz aller Unsicherheit
des Verfassers, daß es sich ohne Zweifel auch
um Wohnplätze haudelt. „Wir fanden nur
Bruchstücke" vou Tongefäßen, „Stellen, wo
Mengen von gebrannten Kohlen zusammen-
lagen", „eiu Rinderzahu, eine beliebige Rippe,
bimssteinartig gebrannte Tonmasseu, die bei
starkem Feuer gelegen haben", lassen schon mit
Sicherheit auf eine Siedeluug schließen. Noch
deutlicher aber sind die Hinweise des damaligen
stud. phil. und späteren Guineaforschers, des in
diesem Jahre durch Infektion in einem Kriegs-
lazarett verstorbenen Prof. Dr. Richard Neu-
hau ß in seinem Bericht an das Märkische
Museum J). „In kohlschwarze Branderde ein-
gebettete Scherbenhaufen bedecken eine weite
Fläche; kreisförmige Anordnung der Brand-
stelleu ; zuweilen schwach gebrannte Lehm-
patzen ; oft beginnt die Brauderde schon wenige
Dezimeter unter der Oberfläche ; 1 bis 2 m ist
die vorherrschende Tiefe; die Zahl der Scherben-
haufen ist sehr groß; zahlreiche mittelgroße
Steine fehlen unter den Scherben nie; die
Wirkung des Feuers ist au vielen Töpfen un-
verkennbar; nirgends eine Spur von Menschen-
kuochen; Scherben von 20 bis 30 der verschie-
densten Gefäße auf gauz engem Räume." Jedes
Wort und jeder Satz paßt auf Buch und auf alle
Wohnstätten, die wir bis jezt untersucht haben.
l) „Bär" 1878, S. 19 ff.
39
Sehr gut beobachtet sind auch folgende Einzel-
heiten: „Seit der Zeit, welcher unsere Gegen-
stände angehören, ist der Boden auf dem Hünen-
berge nicht angeschwemmt oder durch Flugsand
erhöht, was man bei der tiefen Lage der Brand-
stellen vermuten könnte. Offenbar gruben die
Alten Vertiefungen , in denen sie arbeiteten,
denn an den Plätzen, wo die Brandstätten fehlen,
ist die Erde bis zur Oberfläche geschichtet."
Hier fehlt nichts weiter — als die richtige Deu-
tung. Der Nebensatz „in denen sie arbeiteten"
fügt sich dem Gedankenkreise des jungen
Forschers ein, der annahm, daß auf der süd-
lichen Hälfte des Hünenberges die Urnen an-
gefertigt seien, die auf der nördlichen Hälfte
in den Gräbern zu finden waren. Es wird heute
schwerlich jemand geben, der nach dem Lesen
des guten Berichtes von Neuhauß daran zweifelt,
daß auf der Südseite die Wohnstätten lagen,
deren Herdstelleu, Pfostenlöcher, Abfallgruben,
Wandreste u. dgl. mit anerkennenswerter und
erwünschter Klarheit geschildert sind. Rudolf
Virchow kannte diesen Bericht, aber auch Dach
eingehender Besichtigung noch war er — wie
wir oben gesehen haben — der Meinung, „daß
es sich im wesentlichen um eiu Gräberfeld
handelt" , „daß von irgend einer anhaltenden
Bewohnuug nicht die Rede sein kann". Immer-
hin gesteht er die Möglichkeit zu, „daß in
späterer Zeit dort vorübergehend Leute gehaust
haben".
Bei E. Friede! ]) finden wir den Gedanken
an Wohnstätten ebenfalls : „Die Scherben-
anhäufungen in Gruben oder Erdtrichtern finden
sich bei diesen primitiven Begräbuisstellen hier
und da, sie deuten die Anlage von Wohn-
plätzen, j edenfalls vonFeuerungsanlagen,
wo gekocht (vielleicht der Leichenschmaus be-
reitet) wurde." Es ist ungemein interessant zu
sehen, wie hier der für die märkische Vor-
geschichtsforschung so hochverdiente Verfasser,
der die Umgebung Berlins schon vor 40 Jahren
systematisch nach Fundstellen absuchte, mit den
von mir breitgesetzten Worten die richtige
Deutung schon getroffen hat, mit dem ein-
geklammerten Satze dagegen der herrschenden
Anschauung noch seinen Tribut zollen muß.
Als „Wohnstätte" sehen wir denn den Hünen-
berg bei Selchow auch zitiert in einer Arbeit,
die uns an dieser Stelle ganz besonders inter-
essieren muß. Auch noch in neuester Zeit wird
mir oftmals entgegengehalten, daß die Siedelungs-
plätze in anderen Provinzen nicht so leicht zu
erkennen wären wie in der „sandigen" Mark.
Für gewisse Gegenden, wie etwa die Schwarz-
erde der Magdeburger Börde, mag das — bis
zu einem gewissen Grade wenigstens — zu-
treffend sein. Daß man aber auch anderswo
die letzten Spuren vorgeschichtlicher Siedelungen
sehr wohl beobachten kann, mag aus dem durch
Voß mitgeteilten Bericht vonCredner, „Über
das Gräberfeld von Giebichensteiu bei Halle"
hervorgehen J). Die in den Sand eingeschnittenen,
auf S. 48 dargestellten Grubeuprofile könnten
sehr wohl in Buch aufgenommen sein. Credner
deutet sie als „Gräber und Opferstätten
(zum Teil wohl auch Wohnplätze)".
Die hierauf unter Klopfleischs Leitung
durch die Historische Kommission der Provinz
Sachsen unternommene Untersuchung stellt
13 Gruben fest, „gefüllt mit Resten einst-
maliger Opferungen und Opf erschmäuse".
Voß spricht dagegen mit Recht (S. 56) wieder
von Begräbnissen „auf der Stelle eines Wohu-
platzes", über dessen Natur und dessen Einzel-
heiten niemand recht wagt, eine Meinung zu
äußern. Auf die auch au anderen Stellen scharf
hervortretenden Grubeuprotile vgl. meine Aus-
führungen in der Prähist. Zeitschr. VI, 1914,
S. 3*27 und Moritz Heyne, Deutsche Haus-
altertümer I, S. 59 (13b), wo Siedelungsreste als
Töpferöfen gedeutet werden.
Aus vorstehenden Bemerkungen dürfte zur
Genüge hervorgehen, welch reiche Fundgrube
für vorgeschichtliche Wohnstätten die durch
alle Zeitschriften weithin zerstreuten Berichte
sind.
3. Handschriftliche Aufzeichnungen
in den Sammelkästen der Museen und
Archive.
Nicht jede Beobachtung, die durch Zufall, auf
Ausflügen oder beim systematischen Aufsuchen
von vorgeschichtlichen Fundstellen gemacht
werden konnte, ist durch Druck der Öffent-
lichkeit übergeben worden. In den Archiven
jedes einzelneu Museums finden sich zahlreiche
Nachrichten, auf die hin nicht immer gleich
umfangreiche Untersuchungen angestellt werden
konnten. So sind z. B. die „Sammelkästen" des
Märkischen Museums wahre Fundgruben für
noch nicht bearbeitetes Material. Diese von
Herrn Friedel bei der Gründung des Märki-
schen Museums eingerichteten Sammelkästen
haben sich durch vierzig Jahre hindurch aus-
gezeichnet bewährt, und wo etwa in anderen
Museen nicht schon ähnliche Einrichtungen vor-
handen sind, kann man nicht warm und dringend
*■) „Bär" 1878, S. 791
"■) Zeitschr. f. Ethnol. XI, 1879, S. (47) ff.
40
genug diese wahren Schatzkammern aufgehäuften
Wissens empfehlen. Es ist geradezu unglaub-
lich, was sicli in diesen Kästen an flüchtigen
Notizen wie an ausführlicheren Mitteilungen im
Laufe der vierzig Jahre angehäuft hat. Mögen
auch zuweilen belanglose Bemerkungen mit
unterlaufen. Alan kann wirklich nicht immer
wissen, was in späteren Jahrzehnton wichtig
oder nichtig erscheinen könnte. Besser, man
ist in der Sammlung aller möglichen Nach-
richten zu weit gegangen, als daß Wesentliches
versäumt worden ist. Für alle Wissenszweige,
die nur irgend welche Berührung mit dem
Museum haben, sind Kästen vorhanden. [Über
Aberglaube und Abdeckerei, Abge-
ordnetenhaus, Abfuhr aus Berlin, märkischen
Adel und Adelswappen, Adreßkalender,
Ärzte und Ärztewesen, Akademien, Alko-
holismus, Alraune, Alt-Berlin, Altertums-
forscher usw. wird in Kästen alles gesammelt,
was nur irgend einem Museumsbeamten in die
Hände fällt. |
Für vorgeschichtliche Siedelungen kommen
aber vor allem die außerdem noch vorhandenen
Kreis- und Ortssammelkästen in Betracht. Jeder
Kreis hat seinen „Kreiskasten" mit alten Karten
des Kreises und allgemeinen Nachrichten. In
den Ortssammelkästen hat jedes Städtchen, ja
jedes Dorf seine Mappe (früher nannte man
so etwas bekanntlich „Faszikel"). Bevor ein
Musen msbeamter auf einer Dienstreise einen
Ort berührt, braucht er nur alle Nachrichten
des Sammelkastens zu studieren. Er ist dann
über die Geschichte des Ortes, über seine
Altertümlichkeiten, über alle wichtigeren Er-
eignisse im Dorfe oder Städtchen oft besser
unterrichtet als die besten Lokalforscher. In
diesen Sanimelkästen ist nun auch ein unschätz-
bares Material für die Siedelungsforschung auf-
gespeichert. Mau ersieht, wo irgend einmal
„Scherben" gefunden wurden, wo man vor
dreißig Jahren „geborstene, mürbe Feldsteine"
zwischen Kohlenhäufchen, Tierkuochen und zer-
brochenen Tongefäßen beobachtete und weiß
jetzt, daß das Herdstellen waren. Es begegnen
einem sonderbare Flurnamen oder „Burgwälle",
die keine waren.
Ein Beispiel für viele: Im Jahre 18911 (am
5. Juni) unternahmen Pfleger des Märkischen
Museums unter Friedeis Führung einen Aus-
flug nach Genshagen im Kreise Teltow zu einem
„Burgwall", der sich nur als eine natürliche
Erhöhung erwies. Wendische und mittelalter-
liche Reste fehlten; wohl aber waren „vor-
wendische Scherben" in großer Zahl vorhanden.
Vor allem wurden „Reste von Reibesteinen,
feuergeplatzte Steine sowie gebrannte Tier-
knochen festgestellt". Die Fundstelle wurde
richtig als Ansiedelung erkannt; die Bedeutung
der wenigen Beobachtungen ist uns heute viel
klarer als sie einst den Augenzeugen sein konnte
und muß nun natürlich dazu anreizen bei näch-
ster Gelegenheit den Charakter der Siedelung
gründlich zu erforschen.
4. Siedelungsf unde in Museen.
Wer die Literatur und die Archive gründ-
lich durchstöbert hat, wird auch nicht versäumen,
die Museumsfunde durchzusehen. Wohl stammt
honte noch die größte Menge aller vorgeschicht-
lichen Funde aus Gräbern. In jedem größeren
sowohl wie kleineren Museum linden sich jedoch
meist ganz verschämt, in irgend einem Winkel
verborgen, unansehnliche Scherben und Leb in -
stücke, die dem Kenner auf den ersten Blick
sagen , daß Reste einer alten , meist gar nicht
erkannten Siedelung vorliegen, die ähnliche
Ergebnisse vermuten lassen, wie wir sie bei
Buch zutage fördern konnten. Besonders
empfehlenswert dürfte es sein, neben der Schau-
sammlung auch die in vielen Museen schon vor-
handene Studiensammlung und vor allem das in
zahlreichen Museen aus wohlverschlossenen, un-
zugänglichen Kisten bestehende „Magazin" einer
gründlichen Durchsicht zu unterwerfen. Im
Märkischen Museum bin ich dabei, sämtliche
zwar unansehnliche, aber äußerst wichtige Siede-
lungsfunde in einem Speicher zu vereinigen.
Wie ich mir die Einrichtung eines solchen
Speichers (Magazins oder Depots) denke, habe
ich ausführlich in einem Aufsatze der „Museums-
kunde" (herausgegeben von K.Koe tschau, 1916,
Heft 1) auseinandergesetzt ').
5. Bekannte Gräberfelder.
Schon in meiner Dissertation aus dem Jahre
1908, also lange vor der Entdeckung des bronze-
zeitlichen Dorfes bei Buch habe ich (S. 67) ge-
sagt2): „Die zu den Begräbnisplätzen gehörigen
Ansiedelungen müssen und werden sich finden
lassen. Einer oberflächlichen Betrachtung werden
die Ergebnisse derartiger Ausgrabungen zwar
wenig glänzend erscheinen; aber für das Ver-
ständnis altgermanischer Kultur und für die
ganze germanische Forschung werden diese
Resultate von unberechenbarer Bedeutung sein."
Zu den mehr als 50 Gräberfeldern am Nieder-
x) Vgl. daselbst auch Abbildung.
2) Der Einfluß der römischen Kultur auf die ger-
manische im Spiegel der Hügelgräber des Niederrheius.
Nebst einem Anhang: Die absolute Chronologie der
Augeulibel. Strecker u. Schröder, Stuttgart 1908.
41
rheiu war damals keine einzige Siedelung be-
kannt. Auf meine diesbezügliche Frage und
Mahnung, doch auf die Siedelungen zu achten,
sagte mir ein sehr eifriger Sammler: „Siede-
lungen gibt es hier nicht." Als ich nach einem
halben Jahre wieder an denselben Ort kam,
konnten mir schon Funde aus einer Wohustätte
gezeigt werden und bei einem abermaligen Be-
such wurde mir gesagt: „Jetzt können wir uns
vor Siedelungen kaum noch retten." So ist es
natürlich überall. Zu jedem Gräberfelde muß
notwendigerweise mindestens eine Wohnstätte
gehören. Und welche Fülle von neuen Fund-
plätzen würden wir kennen lernen, wenn erst
für jedes bekannte Gräberfeld die Ansiedelung
festgestellt ist! Oftmals ist die Wohustätte bei
der Ausbeutung des Gräberfeldes schon gefunden,
aber nicht erkannt worden. Dafür ein Beispiel:
Das Märkische Museum besitzt von der Feld-
mark eines im Ruppiner Kreise gelegenen Dorfes
eine reiche Auswahl von Altertümern aller mög-
lichen Perioden. Leider ist nur ganz unsyste-
matisch gearbeitet worden und von einer ge-
ordueten, gründlichen Untersuchung ist bis jetzt
gar keine Rede gewesen. Immer ist nur von
„Urnenfriedhöfen" die Rede. Ein Bericht er-
zählt jedoch von einer „Töpferwerkstatt". „Viele
verworfene prähistorische Scherben , teils gut
erhalten, teils verschlackt, dicke Tonpatzen, der
Lehmboden durch Brand gerötet." Wir brauchen
nicht mehr zu sagen, daß es sich um eine
Siedelung handelt. Die Deutung solcher Fund-
stellen als „Töpferwerkstätte" ist mir übrigens
in mündlichen und schriftlichen Berichten be-
reits so oft begegnet, daß wir sie schon allein
beinahe mit Sicherheit als das Kennzeichen für
eine Wohnstätte ansehen können.
In einem Bericht über eine in der Nachbar-
schaft der oben erwähnten Friedhöfe liegenden
Fundstelle heißt es: „Einige Feuerstellen.
Hiermit bezeichne ich die Steinpackungen, 2 bis
3 Fuß im Durchmesser, 1 Fuß tief, D/2 Fuß
unter der Oberfläche, deren Steine keinen Klang
haben, sehr mürbe und ringsum von schwarzer
Erde mit Topfscherben umgeben sind." Natür-
lich sind das Steinherde vorgeschichtlicher
Häuser.
Oder in demselben Bericht heißt es von
einer anderen Stelle: „Ich ermittelte einige
Feuerstellen, einige runde Stellen, 9 Fuß im
Durchmesser, betonartig aus kleinen geschla-
genen Steinen und Lehm hergestellt. Eben-
falls eine „runde", 4 Fuß im Durchmesser
haltende brunnenartige Steinpackung; der iuuere
Raum war bis zu einer Tiefe von 4 Fuß mit
gebranntem Lehm ausgefüllt; sehr viele
Topfscherben ...., Fragmente von bedeutender
Größe ... wohl die Größe eines Wasch -
kesseis ... Knochen und Zähne von Rind, Pferd
und Schwein in der schwarzen Erde." Wer denkt
da nicht gleich an die großen, iu den Boden
eingelassenen Vorratsgefäße von Buch? Wir
können aus den angeführten Worten mehr
herauslesen als der Verfasser damals ahnte.
Die Untersuchung dieser Stätte verspricht recht
große Erfolge und wird vielleicht noch eine
der dankbarsten Aufgaben unseres Museums
werden. Wie ich bei Ilasenfelde vom Gräber-
felde aus auf die Wohnstätten gestoßen bin, das
mag man in der Prähist. Zeitschr. III, 1911,
S. '288 nachlesen.
Was von Gräberfeldern gilt, das gilt auch
\ on Einzel- und ganz gewiß auch von Depot-
funden. Auf jeden Fall muß die Umgebung
der Fundstellen nach Spuren vorgeschichtlicher
oder verschwundener mittelalterlicher Siedelun-
gen hin durchsucht werden. Schuchhardt
nimmt bekanntlich sogar an, daß die meisten
Depotfunde Schatzfunde seien, die einst im
Hause des Besitzers aufgehoben waren1), und
in der Sitzung der Berliner Anthropologischen
Gesellschaft wies er im Anschluß an die Be-
sprechung des Fundes geradezu darauf hin, daß
man ja bisher so gut wie gar keine Siedelungen
erforscht habe, durch die Ausstellung des Märki-
schen Museums2) aber zur Anschauung gebracht
worden sei, welche Aufschlüsse wir durch die
Wohnstättenforschuug zu erwarten hätten.
6. Heutige Dörfer.
In Anbetracht der Tatsache, daß viele
unserer heutigen Dörfer mit ihrer Geschichte
so weit zurückreichen wie die ältesten geschicht-
lichen Nachrichten, müssen wir uns die heutigen
Dorfstellen und die unmittelbar an den Dörfern
liegenden Gärten darauf hin ansehen , ob sie
nicht Spuren älterer Siedeluugen aufweisen.
Das frühmittelalterliche Bauernhaus von
Niedergörsdorf3) lag unmittelbar neben dem
letzten Hause des Dorfes und ähnliche Gefäß-
reste sammelte Herr Ortsvorsteher Richter
iu seinem Garten. Herr Dr. Ilindenburg hat
in einer gauzen Zahl von Gärten bei Groß-
beeren vorgeschichtliche Scherben festgestellt.
Gerade diese Untersuchungen sind ja
ungemein wichtig für die Kontinuität
der Besiedelung von der Urzeit her, an
*) Der Golrtfund vom Messingwerk bei Eberswalde,
S. 46, Verlag f. Kunst u. Wissenschaft. Berlin 1914.
a) Korresp.-Blatt 1914, S. 61— 73, Abb. 1—10.
3) Vorgeschichte der Mark Brandenburg. Landes-
kunde, Bd. III, 8.455 und Abb. Tat XIX.
6
42
die ja viele auch heute noch nicht recht
glauben wollen.
Ganz besonders werden unsere heutigen Dörfer
uns dann auf die Spur vorgeschichtlicher Siede-
lungen führen, wenn sie (vgl. S. 44) auf
Inseln mit Dünen liegen. Ein ganz vorzügliches
Beispiel dafür ist Schmöckwitz im Kreise Teltow.
Schon der Name weist darauf hin. daß wir
dieses Dorf bis in die wendische Zeit hinab
verfolgen können. Es liegt heute auf einer
Halbinsel, die nur durch einen schmalen Streifen
mit dem Pestlande verbunden ist. Ein Blick
auf die geologische Karte lehrt uns, daß diese
Landbrücke früher ebenfalls unter Wasser stand.
Die Kirche steht auf einer noch jetzt ganz
deutlich erkennbaren Düne, von deren einer
Seite sogar heute noch der Sand abgefahren
wird. Und dabei ist der Kirchhügel so klein,
daß die Kirchhofsmauer unmittelbar an die
Sandgrube stößt. In der Sandgrube findet man
seit Jahrzehnten vorgeschichtliche Scherben.
Schmöckwitz und seine unmittelbare Umgebung
waren sicher während der ganzen Vorzeit be-
siedelt. Seine schönsten Funde gehören ja der
mittleren (dritte Periode; große Bronzetibel im
Märkischen Museum) und der ältesten Bronze-
zeit an (erste Periode; zwei Schwertstäbe im
Köuigl. Museum für Völkerkunde in Berlin).
Merkwürdigerweise wurden die ältesten auf eine
Wohustätte deutenden Funde nicht auf der
heutigen Dorfstelle, soudern auf dem gegenüber-
liegenden Försteracker gefunden. Es sind die
bekannten Feuersteinsplitter und -gerate, die
gewiß bis in die jüngere Steinzeit hinein ge-
braucht worden sind *).
7. „Wüste Feldmarken".
Bekanntlich sind während des Mittelalters
zahlreiche Dörfer untergegangen. Besonders
der schwarze Tod (1348) und der dreißig-
jährige Krieg scheinen unheilvolle Wirkungen
ausgeübt zu haben. Wenn neuere Geschichts-
forscher gern einer milderen Auffassung dieser
Wirkungen zuneigen möchten, so kann man
ihnen nur raten, sich für die Mark in die be-
kannten „Landreiterberichte" zu vertiefen. Da
werden sie einen Begriff bekommen, welche
furchtbaren Wunden der Krieg deutschen Landen
geschlagen hat. Poetische Berichte bis zum
Simplicius Simplicissimus köunen übertrieben
sein. Die nackten Zahlen der Landreiterberichte
reden jedoch eine weit furchtbarere Sprache.
Wenn von 8 oder 13 Bauernhöfen eines märki-
J) Vorgeschichte der Mark Brandenburg. Landes-
kunde UI, S. 353.
sehen Dorfes nach dem Kriege (1652) nur noch
drei oder einer oder gar keiner mehr besetzt sind,
auch alles übrige „wüst" geworden ist, dann kann
mau sich eine Vorstellung davon machen, welches
das Schicksal der armen Dorfbewohner gewesen
sein mag. Manches Dorf konnte sich nicht
wieder erholen und blieb wüst. In Betracht
gezogen muß allerdings auch werden, daß die
im 12. und 13. Jahrhundert einsetzende, im
großen und ganzen hervorragend erfolgreiche
Kolonisation der ehemals slavischen Gebiete
teilweise so blind und übereifrig gearbeitet hat,
daß man dadurch an die „Gründerjahre" und
den wirtschaftlichen Niederbruch nach dem
französischen Kriege erinnert wird. Manche
wüste Dorfstätte zeugt also auch von verfehlter
Gründungswut.
Die Zahl wüster Dorfstätten ist sehr groß.
Plawe oder Plaue am Plagesee in der Ucker-
mark, Slatdorf im Kreise Teltow, Diepensee,
Melwendorf, Altona sind nur wenige Beispiele.
Oftmals wurde die wüste Feldmark wenigstens
soweit wieder bebaut, daß sie jetzt ein „Vor-
werk" trägt (Diepensee, Melwendorf, heute
Neubeeren). In alten Kirchenbüchern ist oft
von der „wüsten Feldmark" in der Nähe noch
bestehender Dörfer die Rede. Andere (z. B. das
alte Gerhardsdorf bei Königswusterhausen) haben
geradezu die amtliche Bezeichnung Wüstemark
oder auch Wustermark (z. B. bei Brandenburg)
erhalten. An vielen dieser Stellen stehen heute
wenigstens einige Häuser. Nicht selten scheint
eine Försterei als letzter Rest des Dorfes übrig
geblieben zu sein. Bei noch anderen hat sich
nur der Flurname erhalten.
8. Flurnamen.
Auf alte Flurnamen muß denn auch der
Siedelungsarchäologe ganz besonders sein Augen-
merk richten. Sie sind ihm überaus wertvolle
Wegweiser zu untergegangenen mittelalterlichen,
aber auch zu vorgeschichtlichen Siedelungeu.
Ganz bekannt, fast berühmt, in mancher Be-
ziehung sogar berüchtigt, ist ja die „Stadtstelle"
im Blumental bei Straußberg geworden. Was
ist über sie geredet und gefabelt worden ! Eine
gründliche Untersuchung hat noch nicht statt-
gefunden. Bei fast allen Auseinandersetzungen
spielten in alter Dilettantenart die „Opfersteine"
eine Rolle. All diesen Fabeleien hat ja Schuch-
hardt nun wohl ein Ende gemacht1). Schuch-
hardt schließt seinen Bericht mit den Worten:
„Eine Grabung würde für die mittelalterliche
x) Geschäftsbericht d. Brandenb. Prov. Kommiss.
f. Denkmalspflege 1911—1913, S. 83 ff.
43
Kulturgeschichte gewiß Interessantes zutage
fördern, eine Aufgabe für die vorgeschichtliche
Forschung ist sie nicht". Damit kann er im
Rechte sein, vorausgesetzt, daß das mittelalter-
liche Dorf nicht — wie so oft — an der Stelle
eines vorgeschichtlichen stand. Auf keinen Fall
wird aber eine genaue Untersuchung überflüssig.
Im Gegenteil. Jetzt sind immerhin noch Reste
vorhanden. Dürfen wir warten, bis auch der
letzte Stein verschleppt ist? Außerdem ist
gerade in der Mark die mittelalterliche Besiede-
lung mit der vorgeschichtlichen so eng ver-
knüpft, daß beide gar nicht gesondert behandelt
werden können. [Vgl. Braudenburgia, Monats-
blatt 1915, S. 119, Abschnitt 2]*).
Wie uns Sagen und Spukgeschichten
gute Führer sein können, darüber lese man in
der Zeitschi-, f. Ethnol. 1912, S. 426 meinen
Bericht über Breddin nach. In ausgezeichneter
Weise hat sich auch der Flurname „alter Berg"
in Verbindung mit einer Urkunde bewährt2).
9. Das Gelände und die Karten der
geologischen Landesanstalt.
Die besten Führer sind nun aber die far-
bigen Karten der geologischen Laudesanstalt.
Ursprünglich wirtschaftlichen Zwecken dienend,
geben sie auch der Vorgeschichtswissenschaft
ein Material von unerschöpflicher Fülle an die
Hand. Von unseren Geologen wird der heimische
Boden auf seine Beschaffenheit hin so gründ-
lich untersucht, daß man meinen sollte, schon
durch die Herstellung so zahlloser Handbohr-
löcher hätte im Laufe der Zeiten kaum noch
eine vorgeschichtliche Fundstätte der Aufmerk-
samkeit der Bodenforscher entgehen können.
Ganz gewiß hat die geologische Landesanstalt
in erster Linie andere Aufgaben zu erfüllen.
Das Handinhandarbeiten der verschiedenen
Wissenschaften läßt ja auf anderen Gebieten
ebenfalls noch manches zu wünschen übrig. Im
vorliegenden Falle wäre aber vielleicht doch
erwägenswert, ob die Arbeiten der Landes-
anstalt nicht zugleich in den Dienst
auch der Siedelungsf orschung zu stellen
wären. Die daraus erwachsenden geringen
Kosten und Mühen wären jedenfalls ganz uner-
heblich gegenüber dem ungewöhnlichen Erfolge,
sei es auch nur , daß die Geologen verpflichtet
würdeu , alle ihnen bei ihren Untersuchungen
zufällig aufstoßenden Funde und Beobachtungen
1) Über weitere verdächtige Flurnamen vgl. meine
Ausführungen im Korr.-Bl. 1912, S. 65.
2) Vgl. meinen Bericht über die Ausgrabungen des
Mark. Museums bei Cüstrin. Zeitschr. f. Ethnol. 1914,
S. 882.
zu notieren und zu sammeln. Die Museen
würden auf diese Weise Anhaltspunkte in großer
Zahl gewinnen, und es ließen sich in kürzester
Zeit Siedelungskarten für große Gebiete, zuletzt
für den ganzen Staat und für das ganze Reich
herstellen.
Erfreulicherweise ist während der letzten
Jahre sowohl den Vorgeschiehtsforschern wie
auch den Geologen immer mehr die Notwendig-
keit des Zusammenarbeitens aufgegangen. Diese
Zusammenarbeit muß nicht nur stattfinden auf
dem Gebiete der paläolithischen Kulturen, sondern
auch auf dem späterer Perioden. Vor allem
aber für Siedelungsf ragen muß die Erd-
geschichte stets die Grundlagen bieten. Die
Beschaffenheit des Bodens ist nicht nur für
unsere Zeit von so erheblicher wirtschaftlicher
Bedeutung ; sie war entscheidend auch für das
Wirtschaftsleben der Vorzeit, für die Wahl des
Wohnplatzes, für die Anlage der Dörfer, fin-
den Betrieb von Ackerbau und Viehzucht.
Vgl. dazu meine Ausführungen über die „Heu-
kammer" bei Sophieudorf *). So sind die Ergeb-
nisse der siedeluugsarchäologischen Forschungen
zugleich recht wesentliche Bausteine für die
Geschichte der Besiedelung und Bewirt-
schaftung unseres Landes überhaupt, und
damit auch für die Geschichte der deutscheu
Landwirtschaft. So erwogen, liegen auch die
rein siedelungsarchäologischen Forschungen den
Arbeiten der geologischen Landesanstalten weit
näher als mancher bisher vielleicht angenom-
men hat.
Auch jetzt schon enthalten die „Erläute-
rungen" zu den einzelneu Blättern der geolo-
gischen Karten zuweilen wertvolle Hinweise
auf vorgeschichtliche Fundstellen und müssen
daraufhin genau so gewissenhaft wie die übrige
Literatur durchgesehen und geprüft werden.
Das Mäi kische Museum erhielt erst in letzter
Zeit von Herrn Prof. Kaunhowen aus der Gegend
von Lübbeu einige Funde überwiesen.
Das wichtigste Hilfsmittel zur Förderung der
Siedeluugsarchäologie bleibt aber für die Zukunft
das Auffinden vorgeschichtlicher Wohn-
stätten im Gelände an der Hand der geo-
logischen Karten.
Zahlreiche Beobachtungen an den vom Mär-
kischen Museum untersuchten vorgeschichtlichen
Wohnstätten und an den bisher — wenn auch
nur aus einzelnen Fundeu — bekannten Siede-
lungsplätzen haben ergeben, daß die Wahl des
Wohnplatzes gewissen Gesetzmäßigkeiten unter-
liegt. Stellen, die sich für Besiedelung in her-
!) Zeitschr. f. Ethnol. 1912, S. 415.
44
vorragendem Maße eigneten, müssen deshalb
heute daraufhin untersucht werden, ob sie nicht
in der Tat einmal als Wohnstätte gedient haben.
Die mit Moorerde, VViesenkalk oder Torf aus-
gefüllten alluvialen Niederungen scheiden als
Wohnplätze für die Vorzeit fast ganz aus,
da sie damals mindestens zu einem großen
Teile, wenn nicht überschwemmt, so doch sehr
sumpfig waren. Nicht so dürfen wir an den
diluvialen Ablagerungen des oberen und unteren
Geschiebemergels sowie des oberen und unteren
Sandes vorübergehen. Wir müssen damit rechnen,
auf diesen trocken und hochgelegenen Plätzen
alten Wohnstätten zu begegnen. Auf diluvialen
Hochflächen liegen z. B. die altgermanischen
Döifer bei Großbeeren, Lagardesmühlen und
Paulinenaue, wie die wendischen Siedelungen
bei Cüstrm und bei Hasenfelde. Weit besseren
Schutz noch boten aber die aus einer alluvialen
Niederung emporragenden Inseln und Werder,
meist aus Talsand gebildet und von Dünen-
sanden überweht. Diese Stellen ziehen in aller-
erster Linie unsere Aufmerksamkeit auf sich.
Sie boten mit ihrem Dünensaude nicht nur
trockene Wohnplätze; der Tal- oder Flußsand
der nächsten Umgebung gab vielmehr zugleich
Gelegenheit zum Hackbau. Die Wohnstätten
selber lagen fast ausschließlich auf den Dünen,
wohl auch um die wertvollen Stellen für den
Anbau frei zu lassen.
Welche Bedeutung diese inselartigen Diluvial-
höhen, die sich aus dem Alluvialen herausheben,
für unsere Siedelungsforschung haben, das sei
au folgendem Beispiel erörtert. Ich wähle aus
ganz bestimmten Gründen das Blatt Zossen
(Gradabteilung 45, Nr. 4a), topographisch auf-
genommen vom Kgl. Preuß. Generalstabe 1 86'.*
(Nachträge bis Ende 1875); geognostisch und
agronomisch aufgenommen von G. Berendt
und D. Brauns; die Erläuterungen dazu sind
erschienen 1882.
Die gewaltigen Wassermassen, die sich am
Ende der Eiszeit zwischen dem Baruther und Ber-
liner Haupttal wälzten, haben die Diluvialhoch-
fläche durchwühlt, zerrissen, zum Teil hinweg-
gespült, zum Teil eingeebnet, so daß zwischen
beiden Urstromtälern die Notte- und Nuthcniede-
rungen entstanden. Innerhall) dieser Niederungen
sind jedoch ganze Blöcke des oberen Geschiebe-
mergels stehen geblieben und ragen jetzt insel-
artig aus der wiesenreichen Niederung empor.
Diese diluvialen Inseln müssen uns verdächtig
erscheinen. Weit verdächtiger aber sind noch
die aus eingeebneten Diluvialsanden bestehen-
den Talsandflächen, die teilweise rings von
Niederungen umgeben sind, teilweise sich an
höher gelegene Diluviallandschaften anlehnen
oder diese an ihren Kändern begleiten. Recht
häufig trieben auf diesen Talsandflächen die
Winde ihr Spiel und wirbelten auch hier an
gewissen Stellen die tranz unfruchtbaren Diinen-
sande auf. Es ist kein Zufall, daß von den
10 heutigen Siedelungen, die in und an der
Niederung liegen, nicht weniger als sieben,
DO? 3
nämlich dieStadt Zossen, die Dörfer Dergischow,
Schünow, Dabendorf, Tel/,, Jühnsdorf, auch
Hangsdorf und das Vorwerk Pramsdorf auf
Talsanduntergrund liegen. Nur Groß-Machnow
und Nächst- Neuendorf sind auf rein alluvialen
Bildungen entstanden; beim Besuch dieser beiden
Dörfer kann man jedoch fest-tellen , was sich
aus der Karte nicht ersehen läßt, daß sie
auf einer gar nicht unwesentlichen Erhöhung
liegen, die, wenn auch der Wiesenkalk sich in der
Tat unter beiden Dörfern in ihrer ganzen Aus-
dehnung hinzieht, nur aus starksandiger Moor-
erde bestehen kann. Zur Zeit der Gründung der
Dörfer Groß-Machuow und Nächst-Neueudorf
muß also selbst die alluviale Niederung au
den betreffenden Stellen schon so trocken
gelegen haben, daß eine Ansiedelung mög-
lich war. Für die Beurteilung des Zustandes
unserer Heimat in den einzelnen Perioden sind der-
artige Erwägungen von größtem Werte und werden
dazu beitragen, daß mit weit verbreiteten falschen
Anschauungen endlich aufgeräumt wird. Für
die Vorzeit und ihre unsicheren Rechtsverhält-
nisse gaben zweifellos die inmitten von unzu-
gänglichen Sümpfen emporragenden Talsand-
inseln die günstigste Gelegenheit zur Besiede-
lung. Kein Ort auf unserem Blatte konnte
sich in dieser Beziehung mit Zossen messen.
So ist es nicht verwunderlich, daß diese Gegend
reiche vorgeschichtliche Funde aufweist.
Hier kommt es mir nun darauf an zu zeigen,
welche Erüchte ein einziger Spaziergang zeitigen
kann. Ich war bisher durch Zufall noch nie
in diese Gegend gekommen. Der einzige Ort,
deu ich vor zwei Jahren einmal besuchte, war
Rangsdorf. Vom Bahnhof in Rangsdorf
wanderte ich am Langen Berge vorüber, über-
schritt den Zülowgraben und steuerte auf einen
Dünenhügel zu, der mir auf der Karte ver-
dächtig vorgekommen war. Er liegt auf einer
Talsandfläche am Südfuße des Zabelberges und
hat nur einen Durchmesser vou 150 bis 200 m.
Der Dünensand ist noch heute so leicht, daß
er sich für Ackerbau nicht eignet. Es bedurfte
nur einiger Minuten aufmerksamen Suchens
an der Oberfläche, um vorgeschichtliche
Scherben und Lehmbrocken zu finden und damit
festzustellen, daß dieser Platz in vorge-
45
schichtlicher Zeit wirklich besiedelt war.
Alle übrigen Fragen, die sich an diese erste
Beobachtung knüpfen , können zurückgestellt
werden bis zur gründlichen Untersuchung der
Fundstelle.
Der weitere Weg führte mich am Mühlen-
berge vorüber nach Groß - Maclmow. Fast un-
mittelbar südlich vou diesem Dorfe führt die
Zossener Straße über eine langgestreckte Tal-
saudinsel mit Dünenhügeln. Da man zum Be-
treten dieser für vorgeschichtliche Besiedelung
günstig gelegene Stelle erst besonderer Erlaubnis
bedurfte, ließ ich sie diesmal liegen.
Westlich vom Pfählingssee erhebt sich aus
der Niederung eine größere Talsandinsel mit
teilweise recht stattlichen Dünen. Der auf den
Dünen stehende Kiefernwald wird auf der Karte
als „Wukrow- Fichten" bezeichnet. Am Süd-
rande der Insel liegt Dabeudorf. — Rechts des
Weges, der von der Zossener Straße nach Daben-
dorf führt, ist etwa 200 m von der Chaussee
entfernt Sand abgefahren worden. Dabei waren
zwei runde schwarze Stellen zum Vorschein ge-
kommen, wie sie auf jeder vorgeschichtlichen
Wohnstätte ungemein häutig sind — die ersten
sicheren Spuren einer vorgeschichtlichen
S i e d e 1 u n g.
Am nächsten Morgen brach ich von Zossen
auf, um zwei der nordwestlich von der Stadt aus
der niederen Umgebung aufragende Inseln auf-
zusuchen. Da durch Regulierung des Notte-
laufes der Wasserstand hier au manchen Stellen
sogar mehr gesunken ist, als wünschenswert
war, so vermag nur ein geübtes Auge diese
Inseln als solche zu erkennen. Die größere
Erhebung, über die heute die Berlin-Dresdener
Eisenbahn geht und auf der heute das Gut
Marienau liegt, war mir nicht zugänglich. Auf
der westlich von der letzteren gelegenen kleineren
Erhebung fand ich große Mengen von früh-
mittelalterlichen Gefäß resten.
An alleu drei Plätzen also, die ich als für
ältere Besiedelung geeignet besuchte, fand ich
Reste alter Kulturen. Schwerlich wird das
jemand für einen Zufall halten wollen.
In der in Rede stehenden Gegend inter-
essierte mich nun aber noch ein Fandplatz, der
nach der Beschreibung in den Erläuterungen
zum Blatt Zossen nicht mit voller Sicherheit
zu bestimmen war. Ich vermutete als solchen
aber doch eine kleine Talsandinsel, die in einer
Torf bucht nur 500 m nordwestlich von Nächst-
Neuendorf liegt. Die Vermutung bestätigte
sich. Der größere Teil des Hügels war leider
schon abgefahren; zermürbte Herdsteine, zahl-
reiche Scherben und ein eisernes Messer aus
der Kultnrschicht einer wallartigen Erhöhung
bestätigten die von den Geologen vor mehr als
30 Jahren gemachten Beobachtungen. Außer-
dem hatte ich die Freude, durch einen glück-
lichen, unzweifelhaft sicheren Scherbenfund fest-
stellen zu können, daß hier eine wendische
Fundstätte vorlag.
Zwei weitere neue Fundstellen, die ich
auf derselben Wanderung auffand, liegen bereits
auf einem anderen geologischen Kartenblatt.
So hat eine einzige Wanderung, die sich
am Sonnabend durch drei und am Sonntag durch
acht Stunden erstreckte, immerhin fünf neue,
bisher ganz unbekannte Fundstellen ergeben,
und die schon bekannte sechste wenigstens
chronologisch bestimmt. Ein derartiges Er-
gebnis ist natürlich nur möglich bei sehr
auf merksamer Beobachtung des Geländes
an der Hand einer geologischen Karte.
Der oben angegebene Weg, das plan-
mäßige Aufsuchen von vorgeschichtlichen
Fundstellen, ist das beste Mittel zu dem erstrebens-
werten Ziele, in absehbarer Zeit eine siedelungs-
archäologische Karte zu erhalten. Selbstverständ-
lich darf man sich mit dem bloßen Feststelleu
einer Siedeluug nicht begnügen. Mindestens
müssen wir durch Untersuchung der Fundstelle
dahin kommen, die Zeit ihrer Besiedelung zu be-
stimmen. Wenn irgend möglich, wird es sich
empfehlen, den Charakter der Siedelung so weit
zu erforschen, wie ich es bei Hasenfelde, Cüstrin,
Lagardesmühle, Paulmenaue, Kleinbeeren, Nieder-
görsdorf, Nackel, Stüdenitz usw. getan habe.
Wo der Fundplatz gefährdet ist, muß natürlich
jede in den Grenzen der Möglichkeit liegende
gründliche Erforschung stattfinden.
Hauptsache ist, daß sich möglichst viele
Kräfte in den Dienst der Sache stellen. In
Berlin hat sich jetzt ein Kreis von Altertums-
freunden zu „Siedelungsarchäologischen
Übungen und Studien am Märkischen
Museum" zusammengeschlossen1). Freunde
der Siedelungskunde, Lokalforscher und Ver-
treter verschiedener Grenzwissenschaften widmen
als regelmäßige Teilnehmer oder als Gäste einen
Teil ihrer Kraft unserem Werke und haben
auch ganz unabhängig von mir recht erfreuliche
Ergebnisse zu verzeichnen.
In kürzester Zeit werden sich schon an hin-
reichend zahlreichen Beispielen gewisse
Eigentümlichkeiten und Unterschiede in
der Wahl des Siedelungsplatzes während der
verschiedenen Perioden feststellen lassen, so daß
:) Vgl. darüber Brandenburgia , Monatsblatt 1915,
8. 117—120 (vgl. S. 55 f.).
Iti
wir von vornherein ans der Art des Ge-
ländes auf Steinzeit. Bronzezeit, Wcndeuzeit usw.
schließen können.
10. Was iiiuLi geschehen, wenn ein neuer
vorgeschichtlicher V u u d ] > 1 a t z entdeckt
worden i st V
Wenn nun ein frisch gepflügter Acker durch
eine Reihe schwarz hervortretender Hausstellen,
wenn eine Sandgrube, eine Baugrube oder ein
Schützengraben durch Herdstellen und Pfosten-
löcher sich verdächtig machen oder wenn der
aufmerksame Beobachter irgendwelche Kultur-
reste an der ( »bei fläche entdeckt hat, dann kommt
es — und das ist mindestens ebenso
wichtig — darauf an, die Stelle für alle Zeiten
im Interesse der Wissenschaft festzulegen. Zu-
nächst muß die Lage des Fundplatzes auf einer
guten Karte genau bestimmt werden. Dann ist
es nötig, die Dorfflur zu ermitteln, zu welcher das
Grundstück gehört. Auf den Meßtischblättern
[1:25 000] und den geologischen Karten sind die
Flurgrenzen der Dörfer ja genau verzeichnet. Man
hat besonders darauf zu achten, ob der Fund-
platz zum Gemeinde- oder zum Gutsbezirk
gehört. Wünschenswert, aber nicht immer
ausführbar ist es, den Besitzer des Grundstückes
ebenfalls zu erfragen. Auf jeden Fall lassen
sich Notizen macheu über den augenblicklichen
Zustand der Stelle und Beobachtungen ver-
zeichnen, ob Wald, Wiese oder Ödland vorhauden
ist. Wichtig ist unter Umständen weiter, daß be-
merkt wird, welche Feldfrucht der Acker, wenn
es sich um einen solchen handelt, im laufenden
Jahre trägt. Ein mit landwirtschaftlichen Ver-
hältnissen Vertrauter kann daraus ungefähr er-
sehen, was für Boden vorhanden ist. Es ist ein
großer Unterschied, ob der Acker mit Roggen
oder mit Mohrrüben bestanden ist. Wo die
letzteren üppig gedeihen, wird man selten eine
Siedelung finden. Ein kurzer Bericht, der alle diese
Dinge festlegt, wird von jedem Museum dankbar
aufgenommen werden. Die letzte und zugleich
wichtigste Aufgabe ist aber — und das ver-
stößt gewiß nicht gegen den Geist des Aus-
grabuugsgesetzes — , auf der Oberfläche her-
umliegende Scherben und andere Kulturreste
aufzuheben und als Beweisstücke dem Berichte
beizulegen. Bei günstiger Gelegenheit muß die
Kundstelle dann einer genaueren Prüfung unter-
zogen werden.
Im zu zeigen, wie wirksam die Wissenschaft
und das Märkische Museum durch meine Hörer
in der „Freien Hochschule", der Lehrer- und
Oberlehrerkurse und durch die Teilnehmer an
den Übungen unterstützt wird, füge ich einige
Beispiele an, die ohne weiteres als Muster dienen
können und zugleich beweisen, mit welchem
Eifer und Erfolg auf unserem Gebiete schon
gearbeitet wird.
Auf diese Weise sind dem Märkischen
Museum seit 1910 im ganzen etwa 200 vor-
geschichtliche Fundstelleu, fast ausschließlich
Siedelungen, mitgeteilt worden. Jede dieserFund-
stätten so zu bearbeiten wie es bei Buch ge-
schah, ist natürlich zunächst bare Unmöglich-
keit. Soviele Museumskräfte und so große Mittel
gibt es gar nicht.
Eine gute Wirkung darf man sich aber
weiter noch von unserer Arbeitsweise ver-
sprechen. Durch das planmäßige Auf suchen
der Fundstellen werden so viele neue Aus-
grabungsplätze zur Verfügung stehen , daß die
vielfach zutage getretene, nach außen hin so
abstoßend wirkende, meiner Ansicht nach schon
immer ganz überflüssige und unwürdige Kon-
kurrenz zwischen den Museen aufhören muß.
Das Arbeitsfeld ist so überreichlich ijroß, daß
alle — ■ die größten wie die kleinsten — Museen
genügend Raum rinden für rastlose Tätigkeit.
Nur das unwissenschaftliche Jagen nach Parade-
funden muß aufgegeben werden. Allein die
gründliche, nach neuer Erkenntnis rin-
gende Forscherarbeit, die unbeeinflußt
von jeder Rücksicht auf äußere Erfolge
ihren Weg geht, hat ein Recht darauf,
Spuren der Vorzeit zu untersuchen.
Im folgenden gebe ich eine Zusammen-
stellung der dem Märkischen Museum seit
der Entdeckung des vorgeschichtlichen
Dorfes bei Buch (1910) bekannt gewordenen
Siedelungen.
Vom Märkischen Museum sind bis jetzt
teils eingehend untersucht teils wenigstens schon
in Angriff genommen worden :
1. Buch I. Bronzezeitliches Dorf. (Branden burgia,
Monatsblätter 1910, S. 408 ff. Prähist. Zeitschr.
II, 1910, S. 371. Hoops' Reallexikon der germ.
Altertumskunde, Artikel „Buch". Vorgesch. d.
Mark Brandenburg, Landeskunde III, 1912,
S. 313 ff.)
2. Buch II. Bronzezeitliches Dorf am Wege nach
Carovv. Bodenausschnitte in der Bucher Aus-
stellung. Herdstellen, Pfostenlöcher, Abfallgruben
und Gefäßreste.
3. Buch III. Bronzezeitliches Dorf rechts vom Wege
nach Hobrechtsfelde. Kultursuhicht , Pfosteu-
löeher. Herdstellen, Abfallgruben, Seherben.
4. Buch IV. Frühmittelalterliche Siedelungsreste ;
nicht weit von Buch III.
5. Trebus, Kr. Lebus. Steinzeitsiedelung. (Prähist.
Zeitschr. V, 1913, S. 340— 361. Müncheberger
Mitt. II u. III, Pfarrer Heßler.)
47
6. Wutzetz-Nackel, Kr. Ruppin. Bronzezeitliches
Dorf, unter einer Düne verschüttet. (Branden-
burgia, Monatsblatt XXIII, 1914, S. 33— 45 ff.)
7. u. 8. Paulshof, Kr. Niederbarnim. Zwei Siede-
lungen und Gräberfeld. Grundriß, Pfosten, Herd-
stellen U9W.
9. — 12. Breddin, Kr. Ostprignitz. a) Wohnstätten
und Gräber am Wege Stüdenitz - Kümmernitz,
und zwar eine am „Hand weiser" nach Sophien-
dorf, eine zweite in der Koberschen Sandgrube
und eine dritte auf dem Blumentalscben Acker.
(Zeitschr. f. Ethnol. 1912, S. 413— 42(i. I b) Wohn-
stätten (Herdstellen) auf der Hirtenwiese.
13. Oderberg-Bralitz. Siedeluug am Bahnhof Oder-
berg. Kulturschicht, Pfosten, Hordstellen usw.
1-1. Stüdenitz, Kr. Ostprignitz. Germanisches Dorf
aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrech-
nung (Rädchentechnik). (Korresp.-Bl. d. Deutsch.
Authropol. Ges. 1913, S. 91— 92.)
15. u. 16. Neukölln bei Berlin. Auf dem Richard-
platze. Germanische und frühmittelalterliche
Wohnstätte. (Korresp.-Bl. d. Deutsch. Anthropol.
Ges. 1913, S. 90 ff.)
17. Klein-Beeren, Kr. Teltow. Germanische Siede-
luug aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeit-
rechnung (Rädchentechnik). (Großberliner Ka-
lender 1913, S. 149—155.)
18. Lagardesmühlen bei Cüstrin. Germanische
Siedelung aus den ersten Jahrhunderten unserer
Zeitrechnung. (Prähistor. Zeitschr. VI, 1914,
S. 303—330.)
19. u. 20. Paulinenaue, Kr. Westhavellaud. a) Ger-
manische Siedelung aus dem 3. u. 4. Jahrh. n. Chr.
(Prähistor. Zeitschr. IV, 1912, S. 152 — 165.)
b) Frühmittelalterliche Wohnstätte auf dem
Hasselberge.
21. Hasenfelde, Kr. Lebus. Frühweudisches Dorf
aus dem 7. u. 8. Jahrh. n. Chr. 10 Grundrisse
um einen Pfuhl („die Schafwäsche") herum.
22. Hasenfelde, Kr. Lebus. Brouzezeitliche Siede-
lung und Gräberfeld.
23. Eichwerder bei Warnick, Kr. Königsberg, Neu-
mark. Wendische Siedelung. Pfosten , Abfall-
gruben, Getreidekörner. (Vgl. Brandenburgia
XXIII, 1914, S. 60 f.)
24. Klößnitz bei Cüstrin. Wendisches Dorf (9. bis
13. Jahrh. n. Chr.). (Zeitschr. f. Ethnol. XLVI,
1914, S. 880— 912. Fredrich, Die Stadt Cüstrin,
S. 73. Der Name des Dorfes wird in einer Ur-
kunde von 1261 genannt.)
25. Niedergörsdorf, Kr.Jüterbog. Deutsches Bauern-
haus (12. bis 14. Jahrh.). (Vorgeschichte d. Mark
Brandenburg, Landeskunde III, S. 455 — 458.)
26. u. 27. Niedergörsdorf, Kr. Jüterbog, a) Vor-
geschichtliche Siedelung „Kesselsdorf", b) Wohn-
stätte in der Nähe des Bahnhofes.
28. Zorndorf, Kr. Königsberg. Neumark. Am Tanger.
Herdstelle , Pfostenlöcher. Vorgeschichtliche
Scherben. In der Nähe ein Gräberfeld.
29. Nowawes bei Potsdam, Kr. Teltow. Frühmittel-
alterliche Siedelung auf dem Grundstück des
Herrn Häberer an der Nuthe. Kulturschicht,
Hausstellen, Gefäßreste.
30. u. 31. Sonnewalde, Kr. Luckau. Zwei vor-
geschichtliche Wohnstätten mit Kulturschichten,
Herdstellen, Gefäßresten, Schlacken u. dgl. Spuren
wie bei Buch und anderen bedeutenden Fund-
stellen.
Zu den bisher behandelten Siedelungen
kommen die oben besprochenen :
32. Groß-Machnow, Kr. Teltow. (Am Zabelsberg.)
33. Dabendorf, Kr. Teltow. (Wuckrowfichten.)
34. Marienau bei Zossen.
35. Nächst Neuendorf, Kr. Teltow.
36. Saalow, Kr. Teltow.
37. Meilen, Kr. Teltow. (Mühlenberg.)
In der Nähe der vom Märkischen Museum
untersuchten Siedelung bei Wutzetz-Nackel sind
von Herrn Pfarrer Wolfram in Nackel auf-
gefunden und vom Märkischen Museum teils
nur besichtigt teils auch schon angeschnitten
worden :
38. Vorwerk Damm. „Frühmittelalterliche Scherben.
Wohl alte Zollstätte."
39. Au der „Völkerscheide". „Frühmittelalterliche
Scherben. Wall und Graben."
40. „Lüneburg" im Zootzen. „Mittelalterliche Scher-
ben. Wüstes Dorf."
41. u. 42. Läsikower „Breiteu". „In der Asche
der Torfschicht, die 1911 abgebrannt war, ein
schwarzes, schön gearbeitetes Feuersteinbeil, ein
walzenförmiger Hammer aus Sandstein, drei
Reibesteine und eine Anzahl Scherben vor-
wendischer und frühmittelalterlicher Art."
43. Am „Gericht". „Hier soll es spuken. Spuren
einer mittelalterlichen Siedelung."
44. Sandgrube an den „Hüntenf eidbergen".
„Wendische Gefäßreste."
45. Am Siepgraben. „Westlich am Abhänge in der
Höhe der kleinen Insel eine Stelle mit wendi-
schen Scherben ; der Boden ist teilweise dunkel
gefärbt. Weiterhin nach Westen sehr viele
Scherben vorwendischer Herkunft. Eine Probe-
grabung erwies vorgeschichtliche Grabstellen."
•46. Nackeler Försterei. „Frühmittelalterliche Seher-
ben sehr zahlreich."
47. „Paunenberg" bei Wutzetz. Frühmittelalterliche
Siedelung; darunter bronzezeitlicheB Grab. (Aus-
grabung des Märkischen Museums.)"
48. „Alte Hamburger Straße". „ÜberBät mit früh-
mittelalterlichen Scherben."
49. Das „heilige Land" in Läsikow. „Vorgeschicht-
liche Scherben."
Großes Interesse nehmen die Siedelungs-
spuren in den „Läsikower Breiten" (41 u. 42)
in Anspruch. Herr Pfarrer Wolfram hatte be-
reits die Beobachtung gemacht und eine Be-
sichtigung hat diese Beobachtung bestätigt, daß
namentlich in den tiefliegenden und der
Überschwemmung noch heute leicht ausgesetzten
„Schienken" vorgeschichtliche Kulturreste zu
finden sind. Es handelt sich da unstreitig nicht
nur um die beiden angegebenen, sondern um
noch mehrere Wohnstätten. Siedelungen in den
rein alluvialen Schienken des Luches sind aber
an sich sowohl wie nach all meinen Beob-
achtungen im Luch selber und an anderen Stel-
len eine Unmöglichkeit. Nach genauer Unter-
suchung löste sieh das Problem. Von den im
48
Luch Holenden diluvialen Horsten hatte man
den Sand in die sauren Wiesen gefahren, um
den Graswuchs zu verbessern, leb konnte zu
mehreren Fandstellen die höher gelegenen
Stellen ausfindig machen, von denen der Sand
und die Scherben mit dem Sande abgefahren
waren.
Über die von Herrn Pfarrer Wolfram in
der Umgebung bei Naekel beobachteten Stellen
vgl. Brandenburgia, Monatsblatt 1915. Außer-
dem verdanken wir Herrn Wolfram noch Mit-
teilungen über
50. u. 51. Altdrewitz bei Cüstrin (29. Oktober 1912).
„Ich kann Ihnen zwei mittelalterliche Siedelungs-
stellen nachweisen, die auf sandigem Unland des
rechten Oderufers liegen. Durchschnitt eines
Pfostenloches mit dunkler Erde und Kohlen-
resten; der kleine, 6cm starke Pfosten scheint
nur eingetrieben zu sein. Die beiliegende Zeich-
nung 2 zeigt deutlich die obere jetzige Humus-
schicht (15 cm), dann etwa 5 cm Dünensand und
unten die 20 cm starke Kulturschicht : reichliche
Kohlenreste."
Herr Dr. Hindenburg in Groß-Beeren, der
schon die ersten bei Erdarbeiten ans Tageslicht
getretenen Spuren der germanischen Wohn-
statte am Lilowgraben auf der Feldmark
Klein-Beeren entdeckte („nördlich davon liegt
ein Gräberfeld mit Mäanderuruen"), hat in der
Umgebung seines Wohnortes folgende vor-
geschichtliche Siedelungen beobachtet:
52. bis 54. Klein-Beeren, Kr. Teltow, a) „Gutsfeld-
mark ; Wuthes Pachtland. Kleine Steinherde,
Scherben. Beim Chausseebau sind einst viele
Gefäße gefunden worden und augeblich zum Teil
in den Besitz des alten Behrend, des letzten
Besitzers des Gutes Klein-Beeren, gekommen."
b) „Am Kinberg, auch Weinberg genannt. Früh-
mittelalterliche Scherben." c) „Neues Feld",
südlieh der Chaussee Groß- Beeren = Diedersdorf,
unweit der Diedersdorfer Grenze; zahlreiche
Scherben (Lausitzer Typus), scheibenförmige
Wirtel mit Fiugernageleindrücken, halber durch-
bohrter Steinhammer, Lehmbewurf, Tierknochen,
Schlacken, Lehmkugeln."
55. bis 58. Groß-Beeren, Kr. Teltow, a) „Am Dorf:
Gärten von Mehlis und Wilhelm Dietrich
im südlichen Ortsteil zwischen der Genshagener
Straße und dem Lilow. Scherben des Lausitzer
Typus, Tierknochen, Tonlöffel (Mehlis), Herde,
Ahfallgruben." b) „Beim Hausbau Tierarzt
Dr. Garbe. Große Tierknochen, V» Wirtel
[spät - kaiserzeitliche (?) oder slavische (?)
Scherben." e) „Mein Garten. Frühmittelalter-
liche Scherben, V2 Wirtel." d) „Knippling"
und „Kohlland" am „Kuhdamm" (westlich und
östlich der Chaussee Groß - Beeren = Genshagen,
nördlich der Genshagener Grenze. Scherben
von zum Teil sehr großen Gefäßen, Tierknochen.
( Westlich davon liegt das „Latene- Gräberfeld
an den Schinderfichten"; vgl. Hindenburg,
Mannus II, S. 194 ff.)."
59. Melwendorf. wüste Mark (Neu-Beeren). „Vom
Märkischen Museum vor mehreren Jahrzehnten
untersucht : auf den frisch bestellten Riesel-
feldern heben sich noch jetzt die Hofstellen ab.
60. u. 61. Löwenbruch, Kr. Teltow. „Stellmaeher-
meister Ewald Neumann, jetzt im Felde, der
namentlich durch seine Mithilfe bei Grabungen
des Märkischen Museums bei Klein-Beeren unter-
richtet ist, kennt mindestens zwei Stellen mit
Funden wie auf Wohnplätzen; ich glaube mich
zu erinnern , daß die eine bei dem Vorwerk
Weinberg , die andere nördlich von dem be-
kannten Latene - Gräberfelde (nordwestlich vom
Dorfe) liegt."
62. J ii tchendorf , Kr. Teltow. „Südlich der Land-
brücke zwischen dem Siethener und dem
Gröbener See. Zahlreiche Tierknochen,
Herde, Scherben. (Iu der Nähe vier Gefäße,
darunter ein auf der Scheibe gedrehtes Latene-
Gefäß mit Leichenbrand, dreigliedrigem, bron-
zenen Gürtelhaken und Latene -Eisenfibel mit
geknicktem Bügel. Hindenburg, Mannus II,
S. 197)."
63. Jühnsdorf, Kr. Teltow. „Lindenberg, Sandgrube
an dessen Südwestabhange. Kleine Gruben mit
dunklem Inhalt mit Kohle und kleinen Feuer-
steinartefakten , wie sie sich auf dem Linden-
berge massenhaft finden. (Kiekebusch, Landes-
kunde III, S. 365.)"
64. Blankenfelde, Kr. Teltow. „Südabhang des
Mühlenberges in der Nähe der Wiesen (nach
mündlicher Mitteilung von Dr. Blume f)- (Auf
dem Mühlenberge bronzezeitliches Gräberfeld,
z. B. doppelkonische Urne und Etagenurne.)"
65. Kolonie Dahlewitz (1913). „Nördlich der
Chaussee Profile wie bei Buch. Scherben, Lehm-
herde ; südlich der Chaussee dunkle Stellen auf
dem westlichen Teile des großen Schlages, nach
der Bestellung sichtbar."
66. B irkholz, Kr. Teltow. „Am Mahlower See.
Herde, ein dickwandiger Steinhammer, Scher-
ben (ein doppelkonischer mit zirkulären Rinnen
über dem Umbruch)."
67. Gütergotz, Kr. Teltow. „Am See wurden 1913
oder 1914 bei der Feldbestellung viele Scherben
gefunden, welche Inspektor Greve, Gütergotz,
für das Märkische Museum aufbewahrt hat. Er
zeigte sie mir, und ich gewann nach dem, was
ich sah und hörte, die Überzeugung, daß es
sich um einen vorgeschichtlichen Wohnplatz
handelt."
68. Königsberg i. d. Neumark. „Nordwestlich vom
Galgenberge , nahe diesem , zahlreiche Stücke
von gebranntem Lehmbewurf. Dicht dabei das
bronzezeitliche Urnenfeld an der Graupenmühle."
Die Funde der meisten Siedelungsplätze und
Gräberfelder (Nr. 52 — 67) befinden sich in der
schönen Sammlung des Herrn Dr. Hinden-
burg in Groß-Beeren.
Fruchtbare Tätigkeit hat auch Herr Gym-
nasialdirektor Prof. Dr. Fred rieh, früher in
Cüstrin, jetzt in Stettin, entwickelt. Vgl. dazu
die Berichte über Lagardesm üblen und Klößnitz.
Über die Gräberfelder in der Uma-ebunff von
49
Cüstrin [Schiff bauerstraße (germanisch-wendisch),
Pionierkaserne, Harnischs Gärtnerei usw.] vgl.
Fredrich, Die Stadt Cüstrin 1913, S. 72 f. und
153 ff.
Zu den genannten Wohnstätten kommt noch
die bei
69. War nick, Kr. Königsberg (Neumark). Auf der
Höhe neben dem Einschnitt der Eisenbahn.
In diesem Zusammenhange müssen auch ge-
nannt werden die von Herrn Dr. Bestehorn,
früher Volontär am Märkischen Museum, ent-
deckten und für das Potsdamer Museum mit
ausgezeichnetem Erfolge untersuchten Fund-
stellen bei
70. Krampnitz, Kr. Osthavelland. Germanische Siede-
lung der ersten Jahrhunderte (Rädchentechnik).
71. Göttin, Kr. Zauch-Belzig. Steinzeitsiedelung mit
Tiefstichkeramik. Die Funde aus den beiden
letztgenannten Wohnstätten befinden sich im
Museum in Potsdam.
Recht beachtenswert ist auch eine Mitteilung
des Herrn Bankbeamten Wilke über Beob-
achtungen bei
Hoppenrade, Kr. Westhavelland. „Am Mühlen-
berge, 2km südlich von Hoppenrade, Kreis
Westhavelland , befindet sich eine Sandgrube.
Der Weg zu ihr führt an dem am Fuße des
Mühlenberges gelegenen Gehöfte entlang. Auf-
merksam geworden durch einige am Boden
verstreute unverzierte Tongefäßseherben, beob-
achtete ich am Nordabhange der Sandgrube,
75 cm unter der Erdoberfläche , eine ungefähr
30 cm starke dunkelbraune Kulturschicht , die
sich von dem hellen Sande deutlich abhob.
Stellenweise nahm sie eine nahezu schwarze
Färbung an. Eine Anzahl der aus der Kultur-
schicht entnommenen Tongefäßscherben zeigte
Tief Stichverzierung und zwar Furchenstich."
Die hier von Herrn Wilke (gefundene Stein-
zeitsiedelung ist schon bekannt (vgl. Brunner,
Die Steinzeitkeramik der Mark Brandenburg,
Arch. f. Authropol. XXV, 1898, S. 11 u. Abb. 14).
Dadurch wird der Wert dieser Beobachtung
durchaus nicht herabgesetzt. Es ist im Gegen-
teil sehr erwünscht, zu hören, in welchem Zu-
stande sich bekannte Fundstellen augenblicklich
befinden. Außerdem werden die alten Beob-
achtungen auch ergänzt. Auf die 30cm starke
Kulturschicht, „die sich vom hellen Sande deut-
lich abhob", ist von Herrn Wilke zum ersten
Male hingewiesen worden.
Weitere Fundstellen hat Herr Wilke an
folgenden Stellen beobachtet:
72. u. 73. Havelberg, a) Am „Großen Burgwall".
„Eine Kulturschicht, die unter einer zweiten
liegt ; mehrere Scherben , darunter einen mit
Furchenstich." Wahrscheinlich also steinzeitlich,
b) In der Sandgrube am Ostende der
Weinberge. „Eine etwa 1 m starke Kultur-
schicht; darin Knochen, Scherben; ein Scherben
mit Rädchentechnik." Wahrscheinlich germa-
nische Siedelung aus den ersten Jahrhunderten
unserer Zeitrechnung.
74-. Döheritz, Kr. Osthavellaud. Am Truppen-
übungsplatz. „Mittelalterliche Scherhen auf
der Oberfläche; etwas tiefer vorwendische."
75. Philippstal an der Nuthe. „Scherben mit
Rädchentechnik ; Eisenschlacke ; auf der Ober-
fläche mittelalterliche Scherben." Diese Fund-
stelle mit germanischen Resten der ersten Jahr-
hunderte war dem Märkischen Museum bereits
aus einer freundlichen Mitteilung des Herrn
Major Allard (1911) bekannt.
7G. Zwischen Schildow und Schönerlinde,
Kr. Niederbarnim. Südwestlich der Arkenberge.
77. Zwischen Nauen und Bredow, Kr. Osthavel-
land. (März 1914.)
78. ÖBtlich von Tamsel auf dem Gelände von
Wilkersdurf, Kr. Königsberg (Neumark).
Von dieser Fundstelle sandte mir Herr
Wilke einige Scherben eiu. Sie liegt auf eiuer
Hochfläche, die von Norden her ins Warthetal
vorstößt. Durch eine Probegrabung stellte ich
fest, daß am Abhänge zur Warthe hin Siedeluugs-
spuren zu beobachten sind. Die meisten Kultur-
reste liegen dagegen auf der Höhe. Gelegent-
lich eines Besuches mit Hörern der „Freien
Hochschule" fanden wir neben zahlreichen an-
deren Kulturresten auch einen steinzeitlichen
Scherben mit Tiefstichverzierung. Die Lage
dieser Wohnstätte auf hohem , saudigem Berg-
rücken erinnert an die Lage der steinzeitliehen
Siedelung bei Trebus und an eine Fundstelle
bei Treuenbrietzen. Beim Ausheben von Be-
festigungsgräben (1914) stieß man auch auf ein
Gräberfeld.
Herr Ferdinand Krause in Neukölln sandte
folgenden interessanten Bericht ein:
79. Seddin, Kr. Westprignitz (16. Okt. 1914). „An
einer abgestochenen Wand zeigte sich unter der
Humusschicht eine etwa 1,60 tief gehende, mit
tiefschwarzer Kulturschicht ausgefüllte Grube,
enthaltend kohlige Erde und überaus zahlreiche
Gefäßreste ; dazwischen einzelne etwas über
faustgroße Steine ; daneben im Feuer gewesene
Herdsteine. Ein einzelnes Stück zu rotem Ziegel
gebrannter Lehmbrocken mit Eindruck eines
kantigen Balkens ... Abfall- oder Scherben-
grube; dicht daneben eine kleinere Grube, mit
grauer Humuserde gefüllt. Eine andere Wand
zeigt ein mit schwarzer Erde gefülltes, 1 m tiefes
Pfostenloch ohne Einschlüsse."
Herr Krause hat auch schon auf die mittel-
alterliche Siedelung auf dem Richardplatze
in Neukölln aufmerksam gemacht. Bei der
genaueren Untersuchung fand ich dann in tieferen
Schichten die germanische Wohnstätte aus den
ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. (Vgl.
Nr. 15 u. 16.)
7
50
Herr Lentz [vgl. Korrcsp.-Bl. 1915, S.Höf.]')
machte dem Märkischen Museum Mitteiluug von
folgenden Siedelungen :
80. u. 81. Dahlem, Kr. Teltow (Juli 1912). a) „Gegen-
über dem Bahnhof >Botani eher Garten«, Ecke
Steglitzer and Moltkestraße. Profil wie bei
Buch." Ii „Frühmittelalterliche Scherben am
Dorfe" i I ber l'.MJ).
Weinberge bei Fürstenwalde (Sommer 1912
und L9I5). „In mehreren grubenartigen Ver-
tiefungen vorgeschichtliche Scherben." Eine
mit zahlreichen Hörern der „Freien Hochschule"
ausgeführte Besichtigung bestätigte diese Beob-
achtung.
83. Sohlabbersdorf (Schiabendorf, Schlamsdorf) bei
Etzin, Kr. Osthavelland (Mai 1915). Wüstes
Dori : heute Vorwerk. „Auf der Feldmark haben
die Landleute von jeher Scherben gefunden."
84. Jeserig bei Wiesenburg, Kr. Zaueh - Beizig
(Mai 1915). „Auf der Kuppe neben der .Mühle
Kulturschicht, PfoBtenlöcher und Scherben."
85. Röthehof, südlich von Markee (.Mai 1915). „Alte
Kulturschicht unter sterilem Flugsand. Mittel-
alterliche Scherben."
86. Salzbrunn, Kr. Zauch-Belzig (Januar und März
191")). „Kohlen. Scherben (vorgeschichtliche
und mittelalterliche i. Henkel, Randstücke, großer
Teil eines etwa ii >>is 8 mm starken Gefäßes.
nNucleus« , kleine Feuersteinabsplisse und zwei
Steinkeme. Alle Funde latren auf der Ober-
fläche." „Außer einem wahrscheinlich als Pfosten-
loch zu deutenden dunklen Anschnitt, der vom
heutigen Humus durch eine sterile Schicht ge-
trennt war, fand sich fast überall eine schwach
1) Während ich die erste Korrektur meines Auf-
satzes lese, erscheinen im Korresp.-Bl. (1915, S. 35 f.)
die Ausführungen von E. Lentz über „Methodische
Siedelungsforschuug". Sie enthalten manches, das rech!
ihtenswert ist. Über die bloße Berücksichtigung
der Zufallsfunde sind wir allerdings bereits weit hinaus
(vgl. meinen Weimarer Vortrag, Korresp.-Bl. 1912,
S. 65 f. und vorliegenden Aufsatz). Zu der Frage der
chemischen Untersuchung der Erdproben sei hier ein
Beispiel angeführt, aus dem ersehen werden kann,
wie notwendig derartige Untersuchungen oft sind, um
geradezu eine Entscheidung herbeizuführen. Bei Hasen-
felde war in einer Kiesgrube eine schwärzt- Stelle
aufgedeckt worden, die einer vorgeschichtlichen
Herdstelle in mancher Beziehung ähnlich war. Das
erste , was mich stutzig machte , war die Lagerung in
einer Schicht, die von der Grundmoräne überdeckt
war. Außerdem lieij sich auch keine Spur von Kultur-
resten finden. Ich war davon überzeugt, daß es sich
hier nicht um eine Herdstelle oder dergleichen
handeln konnte, sondern nur um eine natürliche
' i fiirbung des Bodens. Andere glaubten an der Deu-
tung als Herdstelle „unbedingt" festhalten zu müssen.
Die von mir veranlaßte .Untersuchung durch das
„Städtische Untersuchungsamt für hygienische und ge-
werbliche Zwecke' hatte folgendes Ergebnis: „Orga-
nische Stoffe haben sich nicht nachweisen lassen. Die
Braunfärbung hat ihren Grund in einem Gehalt an
Braunstein; außer diesem wurden neben Sand und
Steinchen Verbindungen des Kalkes, Eisens, der Phosphor-
säure, Kieselsäure und Kohlensäure gefunden1' (30. Okt.
1913). Damit war die Frage endgültig entschieden.
gefärbte und nur durch eingesprengte Kohlen-
stückchen erkennbare Kulturschicht."
87. Wuusdorf, Kr. Teltow (November 1914). „Der
eniLie Wünsdorfer See hat an seinem südöst-
lichen Ende . . . eine kleine Bucht, gebildet durch
die Auslaufer einer von Kielern bestandenen
Sanddüne. Die Spitze der Düne ist durch eine
Sandgrube angeschnitten und zeigt deutlich in
einer Tiefe von ungefähr 70 cm eine stellenweise
15 cm starke Kohlenschicht . . . grubenartige Ein-
schnitte . . . Scherben. Etwa 15 cm unterm
Planum befindet sich stellenweise eine zweite
Kohlenschicbt .... etwa Im noch eine unterste
Kulturschicht ... Feuersteinschlagstätte, Splitter,
zwei Kernstücke, messeraitige Spitzen, ein sehr
schönes, mit Gebrauchsretouchen versehenes
Faustmesser aus Feuerstein. Die festgestellte
Siedelung tritt auch an einem Ausschnitt auf
der Ostseite der Hüne zutage. Die ganze Siede-
lung ist in ihrer Dünenstruktur und Lage ähn-
lich wie die von Trebus" (Prähist. Zeitschr. V,
S.340ff.), ... von Gräben umgebene Erhöhungen."
Frl. E. Beilot hat ihre Aufmerksamkeit
namentlich auf deu Fläming gerichtet. Ihre
Fundstellen liegen sämtlich auf Blatt Klepzig
der geologischen Speziulkarte von Preußen.
88. u. 89. Raben, Kr. Zauch-Belzig. a) „Nördlich
vom Dorfe an der Straße Beizig- Wittenberg.
Auf der wüsten Feldmark des in den Hussiten-
kriegen zerstörten Dorfes Wulkow. An der
frisch abgestochenen Böschung der östlichen
Straßenseite eine alte Kulturschicht. Vor-
geschichtliche Scherben. Geologische Karte zeigt
auf der diluvialen Hochfläche »Sand"; Meeres-
höhe 1 18,4. Das Alluvium des Tales Niederungs-
torf über Sand." b) „Auf derselben Diluvial -
halbinsel, die, östlich und westlich von je
einem Alluvialnebental (Rummel) des Flüßchens
Plane begrenzt, in das Alluvium des Planetals
hineinragt, befinden sich Reste des Dorfes Wul-
kow (Fundament der Kirche noch erkennbar).
Außerordentlich viel mittelalterliche Scherben.
Sand, lehmig, über Geschiebemergel." (Im Jagen
134 dicht bei der Planequelle Gräberfeld. Desgl
am Wege nach Rädigke.)
90. bis 92. Rädigke, Kr. Zauch-Belzig. a) „Südlich
von der Plane, an der Straße nach Raben auf
einer Halbinsel von diluvialem Sande, die mit
ihrem äußersten Zipfel noch über die Straße
hinweg in den Talsand hineinragt, neben mittel-
alterlichen Scherben ein älterer vorgeschicht-
licher." b) „Hinter der Kirche von Rädigke
auf der Hochfläche (Sand, Meereshöhe 100).
Sandgrube ; am Anschnitt die alte Kulturschicht
zu erkennen. Dort soll bis zum Jahre 1000 die
Burg Rädigke gestanden haben. Die Scherben,
die ich dort fand, sind aber nicht mittelalterlich,
sondern älter; sie können sogar bronzezeitlich
sein." c) Zu beiden Seiten des Weges von
Rädigke nach Grubo; auf Talsand am Rande
des Alluviums . neben der Scheune zahlreiche
vorgeschichtliche Scherben, an den Anschnitten
der Wegböschungen eine alte Kulturschicht zu
erkennen."
93. Wer dermo hie bei Niemegk. „Talsand fällt
ziemlich steil zum Alluvium ab (Niederungstorf
51
und Moorerde über Sand). Einige Scherben an
der Straße, zum Teil mittelalterlich, doch auch
älter."
Von Henri Lentz und Frl. Bellot wurden
geraeinsam gefunden und mitgeteilt:
94. Forst haus Weinberg bei Lud wigsf elil e,
Kr. Teltow (Juli 1915). „Kulturschicht mit vor-
geschichtlichen Scherben."
95. u. 96. Wietstock, Kr. Teltow (Juli 1915). a) Am
Mühlenberg. „Kulturschicht. Vorgeschichtliche
Seherben" Profil wie bei Buch, b) Höhe 3b.
„Vorgeschichtliche Scherben."
Von den Herren Lentz und Weinens und
von Frl. Bellot wurden gemeinsam beobachtet
und mitgeteilt :
97. Turmhügel der Burg Eisenhart bei Beizig
(Juli 1915). „Auf dem Hügel und im Garten
finden sich in Massen blauschwarze Scherben."
98. Hügel der Brixiuskapelle (Juli 1915). „Vor-
geschichtliche Scherben verschiedener Perioden."
99. Sandberg südwestlich des Bahnhofes (Juli
1915). „Vorgeschichtliche Scherben."
100. Schäferei Stollenberg (Juli 1915). „Vor allem
große, mit Häcksel durchknetete Stücke von
Lehm, zum Teil mit gewölbter Überfläche."
101. Saarower Wiesen (August 1915). „Sichel-
förmige Landzunge mit der dort erwarteten Siede-
lung. Zu Hunderten neben unverzierten Scher-
ben Absplisse der Feuersteinbearbeitung. "
102. Petersdorf bei Fürstenwalde (August 1915).
„Dünenspitze. Hartgebrannte Stücke von Lehm-
bewurf mit prächtigen Binsen - und Schilf-
abdrücken. Dazwischen viel Kohle . . . neben
Scherben des Mittelalters und vorgeschichtlicher
Ware."
103. Fürstenwalde (August 1915). „Gegenüber der
Kaiser- Wilhelmbrücke."
104. Grubo, Kr. Zaucb - Beizig (Juli 1915). „Ruß-
geschwärzte Reste mindestens zweier Herde
(nur gepackt, nicht verstrichen). Kulturschicht
Kohlenspuren ; kleine unverzierte Scherben;
Feuersteinbruchstücke."
Mit demselben Eifer und Erfolg im Auf-
suchen vorgeschichtlicher Wohnstätten hat Herr
Max Schneider gearbeitet. Auch seine Be-
richte enthalten alles Wissens- und Wünschens-
werte und bilden darum im Verein mit den
eingesandten Scherben und anderen Kulturresten
ausgezeichnete Grundlagen für spätere Unter-
suchungen.
105. Golmberg bei Götz, Kr. Zauch-Belzig (26. Sept.
1915). „An der Nordwestseite des großen Götzer
Horstes erhebt sich aus den Havelwiesen ein
kleinerer Horst, der Golmberg. Wenn man die
Chausse Götz - Ziegelei und dann die Bergstraße
weiter verfolgt, so geht bald hinter den Sand-
und Mergelgruben (rechts) ein Feldweg nach
links ab. Er durchquert zuerst Wiesen auf
grandigem Talsand, dann eiue Zunge aus Dünen-
sand und steigt rechts durch oberen Mergel
zum flachen Gipfel des 4>m hohen Golmer Berges
hinauf. Das ziemlich umfangreiche Plateau be-
steht nach der geologischen Karte von 1886/89
(44, Nr. 33) aus unterem Sande, der zum Anbau
von Kartoffeln und Klee benutzt wird. Nur ein
kleines massives Gerätehaus ist dort. Früher
muß der Berg dicht besiedelt gewesen sein.
Schon auf der Dünenzunge finden sich einige
vorgeschichtliche Scherben; auf dem Gipfel aber,
besonders auf dem Kleefeld an der Havelseite
und auf der Südosthälfte des Plateaus sehr zahl-
reiche Scherben steinzeitlicher (Furehenstich,
Punktstich , Schnurmuster) und anderer vor-
geschichtliche!' Keramik. Dazu auch Bruchstücke
von zum Teil fein bearbeiteten Feuersteinen.
Der Ton steinzeitlicber Zapfengefäßbruchstücke
enthält auffallend \ iel Beimischungen von kleinen
Steinchen. Auf dem Gipfel des Golmer Berges
befinden Bich einige Mergelgruben. Durch diese
Gruben ist die äußere Erscheinung des Plateaus
besonders an der üstseite zwar verändert; dennoch
hat es fast den Anschein, als ob früher eine
kleine Wallaulage vorhanden gewesen wäre. Der
Fahrweg über den Gipfel steigt den Hang nach
Nordost hinunter und verliert, sich in den Wiesen
zur Havel. Da, wo er von dem oberen Diluvium
in die Wiesenebene tritt, liegt links auf schwarzer
fetter Moorerde ein Acker, auf dem viele Scher-
ben verschiedener Perioden liegen."
107. Vorgeschichtliche Siede hing bei Schmer-
gow, Kr. Zauch-Belzig (Okt. 1915). „Mitten
in dem wildzerrissenen Gebiete des Havelbruches
erhebt sich der bis 55 m hohe und etwa 3 km
breite, herzförmige Schmergower Horst. In der
Hauptmasse aus oberem Mergel bestehend, weist
der stark zernagte Ostrand, der der wühlenden
Kraft des Havelwassers am meisten ausgesetzt
war, die verschiedensten geologischen Forma-
tionen auf. Zsvei Straßen führen zu ihm, die
7 km lange Chaussee vom Bahnhof Gr.-Kreutz
über den Deetzer Horst und dann auf künst-
lichem Damm durch das Bruch und die nur
halb so lange von Ket/m über die Fahre an
der Havelenye; aber es ist die einzige weit und
breit vom Havelland zur Zauche. In 1 5 Minuten
gelangt man von hier auf breitem Damm durch
das Schmergower Bruch zum Vorland des Hor-
stes. Ein breiter Gürtel von Abrutschmassen
— jetzt fruchtbarer Ackerboden — säumt ihn
ein. Dann hebt sich langsam das Land zu beiden
Seiten der Chaussee, steigt über sie hinweg,
bildet einen kleinen schluchtartigen Engpaß und
senkt sich dann wieder zum Hochplateau des
Dorfes nieder. Wahrscheinlich war das ganze
Gebiet zwischen dem Vorsaum und dem Engpaß
einst vor Anlage der alten Straße nach Ketzin
ein zusammenhängender Hügel, der nördliche
Teil. Gehren genannt, Grand und Geröllmassen,
unterlagert von Sand mit Lehmuestern uud des-
wegen durch mächtige Sand- und Mergelgruben
längs der Straße stark zerstört, der südliche,
viel niedrigere, eine etwa 500 m lange Düne,
mit Bändern von blaugrauem Ton durchzogen.
Beide Gebiete tragen an den Außenseiten lichten
Kiefernwald. In vorgeschichtlicher Zeit muß
diese vorspringende Ecke stark besiedelt gewesen
sein; dafür sprechen steinzeitliche Funde der
Schnurkeramik, die Herr Pfarrer Schmidt in
Ketzin jüngst auf den Nordhügeln gemacht hat,
dafür sprechen besonders die reichen Funde
auf dem Dünenplateau. Diese Düne auf der
52
Südseite der Chaussee hinter etwa 50m breitem,
buschbewachsenem Vorland ist in letzter Zeit
durch einen I bis 2 m tiefen und straßendamm-
I. reiten Einschnitt von einer großen Scheune im
Westen bis zu den Wiesen im Osten in ihrer ganzen
Länge aufgeschnitten worden. Die Straße hat
dabei eine Siedelung aufgedeckt, die sich über die
I luiii: in ihrer ganzen Ausdehnung hinzieht. 20 bis
30 cm unter- dem Planum läuft an beiden Graben-
wunden eine schwarzbraune, teilweise graublaue
Kulturschicht entlang, mindestens l/a m stark,
ungefüllt mit außerordentlich zahlreichen vor-
geschichtlichen Scherben , mit kleineren und
größeren Herdsteinen. Eine Stelle in der Mitte
des Nordrandes, dicht bei einem Weidenstrauch an
einer einsamen großen Pappel, ist näher in ihre)'
Schichtenlage untersucht worden. Dabei ergab
sich folgendes Ergebnis: Diese Stelle der Wand
ist von dem Hauptteil des Dünenrestes ab-
gerutscht. 25 cm unter dem Abrutschplanum
beginnt die Kulturschicht, schwärzlich, stellen-
weise graublau. In ihr lag in einer Tiefe von
20cm ein etwa 3«) cm langer Herdstein, au-
geschwärzt. Er ruhte auf einer 5 cm starken
ganz harten Lehmsohicht. In dieser steckten
unter anderen fast sämtliche Scherbenteile eines
kleinen zierlichen Gefäßes. Dann folgte wieder
eine Kulturschicht mit dunkler Erde (5 cm ),
dann eine 6 cm - Schicht aus Lehm , Kohlen-
stückchen, kleinen Steinchen. Darauf kamen
8 cm Sand, dann wieder 4 cm Lehm und Kohle,
schließlich feiner Sand. Jenseits des Kiefern-
waldrandes auf dem Acker des Südfeldes im
unteren Mergel gab es neben zerstreuten vor-
geschichtlichen Scherben viele frühmittelalter-
liche."
108. Bornim, Kr. Osthavelland (August 1915). „Acker
am Düsteren See. Viele mittelalterliche Scher-
ben."
109. Bornim (August 1915). „Auf Talsand ein lichtes
Gehölz, im Norden von einer Viehkoppel (Wiesen)
begrenzt. Zahlreiche vorgeschichtliche Scher-
ben ("Wendenkirchhof")."
110. Bornim. „Kl.-Heyneberg". „Reste verschiedener
Perioden."
111. Chaussee Wannsee = Kl.-Machnow, Kr. Teltow
(Juni 1915). „Brandschicht. Lehmbrocken mit
Eindrücken wie von Weidenruten. Zahlreiche
frühmittelalterliche und andere Scherben."
112. Seeberg bei Kl.-Machnow, Nordseite. „Früh-
mittelalterliche Scherben."
113. Kl.-Machnow (Insel). „Frühmittelalterliche und
ältere Scherben."
114. Glashütte bei Teltow. „Frühmittelalterliche
und ältere Scherben."
115. Stahnsdorf, Kr. Teltow. „Alte Kulturschicht,
darunter frühmittelalterliche Scherben."
116. Bekewiese gegenüber Albrechts Teerofen.
„Schützengräben; zahlreiche Pfostenincher; auch
frühmittelalterliche Scheiben; Lehmbrocken."
117. u. 118. Havelufer Werder-Phöben (Mai 1915).
a) „Kulturschicht; Scherben sehr roher Arbeit,
steinig, dunkel- bis schwarzbraun ; ein Scherben
mit Zapfen (steinzeitlich ?)" b) „Frühmittel-
alterliche Reste."
119. Phöbener Berg. „Frühmittelalterliche Reste."
120. bis 122. Kemnitz, Kr. Zauch-Belzig. „An drei
verschiedenen Stellen ältere und frühmittel-
alterliche Scherben."
123. Derwitz, Kr. Zauch-Belzig. „Ähnliche Seherben
wie 117. Ein Scherben mit Zapfen."
124. Feldweg Derwitz-Krielo w. „Frühmittelalter-
liche Reste."
125. bis 127. Krielow, Kr. Zauch-Belzig. a) „Am
Dorfgraben zwischen Gutshaus und Burgwall
frühmittelalterliche Scherben." b) „Feldweg
nach Schmergow, frühmittelalterliche Scherben."
c) Höhenland zwischen den Chausseen Krielow-
Schmergow und Krielow-Deetz.
128. Deetz, Kr. Zauch-Belzig. „Königsberg; vor-
geschichtliche und frühmittelalterliche Scherben
weithin zerstreut."
129. Trebelb erg bei Schmergow (Juli 1915). „Knochen
und Tonscherben in einer Abfallgrube; schwarze
Erde ; Kulturschicht auf der Bergspitze."
130. Acker an der Chaussee Götz-Deetz (26. Sept.
1915). „Brachland auf unterem Sande (nach der
geologischen Karte). Kulturreste verschiedener
Perioden."
131. Acker an der Chaussee Götz-Ziegelei
(26. Sept. 1915). „Auf oberem Geschiebemergel
am hohen Uferrande bis zur Waldhöhe liegen
zahlreiche Kulturreste verschiedener Perioden."
132. Mergelgrjiben an der Bergstraße bei Götz
(26. Sept. 1915). „Vorgeschichtliche Scherben
und Lehmbrocken."
133. Hinter dem Feldwege zum Golmer Berge
(26. Sept. 1915). „Kartoffelfeld auf Talsand.
Vorgeschichtliche Scherben."
134. Östlich von Götz in den Havelwiesen
(2. Juli 1915). „Auf kreisrunder Fläche von
oberem Geschiebemergel mit Durchbruch von
unterem Sande (geologische Karte). Darauf
Weizen und Kartoffeln. Viele vorgeschichtliche
und unglasierte frühmittelalterliche Scherben."
135. Am Nordrand der Kochschen Lehm- und
Mergelgrube (2. Juli 1915). „Viele frühmittel-
alterliche Scherben, dazu an vier Stellen Brand-
erde wie bei Buch , etwa 20 cm dick , 50 cm
breit." Zu den eingesandten Scherben gehört
auch ein steinzeitlicher mit Bogenstichverzie-
rung.
136. Sandgrube bei Götz (Sept. 1915). „Unterer
Sand (nach der geologischen Karte), der an einigen
Stellen von breiten Streifen aus Ton, Mergel oder
stark lehmigem Sande durchsetzt ist. Große Bruch-
stücke eines bronzezeitlichen Gefäßes mit Resten
von gebrannten Knochen . . . Viele gebrannte
Knochen ; zahlreiche bronzezeitliche Scherben.
25cm unter dem Bergplateau eine 10cm
starke Kulturschicht, die fast den gan-
zen Grubenrand entlang lief, zum Teil aber
bis auf 75 cm hinabstieg . . . Bronzereste . . . Auf
der Höhe Bodenstücke eines vorgeschichtlichen
Gefäßes ; ein anderes Gefäßbruchstück hatte im
Boden noch ein Getreidekorn (?)."
137. Götz. „Vom Dorfausgang hinter der Kirche
am breiten Wege zum Götzer Berg mit Aussichts-
turm bis zum Wald und Aufstieg bnks. Viele
frühmittelalterliche, glasierte Scherben."
Die vou Herrn Schneider in der Um-
gebung von Götz mit so ausgezeichnetem Er-
folge in so großer Zahl festgestellten Fund-
53
stellen geben zu der Vermutung Anlaß, daß
unter Umständen nicht jede Fundstelle eine
einstmals für sieh bestehende Siedelang ist.
Hier wie an anderen Stellen muß erwogen
werdeu, ob die vorgeschichtlichen Kulturreste
etwa von einer Stelle aus überall hin verschleppt
worden sind. Dabei könnten die Merkel-
gruben eine recht erhebliche Rolle gespielt
haben. Die Römer berichten uns bekannt-
lich schon, daß die Ubier das Mergeln der
Äcker von den Kelten gelernt haben. Auch
in unseren Gegenden dürfte diese Methode der
Bodenverbesserung und -Verjüngung sehr alt
sein; sie war bis in die siebziger und achtziger
Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts hinein in
der Umgebung Berlins noch üblich und ist
ganz auch jetzt noch nicht vergessen. Zweck
der Mergelung war, die durch Verwitterung
kalkarm gewordenen oberen Schichten des Dilu-
vialmergels immer von neuem mit Kalk zu
versorgen und so den Pflanzenwuchs zu fördern.
Zu diesem Zwecke wurden die unteren, kalk-
reichen Schichten des Diluvialmergels freigelegt.
Der Mergel wurde auf den Acker gefahren
und dort auf die Oberfläche gestreut. Der Er-
folg ist stets ein ausgezeichneter gewesen. An
diese Methode der Düngung des Ackerbodens
erinnern noch die zahlreichen „Mergelgruben",
die wir in der Umgebung der Dörfer finden
und die auf den geologischen Karten verzeichnet
sind. Das Mergeln war eine erfolgreiche, aber
auch sehr mühevolle Arbeit. Heute sind unsere
Landleute mehr und mehr davon abgekommen.
Tierischer und künstlicher Dünger ist an die Stelle
des Mergels getreten. Schnitt einmal eine Mergel-
grube eine vorgeschichtliche Siedelung an, so
mußten die Scheiben, die sich ja in ungezählten
Mengen in alten Wohnstätten vorfinden, über die
umliegenden Äcker weithin zerstreut werden.
Vielleicht erklärt sich auf diese oder ähnliche
Weise noch einmal das in schier unglaublicher
Fülle an geradezu zahllosen Stellen und über weit
ausgedehnte Flächen zu beobachtende Auftreten
namentlich der frühmittelalterlichen Kulturreste.
Gerade aber aus diesen Gründeu ist es unbe-
dingt notwendig, zunächst jede Fundstelle genau
zu verzeichnen. Die nähere Untersuchung wird
dann ergeben, ob es sich um gesonderte, für
sich bestehende Siedelungen handelt oder ob
einzelne Fundstellen nur Zeugen einer durch
den Ackerbau oder aus irgend welchen anderen
Gründen erfolgten Umlagerung der alten Kultur-
reste sind. Dem Rätsel des so überaus häufigen
Vorkommens frühmittelalterlicher Siedelunsjs-
reste steht kraß gegenüber die Tatsache, daß
wir mit Grabfunden aus jener Zeit recht wenig
vertraut sind. Ein großes Arbeitsgebiet ist hier
also nach zwei Richtungen hin zu beackern.
Herr Herbert Lehmann-Berlin hat fol-
gende Fundstellen gemeldet (April-Okt. 1915):
138. „Nördlich vonPlaue am Ostufer der Havel hinter
dem Walde auf dem Acker slavische Scherben
und Eisengeräte."
139. „Auf dem Wege von Pritzerbe, Kr. Westhavel-
land, zur Ziegelei zahlreiche Scherben, darunter
ein verzierter."
140. „Südlich von der Kolonie Gapel, Kr. West-
havelland, auf dem Friedhof vorgeschichtliche
Scherben."
141. „Südlich von der Ziegelei (trigonometrischer
Punkt 31) liegt ein Burgwall. Er erhebt sich
3 m über Wiesen ; zwei Vorwälle. Die Erhebung
ist durchstochen und als Sandgrube benutzt.
Es fanden sich Scherben mit Strichverzieruncren,
einer mit Rädchentechnik und Tierknochen."
Also: auch germanische Besiedelung in den ersten
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung.
142. „Zwischen dem Burgwall und der Ziegelei be-
findet sich eine flache Erhebung mit Aufschluß.
Zahlreiche Feuersteinsplitter, vereinzelt unver-
zierte vorgeschichtliche Scherben. Ein Scherben
mit Rädchentechnik." Also wieder germanische
Spuren aus den ersten Jahrhunderten.
143. Reckahn, Kr. Zauch-Belzig. „Burgwall »Duster
Reckahn«. Nordwestlich vom Wall am Weo-e
zur neuen Mühle wendische und frühmittel-
alterliche Scherben (trigonometrischer Punkt 32).
Beackert."
144. Hohennauen, Kr. Westhavelland. „Burgwall in
der großen Lake. Westlich vom Wall Siede-
lungsspuren. In einem Aufschluß fanden sich
Scherben mit Stichverzierungen, ein siebartig
durchlochter Gefäßrest, Lehmbewurf und Tier-
knochen."
145. Görne, Kr. Westhavellaud. „Burgwall. Auf-
schluß mit unverzierten vorgeschichlichen Scher-
ben. Lehmbewurf (mit Abdrücken)."
146. Bamme, Kr. Westhavelland. „Aschen- und Holz-
kohlenschicht; zerstörter Wall. Wendisch."
Weiter wurde das Märkische Museum in
dankenswerterweise auf folgende vorgeschicht-
liche Siedelungen aufmerksam gemacht.
147. Rummelsburg bei Berlin. „Frühmittelalterliche
Siedelung im Garten des Arbeitshauses." Herr
Oberinspektor M. Schmidt (1914).
148. Premnitz, Kr. Westhavelland. „Pulverfabrik;
Siedelung der Bronze- und La-Tenezeit." Herr
Pfarrer Schmidt-Ketzin (1913).
149. Rüdnitz-Bernau, Kr. Oberbarnim. „Viele
Scherben und Lehmstücke." Herr C. Dom-
h r o w s k y - Bernau.
150. Dubrow, Kr. Krossen. „Hausstellen; Lehm-
klumpen; geschwärzte Flecke." Herr Lehrer
H. Brüger-Dubrow.
151. Hermsdorf, Kr. Niederbarnim. „Großes bronze-
zeitliehes Dorf. Dieselben Beobachtungen wie
bei Buch." Herren Ingenieur J. Lud wig (1910);
Vorschullehrer W. Hunke (1912); Ingenieur
W. Tabbert (1915).
*
54
152. Penzlin, Kr. Ostprignitz. „Tiefe schwarze Ab-
lagerung unter der Ackerkrume, 10 bis 15 m im
Quadrat. Reste von Lehmwänden ; Scherben."
Herr Ingenieur H. Voß- Charlottenburg (1912).
153. Rhinow, Kr. Westliavelland (Kietz). „Frühmittel-
alterlich ; zahlreiche Scherben ; auch wendisch."
Herren Lehrer Rausch und Rektor Alb recht
(1912 13).
154. Rohrwall bei Sohmöckwitz, Kr. Teltow.
„Wendisch." Herr Direktor P. Bestgen (1914).
155. Stolpe, Kr. Niederbarnim. „An der Wiesen-
niederung große Mengen von Gefäßscherben."
Rektor Monke (1912).
156. Im Wentowsee bei Marienthal, Kr. Ruppin.
Herr Lehrer Kriesen (1!M4).
157. Tiefwerder, Kr. Osthavelland. „Feuersteiu-
splitter, von denen einige Spuren von Bearbei-
tung verrieten. Düne; am südwestlichen Rande
ein stark zurückgetretener Arm der Havel; deut-
lich ist noch das alte Flußbett zu erkennen,
/ahlreiche Scherben." Der ausgezeichnete Be-
richt wird durch Zeichnungen (Pläne und Profile)
und Photographien veranschaulicht. Herr Stu-
dent Alfred Werner (Riga) 1911.
158. Dahnsdorf ,-Kr. Zauch-Belzig. „Scherben in der
nördlichen Grube am Wege Komthurmühle-
Dahnsdorf." Herren Primaner K. Hu eck (Juni
1915); Rektor Troll u.Oberlehrer Dr. Schneider.
159. Cöpenick, Kr. Teltow. Am Ufer der Dahme.
„Siedelungsstelle; Holzkohlenreste; Stirnzapfen
der Ziege, ovale Grube; Pflasterung." Herr stud.
archäol. Georg Lechler.
1G0. Krummensee, Kr. Niederbarnitn.
liehe Funde; Burg; "Hofstelle« oder
Herr Lehrer Rohrsdorf (1911).
161. Buschow, Kr. Osthavelland. Herr H. Kirchner
(1913).
162. Wilsnack, Kr. Westprignitz.
liehe Siedelung ; zahlreiche
H. Wels-Friesack (1913).
163. Hoppegarten, Kr. Niederbarnini. „Siedeluug
und Gräber." Herr Horst Steinert (1914).
164. Rietz bei Brandenburg, Kr. Zauch-Belzig. „Siede-
lung." Herr Dr. Stimming (1913).
165. Mauskow, Kr. Uststernberg. „Frühmittelalter-
liche Siedelung." Herr Pastor Martiny (1913).
166. Britz, Kr. Teltow. „Siedelung und Gräber." Herr
W. Lehmann (1913).
167. Lobetal, Kr. Niederbarnim. „Steinherde, Pfosten-
löcher ; zuweilen Scherben." Herr Däbritz-
Rüdnitz (1914).
168. Rosental, Kr. Niederbarnim.
169. Marwitz. Kr. Osthavelland. Dr. Jahn (August
1910). [Vgl. Mannus III, S. 138].
Herr Dr. Bersu war so freundlich, vor seiner
Einberufung zu deu Fahueu dem Märkischen
Museum noch folgende Siedeluugen anzuzeigen
(Dezember 1914):
170. Kliestow, Kr. Lebus. „Slavische Scherben;
kleine Befestigung."
171. Sandgrube. „Kaiserzeitl. Siedelung."
172. Birnbaumsmühle, südlich der Bahn von Wer-
big. „Vorslavische Siedelung." (Blatt Frank-
furt a. 0.).
,Mittelalter-
■alter Hof«."
„Frühmittelalter-
Scherben." Herr
173. Boossen, Kr. Lebus. „Vorslavische Siedelung."
(Blatt Boossen).
174. Brückmühle. „Vorslavische Siedelung."
175. Brückmühle, nördlich davon. „Vorslavische
Siedeluug."
176. Westlich vom Badeplatz. „Slavische Siedelung."
177. Sandgrube bei Höhe 52,7. „Vorslavische Siede-
lung."
178. Hohlweg nördlich der Abdeckerei. „Vorslavische
Scherben."
179. Lebus, Fußweg von der Abdeckerei nach Klessin.
„Vorslavische Scherben auf dem Acker (Siede-
lung)."
180. Klessin, Kr. Lebus. „In den Gärten des Gutes
Klessin slavische Scherben (Siedelung)."
181. Burgwall, 2km östlich Lebus. „Hügel mit
Steinzeitscherben."
182. Brieskow, Kr. Lebus. „Weinberg 500 nördlich
von Brieskow ; Lausitzer Scherben (wohl das von
Bekmann erwähnte Gräberfeld)."
183. Reipzig, Kr. Weststernberg. „In der Sandgrube
500 m östlich vorslavische Siedelung."
184. Madlitzer Fischerhütte. „Slavische Siede-
lung, vom Fußweg angeschnitten."
185. Buckow, Kr. Lebus. „Vorgeschichtliche Siede-
lung." Herr Paul Strauch (Juli 1915).
186. Alt-Landsberg, Kr. Niederbarnim. „Frühmittel-
alterliche Scherben ; Lehmbrocken mit Stroh-
abdrücken wie bei Niedergörsdorf." (Vgl. Nr. 25).
187. Ahrensfelde, Kr. Niederbarnim. „Am Friedhofs-
gelände ; Kiesgrube; zwei Pfostenlöcher mit tief-
schwarzem Inhalt." Nr. 186 u. 187 gefunden
vom Museumshandwerker Herrn Cumbrowsky
(1914).
Wie freudig jede Anregung aufgenommen
wird und wie fruchtbar unter Umständen einige
Hinweise werden köuuen, dafür nun ein letztes
Beispiel. Gelegentlich einer Vortragsreihe über
„Märkische Vorgeschichte", im Winter 1912/13
vom Lehrerverein zu Brandenburg a. H. ver-
anstaltet, hatte ich im Anschluß an meine Aus-
führungen über das Gräberfeld von Breddin
auf die große Wichtigkeit der Flurnamen
und der an bestimmte Örtlichkeiteu anknüpfenden
Sagen, Legenden und Spukgeschichten
für vorgeschichtliche Forschung hingewiesen
und darauf aufmerksam gemacht, daß Flur-
namen und „alte Geschichten" gesammelt
werden müßten. Kurze Zeit darauf erhielt ich
von Herrn Lehrer Hein atz in Prützke bei
Brandenburg einige Kisten mit Scherben zu-
gesandt und dazu einen ausführlichen Bericht
mit Angabe einer Reihe von Flurnamen aus
der Umgebung von Prützke (Kietzhügel, das
alte Dorf, Haininge und Haiuholz, das heilige
Land, Burung, Rapstücken), von denen jeder
eiuzelue Name schon von Bedeutung ist. Vor
allem aber knüpfen sich an einige dieser Stellen
ganze Sagenreihen , die uns eine Fülle von
55
Anhaltspunkten geben können für vorgeschicht-
liche Besiedelung (Untergang des Dorfes Görn
und Entstehung des Görusees; Frau Harke und
die Entstehung des Holzberges; Mord- und
Sühnekreuz sowie Steinhügel auf dem Holz-
berge ; Sage von Owera Krug). Die Funde
stammen :
188. vom Holzberg;
189. vom Görnberg (Brandstelle, Lehm,
Scherben, Knochen, Spinnwirtel);
190. vom „alten Dorf";
191. von den „Rap8tücken" ;
192. von der Flur „Burung".
Hier der beste Beweis, was noch geleistet
werden muß aber auch, was noch geleistet
werden kann. Es ist allerdings beinahe die
letzte Stunde. Die Spukgeschichten verschwin-
den immer mehr, auch auf den Dörfern. Flur-
namen werden wenigstens oftmals durch die
Separationsrezesse erhalten.
Ganz zum Schluß nun noch eine Warnung vor
blindem Eifer und eine Mahnung zur Vorsicht
und zu einer kaltblütigen Beurteilung der Fund-
verhältnisse. Durch Baumlöcher wird sieh nach
meinen Ausführungen in der Prähistorischen
Zeitschrift (V, 1913, S. 352) niemand mehr irre-
führen lassen. Die bei alten Siedelungen aus
der Kulterschicht in den gewachsenen Boden ein-
schneidenden Gruben, die ich oben als eines der
besten Merkmale einer vorgeschichtlichen Wohn-
stätte angegeben habe, können aber von Unkun-
digen unter Umständen auch da gesehen werden,
wo sie nicht vorhanden sind. Sie zeigen
nämlich eine gewisse Ähnlichkeit mit den sack-
artig nach unten führenden Ausbuchtungen
an der unteren Verwitterungsgrenze des
Geschiebemergels. In den meisten Fällen
ist der diese Ausbuchtungen ausfüllende „san-
dige Lehm" mit seiner gelblichen Färbung
dunkler als der kalkhaltige und darum hellere,
mit weißen Adern durchzogene Geschiebe-
mergel. Ein Blick auf das in den „Erläute-
rungen" zu den geologischen Karten oftmals
wiedergegebeue Profil des Geschiebemergels
(z. B. Gradabt. 45, Nr. 26, S. 5) zeigt schon die
äußere Ähnlichkeit mit dem „Bucher Profil".
In zweifelhaften Fällen entscheidet . ja ohne
weiteres der Inhalt der Gruben. Falls aber
weder Brand- noch Kulturreste in einer Grube
vorkommen , dürfte es nicht immer leicht sein,
festzustellen, ob es sich um vorgeschicht-
liche oder um erdgeschichtliche Spuren
handelt. Beim Profil von Klößnitz bei Cüstrin
wagte auch ich nicht immer auf den ersten
Blick bei jeder einzelnen der sich ganz schwach
abhebenden Gruben mit Bestimmtheit zu sagen,
ob sie eine Lehmausbuchtung ist oder ob sie
der ältesten Gruppe der vorgeschichtlichen
Siedelungsspuren angehört. An der nur in
Schwarzweiß gehaltenen Abbildung in der Zeit-
schrift für Ethnologie 1914, S. 887, Abb. 7 ist
das übrigens bei weitem nicht so uiit zu er-
kennen wie an der von Herrn Maler Wehrens
farbig dargestellten Originalzeichnung im Mär-
kischen Museum.
Wir sehen, daß wir unser Auge nach jeder
Richtung hin schärfen müssen , um es auf die
feinsten Unterscheidungsmerkmale der Boden-
und Siedelungsspuren einstellen zu können.
Wir haben schon einiges erreicht, aber wir
stehen erst am Anfang. Ich biu vielleicht der
letzte, der alle noch vorhandenen Schwierig-
keiten übersieht. Und wenn ich hier eine so
große Zahl von vorgeschichtlichen Wohnplätzen
in der Mark verzeichnen konnte, so bin ich
mir selber vollkommen darüber klar, welche
Arbeit noch geleistet werden muß, um nur alle
an diese Wohnplätze sich knüpfenden Fragen,
namentlich in ethnologischer Hinsicht zu beant-
worten.
Immerhin: Seit der Entdeckung und
Ausgrabung des bronzezeitlicheu Dorfes
bei Buch, also seit 1910, stehen wir all
diesen Fragen anders gegenüber als
früher. Hilflos sind wir nicht mehr.
Wenn wir seit 1910 nunmehr 192 vorge-
schichtliche Siedelungen finden konnten , so ist
das ein erfreulicher Erfolg. Selbst wenn sich
herausstellen sollte, daß an einigen Stellen zwei
oder mehrere Fundplätze zu derselben Wohu-
stätte gehören, so bleiben doch mindestens 180
übrig. Dieser Erfolg war nur möglich
durch die Mitarbeit vieler und eifriger
Forscher und Altertumsfreunde. Hoffent-
lich erfreue ich mich dieser regen Mitarbeit auch
in Zukunft, dann werden weitere Erfolge nicht
ausbleiben. Der Weg dazu ist ja gegeben durch
die „Siedelungsarchäologischen Übungen
und Studien im Märkischen Museum".
Durch das freundliche Entgegenkommen und
die Unterstützung der Direktion des Märkischen
Museums und vor allem ihres Vorsitzenden, des
Herrn Bürgermeister Geheimen Regierungsrat
Dr. Reicke, ist es mir möglich geworden, einen
großen Teil der oben genannten Mitarbeiter
und einige andere Altertumsfreunde zu einem
Kreise zusammenzuschließen, der in regelmäßigen
Sitzungen im Märkischen Museum zu gemein-
samer Arbeit zusammentritt. Erfolgreiche und
durch wertvolle Veröffentlichumren bewährte
56
Forscher, Hörer meiner Vorlesungen in der
„Freien Hochschule", diu sich seit Jahren durch
eifriges Studium mit dem Stoffe vertraut ge-
macht haben, Teilnehmer an den von der Stadt
Berlin veranstalteten, von mir geleiteten Lehrer-
kursen hallen sich, nach jeder Richtung hin
gut vorgebildet, zusammengefunden. Wer
echterweise die Tätigkeit dieses Kreises
von Altertumsfreunden und -forschem nach den
oben verzeichneten Krachten beurteilt, die vor
dem Zusammenschluß gezeitigt wurden, darf
gute und die Wissenschaft fördernde Ergeb-
nisse erhoffen. Ich betrachte diese Einrichtung
als einen wesentlichen Schritt zur Erfüllung
meiner Forderung, daß alle vorgeschichtlichen
Museen Forschungsinstitute im besten
Sinne des Wortes werden müssen1).
In den Monatsblättern der „Brandenburgia"
(1915, S. 117 bis 120) habe ich in einem kurzen
Artikel „Zur Einführung" über die „Siede-
1 u n g s a r c h ä o 1 o g i s c h e n Übungen und
Studien im Märkischen Museum" ausführ-
licher gesprochen. Heute ist mir schon die Ge-
wißheit gegeben, daß sich der Versuch bewährt,
und ich kann nur empfehlen, daß andere Museen
ähnliche Weere einschlagen.
*) Korr.-Bl. 1914, S. 61 ff. und „Museumskunde",
herausgegeben von Kötschau 1916, Heft 1: „Auf-
gabe und Einrichtung der vorgeschichtlichen
Sammlungen".
Der Anteil des Slavischen im Rumänischen.
Von Dr. Emil Fischer (Bukarest).
Motto: „. . . nur die Volkssprache ist wirküch national und wenn
sie noch so viele slavische Wörter enthält ; die Kunstsprache , und
wenn sie noch so viel slavische Wörter durch lateinische ersetzt, ist
nur für ein paar gelehrte Köpfe verstandlich , sie ist pseudonational. u
T 1 1 us Maiorescu.
(Rede Prof. Mey er-Lübke'B bei der T. MaioreBCu- Feier der Wiener
„Romänia Junä", 28. Februar bis 1. März 1910.)
Die vorliegende Untersuchung befaßt sich
nur mit der „Volkssprache", die von den
6 Millionen Bauern des Königreichs gesprochen
wird, so „wie ihnen der Schnabel gewachsen
ist". Die Städter — etwa 1300 000 Köpfe, dar-
unter 46 Proz. Fremde - - verwenden für die
Mode, Theater, Wissenschaften, Rechtsprechung,
Militärwesen, Kunst, Gewerbe usw. einen kürz-
lich (mit Hilfe des Französischen und Italie-
nischen) geschaffenen Jargon, der selbst nach
dem Urteil des national-heißblütigen Historikers,
N. Jorga, nur oberflächlich mit „zorzoane
francese", d. h. mit französischem Flitter, heraus-
geputzt wurde. J. Rad u lesen bricht in der
„Ehrengabe an T. Maiorescu" (Omagiu lui
T. Maiorescu, pag. 461) vollends den Stab über
sie: „Nimm welche rumänische Zeitung immer
in die Hand, ein Schulbuch, eine militärische
Dienstordnung, ein Gesetz, ein ministerielles
Umlauf schreiben , eine kirchliche Rundschau;
hör' die Reden auf den Gerichten und in den
gesetzgebenden Körperschaften, die Vorträge
auf der Hochschule, und du wirst gewahr werden,
welcher sprachliche W'echselbalg von den meisten
gebildeten Menschen in Rumänien seit 30 bis
40 Jahren geschrieben und gesprochen wird,
eine buntscheckige, rohe (barbarische), ent-
artete Sprache, ohne Mark, ohne eigenen
volkstümlichen Sinn und Zug — eine überstürzte,
aus Frankreich eingeschmuggelte Sprache, in
aller Eile behangeu (dem Schein zuliebe) mit
rumänischen Fähnchen, mit ein Paar lächerlichen
Lappen: daß Gott erbarm'...". Ilarie Chendi
sagt zu diesem Urteil: „strenge, aber durchaus
gerechtfertigt".
Mit dieser „Boulevard- oder Boudoir-
sprache" werden wir uns also nicht weiter
abgeben. —
Der Volkssprache habe ich seit 33 Jah-
ren eingehende Studien gewidmet. In dem
rumänisch - deutschen Wörterbuch von
L. Saiueauü (Bucuresti, Socecü & Cie-, 1889)
habe ich, die Entlehnungen betreffend, folgende
Zählungen vorgenommen:
Lateiu 2509 Schlagworte,
Slavisch 2284
Türkisch 833 Vokabeln *),
Magyarisch 342 „
Griechisch 1358 „
Unerklärter Herkunft . 1485 . „
Nur nebenbei sei erwähnt, daß Professor
S. Mändrescu (Germanist an der Universität
in Bukarest) fast 1000 deutsche Lehnwörter
J) L. Saineanuü führt in seinen „Elemente tur-
cesti usw." 1445 Vokabeln auf.
57
im Rumänischen aufgezählt hat, die wir aber
hier vernachlässigen dürfen, weil sie erst in aller-
jüngster Zeit in den Sprachschatz eingedrungen
und fast ausnahmslos gewerblichen Ur-
sprungs sind, für die Beantwortung der Her-
kunftsfrage der Rumänen also ohne Belang
bleiben.
Entscheidend für die Herkunft der Ru-
mänen sind, wie ich schon des öfteren nach-
gewiesen habe, die Sexualtermini, die Fisch-
namen1), die Berg-, Fluß-, Orts- und
Flurnamen der vou ihnen (nördlich und südlich
der Donau) bewohnten Gebiete, ihre Tauf- und
Familiennamen, die Benennungen der
Körperteile, der Haustiere2) (namentlich
auch ihre Kose- und Schimpfnamen), der bäuer-
lichen Meteorologie, die Benennungen
der Krankheiten und endlich der hydro-
graphischen Nomenklatur (z. B. Strom, See,
Teich, Insel, Ufer, Sumpf, die vielerlei Be-
nennungen für Flußarme u. dgl.). —
Für die „patriotischen" rumänischen Ge-
lehrten steht die lateinische Herkunft der
Rumänen felsenfest, für sie haben alle histo-
rischen und sprachlichen Untersuchungen, die
zum mindesten ein Mischvolk nachweisen, gar
keine Bedeutung. Für sie hat Trajan: das alte
Dacien erobert und durch seine Legionen und
durch seine Kolonisten kurz und gut „römisch"
gemacht, und zwar für alle Zukunft. Und damit:
Basta ! Daß gerade Trajan es war, der die
Auswanderung aus Italien uuter den strengsten
Strafen verbot3), da der italische Bauernstand
schon seit Sullas spanischen Kriegen arg zu-
sammenzuschmelzen begonnen hatte4), das ficht
*) Vgl. Fauna ichtiologicä a Romäniei" de Dr.
Gr. Antipa, (Bucuresti, C. Göbl, 1909). Derselbe Ge-
lehrte hat ein großes "Werk über die rumänische
Fischerei in Vorbereitung, das noch heuer erscheinen
soll. Es bietet eine ungemein große Zahl von Be-
nenuungen der verschiedenartigsten Fanggeräte und
Fangarten in dem Betriebe der Fischerei. — J. Aurel
Candrea „Straturi de culturä si straturi de linibä".
Bucaressti, 1914. Oandrea macht in seiner Schrift
auch darauf aufmerksam , daß alle Fische nicht
lateinisch benannt sind und bemerkt (S. 16 Anm.),
daß ich der erste war, der diesen auffälligen Zustand
bemerkt hat.
ä) Hier könnten, wenn es nicht doch zu weit führen
würde, auch die Namen der in Rumänien vorkommenden
Vögel angeführt werden, wie sie in der „Ornjs
Romaniae" (Die Vogehvelt Rumäniens) von Rob.
v. Dombroski (Bukarest, Staatsdruckerei, 1912) ver-
zeichnet sind, und zum Vergleich die bulgarischen Vogel-
namen in dem Werk Dr. E. Klein's „IIAHIII IITIIHI1"
(Unsere Vögel) (Sofia, J. Kadela, 1909.)
3) Vgl. die betreffende Nachricht des Capitolinus.
4) Vgl. die von Grenfell und Hunten in Oxy-
rhynchos in Ägypten aufgefundene und veröffentlichte
Liviusepitome (Bücher 48 — 55, Zeitraum 150 — 137
v. Chr.), die die Entvölkerung Italiens schon auf die
Kriege Sullas zurückführt.
die Verfechter der Latinität der Rumänen
nicht im mindesten an, auch das nicht, daß
die „Fasten der Provinz Dacia" (Beamten-
listeu) nur ab und zu einen italischen Legaten
oder höheren Beamten, unter den Legionen
und Hilfsvölkern aber keine einzigen ita-
lischen — woblaber britannische, mauretanische,
kleinasiatische usw. Völkerschaften erwähnen.
Die Kolonisten, die „ex toto orbe Romano"
in der „Dacia felix" zusammengelaufen waren,
waren guteuteils Syrer und Griechen, aber keine
„Römer", ja nicht einmal Italiker.
Und dann dauerte die Römerherrschaft in
der Dacia Trajana überhaupt nur 150 Jahre,
und in so kurzer Zeit wird bei einem so wider-
haarigen Element, wie es die Daker waren —
mau denke nur an ihre immerwährenden Auf-
stände — kein neues Volkstum und kein neuer
Dialekt geschaffen. Und dann brach die Völker-
wanderung ein.
Den nördlichen thrakischen Völkern an-
gehörend, hatten die Daker, wie Herodot be-
richtet, manches an sich, was an eine Verwandt-
schaft mit den benachbarten Slaven
(Anten, Bastarner, Karper) denken läßt, nämlich
die Einrichtung der sogenannten Zadruga (Groß-
familie), ferner die Sprache: z. B. Dierna,
Tierna = slav. Cerna, Berzovia, Berzava = slav.
der „raschfließende" (Fluß); auch der damalige
(illyrische) Markt = Trg (Tergeste) = slav.
Trügü, das heutige Triest gehört sicherlich
hierher. Endlich berichtet Strabon (VII, cap. 5)
von einer thrakischen Völkerschaft in Dalmatieu,
daß es den (slav.) Mir ausübte. Alle acht Jahre
wurden dort die Ländereien an die Bebauer
von neuem verteilt.
Es läßt sich aber auch noch etwas anderes
wahrscheinlich machen, nämlich eine viel frühere
Südwanderung der Slaven nach dem Balkan
hin, als die offizielle Geschichtswissenschaft es
einstweilen noch zugeben mag. Die Slaven sollen
etwa um das Jahr 600 die Donau überschritten
haben. Vorher waren sie die Heloten der Avaren
gewesen J). Nun sind uns iu den alten Autoren
(vor Christi Geburt) zahlreiche Vokabeln auf-
bewahrt — geographische und Völkernamen und
sonstige Wörter — , die sich auf den Balkan
und auf Kleinasien beziehen, die auffällige „sla-
vische Anklänge" haben. Allerdings mag dabei
auch die indogermanische Sprachverwandtschaft
l) Das Magyarische hat mehr als 1 000 slavische Lehn-
worte (Simonyi „Die ungarische Sprache". Straßburg,
1907.) Fr. Müller (Grundriß. I., S. 59) meint sogar,
daß es zu einem Drittel slavische Elemente aufgenommen
habe.
8
58
ihren Anteil besitzen. Man denke dabei nur
an P. Papahagis „Parallele Ausdrücke und
Redensarten im Rumänischen, Albanischen,
Neugriechischen und Bulgarischen" (Leipzig,
.1. Ambr. Barth, 1908), wo für unsere moderne
Zeit 451 ganz auffälliger Übereinstimmungen der
„inneren Sprachform" abgehandelt werden1).
I ml dabei hat mir P. Papahagi die Versiche-
rung gegeben, daß er mit Leichtigkeit das
Doppelte, ja das Dreifache an Übereinstim-
mungen hätte geben können. —
Es müssen demnach die Slaven entweder
früher, als bis noch angenommen wird, die
Donau überschritten haben, oder es müssen ge-
wisse verwandtschaftliche Beziehungen — auch
sprachliche — zwischen den Slaven und den
angrenzenden „Thrakern" bestanden haben, auf
die wir nach und nach aufmerksam werden.
Es wird gut sein, diese entfernte slavisehe
Verwandtschaft im Auge zu behalten.
Daß aber daneben auch eine gewisse An-
näherang an die südwestlich abgewanderten
„Lateiner" bestanden haben muß, darauf hat
neuerdings auch N. Densusianü in seinen
„arimischen" Studien aufmerksam gemacht2).
(Die Nachfolger jener „Arimier" sind die
heutigen macedovlach. Armunen. Densusianü
nennt sie in seinem Enthusiasmus auch „Proto-
lateiuer".)
Jedenfalls gelang die „lateinische" Beein-
flussung der balkanischen Thraken und Illyrier
den Römern besser — sie dauerte auch minde-
stens 600 Jahre — als den Dakern gegenüber.
Ich habe mich darüber in meiner „Herkunft
der Rumänen" (Bamberg 1904) ausführlich
geäußert.
Es steht also außer allem Zweifel, daß die
römische Verwaltung auf dem Balkan zur Bildung
des neuen Volkselemeuts der Thrakoromanen
geführt hat. Aus diesen ist dann in Verbindung
mit den Slaven das Vlachentum entstanden.
Thrakoromanen -4- Slaven = Vlachen.
Die „Wiege" der walachischen oder rumä-
nischen Sprache ist zweifellos auf dem Balkan
zu suchen. C. Jirceck und ich halten die
Gegend um Kossovopolje (Amselfeld) dafür 3).
Vom Balkan sind die vlachischen Wander-
s) Auch P. Hasden hat auf den albanesischen
Einfluß im Rumänischen nachdrücklich aufmerksam ge-
macht. Er meint, daß, wollte man das Alhanesische
daraus entfernen, der ganze rumänische Sprachbau zu-
sammenstürzen müßte.
2) Vgl. dazu meine Arbeit „Die Thrako-Illy rier
und die Arimier" im Korrespondenzblatt. Hermanu-
Stadt, 1914. Heft 8—9.
3) Alles Nähere darüber in meiner „Herkunft der
Rumänen".
hirten ]), wie F. Sulzer, Thunmann, v. Engel
und R. Rösler ausgeführt haben, im Laufe der
Jahrhunderte nordwärts, in die Karpathenländer,
gelangt. Dieser „Wandertheorie", die anfangs
von den rumänischen Gelehrten zum Teil wütend
bekämpft wurde, widersetzen sich heute nur
noch wenige Forscher. N. Jorga hat in der
Akademie und im offenen Parlament sich offen
zur „thrakischen Grundlage" im Rumä-
nischen bekannt, und O. Densusianü gibt [in
„Pastoritul la popoarole romanice" (Hirtenleben
bei den romanischen Völkern) 1913, S. 28] ohne
weiteres zu, daß: „wir (die Rumänen) schön
allmählich unser Gebiet erweitert und in fremde
Länder ausgeschwärmt sind Ohne diese Kraft
der Ausbreitung wäre die Moldau, zusammen
mit Bessarabien, ja selbst der größte Teil der
Muntenia (der gebirgige Teil der Walachei),
die ehedem von anderen fremden Völkern be-
wohnt waren, niemals rumänische Erde a:e-
worden"2). In seiner neuesten Arbeit „Graiul
din Tara Hetegului" (Die Hatzeger Mundart),
Bucuresti, Socecü & C^, 1915, erwTähut er (S. 14)
die dortige Gewohnheit der Rumänen, sich einen
Familien-Schutzheiligen zu wählen, gerade
so wie es die Serben auch tun („Slava"). Die
Familie heißt bei den Hatzeger Rumänen farä
(alban. fara, bulg. fara), wozu O. Densusianü
bemerkt (S. 60 — 61), daß dieser Ausdruck jeden-
falls durch armumsche Wanderhirten zugetragen
worden sei.
Die „Toponimia" (Berg-, Flur- und Fluß-
namen), die Tauf- und Familiennamen jener
Gegend, „enthalte einen ansehnlichen Anteil von
slavischen Elementen, und er war hier ebeuso
zahlreich wie anderwärts in unserem Gebiet. . .
Andererseits war auch das rumänische Element
in diesen Landesteileu weniger zahlreich, und
die Namen der Dörfer zeigen uns, daß wir uns
hier mit nach und nach und verhältnismäßig
spät niedergelassen haben8)." (S. 72) „Aus den
toponymischen Untersuchungen geht hervor, daß
in der Hatzeger Gegend zahlreiche Slaven gelebt
haben und daß sowohl die einen wie die anderen
(Slaven und Rumänen Dr. E. F.) das volks-
1) Vgl. meine „Alpen- oder Hirtensprache",
Korrespondenzblatt. Hamburg 1915, Heft 1, worin über
die rumänischen W'anderhirten ausführlich abgehandelt
wird.
-) Auch Prof. S. Puscariu („Zur Rekonstruktion
des Urrumänischen") 1910, S. 28) gibt zu, daß: „. . . die
Rumänen selbst im späten Mittelalter nicht so weit
nach Osten reichten, wie heute."
3) Dieses Zugeständnis ist um so bemerkenswerter,
als gerade hier, im sin [westlichen Siebenbürgen, die
früheste und lebhafteste Zuwanderung vom Balkan her,
stattgefunden haben muß.
59
bildende Element in dieser Ecke Siebenbürgens
waren."
Man darf hinzufügen: nicht nur in dieser
Ecke, sonderniing an zenKarpathen gebiet.
Iu meiner Untersuchung der Berguamen
Siebenbürgens (Jahrb. d. Siebenb. Karpathen-
vereins. Hermannstadt 1904), ferner in meiner
Arbeit über „Das alte Burzenland und seine
Besiedelung" (Sachs. Hausfreund. Kronstadt
1914/15) bin ich früher und unabhängig von
O. Densusianü, zu demselben Ergebnis gelaugt,
zur Bestätigung der Mitteilung des Ano-
nymus Belae Notarius1), daß: zur Zeit der
Eroberung Siebenbürgens durch Stephan d.
Heil, (also bald nach dem Jahre 10ÜÜ) das Land
noch zusainen mit den „Blassii et Slavi"
(Blacci = Vlachen) bewohnt war. R. Rösler
hat mit einem großen gelehrten Aufwand dem
„Anonymus" die Glaubwürdigkeit absprechen
wollen. Die Ergebnisse der jüngsten Unter-
suchungen haben jedoch dem Anonymus Recht
gegeben. Rösler war nicht im Besitze unserer
anthropologischen, ethnographischen, prähisto-
rischen2), archäologischen, sprachwissenschaft-
lichen und rein geschichtlichen Forschungsergeb-
nisse uud hat deshalb befangen urteilen müssen.
Dadurch ist aber zugleich erwiesen, daß wir
auf anderen Wegen zur Beantwortung der
Herkunftsfrage der Rumänen gelangt sind
und deshalb mit Unrecht „Röslerianer" genannt
und damit abgetan werden sollen.
Die Rumänen sind also, gerade in Sieben-
bürgen, keineswegs ein „neamul bastinas"3),
d. h. die Urbevölkerung, sondern sie sind
allmählich zugewandert und haben sich in der
Folge allerdings sehr stark vermehrt. Sie zählen
(nach der neuesten ethnographischen Karte
von H. F. Stanciovici, Craiova, „Samitca",
1915) iu Siebenbürgen und" in den angrenzenden
Landesteilen Ungarns 3 600000 Se eleu. Neben
ihnen wohnen 3 400000 Deutsche, Schwaben,
Sachsen, Ungarn, Szekler, Csängös, Zigeuner,
Armenier, Juden usw. Sie machen demnach
nicht ganz 55 Proz. der Bevölkerung aus, wäh-
*) Es hat zwei ungarische Könige mit dem Namen
Bela gegeben (lOöl — 63 und 1235 — 40), es ist bisher
unentschieden, wessen Notar der „Anonymus" war.
2) Vgl. meine „Steinzeitliche Zustände bei den
heutigen Eumänen" (Umschau, Leipzig, 1909, Nr. 39):
„Haus- und Kleidertracht vorgeschichtlicher Karpathen-
und Balkanvölkerschaften". Arch. f. Anthropol. 1908,
Bd. VII, Heft 1.
3) Neamul bastinas lassen sich die siebenb. Eu-
mänen in neuerer Zeit mit Vorliebe nennen. — Mihaiü
Viteazu war „beschworenermaßen" nur „Guber-
nator" des Kaisers Rudolf II., und auch das nur
l1 2 Jahre, er war aber niemals „Herr in Sieben-
bürgen".
rend die andere (nicht rumänische) etwas über
45 Proz. beträgt und dabei ist diese in der
Kultur bei weitem höher stehend. Auch
in diesem Sinne darf also Siebenbürgen nicht
eine Tara romäueascä" d.h. ein rumänisches
Land genannt werden. Eine Mehrheit von nur
200000 rumänischen Bauern uud Hirten,
die auch wirtschaftlich noch gar sehr zurück-
stehen, darf Siebenbürgen nicht für sich alleiu
in Anspruch nehmen, nicht als sogenannte Ur-
bevölkerung, nicht der Kopfzahl, nicht dem
Kulturgrad nach und nicht ökonomisch. Nach
der kaiserlichen Fiskaldirektion betrug im Jahre
1751 ihre Zahl auf dem siebenb. Königs-
bodeu (d. h. auf dem von den Sachsen be-
wohnten Gebiet) erst 6000 Familien, also an-
nähernd 30000 Köpfe.
Aus den angeführten Daten sollen — für
deutsche Wissenschaft selbstverständlich — keine,
irgendwie gearteten, politischen Folgerungen
gezogen werden. Auch daraus nicht, daß noch
im Jahre 1751 das Siebenbürgische Guber-
nium iu Wien: die Rumänen „als staatsrecht-
lich nur geduldete Nation" und zur Bekleidung
von öffentlichen Stellen für unfähig erklärte.
Ein weiterer Beweis, daß die Rumänen damals
nicht als gleichberechtigte, und keineswegs als
„Urbevölkerung" augesehen wurden. Erinnerte
mau sich doch, daß z. B. die „Kronstädter
Rumänen" (die sogenannten Schei) beim Bau der
dortigen sogenannten „Schwarzen Kirche" ein-
gewanderte Bulgaren (bulgarisch Scheau) waren.
Gab es doch im Jahre 1492 in Kronstadt
erst 29 rumänische Steuerzahler, 1497 freilich
schon 47. In den „Bulgerey" in Rosenau
(Markt bei Kronstadt) werden im Jahre 1526
bloß 95 Vororterumänen erwähnt, aber im Jahre
1900 gab es dort schon 2611. Iu den Ge-
meinden des (siebenbürgischen) Burzeulaudes
haben sich die Rumänen seit dem Jahre 1790
fast ums Doppelte vermehrt.
Daß die Rumänen durch Vermischung viel
slavisches Blut aufgenommen haben, wird auch
durch ihre frühen und zahlreichen Heiraten
und durch ihren reichen Kindersegen be-
wiesen. Dr. L. Colescu (der Direktor des
Statistischen Dienstes beim Domänen-Ministerium
in Bukarest) hat diesbezüglich im Jahre 1903
auf dem Statistischen Kongreß, einen Vortrag
gehalten *), in dem er auseinandersetzte: „La
:) Resum6 demagographique presente ä la IX e
Session de l'institut international de statistique. Berlin
1903. Vgl. auch J. Scarlutescu u. Miscarea popu-
latiunei Romäniec pe ani 1898 si 1899. (Natalität
35 bis 40 v. H. ; Mortalität 25 bis 30 v. H.) ; ferner
Dr. Dinescu „Ne mor copii" (die Kinder sterben uns),
Jassy 1915.
60
Rouuianie fait donc exception ä ce sujet (hohe
Geburtsziffer und große Kindersterblichkeit) an
groupe de nations romaniques, qui, eomme on
le sait, manifestent nn f aible tendance d'accroisse-
ment de leur population." Er schloß mit der
Bemerkung, daß die Rumänen in diesem Betracht
anthropologisch zu den südosteuropäi-
schen Völkern gehören. Eine spätere lahme
Erläuterung in einem Bukarester politischen
Tageblatt hat die offizielle Erklärung in Berlin
natürlich nicht entkräften können.
Auch noch ein anderes anthropologisches
Merkmal ist ein slavisches Erbe, nämlich die
auffallende Kurzbeinigkeit der Rumänen, was
namentlich an den Frauen unseren Künstlern
schmerzlich, auffällt. Die Haare und Augen
sind in der Überzahl dunkel l), Rundköpfe sind
sehr häufig, die Körperlänge ist durchschnittlich
mittelgroß.
Pogoneanu-Raduleseu, der ausersehen
wurde zusammen mit Prof. S. Puscariu das
große Wörterbuch der Rumänischen Akademie
herauszugeben, sagt in seiner historischen Gram-
matik der rumänischen Sprache (S. 14): „So
sehen wir denn wie das Slavische die Gestalt
unserer Sprache verändert hat. Zuerst sind
eine Menge slavischer Wörter in sie eingedrungen
und haben sich zu unserer Sprache umgewandelt
und zwar ebenso viele wie die ererbten latei-
nischen ; und zwar uicht nebensächliche Wörter.
sondern solche , die für unser Denken und
Fühlen unumgänglich nötig sind, für unsere
tagtägliche Rede, Wörter ohne die wir unsere
heutige Sprache gar nicht denken können."
Das ist doch gewiß sehr bestimmt und sehr
deutlich. Die slavischen Entlehnungen im
Rumänischen sind, wie wir noch geuauer sehen
werden, sehr häufig nicht Synonyme, son-
dern Wörter eigener Bedeutung.
Eine Besonderheit der rumänischen Sprache,
die sonst in keiner mir bekannten Sprache vor-
kommt, bilden die Sexualtermiui, und zwar
sind alle männlichen lateinische und alle
weiblichen — ausnahmslos — ■ nichtlateinische
(vorwalteud slavische) Entlehnungen. Wie ist
das zu erklären? Meiner Meinung nach nur so,
daß wir sagen: Als die thrakoromanischen Wan-
derhirten von ihren Bergen in die Ebenen
herunterzusteigen begannen, da fanden sie diese
schon von den Slaven besetzt. Die thrako-
romanischen Männer, die in das große slavische
Volksmeer hineiusickerten und die Slavinnen
zur Ehe nahmen, brachten ihre romanischen
l) In der Moldau sind Blonde und Blauäugige
häufiger als iu der Walachei.
Termini mit und fanden die' weiblichen slavi-
schen bei ihren Weibern vor.
Gleicherweise müssen wir uns den Vorgang
bei den 485 Fischnamen denken. Im Gebirge
gibt es iu den kleinen seichten Bächen nur
geringe Fische. Als die thrakoromanischen
Gebirgshirten tue großen wohlschmeckenden
Fische in den großen Flüssen der Ebene kenneu
lernten, da konnte das wiederum nur durch die
dort ansässige slavische Bevölkerung geschehen.
Man bedenke nur, welch wichtige Rolle der
Fisch bei den Rumänen spielt und doch ist
kein einziger lateinisch benannt, auch der
crapu (Karpfen) nicht, der vom serbischen Krap
herkommt, und auch der moldauische carasu
(Karausche) nicht, der eher auf serbisch karac,
czechisch karas, lithauisch karüsas zurück-
zuführen ist.
Hierher gehören ferner die Berg-, Fluß-
und Flurnamen. Ich habe im Jahre 1904 die
siebenbürgischen Bergnamen sprachlich unter-
sucht, die Prof. Xenopol in seiner „Teoria
lui Rösler" angeführt hat, und habe nach-
gewiesen, daß von den 318 Namen mindestens
80 slavisch und nur 65 lateinisch sind *). Eine
weitere (von mir gegebene) Liste von 88 Berg-
namen zeigt ein gleiches Ergebnis. Auch die
von O. Densusianu aufgestellte Liste von
Berg-, Fluß- und Flurnamen aus der Hatzegen-
gegend hat die auffällig große Zahl slavischer
Benennungen ergeben. Das gleiche hat meine
Ortsnamenforschung im Bnrzenland ge-
zeigt. Auch im Szekler gebiet sind die Orts-
namen , die nicht mit Szent — gebildet sind,
sehr häufig slavischen Ursprungs.
Daß die Taufnamen der Rumänen, schon
durch den Umstand, daß sie der slavisch-ortho-
doxen Kirche angehören , vorwaltend slavisch
sind, war von vornherein zu erwarten. Aber
auch ihre Familiennamen sind mit Vorliebe
vom Slavischen hergenommen 2).
Für die Benennung der Körperteile liefert
uns die Volkssprache auch eine ansehnliche
Zahl slavischer Ausdrücke, die keine Synonyme
haben: glava (Hirnschale), gät (Hals), gätlej
(Schlund), gältan (Kehlkopf), gusä (Kopf),
ränzä (Magen), crac (Höhreuknochen, Schenkel),
1) InLenk v. Treuenfels' „Siebenbiirgiscb.es Orts-
lexikon" kommt (das älav.) Virf 157 mal, das (alban.)
Mägurä 123 mal vor, dagegen tritt (das latein.) Munte
sehr zurück, etwa 15 mal. Sogar im „Dictionaru topo-
graphieu si statisticu alu Romäniec" de D. Frundescu
(Bucuresti, Staatsdruckerei, 1872) kommt Munte, Munti,
Muntenel, Muntenesci nur 18 mal, dagegen Magla,
Magura, Mägurele, Mägureni 43 und Deal- Delureni
60 mal vor.
2) Vgl. 0. Densusianu „Graiul din Tara Hate-
gulni" 1915.
61
gärb (Buckel), gleznä (Knöchel), ciolan (Röhren-
knochen), gälcä (Drüse), drob (Eingeweide),
sold (Hüfte), turloiü (Schienbein), titä (Brust-
drüse), bale (Geifer), obraz (Gesicht), sgärciu
(Knorpel), virtecap (Halswirbel), brau (Gürtel),
lopatieä (Schulter), trup (Körper, Schoß), stinghie
(Leistengegend) , tidvä (Hirnschale) , matcä
(Gebärmutter), prapor (Netz), borhot (Kot),
poalä (Schoß), pragu (Schambogen), splinä
(Milz), tärtitä (Steißbein), terae (Kopf weiche),
plod (Samen, Gebärmutter), colt (Ellbogen),
chisita (Knöchel), lenti (Drüsen), gärlant) (Luft-
röhre), cos (Brustkorb), mozol (Drüse) usw.
Ein Teil der Haustiere ist nur slavisch
(resp. albanisch oder griechisch) benannt, z. B. :
tap (Ziegenbock), eapä (Stute), cotoiu (Kater),
cocos (Hahn), gäscä (Gans), mäuz (Fohlen),
malac (Büffelkalb), bibilica (Perlhuhn), mägar
(Esel), godau (Jungschwein), pirciü (Schöps),
catir (türkisch Maultier), soldau (junger Hase),
curcä, curcan (Truthenne, Truthahn) usw. Von
den Kose- und Schimpfnamen der Haus-
tiere habe ich in meiner „Herkunft der Rumä-
nen" und O. Deususiauü in seinem „Graiul
diu tara Hateguliu" genügende Proben ge-
geben.
Aus der bäuerlichen Meteorologie ver-
zeichnen wir: träsnet (Blitz), vifor (Sturm),
chiciura, oiourä (Reif), sloiü (Eiszapfen), näboiü
(Eisbruch), produf (Wacke), namete, nemete
(Schnee), uagodä (Unwetter), zäpore (Eisstoß),
omet (Schneehaufen), poleiü (Eisschlag), zäpadä
(Schnee), lapovitä (Schneeschmelze), promorooacä
(Reif), sloatä (feuchtes Wetter), cea ä (Nebel),
piclä (Schwüle), moina (Tauwetter), burä, bure-
alä (Sprühregen), inie (zuerst sich bildendes
Eis eines Flusses) usw.
Hochinteressant ist das Glossar, das ich aus
Tudor Pamfiles „Industria casnicä la
Romäni" (das häusliche Gewerbe der Rumänen),
Bucuresti Socecü & Cie. 1910, zusammengestellt
habe. Es sind 2969 Vokabeln, von denen 774
slavischer und 716 lateinischer Herkunft sind.
Einstweilen unbekannten Ursprungs sind 914,
von denen aber sicherlieh fast zwei Drittel
slavisch sein dürften, wie schon die Endungen
auf — vitä, — itä, — iscä usw. verraten J).
Von den Krankheitsnameu sind wenig-
stens 56 slavischen und nur 43 lateinisch -grie-
chischen Ursprungs. („Rumänische Termini"
Krankheitsnameu. Korrespondenzbl. Hermann-
stadt 1905, Heft 1.)
*) Vgl. meinen Aufsatz „Die rumänische Volks-
sprache" im Korrespondenzbl. Hermannstadt 1911,
Heft 6 bis 7.
In der Liste der hydrographischen Ter-
minologie können wir die Slavismen an-
führen: puhoiü (Strom), balta, ezerü (See), ostrov
(Insel), mal (Ufer), potmolit (unterwaschenes
Ufer), smärc (Pfütze), mlastina (Sumpf), grind
(Sandbank), produf (Wuhne), plaur, prundoiu
(schwimmende Insel), gärla (Bach), prund (Kiea-
bank), perisip (höher gelegene Teile des Über-
schwemmungsgebietes), japse (kleinere, flachere
meist temporäre Tümpel), saha (umgewandelte
alte große Donauarme, die jede Verbindung
mit der Donau verloren haben). Interessant ist
es, daß der einfache Steg (Baumstamm), wie
er im Gebirge über die schmalen Bäche gelegt
wird, noch pnnte, also lateinisch, daß dagegen
die kunstvolle Brücke, wie sie in der Ebene
durch die grossen Flüsse notwendig gemacht
wird, podu, also schon slavisch benannt ist,
Wiederum deshalb, weil die Ebenen schon mit
Slaveu besetzt waren, als die Thrakoromanen
anfingen von den Gebirgen herunterzusteigen.
Aber nicht nur der lexikalische Teil der
rumänischen Sprache, sondern auch ihr for-
maler hat, wie ich ausführlich und zu wieder-
holten Malen gezeigt habe1), reiche Anlehen
beim Slavischen (Bulgarischen) gemacht.
Vielerlei in Kleidung, im Bau und in der
Einrichtung der Wohnungen, in der Nah-
rung (Backglocke usw.), iu Lebensgewohn-
heiten, in Tänzen, Volksliedern, Erzäh-
lungen, im Glauben und Aberglauben, iu
Sitten und Gewohnheiten ist nördlich und
südlich der Donau, in den Karpathen und
im Balkan so ähnlich, manches so vollkommen
gleich, daß man notoedruusren an einen iremein-
samen Ursprung denken muß. Mau darf es
ruhig aussprechen, daß es das „Thrako-
slavische" ist.
Ich habe alle hierher crehöriaen Fragen in
mehr als fünfzig streng wissenschaftlichen Spezial-
arbeiten untersucht nnd habe meine Arbeiten
in der hiesigen Akademie und in der Univer-
sitäts-Stiftung Carol I. niedergelegt; ferner
habe ich sie an die rumänischen Seminare der
Universitäten Berlin, Leipzig und Wien geschickt
und vielen deutschen Historikern und Sprach-
forschern zugestellt. Ich habe von allen Ge-
lehrten, die die Wissenschaft um ihrer selbst
willen betreiben, viele wertvolle Zustimmung
erfahren, hierzulande freilich, wo auch die
„Wissenschaft" politischen Zwecken zu dienen
*) Vgl. meine „Herkunft der Rumänen", ferner
„Die Herkunft der Rumänen nach ihrer Sprache be-
urteilt". Korrespondenzbl. Hamburg, 1909, Heft 1 bis 2.
62
hat, auch manche Anfeindung, und zwar in
gröbster Form.
Zusammenfassend sei gesagt, daß die Rumä-
nen ein ausgesprochenes Mi.-, hvolk sind und
(wie die Volkssprache auch heute noch beweist)
eine Mischsprache reden. Der Hauptauteil
an ihrem Volkstum ist das Thrako- bzw. das
Dako-Slavische. Wie aber ihre Sprache und
die Geschichte bezeugt, so ist auch das Latei-
nische seinerzeit von mehr oder weniger großem
Einfluß gewesen; in der „Dacia Trajana" war
er allerdings stets gering und hörte nach Aure-
lian (271 n. Ohr.) ganz auf, im Balkan führte
er dagegen zur Bildung des Thrakoroma-
uischen. Aus diesem, in Verbindung mit den
Slaven, ist das Vlachische entstanden.
Das Hin- und Herwandernder walachischen
Gebirgshirten hat danach das neue Volkstum
und die neue Sprache immer weiter verbreitet:
\ im Nordgriechenland bis nach Mähren und bis
an den Dnjester. Im Schutze des Karpathen-
walles und angeregt durch in der Kultur hoch-
stehende Landsgenossen (Sachseu, Deutsche,
Schwaben) habeu die siebenbürgischen Rumänen
uuter ihren Volksverwandten, nach Zahl, Wohl-
stand und Zivilisation die größten Fortschritte
gemacht. Physisch stehen sie sicherlich am
besten. Auch in manchen Charaktereigenschaften
(Arbeitsamkeit, Ausdauer, Sparsamkeit, Moral)
hallen sie zweifellos ihre südlichen Volksgenossen
übertroffen.
Zum Schluß einige kurze historische Be-
merkungen, die aber nicht ohue Wichtigkeit
für die Herkunftsfrage der Rumänen sind.
1. Das Fürstengeschlecht der Bassaraba
scheint vom Balkan abzustammen. Mindesteus
erwähnt schon Diodorus Siculus (149 n. Chr.)
einen BuQöKßdv tov &Qaxäv ßaöilm und führt
Joruandes eine Nachricht des Dio Chryso-
stomus (Tu rexLiiu.) au, wonach alle dakischen
und luetischen Könige aus der Familie der
„Zarabos Tereos" abstammten. (Zarabos Tereos
darf man vielleicht mit Zarabi oder Sarabi
terei wiedergeben. Saralu würde also Herzog,
Fürst bedeutet haben.)
2. Steht fest, daß nach der Einnahme und
Zerstörung Tirnoväs durch Bajazed (a. 1393)
die Hauptmasse der bulgarischen Bojaren auf
das linke Donauufer auswanderte.
3. Das slavisch- orthodoxe Christentum ist
den Rumänen aus den Balkanländern zuge-
kommen. Bezeichnend genug hieß der erste
Metropolit der Moldau Särb. Die ersten Buch-
drucker in Rumänien (Govora, Monastirea din
Deal) waren slavische Mönche von jenseits der
Donau.
4. Eine Anzahl von rumänischen Fürstinnen
waren serbische oder bulgarische Prinzessinnen.
5. Eine ansehnliche Zahl der rumänischen
Distrikte hat heute noch slavische Namen:
Prahova, Ilfov, Jalomi a, Neamt, Putna, Vlasca,
Gorj'ü, Dolj'ü usw.
6. Die Zuwanderung aus Bulgarien ist auch
heutigentags noch sehr groß (Schankwirte, Tag-
löhner, Gemüsebauer usw.). Die „Archondolo-
gia" und andere Listen der alten Bojaren-
familien (Ghibanescu usw.) zeigen es deutlich,
wieviel slavisches Blut (aber auch griechisches,
magyarisches, ja sogar deutsches) von den
rumänischen Bojaren aufgenommen wurde.
7. Die Hof- und Gerichtssprache (Urkunden,
Geschäftsbriefe) war jahrhundertelang die sla-
vische. In den Kirchen sangen die Sänger noch
im Jahre 1864 ausschließlich russisch. Die
Bücher, Theaterzettel usw. werden erst seit dem
Beginn der sechziger Jahre lateinisch gedruckt.
Trotz aller dieser Tatsachen, die einem Histo-
riker doch bekannt sein müssen, hat N. Jorga
die leichtfertige Ausflucht gebraucht: das
Slavische im Rumänischen eine Mode zu
nennen, die nun überwunden sei.
Jeder denkende Leser der vorstehenden haar-
genauen Ausführungen wird vielmehr erkannt
hallen, daß das Slavische zum organischen Auf-
bau, zum innersten Wesen, des auf thrakischer
Grundlage Gewordenen gehört, und das Rumä-
nische ohne das Slavische zusammen-
stürzen müßte, wie das Hasdeu vom voraus-
gesetzten Fehlen des Albanesischen im Rumä-
nischen ausgesprochen hat.
Mitteilungen aus den Lokalvereinen.
Bonner Anthropologische Gesellschaft.
In der Hauptversammlung der Anthropologischen
Gesellschaft in Bonn am 20. Januar 1914 berichtete
der Vorsitzende, Herr Geheimrat Verworn, über das
abgelaufene Geschäftsjahr folgendes: Die Zahl der
Mitglieder betrug zu Beginn des Jahres 1913 128,
durch Wegzug von Bonn verlor die Gesellschaft 10,
durch den Tod 4 Mitglieder, so daß heute die Zahl
114 beträgt. In den sieben Sitzungen des verflossenen
Jahres wurden zehn Vorträge aus den verschiedenen
Gebieten der Anthropologie gehalten. Sodann erstattete
Herr Bankdirektor Steinberg Bericht über die
Finanzlage der Gesellschaft. Die Revision der Rech-
nungen wurde von Herrn Professor Schöndorff vor-
genommen. Dem Kassenführer wurde Entlastung erteilt.
63
Die Wiederwahl des Vorstandes wurde gemäß einem
Antrage aus der Versammlung durch Akklamation
vorgenommen. Darauf sprach der Vorsitzende, Herr
Geheimrat Verworn, über „ideoplastische Kunst".
Unter den beiden großen Richtungen der Kunst,
die wir bereits in prähistorischer Zeit unterscheiden
können, der physioplastischen und der ideo-
plastischen Kunst tritt bekanntlich die erstere als
die früheste Kunstäußerung, und zwar mit dem Beginn
der Renntierzeit auf. Sie wird allmählich von der im
Paläolithikum zunächst nur spärlich neben ihr er-
scheinenden ideoplastischen Richtuug vollkommen ver-
drängt, und die letztere herrscht dann unumschränkt
in allen späteren prähistorischen Kulturstufen bis zur
klassischen Zeit und zur Renaissancekultur ebenso
wie in den primitiven Kulturen fast aller modernen
Naturvölker. Ist die physioplastische Kunst charak-
terisiert durch ihr Streben nach naturwahrer Wieder-
gabe des sinnlich wahrgenommenen Objekts , so ist
andererseits die ideoplastische Kunst eine durchaus
von der Naturwahrheit abgekehrte Kunst, welche die
Gegenstände in merkwürdiger Entstellung und selt-
samer Umgestaltung der Formen häufig bis zur völligen
Unkenntlichkeit und zu phantastischer Neugestaltung
verändert darstellt. Diese ideoplastische Kunst er-
fordert ein nicht minder großes Interesse als die in
unserer Zeit so viel bestaunte und durch die wunder-
lichsten Theorien gedeutete physioplastische Kunst
der diluvialen Renntierjäger.
Die Kunst ist ganz allgemein ein Ausdrucksmittel
für Bewußtseinsvorgänge. Von diesem Gesichtspunkte
aus gewinnt die primitive Kunst der prähistorischen
Zeiten eine ganz besonders hohe Bedeutung. Wir
schöpfen aus ihrer Analyse ein geradezu unschätzbares,
vielfach durch nichts zu ersetzendes Material für die
Entwickelungsgeschichte des menschlichen Geistes,
d. h. des menschlichen Empfindens , Vorstellens , Den-
kens, Fühlens und Wollens in Zeiten, über die keinerlei
schriftliche Überlieferung uns Aufschluß gibt.
Die ideoplastische Kunst könnte leicht auf
den ersten Blick für einen Rückschritt gehalten werden
gegenüber der physioplastischen Richtung der dilu-
vialen Jäger. Man pflegt leicht zu dieser Ansicht zu
gelangen, weil man so vielfach die Naturwahrheit als
den einzigen Maßstab für die Entwickelungsstufe der
Kunst betrachtet. Das ist einseitig und verkehrt. Im
Hinblick auf die Tatsache, daß die Kunst ein Ausdrucks-
mittel für Bewußtseinsvorgänge vorstellt, genügt ein
solcher naiver Maßstab nicht. Vielmehr ist hier eine
tiefere psychologische Analyse für die Beurteilung
notwendig, und als Maßstäbe müssen einerseits die
Bewußtseinsinhalte ihrer Art nach, andererseits die
Mittel , mit denen der Künstler ihre Wiedergabe ver-
sucht, herangezogen werden.
Von diesem Standpunkte einer eingehenderen
psychologischen Betrachtungsweise aus erscheint aber
die ideoplastische Kunst als eine wesentlich höhere
Stufe gegenüber der physioplastischen Stufe der paläo-
lithischen Jäger. Die letztere bringt nur mehr oder
weniger naturgetreu reine Sinneswahrnehmuugen zum
Ausdruck, Vorstellungen , d. h. Erinnerungsbilder von
einzelnen konkreten Objekten, vor allem von Jagdtieren.
Selbst Darstellungen von Handlungen und ganzen
Szenen kennt der diluviale Renntierjäger noch nicht.
Was demgegenüber die ideoplastische Kunst
charakterisiert, das ist ganz allgemein, daß
man nicht mehr allein den einfachen sinn-
lichen Eindruck des konkreten Einzelobjekts,
das man gesehen hat, wiedergibt, sondern
daß das dargestellte Objekt zum Ausdruck
einer symbolischen Bedeutung wird für Ge-
danken, Vorstellungen, Gefühle der ver-
schiedensten Art. Es werden aus den sinnlich
wahrgenommenen Dingen bestimmte Momente hervor-
gehoben und betont, andere vernachlässigt oder weg-
gelassen. Was aus irgend einem Grunde besonderen
Reiz oder besonderes Interesse hat, etwa einen starken
Gefühlswert positiver oder negativer Art, wie z. B. ein
ästhetisch wirksames Moment, oder was besonders auf-
fällig erscheint und sich daher stärker einprägt, oder
was besondere Vorstellungen und Ideengänge auslöst,
das wird hervorgehoben in der Darstellung. Die
anderen Elemente treten in deu Hintergrund oder
fallen ganz fort. Auf diese Weise entfernt sich die
Darstellung mehr oder weniger von der naturwahren
Wiedergabe des konkreten Objekts bzw. des unmittel-
baren Sinneseindrucks. In ihrer durch bewußte Spe-
kulationen erstrebten Übertreibung führt diese Rich-
tung schließlich zu dem konkrete Objekte absichtlich
vermeidenden Versuch der modernen Futuristen. Die
ideoplastische Kunst ist rein expressio-
nistisch, die physioplastische Diluvialkunst
rein impressionistisch und der Gegensatz
zwischen beiden Richtungen wird um so be-
merkbarer und klaffender, je mehr sich das
Vorstellungs- und Gefühlsleben des Künstlers
im Gegensatz zur Wirklichkeit befindet.
Der gemeinsame psychologische Vorgang, der aller
ideoplastischen Kunst zugrunde liegt und in seinen
ersten Anfängen lediglich in einer Heraushebung
einzelner, dem Künstler besonders wichtiger Momente
aus dem Material des sinnlich Wahrgenommenen be-
steht, ist der Vorgang der Abstraktion. Wir
pflegen konkrete und abstrakte Begriffe zu unter-
scheiden. Die konkreten haben ihre genau korre-
spondierenden Objekte in der Wirklichkeit, die ab-
strakten nicht. Die Wirklichkeit zeigt uns Eichen
und Pappeln und Linden und Kiefern und Weiden usw.,
aber keinen „Baum". Der Begriff „Baum" ist abstra-
hiert dadurch, daß wir aus zahlreichen wirklich sinnlich
wahrgenommenen Objekten die allgemeinen Bestandteile,
die immer und immer wiederkehren , mögen wir eine
Eiche, oder eine Pappel, oder eine Linde usw. ansehen,
also den Stamm, die Zweige, die Blätter usw. heraus-
heben und allein berücksichtigen , die speziellen , wie
die Form und Dicke des Stammes, die Art der Ver-
zweigung, die Gestalt und Anordnung der Blätter usw.
vernachlässigen und ganz weglassen. Setzen wir die
gemeinsamen Bestandteile sämtlich synthetisch zu-
sammen , so entsteht ein Vorstellungsgebilde , wie der
abstrakte Begriff „Baum", aber das ist weder eine
Eiche, noch eine Linde, noch sonst eine Baumart, die
wir sinnlich wahrnehmbar irgendwo in der Wirklich-
keit fänden.
Diese Abstraktion findet bereits in der frühesten
Kinderzeichnung des modernen Kindes ihren schlagen-
den Ausdruck (vgl. Korrespondenzblatt d. Deutschen
Ges. f. Anthrop., Ethnol. u. Urgesch. XXXVII. Jahrg.,
Mai/Juni 1907). So ist auch das Auftreten und die
Entwickelung der ideoplastischen Kunst in der vor-
historischen Zeit ein äußerst wertvoller Indikator für
die fortschreitende Entwickelung des abstrahierenden
Denkens beim Menschen.
Dieser Grundprozeß der Abstraktion kann nun
in der Kunst in sehr verschiedenem Grade und uach
verschiedenen Richtungen hin sich geltend machen, je
64
nachdem, was als wichtig und wesentlich hervor-
gehoben werden soll und je nach dem Grade, in dem
es vor anileren Elementen das Bewußtseinsfeld be-
herrscht.
Die ersten Anfänge der ideoplastischen Kunst,
finden sich bereits in der Renntierzeil neben den
phvsioplastischen Tierdarstellungen. Sie bestehen in
der ornamentalen Verwendung einzelner Tier- und
Pflanzenmotive. .Man ordnet Tierteile, besonders
Köpfe, in Reihen an als Dekoration für Gebrauehs-
.'. vi! .lande viin Knochen. Dabei sind ursprünglich
die Tierteile noch durchaus naturwahr dargestellt.
Auch die Hanken von Pflanzen weiden dekorativ be-
nutzt, und hier bemerkt man bereits eine Stilisierung
bei der ornamentalen Verwendung. So entsteht eine
Vermischung von ornamentaler und figuraler Kunst.
Bestimmte Elemente von realen Objekten, die aus
irgend einem Grunde besonderen Affektwert besitzen,
werden aus dem Zusammenhang herausgehoben und
als Ornament verwertet. So entsteht eine „ornamen-
tale Ideoplastik".
In spateren prähistorischen Perioden geht die
ornamentale Umformung solcher figuralen Motive dann
aber viel weiter, bis zur völligen Unkenntlichkeit. Die
bronzezeitliche und besonders die keltische Kunst, und
die Kunst der prähistorischen Indianer, sowie der
Südseeinsulaner zeigt eine unendliche Fülle von Belegen
dafür.
Das Hervorheben als wichtig erscheinender Ele-
mente führt zu der „schematisierenden Ideo-
plastik". In der neolithischen Zeit, in der Bronzezeit,
in der Hallstattzeit ebenso wie bei den meisten heutigen
Naturvölkern finden wir weitverbreitet eine Schemati-
sierung der dargestellten Objekte, die darin besteht,
daß nur das Wichtige dargestellt, alles andere einfach
fortgelassen ist. Die Fortlassungen sind häufig so
umfangreich, daß das Objekt als Ganzes nur eben
noch angedeutet und nur das, worauf es dem Künstler
ankommt, besonders deutlich oder übertrieben dar-
gestellt und hervorgehoben ist.
Schließlich führt diese Methode in der „deskrip-
tiven Ideoplastik" zur stärksten Vereinfachung der
figuralen Darstellungen. Hier genügt es dem Dar-
steller vollkommen, irgendwie bei dem Beschauer die
Vorstellung des betreffenden Gegenstandes oder Vor-
ganges zu erwecken, um so durch Aneinanderreihung
solcher Symbole eine Erzählung oder Beschreibung
zu liefern. So 'entstehen die piktographischen Dar-
stellungen der Indianer, die prähistorischen und mo-
dernen Petroglyphen usw. Endlich geht diese Ver-
einfachung am weitesten bei der Schrift, z. B. bei der
Kntwickelung der demotischen Schrift der alten
Ägypter aus der Hieroglyphenschrift.
In moderner Zeit findet eine stärker ausgesprochene
ideoplastische Kunst ganz besonderen Anklang in der
Reklamezeichnung, und am weitesten suchen einzelne
„Futuristen" das der Ideoplastik zugrunde liegende
Prinzip zu übertreiben. Man will sich im Lager
einiger moderner Künstler womöglich vollkommen von
allen sinnlichen Elementen in der Kunst befreien.
Das ist das Ideal. So sehr es nun auch zu verwerfen
ist, wenn man die moderne expressionistische Rich-
tung einfach mit einem Lächeln erledigen zu können
glaubt — sie enthält eine Fülle sehr wertvoller und
psychologisch interessanter Elemente — so ist es doch
andererseits eine psychologische Ungeheuerlichkeit,
wenn man ernsthaft, glaubt, , etwas künstlerisch zum
Ausdruck bringen zu können, was nicht wenigstens in
seinen einzelnen Bestandteilen ursprünglich einmal
durch das Tor der Sinne seinen Einzug in unser
Bewußtsein erhalten hat. Man kann ja allerdings sehr
weitgehende Abstraktionen bilden und diese Gebilde
zum Ausdruck bringen wollen, aber wenn man sie
zum Ausdruck bringt, so ist man immer wieder ge-
zwungen, sie in sinnlich wahrnehmbare Formen zu
kleiden, sonst sind sie eben von niemandem wahrnehm-
bar. Beschränkt sich aber der Künstler darauf, seine
abstrahierten Gedanken und Gefühle und Stimmungen
durch ein äußerstes Minimum von sinnlich wahr-
nehmbaren Linien oder Farben auszudrücken , so ent-
stehen Bilder, wie die einiger exh-emer Futuristen, bei
deren Betrachtung schließlich kein Beschauer mehr
dahinter kommt, was der Künstler ausdrücken will,
und der einzige Bewußtseinsvorgang, den das „Kunst-
werk" schließlich auslöst, besteht in der Vorstellung
„geistesgestört".
Die Ausführungen des Vortragenden wurden durch
eine große Zahl von Lichtbildern aus der vorgeschicht-
lichen Kunst, aus der Kunst der heute lebenden Natur-
völker, aus der Kunst des modernen Kindes und aus
der Kunst der Futuristen erläutert. Im vorliegenden
Referate kann von der Wiedergabe von Abbildungen
abgesehen werden unter Hinweis auf die inzwischen
erschienene Schrift des Vortragenden (MaxVerworn,
„Ideoplastische Kunst". Jena, Gustav Fischer,
1014) , welche mit einem reichen Abbildungsmaterial
ausgestattet ist.
In der Sitzung vom lü. Februar 1914 sprach Herr
Prof. A. Philip pson über „Die Völker der Balkan -
halbinsel."
Die heutige und zukünftige politische Entwicke-
lung der Balkanhalbinsel ist ein wesentlich ethno-
graphisches Problem, denn die Art und geographische
Verbreitung der Völker ist für die dortige Staaten-
bildung in erster Linie maßgebend geworden. Die
Völkerverbreitung aber ist wieder das Ergebnis der
geographischen Gestaltung des Landes und der histo-
rischen Ereignisse.
Der Vortragende schildert daher zunächst die
großen Züge der Natur der Balkanhalbinsel und dann
die geschichtliche Entwickelung der Bevölkerung : die
Völker des Altertums, die Einwanderungen und Ver-
schiebungen der Völkerwanderung, die hier die lange
Zeit vom 3. Jahrhundert n. Chr. bis zur türkischen
Eroberung im 14. und 15. Jahrhundert umfaßt. Darauf
wurden die einzelnen Völker der Gegenwart nach ihrer
Abstammung, kulturellen Bedeutung und ihren Wohn-
gebieten kurz charakterisiert: die alten Völker der
Griechen — mit ihrer vielseitigen Betätigung, ihrer
Seemacht und ihrer großen und reichen Diaspora —
und der Albanier — der alten Ulyrier, noch heute
in primitiven sozialen Zuständen lebend — ferner die
Rumänen nebst den mazedonischen W lachen,
ein Volk romanischer Zunge, das wenigstens in seinen
Wurzeln auf das spätere Altertum zurückgeht; dann
die in der Völkerwanderung eingewanderten Slaven:
Bulgaren, Serben und mazedonische Slaven;
die aus Kleinasien herübergekommenen osmanischen
Türken, mit denen die größeren Einwanderungen
abschließen; endlich noch die kleiueren Volkssplitter.
Besonders wichtig aber ist es , daß zwischen den ge-
schlosseneu Wohngebieten dieser einzelnen Völker sich
Mischgebiete ausdehnen, in denen die verschieden-
sten Bestandteile durcheinander wohnen; es sind das
namentlich: die Dobrudscha, Ost-Thrakien, der Küsten-
65
säum im Norden des Ägäisohen Meeres, Mazedonien,
die Umgebung Albaniens (besonders Alt-Serbien und
Nord-Epirus). Dadurch wird die Ziehung solcher po-
litischer Grenzen, die den Völkergrenzen möglichst
entsprechen sollen, äußerst erschwert.
Diese Aufgabe wird aber vollends unlösbar da-
durch, daß die religiöse Gruppierung, die für das Be-
wußtsein der Zusammengehörigkeit dort meist ent-
scheidender ist als die Umgangssprache , ferner die
sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Verhält-
nisse sich auf das verwickeltste mit den Sprachgrenzen
kreuzen.
Schließlich wurde noch kurz auf den körperlichen
Habitus der Balkanvölker eingegangen , der eine Mi-
schung verschiedener Typen zeigt, die aber bei den
verschiedenen Völkern der Balkanhalbinsel in ziemlich
gleichartiger Weise herrscht, was auf das hohe Alter
und die Beständigkeit des körperlichen Habitus gegen-
über den Einwanderungen der historischen Zeit schließen
läßt. Zum Schluß zeigte der Vortragende eine Reihe
von Lichtbildern von Siedelungen der Balkanhalb-
insel vor.
In der Sitzung vom 26. Mai 1914 sprach Herr
Prof. C. Clemen über „Wesen und Ursprung der
Magie".
Der Vortragende besprach einleitend die verschie-
denen in neuerer Zeit gemachten Versuche , das Ver-
hältnis von Religion und Magie zu bestimmen , und
entschied sich für die zuerst von Frazer vertretene
Ansicht, daß man in der Religion (richtiger im Kultus
oder noch besser in den nicht-magischen Verhaltungs-
weisen) die höheren Mächte gewinnt oder versöhnt,
in der Magie zwingt. Dann zeigte er, daß als Magie
auch das Tabu und umgekehrt der Glaube, sich durch
den Genuß oder die Berührung von Dingen deren
Kräfte aneignen zu können, zu bezeichnen sei, während
sich dagegen die Mantik dadurch von der Magie unter-
scheide, daß bei ihr die Gottheit die Initiative ergreife,
wenn auch, nachdem sie die Zukunft angekündigt habe»
diese kommen müsse. Aber auch so sei das Gebiet
der Magie außerordentlich groß; es bestehe also, wenn
man nun ihren Ursprung untersuche, die Gefahr, daß
von ihr eine Erklärung gegeben wird , die nur auf
gewisse magische Erscheinungen zutrifft. Das gilt,
wie weiterhin gezeigt wurde , in der Tat von der
Marettsohen Theorie, die außerdem dasjenige, was
sie erklären soll, schon voraussetzt. Auch Wundts
Erklärung der Magie scheitert daran , daß sie den
Animismus als die älteste Form der Religion ansieht,
was er doch nicht ist. Tylors und Frazer s Be-
hauptung aber, die Magie beruhe auf einer Verwechse-
lung der association in thought mit der connectiou
in reality, erklärt noch nicht, wie es zu jener kam; der
Vortragende glaubte den Grund dafür darin sehen zu
müssen , daß man von der Erfahrung zwar ausging,
aber nicht bei ihr stehen blieb.
Um diese These als richtig zu erweisen , wurde
zunächst daran erinnert , daß sich der Primitive die
Eigenschaften gewisser Tiere durch den Genuß ihres
Fleisches aneignen zu können glaubt. Auch der Kanni-
balismus hatte, zum Teil wenigstens, denselben
Zweck, nämlich sich die Kräfte der betreffenden Men-
schen anzueignen, die manchmal in einem besonderen
Teil ihres Körpers wohnhaft gedacht wurden. Um-
gekehrt muß man sich gewisser Tiere, deren Eigen-
schaften man nicht haben möchte , enthalten ; ja so
kann mau sich nicht nur vor wirklichen Eigenschaften,
j sondern auch vor Zuständen , in denen sich das be-
treffende Tier zufällig befindet, hüten.
Weiter findet diese Kraftübertragung durch bloße
Berührung verschiedener Art statt und ist daher auch
bei Steinen und Pflanzen, nicht nur bei Tieren und
Menschen möglich. Diejenigen, deren Kräfte man
sich nicht aneignen möchte, sind daher Tabu — dies
allerdings auch , weil diese Kräfte sonst den Be-
treffenden selbst entzogen werden würden.
Handelt es sich dabei um Kräfte, die in dem
ganzen Gegenstande oder Wesen wohnend gedacht
werden, so gibt es doch auch solche , die nur in be-
stimmten Teilen des menschlichen oder tierischen Kör-
pers gefunden werden. So im Kopf, Gehirn, Haar, in
den Nägeln, Füßen und Händen, dem Herzen, Blut, die
daher alle in der Magie eine große Rolle spielen. Um-
gekehrt wohnen jene allgemeinen Kräfte auch in Aus-
scheidungen des Menschen, seinem Hauch, Wort, Namen,
seiner Nahrung und Kleidung, seinem Schatten und
Bild; man kann also mit ihnen ebenfalls zaubern.
Ebenso ist das Verhalten ein Teil des Wesens des
Betreffenden, mit dem man ihn selbst in seine Gewalt
bekommt: so erklären sich die Tier- und Kriegstänze,
sowie manche Fruchtbarkeitszauber.
Zum Schluß wurde darauf hingewiesen , daß aus
diesen letzteren vielfach Spiele entstanden sind , und
daß vor allem Wissenschaft und Kunst zum Teil aus
der Magie stammen. Den nicht-magischen Verhaltungs-
weisen gegenüber bezeichnet diese die ältere Ent-
wickelungsstufe, da sie es auch mit bloßen Kräften,
noch nicht mit Seelen in den Dingen zu tun hat ; zur
Religion ist aber auch sie zu rechnen.
In der Sitzung vom 23. Juni 1914 berichteten
die Herren Geheimräte Verworn, Bonnet undStein-
mann über „Diluviale Menschenfunde in Ober-
cassel bei Bonn".
I. Fundbericht. Von Max Verworn. Am
18. Februar dieses Jahres teilte der Steinbruchbesitzer
Herr Uhrmacher aus Obercassel der Universität Bonn
mit, daß in seinem Steinbruch zwei menschliche Ske-
lette und ein „Haarpfeil" gefunden worden seien, und
fragte an, ob einer der Herren Professoren Interesse an
dem Funde hätte und ihn sich ansehen wollte. Er
sei eventuell bereit, den Fund der Universität zu über-
lassen. Herr Prof. Max Verworn, dem der Brief
übermittelt wurde, fuhr dann in Begleitung der Herren
Prof. Bonuet und Heiderich nach vorhergehender
Anmeldung bei Herrn Uhrmacher am 21. Februar
zur Besichtigung des Fundes nach Obercassel. Herr
Uhrmacher jun., der die Herren an der Bahn abholte,
hatte den „Haarpfeil" bei sich. Nach der Mitteilung
erwarteten die Herren einen Fund aus der Metallzeit.
Sie waren daher nicht wenig überrascht, als der
„Haarpfeil" sich als ein paläolithisches Knochenwerk-
zeug aus der Renntierperiode erwies. Die Überraschung
wurde noch größer bei der Besichtigung der Skelette
und der Fundstelle. Es konnte nach allem kein Zweifel
mehr sein, daß das Knochenwerkzeug und die Skelette
gleichaltrig waren und daß hier zwei nahezu voll-
ständige Menschenskelette von bewundernswerter Er-
haltung aus der Renntierzeit vorlagen. Die Herren
Max Verworn, Bonnet, Steinmann, Heiderich
und Stehn nahmen sich sogleich der Angelegenheit
an und kameu überein, über den Fund erst nach Ab-
schluß der vorläufigen Untersuchung in der Bonner
Anthropologischen Gesellschaft eine genauere Mit-
teilung zu machen, um zu vermeiden , daß falsche
9
66
Nachrichten über denselben in die Tagesblätter ge-
langten. Dennoch ist es leider nicht gelungen, solche
Zeitungsnachrichten ganz zu verhindern.
II. Die Kulturstufe des Fundes. Von Max
Yerworn. Die Skelette waren bereits einige Zeit vor
der Benachrichtigung der Universität auf Veranlassung
des Aufsehers, der zufallig bei ihrer Auffindung zu-
gegen war, von den Arbeitern dem Boden entnommen
und in der Arbeitshütte geborgen worden, so daß die
Bonner Anthropologen leider nicht mehr in der Lage
waren, alle Einzelheiten der Situation durch eigene
Ausgrabung genau festzustellen. Indessen ergab doch
eine nachträgliche Ausgrabung noch eine ganze An-
zahl weiterer Skeletteile und wichtiger Momente für
die Beurteilung des ganzen Fundes.
Der Fundort liegt in der Nähe eines Basaltkegels,
von dem im Laufe der Jahrzehnte bereits ein großer
Teil durch den Steinbruchbetrieb abgetragen ist. An
den Abhang des Basaltkegels lehnt sich eine mächtige
diluviale Sandschicht an, die überlagert ist von einer
gleichmäßig gemischt hatte. In dieser Verwendung
der roten Farbe besteht eine völlige Analogie mit ver-
schiedenen französischen und österreichischen Skelett-
funden der Diluvialzeit, in denen typische Begräbnisse
zu erblicken sind, wie z. B. in den „Roten Höhlen von
Mentoue" und im Löß von Brunn.
Bei den Skeletten befanden sich verschiedene Bei-
gaben, und zwar einerseits aus Knochen geschnitzte
Gegenstände und andererseits Tierknochen. Feuerstein-
geräte oder überhaupt nur Spuren von Feuerstein-
bearbeitung wurden nicht beobachtet. Auch wurden
keinerlei Steingeräte aus andersartigem Material ge-
funden, so sorgfältig und oft die Fundstelle auch ab-
gesucht und weiter frei gelegt wurde.
Die Knochengeräte liefern den wichtigsten An-
haltspunkt für die Feststellung der Kulturstufe und
Zeitstellung des Fundes. Sie gestatten glücklicher-
weise mit größter Schärfe und Genauigkeit die Zu-
weisung desselben in das untere Magdaleuieu. Der
„Haarpfeil", welcher nach Angabe der Arbeiter unter
Fig. 1.
Fundstelle der Skelette von Obercassel bei Bonn.
Zu Füßen der links stehenden Person lagen die Skelette und Beigaben.
spärlichen Lehmlage , auf der sich eine lose Schicht
von Basaltschotter auftürmt, der im Laufe der Zeit
vom Basaltkegel sich losgelöst hat. An der Basis dieses
Basaltschotters zwischen die großen und kleinen Basalt-
blöcke eingebettet liegt die Fundstelle (Fig. 1). Hier
lagen die Skelette , deren Orientierung nicht die
gleiche gewesen zu sein scheint, kaum mehr als
einen Meter voneinander getrennt, nach übereinstim-
mender Angabe der Arbeiter, von Behr großen Basalt-
platten bedeckt in einer etwa 20 bis 30 m dicken und
etwa 3 m im Flächendurchmesser ausgedehnten , in-
tensiv rot gefärbten Lage von kleineren Basaltstücken
und Lehm. Durch die Angabe der Arbeiter, daß die
Skelette von großen Basaltplatten bedeckt waren, wird
allein ihre ausgezeichnete Erhaltung erklärt, die sonst
in dem groben, schweren und scharfkantigen Schotter-
material nicht leicht verständlich wäre. Der rote Farb-
stoff, welcher die Skelette und alle Steine in der ge-
nannten Ausdehnung umgab , bestand aus einem pul-
verigen Rötel, welcher sich mit dem Lehm ziemlich
dem Kopf des einen Skelettes lag, ist ein aus hartem
Knochen geschnitztes, etwa 20cm langes, im Quer-
schnitt rechteckiges, sehr fein poliertes Glättinstrument,
ein sogenannter „lissoir" von großer Schönheit der
Arbeit und vorzüglicher Erhaltung (Fig. 2). An seinem
Griffende ist ein kleiner Tierkopf ausgearbeitet, welcher
Ähnlichkeit mit einem Nagetierkopf oder einem Marder-
kopf hat. Das andere Ende ist stumpf. Auf den
Schmalseiten zeigt das Instrument eine für die Renn-
tierzeit sehr charakteristische Kerbschnittverzierung.
Die zweite Knochenschnitzerei ist einer jener kleinen
brettartig schmalen , auf beiden Seiten gravierten
Pf erdeköpf e , wie sie von Girod und Massenat in
Laugerie basse und von Piette in den Pyrenäen in
größerer Zahl und mannigfachen Variationen gefunden
wurden und die ein charakteristisches Leitfossil der un-
teren Magdalenienschichten vorstellen. Das Obercasseler
Exemplar, das sich in einzelnen Bruchstücken erst bei
der Durchsicht der Menschenknochen fand, ist leider
bei dem Ausgraben der Skelette zerbrochen worden
67
und nicht mehr ganz vollständig. Außerdem sind noch
zwei weniger charakteristische Knochenstücke, welche
Bearbeitung erkennen lassen, gefunden worden.
Nach allen Feststellungen kann kein Zweifel sein,
daß es sich bei dem Funde um ein Begräbnis und
Fig. 2.
Glättinstrument von Obercassel
mit angesebnitztem Tierkopf und Kerbverzierungen.
Von allen vier Seiten gesehen. Y2 nat. Größe.
nicht um einen Lagerplatz handelt. Vermutlich haben
die diluvialen Jäger in der Nähe, wahrscheinlich im
Schutze der Basaltwand, ihren Lagerplatz gehabt und
die Toten mit ihren Beigaben in nicht allzu großer
Entfernung davon beigesetzt , indem sie dieselben
nach dem üblichen Ritus mit reichlichen Mengen roter
Farbe umgaben und mit großen Steinen sorgfältig
überdeckten.
III. Die Skelette. Von R. Bonn et. Außer den
überraschend gut erhaltenen Schädeln nebst Unter-
kiefern eines männlichen und eines weiblichen Ske-
lettes waren fast alle wichtigen Knochen entweder
ganz oder bruchstückweise geborgen worden. Es fehlten
nur die Hand- und Fußwurzelknochen, ein Oberschenkel-
bein, einige Finger und Zehen, sowie die Brustbeine.
Wir besitzen einstweilen in Deutschland , abgesehen
von dem nach seinem geologischen Alter nicht be-
stimmbaren und in seinen Knochen leider sehr unvoll-
ständigen Neandertalskelett x) und dem hochwichtigen
Unterkiefer von Mauer bei Heidelberg an diluvialen
Menschenresteu nur einige mehr oder minder defekte
Unterkiefer, einige Zähne und vereinzelte nahezu wert-
lose Kuochenstücke. Die Schädelfunde aus der Ofnet
bei Nördlingen in Bayern fallen in die Übergangszeit
des Diluviums in die Jetztzeit (Alluvium).
Der Fund von Obercassel stellt sich durch seinen
Erhaltungszustand, durch die Sicherheit der Bestim-
x) Gefunden in der kleinen Feldhofer Grotte in dem
von der Dussel durchströmten Keandertal bei Düsseldorf 1856.
mung seines geologischen und archäologischen Alters,
durch seine Vollständigkeit und dadurch, daß er aus
einem männlichen und weiblichen Skelett besteht, den
besten diluvialen Funden an die Seite. Er ist außer-
dem der erBte Fund nahezu vollständiger
menschlicher Skelette aus dem Quartär und
speziell aus dem Magdalenien in Deutschland.
Es muß ein seltsames Paar gewesen sein, dessen
Reste die Hacke des Arbeiters aus ihrer vieltausend-
jährigen Ruhe wieder zutage förderte. Ich beschränke
mich einstweilen nur auf die wichtigsten Angaben über
die Schädel. Der eine Schädel von einer etwa 20jäh-
rigen Frau war in den sehr einfachen Nähten gelöst
in Beine einzelnen Knochen zerfallen, konnte aber, ab-
gesehen von Teilen beider Schläfenschuppen, den Nasen-
beinen und einigen Defekten au der Schädelbasis vor-
züglich zusammengesetzt werden.
Der dolichocephale (langköpfige), in Scheitelansicht
durch Einziehung der fhichen Schläfen und Auftreibung
der Schläfenschuppe leicht gitarrenf örmige Hirnschädel
hat einen Längen- Breitenindex von 71, eine größte
Länge von 181, eine größte Breite von 129, sowie eine
größte Höhe von 134 mm (vom vorderen Rande des
Ilinterhauptsloches zum Scheitelpunkt gemessen). Sein
Horizontalumfang beträgt 512 mm. In Seitenansicht
verläuft der Contur des Hirnschädels über die gut ge-
wölbte steile Stirn bis zum Hinterhauptsloch in schönem
Fig. 3.
Schädel der_Frau von Obercassel, etwa \ »■
Bogen. Das Gesicht zeigt in Vorderansicht einen kräftig
entwickelten Kieferapparat. Die mäßig breite Stirn wird
durch eine Stirnnaht geteilt , eine Seltenheit bei den
diluvialen Langschädeln. Die Uberaugenhöcker sind für
eine Frau gut entwickelt, die viereckigen Augenhöhlen
verhältnismäßig groß. Die Nasenöffnung ist von mäßiger
68
Größe, der Gaumen ist tief gewölbt, ein sehr kräftiger
Unterkiefer mit deutlichem Kinn vervollständigt die
steile l'rotilliuie. Das (lebiß war während des Lebens
bis auf den dritten, rechten, oberen Mahlzahu voll-
ständig. Die drei letzten Mahlzähne sind weniger ab-
gekaut als das übrige Gebiß, also noch nicht allzu
Fig. 4.
Hinterhauptsansicht der Krau von Obercassel, * o.
lange durchgebrochen. Der Zahnbogen ist paraboloid,
die Hinterhauptsansicht bildet ein schlankes und hohes
Pentagon, dessen obere Kante durch den hausdach-
ähnlichen Abfall der vorderen Hälfte der Seitenwand-
beine zu beiden Seiten der oflenen Pfeilnaht kiel-
ähnlich vorspringt. Die Kleinhirnausbuchtungen des
Hinterhauptsbeines sind beträchtlich.
Die übrigen Skelettknochen deuten auf einen zier-
lichen Körper von etwa 155 cm Länge.
Im Gegensatze zu diesem Schädel zeigt der bru-
tale Gesichtsschädel des Mannes durch seine Breite
und Niedrigkeit ein grobes Mißverhältnis zu der mäßig
breiten und etwas geneigten Stirne und dem gut ge-
wölbten Hirnschädel. Eine leichte, schon während des
Lebens vorhandene Verbiegung des Oberkiefers nach
rechts und das mangelhafte Gebiß machen die Phy-
siognomie noch abstoßender und lassen den Schädel
greisenhafter erscheinen , als er tatsächlich ist. Da
nur die Pfeilnaht und das an sie angrenzende Stück
der Lambdanaht verknöchert sind, darf man auf ein
Alter von 40 bis 50 Jahren schließen. Auch dieser,
in Scheitelansicht schön ovale , Schädel ist mit einem
Längen-Breitenindex von 74 dolichocephal. Seine größte
Länge beträgt 194, die größte Breite 144, die größte
Hohe 138. Der Horizontalumfang 552 mm. Die Kapa-
zität wurde auf etwa 1500 cm3 bestimmt. Die Über-
gesichtsbreite ist , abgesehen von dem breiten Ober-
kiefer, durch ein ungewöhnlich großes und breites
Jochbein eine sehr beträchtliche (153 mm). Die nie-
drigen rechteckigen Augenhöhlen sind stark nach
außen und unten geneigt, über ihnen fällt ein einheit-
licher etwa 8 mm breiter Oberaugenhöhlenwulst (Torus
supraorbitalis) auf. Ein niedriger mittlerer Stiru-
wulst zieht sich verbreiternd und verflachend bis zum
Scheitelpunkt. Die Nasenöffnung ist im Verhältnis
zur Gesichtsbreite schmal, der Gaumen, abgesehen von
der teilweisen Rückbildung seines Zahnfachfortsatzes
im Verhältnis zum übrigen Kiefergerüst auffallend
klein. Der nicht paraboloide Zahnbogen des sehr
kräftigen Unterkiefers hat die Form eines V mit ab-
gestumpften Winkeln , umfaßt den Oberkiefer von
außen und besitzt ein stark vorspringendes Kinn-
dreieck, abgerundete Winkel und einen sehr schwachen
Fortsatz für den Schläfenmuskel, der den nach ein-
wärts gebogenen Gelenkfortsatz nach außen kreuzt.
Im Oberkiefer waren während des Lebens nur noch
die beiden letzten stark nach auswärts gerichteten
Mahlzähne beiderseits und der linke Eckzahn vor-
handen. Im Unterkiefer sind während des Lebens
zwei Schneidezähne , nachträglich noch ein Schneide-
und ein Eckzahn ausgefallen. Sämtliche Zahnkronen
sind, wie man das vielfach auch an Gebissen noch
nicht seniler Schädel aus dem Quartär findet , bis auf
schmale Beste des Emails abgekaut. Das freiliegende
Dentin ist schwarz wie Ebenholz.
Zwei stark gewölbte Gelenkfortsätze flankieren
das große, etwas nach rückwärts gerückte Hinterhaupts-
loch. Die Profillinie des Gesichts ist zum Teil durch
Rückbildung des etwas prognathen Zahnfachfortsatzes
des Oberkiefers eine steile.
Fig. 5.
Schädel des Mannes von Obercassel, l/g. Das fehlende rechte
Jochbein und ein Teil des rechten Oberkiefers sind ergänzt.
Die starke Entwickelung sämtlicher Muskelfort-
sätze am Schädel und an den Extremitätenknochen
zeugt von ungewöhnlicher Körperkraft des etwa 160 cm
großen Mannes.
Der sehr auffallende Gegensatz zwischen beiden
Schädeln wird gemildert und verständlicher durch die
Tatsache, daß die derbe Modellierung beim Manne an
69
dem zarteren und kleineren weiblichen Schädel der-
selben Rasse stets abgeschwächt wird und daß dessen
Augenhöhlen verhältnismäßig größer sind. Beide
Obercasseler Schädel zeigen eine auffallende Gesichts-
breite, beide zeigen ziemlich steile Gesichter mit ein-
gezogener Nasenwurzel, beide eine gute Profilrundung
des Hirnschädels, beide lassen, wenn auch der Mann
in viel geringerem Grade , den Scheitelkiel erkennen.
Der bei der Frau nur augedeutete Stirnwulst erinnert
beim Manne zusammen mit dem Überaugenhöhlenwulst
an die Neandertalrasse. Das breite niedere Gesicht
des Mannes mit den niederen rechteckigen Augen-
höhlen, der schmalen Nase und dem V-förmigen Unter-
kiefer mit seinem ausgesprochenen Kinndreieck sind
dagegen bekannte Merkmale der Cro-Magnon-Rasse x).
Von dieser unterscheidet er sich aber ebenso wie
die Frau durch die Lage der größten Schädelbreite.
Diese liegt bei den Cro - Magnons im Bereiche ihrer
seitlich weit ausladenden Scheitelhöcker, bei den Ober-
casseler Schädeln dagegen im Bereiche der Schläfen-
schuppen über dem Warzenfortsatze , also wesentlich
tiefer und an einem ganz anderen Knochen. Diese
Lage der größten Breite und namentlich der bei der
Frau gut modellierte Scheitelkiel nähern die Schädel
dem ebenfalls einer Magdalenienschicht entstammenden
Schädel von Chancelade in der Dordogne. Außerdem
gleicht der Frauenschädel etwas in Vorderansicht dem
1909 ebenfalls in der Dordogne aus einer Aurignacien-
schicht durch Hauser und Klaatsch ausgegrabenen
Schädel von Combe-Capelle. Aber im Gegensatze zu
dem Schädel von Combe-Capelle mit seinem zapfen-
förmig vorspringenden Hinterhaupt ist das Hinterhaupt
der Frau von Obercassel halbkugelförmig abgerundet.
Die Obercasseler Schädel weisen also neben un-
verkennbaren, durch den Geschlechtedimorphismus
etwas verdeckten, Ähnlichkeiten auch nicht unbeträcht-
liche Abweichungen voneinander auf. Während der
Manu RasBezeichen der Neandertaler, der Cro-Magnons
und Anklänge an den Schädel von Chancelade zeigt,
die auch an dem Hirnschädel der Frau auffallen, treten
bei dieser die Cro-Magnon- Merkmale zurück. Der
Gesichtsschädel der Frau unterscheidet sich von dem
männlichen von Combe-Capelle im wesentlichen durch
das besser entwickelte Kinn und die beträchtlich
größere Winkelbreite des Unterkiefers. In beiden Ober-
casseler Schädeln kommen die sehr bemerkbaren Folgen
während des Diluviums stattgefundener Kreuzungen
zum Ausdruck. Das ist kaum überraschend. Die
Frage ist nur, zu welcher Zeit und wo sie stattgefunden
haben, sowie, ob die einstweilen nur nach verhältnis-
mäßig wenigen Funden getroffene Aufstellung dilu-
vialer Rassen auch alle damals tatsächlich vorhandenen
umfaßt, oder ob weniger Urrassen anzunehmen sind,
als man gegenwärtig meint, und wie hoch deren indi-
viduelle Variationsbreite zu veranschlagen ist. In
mancher dieser „Rassen" , wie z B. in dem zurzeit
recht weiten Begriff der Cro-Magnon -Rasse, scheint
mir vieles untergebracht zu werden . was ihr nicht
zugehört oder höchstens ,noch neben beträchtlichen
Abweichungen vereinzelte Anklänge an sie erkennen
läßt. Eine weitere Erörterung dieser Frage behalte
ich mir einstweilen vor.
Geologische Periode
Menschenreste
Kulturstufe
Jetztzeit
Heutige Menschenformen
jüngeres Neolithikum
Bandkeramik |
Schnurkeramik /
,„...,, .. ,,. x älteres Neolithikum
(Kjokkenmoddmger) |
s
Nacheiszeit
Würmeiszeit
III. Zwischeneiszeit
(jüngerer Löß)
Rißeiszeit
g f IL Zwischeneiszeit
H ] (älterer Löß)
•g Mindeleiszeit
« C I. Zwischeneiszeit
fe < (alte diluviale Sande)
3 [ Günzeiszeit
Skelette von La Madeleine,
Chancelade, Laugerie basse
und Obercassel
Skelette v. Brunn, Pfedmost,
Grimaldi, Combe Capelle,
Cro Magnon
Neandertalrasse
Unterkiefer von Mauer
Tertiär
Pliocän
Miocän
Eocän
Magdalenien
Solutreen
Aurignacien
Mousterien
Acheuleen
Chelleen
Strepyien
jüngeres Paläolithikum
älteres Paläolithikum
Archäolithikum
\ Eolithikum
; (hypothetisch)
x) So genannt nach dem ersten Fundort dieser Rasse unter dem Abri (Schutzdach) von Cro-Magnon im Vezevetal bei
Les Eyzies in der Dordogne.
*
70
IV. Über das geologische Alter der Fund-
stelle. Von G. Steinmann. Die geologischen Ver-
hältnisse der Fundstelle und ihrer Umgebung wurden
unter Mitwirkung des cand. geol.E.Stehn untersucht.
VorAnlagi de heul ;en Steinbruchs „im Stingenberg"
bildete die liabenlav an ihrem V n iprunge, dem so-
genannten Kuekstein, einen Steilabsturz , der durch
den Steinbruchsbetrieb fasl ganz beseitigt ist. Am
Fuße dieses früheren Steilabsturzes befindet sich die
Fundstelle in einer Meereshöhe von 99m über dem
Meere. Folgendes Profil wurde durch die Weganlage
aufgeschlossen (von oben nach unten):
etwa 0,5 in Abraum des Steinbruchs und Humus-
decke ;
etwa 6m ungestörter Gehängeschutt, aus mehr
der minder verwitterten Blöcken und Brocken von
Ilasalt, untermischl mit Basaltton. Lößmateria] fehlt
darin (und darüber) durchaus, dagegen fanden sich
einige Gerolle aus (juarz, die aus der Hauptterrasse
von der Höhe des Kucksteins herabgerollt oder -ge-
schwemmt sind. An der Basis dieses Gehängeschutt-
lagers fanden sich die Skelette und Beigaben , sowie
ein Eckzahn vom Renntier und ein Bo videnzahn,
in einer rötlichen Kulturschicht auf und in
0,1 m sandigem Lehm. Darunter folgen
bis 4 m mächtiger graugelber Rheinsand. Dieser
Sand gehört der Hochterrusse des Rheins an ; er findet
sich in gleicher geologischer Stellung an mehreren
Punkten der Umgebung;
1 m anstehender Basalt , in die Tiefe fortsetzend,
oberflächlich tonig zersetzt.
In der Fortsetzung der rotgefärbten Kulturschicht
gegen die Basaltwand zu wurden ferner gefunden : ein
rechter Unterkiefer vom Wolf, ein Zahn vom Höhlen-
bären und Knochen vom Reh, sowie Holzkohle,
die einigen Knochen anhaftete.
Für die Altersbestimmung sind außer den paläon-
tologischen Funden , die bestimmt auf ein diluviales
Alter hinweisen, folgende Tatsachen von Wichtigkeit.
Das gänzliche Fehlen von Löß auf und im Gehänge-
schutte beweist , daß die Kulturschicht jünger ist als
der Löß. Damit ist ein Aurignacien- Alter ausge-
schlossen , da diese Kultur in die Lößzeit fällt. Es
kann sich also nur um eine nachlössische Kultur han-
deln, um Solutreen oder Magdalenien. Da Solutreen-
Kulturen bis jetzt am Niederrhein noch nicht bekannt
geworden , Magdalenien - Kulturen dagegen mehrfach
vorhanden sind, so spricht die Wahrscheinlichkeit für
Magdalenien.
Die bedeutende Mächtigkeit des Gehängeschuttes,
der die Kulturschicht bedeckt, läßt sich dahin deuten,
daß auf die Bildung der Kulturschicht noch ein be-
trächtlicher Teil der letzten Eiszeit folgte, während
dessen der Gehängeschutt entstand.
In der Sitzung vom 21. Juli 1914 sprach Herr
Prof. Hübner über „Kriminalpsychologisches
und Anthropologisches aus der Polizeiwissen-
schaff.
Der Zweck des Vortrages liegt darin, zu zeigen,
daß sich die Polizeiwissenschaft ebenso wie die gericht-
liche Medizin. Psychologie und Psychiatrie naturwissen-
schaftlicher Methoden bedient.
Vortragender bespricht die Gewinnung von Fuß-
und Fingerabdrucken, das Bertillonsche System und
das „Gedächtnisbild".
Ausführlicher geht Vortragender auf die psycho-
logischen Probleme ein.
Zunächst zeigt er an einfachen Experimenten, die
er in seinen Vorlesungen ausgeführt hat, daß die
Wiedergabe von frühereu optischen und akustischen
Eindrücken auch von Gebildeten nur ungenau erfolgt.
So hat Hübner z. B. an ein Auditorium von 50 Stu-
denten sechs Fragen über den Bonner Bahnhof (Zahl
der (ieleise und Bahnsteige, Ausgänge, Anordnung der
Briefkästen usw.) gerichtet. Er erhielt bei einzelnen
Fragen (Ausgänge) bis zu 50 Proz. falscher Angaben.
Es wurde dann die Rolle der Intelligenz und der
Phantasie bei der Verarbeitung schnell ablaufender
Vorgänge besprochen. Hübner hat intellektuell tief
stehenden Versuchspersonen und Hysterischen einfache
Handlungen mit Hilfe deB Kinematographen vorgeführt
und sie dann zu einer Beschreibung des Gesehenen
veranlaßt. Bei den schwach Beanlagten zeigte sieh,
da Li das (iesehene nur unvollständig wahrgenommen
und durch eigene Erfindungen ergänzt wurde. Einzelne
Hysterische brachten phantastische Erzählungen vor,
die mit dem wirklich Vorgeführten zum Teil kaum
noch in Zusammenhang standen.
Zum Schluß bespricht Hübner die Assoziatious-
experimente zur Psychologie der Aussage und streift
die Psychologie der Spezialisten des Verbrechertums.
In der Sitzung vom 1. Dezember 1914 sprach Herr
Prof. MaxVerworn mit Rücksicht auf das Interesse,
das die Sinaihalbinsel durch die Ausdehnung des
Krieges auf jene wenig bekannten Gegenden augen-
blicklich gewonnen hat, auf Grund seiner in den Jahren
1890/91 und 1894/95 ausgeführten Studienreisen über
„Land und Leute der Sinaihalbinsel".
Die eigentliche Sinaihalbinsel wird begrenzt im
Westen durch den Golf von Suez, im Osten durch den
Golf von Akaba und im Norden durch eine Ver-
bindungslinie zwischen den beiden einzigen Städten,
die an ihrem Rande liegen , Suez und Akaba , eine
Verbindungslinie, die zugleich die wichtige, alte Pilger-
straße der über Suez nach Mekka ziehenden Karawanen
vorstellt. Weiter nach Norden erstreckt sich die weite,
südlich steil nach der Sinaihalbinsel hin abfallende
Wüste Et Tih , die im Westen vom Suezkanal , im
Osten durch die von Akaba aus nach dem Toten Meer
hinaufziehende Einbruchsrinne abgegrenzt wird. Um-
geben ist die Küste der Halbinsel von Korallenbänken,
die namentlich im Süden zu einigen vollkommen öden
Koralleninseln sich erhoben haben. Das ganze Gebiet,
die „Arabia petraea" der Alten stellt ein echtes Wüsten-
gebiet vor und gehört zu den wasser- und vegetations-
ärmsten der ganzen Erde. Rotleuchtende, scharf-
geschnittene Bergketten des Urgebirgsstockes ziehen
unter dein türkisblauen Himmel durch die Mitte der
Halbinsel nach Süden. Steile, von nackten Felsen ein-
geengte Wädis führen in labyrinthartigen Windungen
von den sonnendurchglühten Bergkuppen nach Westen
hinab in die offene Sandwüste El Käa, wo sie sich
verbreitern und in ihren flachen Ausläufern vielfach
bis ans Meer erkennbar bleiben. Nur an wenigen
Orten in den Wädis finden sich kleine Wasserstellen,
die durch spärliche, im Winter fallende Regengüsse
erhalten werden. An solchen Stellen , wie z. B. im
Wädi Feirän, in dem die Ruinen der alten römischen
Wüstenstadt Pharan, des Schauplatzes von Ebers' „Homo
suin". gelegen sind, gedeiht überall, wo der Boden mit
Wasser und Sonnenglut sich mischt, eine überaus
üppige Vegetation. Weiter unten, wo das Wasser im
Boden versiegt , beginnt aber haarscharf abgegrenzt
wieder die öde, von sengenden Sonnenstrahlen durch-
glühte Wüste.
71
Die Bewohner der eigentlichen Siuaiwiiste sind
die Towära - Beduinen , die sich in etwa 12 Stämme
gliedern. Indessen diese Stämme sind klein und um-
fassen durchschnittlich nicht mehr als 100 bis
200 Männer. Sämtliche Towära-Stämme sind Nomaden
und leben von Viehzucht und Jagd. An der Küste
hält sich aber auch immer eine Anzahl von Familien
auf, die sich durch Fischfang ernähren, der, wenn
auch von den Beduinen mit sehr primitiven Mitteln
(z. B. kleinen Wurfnetzen , großen , an langer Leine
hinter dem schnellsegelnden Boote her geschleiften
Angelhaken usw.) betrieben , doch wegen des großen
Fischreichtums des Roten Meeres sehr ergiebig ist.
Eine der wichtigsten Einnahmequellen aber ist für
die Towära-Beduinen die Führung der Pilgerkarawanen
zum und vom Sinaikloster im zentralen Hochgebirge
der Halbinsel, und vor allem auch der Seeraub. Das
Recht der Karawanenführung nehmen zwei Stämme
für sieh in Anspruch, die Allegät und die Sawalche,
die sich als die Herren der Sinaihalbinsel betrachten,
und nach ganz bestimmten, durch die Tradition ge-
heiligten Gesetzen, die den Europäer höchst sonderbar
anmuten , den Gewinn teilen. Der Seeraub wird im
großen betrieben, sobald ein größerer Handelsdampfer
auf eine der zahllosen Korallenriffe im Süden der
Halbinsel aufgelaufen ist. Dann strömt es von allen
Seiten in Fischerbooten herbei und unter dem Vor-
wand retten zu helfen , raubt man alles , was irgend
beweglich ist und einigen Wert hat, und scheut auch
vor Mord und Todschlag nicht zurück. Von dieser
Seeräuberei finden sich die seltsamsten Spuren weit
durch die Wüste hin verbreitet in den verschiedenen
Zeltlagern der Towära-Stämme. Kabinenlaternen,
Weckeruhren, Regenschirme, Teller, Taschentücher usw.
findet mau gelegentlich in trostlosem Zustande im
Besitz der Leute.
Die Verfassung der einzelnen Stämme ist eine
vollkommen demokratische. Der Schech eines jeden
Stammes hat lediglich als Sprecher und Vertreter des
Stammes bei Verhandlungen und im Kriege mit anderen
Stämmen zu dienen, genießt aber im übrigen keinerlei
Vorrechte vor den anderen Männern, ja wird sogar
nicht einmal höher geachtet. Die Gesamtheit der
Stämme wird vertreten durch einen von allen aus den
angesehensten Leuten gewählten Schech aller Sinai-
beduinen, der nur die Gesamtinteressen der Towära-
Stämme anderen Völkern, vor allem den Ägyptern
gegenüber, wahrzunehmen hat. Geschriebene Gesetze
existieren nicht. Alles ist Tradition , die man aber
ungeheuer konservativ festhält. So herrscht noch
immer das Gesetz der Blutrache. Bei den weiten
Entfernungen und den Schwierigkeiten der einzelnen
Stämme, miteinander in Verhandlungen zu treten,
schweben einzelne Fälle oft viele Jahre lang. Recht-
liche Streitigkeiten entwickeln sich fast immer um
das Recht der Karawanenführung und die Teilung des
Gewinnes. Aber es geht auch kaum eine Führung
ohne diesen üblichen, bis zur Leidenschaft gesteigerten
Streit ab. Diebstahl kommt fast niemals vor, da so
schwere Strafen darauf stehen , daß der Dieb für sein
Leben ruiniert wäre.
Die Religion folgt dem Islam ohne Fanatismus.
Die durch und durch fatalistische Weltauffassung des
Islam erhält den Beduinen bedürfnislos und das ist
seine wichtigste Lebensforderung , denn zunehmende
Bedürfnisse würde er in der Wüste nicht erfüllen
können. So charakterisiert das ganze Beduinenleben
ein äußerster Konservativismus. Wie sieh die äußeren
Lebensbedingungen , für die Mohammed einst seine
Religion in eklektischer Weise geschaffen hat, seit
jenen Tagen nicht im geringsten verändert haben,
so sind auch die Lebensverhältnisse und die An-
schauungen der heutigen Beduinen noch genau die-
selben, wie zu Mohammeds Zeit, und der Islam bleibt
die beste Religionsform für diese Stämme, solange
ihre Weltabgcschlossenheit in dem Wüstenmilieu sich
nicht ändert. Der Fatalismus erhält die Leute zu-
frieden und verhindert, daß sie je wirklich unglücklich
werden.
Die Stellung der Frau ist eine eigenartige. Die
Frau wird gekauft. Ist die „Fantasia", welche das
Hochzeitsfest bildet , vorüber , so hat auch die Frau
de facto die Herrschaft übernommen, die sie, gestützt
durch die eng zusammenhaltende Gesamtheit der Frauen
des Lagers, auch rückhaltlos für die Erreichung ihrer
Ziele ausübt. Der Mann erfüllt ihr , wenn auch oft
erst nach langwierigen Verhandlungen, fast ausnahms-
los ihre Wünsche, besonders hinsichtlich des Schmuckes
und der Süßigkeiten , sonst macht sie ihm den Auf-
enthalt im Lager zur Hölle. Erst wenn die Zeichen
des Alters ihre Reize verdrängen, kehrt sich das Ver-
hältnis um, und die Frau wird nicht selten verstoßen.
Sehr primitiv sind die medizinischen Vorstellungen
der Towära - Beduinen. Es herrscht die unklare Auf-
fassung, daß die gleiche Medizin gegen alle möglichen
Krankheiten helfen könne , indem die AVirkung einer
Medizin eben darin besteht, daß sie den kranken Men-
schen gesund macht. Dennoch wendet man gelegentlich
für einzelne Krankheiten spezielle Mittel an , so z. B.
Schießpulver und Hammeltalg als Augensalbe, Kaffee-
satz als Wundpflaster, Brennen mit glühendem Eisen
gegen Gliederschmerzen usw. Eine wichtige Rolle
spielen die Teufelsaustreibungen mit seltsamen Zere-
monien, denn viele Krankheiten werden als Besessen-
heit durch böse Geister aufgefaßt. Zu der Anschauung
des Islam, daß alles, was geschieht , nur durch Allahs
Willen geschieht, daß alles, was Allah will, gut ist,
und daß man nichts gegen den Willen Allahs tun darf,
erblickt man in der Anwendung von Mitteln zur Be-
seitigung einer Krankheit keinen Widerspruch , denn
wie ein Beduine, den der Vortragende in diesem
Punkte einmal ausforschte, ihm sagte, will Allah zwar,
daß den Menschen diese oder jene Krankheit befällt,
aber er hat auch diesen oder jenen Menschen zu
einem „Hakim" (Arzt) gemacht, damit dieser die
Krankheit heilen kann.
Der Vortragende schloß mit der Schilderung einiger
Reisen und Reiseerlebnisse in der Wüste und im Ge-
birge und begleitete seine Darstellung mit zahlreichen
Lichtbildern selbstaufgenommener Photographien von
Land und Leuten am Sinai.
In der Hauptversammlung der Anthropologischen
Gesellschaft in Bonn am 2. Februar 1915 berichtete
der Vorsitzende Herr Geheimrat Verworn über das
abgelaufene Geschäftsjahr folgendes : Die Zahl der
Mitglieder betrug zu Beginn des Jahres 1914 114, sie
sank auf 112. In den sechs Sitzungen des verflossenen
Jahres wurden acht Vorträge aus den verschiedenen
Gebieten der Anthropologie gehalten. Herr Bank-
direktor Steinberg erstattete sodann den Kassen-
bericht. Die Prüfung der Rechnungen wurde von
Herrn Prof. Sehöndorff vorgenommen, dem Herrn
Kassenführer Entlastung erteilt. Die Wiederwahl des
Vorstandes wurde gemäß einem Antrage aus der Ver-
sammlung durch Akklamation vorgenommen.
72
Sodann sprach Herr Prof. Dr. E. Küster über
„Zauber pflanzen".
Der Vortragende leitet seine Ausführungen mit
einem Hinweis auf die Schwierigkeiten ein, die einer
befriedigenden Definition der Begriffe Zauber, Zauber-
kunst, Zauberpflanzen im Wege stehen. Die Zauber-
püanzeu sind diejenigen Nutz- oder Schadenpflanzen,
von welchen man sieh Wirkungen verspricht, die nicht
eintreten können, weil ihr Eintreten den Natur-
gesetzen widersprechen würde — bzw. von welchen
man bestimmte Wirkungen erhofft, obwohl diese im
Widerspruch zu den bekannten Naturgesetzen stehen
wurden. Schwierigkeiten in der Definition ergeben
sich schon daraus, daß die Kenntnis der Naturgesetze
zu verschiedenen Zeiten verschieden war — zur Zeit
des „Steins der Weisen" eine andere als in unseren
Tagen — und auch heute sehr viele Erscheinungen
noch nicht auf hinreichend erforschte gesetzmäßige Zu-
sammenhänge zurückgeführt werden können. Schließ-
lieh rechnet man ja überall da, wo man eine Wirkimg
erwartet, die nicht eintritt, mit der Möglichkeit einer
Wirkungsweise, die den Naturgesetzen widerspricht.
Die Zahl der Pflanzen, die aus verschiedenen Zeit-
altern und Kulturkreisen als Zauberptianzen uns be-
kannt sind, ist außerordentlich groß. Der Vortragende
will versuchen , einige allgemeine Gesichtspunkte zu
erläutern, nach welchen jene betrachtet werden können.
1. Wodurch kamen die als Zauberpflanzen
bekannten Gewächs e in den Huf besonderer
Kraft?
Zunächst durch ihre absonderlichen äußeren, for-
malen Eigenschaften , welchen auch eine besondere
innere Kraft zu entsprechen schien : die Alraune steht
wegen der menschenähnlichen Gestaltung ihrer Wurzel
im Ruf der Zauberpflanze: — Dudaim des alten Testa-
ments; „Moly" bei Homer; Ortus sauitatis (XV. Jahrh.),
Goethes Faust (II). — Der Allermamisharnisch (Allium
victorialis, Gladiolus palustris) wird wegen seiner
panzerartig genervten Zwiebelblätter mit einem Har-
nisch verglichen , und hieraus wird seine Kraft abge-
leitet, gegen Stich und Stoß zu schützen : — Signaturen-
lehre. — Viele pflanzenpathologische Erscheinungen
sind dem Volk als wunderliche Anomalien bekannt und
werden in Beziehung zu überirdischen Kräften ge-
bracht: Hexenbesen, Honigtau, Galleubildungen, Bede-
guare, Misteln. - - In anderen Fällen sind es der
besonders auffällige Geruch (Ruta, Laurus) oder un-
gewöhnlich gefärbte Säfte (Chelidonium) oder andere
wirkliche oder vermeintliche Abweichungen vom All-
täglichen, welche das Urteil des Volkes begründeten :
die unverfängliche Weide wurde vielleicht dadurch
zum Zaubergewächs, daß ihr seit den Zeiten des Ari-
stoteles die Fähigkeit zum Blühen abgesprochen wurde.
— Daß Eigentümlichkeiten der äußeren Form und
ähnliches in Verbindung mit dem Jenseits, mit Mächten
oder Gestalten der Heiligen Schrift gebracht werden,
finden wir beim Teufelsabbiß , beim Salomonssiegel,
dem Johanniskraut- u. a. m. In anderen Fällen genügt
die Herkunft der Pflanzen aus dem heiligen Lande.
In allen diesen Fällen liegt dem Zauberglauben eine
morphologische , anatomische , pflanzengeographische
Beobachtung zugrunde. Bei einer weiteren Reihe von
pflanzlichen Zaubermitteln wird von der Pflanze und
ihren Eigenschaften ganz abgesehen ; ein in der Stube
erdachtes System bringt die Pflanzen — auf Grund
des Anfangsbuchstabens ihres Namens — in Bezie-
hungen zu Planeten, zu Edelsteinen u. a., deren Wir-
kungen die ihnen beigesellte Pflanze übernimmt.
2. Was leisten die Zauberpflanzen? Außer-
ordentlich groß ist die Zahl der Pflanzen, die apo-
fropäiache Wirkung haben: Krankheit, Verwun-
dung, Diebe, Liebesgram, Hungersnot, Blitz, Ungeziefer,
aber auch Zauberübel, wie Verhexung und bösen Blick
hält man sich durch die Zauberpflanzen fern. Man
schützt durch sie sich selbst, die Angehörigen, das
Vieh, das Haus, indem man das Zaubermittel an der
l'nr anbringt, auf dem Leibe trägt, im Garten ver-
scharrt, auf dem Dache pflanzt, an der Uhrkette be-
festigt oder in den Schlot hängt. Viele hundert Pflanzen
ließen sich namhaft machen, die als Apotropaia ein-
mal empfohlen worden sind. Eingehend erläutert wird
die Wertschätzung des Sempervivum tectorum als
Hausschutzgeist und Familienorakel (Capitulare Karls
des Großen).
Die bekannteste Sage, die zauberische Trans-
mutation zum Gegenstand hat, ist die des Königs
Midas. Auch viele Pflanzen sind seit dem Altertum
zur Transmutation eines Stoffes in einen anderen oder
auch zu inneren seelischen Wandlungen benutzt worden :
Alchemilla und Botrychium dienten zur Goldfabri-
kation. Verbena verwandelt Eisen in Stahl. Magische
Assimilation ist der Vorgang, bei welchem das
Zaubermittel und das von ihm beeinflußte Objekt ein-
ander ähnlich werden. Entweder der Mensch oder
irgend ein Gegenstand werden dem Zaubermittel ähn-
lich — Chelidonium bzw. sein gelber Saft macht wert-
loses Material zu Gold, eine bei Plinius genannte fabel-
hafte feurig rote Pflanze steckt alles in Brand usw.
— oder die Zauberpflanzen machen sich dem Menschen
ähnlich, nehmen sein Ungemach auf sich und befreien
ihn von seinen Übeln (Artemisia vulgaris).
Die lösende Kraft der Zauberpflanzen offen-
bart sich in der Wirkung der „Springwurzel" gegen-
über Schlössern aller Art: Salomo sprengte die Felsen
beim Tempelbau mit Salomonssiegel und ähnliches
mehr.
Der L i e b e s z a u b e r schließlich, den Bry onia, Lilium
eandidum, Phallus impudicus (Signaturenlehre!) u. a.
ausüben, gewinnt das Herz eines Jünglings oder Mäd-
chens denjenigen, die die Kräfte der Zauberpflanze
zu gebrauchen verstanden.
3. Unter welchen Bedingungen äußern die
Zauberpflanzen ihre Kraft? Vor allem müssen
sie sachverständig gewonnen werden (Schweigen beim
Sammeln, Kreuzweg, Johannisnacht, Vollmondschein,
l'lanetenstellung) ; beim Gewinnen der Zauberpflanze
ist ein Zauberwort oder Zauberspruch zu sprechen.
Vor allem aber ist schließlich das Zaubermittel auf
das richtige Objekt anzuwenden: das Wissen der mit
ihm Behandelten ist bedeutungsvoll (Faust: Hexen-
küche). Den Ursprung der Zeremonien , die beim
Sammeln beachtet sein wollen, sieht der Vortragende
in der Geheimniskrämerei der berufsmäßigen Zauberer
und Medizinmänner, andererseits in dem Bedürfnis,
Mißerfolge bequem erklären und auf ungenügende
Beachtung der Zeremonien zurückführen zu können.
In anderen Fällen mögen wohl auch richtige Beob-
achtungen — über den Einfluß des Wetters auf die
Heilkraft gewisser Pflanzen usw. (Rhizotomen!) — zu
allerhand krausen Zeremonien ausgebaut worden sein.
Der Vortragende schließt mit einigen Worten
über die Industrialisierung des Zauber wesens:
Handel mit Zauberpflanzen, künstliche Herstellung be-
sonders auffällig geformter Alraune, Zucht der Zauber-
pflanzen, sogenannter vierblätteriger Klee im Blumen-
handel usf.
73
In der Sitzung am 23. November sprach Herr
Prof. C. Giemen über Reste der primitiven Religion
im ältesten Christentum. Der Vortragende erinnerte
einleitend daran, daß die religiousgeschichtliche Be-
trachtung des Christentums und seiner Vorstufe, der
israelitisch- jüdischen Heligion, zuerst auf Analogien
aufmerksam gemacht habe, die jene Religionen zu
anderen zeigten, daß diese Analogien manchmal so
frappant gewesen seien, daß sich die Frage aufgedrängt
habe, ob hier nicht Christen- tiud Judentum von anderen
Religionen abhängig seien , daß aber auch mit der
Zurückfühvuug auf solche manche jüdische oder christ-
liche Anschauung oder Einrichtung deshalb noch nicht
erklärt sei, weil sie — ebenso wie manches in dem
sonstigen Juden- und Christentum — in Wahrheit aus
der sogenannten primitiven Religion stamme. Das sei
für das Judentum vielfach anerkannt, weniger dagegen
naturgemäß für das Christentum ; es solle also für dessen
älteste Stufe, das Neue Testament, einmal an einigen
Beispielen nachgewiesen werden.
So wurde zunächst gezeigt, welche Spuren die
verschiedenen Gegenstände des religiösen Glaubens
der Primitiven im ältesten Christentum hinterlassen
haben. Die Verehrung von Fetischen, speziell Steinen,
wirkt in der Offenbarung Johannis insofern nach, als
nach 2, 17 dem Überwinder ein weißer Stein gegeben
werden soll, wie das in Neusüdwales bei der Pubertäts-
weihe üblich ist, und daß nach 21, 19 die Grundfesten
des himmlischen Jerusalems mit Edelsteinen geschmückt
sein werden, die ursprünglich als mit besonderen Kräften
ausgerüstet gelten. Ähnlich klingt hier und da noch
die Verehrung der Elemente im populären Sinne des
Wortes (Feuer, Wasser, Luft und Erde) an, sowie
diejenige des Himmels und der Himmelskörper, der
Pflanzen und Tiere. Auch der Herrscherkult, der
manche Aussagen über Christus beeinflußt hat, geht
auf primitive Anschauungen zurück, noch mehr die
übermenschliehe Schätzung der Toten, die in der Notiz,
der gerasenische Besessene habe sich in den Gräbern
aufgehalten, nachwirkt, sowie der sonstige Geister-
glaube, der an zahlreichen Stellen des Neuen Testa-
ments vertreten wird.
Von dem religiösen Verhalten der Primitiven
klingt zunächst die Magie noch in manchen altchrist-
lichen Ausdrücken und Vorstellungen nach, z. B. in
der Redewendung: mit dem heiligen Geist oder iu
Christus taufen, d. h. untertauchen, in seinem Namen
Wunder tun usw. Der Kult wirkt in seiner spezifisch
primitiven Gestalt nicht nach; wohl aber geht es in
letzter Linie auf solche Anschauungen zurück, wenn
manchmal neben dem Gebet das Fasten genannt wird.
Und ebenso stammt endlieh der Glaube wenigstens
an gewisse Vorzeichen, die die Gottheit den Menschen
gibt, damit sie sich danach richten, schon aus jener Zeit.
Sind es vielfach nur Ausdrücke oder Nebensachen,
die sieh so erklären, so hat doch auch diese Erkenntnis,
sofern jene uns nicht mehr verständlich oder annehmbar
sind, etwas Befreiendes. Namentlich aber müssen alle
einer überwundenen Vorstelluugsschicht angehörigen
Anschauungen aufgegeben werden, wenn man durch
Verkündigung des Christentums andere Völker auf eine
höhere Stufe heben will. Und am wenigsten darf man
Primitiven dasjenige predigen, was in Wahrheit Hin-
ein Rest der primitiven Religion im Christentum ist.
Literaturbesprechungen.
C. B. Klunzinger: Erinnerungen aus meinem
Leben als Arzt und Naturforscher zu
Koseir am Roten Meer. 8°. 89 S. mit
15 Abb. Würzburg, C. Kabitzseh, 1915.
Gerade recht kommen jetzt, wo das Rote
Meer wegen des Kampfes der Türkei mit den
Engländern erhöhtes Interesse beansprucht, die
Erinnerungen C. B. Klunzingers an seineu
jahrelangen Aufenthalt am Roten Meer.
Wir werden bekannt gemacht mit den
Schwierigkeiten, mit denen der deutsche Arzt
und Naturforscher dort zu kämpfen hatte, wie
er es aber trotzdem verstanden hat, sich bei
der Bevölkerung' beliebt zu machen.
Reiche Ausbeute an zoologischem und bota-
nischem Material erhielten vor allem deutsche
Museen. Rassenanatomisches und rasseupatho-
lo^isches Material zu sammeln, war ihm we^n
der religiösen Anschauungen des Volkes nicht
möglich, dagegen hat er mit offenen Augen
die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen
beobachtet und, abgesehen von Aufsätzen in
verschiedenen Zeitschriften (Ausland, Globus),
eingehend iu seinem Werke „Bilder aus Ober-
ägypteu, der Wüste und dem Roten Meere"
(Stuttgart 1877) beschrieben.
F. Birkner.
74
Außerordentliche Allgemeine Versammlung
der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft
in Hamburg, am 18. Oktober 1915.
Geschäftliche Verhandlungen:
Nach der Satzung muß alljährlich eine Vorstandswahl stattfinden. Da im Jahre 1914 und
auch im laufenden Jahre allgemeine Versammlungen mit wissenschaftlichen Verhandlungen nicht
stattfanden, beschließt die Versammlung den im Jahre 1913 in Nürnberg gewählten Vorstand
wiederzuwählen. Demnach besteht der Vorstand für 1916 aus folgenden Herren:
Ehrenvorsitzender: Geh. Hofrat Prof. Dr. J. Ranke -München,
1. Vorsitzender: Prof. Dr. A. Kr am er- Stuttgart,
1. Stellvertretender Vorsitzender: Prof. Dr. R. Beltz-Schweriu,
2. Stellvertretender Vorsitzender: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. H. Virchow-Berliu.
Generalsekretär: Prof. Dr. G. Thilenius-Hamburg,
Stellvertretender Generalsekretär: Prof. Dr. E. Fischer-Freiburg i. Br.
S(-hatzm"eister: Prof. Dr. K. Hagen -Harnburg.
Der Generalsekretär
T h i 1 e n i u s.
Zum Gedächtnis.
Im Jahre 1915 hatte die Gesellschaft den Verlust zweier hervorragender Mit-
glieder zu beklagen. Am 27. Februar 1915 starb im Alter von 52 Jahren
Professor Dr. Eberhard Fraas,
Konservator an der geologischen Abteilung des Kgl. Naturalienkabinetts in Stuttgart.
Er war ein eifriger Teilnehmer der allgemeinen Versammlungen, die stets gerne
seinem nüchternen, vornehmen Urteil in allen Grenzfragen der Geologie und Prä-
historie folgten.
Am 30. Juni 1915 starb im Alter von 66 Jahren
Hofrat Dr. med. Alfred Schliz,
Vorstand des Historischeu Vereins in Heilbronn.
Die Deutsche Anthropologische Gesellschaft verliert in ihm einen verdienten Vor-
sitzenden, die Wissenschaft einen gedankenreichen Forscher auf dem Gebiete der
Schädellehre und einen treuen Pfleger der Vorgeschichte seiner schwäbischen Heimat.
Das Andenken der beiden zu früh von uns geschiedenen württembergischen
Forscher wird in unserer Gesellschaft nie verlöscben.
Reklamationen und sonstige Mitteilungen
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. K. Hagen, Hamburg 13, Binderstraße 14, zu senden.
Ausyeyeben am 31. Dezember 1915.
Korrespondenz-Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg
XLVII. Jahrgang- 1916
Braunschweig
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Solin
19 16
Inhalt des XL VII. Jahrganges 1916.
Seite
Nr. 1 bis 3. Nachruf. Hermann Klaatseh 1
Emil Fischer, Wer waren die minoischen Kreter V 5
Bärthold. Eine Ergänzung der Mustertafel 9
.Mitteilungen aus den Lokalvereiuen:
Bonner Anthropologische Gesellschaft 11
Literaturhesprechungen iy
Nr. 4 bis G. Nachruf. Gustav Schwalbe 15
Jahresbericht der Cölner Anthropologischen Gesellschaft l!l
Sitzung der Anthropologischen Sektion der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg 30
Bärthold, Ein Gebiet der Vorgeschichte, das der Orient beleuchtet 31
Literaturbesprechungen 33
Nr. 7 bis 0. Nachruf. Johannes Ranke 35
F. Birkner, Die Vorgeschichte Bulgariens 41
C. Mehlis, Mesolithische Stationen vom Donnersberge und aus der Vorderpfalz 47
C. Mehlis, Ein Nephrithammerfragment in Bad Dürkheim 49
Rechenbach, Ausgrabungen in Gr.-Platon 50
Literaturbesprechungen 59
Nr. 10 bis 12. Sigmund Feist, Archäologie und Indogermanenproblem Gl
A. J. P. v. d. Broek, Zur Frage der willkürlichen Beeinflussung der kindlichen Schädelform ... 68
E. Werth, Neue Paläolithfunde in Norddeutschland 70
E. Werth, Hausers Micoquien 71
C. Mehlis, Der Urtypus der Schmalhacke 72
Bärthold, Von den Steingeräten der Völkerschaften in Sachsen-Thüringen 75
Korrespondenz- Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Druck und Verlag von Fried r. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
XLVII. Jahrg. Nr. 1/3. Jährlich 12 Nummern. Jan./Mäi'z 1916.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw. tragen die wissenachaftl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren ; s.S. 16 des Jahrg. 1894.
Inhalt: Hermann Klaatsch f. — Wer waren die minoischen Kreter? Von Dr. Emil Fischer. — Eine
Ergänzung der Mustertafel. Von Bärthold. — Mitteilungen aus den Lokalvereinen: Bonner Anthro-
pologische Gesellschaft. — Literaturbesprechungen.
Hermann Klaatsch f.
Der Beginn des neuen Jahres hat der anthropologischen Wissenschaft einen schweren
Verlust gebracht und unsere Gesellschaft eines ihrer eifrigsten Mitglieder beraubt: Am
5. Januar verstarb plötzlich zu Eisenach der außerordentliche Professor der Anatomie,
Anthropologie und Ethnologie an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Dr.
med. et phil. Hermann Klaatsch, im 53. Lebensjahre.
Klaatsch entstammt einer alten Berliner Arztfamilie, und schon den Schüler be-
herrschten ausgesprochen naturwissenschaftliche Neigungen; als sechsjähriger Junge wird
er unter den Donatoren des damals neu errichteten Berliner Aquariums genannt, dem er
einige im Harz gesammelte Molche schenkte, und in den siebziger Jahren gründet er
einen naturwissenschaftlichen Schülerverein, in dem er klar und anschaulich über astro-
nomische, biologische, zoologische Dinge sprach. Seine Studienzeit begann er in Heidel-
berg, wo ihn von Anfang an der Anatom Gegenbau r fesselte; später siedelte er nach
Berlin über und wurde 1883 noch als Student Assistent am Anatomischen Institut unter
Waldeyer. 1888 kehrte er als Assistent Gegenbaurs nach Heidelberg zurück. Er
habilitierte sich 1890 für Anatomie und wurde 1895 außerordentlicher Professor für
Anatomie in Heidelberg. Von hier aus unternahm er 1904 seine Forschungsreise zur
Untersuchung der Eingeborenen Australiens, die ihn auch nach Tasmanien und Java
führte. Bei der Rückkehr im Jahre 1907 erhielt er den Ruf an die Breslauer Universität,
an der er auch Kustos der anatomischen Sammlung und Direktor des anthropologischen
Instituts wurde.
Wer die zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten überblickt, < lie Klaatsch veröffent-
lichte, wird leicht zwei Perioden erkennen. In iler ersten behandelt er vergleichend-
anatomische Themata, vor allem Krauen nach der morphologischen Bedeutung der Haut
und ihrer Organe, auch des Skeletts. (Jleich vielen anderen Anatomen der achtziger
und neunziger Jahre gehörl er zu Gegenbaurs Schule, und von der vergleichenden
Anatomie her tat Klaatsch den Schritt zur Anthropologie, der seine Arbeit von 18'JII
ab galt. Auf der Allgemeinen Versammlung der Deutschen Anthropologischen Gesell-
schaft in Lindau erscheint er zum erstenmal als Vortragender, sein Thema ist: „Die
Stellung des Menschen in der Primatenreihe und der Modus seiner Hervorbildung aus
eiuer niederen Form." Es war die Zeit, da der Pithecanthropus erectus Duhois die
Kraue Dach dem „missing link" neuerdings in den Brennpunkt rückte, und in diese Er-
örterung warf Klaatsch den Satz: „Der Mensch ist eine primitive Primatenform, die
Primaten sind eine primitive Mammalierform", einen Satz, den er gleich darauf im Globus
noch erläutert: „Nicht zwischen Anthropoiden und dem Menschen, nicht zwischen irgend
einem jetzt lebenden Affen und dem Menschen ist das Bindeglied zu suchen, sondern
vom niedersten Primatenzustande aus . . . ist die Brücke zu schlagen." Die Untersuchung
des Gebisses, der Greifhand und des Greiffußes hatten den vergleichenden Anatomen
zu diesem Ergebnis geführt, der die ihm längst vertraute morphologische Betrachtungs-
weise nun auf den Menschen anwandte. Der Vortrag, den die große rednerische Be-
gabung und die ehrliche Überzeugung Klaatschs besonders wirksam machten, hatte einen
unerwarteten und für den Vortragenden selbst überraschenden Erfolg: hier stießen neue
Gedankengänge hart auf alte, eine Vermittelung war zunächst ausgeschlossen.
Auch im folgenden Jahre in Halle tritt Klaatsch als Kämpfer vor, wenn er aus
der morphologischen Untersuchung des M. biceps femoris und anderen Überlegungen
folgert, hierdurch werde „die völlige Zusammengehörigkeit des Menschen mit den Primaten
und den anderen Säugetieren so zur Evidenz erwiesen, daß man nicht begreift, wie noch
in unseren Tagen der Versuch gemacht werden kann, den Menschen loszulösen von der
übrigen Schöpfung". Ein Jahr darauf stellt er in Metz seine Anschauungen über „die
Ausprägung der spezifisch menschlichen Merkmale in unserer Vorfahrenreihe" dar und
verficht sehr entschieden die Sonderstellung der Neandertalrasse, nachdem er seil ist die
Gliedmaßenskelette von Neaudertal und Spy, Schwalbe die Schädel untersucht hatte.
Es bleibt Klaatschs Verdienst, die vergleichend-anatomische Betrachtung des Menschen
wieder betont zu haben, ihm und Schwalbe ist es zu danken, wenn heute die Neander-
talrasse als gesicherter Besitz der Wissenschaft angesehen werden kann. Die neue Er-
rungenschaft ist indessen für Klaatsch zunächst wichtig unter dem Gesichtspunkt der
Stammesgeschichte. In Merkel-Bonnets Ergebnissen usw. 1899 behandelt er „die
fossilen Knochenreste des Menschen und ihre Bedeutung für das Abstammungsproblem"
und findet, daß die fossilen Menschenreste keine Annäherung an die Affen in dem Häckel-
schen Sinne verraten: das hohe Alter des Menschengeschlechts erscheint in immer deut-
licherer Weise und das Problem des Tertiärmenschen kann für den Deszendenztheoretiker
nur so lauten: „Waren die im Miozän selbstverständlich vorhandenen direkten Vorfahren
des Menschen bereits so entwickelt, daß man sie als Menschen bezeichnen muß?" Seine
Hypothese knüpft den Menschen an die paläozoischen Chirotherien, und der Neandertaler
ist ihm ein „Durchgangsstadium zum rezenten Menschen". Als Klaatsch vier Jahre
darauf in der gleichen Zeitschrift über „die Fortschritte der Lehre von den fossilen
Knochenresteu des Menschen in den Jahren 1900 bis 1903" berichtet, hat er mit Gor-
janovic-Kramberger die Funde von Krapina untersucht und auf Studienreisen durch
Deutschland, Belgien, Frankreich, England die Reste der paläolithischen Menschen gesehen,
so daß er seine Darstellung der Literatur mit eigenen Beobachtungen ergänzen kann. Als
Ziel der Forschung sieht er die Beantwortung der drei Frauen: „In welcher Zeil des
Tertiärs die Ausprägung der spezifisch menschlichen Merkmale an dem gemeinsamen
Primatenahnen des Menschen und der Menschenaffen stattgefunden habe, an welcher
Gegend der Erdoberfläche diese Menschwerdung erfolgt sei und welche Faktoren hierbei
wesentlich eingewirkt haben?" Schoe ten sacks Hypothese, der Ort der Umwandlung
sei Australien gewesen, führt dann Klaatsch zur Untersuchung der Australier und
damit seiner ganzen Arbeitsweise entsprechend nach Australien selbst. Er will anthro-
pologisches Material sammeln für die spätere Untersuchung im Laboratorium, aber auch
den lebenden Australier studieren. Noch ein anderer als der rein anthropologische oder
deszendenztheoretische Gedanke zwang Klaatsch zu seiner Reise. Die morphologische
Untersuchung der fossilen Menschenreste führte ihn naturgemäß auf die chronologischen
Fragen. Neolithikum und Paläolithikum waren scharf zu trennen, auch das Paläolithikum
sellist mußte gegliedert werden. Wenn Klaatsch zunächst Mortillets Schema an-
nahm, so ging er doch sehr bald eigene Wege, nachdem er die Mängel des Systems
erkannt hatte, und wollte die Fauna zur Gliederung benutzen. Weiter aber galt seine
Arbeit den Eolithen und er ging in Frankreich, Belgien, England den „Tertiär-Silexen"
nach, um auch an ihnen seine Anschauungen über den Tertiärmenschen zu prüfen. Einen
Maßstab für die Richtigkeit der an europäischen paläolithischen Stücken aufgefundenen
technologischen Merkmale erwartete Klaatsch von der Sammlung australischer Stein-
geräte und von der Beobachtung ihrer Herstellung. Seine Reiseberichte legen Zeugnis
ab von dem Fleiß, mit dem er arbeitete, zugleich auch von der Vielseitigkeit des For-
schers, der sich neben seinen ursprünglichen Aufgaben auch noch der Volkskunde zu
widmen vermochte.
Bald nach seiner Rückkehr konnte Klaatsch an einer Reihe der wichtigsten Ent-
deckungen auf seinem eigensten Gebiete teilnehmen. Schoetensack hatte den Unter-
kiefer von Mauer gefunden, in dessen anthropologischer Beurteilung er sich vollständig
an Klaatsch anschloß. Im August 1908 barg Klaatsch zusammen mit Haus er den
Homo Mousteriensis Hauseri, wie er ihn nannte, einen vollständigen Skelettfund der
Neandertalrasse, bei dem auch unzweifelhafte Beweise für eine rituelle Bestattung auf-
gedeckt wurden; 1909 folgte das Skelett von Combe-Capelle, der Homo Aurignacensis
Hauseri, der gleichfalls diluvial, aber von der Neandertalrasse verschieden ist und dem
jetzigen Europäer nahe steht. Beide Funde gehören heute zu den Schätzen des Museums
für Völkerkunde in Berlin. An den Gegensatz der beiden diluvialen Skelette knüpfte
Klaatsch weit ausgreifende Betrachtungen. Er hatte einst den Lis sau ersehen Dia-
graphen verbessert und zu der üblichen Sagittalkurve noch Horizontal- und Transversal-
kurven am Schädel eingeführt, außerdem aber das Instrument auch für die Untersuchung
der Extremitätenknochen verwendet und hier eine eigene Methode ausgebildet. Sie kam
ihm jetzt besonders zustatten. Er findet bei dem Aurignacskelett Merkmale des Orang,
bei dem Neandertaler dagegen solche des Gorilla, bei beiden daneben europäische und
australische. Es ist bezeichnend für Klaatsch, daß er in seinen Beobachtungen vor
allem eine „Klärung über die Art des Zusammenhangs /.wischen fossilen Menschenrassen
and Menschenaffen" findet; er nimmt jetzt zwei große Ströme der Vormenschheit an,
einen östlichen und einen westlichen, deren jeder sich in Menschenrassen und Menschen-
affen gegliedert hat. Unbeirrt durch den Widerspruch, den seine Ausführungen fanden,
prüft er dann den neuen Gedanken an Gehirnen verschiedener Menschenrassen und
Menschenaffen. Eine ausführliche Darstellung seiner Gedanken und eine Zusammenfassung
seiner Arbeiten versprach das groß angelegte Reisewerk, das er unter der Feder hatte, als
der Tod ihn abrief.
Klaatsch bezeichnete sich selbst immer als Anatomen, nur daß er bei seinen ver-
gleichenden Arbeiten nicht die niederen Wirbeltiere, sondern die durch ihre Gehirn-
entwickelung zu den höchsten gewordenen untersuchte. Mochte er die endgültige An-
erkennung der Neandertalerrasse erreichen, neue Funde bergen, neue Methoden schaffen,
oder Fragen der Diluvialgeologie behandeln, den Paläolithen nachgehen und ethnograpische
Beobachtungen machen, so kehrt er doch immer wieder zu dem Problem der Abstammung
zurück, von dem er ausging und das er, wie seine Verwertung des Kampfes ums Dasein
und der Zuchtwahl zeigt, im wesentlichen darwinistisch ansah. Vieles was Klaatsch
erarbeitete, wird dauern, über anderes ist heute noch kein Urteil möglieh. Alle Hypothesen
und Theorien haben ihre Zeit; für diejenigen, die Klaatsch aufstellte, wird aber der
Satz gelten, den er selbst über die Australierhypothese Schoetensacks schrieb: sie
gehören zu denjenigen, „welche die Wissenschaft nicht schädigen, sondern fermeutartig
belebend auf den Gang des Meinungsaustausches und auf die Herbeischaffung neuen
Materials einwirken". Klaatsch besaß eine Eigenschaft, die unter Gelehrten nicht allzu
häufig ist, Phantasie. Sie ließ ihn gelegentlich Lücken unterschätzen und durch Hypothesen
überbrücken, die noch zu prüfen waren, aber dieselbe Phantasie befähigte ihn auch zur
zusammenfassenden Darstellung und zu einer Fülle von Anregungen. Er gab sie den
Lesern seiner flüssig geschriebenen Veröffentlichungen und den Hörern seiner Vorträge,
nicht zum wenigsten auch seineu Schülern, die in ihm den glänzenden Lehrer und mit seinen
Freunden zugleich den guten Kameraden und warmherzigen fröhlichen Menschen ver-
ehrten. Der Anthropologie werden die fleißigen Arbeiter nie fehlen; mögen ihr auch in
Zukunft gedankenreiche Forseher beschieden sein, so wie Klaatsch einer war und in
der Erinnerung seiner Fachgenossen fortleben wird. Th.
"Wer waren die minoischen Kreter?
Von Dr. Emil Fischer (Bukarest).
J) IliXayoq = Meer, See; Nebenform: ne'naayoi
(näheres bei Beloch, S. 70, Note 2). Pelagonen
(Niederländer) = Pelasger. IlcXuyovia, Landschaft
Makedoniens. Strb.
2) „Nam tota fere ora (Asiae minoris) ad occasum
vergens quondam Pelasgis impleta fuisse ..."
3) Herodot, der doch aus Karien stammte, sagt,
daß die Karer und Leleger dieselbe Sprache redeten.
Es ist noch nicht so lange her, daß die
ernste Wissenschaft die meisten Berichte über
die Pelasger1) in das Reich der Mythe ver-
wies. Noch Niebuhr (Römische Geschichte,
1833) mußte gegen diese Voreingenommenheit
ankämpfen: „Nicht aus Hypothese, sondern mit
Voller historischer Überzeugung, sage ich,
daß eine Zeit war, wo die Pelasger, vielleicht
damals das ausgedehnteste aller Völker
in Europa, vom Padns und Arnus bis gegen
Bosporus wohnten — , daß die nördlichen In-
seln im Ägäischen Meer die Kette zwischen
den Tyrrhenern Asiens und dem pelasgischen
Argos erhielten."
Welche Wandelung der Anschauungen über
die griechische Vor- und Frühzeit selbst in der
kurzen Zeit der letzten zwei Jahrzehnte Platz
gegriffen hat, zeigt uns aufs deutlichste
K. J. Belochs „Griechische Geschichte",
1912. Zweite Auflage. S. 21 bis 26, 68 bis 72,
74, 75, 77, 96 bis 125.
Nach den alten griechischen Autoren (Homer,
Äschylos, Dionysios von Halicarnass, Dio-
dorus Siculus) waren die Pelasger die Be-
gründer der europäischen Kultur. Sie haben
die Menschen gelehrt, sich Hütten (xccXi'ßas)
zu bauen, Ackerbau zu treiben, Gesetz und
Rechte zu achten („ÖtxouoL Tlslaöyoi11) und die
Götter zu ehren („isooi Ilslccöyol"). Homer
nennt sie die „guten", ja geradezu „Slot, ts
Tl£Xa6yolu. Auch Diodorus Siculus schreibt
ihnen die Begründung der Kultur in Kreta zu.
Die Schaffung des ältesten griechischen Heilig-
tums in Dodoua war auch ihr Werk (Zsvg
nakaöyixi Lg). Herodot sagt: ro ' ' Axxvxov
sdvog iöv Htl.a6yiY.6v. Noch Thukydides
berichtet, daß viele athenische Familien sich
pelasgischer Abkunft rühmten.
Aber nicht nur war ehemals auch Ulyrien
und Thrakien (mit Einschluß des alten Daker-
reiches) von ihnen bewohnt, auch Kleiuasien
war von ihnen besiedelt2). Nach Mela waren
die Karer, nach Stephanos Byz. die Le-
leger3) Pelasger. Von dort aus sollen beide,
unter dem Namen der Tursener (Etrusker),
nach Italien ausgewandert seien (I, 94). Die
Trojer und Phrygier waren Thraker (Bryger),
also ehemalige Pelasger. Aber noch weiter,
bis nach Paphlagonien, nach Kappadökien, bis
nach Arabien, ja sogar bis au den Indus sollen
pelasgische Kolonisten gelangt seien; ganz na-
türlich, daß sie nach Unterägypten, an den
Nordrand Afrikas, nach Gallien und Iberien
verschlagen wurden.
Diodor berichtet auf das bestimmteste, daß
die Kreter die Erfinder der Schrift seien. Ihr
Alphabet sei später zu den Phönikern gelangt
und erst von diesen (umgeändert) au die Griechen
weitergegeben worden.
Daß ein Volk, das in so weiten Wohnsitzen
— in drei Erdteilen — siedelte, kein einheit-
liches war und nicht einheitlich bleiben konnte,
ist sicher. Kleinere Kolonien sind in der ganz
barbarischen Urbevölkerung, unter der sie an-
sässig waren, wahrscheinlich bald untergegangen,
größere aber sind im Laufe der Zeit doch auch
merklich verändert worden.
Jedenfalls sind die Pelasger im Neo-
lithikum in Europa erschienen.
Wir müssen sie aus mancherlei Gründen,
darunter auch sprachlichen, für Arier halten,
etwa für die ersten Stämme, die sich von den
„Indogermanen" abspalteten und nach Süden
und Südwesten auswanderten.
Überaus wertvoll zur Zeitbestimmung sind
die prähistorischen Knochenfunde aus
Kreta, die von Dr. Hazzidakis (Direktor des
Archäol. Museums in Kaudia) an C. Keller
übergeben und von diesem in der „Viertel-
jahrsschrift der naturforschenden Gesell-
schaft zu Zürich" besprochen worden sind.
Diese Kuochenreste stammen aus dem Neo-
lithikum und gehören der alt-, mittel- und
spätminoischen Zeit an1) und dem Be-
ginu der Eisenkultur (1200 bis 1000 v.Chr.).
a) Die altminoische Schicht hat eine Mächtig-
keit von 6 m, die anderen von 5,5m. Die neoli-
thische Zeit mag etwa in der ersten Hälfte des
5. Jahrtausends begonnen haben, hierauf folgte um
3000 bis 2500 die Stein — Bronzezeit, endlich die
Bronzekultur, die augenscheinlich von Kypros aus-
ging. Daran schloß sich die Eisenkultur, deren
Beginn etwa in die Zeit des trojanischen Krieges ge-
setzt werden kann. Evans unterscheidet drei Pe-
rioden: Early-, Middle- (sogenannte Kamareszeit) und
Late-Minoan (m\ kenische), die er dann wieder in \e
Dat. bevorzugte Haustier 4er jüngeren Stein-
zeit war <las Rind. Daneben kommt ein
II aussehwein vor (das der Sus indicns-
Rasse angehört) und eine Hausziege, die aber
nicht von der einheimischen Wildziege ab-
Btammt. Spärlich tritt auch das mit dem Torf-
schaf verwandte Hausschaf auf.
In der mittelminoischen Zeit erscheint ein
neuer großer Rinderschlag, wie er in dem
Palast des Minos, dann in Mykenä, ferner
auf dem Hecken von Amyklä mehrfach ab-
gebildet ist.
In der spätminoischen Periode (Blüte der
kretischen Bronzekultur) tritt das Pferd auf,
das nur von außen (und zwar aus Kleinasien)
eingeführt sein konnte. (Auf einem kretischen
Täfelchen ist ein Streitwagen und daneben ein
Pferdekopf abgebildet.) Jetzt erscheint auch,
zum erstenmal, ein großer (Wind-)H und.
Mit der Eisenzeit beginnt der Niedergang
der alten höheren Kultur. Jetzt tritt auch der
Esel auf, die .Haustaube und die Honig-
biene.
Durch den Einbruch der Dorier in Kreta
(Bauernkultur), ist die alte pelasgische Bevölke-
rung nach dem Osten und Westen der Insel
abgedrängt worden1) und hat sich dort, unter
dem Namen der Eteokreter 2), noch jahr-
hundertelang erhalten. Von ihr sind einige
Inschriften vorhanden, die zwar in griechischen
Buchstaben, aber in einer uns (bis jetzt noch)
unverständlichen Sprache abgefaßt sind.
Die bekannten kretischen Täfelchen (aus
dem Palaste von Knossos) sind teils in einer
Linear-, teils in einer Art vou Bilderschrift ge-
halten 3). Der Schild von Phästos scheint
vielleicht von außen importiert zu sein. Die
einzelnen Bilder (Tiere. Menschen, Pflanzen,
Werkzeuge, Schiffe u. dgl.) sind mit Stempeln
in den weichen Ton eingedrückt und der Ton
drei Teile zerlegt. Er rückt mit ihrem Beginn
bis zum Jahre 12 000 bis 10 000 hinauf, was jedenfalls
zu weit gegangen ist.
l) Kreta war ehedem gerühmt worden wegen seiner
100 Städte.
ä) 'Etsöq = wahr, wirklich, echt. Die Schädel aus
den vorgriechischen Gräbern auf Kreta sind, wie die
griechischen, dolichokephal; Gesichtswinkel 75,7, mittlere
Kapazität 1388,7 com. Das Haar der Eteokreter ist
auf den Wandgemälden dunkel, während die Griechen
(anfänglich) wie die Thraker vorwaltend blond waren.
Die „Philister" auf dem Diskus von Phätos haben
gerade Nasen.
3) In solcher Bilderschrift erscheinen namentlich
die zahlreichen Siegel und die Aufschriftmarken. Die
letzteren sind gelocht und wurden offenbar Krügen,
Säcken od>T sonstigen Gegenständen umgebunden, um
den Besitzer festzustellen.
nachher gebrannl worden. Man hält die helm-
buschgeschmückten Krieger einstweilen für
Philister. Ob die beiden Frauengestalten mit
den bauschigen Köcken und den großen, nackten
Brüsten mit Recht für die Göttin Kybele
(Rhea) gehalten werden, möchte ich bezweifeln.
Dergleichen Frauen (mit so großen, nackten
Brüsten) begegnen uns auch auf einem Gold-
ring aus Mykenä und auf Glasflüssen von
Amyklä. Die Tierköpfe des Schildes erinnern
ganz und gar an chetitische Hieroglyphen.
Die kretische Linearschrift scheint (der
Kürze der Worte wegen) eine Silbenschrift ge-
wesen zu sein , vielleicht auf dein Übergang
zur Lautschrift. Der Beginn des Satzes ist
durch ein liegendes Kreuz (x) bezeichnet, sehr
selten durch ein stehendes (+). Durch diese
Bezeichnung ist es kenntlich gemacht, daß die
Lesung der Zeilen manchesmal in einer ver-
schlungenen Linie, andere Male geradezu bou-
stiophedisch ausgeführt werden muß. Die Zahl-
zeichen sind bekannt, das System war de-
kadisch, also auch nicht orientalisch, nicht
assyrisch-sexagesimal. Eins wurde mit einem
geraden oder gekrümmten stehenden Strich
| ) ], Zehn mit einem liegenden ( — ■) bezeichnet.
Hundert hatte das Zeichen •, Tausend eine
rhombische Figur Q. Vielleicht bedeutet das
Zeichen V ein Viertel.
Die „kretischen Täfelchen" sind bisher noch
nicht gelesen. Man darf aber annehmen , daß
sie in einem pelasgischen Idiom abgefaßt
sind. Leider sind uns vom „Pelasgischen"
nur sehr, sehr bescheidene Sprachreste erhalten
geblieben1). Diese wären etwaa):
ababa (thrak.), Mutter. Capit. Maximini duo.
' Ibbü, (panuon.), Vater. Anonym. Belae. o2.
aesar (etrusk.), Gott. Suet» Oct. 97 (nach
Hesych. algol).
ttlu, (pelasg. in Karien), Pferd. Steph.
Byz. (Alauen).
Ahßccxog, Berg in Karien.
'^(iviöög, Fluß und Hafen in Kreta. Odyss.
ava^VQideg, weite und lauge Hosen der
Skythen3) (Ilerod.). Braccae der Goten (Ovid.).
:) Vgl. dazu das „pelasgische" Glossar, das in
N. Densusianus „Dacia preistorica" enthalten ist.
Bukarest, 1913, S. 1070 bis 1110.
2) Die zahlreichen dakischen Pflanzennamen , fer-
ner die topographischen Benennungen (Berge, Flüsse,
Ortschaften) aus dem Thrakergebiet sind hier nicht
aufgenommen, auch die Eigennamen nicht, alles zu-
sammen einige Hundert. Ein großer Teil davon findet
sich bei mir in der „Herkunft der Rumänen" und in
der Kulturhist. Paläontol. d. rumän. Sprache.
3) Die Skythen werden von Steph. Byr. i-lhot,
Hi),-'y,iui genannt.
Aplu (etrusk.), Apollo. Die dakische Stadt
Aplum = Apulum.
agyillog (thrak.), Maus. Herakl. Fr. 42.
clpyc'i,' und agyog (pelasg.), Acker. Hom.
II. II, 681.
tXQifioi (skith.), eins. Herod.
"Aq£,os, Stadt und Fluß in Thrakien. Ptol.
aö-fv (skyth), eine Art Brot. Herod.
ßafajv (phryg-), König. Hesych. (Dece-bal.).
ßsÖv (phryg.), Wasser. Didym. Clem.
Alex. Strom. V.
ßsSv (makedon.), Luft. Neantes Cyz. Fr. 27.
ßexxog (phryg.), Brot. Herod. II, 2.
Bäx%og (thrak.), Dionysos.
ßävÖa (pelasg. in Karien), sieben. Steph.
Byz.
banus (alan.), König. Z. B. Sangi banus.
Dasselbe ist in Boiorix enthalten.
ßarrog (libysch), König. Her od et.
Bato, Batto (thrak. uud pannon.), Namen.
z/ta (pelasg.), Tag (in Kreta). Macr.
Sat. I, 15,
däßa, Öäva, öißa (dakisch) = Dorf. Diva
in Siebenbürgen, vgl. die vielen dakischen
Ortschaften auf -dava. Die Daker selbst hießen
auch Dai und Davi (Strob. Plant.) Terent
H o r a t.
' E^upTiaiog (skyth.) = ' loa! bSol (Herod.)
= sacrae viae.
yayvlr) (in Bithyn., Thrak., Lydien), Gold-
amsel.
gurgula (in Pannon.), Goldamsel.
yikag (bei den kleinasiat. Karern), König.
Steph. Byz.
Eister (getisch), die Donau. Jörn. Get. 12.
A'ajuaoa, Stadt auf Kreta. Steph. Byz.
(Kamaresvasen).
Kävvaßig (skyth., thrak.), Hanf. Herod.
Lar pl. Lares (etrusk.), Herr. (Liv. 2, 9).
M&, Mä, rä (1yd.) = Rhea , Mater Terra.
Steph. Byz.
oto'o (skyth.), Mann) öio'p Tiara (Herod.), die
natu (skyth). töten j männertötenden Ama-
zonen.
TJanaiog (skyth.), der oberste Gott (Herod.).
Tläga, TiaQOv, tioqo (thrak.), Bach, Fluß
(Suida).
niktov (thrak.) Schild (Suida).
TIixsqiov (phryg.), Butter. Arist. Hyponxm. 6.
niaxösvra (pannon.), eine Art Pfannkuchen
(Suida).
IKq (phryg.), Feuer (Ed. Didot I, 302).
ra (? raiu) (pelasg.), König.
rix (pelasg.), König.
öayaQig (skyth.) Kriegsbeil (Herod., Strab.).
sagum (dak., skyth.), Wollmautel. Pollio,
XXX.
Exv&ai bedeutet (nach Liv. 28, 2) Schild-
träger; auch die Perser benannten sie (nach
Herod.) Eäxoi (griech. = Schild).
strava (dakisch), Leichenmahl (Jörn. c. 49).
faba (1yd.), Felsen. Steph. Byz.
TaTiai, Ort im südwestlichen Dakien (Dio
Cass.).
Tabae, ein Paß in Dakien (Jörn.).
TeMan«icta(skyth.) = MeotischeSee. Plin. 6,7.
Meotiu (Skythae) Temarinda (vocant).
fteovg (pelasg.), die Götter, Herod.; get.
d(o(g), £(o(g), £«A; dor. dtog; lakon. 6idg.
Zsvg (pelasg.), der oberste Gott; eolisch
zlsvg. SSsvg.
^Oflßgog (thrak.), wilder Ochse, Hesych.;
lat. urus.
Das wären etwa die Vokabeln (aus N. Den-
susianus Glossar), die man aus den alten Autoren
als „pelasgisch" nachweisen kann.
N. Densusianu hat daneben aber auch
Vokabeln aufgenommen, die (aus Jakobitz und
Seiler) sich als griechisch erweisen. Im Buch-
staben A allein sind es 57; doch sind ihrer 48
dem klassischen Griechisch fremd ').
Es ist ganz sicher, daß in die griechische
Sprache vom Norden her (von Thrakien und
vom Pontus) allmählich viel Sprachgut ein-
gewandert ist, das durch seine indogermanische
Verwandtschaft der Einverleibung keine Schwie-
rigkeit bot. Auch die griechische Theogonie
stammt zum größten Teil vom Norden. Man
denke nur an den Dionysos- und Herakles-
kult, ferner an Hermes. Orpheus, die Mä-
naden und Korybanten stammen von Thrakien.
Die Herakliden, die Dorier haben nördliche
Sprach- uud Kulturbereicherungen mitgebracht,
nicht zum wenigsten die Makedonier Alexanders
des Großen.
Diese Andeutungen können genügen.
1) Aapas,
Albion,
Aphi,
Aaru, Ann/,
Albocola,
Apo,
ababa,
Albula,
Apiiliuit,
Ababus,
Album,
araesa ,
,Abbä,
Albus,
arborria,
Abbat ,
alpus,
'AQytittois
AbovXu,
Altanus
Arinx,
Alter,
Äktttvai,
"Aqaa,
ach, aeha,
alutatium,
''AoGBI'K
aesar,
alutia.
''AoCof,
Aeter nitatem,
Aliäum,
AffttQäxaX,
aiEToq,
anti, ankh,
'Aaaoü&,
t'cX«,
Anxurus,
ÜG-/V,
Alba,
Ana,
'AaiXba
'AXßuxof,
Apa miliar i,
ulli<,
älbeum,
Aphas,
Austravia.
Zur Aushilfe ist es vielleicht erlaubt, auch
das Altil lyrische heranzuziehen ' ). Die Illyrier
(Albauesen) haben sich in ihrem Kern ziem-
lich unbeeinflußt von anderen Völkern erhalten:
in Sprache, in Sitten iiml Gewohnheiten und
auch rassenhaft2). Ks sind uns sehr viele alte
illyrische Personen-, Völker-, Orts- und Länder-
namen erhalten. Auch ein i II y riscbes Glossar
läßt sich noch herstellen, das namentlich Haus-
tier- und Pflanzennamen enthält. Vielleicht
kauu man damit etwas anfangen, zumal da ein
ansehnlicher Teil der Täfelchen kurze Auf-
zeichnungen über Abgaben (Steuerleistungen,
Lieferungen) u. dgl. zu enthalten scheint.
In meinen „Sprachlichen und ding-
lichen Parallelen im alteu Thrakergebiet"
[Anthropos 1913, Bd. VIII3)] habe ich gezeigt,
daß sich in diesem großen Ländergebiet (in
Sprache, in Sitteu und Gewohnheiten) doch noch
manches Gemeinsame nachweisen läßt.
Da einstweilen mit der Lesung der Täfelchen
uicht weiter vorwärts zu kommen ist — übrigens
stehen ja die von A. Evans versprochenen zwei
Bände der „Scripta Minoa" noch aus — , so
habe ich die eteokretischen Inschriften
einer Prüfung unterzogen. Dr. Hazzidakis
hatte die große Liebenswürdigkeit für mich
drei Inschriften abzuklatschen und die eine
obendrein auch zu photographieren. Alle drei
sind, wie Dr. Hazzidakis mitteilt, schon ander-
weitig publiziert worden, sind mir aber hier
unerreichbar geblieben. Sie stammen aus den
Ruinen der alten eteokretischen Stadt Jl^aiödg.
Nr. 1 (auch photographiert) ist sicherlich die
älteste; die Buchstaben sind von altgriechiscber
Form und sind in den Zeilen bald rechts, bald
links gewendet, so daß sie offenbar boustrophe-
disch gelesen werden mußten. Die beiden an-
deren sind in dem jüngeren griechischen Al-
phabet gehalten. In der Inschrift Nr. 3 lese
ich *):
. . . HzJH.JEJ . .
. . . SinEIPAPI .
IPOYKJEZ
') Die einzige „thrakische" Sprachprobe, die uns
erhalten ist , enthält die bekannte Grabinschrift von
der Insel Lemnos, die in die Zeit um 550 v. Chi-, ver-
legt wird. Ihre Lesung ist von verschiedenen Seiten
(Dr. Wilser-Heidelberg, N. Densusianu, Breal) ver-
sucht, aber nicht endgültig festgestellt worden.
'-) Vgl. meine Arbeit „Wer sind die Albanesen"?
Korrespondenzbl., Hamburg 1914.
3) Vgl. auch Korrespondenzbl., Hamburg, Januar,
1914.
4) Die verstümmelten Buchstaben und (einstweilen)
Es scheint also von irgend einer Göttin und
von dem Weihgeschenk eines Hierokles die
Rede zu sein.
Wenn nun auch der Einfluß der griechischen
Kultur und Sprache auf die Eteokreter in An-
schlag zu bringen ist, so darf doch auch aus
dieser Inschrift geschlossen werden, daß die
Kreter keine Orientalen (Semiten) waren, son-
dern zu den „arischen" (indogermanischen)
Völkern gehört haben. Auch Conway (teste
Beloch, S. 75) betont, daß ihre Sprache nicht
semitisch ist und indogermanisch sein könnte.
Gerade so wie in Kreta, ebenso kommt in
Thrakien, in Mykenä und in Karien die Doppel-
axt (kußQog), als kultisches Symbol, vor. Schon
bei den alten Pelasgern steht die Zeus Ver-
ehrung | Jupiter Lapis1)] an der Spitze. Zeus
war (der Sage nach) auf Kreta geboren und
auch dort begraben. Er war also — vor seiner
Vergöttlichung: — sicherlich ein einheimischer
großer Heerkönig gewesen. Ein weiterer Be-
weis des hohen Ansehens, in dem die kre-
tische Kultur stand, ist es, daß der König
Minos und sein Bruder Rhadamantus als Richter
in der Unterwelt bestellt waren.
Die Seemacht Kretas erstreckte sich ehemals
weit in das umliegende Meer hinaus. Noch zur
Zeit des Theseus waren ihm die Athener tribut-
pflichtig.
In Ägypten wurden die Kreter Pulsat oder
Keftin, von den Juden Keretim oder Kreti
genannt.
Nach den Funden in Kreta und in Mykenä
scheint es nun erwiesen, daß auch der Kultus
der Aphrodite nicht erst von der babylonisch-
cyprischen Aschtoret-Astarte herstammt, sondern
seinen Ursprung im Reiche des Minos hatte 2).
Ein Aufenthalt in Kreta könnte vielleicht
raschere Klarheit schaffen. Leider gestatten es
meine Verhältnisse nicht, die kretischen
Täf eichen an der Quelle zu studieren. Wie
leicht habe ich manches in Delphi und in
Olympia begriffen, was mir am heimischen
Studiertisch nicht einleuchten wollte3). Auch
in dem Archäologischen Museum in Sofia habe
ich mehr von den alten Thrakern kennen ge-
lernt, als aus Büchern.
x) In manchen Gegenden Rumäniens schwören die
Bauern heute noch mit einem Stein in der Hand.
-) Vgl. dazu die nackte Göttin mit der Taube.
Auch Beloch sagt, daß auf Kreta babylonische Ein-
flüsse fast ganz fehlen (S. 105).
i \uch Beloch tritt für den Augenschein „an
Ort und Stelle" ein (S. 105 u. 106, Anm. 3).
Nach der „Griechischen Epigraphik"
von Dr. Wilh. Larfeld (München 1914) sind
bisher (S. 19S) nur zwei Bilinguen bekannt
geworden:
1. eine punische Votivstele vom Kap
Lilybäum mit zwei kurzen Weihinschriften des
Hannon (Adonbaals Sohn) in phönikisch-
raykenischen Charakteren und
2. eine assyrisch-hettitische oder viel-
leicht assyrisch-mykenische Bilingue.
S. 199. Doch sind die mykenischen Zeichen
in derart verschwommenen und flüchtigen Linien
eingeritzt, daß bei der Vielgestaltigkeit der
Buchstabenvarianten die punische Lesung mehr
in sie hineininterpretiert werden muß, als sie
aus ihnen herausgelesen werden kann.
Der vorliegende Aufsatz war schon vor zwei
Jahren dem „Anthropos" (S. A. Gabriel-Möd-
ling bei Wien) eingereicht und gedruckt worden,
ist aber der Kriegszeit wegen dort nicht er-
schienen. Er wird nun im Korrespondenzblatt
veröffentlicht. Inzwischen ist von Ed. Meyer,
„Reich und Kultur der Chetitei" er-
schienen, wodurch viel neues Licht auch auf die
alte kretische Kultur fällt.
Von größter Wichtigkeit ist aber die Nach-
richt dw Neuen Freien Presse (Wien), daß
es dem dortigen Prof. Friedrich Hrozny ge
hingen ist, die chetitischen Hieroglyphen zu
entziffern und die Schrift zu lesen. Nach Prof.
Hrozny (an den ich mich sofort brieflich ge-
wendet) ist die ehetitische Sprache zweifel-
los indogermanisch.
Nach Ed. Meyer sollen ehemals die Be-
wohner von Kauuos (in Karien) aus Kreta
eingewandert sein; auch die Lykier sollten von
Kreta stammen, obwohl das Lykische dem
Eteokretischen nicht ähnelt. Im kretisch-myke-
nischeu Kulturkreis finden sich Parallelen zu
den chetitischen Dämonen (menschlicher Leib
mit Stierkopf). Ob sie dort von den Chetitern
entlehnt sind oder aber zu dem alten Kulturgut
der kretischen Bevölkerung gehören, wird wohl
bald entschieden werden.
Prof. Hrozny kann mir seine Arbeit wäh-
rend der Kriegszeit leider nicht znschicken,
nachher aber wird es geschehen und ich werde
dann in der angenehmen Lage sein, den Lesern
des Korrespondenzblattes Näheres mitzuteilen.
Hoffentlich fällt nun auch auf die niiuoische
Kultur klärendes Licht.
Eine Ergänzung der Mustertafel1).
(Von Bärthold- Halberstad t.)
Die regelrechten Muster der Spiral-Mäander-
kultur, die im Harzgau zur Anwendung kamen,
dürften nun vollständig vorliegen; die ganze
Schönheit der Verzierungen kommt nun zur An-
schauuno-.
Fig. 1 zeigt die Weiterführung des laufenden
Hundes zum vollen Spiralbande. Sie ist neben
dem gewöhnlichen laufenden Hunde (Fig. 2) in
Gatersleben zwischen Halberstadt und Aschers-
leben gefunden. Beide Verzierungen in ganz
ähnlicher Ausführung ebenfalls, nur umgekehrt,
auf Flasche und Napf verteilt, sind auch im
eigentlichen Harzgau ans Licht gekommen. Von
der Doppelspirale ans (Mustertafel 8) war ein
Band nicht zu zeichnen.
Auch die Zuversicht, die ich damals aus-
sprach, hat sich erfüllt, ja war schon erfüllt: das
Mäanderband ist nachzuweisen. Auf Anregung
') Korrespondeuzblatt 1914, Nr. 5.
des Sanitätsrates Friederich in Wernigerode
üeß der damalige Graf 1859 einen Hügel von
18 m Durchmesser in Minsleben abtragen. Ein
großes Grab enthielt er nicht, nur einige eisen-
zeitliche Bestattungen, aber auf dem Grunde
war der Nachlaß einer Siedelung der Spiral-
Mäanderkultur. Die Leute waren in Ruhe fort-
gezogen, sie hatten alles Brauchbare mitgenommen,
während au anderen Orten über hundert tadel-
lose Werkzeuge zurückgelassen sind, dafür waren
die Scherben größer und mehr zusammenpassend
als sonst. Die Funde sind in das Museum zu
Wernigerode gekommen und von Friederich
1868 vortrefflich abgebildet. Seine „Beiträge
zur Altertumskunde" sind jedoch nicht mehr
im Buchhandel und daher nur wenig bekannt.
Zwei Seherben von dort zeigen das richtige
Mäanderband (Fig. ■'!). Die Verbindungslinie,
die durch Punkte angedeutet ist, blieb auf den
Scherben nicht erhalten, ist aber unzweifelhaft.
2
So gibt, es wirklich bereits in dieser Kultur
die beiden ausgezeichneten Verzierungen, das
Spiralband und das Mäanderband, die dann erst
wieder in der späteren Bronzezeit und der
spateren Eisenzeit gefunden wurden. Die beiden
vollendetsten Ornamente linden sich aber sehen:
viel häufiger sind einzeln oder paarweis stehende
Mäanderzüge und der laufende Hund.
In dem Beriebt über seine Ausgrabung in
Lissdorf betont Schuohhard (Prähist. Zeitschr.
Fig. 1.
Fig.
1914), daß die Verschiedenheiten der Spiral-
Mäanderkeramik und der Hinkelsteinkeramik in
Form and Verzierung mit Verschiedenheit in
Gebräuchen zusammengehen; einerseits hockende
Skelette mit ausländischem Muschelschmuck und
Elfenbeinnägeln, andererseits gestreckte Skelette
mit einheimischen Muscheln und Schnecken-
häusern, was auf eine andere Kultur, einen
anderen Volksstamm hinweist. Die Ableitung
der einen aus der anderen bleibt indes immer-
hin möglich, denn die Umwandlung der Gefäße
kann eingetreten sein, als die Verbindung nach
dem Süden aufgehört hatte und Freude an Neuem
aufkam. Fig. 4 wird als Übergangsform zu
beurteilen sein.
Es ist der häufige paarweise Mäanderzue,
auf den der Ausdruck von Hoernes „gebrochene
Spirale" so gut paßt, da er ganz das Seitenstück
zu der paarweis stehenden Spirale ist; die Aus-
führung aber ist ganz die vom Hinkelstein und
Ozaslau. Die beiden vorhandenen Scherben sind
ebenfalls von Minsleben, und außer ihnen laireu
Fig. 3.
<*<<<< <<<<
^><<< < A << < <a
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A < < <d A <
A
A
v^ A
Fig. 4.
dort noch andere mit denselben dreieckigen
Eindrücken auch in den breiten Bändern des
Hinkelsteinstils bis zu neun Reihen, und zwischen
je zwei Reihen mit größeren Dreiecken eine mit
kleinen. Eine Spirale aus dreieckigen Ein-
drücken hat Grössler von Gross Oerner be-
kannt gemacht (Jahresschr. für die sächsisch-
thüringschen Länder 1908). In Böhmen kann
Jira Übergänge nachweisen (Mannus 1911).
Das mühselige, sorgfältige Nebeneinander-
stellen kleiner Eindrücke ist gewiß himmelweit
verschieden von dem flotten Hinwerfen eines
11
Spiralbandes in einem Zuge, aber es ist ver-
ständlieh, daß anf kunstsinnige Lente die schönen
norddeutschen Muster aus zierlichen Kreuzen,
Halbkreisen und Furchenstich, wie sie Sohueh-
hardt in den Amtlichen Berichten aus den König 1.
Kunstsammlungen Juni 1914 bekannt gab, Ein-
druck machten, und um das Muster hervor-
zuheben, verwendeten sie ja schon Einstiche wie
hier in Fig. 1 — 3. Am meisten bezeugen die
gleichen eigenartigen Werkzeuge, daß die ver-
schiedenartigen Tongefäße doch einer Kultur
angehören.
Mitteilungen aus den Lokalvereinen.
Bonner Anthropologische Gesellschaft.
Iu der Sitzung am 23. November berichtete Herr
Prof. Max Verworn über „Fränkische Grabfunde
aus dem westlichen Kriegsgebiet" unter Vor-
lage der Fundgegenstände.
Im Anfang Mai 1914 teilte ein früherer Mitarbeiter
aus dem Laboratorium des Vortragenden , Herr Dr.
Rehorn, welcher sich als Militärarzt an der Front
in Lothringen befindet, dem letzteren mit, daß man
in einem Waldlager in der Gegend von Vilcey bei
den Ausschachtungsarbeiten für einen Unterstand auf
Gräber mit Skeletten und Beigaben gestoßen sei, die i
aber durch die Arbeiten leider zerstört worden seien.
Ein einziges Grab konnte Herr Dr. Rehorn noch
wenigstens zum Teil vor der Vernichtung schützen und
selbst fertig ausgraben. Die darin gefundenen Gegen-
stände schickte er dein Vortragenden zur Untersuchung
mit. Beim weiteren Fortschreiten der Ausschachtungs-
arbeiten zeigte sich sehr bald, daß in jener Gegend ein
ganzes Gräberfeld vorhanden war und es war dann
besonders den Bemühungen des Herrn Privatdozenten
Dr. Wassermeyer, der als Stabsarzt im Felde steht,
zu danken, daß einige Gräber vor der Zerstörung be-
wahrt blieben. Herr Dr. Wassermeyer hat eigen-
händig die noch intakten Gräber , auf die man stieß,
mit großer Vorsicht und Sorgfalt ausgegraben und die
gefundenen Objekte nebst einem eingehenden Fund-
bericht dem Vortragenden übersandt.
Es handelt sich um Skelettgräber, die sämtlioh
von Osten nach Westen so orientiert sind, daß der
Kopf nach Westen . die Füße nach Osten gerichtet
sind. Die Skelette liegen gestreckt in den Gräbern,
die von rechteckigen Steinpackungen aus kleineren,
unbearbeiteten Steinen umgrenzt und zum Teil mit
roten flachen Ziegelplatten römischen Ur-
sprungs belegt sind. Eins der Gräber war mit
großen Steinplatten bedeckt. Leider sind die Skelette
schlecht erhalten. Zwei Schädel konnte der Vor-
tragende indessen aus den übersandten Knochen fast
vollständig wieder zusammensetzen. Beide zeigen
eine schöne Form und sind ausgesprochene hypsi-
prosope Dolichocephali. Der eine dieser beiden Schädel
ist interessant durch eine schwere Hiebwunde auf dem
linken Scheitelbein , die nicht geheilt ist , also ver-
mutlich den Tod im Gefolge gehabt hat. Im übrigen
bieten die Schädel nichts Bemerkenswertes.
Unter den Beigaben sind die wichtigsten die
eisernen und die keramischen. In dem von Herrn. Dr.
Rehorn ausgegrabenen Grabe, dem der Schädel mit
der Hiebwunde zugehörte , fand sich ein typischer
Skrammasax, an dessen Griffende sich noch Reste
eines Holzsriffs erkennen lassen , sowie eine eiserne
Gürtelschnalle, die ursprünglich mit Silber tau-
schiert war, leider aber so verrostet ist, daß die Form
der Silberverzierung nicht mehr zu erkennen ist. Im
Rost hat sich dagegen eine Spur des groben Gewand-
gewebes erhalten. In den von Herrn Stabsarzt Dr.
Wasser mey er ausgegrabenen Gräbern fanden sich
kleinere Eisenmesser von der gleichen Form wie
der Skrammasax, ferner eine zweite Gürtelschnalle von
rundlicher Scheibenform sowie ein nadeiförmiges
Instrument aus Bronze und ein kleines Bruch-
stück eines mit groben Kerben verzierten Knochen-
beschlages. Die Gefäße sind sämtlich auf der
Töpferscheibe gedreht und ohne Henkel. Das Material,
aus dem sie bestehen, ist zum Teil ein roter, fein ge-
schlämmter Ton , der aber nicht stark gebrannt ist,
zum Teil ein feiner , grauer Ton , der beim Brennen
im Schmauehfeuer äußerlich geschwärzt ist. Bis auf
einen gröberen Topf einfachster Form sind die Gefäße
stark profiliert. Ein kleineres Gefäß ist mit Punzen-
eindrücken um die mittlere Zone verziert. Die Gefäße
haben den typischen Charakter der merowingischeu
Keramik.
Nach den Beigaben ergibt sich als Datierung des
Gräberfeldes etwa das Ö. Jahrhundert nach Christus.
Die Sitzung der Bonner anthropologischen Gesell-
schaft vom 14. Dezember 1915 brachte nach längerer
Unterbrechung wieder eine Fortsetzung der Serien-
vorträge des Vorstandes über die steinzeitlichen
Perioden. Herr Prof. Verworn entwarf unter De-
monstration zahlreicher Gegenstände seiner Sammlung
und einer Serie von Lichtbildern eine Skizze von der
„Kultur der Renntierzeit".
Wie die Kultur des älteren Paläolithikums ist
auch diejenige der Renntierzeit oder des jüngeren
Paläolithikums eine Jägerkultur. Dem entspricht auch
die gleiche Weise der Wohnungsanlagen, die wie wäh-
rend des voraufgehenden Acheuleen und Mousterien ge-
wöhnlich unter überhängenden Felsdächern (Abri) sich
befinden, aber wohl auch im offenen Lande unter zelt-
ähnlichen Hütten. Wenigstens scheinen einige] Wand-
zeichnungen in den Höhlen in diesem Sinne gedeutet
werden zu müssen. Die Geräte bestehen noch immer
zum größten Teil aus lediglich durch direkten oder
indirekten Schlag hergestellten Feuersteinwerkzeugen.
Daneben treten aber auch andere Steinmaterialien für
bestimmte Zwecke auf, so z. B. Kalksteine mit Vertie-
fungen als Lampen, Geröllsteine aus kristallinischen Ge-
steinen als Werksteine zum Klopfen und Reiben und^als
seltenere Erscheinungen schön ausgehöhlte Farbnäpfe
aus Granit, üiorit usw. Von den vorherrschenden
12
\\ i-: I dei iltevei Paläolithikums sind die
mandelförmigen Werkzeuge (Coup de poing- Formen)
zum Schlagen, Schallen , Schneiden, Bohren usw. im
jüngeren Paläolithikum vollständig verschwunden;
e typischen breiten Schaberformen nach Art
iler sogenannten Moustiereohaber. Das Ausklingen
er Typen erfolgt, schon im ausgehenden Ministerien
vom Niveau des Abri Audi. Dafür treten neue Feuer-
steinwerkzeugtypen hervor, die im ganzen einen zier-
licheren, oft sogar äußerst kunstvollen Eindruck machen.
Unter den zahllosen Schaberformen herrschen jetzt die
aus schlanken und schmalen Feuersteinspänen her-
gestellten Stirnschaber, Gradschaber. Hohlschuber,
Spitzsohaber vor. Auch feine Messer, oft von winzigen
Dimensionen werden aus schmalen Spänen durch
Bearbeitung der einen Längsseite hergestellt (Lames
ä dos abbattu), ferner sägeförmige Werkzeuge,
l!"hrer usw. Einen neuen sehr charakteristischen Werk-
zeugtypus stellen die dicken nucleusförmigen Schaber
(Grattoir tarte) vor, die durch das ganze jüngere
Paläolithikum hindurchgehen.
Als neues Werkzeugmaterial , das im älteren
Paläolithikum nur an passiven Geräten in der Form
von unbearbeiteten Unterlagen für die Steinbearbeitung
sein erstes bescheidenes Auftreten zeigt, kommt jetzt
der Knochen für die Herstellung der verschiedensten
und kunstvollsten Geräte in allgemeinen Gebrauch.
Pfeilspitzen, Pfriemen, Glättinstrumente, Nähnadeln
mit Öhr, zierliche Harpunen, Pfeilstrecker (sogenannte
„Kommandostäbe"), aber auch Tier- und Menschen-
bilder, und viele andere Gegenstände werden in ge-
schicktester Weise aus Knochen, Mammutelfenbein
oder Renntierhorn geschnitzt und die Knochentechnik
stellt sich der Feuersteintechnik als eine in mancher
Beziehung überlegene und kunstvollere Technik an
die Seite, ja der Knochen liefert geradezu das Haupt-
material für die zahlreichen, kleinen, in Liniengravie-
rung, Flachrelief oder Rundplastik hergestellten Kunst-
werke, die der Kultur der Renntierzeit durch ihren
frappierenden Naturalismus ein so charakteristisches
Gepräge geben. Aber der Knochen ist nicht das
einzige Material dieser Kunstwerke. Mehr , als man
bisher glaubte, ist auch weicheres Steinmaterial, wie
Kalkstein und Schiefer, für die Darstellung solcher
physioplastischer Tierbilder benutzt worden. Das
haben die zahlreichen Funde gezeigt, die in den letzten
Jahren noch bei dem genaueren Durchsuchen der alten
ausgeschachteten Schuttmassen an den klassischen
Fundstellen des Vezere - Tals gemacht worden sind.
Diese Kleinkunst auf weicheren Steinen von allen
Größen schließt sich auf das engste der bekannten
Wandkuust an den Wänden der Höhlen wie in Com-
barelles , La Mouhe , Font de Gaume , Cap Blanc,
Altamira usw. an. Der einzige Unterschied liegt in
der Größe der Darstellungen. An der Wandkunst ist
aber auch die Malerei im allgemeinen besser erhalten
als auf den kleinen Steinen , auf denen die Farben
meistens durch Wasser mehr abgewaschen sind. Die
Verwendung von Farben, die, wie die neueren Funde
Peyronys in La Ferrassie gezeigt haben, bereits im
Mousterien nachweisbar ist (vielleicht ursprünglich
zur Körperbemalung), nimmt in der Renntierzeit einen
sehr großen Umfang au und man findet kaum einen
Abri, in dessen Schichten nicht reichliches Farben-
material seine sehr intensiven Spuren hinterlassen hätte.
Sehr mannigfaltig und reich entwickelt ist in der
Renntierzeit der Körperschmuck. Vor allen Dingen
Kein und Schnecken, Zähne von Jagdtieren, Tier-
knochen, durchbohrte Steine, Versteinerungen, Knochen-
schnitzereien usw. sind als Anhänger oder zu ganzen
Hals-, Arm- und Hüftketten vereinigt benutzt worden.
Die sehr interessante Frage, wieweit einzelne von diesen
Anhängern, die später die Bedeutung. von apotro-
päischen Amuletten gewonnen haben und zum Teil
beute noch besitzen, wie etwa die Canidenzähne oder
i \ praeaschalen oder Belemniten , im jüngeren Paläo-
lithikum schon als Amulette gegolten haben, läßt sich
zurzeit noch nicht mit völliger Sicherheit entscheiden,
scheint aber doch wohl bejaht werden zu müssen.
Hier wäre eine spezielle eingehende Untersuchung sehr
wichtig.
Daß die Jäger der 'Renntierzeit bereits ein Zahlen-
system und Zahlen Symbole in der Form von Kerb-
marken besaßen , erscheint jetzt als sicher. Es sind
eine ganze Menge von Kerbknochen und Kerbsteinen
gefunden worden, auf denen die Kerben nicht zu orna-
mentalen Zwecken oder als Vorrichtungen zum Ver-
hindern des Gleitens in der Hand oder im Schaft an-
gebracht sein können , sondern bei denen es keinem
Zweifel unterliegen kann, daß sie als Gedächtnismarken
zum Zählen eingeschnitten wurden (vgl. Korrespondenz-
blatt, XLII. Jahrg., Juli 1911, Sitzungsber. d. Anthropol.
Vereins zu Göttiugen).
Schließlich kann heute auch die Frage ritueller
Begräbnisse in der Renntierzeit in bejahendem
Siune beantwortet werden. Besonders die sehr ge-
nauen Untersuchungen und interessanten Funde von
Riviere (1872) und in neuerer Zeit von Verneau,
Boule, Cartailhac, Villeneuve, die mit Unter-
stützung des Fürsten von Monaco (1895 bis 1902) in
den roten Höhlen („Baousses Rousses") von Mentone
gemacht wurden sind, haben keinen Zweifel mehr
darüber gelassen , daß bereits in den älteren Ab-
schnitten der Renntierzeit der Mensch seine Toten in
ausgeschachteten Gräbern am Ort seiner Wohnstätte
mit rotem Farbmaterial eingepudert und mit seinem
Muschelschmuck behängt beisetzte und zum Teil auch
durch übergelegte Steine schützte. Aber auch an
anderen Orten sind deutliche Spuren solcher ritueller
Begräbnisse beobachtet worden, wie erst kürzlich an
dem bekannten Skelettfunde von Obercassel bei Bonn.
Wieweit aus diesen Tatsachen auf religiöse Vor-
stellungen irgendwelcher Art bei den Jägern des
Paläolithikums geschlossen werden darf, das ist eine
Frage, an die man nur mit allergrößter Kritik heran-
treten sollte, obwohl man mehrfach geglaubt hat, sie
ohne weiteres mit Ja beantworten zu dürfen.
Im Anschluß an die allgemeine Charakteristik der
gesamten Kultur der Renntierperiode gab der Vor-
tragende zum Schluß einen Überblick über die chrono-
logische Aufeinanderfolge der einzelnen Stufen der-
selben und ihre speziellen Kulturtypen.
An das ausgebende Mousterien, das in dem Niveau
des Abri Audi in Les Eyzies seinen typischen Aus-
druck findet, schließen sich Ubergangskulturen wie
die von Chatelperron an, die zum älteren Aurignacien
überleiten. Die charakteristischen Werkzeugtypen des
unteren Aurignacien sind unter den Feuerstein-
werkzeugen die aus langen', und großen Spänen her-
gestellten Schaberformen mit ringsumlaufender Rand-
bearbeitung und mit leichten Einbuchtungen an den
Längsseiten, unter den Knochen Werkzeugen J die
Knochenspitzen mit gespaltener Basis (pointes ä base
fendue). Diese untere Stufe des Aurignacien ist ver-
treten in Cro Magnon, (Jorge d'Enfer, Laussei. Im
oberen Aurignacien erscheinen zuerst die ver-
13
sehiedenen Formen der Stichel (burius) und ferner
Pfeilspitzen mit Schaftzunge ähnlich manchen neo-
lithischen Formen. Dem Aurignacien folgt das be-
sonders lokal bei Solutre (in der Nähe von Lyon) und
bei Laugerie haute im Vezeretal entwickelte Solu-
treen, das sich auch wieder in zwei Niveaus gliedern
laßt. Im unteren Solutreen. das nur an wenigen
Stellen entwickelt ist, tritt als charakteristisches Feuer-
steinwerkzeug die Weidenblattspitze auf, die aus einem
gleichmäßig abgeschlagenen Feuersteinspan durch
Hächenhafte Bearbeitung der Rückenfläche und Zu-
spitzung beider Enden hergestellt ist, während die
glatte Sprungfläche des Spans unbearbeitet geblieben
ist. Dieser Typus entwickelt sich dann in dem
oberen Solutreen, wie es in schönster Ausbildung
in Solutre bei Lyon und in Laugerie haute bei Les
Eyzies auftritt , zu der typischen , auf beiden Flächen
gleichmäßig bearbeiteten Lorbeerblattspitze , zu der
sich nun auch die Kerbpfeilspitze (pointe ä cran) als
Leiti'ossil gesellt. An das Solutreen schließt sich als
letzte Stufe des jüngeren Paläolithikums das Magda-
lenien an, das durch besondere Zierlichkeit der Werk-
zeuge ausgezeichnet ist. Im unteren Magdale nien
sind unter den Knochenarbeiten die Flachrelief-
Schnitzereien besonders beachtenswert , die in den
großen Relief Skulpturen vom (Jap Blaue bei Laussei
ihr gewaltiges Analogon haben. Zu dieser unteren
Stufe gehört auch , wie der flache , aus Knochen ge-
schnitzte stilisierte Pferdekopf zeigt, der Fund von
Obercassel bei Bonn. Für das obere Magdalenien,
wie es in der Grotte von Les Eyzies auftritt , ist
charakteristisch die Fülle von kleinen Messern, Schabern
und Bohrern aus Spänen von winzigen Dimensionen,
sowie die doppelseitig mit Widerhaken versehenen
Knochenharpunen von großer Zierlichkeit.
Damit hat das eigentliche Paläolithikum sein Ende
erreicht und es folgen ihm die den Übergang zum
Neolithikum oder, wenn man will, bereits den Anfang
der neolithischeu Kultur vorstellenden Stufen des
Azilien, Tourassien und Tardenoisien, von welchen
letzteren beiden es vorläufig zweifelhaft bleiben muß,
ob sie überhaupt als selbständige und allgemein ver-
breitete Kulturstufen oder als lokale Entwickelungen
anderer zu betrachten sind.
Literaturbesprechungen.
M. Hoernes: Urgeschichte der bildenden
Kunst in Europa von den Anfängen
bis um 500 v. Chr. 2. Aufl. Wien 1915.
Kunstverlag Anton Schroll & Co.
Im Jahre 1898 erschien die 1. Auflage dieses
für Urgeschichte grundlegenden Werkes im Ver-
lage von A. Holzhausen zu Wien. Es waren
709 Seiten und 203 Abbildungen nebst 36 Farben-
tafeln.
Die neue Auflage enthält 661 Seiten (Text)
und 1330 Abbildungen im Text.
Das „Minus" erklärt sich dadurch, daß zahl-
reiche Partien des Textes in Kleindruck her-
gestellt sind.
Ist auch der G i undgedanke des Werkes in
2.Auflage derselbe geblieben, den M. Hoernes
in der 1. Auflage, Vorwort S. V, also formu-
liert hat:
„ein lokalgeschichtliches Ziel, sofern wir
uns auf europäische Denkmäler beschränken,
und ein anthropologisches, indem wir jenen
Denkmälern tiefere Einblicke abzugewinnen
suchen, als man bisher uetan hat",
so hat sich doch seit 17 Jahren die Ausdehnung
der vorgeschichtlichen Forschung stark geändert.
Im Südwesten unseres Erdteiles kommen die
epochemachenden Entdeckungen in den Höhlen
der Dordosj'ne und Aurienacs dazu, die den Ver-
fasser von einer „quartären Kunst" sprechen
lassen, während in Deutschland, Böhmen, Mähren-
L^ngarn, Siebenbürgen usw. die Ausbeute der
neolithischeu Gräber und Wohngruben wesent-
lich neu hinzukommt.
Blieb auch die alte Einteilung in einen
theoretischen Teil, der die Kunst im all-
gemeinen, dann Kunstrichtungen, Körper,
schmuck, Ornamentik, Bildkunst und ihre
Entwickelungsf ormen behandelt, und in den
zweiten, praktischen Teil, der die einzelnen
Zonen in der Kunstentwickelung aus der Vor-
geschichte Europas im einzelnen schildert, so
ziemlich die gleiche, so haben doch seither alle
einschlägigen Kulturkreise, auch die Metall-
zeit, wesentliche Bereicherung nach Umfang
und Wertschätzung gewonnen und nehmen des-
halb auch mehr Raum als bisher ein.
Dankbar wird jeder Urgeschiehtsforscher die
Zusammenstellung der Ergebnisse der Quartär-
kunst (S. 116 bis 191) begrüßen und besonders
die skeptische Behandlung der Frage nach
„Sinn und Zweck" dieser Bildwerke (S. 184
bis 191).
Ebenso erfreulich ist die ausführliche Behand-
lung der neolithischeu Bauernkunst in Mittel-
europa. Für die Ornamentik der (iefäße unter-
scheidet hier der Verfasser (S. 249 bis 269)
folgende „Familien" :
14
I.
1. Felderf ü llemler Stil = Umlaufsstil.
a) Ältere Winkelband- (Hinkelstein-),
b) Stickband- = jüngere Winkelband-,
c) Furchenstich- = Rössener Keramik.
2. a) Ältere Spiral- und Mäanderdekoration,
b) Jüngere „ „ „
IL
Felderteilende Stilart = Rahmenstil.
1. Im Norden:
a) Schnurkeramik,
b) Kugelamphorenkeramik,
c) Megalith-Ornamentik.
2. Im Süden:
a) Glockenbeeher-
b) Mondsee-
c) Ägäisehe Keramik.
Zahlreiche und klare Abbildungen unter-
stützen die Beschreibungen. In der Polemik
ist der Verfasser" kurz und sachlich. Auf S. 249
liis 384 wird diese immerhin wichtige, aber doch
vielfach überschätzte Bauernkunst im einzelnen
behandelt (vgl. unten).
Der nächste Teil (S. 355 bis 434) beschäftigt
sich mit dem tonangenden ägäischen Kultur-
kreis, besonders mit Mykenae, und der Bronze-
zeit von Italien, Mittel-, Nord- und Osteuropa,
die dort ihre Entstehung hatte. Die Bronzezeit-
keramik Norddeutschlands ist hier (S. 402 bis
416) nur mit einigen Bemerkungen „abgetan".
Die Resultate vonKossinna und aus „Mannus"
fehlen hier.
Die Eisenzeit behandelt der siebente und
letzte Teil (S. 435 bis 580). Vom Herrentum
Etruriens ausgehend wird der hallstättische Kultur-
kreis kurz gezeichnet und dessen Metallkunst.
Geometrische Figuren, Tierfiguren, Menschen-
gestalten, Szenen u. a. in Ton, Stein, Metall
finden hier eine ausführliche und sachgemäße
„Würdigung".
Der Entdecker des ausgedehnten llallstatt-
( ' i äberfeldes von Santa Lucia am Isonzostrande
(vgl. „Archiv f. Anthropologie", Bd. XXHI)
schöpft hier ersichtlich aus dem Vollen. Die
Bewertung der Venetischen Toreutik (S. 542
bis 558), die weithin ausstrahlte bis Hallstatt
und Watsch, ist überhaupt von kunsthistori-
scher Bedeutung universeller Art.
Die zweite Eisenzeit — La-Tene-Periode —
und die dritte — Völkerwanderungszeit — finden
zum Schluß eine kurze schlagende Charakteristik.
Nachträge und Nachweisungen kunst-
historischer Art sind an den Schluß des Werkes
gesetzt. Herauszuheben ist hier der Abschnitt
über „Die Überschätzung der paläolithisehen
Kunst" (S. 581 bis 590). Hoernes hätte unter
Beziehung auf das Urteil van Genneps (vgl.
S. 106, Anmerk.) auch die Überschätzung der neo-
lithischen Verzierungen auf Gefäßen ausdrücklich
hervorheben können; doch ist dies aus Schonung
für gewisse „exaltierte" Forschungskreise leider
unterblieben. — Verzeichnisse der Abbil-
dungen, Verfassernamen und Fundorte machen
das inhaltsreiche Werk praktisch für den Hand-
gebrauch des Forschers.
Zu ganz besonderem Verdienste muß es dem
bekannten Kunstverlage Anton Schroll & Co.
angerechnet werden, daß er zu Wien ein mit
solch' hohen Kosten, besonders für die trefflichen
Abbildungen hergestelltes Werk mitten im
zweiten Kriegsjahre erscheinen ließ, allerdings
mit Unterstützung der „Kaiserl. Akademie der
Wissenschaften in Wien".
Hat der Verfasser auch Neigung, zugunsten
gewisser Heimatzonen (Österreich und Ungarn)
den Gegenstand zu behandeln, und legt er auch
| auf die Annahme von religiösen Motiven bei
: seinen Erklärungen ein allzuhohes Gewicht, so
' wird doch kein Unparteiischer leugnen, daß
M. Hoernes mit dieser zweiten Ausgabe ein der
Forschung unentbehrliches Handbuch
geschaffen hat. Dr. C. Mehlis.
Reklamationen nnd sonstige Mitteilungen
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. K. Hagen, Hamburg 13, Binderstraße 14, zn senden.
Ausgegeben am II. April 1916.
Korrespondenz -Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
April/Juni 191«».
XLVH. Jahrgang. .Jährlich 12 Nummern. — Preis jährlich 4 Hark.
Xl'. -I/O. Bezug durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Ankündigungsgebühr 30 Pfg. pro zweispaltige Petitzeile oder deren Kaum. — Beilagen nach besonderem Übereinkommen.
Sendungen druckfertiger Manuskripte und direkt reproduktionsfähiger Illustrations-Vorlagen sind an den Herausgeber,
Prof. Dr. G. Thilenius, Generalsekretär der Gesellschaft in Hamburg 13. Binderstraße 14, zu richten.
Inhalt: Nachruf, tiustav Schwalbe t- — Jahresbericht der Cdlner Anthropologischen Gesellschaft. — Sitzung
der Anthropologischen Sektion der Naturhistorisohen Gesellschaft Nürnberg. — Bärtbold, Ein Gebiet der
Vorgeschichte, das der Orient beleuchtet. — - Literaturbesprechungen.
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Verlag1 von Friedr. Vieweg" & Sohn in Braun seh weig-. |
Dr. Richard Andree
Votive und Weihegaben
des katholischen Volkes in Süddeutschland
Ein Beitrag zur VolKsRunde
Mit 38 Abbild, im Text. 140 Abbild, auf 32 Tafeln u. 2 Farbendrucktafeln. XVIII, 191 Seiten gr. 4"
Geheftet .H 12—, gebunden JL 13,50
Inhalt' Einleitung' — Das Volk und die Heiligen, — WallfabrtSkapeUei) und heilige Qui "t.i. ■• ■, -
1 D patrone der Haustiere. — Der hi nhard. — Leonhardirit
Kirchen. — Hufeisenopfer.' — Wachsopfer. — Verhreitu inen Opi
i. — Leonhardsklütze und Wih'dinger. — PI — Einzi
uen. — Opferkrötep und Stacl - Tönerne Ropt'urnen und Opferi
Tiere. — Tierbilderopfer. — Hämmer, and Ackergerät. — Häuser-, Kleide,
tivtafcln. — Allerlei Opfer. 8ehließl ler ' »pferg
___^_^_______^__^_^_ -
Von Kr. Richard Andree erschien ferner bei uns: -J4/L
Die Flutsagen. Ethnographisch betrachtet. Mit einer Tafel. XI, 162 S. 8°. Geh. .H>
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Plänen und Karten. XVIII. 531 S. 8°. Geh. Jt 5.50, geb. .«, 7,—.
I
VI/
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Verlag von Friedr. Vieweg (EL Sohn in Braunschweig
SAMMLUNG VIEWEG
Tagesfragen aus den Gebieten der Naturwissenschaften und der Technik
Erschienen sind:
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Heft 3.
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lief! 5.
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Heft 8.
II 9 10.
Heft 11.
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Heft 13.
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•g: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Mit 20 Ab-
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vettere Hefte in Vorbereitung.
Korrespondenz -Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
XLVII. Jahrg. Nr. 4/6. Jähpiieh 12 Nummern. April/Juni 1916.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw. tragen die wiasenBchaf tl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren ; b. S. 16 des Jahrg. 1894
Inhalt: Gustav Schwalbet- — Jahresbericht der Cölner Anthropologischen Gesellschaft. — Sitzung der
Anthropologischen Sektion der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg. — Bärthold, Ein Gebiet
der Vorgeschichte, das der Orient beleuchtet. — Literaturbesprechungen.
Gustav Schwalbe
Geb. 1. August 1844, gest. 23. April 1916.
Zweimal seit Kant hat die Anthropologie den Weg langsamen Fortschreitens, das
nur zu oft fast langweiliger Stillstand war, verlassen; zweimal im letzten Jahrhundert
gab es für die Lehre vom Menschen sprungweises Vorwärtsstiirmen und beide Male war
es an fossile Schädeldächer geknüpft. 185t) begann mit dem Bekanntwerden der mensch-
lichen Überreste aus dem Neandertal die bisher überwiegend philosophisch gerichtete
Anthropologie eine wirkliche Naturwissenschaft zu werden und diu Stellung des Menschen
in der Natur wurde mit einem Male Gegenstand zahlreicher Bücher, Untersuchungen und
Streitschriften. 40 Jahre später aber, 1899, eröffneten Gustav Schwalbes glänzende
Untersuchungen über Pithecanthropus erectus nicht nur eine neue Zeitschrift, sondern
auch eine völlig neue Aera anthropologischer Arbeit. Die da zum ersten Male ange-
wandten Methoden führten schon nach zwei Jahren in der Schrift über den Neandertal-
schädel zu überraschenden, bis dahin kaum geahnten Ergebnissen und sind seither
Gemeingut unserer Wissenschaft geworden.
So würde Schwalbes Name dauernd in der Geschichte der Anthropologie fort-
leben, auch wenn er nichts anderes geschrieben und geleistet hätte. Ebenso aber hat
er sich durch die Begründung der „Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie" ein
unvergängliches Verdienst erworben.
Der I. Band dieser Zeitschrift ist 1899 erschienen, der XVIII. war als Festschrift
zu Schwalbes siebzigstem Geburtstag, 1. August 1914, noch vor dem XVII. iu unseren
16
Händen ninl das Schlußheft des XIX. ist am 18. März 1916 ausgegeben, wenige Wochen
che der Tod auch diesem Zweige seiner reichen Tätigkeit ein jähes Ende gesetzt hat.
Schon vor dieser Zeitschrift hat Schwalbe aber die Herausgabe von acht Bänden
„Morphologische Arbeiten" geleitet, so daß wir ihm im ganzen für '27 große und glänzend
ausgestattete Bände verpflichtet sind mit einer fast erdrückenden Fülle von wertvollen
Beiträgen. Auch dadurch hat er sich ein unvergängliches Denkmal geschaffen.
Seh walbes Verdienste als Anatom und als Direktor des anatomischen Instituts der
Universität Straßburg sind an anderer Stelle bereits geschildert und gehören zum Teil
überhaupt nicht, in den Rahmen dieses Blattes; hier habe ich nur seiner anthropologischen
Arbeit zu gedenken. Soweit meine Kenntnis reicht, beginnt diese 1889 mit einer Ab-
handlung über die Ohrmuschel als rudimentäres Organ (im Archiv für Anatomie und
Physiologie). Ein wirkliches Programm enthält dann seine Straßburger Rektorrede von
1893 „Über einige Probleme der physischen Anthropologie". Hier spricht er von der
Anthropologie als „jüngsten Tochter der Anatomie", erörtert ihre wichtigsten Aufgaben
und behandelt kurz aber mit vollendeter Klarheit eine Reihe von Problemen, die er in
späteren Jahren dann eingehender untersuchte, so die anatomischen Grundlagen der
Hautfarbe, .die Frage nach der Einheit des Menschengeschlechtes und die Abstammung
der amerikanischen Indianer. Das Jahr 1897 bringt dann als S.-A. aus einem Handbuch
der Anatomie des Menschen die 80 Seiten umfassende Studie über „Das äußere Ohr".
Eine neue Periode in Seh walbes Tätigkeit beginnt mit dem Jahre 1899. Da
beschenkt er uns als Einführung in seine neu erscheinende „Zeitschrift für Morphologie
und Anthropologie" mit einer ausführlichen Untersuchung „Über Ziele und Wege einer
vergleichenden physischen Anthropologie" und dann im unmittelbaren Anschluß an diese
Einführung mit seinen groß angelegten und bahnbrechenden „Studien über Pithec-
anthropus erectus, Dubois" (Bd. I, S. 16 — 240). Das Jahr 1901 bringt uns dann als un-
mittelbare Fortführung dieser Arbeit zwei Schriften über den Neandertalschädel, die eine
in den „Bonner Jahrbüchern", Heft 101! , die andere in den „Verh. der anat. Ges." auf
der 15. Versammlung in Bonn. Daneben linden wir im III. Band seiner Zeitschrift eine
Abhandlung über die Fontaneila metopica, ein Thema, auf das er zwei Jahre später unter
dem Titel „Fontanella metopica und supranasales Feld" im „Anat. Anzeiger" XX III
noch einmal zurückkommt. Im Jahre 1902 beleuchtet er dann in den „Beiträgen zur
Anthropologie von Elsaß-Lothringen" den Schädel von Egisheim; 1903 behandelt er in
seiner Zeitschrift (Bd. VI) das bis dahin so unklar gewesene Problem der geteilten
Scheitelbeine und 1904 im VII. Bande „Das Gehirnrelief am Schädel der Säugetiere".
Dasselbe Jahr bringt eine bei Friedr. Vieweg & Sohn in Heftform erschienene erweiterte
.Ausgabe eines auf dem Naturforschertage in Cassel gehaltenen Vortrages über „Die Vor-
geschichte des Menschen", ferner in seiner Zeitschrift (VII, S. 203 — 222) eine Unter-
suchung über „Das Gehirnrelief des Schädels bei Säugetieren", in den Mitteilungen der
Wiener anthropologischen Gesellschaft (Bd. XXXIV, S. 331 — 352) eine überaus anregende
Arbeit über „Die Hautfarbe des Menschen" und in der Straßburger Medizinischen Zeitung
eine Abhandlung „Zur Stellung des Menschen im zoologischen System".
1905 ist in der Straßburger Medizinischen Zeitung die Untersuchung „Über Ballen,
Linien und Leisten der Hand" erschienen, durch die viele spätere Arbeiten angeregt
sind, unter denen ich die von Schlaginhauf en besonders hervorheben möchte. Sonst
sind es Abstammungsfragen, die Schwalbe um diese Zeit wieder vorwiegend beschäftigen.
17
Im 88. Bd. des Globus, Heft 10, linden wir unter dem Titel „Zur Frage der Abstammung
des Menschen" eine in der Form überaus milde, in der Sache aber höchst energische
Zurückweisung der Kollmannschen Ansichten über die Pygmäen als Stammeltern der
heutigen Menschenrassen. Dieselben Gedanken werden auch in einer Abhandlung in der
Münchener Medizinischen Wochenschrift (Nr. 28 von 1905) unter dem Titel ausgeführt
„Die Pygmäen und ihre Beziehungen zur Vorgeschichte des Menschen".
Auf der vollen Höhe seiner anthropologischen Arbeit sehen wir Schwalbe 1900
in dem Gustav Retzius gewidmeten Souderbande zur Zeitschrift für Morphologie und
Anatomie.
Den ersten Teil dieses Bandes bildet eine Zusammenfassung „Zur Frage der Ab-
stammung des Menschen", eine geradezu musterhafte Arbeit mit souveräner Beherrschung
des Stoffes. Die beiden anderen Teile sind zwei Schädelbruchstücken gewidmet, der
dritte dem von Cannstatt, nach dem Quatrefages und Hamy den paläolithischen
Menschen als „Race Canstattienne" bezeichneten, obwohl er sicher mit der Neandertal-
gruppe nicht das mindeste zu tun hat. Besonders interessant ist aber der zweite Teil
des Bandes, der sich mit dem Schädeldach von Brüx beschäftigt. Dieses war 1873 von
mir selbst veröffentlicht, seither aber nicht weiter beobachtet worden. Schwalbes neue
Untersuchung aus dem Jahre 1906 zeigt so recht den großen Fortschritt, den die Anthro-
pologie in diesen 33 Jahren gemacht hat, freilich auch den begreiflichen Unterschied in
der Betrachtungsweise eines 19 jährigen Studenten von der eines 52jährigen Meisters
der Anatomie. Schwalbe wird gleichwohl meiner Arbeit vollkommen gerecht, indem
er anerkennt, wie sehr ich damals unter der Suggestion von R. Virchows Auffassung
von dem Neandertaler als einem pathologischen Spezimen befangen gewesen war. Ich
darf hierzu wohl noch beifügen, daß auch mein damaliger Lehrer Langer sich dieser
Suggestion nicht hatte entziehen können und was an dem Brüxer Schädeldach unge-
wöhnlich erschien, von vornherein für pathologisch erklärte.
1906 und 1907 folgen im Anschluß an die oben erwähnte Arbeit von 1904 weitere
Untersuchungen über die Beeinflussung der Schädelform durch das Gehirn, so im
Deutschen Archiv für klinische Medizin eine Studie über „Die Beziehungen zwischen
Iunen- und Außenform des Schädels", im Korrespondenz -Blatt der Deutschen Gesell-
schaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 37. Bd. , S. 91 — 99 ein Vortrag
(vor der Görlitzer Jahresversammlung) „Über alte und neue Phrenologie" und 1907 im
X. Bande seiner Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie die weitausgreifende
Untersuchung über „Das Gehirnrelief der Schläfengegend des menschlichen Schädels".
Aus Anlaß der Feier von Darwins hundertstem Geburtstag erschien 1910 in der
Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie Schwalbes große Abhandlung über
Darwins „Abstammung des Menschen". Im selben Jahre hatte der Globus im 98. Bande
eine ausführliche kritische Besprechung von P. Schmidts „Stellung der Pygmäenvölker".
1911 brachte in der Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie, Bd. XIII, eine
Untersuchung über „Das Cuboides seeundarium" und ebenda eine sehr ausführliche Studie
über „Die Südamerikanischen Primaten" mit einer vernichtenden Kritik von Ameghinos
phantastischen Anschauungen über den „Diprothomo".
Volle Meisterschaft zeigt sich auch in der Besprechung von Boules Werk über
den fossilen Menschen von La Chapelle-aux-Saints (Zeitschrift für Morphologie und Anthro-
pologie XVI, 1914, S. 527 — 610), ein an sich wichtiges Buch, das zu beurteilen natur-
18
gemäß niemand berufener sein konnte als Schwalbe. Derselbe Band enthält auch eine
begeistert anerkennende Besprechung von 0. Abels „Grundzüge der Paläobiologie der
Wirbeltiere", die ja in der Tat in der Bibliothek keines Anthropologen fehlen sollten.
Der XVII. Band bringt eine „Untersuchung über die Bedeutung der äußeren Para-
siten für die Phylogenie der Säugetiere und des Mensehen" mit dem Nachweise, daß
..verwandte Formen von Parasiten auch verwandten Formen von Wirtstieren entsprechen
müssen", analog der durch die Präzipitationsreaktion nachgewiesenen Blutsverwandtschaft.
Und noch der letzte (XIX.) Band seiner Zeitschrift bringt S. 149 bis 254 eine Unter-
suchung über den fossilen Affen Oreopithecus Bambolii und als würdigen Abschluß
seiner anthropologischen Wirksamkeit, S. 545 bis ti68, die „Beiträge zur Kenntnis des
Ohres der Primaten", eine weitausgreifende Studie, die für das Verständnis des mensch-
liehen Ohres von der denkbar größten Bedeutung ist und so in zugleich großartiger uud
rührender Weise den Kreis seiner Studien über das äußere Ohr sehließt, der 1889 mit
seiner ersten anthropologischen Arbeit über „Die Ohrmuschel als rudimentäres Organ"
seinen Anfang genommen hatte.
So war Schwalbes anthropologische Tätigkeit intensiv und extensiv gleich hervor-
ragend, vollkommen als ob sie sein ganzes Leben allein ausgefüllt und nicht nur bloß
neben seinem eigentlichen Berufe einhergegangen wäre. Nur ungewöhnliche Arbeitskraft
und eiserner Fleiß lassen eine solche Doppeltätigkeit verstehen. Persönlich habe ich
stets auch seine große Beleseuheit bewundert, und „belesen" war er nicht nur im
<rewöhulichen Sinne des Wortes, sondern mit einer absoluten Beherrschung der ganzen,
für den großen Kreis seiner Arbeiten in Frage kommenden Literatur.
Ebensosehr aber als seine wissenschaftliche Arbeit haben alle, die ihm näher
gestanden, auch die abgeklärte Milde seines Wesens geschätzt und geliebt. Strenge war
er nur gegen sich selbst; nachsichtig gegen die anderen. Zwei Dinge freilich konnten
auch ihn unwirsch und ungeduldig machen, zügellose Phantasie und vordringlicher
Dilettantismus. Beide gingen ihm auf die Nerven und im vertrauten Gespräch wie in
persönlichen Briefen pflegte er aus seiner Geringschätzung mancher „Kollegen" kein
Hehl zu machen. Bei unserem letzten Zusammensein Hei manches harte Wort über
solche Dilettanten, die bei aller Tüchtigkeit in ihrem eigentlichen Berufe doch der
Meinung seien, man könnte so nebenher „an Sonntag Nachmittagen" auch Anthropologie
treiben, ohne jedwede Kenntnis von Literatur und Material. Gewiß, sagte er damals, ist
die Anthropologie ursprünglich von Außenseitern und von Dilettanten gemacht worden,
wie schließlich jede andere Wissenschaft auch; aber das ist jetzt anders geworden; jetzt
ist, dank der Arbeit eben jener Außenseiter, die Anthropologie eine Wissenschaft
geworden uud fürwahr zu gut für bloß dilettantische Betätigung. Etwas wie heiliger
Zorn sprühte damals ans den sonst so milden hellen Augen, die sich nun für immer
geschlossen haben.
Uns aber, die zurückbleiben, wird er immer ein leuchtendes Vorbild sein; nie
werden wir seine wissenschaftliehe Arbeit vergessen, nie seinen durchdringenden Scharf-
blick, nie auch seine persönliche Güte. v. Luschan.
19
Jahresbericht der Cölner Anthropologischen Gesellschaft.
In der Mitgliederversammlung am 20. Oktober
1914 war beschlossen, im Kriege die Arbeit
nicht ruhen zu lassen. In Vertretung der itn
Felde stehenden Vorstandsmitglieder Dr. Prof e
und Dr. Zilkens übernahmen in der Folge in
Vertretung die Geschäfte des Schriftführers:
l'rof. Dr. Czaplewski, die des Schatzmeisters:
Ingenieur Bätonnier.
Den ersten Vortrag, am 9. Dezember 1914,
übernahm Prof. Dr. Czaplewski. Er gab ein
ausführliches Referat über die Vorträge der
Herren Geheimräte Verworn, Bonnet und
Steinmanu: „Die diluvialen Skelettfunde bei
Oberkassel 2) (Siebengebirge)". Herr Geheimrat
Prof. Dr. Verworn hatte dazu liebenswürdiger-
weise Originallichtbilder dem Vortragenden zur
Verfügung gestellt. —
Am Mittwoch, den 10. März 1915, sprach in
der Mitgliederversammlung der Gesellschaft der
Vorsitzende derselben, Rektor Rademacher,
über „Die prähistorische Besiedelung des hoch-
wasserfreien Geländes von der Marienburg bis
Fühlingen" (Urgeschichte der Stadt Cöln). Er
führte ungefähr folgendes aus:
„Cöln schickt sich an, der Erinnerung an
seine römische Zeit durch die Errichtung des
Römerbrunnens sichtbaren Ausdruck zu ver-
leihen. Wenn auch mit der Erhebung der An-
siedlung , der Ubischen Stadt , zur römischen
Militärkolonie die eigentliche stadteölnische Ge-
schichte anhebt, so liegt die Besiedlung des
hochwasserfreien Geländes, der sogenannten Alte-
burger Erhebungen, doch noch sehr viel weiter
zurück. Als im 1. Jahrhundert v. Chr. die Ubier
auf das linke Rheinufer verpflanzt wurden, ward
ihnen als Mittelpunkt ein befestigter Ort ge-
geben, „Oppidum Ubiorum". Dies ist das später
durch Agrippina zur Stadt erhobene Colonia.
Demgemäß hat in diesem Gebiete hier schon
eine Ansiedlung bestanden, da die Ubier noch
nicht verpflanzt waren. Und in der Tat, es
stellt sich immer mehr heraus, daß viele Jahr-
tausende hindurch schon Ansiedlungen auf dem
ganzen Bereiche dieses hochwasserfreien Ge-
bietes gewesen sind. Die ältesten Spuren reichen
a) Eine eingehende Publikation über den Fund wird
von den genannten Herren vorbereitet. Es handelt sich
um zwei pietätvoll in einem Grabe bestattete Indivi-
duen, Mauu und Frau, deren Skelette 1914 bei Stein-
brucharbeiten zum Vorschein gekommen waren. Der
Fund gehört an das Ende des Magdalenien.
in die Übergangsperioden von der älteren zur
jüngeren Steinzeit, dem Tardenoisien. Charakte-
ristische Funde wurden in der letzten Zeit in
der Nähe von Longerich gemacht, während An-
deutungen dieser sehr frühen Bewohnungen
schon vor einigen Jahren an der Marienburg
zutage gekommen waren. Eine reiche Kultur-
schicht mit zahllosen Abfällen, Scherben, Kohle
und typischen Geräten, läßt es ganz außer Frage,
daß eine tatsächliche Besiedlung bestanden hat.
Auch ein Schädeldach fand sich hier, an dem
viele sehr alte diluviale Merkmale sich vorfinden.
Die jüngere Steinzeit hat reichere Besiedlung
auf dem hochwasserfreien Gebiete gesehen. Zahl-
reiche Steingeräte, auch Einzelfunde im ganzen
Stadtgebiete geben davon Kunde, dann aber
Fig. 1.
Bronzezeitlicher Grabfund von Cöln-Nippes 1914.
Nadel, Schwert, Absatzaxt.
Grabfunde (Zonenbecher), die an das Ende der
Periode (gegen 2000 v. Chr.) zu setzen sind.
Die Bronzezeit lieferte fast aus allen Perioden
Beweise der Besiedlung. Von der Marienburg
stammt ein Flachbeil (gegen 2000 v. Chr.), an-
dere Bronzeäxte fanden sich in Cöln selbst und
Longerieh. In die mittlere Bronzezeit führt ein
Fund aus Nippes (Schwert, Absatzaxt und Nadel).
Die Longericher Gegend war demnach auch,
wie dies keramische Funde andeuten, wieder
besiedelt. Die Bronzezeit dauert bei uns von
etwa 2000 bis 1200 v. Chr. Die erste Eisenzeit
(1200 bis 500 v. Chr.) sah für den Niederrhein
zum ersten Male eine sehr ausgedehnte Bevölke-
rung. Zu Tausenden sind die Grabhügel aus
der Zeit erhalten. Damals war das Stadtgebiet
20
Cöln ;in mehreren Stellen besiedoll. Eine Nieder-
lassung mit Grabfeld befand sich an der Marien-
burg, eine zweite wieder in der Longerich-
Fühlinger Gegend. Alle Phasen der Periode
lassen sieh auf diesem Grabfelde nachweisen.
Mit dem 6. Jahrhundert v. Chr. beginnt für den
Niederrhein die germanische Zeit. Gegen 500
erfolgte die Einwanderung der germanischen
Stämme. Auch ihre Siedlungsreste lassen sich
auf dem Cölner Gebiete wenigstens für das
2. Jahrhundert v. Chr. nachweisen. Gewiß sind
sie noch sehr zahlreich in der Erde verborgen,
da die germanischen Gräber der ganzen Periode
von 500 an bis zur fränkischen Zeit als ein-
fache Brandgruben ohne Hügelbestattung nicht
leicht aufgefunden werden können. Germanische
Dörfer haben demgemäß auf dem hochwasser-
freieu Gebiete bestanden schon von 500 v. Chr.
Kii;. 2.
Von dem eisenzeitlichen Grabfeld Cöln-Marienburg.
Fig. 3.
Glockenbecher von Fühlingen.
an. Sie lassen sich bis jetzt nachweisen aus
dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. bis
3. Jahrhundert n. Chr. Damals befand sich be-
reits au der Marienburg ein weites germanisches
Dorf. Die Besiedlungsreste des germanischen
Platzes, der dann später als „Oppiduni Ubiorum"
und als „Colonia Claudia Augusta Agripinensis"
weiterlebte, sind natürlich durch die zahlreichen
Neubauten im Stadtgebiete längst verschwunden."
In der Mitgliederversammlung am 21. April
1 9 1 5 berichtete nach Erledigung der geschäftlichen
Mitteilungen der Vorsitzende der Gesellschaft,
Rektor Rademacher, über „einen neuen
diluvialen Fund aus der Cölner Gegend".
Während diluviale Werkzeuge aus den Rhein-
landen früher nur vom Martinsberg von Andernach,
vom Buchenloch bei Gerolstein,, sowie durch die
Ausgrabungen der Gesellschaft aus der Kart-
steinhöhle bei Eiserf ey bekannt waren , konnte
der Vorsitzende jüngst eine abgerollte Feuer-
steinklinge der jüngeren Zeit des Diluviums
(Aurignacien) aus Fühlingen vorzeigen. Jetzt
hat nun ein durch die Gesellschaft interessierter
einfacher Bauer bei Birringhoven im Siegkreis
in der Kiesschicht einen diluvialen Feuerstein-
faustkeil gefunden und als solchen richtig er-
kannt. Derselbe gehört in die Periode des ab-
sterbenden Faustkeiles, Mousterien (Zeitalter des
Neandertalmenschen). Leider war die Fund-
stelle für eine wissenschaftliche Untersuchung
bereits zerstört. —
Darauf hielt Prof. Czaplewski seinen an-
gekündigten Vortrag über den „diluvialen
Meuschenfund von Chancelade mit Rück-
blicken und Ausblicken auf die diluvia-
len Menschenrassen". Durch die neuereu
Fuude des Homo Mousterieusis und Homo
Aurignaceusis, namentlich aber durch die so be-
deutsamen neuen diluvialen Funde aus dem
Magdalenien bei Oberkassel, werde es, wie der
Redner ausführte, notwendig, auch auf ältere
Funde zurückzugreifen, die neben den hervor-
stechenden Funden der Neandertalrasse zunächst
weniger Aufmerksamkeit gefunden hätten. Unter
diesen scheine von besonderer Bedeutung ein
Fund vou Chaucelade, welchen der Vortragende
eingehend nach der leider schwer zugänglichen
Arbeit Testuts schilderte.
Zum Vergleich wurden die Neandertalrasse,
Homo Mousteriensis, Homo Aurignaceusis, sowie
die Cromaguon- und Grimaldirasse besprochen.
Für die Vergleiche der l'nterkief erbildung
wurden die Funde von Mauer, der Homo Mouste-
riensis, Homo Aurignaceusis, sowie die Cro-
magnon- und Grimaldirasse herangezogen.
Bei dem Funde von Chancelade , welcher
übrigens schon aus dem Jahre 1888 stammt,
handelt es sich um einen Menschen mit schön
gebildetem, gut entwickeltem Schädel von über-
normaler Kapazität, ohne neandertaloide Merk-
male. Derselbe weist manche Ähnlichkeiten mit
dem Homo Aurignacensis und den Funden von
Cromagnon, sowie namentlich von Oberkassel
auf. Er zeigt aber auch wieder deutliche Ab-
weichungen. Vortragender betonte dabei die
Bedeutung der Norma verticalis und namentlich
der Norma occipitalis, d. h. der Ansicht von
oben und von hinten gegenüber der im allge-
meinen bevorzugten Norma lateralis, d.h. der
Seitenansicht, für die Zwecke der Vergleichung.
Sehr interessant ist namentlich auch die Uuter-
kieferbildung mit stark vorspringendem Kinn
mit gewulstetem auskragenden Rande des unteren
äußeren Randes der Kinnlade. Der l'nterkiefer
erinnert dadurch au Cromagnon und zeigt ge-
wisse Beziehungen zum Homo Aurignaceusis
21
und der Grimaldirasse, namentlich oben zu den
Funden von Oberkassel.
Der Vortragende warnte vor irreführenden
Verallgemeinerungen aus Einzelfunden. Es sei
notwendig, nicht gleich immer verallgemeinern
zu wollen , sondern gewissenhaft alle Funde zu
sammeln, sorgfältig zu beschreiben, um dadurch
allmählich zu immer festeren Grundlagen zu
kommen. —
Am 17. Mai l'J 15 wiederholte der Vor-
sitzende der Gesellschaft, Rektor Rademacher,
im großen Gürzenichsaale seinen Vortrag vom
10. März 1915. Er sprach nochmals über „Aus
Cölns Vorzeit. Vier Jahrtausende der Besied-
lung des stadtcölnischen Gebietes". —
Am Sonntag, den 5. Juni, folgte die Gesell-
schaft der Einladung ihres Mitgliedes Herrn
Sanitätsrat Dr. Dormageu zur Besichtigung
der Stiftung „Dr. Dormagen" in Cöln-Merheim.
Unter der liebenswürdigen Führung des Herrn
Sanitätsrats Dr. Dormagen und des Oberarztes
der Stiftung, Herrn Dr. Landwehr, der zur-
zeit auf Urlaub aus dem Felde weilte, wurde
auf einem Rundgange die ganze Anstalt be-
sichtigt. Besonderes Interesse erweckten die
Werkstätten im Betriebe, die sauberen Schlaf-
säle und luftigen Unterkunftsräume der Stif-
tung. Wohltuend berührte die liebenswürdige
Art , womit der Lehrer der Stiftung , Herr
Thome, mit den Kindern umzugehen wußte.
Mit Bewunderung sahen die zahlreich erschie-
nenen Mitglieder, wie das Krüppelheim mit
großem Erfolge bestrebt ist, die armen Krüppel,
die Stiefkinder des Lebens, zu brauchbaren, auf
sich selbst gestellten und zufriedenen Mitgliedern
der menschlichen Gesellschaft zu erziehen.
Nachdem der Vorsitzende der Gesellschaft,
Rektor Rademacher, dem unermüdlichen För-
derer des Krüppelheims , Herrn Sanitätsrat Dr.
Dormagen und dem Oberarzt Herrn Dr. Land-
wehr, Herrn Thome und den Schwestern den
warmen Dank der Gesellschaft für die hoch-
interessante Führung ausgesprochen hatte, folgte
nach einer kurzen Wanderung die Besichtigung
des Aussfrabunirsfeldes in Füllungen, welches !
für die Geschichte der Stadt Cöln so wichtige
Funde ergeben hat. Herr Sp ringensgut,
welcher die Funde daselbst im Auftrage der
Gesellschaft verfolgt hatte, berichtete an Ort
und Stelle unter Vorlage von Photographien
und Karte über die Funde.
Auf der ehemals Oppeuheimscheu Rennbahn
zu Fühlingen wurde bei Baggerarbeiten ein
Gräberfeld entdeckt. Eine systematische Aus-
grabung war leider uicht möglich, da die Grab-
hügel eingeebnet waren. Die Urnen kamen bei
I den Baggerarbeiten zum Vorschein; viele wur-
den dabei beschädigt, doch gelang es, eine
größere Zahl zu retten. Wie auf der rechten
Rheinseite zwischen Sieg und Wupper standen
: die (sämtlich mit einem Deckel zugedeckten)
Urnen in verschiedener Tiefe auf gewachsenem
Boden, umgeben von einer Aschenschicht. Der
Inhalt bestand aus Knochen, Asche und Sand.
Bronzereste fanden sich nur zweimal, darunter
eine gut patinierte Bronzeuadel mit großem Kopf.
Beigefäße waren sehr häutig. Die im ganzen etwa
175 Gräber (über deren Wichtigkeit Rektor
Rademacher bereits in mehreren Vorträgen be-
richtet hat) stammen aus der Steinzeit, Hallstatt-
zeit, La Tene- und Römerzeit. Das einzige
„römische" Grab, eine aus zwölf großen Tuffstein-
platten gebildete Steinkiste von 1,5 zu 1 m auf
dem höchsten Punkte des Plateaus enthielt ein
leider ganz zerfallenes Kinderskelett. Außer
den Gräbern konnten noch verschiedene An-
Siedlungen festgestellt werden, eine aus dem
Tardenoisien (Übergang vom Diluvium zum
Alluvium), eine aus der jüngeren Steiuzeit
(Zonenbecherscherben), zwei aus der Bronze-
zeit (Scherben körbchenartiger Gefäße), eine
aus der Ilallstattzeit, zwei aus der La Tenezeit
(charakteristische Scherben und Eisenfibel), so-
wie mehr als 40 Ansiedlungen aus der römi-
schen Zeit und römisch-fränkischen Zeit (hierbei
die einzige dort gefundene römische Bronze-
münze des Valens, etwa 370 n. Chr.). Aus der
karolingischen Zeit, etwa 1000 n. Chr., fanden
sich auch Kulturreste (Scherben mit Relief-
bändern von Amphoren). Das Grab mit dem
goldenen Sarge des Heidenkönigs, der nach der
Sage hier begraben sein soll, wurde freilich
uicht gefunden, doch kann das Prähistorische
Museum und die Cölner Anthropologische Ge-
sellschaft mit der Ausbeute sehr zufrieden sein,
welche für das „stadteölnische Gebiet" so wich-
tige Aufschlüsse gegeben hat. —
Die Cölnische Anthropologische Gesellschaft
hat sich die Aufgabe gestellt, die vorgeschicht-
liche Vergangenheit der Stadt Cöln ihren Mit-
gliedern zu vermitteln, und zwar durch Vor-
träge und Wanderungen zu den vorgeschicht-
lich bedeutsamen Stätten des Stadtgebietes. Den
Beschluß dieser Veranstaltungen bildete eine am
4. Juli 1915 stattgefundene Wanderung durch
das rechtsrheinische Cölner Gebiet. Gerade
dieser Teil des Stadtgebietes zeichnet sich durch
eine Fülle wichtiger Fundplätze aus.
Eine stattliche Anzahl Damen und Herren
nahmen an der Wanderung teil. Zunächst ging
es nach Dünnwald in die dortigen Wälder zu
den dort liegenden Grabstätten. Der Vorsitzende
22
der Gesellschaft, Rektor R ad e mache]-, begrüßte
auf einer solchen die Teilnehmer, spracb von
der Geschichte der Erforschung der nieder-
rheinischen Grabhügel im allgemeinen, wies
nach, daLi ihre Errichtung in die erste Eisenzeit
(1200 bis 500 v. Chr.) zu setzen ist, da nicht
Germanen die Grabhügel errichtet, wie so lange
angenommen wurde, sondern eine vorgermani-
sche Bevölkerung hier am Niederrhein gesessen
habe. Redner schilderte die Kultur dieser Zeit
und zeigte, wie etwa im 5. Jahrhundert v. Chr.
die Germanen aus Westfalen den Niederrhein
besetzt haben. Anlage und Einrichtung der
Grabhügel konnte an Ort und Stelle gezeigt
werden. Die Leichen wurden verbrannt, die
Reste pietätvoll nach gewissen Grundsätzen in
Urnen geborgen, diese mit einem Deckel ver-
schlossen, oft ein kleines Beigefäß hinzugefügt,
das Ganze dann auf den Boden gestellt und ein
kleiner oder größerer Hügel darüber errichtet.
Von Dünnwald ging die Wanderung nach
Delbrück. East in ununterbrochenem Zuge setzen
sich, allerdings vereinzelt, die Grabhügel von
Dünnwald bis zum Bahnhof Delbrück fort und
leiten so zu dem größten Grabfeld nicht nur
deB Stadtgebietes, sondern des ganzen Bezirkes
/wischen Sieg und Wupper, der sogenannten
„Iddelsfelder Hardt" über. Der Vorsitzende
berichtete dann über die Funde von dieser über
1200 Grabhügel zählenden Stätte, die dann, so
viel als es die Hitze erlaubte, in Augenschein ge-
nommen ward. Der ganze Platz ist mit Tannen
bestanden. Hügel wölbt sich hier an Hügel, von
den kleinsten , unscheinbaren bis zu mächtigen
Erhöhungen; auch Langgräber kommen vor.
Weitere Grabfelder in Königsforst wurden noch
besucht; eines gleich an der Landstraße ist seit
einigen Jahren abgebaggert. Im „Waldhotel"
fand bei verdientem Trunk die Wanderung
ihren Schluß. —
Über die Vermehrung der Sammlungen und
die weitere Ausgestaltung des Cölner Prähisto-
rischen Museums berichtete am Mittwoch, den
28. Juli 1915, in der Mouatsversammluug der
Cölner Anthropologischen Gesellschaft der Vor-
sitzende, Rektor Rademacher, im Museum
selbst.
Großen Zuwachs hat das Museum in der
letzten Zeit zu verzeichnen, sowohl durch den
Ankauf umfangreicher Sammlungen, wie durch
Zuwendungen. Die Darstellung des Entwicke-
lungsganges der Kultur des Menschen er-
folgte durch Vermehrung von einschlägigen
Funden, sowie besonders durch die Einrichtung
einer Abteilung „diluviale Kunst", welch letz-
tere das interessanteste Problem der ganzen
diluvialen Menschenforschung bildet. Skulptur
Gravur, Zeichneu und Malerei lassen sich an
dem vorhandenen Material nunmehr übersehen
und geben Einsicht in die Psyche des Menschen.
Aus dem Knochenmaterial der Kartsteinhöhle
konnten zwei vollständige riesige Schädel des
Höhlenbären zusammengesetzt werden. An wich-
tigen größeren Ankäufen sind zu verzeichnen
zunächst der Erwerb einer umfangreichen Samm-
lung „Steingeräte der Sahara", die von einem
deutschen Forscher kurz vor dem Kriege ge-
sammelt waren. Dieselbe gibt ein anschauliches
Bild der kulturellen Zusammenhänge nordafri-
kanischer und europäischer Kultur, sowohl wäh-
rend wie nach dem Diluvium.
Die Steiutechnik der nordgermanischen jün-
geren Steinzeit, auch aus der Kjökkenmöddinger-
Stufe (Küchenabfallhaufen), brachte der Ankauf
einer großen Sammlung zu einem gewissen Ab-
schluß. Reiche Serien prachtvoller Beile und
Dolche sind darunter, auch geschlossene Grab-
funde mit zum Teil wertvollem Inhalt au Gefäßen,
Steinbeileu und Bronzen (Schwertern).
Die erste Eisenzeit unserer niederrheinischen
Heimat (1200 bis 500 v. Chr.) vermehrte sich
ebenfalls durch Grabfunde aus diesem Gebiete,
aus denen besonders einige von Scheuerbusch
bei Wahn (Geschenke der Direktion der Dynamit-
fabrik) hervorzuheben sind. Sie stammen aus
dem 12. bis 10. Jahrhundert v. Chr. Die zweite
Eisenzeit für den Niederrhein, die germani-
sche Zeit, konnte sich durch Ausgrabungen,
Aukäufe und Schenkungeu zum ersten Male gut
entwickeln; daneben fand aber auch die ent-
sprechende keltische Kultur weitere Berück-
sichtigung. Die germanische Kultur der
römischen Kaiserzeit fand weitere Auf-
klärung durch die umfangreichen Ausgrabungen
in Opladen. Den Abschluß der nordgermani-
schen Kultur (Wickingerzeit) zeigeu die
reichen Brouzefunde aus Wickingergräbern des
6. Jahrhunderts n. Chr. von der ostpreußischen
Grenze (Fibeln, Hals- und Armringe, Brust-
schmuck).
Neben der Beschaffung dieses Urkunden-
materials, das zu entziffern der vorgeschicht-
lichen Forschung in immer größerem Maße ge-
lingt, hat das Museum sein besonderes Augenmerk
darauf gerichtet, die Kulturen der verschiedenen
Epochen selbst durch Bilder und Modelle zu
veranschaulichen (Grab- und Hausbauteu der
verschiedenen Zeiten). Insbesondere soll durch
sogenannte Ent wickeluugsreihen die Arbeit
des menschlichen Geistes bei der Vervollkomm-
nung eines Werkzeuges oder Schmuckgegen-
standes dargestellt werden. Kein Objekt ist
23
hierfür anschaulicher als die Axt. Die Zu-
sammenstellung von mehr als 30 Äxten aus
sämtlichen gesclüchtlicheu und vorgeschichtlichen
Perioden gibt die Entwicklung von dein dilu-
vialen Faustkeil bis zur modernen Axt wieder.
In entsprechender Weise ist noch die Entwicke-
lung des Dolches und der Fibel (Gewandspange,
Brosche) zur Darstellung gebracht worden.
Der neue Führer, in welchem alle Neuerwer-
bungen und Umordnungen berücksichtigt sind,
ist in 3. Auflage erschienen. —
Sonnabend, den 25. September 1915, ver-
einigte die Cöluer Anthropologische Gesellschaft
eine stattliche Anzahl Mitglieder mit ihren
Damen und Gästen zu einem Besuche der vor-
geschichtlichen Grabhügel des Vor-
gebirges in der Umgegend von Brühl und
Kierberg. Vom schönsten Wetter begünstigt,
ging die Wanderung vom Bahnhof Kierberg zu
dem nahe gelegenen Hochwald, der eine Anzahl
von etwa 40 Grabhügeln umfaßt, die meist aus
der ersten Eisenzeit ( 1 200 bis 500 v. Chr.), einzelne
jedoch aus der jüngeren Steinzeit, und zwar aus
dem Ende dieser Periode stammen. Auf einem
der bedeutenderen Hügel begrüßte der Vor-
sitzende der Gesellschaft, Rektor Rademacher,
die Erschienenen und besonders die Bonner Gäste,
Herrn Geheimrat Verworn, der mit mehreren
anderen Professoren der Bonner Universität als
Vertreter der Bonner Anthropologischen Gesell-
schaft an der Wanderung teilnahm. Kirchen-
maler T holen berichtete über die Gräber, die
Zeit ihrer Entstehung und gab eingehende Bei-
träge zur Kultur der einzelnen durch die Grab-
hügel vertreteneu Perioden. Nach einer ge-
meinsamen Wanderung durch den herbstlich
prangenden Wald wurde die Braunkohlengrube
„Gruhlwerk" besucht. Der Direktor des Werkes
führte zunächst der Gesellschaft die Art und
Weise des Tagebaues vor, wobei an Ort und
Stelle die Entwickelung dieser bedeutsamen
Flöze und die Gewinnung ihrer Schätze iu
Augenschein genommen werden konnte. Daran
schloß sich ein Rundgang durch die Brikett-
werke, deren mächtige Ausdehnung und zweck-
mäßige Einrichtung die Bewunderung aller Teil-
nehmer hervorrief. Zum Schluß vereinigte die
Direktion der Grube die Gesellschaft zu einem
gastfreien Imbiß in den Räumen des Bahnhofs
Kierberg. —
Wiederholt haben in letzter Zeit die Tages-
blätter Artikel über den Aberglauben in diesem
Kriege und über Amulette gebracht, deshalb
war es sehr zeitgemäß, daß die Collier Anthro-
pologische Gesellschaft dieses Thema zu einem
Vortrage für Mittwoch, den 20. Oktober 11)15,
wählte.
Sanitätsrat Dr. Dormagen zeigte dabei an
Hand seiner Sammlung, daß der Aberglaube im
Kriege und die Vorstellung von Schutzkraft
der Amulette immer und überall bestanden
haben.
„Unser prähistorisches Museum, dessen Be-
such nicht warm genug empfohlen werden kann,
enthält bereits aus prähistorischer Zeit Amu-
lette aus Ton, Beiu, Stein und Bronze einfach-
ster Art, bestehend aus runden Scheiben u. dgl.
In Ägypten aber, das schon vor Tausenden
von Jahren eine hohe Kultur besessen , finden
sie sich in mannigfacher Gestalt, als Nachbil-
dungen vou Gottheiten, heiligen Tieren: Katzen,
Sperber, Schakal, vor allem aber in Gestalt des
berühmten heiligen Scarabäus.
Die Römer verfertigten Amulette aus Bronze
für Seefahrer, erotische und solche gegen den
sogenannten bösen Blick. Die Araber uud Perser
nanuten ihre Amulette „Talismane". Diese
brauchen nicht getragen zu werden ; sie köunen
auch am Hause befestigt sein; der Talisman
kanu aber nur abwehren, nicht Gutes wirken.
Von diesen Völkern kam der Gebrauch der
Amulette auch in die christliche Kirche. Wenn
nun auch das Tragen derselben von verschie-
denen Synoden bei Strafe verboten wurde, so
konnte es doch nicht verhindert werdeu. Des-
halb sorgte die Kirche dafür, daß dieser heid-
nische Überrest sich in christliche Formen
hüllte: Anhänger iu Kreuzform und Figuren von
Heiligen; in byzantinischer Zeit mit dem hei-
ligen Georg und St. Michael.
Im Mittelalter, wo der Aberglaube reichlich
blühte (man denke an die Wahrsagungen der
Astrologie, die Alchemie, den Teufelsspuk, die
Geistererscheinungen , an die Ordalien oder
Gottesurteile, an die Hexenprozesse), wurden,
zumal gegen Krankheiten, unzählige Arten von
Amuletten in verbis, in herbis et in lapidibus ge-
tragen. So zeigte der Vortragende denn zahl-
reiche sogenannte Hexenbriefe , Kräuter und
Halbedelsteine, die als Amulette gedient hatten.
Bei der Herstellung der Amulette wurden viel-
fach die ekelhaftesten Sachen, wie verbrannte
Kröten, Regenwürmer, Menscheumoos und wider-
liche Kräuter verwandt; dieses rührt von der
Vorstellung her, daß das, was dem Menschen
widerlich ist, auch auf die Dämonen und bösen
Geister, gegen welche mau sich schützen wollte,
abschreckend wirke.
Aber auch jetzt noch werden Amulette, zu-
mal in diesem Kriege, getragen. Bei Wertheim
in Berlin ist die Alraunwurzel, die einst als
24
Alrauimiännehen eine große Rolle spielte, noch
beute zu haben. Das bei vielen Völkern vor-
kommende Svastikakreuz liegl bei unseren Juwe-
lieren im Schaufenster aus. Das vierblätterige
Kleeblatt wird den Soldaten von ihren Bräuten
verehrt In verschiedenen Drogengeschäften
sind Zahnhalsbänder für Kinder feil.
So finden wir denn überhaupt den Aber-
glauben namentlich im Kriege zu alleu Zeiten,
so bei den Griechen, besonders bei den Kömern,
die aus dem Fluge der Vögel, dem Fressen der
Hühner Glück oder Unglück weissagten. Im
30jährigen Kriege war das Fest-, Stichfest- oder
Gefrorenmachen weit verbreitet. Es wurden
hierzu besonders Sprüche oder Zeremonien vor-
genommen oder bestimmte Zaubermittel, be-
sonders die Alraunwurzel oder Allermanns-
harnisch oder das sogenannte Not-St. Georgs-
siegeshemd, das von reinen Jungfrauen unter
bestimmten Zeremonien in heiliger Stunde ge-
sponnen wurde, angewandt, wie auch in Wallen-
steins Lager und im Freischütz sehr eingehend
geschildert wird.
Ferner spielen Tiere eine große Rolle im
Kriege. Bei den alten Germauen galt das Pferd
als glückbringend. Heute bezeichnet mau das
Glückschweinchen, den Maikäfer und den
Marienkäfer als glückbringend, dagegen den
Hasen, die Biene, den Raben und die Dohle
als unglückbringend. Weit verbreitet war auch
der Wund- und Blutstillungszauber, wofür es
Tausende von Rezepten gibt, nicht allein von
Schäfern oder alten schieläugigen Weibern
(Hexen) , sondern auch von wissenschaftlich
hochgebildeten Ärzten.
Damit vergleiche man die heutigen Vor-
sichtsmaßregeln bei Volksseuchen und die Be-
handlung der Wunden, der Kopf-, Bauch- und
Geleukschüsse, die früher, noch 1870, fast alle
tödlich waren, mit ihren ans Wunderbare gren-
zenden Erfolgen. —
Am Donnerstag, den 18. November 1915,
hielt die Cölner Anthropologische Gesellschaft
ihre Mitgliederversammlung im Museum für
Volkshygiene ab.
Das Thema des Abends war: „Höhlen und
Höhlenfunde im Neandertale", Referenten
Herr Kirchenmaler Tholen und Herr Prof.
Dr. Czaplewski.
Zuerst berichtete Herr Kirchenmaler Tho'len
auf Grund genauerer Studien au Ort und Stelle
über das Neandertal und seinen jetzigen Zu-
stand. Nach kurzen Bemerkungen über die Be-
deutung der Auffindung des fossilen Menschen-
skeletts im Neandertale suchte der Vortragende
ein Bild von dem ursprünglichen Zustande des
Tales, zum Teil nach Angaben von noch leben-
den Zeugen der damaligen Zeit, zu entwerfen.
Man hat sich das Neandertal als eine etwa 2 km
lange, 60 bis 70 m tiefe, von der Dussel durch-
strömte Schlucht zu denken, in der sich eine
Anzahl verschieden großer natürlicher Höhlen
öffneten. Heute ist das Tal durch Steinbruch-
betrieb vollständig zerstört. Nach kurzen Aus-
führungen über die Bedeutung der Höhleu für
den diluvialen Menschen überhaupt, schilderte
Redner eingehend die Auffindung des Skeletts
in einer kleinen , vorhin gar nicht beachteten
Höhle, darauf den besonders über die auf-
fallende Form des Schädels einsetzenden Streit
der deutschen und ausländischen Gelehrten, der
erst sein Ende fand, als an anderen Orten fos-
sile Menschenschädel mit gleichen Formen ge-
funden wurden. Redner machte es sodann
wahrscheinlich, daß der Neandertalmann in der
Höhle pietätvoll beigesetzt sei, die Skeletteile
also nicht von einem zufällig durch Wasserfluten
angeschwemmten Toten herrühren, wie bisher
meistens angenommen wurde. Die Auffindung
eines zweiten Skeletts spricht noch mehr für
diese Annahme. Zum Schluß faßte Redner das
Hauptresultat seiner Untersuchungen in folgen-
dem Satze zusammen: Das Neandertal war durch
seine günstige Lage am Rande der Rheinebene,
sowie durch eiue Anzahl von großen offenen
Höhlen als Wohustätte für den diluvialen Men-
schen sehr geeignet, und da dortselbst zwei
diluviale Menschenskelette gefunden sind, die
höchstwahrscheinlich von Bestattungen herrühren,
so dürfen wir unbedingt das Neandertal iu die
Reihe der diluvialen Wohnstationen aufnehmen
Eine wirksame Ergänzung zu dem Vortrage
des Herrn Tholen brachte der zweite Redner
des Abends, Herr Prof. Dr. Czaplewski, in-
dem er aus zwei, den Mitgliedern der Gesell-
schaft unbekannten älteren Publikationen den
früheren ursprünglichen Zustand des Neander-
tales vor seiner Zerstörung durch den
Steinbruchbetrieb schilderte. Die erste
Schrift vom Jahre 1835, „Wanderung zur Ne-
anderhöhle", ist von Hofrat Dr. J. H. Bon-
gard. Die ganze Gegend des Neandertales mit
seinen Höhlen wird eingehend geschildert und
konnte, da auch gute Abbildungen in dem kleinen
Werke vorhanden sind, vom Vortragenden im
Lichtbilde zur Erläuterung vorgeführt werden.
Die zweite Schrift aus dem Jahre 1852 ist
ein ausführlicher Zeitungsartikel der „Kölnischen
Zeitung" von dem bekannten Bonner Geologen
Noeggerath, dessen Einsicht der Vortragende
der Liberalität der „Kölnischen Zeitung" ver-
dankt. Noeggerath knüpft an aus dem Ne-
25
andertale stammende ausgestellte Marmorproben
an und schildert dann einen Besuch des Neander-
tales. Noch (1852) ist viel erhalten, so auch
die Höhlen ; aber schon ist eine Eisenindustrie
emporgeblüht, nachdem der Schienenstrang die
Gegend erschlossen. Der Besuch des schönen
Tales ist dadurch erleichtert, aber auch eine
Steinbruchindustrie hat sich am Ausgang des
Tales niedergelassen und beginnt dasselbe anzu-
schneiden.
Der Vortragende schilderte dann nach den
Augaben von Fuhlrott, Lyell u.a. die fort-
schreitende Zerstörung des Tales, die heute eine
fast vollständige genannt werden kann.
liedner hebt die Zerstörung des Neauder-
tales als warnendes Beispiel hervor, welche un-
ersetzliche Werte nicht nur durch den Krieg,
sondern — falls nicht Obacht gegeben wird —
auch als Opfer der Arbeit des Friedens zer-
stört werden.
Für Düsseldorf, Elberfeld und die nähere
und weitere Umgebung der Rheinlande ist damit
eine der schönsten Gegenden zerstört. Für die
Anthropologie, für Deutschland und die
Menschheit bedeutet dieser Verlust mehr,
denn mit dem romantischen Neandertal ist un-
zweifelhaft eine der allerwichtigsten Familien-
Urkunden der Menschheit, welche bis dahin alle
Zeiten überdauert hatte, als sie ans Licht kam
in letzter Stunde, aus Unachtsamkeit verloren
gegangen.
Der Neandertalfund selbst ist ganz unvoll-
ständig, seine Zusammengehörigkeit zweifelhaft,
der Fundbericht höchst lückenhaft. Weitere
zahlreiche Funde (meist Tierknochen) aus dem
Neandertale sind gemacht, aber zerstreut, wer
weiß wohin. Prof. Dr. Czaplewski bittet daher
um gütige Nachrichten über solche Funde und
ihren Verbleib, sowie über das Neandertal in
seinem früheren Zustande. Auch regt er an,
noch vorhandene Schriften, welche heute zum
Teil nur noch durch Zufall zu erhalten sind,
der Cölner Anthropologischen Gesellschaft bzw.
dem Prähistorischen Museum im Bayenturm
überweisen zu wollen, ehe sie der Vernichtung
preisgegeben werden.
Es ist im höchsten Maße bedauerlich , daß
man das Neandertal mit seinen Schönheiten und
Reizen , seinen so wichtigen Grotten hat unter-
gehen lassen. Das Bergische Land hatte in dem
Neandertale mit seinen Höhlen sozusagen ein
deutsches Vezeretal vor den Toren seiner Städte,
zu dessen Ausgrabung Bongard sowohl wie
Noeggerath direkt auffordern.
Man hat über den Schädelrest die tief-
sinnigsten, zum Teil vollkommen falschen Ab-
handlungen geschrieben und dabei untätig zu-
gesehen, ohne sie genauestens zu durchforschen,
wie die wichtigsten Fundstellen unaufhalt-
sam zerstört wurden. —
In der Mitgliederversammlung der Cölner
Anthropologischen Gesellschaft am Mittwoch,
den 15. Dezember 1915, die im Vortragssaale
des Museums für Volkshygiene stattfand, sprach
der Vorsitzende der Gesellschaft, Rektor Rade-
tnacher, zunächst über die rheinischen Grab-
hügel, deren Herkunft und Zeitstellung sich
durch die Arbeiten und Sammlungen des Cölner
Prähistorischen Museums ergeben haben.
Die Grabhügel gehören der ersten Eisenzeit
an (1200 bis 500 v. Chr.). Gegen Ende dieser
Periode erfolgte am Niederrhein, besonders im
Sieg-Wuppergebiet, die Einwanderung der Ger-
G'öttervase vom Fliegenberge bei Troisdorf.
manen, die seitdem beständig nach Süden dräng-
ten und etwa um das Jahr 100 v. Chr. den Main
erreichten.
Die Germanen hatten die Hügelbestattung
nicht mehr, sondern setzten ihre Toten in soge-
nannten Urnenfeldern bei. Die germanischen
Flachgräber sind am Fliegenberge bei Trois-
dorf, im Kreise Mülheim und auf dem Vor-
gebirge festgestellt worden. Sie gehören dem
3. Jahrhundert v. Chr. an. Germanische Gräber
ans dem 1. Jahrhundert v. Chr. fanden sich bei
Cöln (Fühlingen und Fliegenberg) und Mayen.
Zahlreicher sind in unserem Gebiete die ger-
manischen Fundstellen des 1., 2. und 3. Jahr-
hunderts n. Chr. Die erste derartige Nieder-
lassung wurde am Fliegenberge bei Troisdorf
entdeckt und untersucht. Außer Gräbern fanden
sich hier Wohnanlagen (mehrfach mit rundem
Grundriß). Von hier stammt auch die berühmte
Göttervase des Cölner Prähistorischen Museums,
ein Tongefäß mit sechs Götterbildnissen auf
der Bauchwand. Weitere Gräber dieser Periode
4
2ü
befinden sich bei Niederpleiß, in Scheuerbusch
bei Wahn, im Kreise Mülheim, besonders jedoch
auf dem Rosentalsberg bei Opladen.
Über dieses Grabfeld berichtete Herr
Springensgut etwa folgendes: „Während bei
Eröffnung des Prähistorischen Museums im
Bayenturm im Jahre 1906 germanische Grab-
fnnde aus der Cölner Umgebung fehlten, sind
dort jetzt solche von sieben Grabfeldern vor-
handen (linksrheinisch von Trippeisdorf am
Vorgebirge und Fühlingen, rechtsrheinisch von
Niederpleis, Fliegenberg, Wahn, Mülheim und
Rheindorf bei Opladen). Das letzte Grabfeld
ergab zahlreiche Funde vom Eude des 1. bis
4. Jahrhunderts ii. Chr.: Fußurnen, Buckelurnen,
Kumpen, Terra sigil lata -Schalen, Gewand-
Bpangen aus Eisen, Bronze und Silber, auch
.in aillierte; außerdem in Männergräbem Schild-
buckel, Schildbeschläge; in Frauengräbern Näh-
nadeln, Haarnadeln und Kämme; in Kiuder-
gräbern Spielzeug, nämlich Tonpuppe und
bronzene Rassel. " Ferner fanden sich Beschlag-
stücke und Nägel aus Eisen und Bronze, Messer,
Wetzsteine, eiserne Scheren, Teile von Bronzesieb
und Kasserolen, Schmuckperlen aus Glas und
Ton und sonstiges. Das Ergebnis der Unter-
suchung der 245 Gräber ist kurz folgendes :
1. Die Gräber sind Flachgräber, keine Hügel-
gräber, und liegen in zeitlich zusammengehörigen
Gruppen. 2. Zum Verbrennen der Toten wurde
meist Eichenholz verwendet. 3. Die Beigaben
wurden oft absichtlich zerbrochen. 4. Die Me-
tallbearbeitung stand in hoher Blüte, was die
zierlichen, mit Silberfiligran verzierten Eiseu-
fibeln beweisen, die geschmiedet wurden,
während die Brouzefibelu gegossen wurden.
5. Die germanische Metallarbeit und Töpferei
ist durch die römische Kultur nicht wesentlich
beeinflußt.
An Stelle des großen germanischen Gräber-
feldes auf der Rheindorfer Hardt oder Rosen-
talsberg kuüpft sich eine Sage, nach welcher
der tote Heidenkönig iu einem goldenen Sarge
auf einem mit vier weißen Ochsen bespannten
Wagen in den Wald gefahren und dort mit
reichen Schätzen beigesetzt worden sei. Am
Rande des Grabfeldes ist die Stelle einer wahr-
scheinlich germanischen Hütte gefunden worden,
welche vielleicht dem Wächter des Grabfeldes
als Wohnung diente."
Zum Schluß legte Rektor Rademacher
eine Anzahl geschäfteter Steinbeile vor. Die
Schäftungen sind genaue Nachbildungen erhal-
tener Originale aus Pfahlbauten, Gräbern und
Mooren und sind aus Eschenholz, und zwar aus
esonders astreichen Stücken hergestellt. Ver-
suche ergaben , daß andere Hölzer bei der Be-
nutzung sofort zersplitterten.
Eines der Beile, eine große Zimmeraxt mit
geschwungenem Stiel, eignete sich vorzüglich
zur Arbeit. Ein mäßiger Buchenstamm wurde
mit derselben in 13 Minuten durchgehauen,
8 Minuten erforderte dieselbe Arbeit mit einer
modernen Eisenaxt. Diese Beile erklären die
Kulturhöhe des Steinzeitalters.
Herr Regierungsbaliführer E. Rademacher
hat die Schäftungen für das Prähistorische Mu-
seum hergestellt. —
In der Mitgliederversammlung der Cölner
Anthropologischen Gesellschaft am Mittwoch,
den 12. Januar 1916, sprach Herr Architekt
Eberlein über die „Typen des deutschen
Hauses". Redner hatte im Laufe der Jahre in
den verschiedensten Gegenden Deutschlands und
angrenzenden Ländern viele Studien und Auf-
nahmen gemacht, welche er in Lichtbildern vor-
führte. Hauptsächlich waren es die Typen
der Westgermanen, welche eingehend er-
läutert wurden, und zwar: 1. das fränkische
Hans, 2. das friesisch - niedersächsische
Haus, 3. das suevische Haus. Die ältesten
Beispiele, welche wir über das deutsche Haus
besitzen, sind Hausurnen, Funde teils aus
vorgeschichtlicher und teils aus geschichtlicher
Zeit. Eine Anzahl steinerner Hausurneu aus
Elsaß und Lothringen, welche aus der Zeit
zwischeu 250 bis 300 n. Chr. stammen, wurden
einleitend gezeigt; desgleichen primitive Ur-
sprungstypen und Hünenbetten. Hierauf
wurde auf das fränkische Haus einge-
gangen, welches mit dem suevischen und dem
friesisch - nieder6ächsischen als Ursprungsmotiv
den Zeltbau aufweist. Gemeinsam ist diesen
drei Typen der Fachwerkbau mit steilen Dächern
und einem dreiteiligen Grundplan. Nur das
friesische Haus weist eine Kombination mit
einem älteren nordischen Typus auf. In seinen
Ursprungsformen hat sich das fränkische Raus
in Holland südlich der Vechte und am Nieder-
rhein nördlich Krefeld am besten erhalten, wäh-
rend das rheinfränkische eine weitere Entwicke-
lung zeigt. Die 400 jährige Kolonisation der
Römer am linken Rheinufer hat sich bei dem
fränkischen Hause eigentlich nur auf die Anord-
nung der Wirtschaftsgebäude erstreckt, während
das eigentliche Haus echt deutsch blieb. Bei-
spiele: Die Cölner Höfe rings um Cöln und die
vielen Hofhäuser im alten Ubierlande. Eine
Mittelstellung zwischen friesischen und nieder-
fränkischen nimmt das westfälische Haus ein.
Beim friesischen Hause wurde betont, daß
es das größte und anspruchsvollste ist, dessen
27
Größe schon Tacitus erwähnt, indem er sagt,
daß der Friesen Häuser sehr groß seien und
Bergen glichen (Hauberge). Diese großen
Friesenhäuser werden schon bezeugt — wie
Strabo anführt — durch Pytheas aus Massilia,
im Jahre 330 v. Chr., als der erste Lichtstrahl
der Geschichte auf Deutschland fiel. Als Grund
der Errichtung solcher großen Häuser gibt
Pytheas au : „Viel Regen und selten Sonnen-
schein nötigen die Bewohner jener Gegenden,
große Gebäude zu errichten, um ihr Getreide
im Trockenen ausdreschen zu können."
Anschließend an das fränkische und frie-
sische Haus wurde noch ein zweiteiliger Typus
erläutert, der vielfach irrtümlich zu dem frän-
kischen gezählt wird. Der Redner wies an Hand
von Beispielen nach, daß es sich hierbei um einen
selbständigen, älteren, einräumigen Typus
handelt, der seinen Ursprung teils in der Gruben-
wohnung, teils im Pfahlbau hat und in eine
ferne Vorzeit hinaufragt. Gemeinsam ist diesem
Typus: 1. zweigeteilter Grundplan; 2. Block-
holzbau ; 3. flache Dächer; 4. Vorlauben; 5. gleiche
Benennungen für kleinere oder größere Teile
des Hauses, sofern nicht fremde Einflüsse mehr
oder weniger von diesen Merkmalen verwischt
haben. Die Verbreitung dieser Häuser ist haupt-
sächlich im östlicheu Deutschland, in Böhmen,
Polen, Vorarlberg, südlichen Bayern, in Teilen
von Österreich, in verschiedenen Tälern der
Schweiz, aber auch iu Schweden und Norwegen.
Zum Schluß wurde noch der dritte Typus der
Westgermanen erläutert: „der suevische", der
bisher keine genügende Würdigung fand, denn
er wurde immer als Spielart anderer Typen
bezeichnet. Während gerade der suevische Typus
mit der verbreitetste ist und germanische Kul-
tur nach Ländern brachte, wo früher nur süd-
ländische Kultur herrschte, wie z. B. iu Südtirol
und der Po-Ebene mit der Provinz Venedig. Die
suevischeu Longobarden brachten ihre heimische
nordische Kultur und Kunstweise mit. Viele
Kunstformen in Venetien und der Lombardei
bezeugen dieses. Wenn auch die äußeren Formen
der Fassadengestaltung in Venedig die klassische
Kultur aufweisen, so sind aber die Grundplan-
formen des Hallenbaues mit der Sala echt deutsch.
Vergleichsbeispiele von Haustypen der Nord-
und Südsueven aus Deutschland mit solchen
aus Venedig haben die Übereinstimmung dar-
getan und zeigen, zu welcher Großartigkeit der
Entwickeluug der aus einfachen Formen hervor-
gegangene suevische Typus fähig ist 2). —
') Demnächst wird Herr Architekt Eberlein eine
ausführliche Publikation mit Abbildungen über dieses
Thema erscheinen lassen.
In der Cölner Anthropologischen Gesellschaft
(Verein zur Förderung des städtischen Prä-
historischen Museums) sprach am Mittwoch, den
16. Februar 1916, Prof. Dr. Czaplewski „Über
altperuanische Vasen". Au der Hand einer
Reihe von Lichtbildern nach Seier, Reiss und
Stübel u. a. zeigte der Vortragende zunächst
den großen Formenreichtum der altperuanischen,
fast durchweg aus Gräberfunden stammenden
Tongefäße. Dieselben stellen männliche und
weibliche Figuren, Götzen, vierfüßige Tiere,
Vögel, Fische, Krabben und audere niedere
Tiere, sowie mancherlei Früchte dar. Auch
finden sich Gruppendarstellungen und Allegorien.
Die Gefäße sind teils einfarbig aus rötlichem
oder schwarzem Ton, oder weißgelblich, rot
oder braun bemalt. Oft finden sich darauf
größere feine, au altattische Vasen gemahnende
Malereien. Es kommen Becher, Krüge, Flaschen,
Schalen, Töpfe verschiedenster Form vor, die
Figurendarstellungen meist au Trinkkrügen und
an Flaschen. Letztere haben zum Teil einen
soliden Henkel oder sind Bügelflaschen höchst
auffallender Art, bei welchen auf den hohlen
Bügel in der Mitte oben eine Ausgußröhre auf-
gesetzt ist. Die Mehrzahl der Tongefäßfuude
soll aus Gräbern der Chimus stammen, eines
Küstenstammes, welcher von den Inkas unter-
worfen wurde, deren Herrschaft auch nur auf
150 Jahre geschätzt wird.
Den Anlaß zu diesem Vortrage gaben 38 Vasen
aus altpertianischen Gräberfunden, welche Herr
Hauptmann Carl Hesse (ein Sohn des Berg-
werksdirektors Hermann Hesse in Brühl), 1911
an die Deutsche Gesandtschaft in Santiago de
Chile kommandiert, von eiuer Reise nach Peru
mitgebracht hatte. Nachdem er leider 1914 im
Osten gefallen, glaubte die Familie in seinem
Sinne zu handeln, wenn sie diese Schätze zur
Bearbeitung zur Verfügung stellte. Es sind
zwei Tonkrüge, drei Tonflaschen mit solidem
Henkel, im übrigen die geschilderten Bügel-
flaschen, fast durchweg Menschen- und Tier-
figuren darstellend. Besonders merkwürdig sind
zwei derselben: auf der einen, roten, ist ein
Medizinmann mit fletschenden Zähneu, mit einer
doppelköpfigen Giftschlange umgürtet, darge-
stellt, dessen Hände von den Scheeren einer
Krabbe gepackt sind. Die audere, schwarze,
zeigt mehrere äußerst kunstvoll angeordnete,
ineinander verbissene Tierköpfe (Puma) in
scharfen Linien, etwas stilisiert, herausmodelliert,
ein ganz hervorragendes Kunstwerk. Ferner
wurden ebendaher eine tönerne Trompete mit
markantem Götzenkopf und eine tönerne Puppe
(mit Vergleichsbildern), sowie eine durchbohrte
28
Steinkugel vorgeführt. An der Hand einer
größeren Zahl farVjiger Lichtbilder schilderte
der Vortragende die Gräber selbst nach den
Ausgrabungen in Aneon (bei Lima) durch Reiss
und Stübel, welche dort 1875 systematisch ein
ganzes Totenfeld aufdeckten und mustergültig
beschrieben. Es handelte sich zum größten Teile
Fig. 5.
[hei altperuanische BiigelÜaschen mit hohlem Bügelhenkel.
Fig. 6.
Altperuanische Bügelrlasehe „der Medizinmann" mit Krabbe
(Krabben-Dämon?)
Fig. 7.
Altperuanische Bügclrlasehe mit stilisierten Tierköpfen (Puma).
um Hockergräber, bei denen die Hocker zum
Teil in reich ausgestatteten Mumienballen, welche
teilweise sogar falsche Köpfe tragen und sitzende
Indianer nachahmen, nebst vielen Beigaben bei-
gesetzt sind. Das Gräberfeld ist später von
Charles Wiener nochmals ausgegraben wordeu,
welcher noch weitere reiche Schätze (auch Gold-
funde) aufdeckte. An anderen Stellen Perus
rinden sich auch große Grabhügel mit Massen
von Gräbern neben- und übereinander, zum
Teil sogar Grabpyramiden, in denen der
Fürst und seine Umgegend beigesetzt sind. Im
Gebirrje daire^en sind die Bestattungen zum Teil
in Höhlen oder in nebeneinander in schwer zu-
gängliche Felswände ein<>ehauenen Löchern. Die
Mehrzahl der Gräber ist jetzt jedoch von Schatz-
gräbern in wüstester Weise geplündert. Au
vergleichenden Bildern zeigte der Vortragende
sodann ähnliche Formen von Tongefäßen, welche
Schliemanu im alten Ilion ausgegraben, näm-
lich Heukeinaschen mit solidem Henkel in ver-
schiedenen Tierformeu, sowie die gewaltigen, in
den Boden eingegrabenen Toukrüge (Pithoi),
während in Ancon in den Boden gegrabene
alte riesige Tonkrüge zur Chibchabereitung
(aus gegorenem Mais) gefunden wurden. Da-
gegen fehlen in Ilion, anscheinend auch sonst,
die für Peru so charakteristischen Bügelflaschen.
Der Vortragende schloß mit einem warmen
Dank an die Familie Hesse für die Über-
lassung des kostbaren Materials und mit dem
Wunsche, daß es gelingen möchte, die wert-
volle Sammlung der Stadt Cöln zu erhalten.
Es folgte die Besichtigung der Originale, welche
allseitige Bewunderung infolge ihrer zum Teil
hervorragenden Formengebung und guten Er-
haltung hervorriefen. —
Montag, den 20. März 1916, behandelte im
großen Gürzeuichsaale der Vorsitzende der
Cölner Anthropologischen Gesellschaft, Rektor
C a r 1 R a d e m a c h e r , die Entwickelungsgeschichte
des Heidedorfes „Altenrath" auf der Wahner
Heide. Nach verschiedeneu Richtungen bean-
sprucht dieses Dorf besondere Beachtung, so-
wohl von seiten der Prähistoriker, wie der
Freunde der Volkskunde und der Naturfreunde.
Altenrath liegt auf der sogenannten Heide-
terrasse, die au den höchsten Stellen 60 bis
70 m über dem Bheintal aufragt. Wieder 50
bis 60 m höher als diese Terrasse erhebt sich,
zwischen Sieg und Agger, eine zweite Hoch-
fläche als Hochterrasse. Dieser Hochterasse ist
die Heideterrasse vorgelagert. Während frucht-
barer Löß das Hochplateau deckt, lagert in der
Mittelterrasse diluvialer Sand auf mächtigen
Tonschichten. Hierauf beruht auch der Heide-
und Moorcharakter des Gebietes mit den frucht-
baren Höhen der Hochterrasse. In der Vorzeit
war diese von Urwald bedeckt, der erst nach
der Besitzergreifung des Gebietes durch die
Franken allmählich versehwand.
Der Redner verbreitete sich dann auf Grund
langjähriger eigener Forschungen über die vor-
zeitliche Besiedelung der Heideterrasse, deren
29
erste Spuren in die Übergangszeit von der
älteren zur jüngeren Steinzeit zurückreichen.
Damals, wie auch bei allen nachfolgenden l>e-
setzungen, erfolgte dieselbe vom Rheintal aus;
das Randgebirge an der Agger weist am Fliegen-
berge Spuren dieser uralten Bevölkerung auf in
Gestalt kleiner, geometrisch geformter Steiu-
geräte. Von der vollausgebildeten jüngeren
Steinzeit drang, wiederum vom Rheintal, ein
Zweig der von Norden sich ausbreitenden Pfahl-
baukultur in unser Gebiet. Im Scheuerbusch
sind Ilausanlagen dieser Kultur beobachtet
worden, desgleichen auf den Höhen der Ileide-
terrasse selbst. Eine größere Siedelung ent-
stand jedoch am Abhänge des Ziehenberges an
der Agger auf seineu Abflachungen nach der
Heide zu. Daselbst bestand eine Dorfanlage
auf dem Gebiete des jetzigen Dorfes Altenrath.
Nach den Funden ist dieselbe dem Ende der
Periode, also der Zeit von 2000 v. Chr., zuzu-
sprechen. Diese Siedelung erstreckte sich weit
in die Heide hinein bis zum jetzigen Boxhohn.
Bedeutender noch war die Besiedelung der
Heideterrasse in dem Zeitraum von 1200 bis
500 v. Chr. Aus dieser Zeit stammen Tausende
der Grabhügel auf allen Teilen der Terrasse,
besonders auf dem westlichen Randgebirge und
der Heide selbst. Über die Anlage dieser Grab-
hügel, ihren Inhalt, die ethnologische Zusammen-
gehörigkeit der Bewohner verbreitete sich der
Redner eingehend in Wort und Bild. Das jetzige
Dorf Altenrath bildete auch damals wieder eine
Siedelung, nur lag der Schwerpunkt des Dorfes
noch mehr auf der Heide südlich des jetzigen
Dorfes. Nach den erhaltenen Grabhügeln be-
rechnet sich die Anzahl der Bewohner der ganzen
Terrasse auf etwa 400 bis 500, die sich auf
mehrere Dorfanlagen verteilen. Von letzteren
war Altenrath die größte (etwa 30 bis 40
Häuser). Im 5. Jahrhundert weicht diese Be-
völkerung vor den Germanen zurück, die nun
die Terrasse in Besitz nehmen. Eine neue
Siedelung entsteht, dieses Mal wieder am Fliegen-
berg, zu der sich dann im 3. Jahrhundert nach
Christo einzelne andere (Altenrath und Scheuer-
busch) gesellen. Im 4. Jahrhundert geht die
Bevölkerung des Sieg- Wuppergebietes in den
Franken auf. Die Franken verlegen den Schwer-
punkt auf die Güter, die sie in den Rand-
gebieten einrichten. Diese Güter bilden den
Ursprung der noch heute bestehenden adeligen
Sitze des Gebietes. Das Dorf Fliegenberg wird
verlassen, in Lohmar eine fränkische Dorfanlage
begründet, während das Gebiet von Altenrath
von neuem gerodet und durch Kolonisten be-
setzt wird. Die Erinnerung an die alte Siede-
lung hat dem Orte damals den Namen „Alten-
rath", d. h. „Alte Rodung", verschafft. Im
8. Jahrhundert erfolgt die vollständige Christiani-
sierung, die Gründung der Kirchen und die
Einrichtung von Kirchspielen. Die fräukische
Honschaft Altenrath wird mit der Hon-
schaft Rösrath mit den um diese Zeit ein-
gerichteten Höfen der Ilochterrasse (spätere
Freiheit Scheiderhöhe) zu dem Kirchspiel Alten-
rath vereinigt.
Bis 1361 war das Kirchspiel Altenrath
ein Teil der Herrschaft Löwenberg, dann
kam es zur Grafschaft Berg. Bei dieser ist
es geblieben, bis 1815 das Großherzogtum Berg
preußisch wurde. Die Reformation, besonders
der jülich-clevische Erbfolgekrieg, trugen
ihre Wellen auch bis in die Stille des Heide-
dorfes „Altenrath upper Heide", wie es da-
mals hieß, hinein. Auch die Schweden suchten
1632 dasselbe heim. In diesem Jahre erfolgte
dann die Übersiedelung eines Teiles der Sieg-
burger Töpferzunft nach Altenrath, die
hier eine Zeitlang weiter arbeitete, bis dieser
Zweig des Kunsthandwerkes auch hier nach
und nach einschlief. Die geringe Ergiebigkeit
des Bodens zwang die Bewohner jedoch andere
Beschäftigungen neben dem Ackerbau zu über-
nehmen; so ward es ein Webeidorf. Dies blieb
es bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts. In
den 70 er Jahren verschwanden die Webstühle,
die aufblühende Iudustrie der Nachbarorte gab
den Leuten Verdienst.
Gerade die Zeit bis zum Ende der Weberei
schilderte der Redner, wies nach, wie vieles von
den Sitten, Bräuchen und Liedern sich in dem
Dorfe erhalten, wie das Leben auf der Heide
sich abspielte, bis die Schießplatzverwaltung
immer größere Stücke des Gemeindebesitzes
ankaufte zur Vergrößerung des Schießplatzes.
Der letzte Ankauf erfolgte 1914; dadurch wurde
auch ein großer Teil des Dorfes selber an-
gekauft, der nun leer steht; die Grenze des
Schießplatzes reicht jetzt bis zur Kirche. Es
ist zu erwarten, daß auch die Tage des Restes
des Dorfes gezählt sind; dann wird die ganze
Heideterrasse wieder ein Ganzes bilden ohne
jede Siedelung. Die Schönheiten des Dorfes,
die Anlage der Wohnstätten, Heide und Wald
führte der Redner in zahlreichen Bildern vor
Augen, ebenso die alten Herrensitze Sülz und
Schönroth, die mit Altenrath eng verbunden
waren.
.111
Sitzung der Anthropologischen
Sektion der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg.
Die Sitzung der Anthropologischen Sek-
tion der Naturhistorischen Gesellschaft Nürn-
berg vom 15. März d. J. brachte einen Vortrat;'
\Y. Hehlen s, welcher die „Bedeutung der
Muschel in der Vorgeschichte" nach dem Werke
von Geh. Rat Pfeiffer-Weimar: „Die Stein-
zeitliche Muscheltechuik", und nach eigenen
Studien behandelte. Er beschrieb und zeigte
vor die in Europa seit der mittleren Altsteinzeit
verwendeten, vielfach aus fremden Meeren,
selbst aus der Südsee stammenden Seemuscheln,
welche als Schmuck und zu Werkzeugen Ver-
wendung fanden. Die jüngere Steinzeit legte
besonderen Wert auf solchen Schmuck und es
ist anzunehmen, daß das Material dazu auf dem
Wege des Handels beigebracht wurde.
Ein zweiter Vortrag von Kustos Hörmann
hatte „Deutsches Micoquien" zum Gegenstand.
Nach einleitenden Bemerkungen über die Funde
von La Micoque betonte er, daß deutsche Forscher
unter heimischen Paläolithfunden schon öfter
Micoqueähnlichkeit festgestellt haben. Aber dar-
auf, daß dem von La Micoque und einigen
anderen Orten der Dordogne bekannten Formen-
kreis auf deutschem Boden eine größere Rolle
zukommt, als man sie vom französischen bisher
annimmt, hat noch niemand hingewiesen. Das
ist aber auch uur möglich, wenn der Nachweis
erbracht ist, daß das Micoquien in Deutschland
wirklich vorhanden ist. Ein zufälliger Aufent-
halt O. Hausers in Nürnberg, des langjährigen
Bearbeiters der berühmteu Station bei Les Eyzies,
führte diese Möglichkeit herbei. Der Vortragende
hatte Dr. Hauser angesichts einer kleinen
Mieoquesammlung von seiner seit längerem ge-
hegten Vermutung, daß die Funde vom Kosten
bei Lichtenfels dem Micoquien angehören, und
daß es auch am Hohlen Fels, in der Klausen-
nische im Altmühltal und sonst in Deutschland
vertreten sei, erzählt und von den Folgerungen
gesprochen, welche au eiue derartige Verbrei-
tung der Micoqueindustrie in Deutschland sich
knüpfen müßten. Tatsächlich konnte denn auch
Dr. Hauser, als er die Hohle - Fels - Sacheu in
der Nürnberger Sammlung daraufhin durchsah
und in Lichtenfels die Dr. lioßbach-Sammlung
vom Kosten besichtigt hatte, die Gleichartigkeit
des deutscheu und französischen Formenkreises
feststellen. Es trifft sich glücklich, daß gegen-
wärtig eiue abschließende Veröffentlichung
Ilausers über seine länger als eiu Jahrzehnt
währenden Grabungen in La Micoque im Druck
ist. Die Ergebnisse dieser bisher umfangreich-
sten wissenschaftlichen Tätigkeit des Spatens
an einer und derselben paläolithischen Station
werden der deutschen Wissenschaft voraussicht-
lich ein hochwillkommenes Rüstzeug für die in
dieser Richtung einsetzende Forschung an die
Hand geben.
Wie Haus er schon in seiner Veröffentlichung
I über Micoque von 1907 hervorgehoben, Prof.
Obermaier jedoch bestritten hat, nun aber
neuerdings von Häuser vertreten wird, handelt
es sich bei La Micoque um nur ein Niveau,
nur eine Ansiedelungsperiode. Diese, ihm
zufolge unumstößliche Tatsache, stempelt das
Micoquien zu einer der merkwürdigsten Kultur-
epochen — er legt sie zeitlich auf die dritte
Zwischeneiszeit fest — und läßt die Trag-
weite der Hypothese ihres Vorherrschens im
diluvialen Mitteldeutschland erkennen.
Das Micoquieu galt bisher nirgends als
selbständige Kulturepoche, sondern nur als
Unterstufe einer solchen, und der Meinungen,
welcher Epoche es anzugliedern sei, waren in
letzter Zeit verschiedene. So, wie es in unserer
Nürnberger Major Dr. Neischl- Sammlung ver-
treten ist, schließt es Formen eiu, welche eben-
sowohl an Acheuleeu, als an Mousterien,
an Aurignacien, selbst an Solutreen er-
innern, und diesen Charakter trägt nach Dr.
Haus er die Industrie von La Micoque durch-
i gehends. Die gleiche Mischung zeigt auch die
Dr. Roßbach-Saminlung vom Kosten, und
wenn dies wirklich mit einer einheitlichen Kul-
turepoche vereinbar ist, dann kann man ohne
weiteres überall auf Micoquien schließen, wo
bisher schon ein Mit- und Nebeneinander alt-
und mittelpaläolithischer Formen die' chrono-
logische Einreibung erschwert und strittig ge-
macht oder zur Vieldeutigkeit Aulaß gegeben
hat, Taubach-Ehringsdorf zum Beispiel. Bei der
Gegenüberstellung von Micoquegeräten und
solchen anderer Herkunft ist die Patina bzw.
die Farbe des Gesteines einer gerechten Würdi-
gung sehr hinderlich; man würde gut tun,
wenigstens fürs erste, bis das Auge geschult
ist, nicht die Originale, sondern uur Gipsabgüsse
miteinander zu vergleichen.
Die Wiederkehr alter Formen von Stein-
geräten in jüngeren Epochen ist nichts Seltenes,
es sei nur an das Campignien erinnert, und
31
wenn wir den Formenschatz der Neolithik wirk-
lich kennen würden, wäre die Erscheinung -
von Dauertypeu ganz abgesehen — vielleicht
noch häutiger zu konstatieren. In der nietall-
zeitlichen Prähistorie ist es Brauch, eiueu Fund
nach dem jüngsten Gegenstand zu datieren.
Die I'aläolithik läßt der persönlichen Auffassung
freien Spielraum; wo die sonstigen Hilfsmittel,
Schichtung und Fauna, nicht für sich allein
durchschlagend sind, stelleu sich dann die be-
dauerlichen Widersprüche ein nicht nur zwischen
den verschiedenen Forschern, sondern desselbigeu
Forschers zu verschiedener Zeit mit sich selbst.
Das Micoquien ist deshalb bald ein Anhängsel
des Acheuleeu, bald geht es mit oder folgt dem
Mousterien; die den jüngeren Epochen gleichen-
den Bestände bleiben unerklärt oder unbeachtet.
Das Nachleben alter Formen läßt sich verstehen,
sie gleichen ja auch nur annähernd den alten,
echten, namengehenden. Es können auch un-
mittelbar nachfolgende ihre Schatten voraus-
werfen; aber auch die über- und übernächsten?
je älter das Micoquien eingeschätzt wird, desto
mehr. Erschiene da nicht das Micoquien wie ein
steinzeitlicher Mutterschoß, iu dem die Stufen
embryonal sich bilden, um irgendwo und irgend-
wann selbständig zu erscheinen? Eine große
Zahl von Fragen wird an die neue Auffassung
über das Micoquien anknüpfen. Es wird das
große Verdienst O. Ilausers sein, wenn seine
umfangreichen Micoqueforschuugen eine feste
Basis für die Weiterarbeit schaffen.
Hierauf ergriff O. Häuser das Wort; er
hob die grundlegende Bedeutung der neuge-
wonnenen Richtlinie hervor und betonte die
schon längst empfundene Notwendigkeit
einer allgemeinen deutschen Systematik.
Er ist der Ansicht, es werde nicht schwer sein,
auf rein deutscher Grundlage ein lückenloses
genetisches Bild der Geschichte des diluvialen
Menschen in Deutschland aufzustellen. Eine
bedeutsamere Aufgabe, als gerade die voraus-
setzungslose Forschung nach Stratigraphie und
Fauna an heute noch ungeklärten Altsteinzeit-
siedelungen, ist kaum denkbar. Solche Arbeiten
müssen grundlegend werden für die deut-
sche Paläolithf orschung und liefern sicher
auch wertvolles Material zur rassen - anthropo-
logischen Lösung der großen Aufgabe.
Nürnberg, 11. April 1916.
K. Hörmann.
Ein Gebiet der Vorgeschichte, das der Orient beleuchtet.
Von Bärthold, Halberstadt.
Die Frage, ob die ganze Kultur des nörd-
lichen Europas aus dem Morgenlande kam oder
nur Anregungen, ist wohl geklärt, die Gegen-
sätze einigen sich auf einer mittleren Linie.
Bei diesen Erörterungen kam das (Meinet kaum
zur Sprache, in dem die Vorgeschichte doch
erst zum Abschluß kommt, nämlich die Gesell-
schaftsordnung mit Sitte und Brauch, die
Kultur im engeren Sinne.
Daß es in der jüngeren Steinzeit bereits
große „Kulturgemeinschaften" gab, ist offenbar,
wenn man darunter versteht, daß dieselben
Kulturerzeugnisse über weite Gebiete verbreitet
waren; die kugeligen Gefäße vom Rhein bis
Bosnien, die Glockenbecher von Spanien bis
Ungarn.
Wenn solche Ausbreitung durch Übertragung
von Volk zu Volk geschehen wäre, ließe sich
recht wenig von diesem Kulturbesitz auf den
Kulturstand schließen. Das zeigt sich heute
so deutlich. Jetzt ist der Kulturbesitz des Abend-
landes im Morgenlande, ja in der ganzen Welt
verbreitet. Nicht nur die Waffen und Werk-
zeuge, auch Eisenbahnen, Telegraph, Telephon
und elektrisches Licht sind überall hingedruno-en
nicht aber die abendländische Kultur, die ge-
sellschaftlichen Ordnungen und Anschauungen.
Der bereicherte Kulturbesitz veränderte in China
und dem Morgenlande nicht den Kulturstand.
Mit Hoernes und Schumacher wird all-
mählich anerkannt werden, daß nicht nur die
nördliche, sondern auch die anderen steinzeit-
lichen Kulturen sich nicht ohne ihre Träger aus-
breiteten, da sie ja nebeneinander bestanden,
aber auch wenn der Kulturbesitz eigenstes Werk
eines Volkes ist, und den Geschmack und die
32
Kunstfertigkeil ersehen Läßt, kann ilocb die
Meinung sich behaupten, daß es ein Barbaren-
volk war, wie von den Nordländern immer noch
igt wird, ungeachtet ihres bewundernswerten
Kunstsinns. Die Werke der Hände gewähren
eben keinen Einblick in die Lebensformen, sie
können fortschreiten, während diese unverändert
bleiben, und wiederum kann die Gesellschaft
sich weiter ausgestalten, die Geräte aber die-
selben bleiben.
Aus der lebendigen Gegenwart hat Dr.
Fischer in Bukarest dafür ein Beispiel und
damit die Berichtigung einer noch verbreiteten
Annahme beigebracht, da er im Märzheft des
Korrespondenzblattes von 1914 mitteilte, daß
in Rumänien noch der einfache Mühlstein der
Steinzeit und daneben ein Holzpflug in Gebrauch
ist, sogar ohne Räder, nur mit Gleitschiene. Da
wird ganz unwahrscheinlich, daß es einen Stein-
pflug gegeben habe.
Während der Steinzeit in Deutschland wurde
der Kulturstand im Morgenlande durch Haruu-
rabis Gesetz und viele Schriftstücke festgelegt.
Dort standen bereits Städte und die Volks-
gemeinschaft war schon stark gegliedert; es gab
Handwerker, Gärtner, Hirten, Krieger, Bau-
meister, Ätzte, Richter. Diese Kultur ist unserer
Steinzeit weit voraus, aber die Randgebiete dort
lassen Übereinstimmungen erkennen.
In Palästina wohnten die Kanaaniter und an
der Küste die Philister auch schon in Städten,
aber im Gebirge Juda waren Häuptlingschaften
der Amoriter und Hethiter eingedrungen und
zwischen diese schoben sich noch zwei ebräische
Häuptlinge mit ihren Leuten und ihren Herden.
Ebenso setzten sich im Harzgau Leute aus dem
nördlichen Gebiet auf Hügeln an Waldgebirgen
fest, dabei nahe bei den Einwohnern des Landes,
so daß sie als deren Gäste erscheinen, etwa wie
sich nach Kauf f mann, S. 237 über 2000 Jahre
später Germanen bei Galliern einquartierten.
Wenn sieb herausstellt, daß die Hethiter indo-
germanische Sprache hatten, wie Dr. Fischer
ankündigte, so ist ja alle Wahrscheinlichkeit für
weitgehende Übereinstimmungen gegeben; sie
erweisen sich aber auch selbst. Die eindringen-
den „Urgermanen" bildeten ebenfalls Häuptling-
schaften, wie auch die Einheimischen, die Leute
der Spiralkultur, für die es durch die Auf deckung
des Herrensitzes bei Plaidt durch Lehne r offen-
bar ist; von den Einwanderern beweisen es die
Kieseustuben und großen Grabkammem.
In seiner letzten Schrift „Kunst und Mecha-
nik" hat Ernst Mach den .Aufbau einer Riesen-
stube anschaulich und begreiflich gemacht. Aber
wenn auch die gewaltigen Decksteine mit Hebeln
und Tauen auf schiefer Ebene aus Baumstämmen
auf einen Holzbau geschoben und gezogen
wurden, wo sie von den Tragsteinen unterfangen
werden konnten, so mußten doch zu so mühe-
vollem Werk viele Hände durch einen beherr-
schenden WTillen zusammengefaßt und gelenkt
werden. Noch gewisser macht dies die merk-
würdige Tatsache, daß die großen Platten zu
den Steinkammern öfter aus den vier Himmels-
gegenden herbeigeschafft wurden; wo verschie-
dene Felsarten anstehen, ist es seit 1825 an
verschiedenen Orten Thüringens von sachkun-
digen Leuten festgestellt worden (Jahresschrift.
Halle 1902, S. 139, 155, 219). Da ist ja vor
Augen, daß zu dem Bau ein größerer Bezirk an-
gespannt wurde. Ein weiterer Beweis liegt in
den Amazoneuäxten und den verzierten Hämmern,
die nach ihrer Seltenheit Auszeichnung einzelner
Personen waren, außerdem haben auch die
Fürstengräber der früheren Bronzezeit eine rück-
wirkende Kraft, denn die sogenannte Bernburger
Kultur geht über in die Bronzezeit.
Im Morgenlande waren die Häuptlingschaften
nicht, mehr erweiterte Familien; sie waren so
groß geworden, daß die Söhne sich darin teilen
konnten. Die drei Amoritenhänptlinge Aner,
Eskol und Mamre, mit denen Abraham sich ver-
bündete, waren Brüder, und ebenso hatte sich
Abraham mit seinen beiden Brüdern nach des
Vaters Tode in die Häuptlingschaft geteilt, und
auch dann waren die Stämme nicht unbedeutend.
da Abraham mit 31S seiner Leute ausziehen
konnte, seine Neffen zu befreien. Auch hier ist
der Nachlaß auf den ersten Siedelungen nicht
gering. Auf dem Gertling am Hug und ebenso
bei Rhoden am Fallstein sind über 300 Stein-
werkzeuge gefunden, und daraus wird mehr auf
die Kopfzahl als auf die Dauer der Besiedelung
zu schließen sein; denn es sind wenig verbrauchte
Sachen darunter. An den Stellen, wo weniger
gefunden ist, kann mehr verschleppt sein.
Wie die Verfassung, so ist die Bestattungs-
weise dieselbe im Morgenlande und hier: un-
vergängliche Gräber wurden für die Toten be-
reitet, natürliche oder künstliche Felsengrüfte.
Die Gefolgschaft der Häuptlinge bildete eine
Gemeinde, die in wichtigen Fragen Stimme und
Entscheidung hatte. Dies tritt deutlieh hervor
bei der ausführlicher mitgeteilten Verhandlung
Abrahams mit den Hethitern, da er für seine
Frau nicht nnr die Benutzung, sondern das Eigen-
tum einer Felsengruft begehrte. Die Verhandlung
geschah vor der Volksgemeinde, diese bewilligte
und bezeugte den Verkauf (1. Mose 23).
Bedeutungsvoll für den Kulturstand ist. ja
die Stellung der Fiau, und da ist es bezeichnend,
33
daß damals auch bei den Semiten der Vater die
Tochter nicht gab, wem er wollte, sondern sie
fragte, ob sie die Werbung annehmen wollte
(1. Mose 24, 58). Damit stimmt das Gesdz
Ilamurabis überein, da es für die Entlassene
und die Witwe anordnet: „den Mann ihres Herzens
kann sie heiraten". Diese Ausdrucksweise be-
tont so deutlich das Recht der Frau nach ihrem
Herzen zu wählen (§ 137, 156, 172). Sie erhielt
auch eine Mitgift vom Vater und ein Braut-
geschenk von dem Manne, die nicht unbedeutend
waren, denn die Bestimmungen über Rückfall
und Etbgang derselben sind recht ausführlich.
Die Frauen betätigten sich auch freier als spätere
Sitten dort gestatteten. Die Töchter der Häupt-
linge beteiligten sich an der Führung der Herden,
auch wenn sie Brüder hatten, wie das von Rahel
bemerkt wird.
Die geschichtliche Zuverlässigkeit der hier
angeführten beiläufigen Erwähnungen der Bibel
ist in eigener Weise bemerkbar bei der Ehe
Abrahams mit seiner Stiefschwester und Jakobs
Ehe mit zwei Schwestern, beides ist im Mosai-
schen Gesetz schwer verboten als ein Frevel.
Niemand würde dies von den gepriesenen Ahn-
herren gedichtet haben.
Die Beherrschung des Stoffes war in unserer
Steinzeit so groß, daß sie der äg3'ptischen nicht
nachsteht, wenn sie sich auch nicht in so ge-
waltigen Bauwerken betätigte. Sie vermochten
große Findlinge zu spalten, Platten von 2 m
Länge aus anstehendem Gestein zu brechen,
einen Falz in die Tragsteine zu hauen, um die
Deckplatten hineinzufügen, auch Lasten von
500 Ztr. zu bewegen und so hoch zu bringen,
wie sie wollten l).
In der Fornibeherrsehung zeigt sich ganz
hervorragender Geschmack und Kunstfertigkeit
an den bewundernswerten Dolchen aus Feuer-
stein, den kunstvollen Hämmern und verzierten
Amazonenäxten ; da kann unmöglich von barba-
rischem Geschmack und barbarischer Ausführung
geredet werden. Die Männer scheinen noch mehr
Freude an Kunstübung gehabt zu haben als die
Frauen, jedenfalls waren ihre Arbeiten in hartem
Gestein viel mühevoller und langwieriger als die
in Ton.
In diesen schwierigen Formen erweist sich
neben Stoffbeherrschung auch beachtenswerte
Selbstbeherrschung, die sich in der willigen
Bindung an Sitte und Brauch zeigt, und diese
ist für den Kulturstand, die Sittlichkeit, bedeut-
samer als die Kunstfertigkeit. An das Übliche,
Gebräuchliche band man sich in der Formen-
gebung genau und sorgfältig, so daß dieselbe
Gestaltung und Verzierung wie in Dänemark
sich am Harz wiederholt. Eigenwillige Formen
kommen gar nicht vor; was zuerst so erscheint,
findet sich doch anderwärts ebenso. Verzichtete
man bei diesen Formen auf das eigene Belieben,
so wird mau es auch in den Verkehrsformen
getan haben.
In dem allen liegt Berechtigung genug, den
Kulturstand unserer germanischeu Vorzeit dem
des Morgenlandes gleichzustellen.
J) Der erhaltene Deckstein der Rieseustube bei
Drosa in Anhalt ist über 4 m lang, über 3 m breit und
75 cm dick , so daß er mit 9 cbm Gestein weit über
500 Ztr. wiegt.
Literaturbesprechungen.
G. Behrens: Bronzezeit Süddentschlands.
Mit 24 Tafeln und 50 Textabbildungen.
Kataloge des Rom. -Germ. Zentralmuseums
Nr. 6. Mainz 1916. Preis A JL
Mitten in der Kriegszeit konnte das Röm.-
Germ. Zentralmuseum einen neuen, umfang-
reichen Katalog erscheinen lassen, dessen Inhalt
der Bronzezeit Süddeutsehlands gewidmet ist.
Unter Süddeutschland versteht der Verfasser
außer den süddeutschen Staaten auch noch die
südliche Rheinprovinz (mit Fürstentum Birken-
leid), Hessen -Nassau (mit Kreis Wetzlar) und
Südthüringen. Auch der Begriff „Bronzezeit"
wird in möglichst großer Ausdehnung gefaßt,
indem die neolithisch-bronzezeitliehen Übergangs-
stnfen ebenso in den Kreis der Betrachtung ge-
zogen sind wie die Frühhallstattzeit. Danach
ergab sich für den Verfasser von selbst eine
Einteilung des Stoffes in drei Gruppen: in die
früheste Bronzezeit (Rein eck es Stufe A), die
Hügelgräberzeit (Stufe B bis D) und die späteste
Bronzezeit (Hallstattstufe A), innerhalb deren
eine Gliederung nach geographischen Gesichts-
punkten vorgenommen ist. Die Depotfunde
sind in einem eigenen Abschnitt vereinigt.
Zusammenfassungen am Schluß der Hauptkapitel
5
34
sorgen dafür, daß die Übersieh! über dun großen
Stoff, der natürlich nur in einer Auswahl geboten
werden konnte, gewahrt bleibt.
Wie seine Vorgänger, so wird sicher auch
dieser Katalog des Röm.-Gevm. Zentralmuseums
regem Interesse begegnen. Wir danken dem
Verfasser, daß er unsere Wissenschaft mit einem
so wertvollen Nachschlagewerk bereichert hat.
Die gute Ausstattung und der niedrig gehaltene
Preis werden dem Buch in den weitesten Kreisen
Eingang verschaffen. Dies wie auch der täglich
neu hinzukommende Stoff dürfte in nicht allzn-
ferner Zeit eine Neuauflage des Werkes not-
wendig machen, für die schon jetzt einige
Wünsche und Anregungen vorgebracht seien.
Die große Bedeutung, die neuerdings die
Wohnstättenfunde für die Sicdelungsgeschiehte
erlangt haben, läßt es angezeigt erscheinen, diese
Funde künftighin auszuscheiden und in einem
besonderen Kapitel zusammenzustellen. Hand
in Hand damit könnte ein weiterer Ausbau der
Illustrationen erfolgen, die jetzt schon mit großer
Sorgfalt behandelt und in erfreulich reicher
Anzahl beigegeben sind. Auch ein paar Un-
stimmigkeiten wären auszumerzen, so z. B. die
Datierung der Tasse von Lerchenhaid bei Strau-
bing (S.68, Nr. 17), die ebenso gewiß der gleichen
Gruppe angehört wie der Krug von St. Wolfgang
(S. 69, Nr. 22a) und die Keramik vom Höglberg
(S. 64, Nr. 11) und aus der Gausrabsehen Kies-
grube bei Kelheim (S. 64, Nr. 12). Ein Blick
auf Tafel VI (auf der statt „Schwaben" „Ober-
pfalz" zu lesen ist) dürfte hiervon überzeugen.
In die Hügelgräberzeit ist auch das Beil vom
Stoffersberg bei Landsberg (S. 64, Nr. 6) zu
rücken. Ob der Depotfund von Steinrab (S. 59)
nicht doch der spätesten Bronzezeit anzugliedern
ist, wäre noch in Erwägung zu ziehen. Der auf
S. 227, Nr. 549 erwähnte Schwertgriff von Cab-
lingen ist hier zu streichen. Das Stück ist mit
dem auf S. 119, Nr. 184 angeführten identisch.
Daß sich einige unrichtige Schreibungen von
Ortsnamen in den Text eingeschlichen haben
(z. B. S. I, Nr. 2 Kott statt Roth; S. 102, Nr. 132
Siebichenhausen statt Sibichhausen) ist bei der
auf diesem Gebiete selbst an zuständigen Stellen
vielfach herrschenden Unsicherheit leicht er-
klärlich. Friedrich Wagner.
Um Zusendung von Manuskripten, auch
kleineren Mitteilungen, bittet
Die Redaktion.
Reklamationen und sonstige Mitteilungen
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. K. Hagen, Hamburg 13, BiuderstraCe 14, zu senden.
Ausgegeben um :'. August 1916
Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig
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XLVII. Jahrg. Nr. 7/9. Jährlieh 12 Nummern. Juli /Sept. 1916.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw. tragen die wissenschaftl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren ; b. S. 16 des Jahrg. 1894.
Inhalt: Johannes Ranke f. — Die Vorgeschichte Bulgariens. Von Univ.-Prof. Dr. F. Birkner-München. —
Mesolithische Stationen vom Donnersberge und aus der Vorderpfalz. Von Dr. C. Melius. — Ein
Nephrithammerfragment in Bad Dürkheim. Von Dr. C. Mehlis. — Ausgrabungen in Gr. Piaton.
Von Dr. Rechenbach. — Literaturbesprechungen.
Johannes Ranke f
Geheimer Hofrat Professor Dr. med. et phil. Johannes Ranke, der Altmeister
der Anthropologie, ist am 26. Juli 1916 in Solin bei München aus dem Leben geschieden.
In der Geschichte der anthropologischen Forschung und der Anthropologischen Gesell-
schaft wird der Name Rankes einen hervorragenden Platz einnehmen.
Geboren am 23. August 1836 zu Thurnau in Oberfranken als Sohn des protestan-
tischen Dekans nachmaligen o. ö. Professors in Erlangen und Oberkonsistorialrats Dr.
Friedrich Heinrich Ranke und seiner Ehefrau Selma, Tochter des Kgl. Geheimrates
Professors Dr. G. H. von Schubert, absolvierte er das Gymnasium zu Ansbach und
studierte dann au den Universitäten München, Tübingen, Berliu und Paris. Durch den
Verkehr mit seinem Großvater Schubert, dem geistreichen Naturphilosophen, war in
ihm schon in früher Jugend die Liebe zur Natur geweckt worden, was ihn veranlaßte,
auf der Universität neben den medizinischen Fächern sich auch den naturwissenschaft-
lichen Studien eingehend zu widmen. Er hatte das Glück, bei hervorragenden Lehrern
zn hören, mit denen er zum Teil in freundschaftlichen Verkehr trat. Vor allem der
allen unbewiesenen Hypothesen abholde v. Liebig übte einen entscheidenden Einfluß
auf Rankes ganze wissenschaftliche Denkweise, er führte ihn aus dem Banne der Natur-
philosophie des Elternhauses zur nüchternen Methodik des Naturforschers, der er bis zu
seinem Tode treu blieb. Schon während seiner Universitätsstudien wurde Ranke mit
Rudolf Virchow bekannt, und diese Bekanntschaft mit dem Forscher der strengsten
naturwissenschaftlichen Kritik hat sich zu einer treuen Freundschaft ausgestaltet, welche
von großem Einfluß auf die ganze wissenschaftliche Tätigkeit Rankes war. Im Jahre
1861 promovierte er in der medizinischen Fakultät in München und habilitierte sich 1863
36
daselbst für Physiologie. Schon im Wintersemester 1863,64 hielt er seine erste Vor-
lesung über Anthropologie, die er seit dieser Zeit ununterbrochen gehalten hat. Bis zum
Jahre 1867 war er als Assistent am Anatomisch -physiologischen Institut zuerst unter
v. Bischoff. dann unter v. Voit tätig. 1866 verheiratete er sich kurz vor dem Kriege,
den er als Bataillonsarzt auf Kriegsdauer mitmachte, mit Anna Bever, der Tochter
des Ministerialdirektors v. Bever, die ihm in Leid und Freud der akademischen Lauf-
bahn bis zu seinem Lebensende treu zur Seite stand. 1869 starb J. Beraz, der Nach-
folger seines Großvaters Schubert, und Ranke erhielt die dadurch freigewordene außer-
ordentliche Professur für allgemeine Naturgeschichte an der Universität München. 1882
ernannte ihn die philosophische Fakultät, II. Sektion, zum Ehrendoktor und 1886 wurde
er auf die neugegründete ordentliche Professur für Anthropologie in München berufen.
Nicht zuletzt seiner erfolgreichen, wissenschaftlichen Tätigkeit ist es zu danken, daß an
der Münchener Universität in der philosophischen Fakultät für Anthropologie ein ordent-
licher Lehrstuhl errichtet wurde. Die durch ihn 1885 gegründete prähistorische Ab-
teilung der paläontologischen Sammlung wurde 1889 ein selbständiges Konservatorium
und Ranke wurde Vorstand derselben. In der Kgl. Bayer. Akademie der Wissen-
schaften, welche Ranke 1893 zum außerordentlichen und 1902 zum ordentlichen Mit-
glied« wählte, war er besonders in der Kommission für Erforschung der Urgeschichte
Bayerns, seit 1901 als dereu Vorsitzender, tätig, und noch wenige Jahre vor seinem Tode
veranlaßt* er im Kriegsjahre 1914 die Gründung der Akademischen Kommission für
Höhlenforschung in Bayern, deren Aufgabe es ist, systematisch in den Höhlen Bayerns
nach Spuren des vorgeschichtlichen Menschen zu suchen.
Seine erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit blieb auch sonst nicht ohne An-
erkennung; er wurde Ehrenvorsitzender der Münchener und Deutschen Anthropologischen
Gesellschaft; eine große Reihe von wissenschaftlichen Vereinen hat ihn zum Ehrenmit-
gliede ernannt; Orden und Titel wurden ihm zuteil.
Es kann hier nur versucht werden, in großen Zügen Rankes wissenschaftliche
Bedeutung zu würdigen.
Die auf breiter Grundlage aufgebauten naturwissenschaftlichen Studien, in Ver-
bindung mit den Arbeiten auf medizinischem, vor allem anatomischem und physio-
logischem Gebiete, haben den Grundstein gelegt zu den späteren anthropologischen
Forschungen und Arbeitern Dieser Epoche verdankt die Wissenschaft eine Reihe von
Abhandlungen über das Blut, die Nervenphysiologie und die Ernährung des Menschen
und das zusammenfassende WTerk: „Grundzüge der Physiologie des Menschen. Mit Rück-
sicht auf die Gesundheitspflege für das praktische Bedürfnis der Arzte und Studierenden
zum Selbststudium bearbeitet. Leipzig 1869", das vier Auflagen erlebte und ins Un-
garische übersetzt wurde.
Als auf Anregung der Anthropologischen Sektion der Naturforscherversammlung
in Innsbruck im Jahre 1869 ein Aufruf zur Gründung von Anthropologischen Gesell-
schaften an alle deutschen Forscher erging, hat sich Ranke, der ja schon seit 1863
Vorlesungen über Anthropologie hielt, mit Begeisterung dieser Bewegung angeschlossen
und beteiligte sich an der Gründung der Münchener Anthropologischen Gesellschaft am
18. März 1870. Dadurch, daß sich die Münchener Gesellschaft mit einer Anzahl anderer
anthropologischer Gesellschaften am 1. April des gleichen Jahres in Mainz zur Deutschen
Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zusammenschloß, kann
Ranke auch als Gründungsmitglied dieser betrachtet weiden. Von Anfang an hat sich
J. Ranke eifrig an den Arbeiten der Münchener Gesellschaft beteiligt. Während er im
Jahre 1873 in der Gesellschaft noch über ein mehr physiologisches Thema, über Nerven-
kraft, sprach, beteiligte er sich seit dem Jahre 1876 mit anthropologischen Vorträgen
in den beiden Gesellschaften. Wenn bei der Generalversammlung der Deutschen Anthropo-
logischen Gesellschaft 1875 in München J. Rankes Name nicht in den Vordergrund
tritt, so dürfjn wir trotzdem annehmen, daß er regen Anteil an den Vorbereitungs-
arbeiten, vor allem an dem Zustandekommen der Ausstellung vorgeschichtlicher Gegenstände
37
aus Bayern genommen hatte. Die Kongreßtage 1875 reiften in der Münchener Gesell-
schaft den Entschluß, eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift zur Veröffentlichung der
Arbeiten der Gesellschaft unter dem Titel „Beiträge zur Anthropologie und Urgeschichte
Bayerns" herauszugeben, deren Schriftleitung J. Ranke anvertraut wurde, zuerst in Ver-
bindung mit Prof. N. Rüdinger, dann allein, zuletzt unter Mitwirkung des Verfassers
dieses Nachrufes. 19 Bände konnten seit dem Jahre 1877 erscheinen mit einer reichen
Fülle wichtiger Beiträge, nicht zum mindesten aus der Feder Rankes selbst. Seit 1875
bis 1908 hat Ranke alle allgemeinen Versammlungen mitgemaoht. Im Jahre 1877 auf
der Versammlung in Konstanz wurde er dem damaligen Generalsekretär Prof. J. Koll-
mann zur Unterstützung beigegeben, ihm oblag die Sehriftleitung des Berichtes. Als
dann Kollmann nach Hasel berufen worden war, übernahm er die Stelle des General-
sekretärs und erstattete als solcher auf dem Kongresse in Kiel 1878 zum ersten Male
den wissenschaftlichen Jahresbericht. Er verstand es, während seiner Tätigkeit als
Generalsekretär bis zur allgemeinen Versammlung in Frankfurt a. M. im Jahre 1908,
also volle 30 Jahre, diese Jahresberichte zu einer übersieht über die wichtigsten Ergeb-
nisse der anthropologischen Forschung zu gestalten, die Spreu vom Weizen zu sondern
und in vornehmer Kritik den Wert der Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Anthropo-
logie zur Darstellung zu bringen. Diese Berichte spiegeln an manchen Stellen seine
Anschauung wieder, so daß ein künftiger Biograph Rankes in diesem Jahresberichte
manchen wertvollen Beitrag zur Charakterisierung von Rankes Anschauungen linden
wird. Neben diesen Berichten hat es Ranke aber nie unterlassen, auf den Kongressen
auch noch über seine und seiner Schüler wissenschaftliche Arbeiten zu referieren. Ein
wesentliches Verdienst an dem Zustandekommen der Verständigung über ein gemeinsames
kraniometrisches Verfahren, das auf den Konferenzen in München, 21. September 1877,
und in Berlin, 9. August 1880, vorberaten und in Frankfurt a. M. 1882 beschlossen worden
war, ist Ranke zuzuschreiben. 67 Forscher des In- und Auslandes hatten sich bis zum
Januar 1883 dieser „Frankfurter craniometrischen Verständigung" angeschlossen. Im
Jahre 1886 war es dann gelungen, 60 Forscher aus ganz Europa dafür zu gewinnen,
daß sie die „Internationale Vereinigung über Gruppeneinteilung und Bezeichnung der
Schädelindices", welche eine Erweiterung der Frankfurter Verständigung darstellt, an-
nahmen. Damit war ein wichtiger Schritt vorwärts getan zur einheitlichen Verarbeitung
des in den europäischen Museen vorhandenen Materials an Rassenschädeln.
Als Generalsekretär hatte er die Schriftleitung des Korrespondenzblattes und des
Archivs für Anthropologie, in welcher er seit, 1903 von G. Thilenius unterstützt wurde.
Es würde zu weit fühlen, alle die Kommissionen aufzuführen, welche innerhalb
der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft in Tätigkeit traten, um Fragen, deren
Lösung einzelnen nicht möglich war, durch Zusammenarbeit vieler der Lösung näher zu
bringen. An allen diesen Kommissionen hat Ranke eifrig mitgearbeitet und meist die
Durchführung als Generalsekretär geleitet.
Wie Ranke in der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft ein Menschenalter
lang die Seele aller Bestrebungen war, bis er die Generalsekretärstelle in Frankfurt a. M.
im Jahre 1908 niederlegte und als Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste um
die Gesellschaft zum Ehrenvorsitzenden ernannt wurde, so hat ihm auch die Anthropo-
logische Gesellschaft in München sehr viel zu danken, zuerst als 1. Schriftführer, dann
seit 1888 als 1. Vorsitzender. Auch hier wurde ihm im Jahre 1910 durch die Wahl zum
Ehrenvorsitzenden der Dank der Gesellschaft äußerlich zum Ausdruck gebracht.
Die wissenschaftlichen Arbeiten Rankes beschäftigten sich in erster Linie mit der
Erforschung der anthropologischen und prähistorischen Verhältnisse Bayerns. Ranke
sammelte und bearbeitete die in den Ossnarien aufbewahrten Schädel und lieferte wichtige
Beiträge zur Geschichte der Schädeltypen in Bayern. [Beiträge zur physischen Anthropo-
logie der Bayern. München 1883 (siehe auch verschiedene Bände der Beiträge zur
Anthropologie und Urgeschichte Bayerns); Frühmittelalterliche Schädel und Gebeine aus
Lindau. Sitzber. d. math.-phys. Kl. d. Kgl. Bayer. Akad. d. Wiss. XXVII, 1897, Heft 1.]
38
Abgesehen von der Verteilung der Schädelformen konnte er feststellen, daß trotz aller
Völkerverschiebungen , welche während der Völkerwanderurjgsperiode auf bayerischem
Boden stattgefunden haben, sich jetzt nach anderthalb Jahrtausenden in wesentlichen
Zügen das gleiche Bild der kraniologischen Verhältnisse wieder findet, welches vor der
Völkerwanderung bestanden hat. Im Nordwesten haben die Dolicho- und Mesokephalen
ihre alten Sitze bewahrt und ebenso im Süden des Landes die Brachykephalen. Ranke
liai deshalb den Satz aufgestellt, daß im großen und ganzen die Kopfform an der geo-
graphischen Provinz haftet, daß die Schädelform „bodenständig" ist. (Zur Rassenf rage.
Fiühlingl, 1908.) Die scheinbaren Tierähnlichkeiten im menschlichen Körper betrachtete
er nicht als Beweise für die Abstammung des Menschen von tierischen Entwickelungs-
stadien, sondern suchte sie aus dem „allgemein anerkannten Satze" zu erklären, „daß in
gesetzmäßiger, d. h. logischer Weise die gesamte animale Welt in körperlicher Beziehung
zu einer idealen Einheit zusammengeschlossen ist, an deren Spitze der Mensch steht".
In diesem Sinne ist nach ihm das Tierreich der zergliederte Mensch, und der Mensch
das Paradigma des gesamten Tierreiches. Da der menschliche Körper in allen seinen
Bauverhältnissen durch das Gehirn beeinflußt ist, darf man nach Ranke den Menschen
als spezifisches „Gehirnwesen" bezeichnen, die Tiere dagegen als „Darmwesen". Die
Rassenunterschiede innerhalb des Menschengeschlechts sind in erster Linie aus der
Ontogenie zu erklären, erst wenn diese Methode versagt, kann man auf die hypothetische
Phylogenie zurückgreifen. „Das was uns bei den Erwachsenen als individuelle und
rassenhafte Verschiedenheit entgegentritt, ist nichts anderes als ein Stehenbleiben oder
ein weiteres Fortschreiten auf der Bahn der Ausgestaltung, welche das Wachstumsgesetz
für jeden Menschenschädel verlangt." Der Ausgangspunkt ist aber nicht die niedere
Tierform, sondern die Form des extrem-menschlichen Typus. Was für den Schädel gilt,
ist auch für die übrigen Körpereigentümlichkeiten anzunehmen. (Über die individuellen
Variationen im Schädelbau des Menschen. Korr.-Bl. d. Deutschen Anthropol. Ges. 1897,
Nr. 11/12; Beiträge zur physischen Anthropologie der Bayern. II. Über einige gesetz-
mäßige Beziehungen zwischen Schädelgrund, Gehirn- und Gesichtsschädel. München 1892.)
Diese Anschauung Rankes kommt in der Preisaufgabe zum Ausdruck, welche er im
Jahre 1892 in der philosophischen Fakultät, 2. Sektion, stellte; sie lautet: „Durch neuere
Untersuchungen ist festgestellt worden, daß einige sogenannte individuelle oder rassen-
hafte Eigenschaften des Menschen sich entwickelungsgeschichtlich als Hemmungs- oder
Exzeßbildung erklären. Es wird nun die Aufgabe gestellt, wenn möglich, weitere Be-
weise für diese neu gewonnene wissenschaftliche Anschauung beizubringen."
Seine Untersuchungen an bayerischen Schädeln und an stark deformierten Peruaner-
schädeln (Über altperuanische Schädel von Ancon und Pachacamäc. Abhandlungen d.
Kgl. Bayer. Akad. d. Wiss., II. Kl., Bd. XX und XXIII) führten ihn zu der Erkenntnis,
daß die Schädel, abgesehen von ihrer durch die Bodenständigkeit bedingten Form, auch
noch durch äußere und innere Faktoren beeinflußt werden. Starke Brachykephalie kann
■/.. B. eine Folge der Lage des Kopfes bei der Pflege der Neugeborenen und Kinder
sein, außerdem hat aber auch die Natur im allgemeinen die Tendenz, durch Verringerung
der Kauwerkzeuge und durch gesteigertes Wachstum des Gehirns den Schädel breiter
und runder, also brachykephaler zu gestalten. Ranke bekämpft deshalb die „lediglich
auf Unkenntnis des wahren Sachverhaltes begründete Lehre anthropologischer Dilettanten
von der angeblichen physischen und geistigen Herrenform der Dolichokephalie" (Zur
Rassenfrage. Frühling I, 1908). Ranke war ein Gegner der „modernen" Rassen-
theoretiker, „an deren Spitze der Franzose Gobineau und der Engländer Chamberlain
stehen", deren Lehren ein Ausdruck sind „für die in neuerer Zeit in erschreckender
Weise angewachsenen völkertrennenden Instinkte". Schon in dem Vorwort zu der ersten
Auflage seines Werkes „Der Mensch" schreibt er: „Ebenso absichtlich wurden, den bis-
herigen Traditionen der exakten Anthropologie in Deutschland entsprechend, alle Über-
griffe von dem Boden der Naturbeobachtung auf jenen der Politik, Philosophie und
Religion vermieden. Es verbietet dies schon die Würde der Wissenschaft, deren Er-
39
gebnisse und Fragen, uni wertvoll und interessant zu sein, keiner „pikanten" Seitenblicke
nach fremden Gebieten bedürfen. Dazu kommt aber noch eine weitere Erwägung. Man
hat bisher nur zu häufig, namentlich in populär -wissenschaftlichen Werken, den augen-
blicklichen Standpunkt der naturwissenschaftlichen, ewig wechselnden Hypothese mit den
ebenso schwankenden politisch-philosophischen Tagesrneinungen verquickt; so mußte not-
wendig in dem der exakten Naturforschung fernstehenden Publikum die verhängnisvolle
Meinung erweckt werden, als gäbe es naturwissenschaftliche Dogmen, welche den höchsten
Idealen des Menschengeistes feindselig gegenüberstehen." Die in diesen Worten aus-
gedrückte Stellungnahme gegen das Hineinzerren der anthropologischen Forschung in das
politische Gebiet hat er bis zu seinem Lebensende trotz mannigfacher Angriffe vertreten.
In der vor kurzem erschienenen Besprechung von „F. Hertz, Rasse und Kultur", schreibt
er: „Es wird in schroffem Gegensatz zu den Tatsachen der Anthropologie "die Lehre
gepredigt, daß innerhalb der Menschheit, ja innerhalb der Nationen, unüberbrückbare
Abgründe liegen und Rassengegensätze walten, die jeder Versöhnung widerstreben«. So
wurde Feindschaft zwischen den Nationen und Völkern gesät, und wir sehen die Folgen
in dem schrecklichen uns aufgedrungenen Kriege, in dem angeblichen instinktiven Rassen-
haß zwischen den "germanischen« Deutschen und den »keltischen- Engländern, deren
enge Blutsverwandtschaft und gemeinsame kulturelle Arbeit dem Friedensjahrhundert
seit der gemeinsamen Niederringung der Napoleonischen Übermacht die Signatur auf-
gedrückt hat. Ein ähnlich offenkundiger Unsinn ist es, wenn man in unserem Volke
einen Gegensatz zwischen den »minderbegabten« Kurzköpfen und den »höher veranlagten«
Langköpfen zu konstruieren versucht hat. Die herrlichen Erfolge unserer Heere gegen
eine Welt von Feinden, wobei in treuester Waffenbrüderschaft alle Stämme und alle
Einzelneu, mögen sie kurz- oder langköpfig sein, zusammenstehen, werden auch mit diesem
lächerlichen Vorurteil aufräumen, das in keiner Weise tatsächlich begründet ist oder sich
begründen lassen kann." (Arch. f. Anthropol., N. F. XV, 1916, S. 73.)
Wenn Ranke es vermied, in die Darstellungen der Forschungsergebnisse Hypo-
thesen aufzunehmen, so bedeutet das nicht, daß er ein Gegner jeder Hypothese war,
aber er war mit Johanues Müller der Anschauung, daß die Hypothese nur in das
Laboratorium des Forschers gehört. Es ist für denjenigen, welcher Rankes An-
schauungsweise kannte, leicht erklärlich, daß er auf dem Lindauer Kongreß in einer für
ihn ungewöhnlichen Schärfe gegen die geistreiche Abstammungstheorie von H. Klaatsch
als „phantasievolles Gemälde" protestierte.
Mit besonderer Freude und mit Erfolg leitete er die Untersuchungen der Skelett-
reste der Kaisergräber im Dome zu Speyer, der Fürstengräber in der Alexanderkirche in
Zweibrückeu und der Grüfte im Dome zu Worms.
Auf dem Gebiete der prähistorischen Forschung hat Rauke die ersten Phasen der
Entwickelung dieser Fächer mitgemacht; er war erfolgreich mittätig, durch die natur-
wissenschaftlich-paläontologische Forsehungsweise der Wissenschaft vom Spaten unsere
Kenntnis vom vorgeschichtlichen Menschen , von seinen körperlichen und kulturellen
Eigentümlichkeiten zu fördern. Er hielt es zwar von Anfang an als letztes Ziel der
anthropologisch - urgeschichtlichen Forschung, die Resultate der Spatenforschung an
die durch schriftliche Dokumente beglaubigte Geschichte, das Hauptarbeitsgebiet der
klassischen Archäologie, anzugliedern, war aber bis zuletzt der Anschauung, daß die
prähistorische Wissenschaft besser durch naturwissenschaftlich geschulte Forscher ge-
fördert werde, als durch solche, welche nur nach archäologischen Forschungsmethoden
arbeiteten.
Durch seine „Anleitung an der Hand klassischer Beispiele zu anthropologisch-
vorgeschichtlichen Beobachtungen im Gebiete der deutschen und österreichischen Alpen"
(Wien 1881) hat. er zahlreiche Vereine und Private zur Mitarbeit an der Erforschung
der Vorgeschichte angeregt; er hat auch selbst aktiv an der vorgeschichtlichen Forschung
o o ö ' CT 3
in Bayern sich beteiligt (Die natürlichen Höhlen in Bayern. Beiträge, Bd. II; Die Felsen-
wohnungen der jüngeren Steinzeit in der Fränkischen Schweiz und die vorgeschichtliche
40
Steinzeit im rechtsrheinischen Bayern. Beiträge, Bd. III; Feuerböcke und Bratspieße aus
prähistorischer Zeit in Bayern. Korr.-Bl. 1906). Ohlensehlagers Prähistorische Karte
Bayerns hat Hanke tatkräftig gefördert. Die anthropologisch-prähistorische Sammlung
des Staates in München, deren Leiter er seit Gründung bis zu seinem Tode war, ver-
dankt ihm nicht nur ihre Entstehung, er war bis in die letzten Tage seines Lebens
bestrebt, sie zu vermehren und auszugestalten. Wesentliche Förderung verdankt die
Erforschung des vorgeschichtlichen Bayerns seiner Tätigkeit als Mitglied und Vorsitzender
der Akademischen Kommission für Erforschung der Vorgeschichte Bayerns. Au der
Untersuchung der Höhlenwohnungen Bayerns hat er schon in den 70er Jahren des
vorigen Jahrhunderts mitgewirkt, und noch während des Krieges die Gründung der
Akademischen Kommission für Höhlenforschung veranlaßt, deren Aufgabe es ist, die
Höhlen Bayerns systematisch nach Resten des vorgeschichtlichen Menschen zu durchsuchen.
Alle seine wissenschaftlichen Ergebnisse, sowie die Resultate der anthropologisch-
prähistorischen Forschung hat J. Rauke in dem Werke „Der Mensch", das 1886 zum
ersten Male erschien, bis 1912 drei Auflagen erlebte und in fremde Spracheu übersetzt
wurde, einem großen Kreise von Gebildeten in anschaulicher Form und Sprache zu-
gänglich gemacht. Das Werk hat ihn in Laienkreisen berühmt gemacht, was aber die
Fachwelt darüber denkt, hat R. Virchow auf dem Kongresse in Stettin in folgende
Worte gefaßt: „Aber Herr Johannes Ranke hat noch etwas anderes gemacht. Er hat
a;emaeht, was bisher in der Vollständigkeit überhaupt nicht gemacht war. Er hat eine
große Anthropologie ueschriebeu .... Das will ich aber sagen, daß die Deutsche An-
thropologische Gesellschaft glücklich ist, ein solches Buch zu besitzen und stolz darauf,
daß es in Deutschland gemacht worden ist, und besonders stolz darauf, daß ihr General-
sekretär es war." Die dritte Auflage, welche Rauke 1912 vollendete, stellt nicht eine
einfache Wiederholung der zweiten Auflage dar, sie wird vielmehr vollständig den
reichen Ergebnissen der anthropologischen Forschungen auf allen Gebieten gerecht, sie
bringt den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnis vom Mensehen in objektiver, hypo-
thesenfreier Weise zur Darstellung.
Über 50 Jahre war es dem Verstorbenen gegönnt, in Wort und Schrift im Dienste
der Wissenschaft tätig zu sein. Tauseude von Hörern und Schülern führte er ein in
die Geheimnisse der Anthropologie; sie denken alle mit Vergnügen an die Stunden, da
sie seinen wohlgeformten, anschaulichen Vorträgen lauschen durften; Tausende und Aber-
tausende haben aus seiuen Schriften ihr Wissen bereichert und verehren in ihm den
bedeutenden Forscher und Lehrer. Alle diejenigen aber, welche mit ihm, sei es als
Kollegen an der Universität, in der Akademie der Wissenschaften oder in den sonstigen
Vereinigungen, deren Mitglied er war, sei es als Schüler, die unter ihm den Doktorgrad
erwarben, sei es als Teilnehmer an den Versammlungen der Münchener und Deutschen
Anthropologischen Gesellschaften, näher in Verbindung traten, haben Ranke auch als
Menschen schätzen und hochachten gelernt. Sie werden ihm, dem hervorragenden Ge-
lehrten, dem liebenswürdigen, stets wohlwollenden Mensehen und Lehrer, ein dauerndes
Andenken bewahren; sein Geist wird in seinen Schülern weiter wirken zum Vorteil der
anthropologischen Wissenschaft. F. Birkner.
II
Die Vorgeschichte Bulgariens.
Von Univ.-Prof. Dr. F. Birkner-Miinehen.
Mit einer Kartenskizze.
Die Erforschung der Vorgeschichte Bulgariens
wurde erst in neuerer Zeit in ausgedehnterem
Maße in Angriff genommen. Wohl haben ge-
legentlieh Reisende auf die zahlreichen Hügel
in der europäischen Türkei hingewiesen, welche
längs der Verkehrsstraßen vorhanden sind, und
es wurden auch bei den Straßen- und Bahn-
bauten im vorigen Jahrhundert gelegentlich der
eine oder andere dieser Hügel umgegraben, ohne
daß aber deren Bedeutung für die Vorgeschichte
dadurch vollständig klargestellt worden wäre.
Als die Wiener Anthropologische Gesellschaft
als eine ihrer ersten Arbeiten die kartographische
Festlegung der Tumuli in Österreich -Ungarn
und den angrenzenden Ländern beschloß, haben
F. v. Hochstetter und F. Kanitz es über-
nommen, die Eintragung der in der Türkei vor-
kommenden Tumuli zu besorgen. Die im Jahre
1870 bekannten Hügel in Bulgarien und Thrazien
schätzte v. Hochstetter auf 5- bis 600, welche
nach ihm „nie im Gebirge, sondern ausschließ-
lich in waldlosen Ebenen oder auf niederen
Plateaus angetroffen werden, d. h. in den frucht-
barsten, am leichtesten zugänglichen Gegenden,
die schon in den allerältesten Zeiten der Wohn-
platz zahlreicher Volksstämme gewesen sein
müssen" :).
Über die Bedeutung dieser Hügel und deren
Alter herrschte damals noch keine Klarheit.
Hochstetter nennt sie direkt Grabhügel. Das,
was man bis dahin von den gelegentlichen Aus-
grabungen wußte, schien dieser Ansicht recht-
zugeben. Es wurden z. B. bei Papasli an der
Eisenbahnstrecke zwischen Adrianopel und Philip-
popel nach dem Berichte des Ingenieurs E. Zeller
in einem Hügel unter einer Anzahl von Knochen
drei Urnen (mit vier Buckeln am Umfang und
zwei kleineren Löchern am oberen Rande) ge-
funden: in einer Urne befanden sich zwei tür-
kische Kupfermünzen aus dem 14. bzw. 15. Jahr-
hundert: in einem anderen Hügel wurde eine
große Masse von Knochen (Schädel im Zentrum
1) F. v. Hochstetter, Über das Vorkommen alter
Grabhügel in der europäischen Türkei. Mitt. d. Wien,
Anthrop. Ges. I, S. 93 bis 101, 1870. — Weitere An-
gaben über das Vorhandensein von Tumuli geben A. Boue,
Aufzählung von Tumuli oder alten Grabhügeln in der
europäischen Türkei, ebenda S. 156 u. 157 ; M. E. Weiser,
Thracieu und seine Tumuli, ebenda II, S. 147, 1871.
des Tumulus liegend), eine große Vase und
ein dem Handschar ähnliches, gänzlich durch
Rost zerfressenes Schwert zutage gefördert1).
Weitere Ausgrabungen nahm Dr. M. E. Weiser
vor2). Der eine Hügel (Nr. 2) barg ein ans
flachen Ziegeln hergestelltes, innen mit Ziegel-
mehl glatt gestrichenes, von einer mächtigen
Steinplatte bedecktes Grab mit Skelettknochen,
eiserne Nägel, Perlen ('?), Glasresten; ein an-
derer Hügel (Nr. 4) enthielt ebenfalls ein aus
Ziegeln hergestelltes Grab mit Gefäßresten,
einige Stücke Glas, eine Münze mit griechischer
Inschrift. Wir haben es somit wohl sicher mit
Gräbern zu tun, deren Zeit aber nach den An-
gaben Weisers sich nicht bestimmen läßt; viel-
leicht könnten die von Weiser der Gesellschaft
übersandten Abbildungen weitere Anhaltspunkte
liefern. Nach Angaben eines Lehrers von
Kezanlyk soll in einem Hügel bei Philippopel
in einem gemauerten Grabe ein Skelett in
sitzender Stellung gefunden worden sein, dessen
Haupt mit einem Goldreifen geschmückt war.
Außerdom sollen noch weitere goldene Wert-
gegenstände und zwei große Urnen, die eine
mit etwas Öl, in demselben enthalten gewesen
sein; an der Decke sei eine herabhängende
Lampe befestigt gewesen (S. 227/28). Vielleicht
handelt es sich in diesem Falle, wenn die An-
gaben richtig sind, um einen höheren orthodoxen
Priester, der wie die Patriarchen von Kon-
stantinopel in sitzender Stellung begraben wurde.
Aus Grabhügeln bei Trojan und Gabrovo
beschreibt B. Filow3) Funde aus dem 5. bis
3. Jahrhundert v. Chr.; es handelt sich ins-
besonders um Fibeln, welche sehr denen ans der
Früh-Latenekultur West- und Zentraleuropas
ähneln.
Ein Teil der Hügel, vor allem Südbulgariens,
scheint demnach tatsächlich Gräber zu enthalten,
welche aus verschiedenen Zeiten stammen wür-
den. Über den Zweck der Hügel gibt es aber
1) F. v. Hochstetter, Über die Ausgrahung einiger
Tumuli bei Papasli in der europäischen Türkei. Mitt.
d. Wien. Anthropol. Ges. II, S. 49— 50, 1871.
2) M. E. Weiser, Thracien und seine Tumuli.
Ebenda II, S. 137— 153, 185—203, 225—228, 1871.
3) B. Filow, Deux tumuli thraces dans le Balkan.
Izvestija na bulgarkoto etc. Bull. Soc. Arch. bulgare I,
S. 155—158, 1910.
6
42
noch andere Ansichten1). Es scheint, daß die
Türken die Gewohnheit hatten, die Zelte der
Kommandanten auf Hügeln zu errichten, wie
dies nach Kanitz bei den zwei Hügeln (Tepe)
bei Yidin der Fall gewesen ist. Ob der eine
oder andere von den hohen Hügeln zu diesem
Zwecke errichtet wurde oder ob stets schon
vorhandene benutzt wurden, ist bis jetzt noch
nicht festgestellt. Als Begräbnisstätten sind
wohl eine Anzahl als Dolmen bezeichneter
Steinbauten zu betrachten, über deren Vor-
kommen in Südbulgarien wir durch die Ge-
brüder Skorpil und St. Bontschew Kenntnis
erhalten. Die Skorpil2) berichten über Dolmen
von der Sakar Planina und ihrer Umgebung
nördlich von Adrianopel zwischen der Maritza
und der Tundza; Bontschew3) entdeckte einige
im östlichen Teile des Bezirkes von Haskovo
(Südbulgarien).
Außer Grabstätten stellt eine Anzahl der
bulgarischen Hügel, vor allem die Flachhügel,
wie Untersuchungen in jüngster Zeit zeigten,
auch Reste von prähistorischen Ansiedelungen
dar. Man hat in solchen Hügeln wie in den
zahlreich vorhandenen Höhlen und Grotten
die Reste alter Wohnstätten gefunden.
Der Donau entlang, zwischen Timok und Vid,
untersuchte F. Tschilingh irow im Über-
schwemmungsgebiete Siedelungen, deren Lage
die Vermutung nahelegt, daß es sich hier um
eine Art von Pfahlbausiedelungen handle.
Die östlichsten paläolithischen Reste der
Menschen in Österreich -Ungarn sind nach
J. Szombathy4) im Valea cremene (Feuer-
steintal), einem Seitentälchen des Bodzaer Passes,
gefunden worden. Von dieser Fundstelle hat
J. Teutsch in Kronstadt Klingen, Schaber und
Stichel aus Feuerstein an die Wiener Anthro-
pologische Gesellschaft eingesandt, welche an der
angegebenen Stelle, etwa 1 m unter der Boden-
oberfläche, zusammen mit kleinen Holzkohlen-
teilchen gefunden worden sind, leider fehlteu
Reste von Tieren, die für eine absolut sichere
*) F. Kanitz, Tutnuli in Nord- und Südbulgarien.
Mitt. d. "Wien. Anthrop. Ges. VI, S. 201—204, 1876, und
Donau -Bulgarien und der Balkan. 1. Bd., S. 275 — 276.
Leipzig 1875.
2) Gebr. Skorpil, Painetnici iz Bulgarsko (Denk-
mäler Bulgariens), 1. Bd., 1. Heft. Thrakien, Sofia 1888.
Ausführliches Referat mit Abbildungen von Woldrioh
in Mitt. d. Wien. Anthropol. Ges. XVIII, 3. 285— 288,
1888.
3) St. Bontschew, Dolmen im südlichen Bulgarien.
Korr.-Bl. d. Deutsch. Anthrop. Gea 1896, S. 35— 36.
4) J. Szombathy, Paläolithische Fuude aus Sieben-
bürgen. Mitt. d. Wien. Anthrop. Ges., Sitzber. XL,
S. LlO], 1910.
Altersbestimmung von Wichtigkeit wären. Nach
Szombathy ist ein Schluß auf eine der jüngeren
Schichten des Paläolithikums gerechtfertigt. Die
nächsten paläolithischen Fundstellen sind die
Höhlen im Bükkgebirge und bei Budapest in
Ungarn, sowie die bei Krapina in Kroatien.
Die aus Höhlen in Serbien gemeldeten Fuude •)
gestatten keinen sicheren Schluß auf das Vor-
handensein des diluvialen Menschen. Da, wie
es scheint, die Schichten schon gestört waren
oder bei den Ausgrabungen nicht genügend
auseinandergehalten worden sind, haben die
Reste des Höhlenbären, die mit den Gegen-
ständen gefunden worden sind, keinen Wert
für die Altersbestimmung. Immerhin ist es
nicht ausgeschlossen, daß doch paläolithische
Schichten in den serbischen Höhlen vorhanden
sind. Aus den anderen Balkanländern fehlen
bis jetzt ebenfalls Spuren des paläolithischen
Menschen, mit Ausnahme Bulgariens. Hier haben
die Untersuchungen des letzten Jahrzehnts sichere
Anhaltspunkte für die Anwesenheit des Eis-
zeitmenschen ergeben.
InderMalkata Pe seh tera(„Kleinen Höhle")
bei Samovodeni, nordwestlich von Tirnova, deren
4 m breiter Eingang nach Süden liegt und die
sich etwa 92 m nach innen erstreckt, wurden in
den Jahren 1898, 1905 und 1909 Ausgrabungen
veranstaltet, über die R. Poppow2) das Folgende
berichtet: Die Grotte euthält drei Schichten.
Die unterste, diluviale Schicht von 1 m Mächtig-
keit besteht aus gelbem und rotem Ton
und ist reich an Knochen des Höhlenbären.
Außerdem wurden noch festgestellt Reste der
Höhlenhyäne, des Pferdes, des Urrindes. Mit
diesen diluvialen Tierresten zusammen fanden
sich in etwa 1,45 in Tiefe zwei Feuerstein-
messerchen; das eine ist 6 cm lang, 1,6 cm breit
und 0,6 cm dick, das andere hat eine Länge von
5,9 cm, eine Breite von 2 cm und eine Dicke
von 0,65 cm. Wenn auch die Fundumstände
eine genaue Altersbestimmung nicht irestatten,
so darf doch als sicher angenommen werden,
daß es sich um Spuren des paläolithischen Men-
schen handelt.
Nachdem schon Koitschew im Jahre 1909
in der Höhle Morovitza bei Glozane (Bezirk
a) F. Kanitz, Die prähistorischen Funde in Serbien
bis 1889. Mitt. d. Wien Anthropol. Ges. XIX, S. 150—153,
1889. Ebenda, Sitzber. XVI, S. [65]— [66], 1886.
2) R. Poppow, Razkopki v „Malkata Pesehtera"
pri Tirnovo prez 1909. Izvcstija na bulgarkoto etc. II,
1911 (Bull.Soc. Arch. bulgare II, S. 248—256, 1911). —
O. Menghin, Spuren des Paläolithikums in den nörd-
lichen Balkanländern. Wien. Prähist. Zeitschr. II,
S. 121—132.
43
Teteven) Grabungen veranstaltet hatte, hat im
Jahre 1912 11. Poppow1) ebenfalls an einigen
Stellen gegraben. Die Höhle öffnet sich nach
Norden und erstreckt sich bei 16 m Breite des
Eingangs etwa 250 m ins Innere. 4 m vom Ein-
gange entfernt fand Poppow eine 4m tiefe
Schicht, deren oberer Teil bis zu 1,50 m Tiefe
Knochen. Scherben usw. aus vorgeschichtlicher
tief kam eine Feuersteinklinge von 6,1 cm Lange,
2,4 cm Breite und 0,4 cm Dicke zutage , welche
an beiden Randern kräftige Steilretnsehen auf-
weist. An einer anderen Stelle fand sich eine
16,65cm lange, 2,7cm breite und lern dicke
Knochenspitze, deren hinteres Ende abgebrochen
ist. Auch diese Stücke stammen den Fund-
umständen nach aus paläolithischer Zeit. Poppow
1.
Höhle „Malkata Peschtera" (Kleine Höhle) bei
Samovodeni.
2. Höhle „Morovitza" bei Glozane.
3. Höhlen „Malkata Podlisza" und „Goljama
Podlisza" bei Beljakovez.
4. Höhlen „Pod-Grado" bei Madara.
5. Hohle „Toplia" bei Gojema-Zelezna.
6. Ausiedlung „Unio alha".
7. „ bei „Kutovo".
8. .. „ „Naklata"
9. .. .. „Lom" • (Pfahlbauten?)
10. „ „ „Cibar" I
in Bulgarien.
11. Ansiedlung bei „Kozludui" 1
12. „ „Ostrovo" l (Pfahlbauten?)
13. .. „ „Magura" J
14. .. .. ..Sultan".
15. Hügel „Denew" bei Salmonovo.
16. .. ..Kodja Dermen" bei Schumen.
17. „ bei Trojan.
18. ., „ Gabvovo.
19. .. von Sveti-Kyrillovo bei Stara Zagora.
20. ., „ Ratschew bei Jambol.
21. „ „ Deve-Bargan bei Tirnovo-Seimen.
22. „ „ Kadine-most bei Küstendil.
Zeit enthielt; der untere Teil von 1,5 bis 4 m
bestand ans rotgelbem Ton mit Pesten von
diluvialen Tieren. Im Inneren der Höhle reicht
der diluviale Ton bis zur Oberfläche. 2,8 m
x) R. Poppow. Razkopki v peschtera Morovitsa.
Izvestija III, S. 262. Bull. Soc. Arch. bulgare III, S. 262,
1912 — 1913. — O. Menghin, Spuivn des Paläolithikums
in den nördlichen Balkanländern. Wien. Prähist. Zeit sehr.
n, S. 128—132.
zählt sie der Solutrestufe zu, wahrscheinlicher
handelt es sich aber um Artefakte der Aurignac-
stufe. Es erscheint jedoch gewagt, auf Grund
von einzelnen Fund^regenständen eine genauere
Altersbestimmung vorzunehmen.
Schon die bisherigen Untersuchungen der
beiden Höhlen lassen den Schluß zu, daß der
diluviale Mensch auch in den Balkanländern ge-
lebt hat. Da aber nur eine teilweise Ausgrabung
44
vorliegt, so läßt eine eingehende, auf den
ganzen Flächenranm der Höhlen ausge-
dehnte wissenschaftliche I titersuchung
hoffen, daß noch mehr paläolithisches
Material zutage gefördert wird, das auch
eine genauere Zeitbestimmung zuläßt.
Die beiden Höhlen halten außerdem bestimm-
bare jüngere Funde aus der vorgeschicht-
lichen Zeil geliefert. Nach Poppow folgt in
der Malkata Peschtera auf die diluviale Schicht
eine etwa 40 cm mächtige Schicht mit neolithi-
schen Fundgegenständen neben Resten vom
Edelhirsch, Reh, Schaf, Kind, Schwein und
Hund. Die obersten Schichten enthalten Funde,
welche bis in die ersten Jahrhunderte unserer
Zeitrechnung, also bis in die römische Kaiser-
zeit reichen. Unter den jüngeren Funden aus
der Höhle Morovitza sind besonders bemalte
und inkrustierte Gefäße, eine Knochennadel mit
einem Reh- oder Hirschkuhkopf und eine
Kupfernadel zu erwähnen.
R. Poppow hat noch weitere Höhlen in der
Umgebung von Tirnova ausgegraben; in der
Prähistorischen Zeitschrift l) berichtet er aus-
führlich über die Ergebnisse in der 33 in tiefen,
am Eingange 5 m breiten Höhle „Malkata
Podlisza" bei dem Dorfe Beljakovez, welche
eine Verbindung besitzt mit der Höhle „Gol-
jama Podlisza". Diese zeigt die gleichen
Schichten und Kulturreste wie erstere.
Die unterste Schicht L von 30 cm aus gelb-
lichrotem Tone enthält nur unbestimmbare fos-
sile Tierknochenreste; in der entsprechenden
Schicht in der Goljamahöhle fanden sich Reste
von diluvialen Tieren; Kulturreste fehlen in
beiden aber vollständig. In den aus mit Kies- und
Holzkohlenlagen vermischtem Ton bestehenden
etwa 50 cm mächtigen Schichten H — J fanden
sieh zahlreiche Reste von Haus- und Jagdtieren,
Feuersteingeräte und Scherben von Gefäßen.
In Schicht J kam in der Tiefe von 80 cm ein
gauzes Menschenskelett zum Vorschein. Das in
dieser Schicht gefundene Kulturmaterial bestand
ans vier Feuersteiuklingen von 4,9 bis 7,4 cm
Länge, Resten von Gefäßen, zum Teil mit. Henkeln,
zum Teil mit Warzen und Doppelwarzen, Spinn-
wirtel und einer 6,1 cm langen kupfernen Nadel.
Die geringe Zahl von Feuersteinwerkzeugen
führt Poppow darauf zurück, daß die geologi-
schen Schichten in der Umgebung vou Tirnova
der unteren Kreide, dem ßaremien, angehören,
J) R. Poppow, Die Ausgrabungen in der Höhle
„Malkata Podlis/.a" beim Dorfe Beljakovez, nnweit der
Stadt Tirnova (Nordbulgarien). Priihist. Zeitachr. V,
8. 449—460, 1913.
in welcher Feuerstein fehlt. Ein Gefäß, das er
allbildet, hat konische Form.
Die Schichten // — C, von 30 bis 8'2 cm, ent-
hielten Gefäßreste, einige Fragmente von eisernen
Messern, Lanzen, Nägeln usw., welche au die
Kulturreste aus Wohnplätzen der römischen
Zeit erinnern („Madara", „Woiwoda" u. a.).
Da in der Goljama Podlisza eine Münze der
Faustina gefunden wurde, sind die beiden
Höhlen offenbar noch im 2. Jahrhundert n. Chr.
bewohnt gewesen. Das in Schicht / gefundene
Skelett scheint nicht ueolithisch zu sein, son-
dern aus der Zeit der Ablagerung der Schichten
C — H, also der römischen Zeit anzugehören.
Bei dem Dorfe Madara, östlich von Schumen,
konnte R. Poppow1) reiche Wohnstättenfunde
bergen. Die Gegend nördlich vom Dorfe ist
für die archäologische Forschung von hohem
Interesse. Es finden sich dort Hügel, Menhire,
die Fundamente römischer Festungen und Reste
der ältesten Hauptstadt Bulgariens, Pliska. An
einem Felsen befinden sich neben dem Basrelief
eines thrakischen Reiters eine 30 m tiefe, 70 m
breite natürliche Grotte, „Pod-Grado", und
mehrere künstliche Höhlen. Die Terrasse um
die Quellen, welche in der Nähe entspringen,
enthielt nach den Ausgrabungen in den Jahren
1902, 1903 und 1909 Kulturreste der jüngeren
Steinzeit und der römisch -byzantinischen Zeit.
Auf grauen Mergel folgt eine 1,50 m mächtige,
aus Ton, Sand, Kies und Gerollen bestehende
Schichtenreihe mit den neolitlüschen Kultur-
resien; nach einer 25 cm dicken sterilen Schicht
schließt das Profil mit einer 25 cm mächtigen
schwarzen Dammerde ab, in der sich römisch-
byzantinische Fragmente von gut gebrannten
Gefäßen, Bronze- und Kupfermünzen aus dem
3. bis 6. Jahrhundert, Werkzeuge aus Eisen usw .
fanden.
Die Tierreste der neolithischen Schicht ge-
hörten dem Hunde, Fuchs, Wolf, Bär, Schwein,
Dachs, Hirsch, Reh, Pferd, Wildrind, Schaf,
Biber an, welche teils ausgestorben (Rind, Biber),
teils nach dem Balkan ausgewandert sind (Hirsch,
Reh, Bär). Auch einige Menschenknochen fanden
sich zusammen mit den Tierresten.
Von den neolithischen Kulturresten sind die
folgenden hervorzuheben. Es fanden sich Pfeil-
spitzen, Schaber, Kratzer, Messer und Schlag-
steine aus Feuerstein, der in der Umgebung nicht
vorkommt und vielleicht aus „Kriva-Rjaka"
J) K. Poppow, Beiträge zur Vorgeschichte Bulga-
riens. I. Der prähistorische Wohnplatz „Pod-Grado" bei
dem Dorfe Madara. nnweit der Stadt Schumen (Nordost-
Bulgarien). Prähist. Zeitschr. IV, S. 88— 108, 1912.
45
stammt. Die zahlreichen Abfälle deuten darauf
hin, daß die Feuersteinwerkzeuge an Ort und
Stelle hergestellt worden sind. Aus anderem
Gesteinsmaterial waren geschliffene und zum Teil
durchbohrte Steinbeile, Hämmer und Meißel her-
gestellt, ferner fanden sich Fragmente von
Mühlsteinen sowie Schlag- und Reibsteinen aus
Sandstein und Konglomerat. Aus Geweih und
Knochen bestanden Hämmer, Pfriemen, An-
hänger. Einige Würfelbeine und Zehenglieder
von Hirsch, Rind und Schaf, welche vielleicht
zum Teil zum Spielen dienten, zeigten ein oder
zwei geglättete Flächen; Perlen aus Hörn und
Knochen , durchbohrte Zähne von Hund und
Dachs stellen Schmuckgegenstände dar. Die
Gefäßreste stammen von rohen Gefäßen, welche
in seltenen Fällen als Verzierung grobe Ein-
schnitte und Buckel besaßen.
Es dürfte die Anschauung Poppows richtig
sein, daß alle diese Kulturreste nicht auf pri-
märer Lagerstätte lageu, sondern von der höher
gelegenen Höhle Pod-Grada herabgeschwemmt
worden sind. Ob die künstlichen Grotten neben
den natürlichen aus der jüngeren Steinzeit
stammen, möchte ich noch dahingestellt sein
lassen; vielleicht sind sie während der römisch-
byzantinischen Zeit hergestellt worden.
Die Funde aus der Höhle Toplia bei Go-
lema-Zelezua, welche G. Bontschew1) für dilu-
vial hielt, sind nach Poppo w jünger; sie gehören
wohl auch der jüngeren Steinzeit an.
Die gleichen Kulturreste wie in den Holden
fand A. T s c h i 1 i n g h i i o w 2) in Ansiedelungen
im Überschwemmungsgebiete der Donau,
zwischen Timok und Vid. Den Fundum-
stäuden nach könnte es sich bei den Siedelungen
von Naklata bei Vidbol, von Lora, von
Cibar-Varoche, Kozludui, Ostrovo und
Magura um eine Art von „Pfahlbauansiede-
lungen" handeln. Der größte Teil der Kultur-
reste gehört der jüngeren Steinzeit an und
scheint sich vollständig den Funden in den
Höhlen auf der Nordseite des Balkangebirges
anzuschließen, außerdem fanden sich aber auch
Scherben, welche der römischen Zeit angehören
dürften.
x) G. Bontschew, Peschterata pri s Golema-
Zelezna. Trudovo na bulgarkoto pripodoizpitatelno
druzestvo I, S. 80, 1900; R. Poppow, Izvestija na
bulgarkoto etc. Bull. Soc. Arch. bulgare III, S. 272,
1912—1913.
2) A. Tschilinghirow, Stations prehistoriques sur
le bord du Danube, depuis Timok jusqu'ä Vite. Izvestija
na bulgarkoto II. Bull. Soc. Arch. bulgare II, S. 147— 174,
1911.
In Naklata bei Vidbol kam eine mensch-
liche Figur mit Ornamenten zum Vorschein, die
zu den Funden in den Hügeln Bulgariens über-
leitet.
Wie eingangs erwähnt, bestehen die bisher
untersuchten Hügel Bulgariens größtenteils
aus den Resten vorgeschichtlicher Ansiedelungen.
Es liegen bis jetzt Mitteilungen über Unter-
suchungen der Hügel von Ratschew bei Jambol,
von Deve-Bargau bei Tirnovo-Seimen, von Sveti-
Kyrillovo bei Stara Zagora und von Kadine-
most bei Küstendil in Südbulgarien, von Deuevv
bei Salmanovo, von Kodja-Dermen bei Schumen
und Sultan bei Popopo in Nordbulgarieu vor.
Die Grabungen R. Poppows ]) in den Hügeln
von Denew, welche auf Kosten des bulgarischen
Nationalmuseums in Sofia erfolgten, haben eine
sehr reiche Ausbeute ergeben. Vor allem fanden
sich die Reste von Wandbewurf, es handelt sich
also um Hütten aus Flechtwerk, das mit Lehm
beworfen worden war. Die Form der Hütten ließ
sich nicht feststellen, wahrscheinlich waren sie
viereckig wie die primitiven Hüttenmodelle aus
Ton, welche in dem Hügel gefunden worden
sind. Die Feuersteinwerkzeuge ähneln voll-
ständig denen in den Höhleu, auch die Steiu-
hämmer zeigen die gleichen Formen. Die
Pfriemen, Nadeln und Anhänger aus Knochen
sind zahlreicher und überwiegen stark gegen
die Steinbeilfassuugen und sonstigen Werkzeuge
aus Hörn. Neben den durchbohrten Muscheln
(Cardium) fanden sich auch als künstlicher
Schmuck Ringe aus Spondylusschalen. Von be-
sonderem Interesse sind die keramischen Pro-
dukte. Die Gefäße sind zum Ted poliert ohne
Ornamente, zum Teil besitzen sie gravierte Or-
namente mit Einlagen (inkrustierte Gefäße) oder
gemalte und plastische Ornamente. Auf manchen
Gefäßen sind die Ornamente mit Graphit aus-
geführt, bei anderen ist auf dem Graphitgrunde
das Ornament ausgespart. Kombination von
Gravierung und Bemalung ist häufig. Bei den
inkrustierten Gefäßen ist nach Poppow die
Technik eiue verschiedene, entweder wird das
eingeschnittene Ornament mit einer weißen Ton-
masse ausgefüllt oder es war das Ornament
erhaben ausgeführt und die so entstehenden
vertieften Zwischenräume mit weißer Masse aus-
gefüllt worden. Hinsichtlich der Form sind be-
sonders zylindrische inkrustierte Gefäße hervor-
zuheben mit konischem Boden und meist einem
kleinen hohlen Fuße; es gehören zu diesen
:) R. Poppow, Predistoritseheskata Deneva mogila
pri s Salmanovo. Der vorgeschichtliche Hügel von
Denew beim Dorfe Salmonovo. Izvestija na bulgarkoto
IV. Bull. Soc. Arch. bulgare IV, S. 148—225, 1914.
46
Gefäßen Deckel mit ähnlichen Verzierungen.
Als Unikum ist ein vierkantiges Gefäß mit zwei
Öffnungen am Boden zu erwähnen. Besonders
wichtig sind die Reste von Menschen- und Tier-
figuren aus Ton, sogenannte „Tonidole". Auch
Stempel aus Ton, die für Bulgarien zum eisten
Male festgestellt sind, verdienen erwähnt zu
werden. Möglicherweise winden sie zur Körper-
bemalung verwendet. Au Metallgegenständen
kam nur eine Kupfernadel zum Vorschein. Außer
den Resten von Haus- und Jagdtieren (Hirsch,
Reh, Rind, Schaf, Hase, Biber, Hund, Fuchs,
Wolf, Luchs, Marder, Dachs, Schwein, Bär)
kamen in der oberen Schicht auch menschliche
Skelette zum Vorschein, die wohl jünger sind
als die Siedelungsreste in der Basis des Hügels.
In dem Hügel „Kodja-Dermen", nord-
westlich von Schumeu, fand R. Poppow1) ein
ganz ähnliches Kulturinventar: Werkzeuge aus
Knochen, Hörn, Feuerstein und anderen Ge-
steinsarten; Schmucksachen aus Knochen (Astra-
galus), Muscheln "(Cardium) und Früchte (Litho-
spermum oftieinale). Der zum Bemalen der
Gefäße nötige Graphit fand sich in einigen
konischen Stücken. Die Gefäßreste waren teils
von ganz ähnlich bemalten Gefäßen wie im
Hügel von Denew , teils waren sie von rohen
Gefäßen. Sehr zahlreich fanden sich die Menschen-
und Tierfiguren aus Ton und Knochen. Die
Tierreste setzen sich zusammen aus den Knochen
von Hund, Fuchs, Wildkatze, Dachs, Reh, Hirsch,
Rind (und zwar Wildrind und zahmes Rind),
Schaf, Schwein, Hase, Vögel, Belemniten (Belem-
nites pistilliformis) mit künstlich zugespitzten
Enden und Schalen von Cardium, Unio, Denta-
liuui, die offenbar für Schmuckzwecke auf-
gesammelt worden sind. Auch Getreidereste
(Triticum vulgare) fanden sich zum Teil in
reichlicher Menge. Menschliche Reste kamen
zerstreut vor: ein Schädel, ein Oberschenkel,
ein Oberarm, ein Schienbein. Vielleicht handelt
es sich hier um einen Beweis von Kannibalismus.
In einem 12 m hohen Hügel mitten im Dorfe
Sveti-Ky rillovo 2) bei Stara-Zagora nahm
Gawril .1. Kazarow einige Versuchsgrabungen
vor; er konnte bis zu 4,5 m Tiefe mehrere
Schichten feststellen. Oben eine Schicht von
1 m Tiefe mit Funden aus römischer und
*) R. Poppow, Beiträge zur Vorgeschichte Bulgariens
II. Idole und Tierßguren. gefunden in dem Hügel „Kodja-
Dermen" bei Sehumen (Bulgarien). Prähist. Zeitschr.
I\ , S. 103— 113, 1912. Izvestija na bulgarkoto II. Bull.
Soc, Arch. bulgare II, S. 70 — 80, 1911. Revue de la
Soctete litteraire bulgare XXI, S. 503— 562, 1909.
a) Gawril J. Kazarow, Vorgeschichtliche Funde
aus Sveti-Kyrillovo. Präh. Zeitschr. VI, 1914, S. 67—88.
byzantinischer Zeit, darunter eine 1,8 m mächtige
Erdschicht mit prähistorischen Gefaßtesten, es
folgte dann eine verbrannte Schicht (0,2 m) mit
Scherben und verkohlten Getreide- und Hütten-
resten. Unter einer weiteren 1,2 m tiefen sandigen
Schicht lag eine zweite 0,30 m mächtige ver-
brannte Schicht mit verkohltem Getreide. In
diesen Schichten fanden sich Reste von mono-
chromen und bemalten Gefäßen, „Tonidole",
Webstuhlgewichte, Wirtel und Löffel aus Ton,
eine Muschelschale, Werkzeuge aus Feuerstein
und geschliffene Steinbeile, Pfriemen aus Kno-
chen, Nadeln und Dolchklingen aus Kupfer.
Menschen- und Tierfiguren aus Knochen,
ähnlich denen von Denew und Kodja-Dermen,
beschreibt A. Tschiliughiro w auch aus der
prähistorischen Station Sultan (Bez. Popopo)
in Nordbulgarien l) und aus dem Hügel Rat-
sche w bei Jambol in Südbulgarien 2). Wenn
er diese Idole der Eisenzeit am Anfang des
1. Jahrtausend zuschreibt, so dürfte dies wohl
eine irrtümliche Auffassung sein. Tonidole
fanden sich auch bei Kadine-most (Bez. Küsten-
dil) nach den Mitteilungen von J. Iwanow3).
Aus einem nicht wissenschaftlich erforschten
Hügel Deve-Bargan bei Tiruovo- Seimen, am
Ufer der Maritza, sind^ spätneolithische und
römisch-byzantinische Funde bekannt.
Die vorgeschichtlichen Forschungen in Bul-
garien, soweit sie in der mir zugänglichen
Literatur veröffentlicht sind, haben für die Vor-
geschichte Bulgariens wichtige Ergebnisse ge-
liefert.
Fürs erste sind sichere Spuren des paläoli-
thischen Menschen nachgewiesen worden.
Hinsichtlich der jüngeren Steinzeit schei-
nen zwei nach den Kulturresten verschiedene
Stufen vorhanden gewesen zu sein. Die Reste
aus der jüngeren Steinzeit, welche in den Höhlen
und vielleicht auch in den „Pfahlbauansiede-
lungen" im Überschwemmungsgebiete der Donau
zwischen Timok und Vid zutage treten, zeigen
einfachere Formen, sie stellen vielleicht eine
ältere Stufe dar gegen die Funde aus den
Hügeln; diese Stufe schließt sich mit ihrer be-
malten Keramik und den Menschen- und Tier-
figuren der in Bosnien, Serbien, Siebenbürgen,
J) A. Tsch il in gh iro w , Pigurines en os de la
Station prehistorique de Soultan (arr. de Popopo). Iz-
vestija na bulgarkoto etc. I. Bull. Soc. Arch. bulgare I.
S. 105—110, 1910.
2) Derselbe, Figurines en os du tumulus Ratchew
pres de Jambol. Izvestija na bulgarkoto II. Bull. Soc.
Arch. bulgare II, S. 81— 88, 1911.
3) J. Iwanow, Rapport sur les fouilles de Kadine-
most, arrondissemeut de Küstendil. Izvestija na bulgar-
koto etc. I. Bull. Arch. bulgare I, S. 192, 1910.
47
Rumänien und in der Ukraine festgestellten
spätueolithischen Kultur an, welche bis nach
Thessalien vorgedrungen zu sein scheint und etwa
dem 3. Jahrtausend v. Chr. angehört. Wir können
somit in Bulgarien ein „Höhlenneolithikum" und
ein „Hügelneolithikum" unterscheiden.
Eigentümlich ist es, daß Funde aus der
Bronzezeit sowohl in den Hügeln mit Wohn-
resten als auch in den Höhlen und Grotten zu
fehlen scheinen. Das macht den Eindruck, als
ob im 2. Jahrtausend v. Chr., während der
kretisch-mykenischen Periode, keine Verbindung
mit dem kulturreichen Süden der Halbinsel vor-
handen gewesen sei. Das scheint aber nicht
der Fall gewesen zu sein. H. Schmidt er-
wähnt z. B. den Fund eines Bronzeschwertes,
das aus Kalaglare bei Panagjuriste (Bezirk
Philippopel) stammt; es scheinen somit wenig-
stens für Südbulgarien Beziehungen zur Bronze-
zeit Griechenlands vorhanden gewesen zu sein.
Auch verschiedene Gefäßformen im National-
museum zu Sofia weisen auf Kulturbeziehungen
zum Süden der Halbinsel hin.
Im Nationalmuseum zu Sofia fehlen Funde
aus den vorgeschichtlichen Metallzeiteu nicht
vollständig-, die aber, soviel ich sehe, noch nicht
veröffentlicht sind und der wissenschaftlichen
Bearbeitung bedürfen. Verhältnismäßig zahl-
reiche Streithämmer aus Kupfer und Bronze
erinnern an ähnliche Formen in Ungarn, des-
gleichen stimmt eine Anzahl von Tülläxten,
welche der Hallstattzeit zuzurechnen sind, mit
solchen aus Ungarn überein. Die Spiralfibeln
der Hallstattzeit gleichen denen aus dem Hall-
stattkreis Österreich-Ungarns und Bayerns. Es
scheint somit ein Verkehr donauabwärts statt-
gefunden zu haben. Andere Funde wie durch-
brochene Anhänger, ßogentibeln, Armringe und
apiralig gewundeue Drähte aus Bronze weisen
auf Beziehungen zum Osten der Balkanhalbiusel,
nach Bosnien hin, wie ein Vergleich mit den
Funden von Donja Dolina an der Save zeigt.
Aus der Latenezeit sind bis jetzt, soviel
ich sehe, nur die Funde aus den Grabhügeln
bei Trojan und Gabrovo bekannt, dagegen sind
die Funde aus der Rom er zeit in Bulgarien
äußerst zahlreich.
Die Erforschung des vorgeschichtlichen Bul-
gariens steht erst am Anfang, noch harren zahl-
reiche Probleme der Lösung. Es wird nach
der, wie wir hoffen, siegreichen Beendigung des
jetzigen Krieges eine dankbare Aufgabe für
das bulgarische Nationalmuseum in Sofia und
die archäologischen Vereine sein, die sich in
verschiedeneu Teilen Bulgariens gebildet haben,
durch systematische Untersuchungen Licht in
das Dnnkel der Vorgeschichte des nördlichen
Teiles der Balkanhalbinsel zu bringen. Wir
hier in Deutschland verfolgen mit hohem Inter-
esse die Arbeiten der bulgarischen Forscher und
sind gern bereit, unsere Kräfte zur Lösung der
interessanten Fragen zur Verfügung zu stellen.
Mesolithische Stationen
vom Donnersberge und aus der Vorderpfalz.
Von Dr. C. Mehlis.
Die Rheinpfalz ist bekanntlich, ebenso wie
Elsaß und Rheiuhessen, sehr reich an Stein-
werkzeugen der neolithischen Periode (3. bis
2. Jahrtausend v. Chr.). Selten sind Fundstücke
aus älteren Perioden der Vorzeit. Dr. Sprater
hat im Jahre 1915 einen menschlichen numerus
des Homo sapiens aus Kiesgruben am Rhein
als zur Familie des Neandertalers gehörig be-
stimmt (Pfälzisches Museum 1915, S. 82 u. 83).
Ein geschlagener Steinkeil von der Eyersheimer
Mühle unterhalb Bad Dürkheim gehört gleich-
falls, wie mehrere andere Artefakte aus Stein
und Hirschhorn (Eyersheimer Mühle, Herschberg,
Speyer, Mutterstadt, Altrip), in eine vorueo-
lithische Zeit (vgl. Sprater: Die Urgeschichte
der Pfalz, S. 10 u. 11). Aus dem Museum zu
Bad Dürkheim gehören hierher zwei „Grat-
beile" aus Halbopal, messerähnlich gestaltet.
1. Länge 12 cm, gr. Breite 2,3 cm, Fundort:
Nieder kircheu, J. N. 1650; 2. Länge 11cm,
gr. Breite 3 cm, Fundort: Kallstadt, J. N. 4861.
Das „Gratbeil" von Calbe i. d. Altmark (vgl.
Zeitschr. f. Ethnologie, 39. Jahrg., 1907, S. 202,
Fig. 2) zeigt genau dieselbe Form und Technik auf.
Allein es sind dies Streufunde, die gegen-
über geschlossenen Funden weniger Beweis-
kraft haben. Dagegen sind am Donners-
berge und bei Neustadt a. d. IL neuerdings
Fundstellen aus der Campignyieuzeit erschlossen
wordeu, die nach M. Hoernes um 6000 v. Chr.
anzusetzen ist (Urgeschichte der bildenden Kunst
in Europa, 2. Aufl., S. 72 und 113).
48
Auf dem Donnersberge1) (nions Jovis) sind
auffallend große - - bis 30cm Länge — und
roh bearbeitete Werkzeuge aus dem Urgestein
des Berges, Thonporphyr, an verschiedenen Stellen
der Hochebene, die las zu 680m ansteigt, auf-
gefunden worden. Auch große Gerolle ans dem
Rotliegenden gehören in diesen Kreis mensch-
licher, primitiv geschlagener Artefakte, l'uter
diesen sind mehrere gestielt und zugespitzt, so
daß sie nach Dr. Wilser wahrscheinlich als
Pflugscharen einstmals Verwendung fanden
(vgl. Mehlis: Eine mesolithische Station vom
Donnersberg, 1916, S. 5, Fig. 1). -
Ähnlicher, nur nicht gleicher Art sind mehrere
Werkzeuge und Geräte, die neuerdings auf den
Fig. l.
und schmale Hacke, während das sechste einen
Nuoleus oder ein Kernstück vorstellt, aus dessen
Randzonen 3 bis 4 Messer oder Schaber heraus-
hlagen Bind. Zwei von diesen rohen Werk-
zeugen sind gestielt, die Säge und ein Schaber,
wie viele der Donnersberger „Megalithen".
Besondere Erwähnung verdient, daß dieser
Schaher solchen von der Campigny- Station zu
Calbe a. d. Milde iu der Altmark iu Vorder-
und Rückseite, sowie in dem Typus der Rand-
retouche völlig gleicht (vgl. Zeit sehr. f. Ethno-
logie, 39. Jahrg., S. 213, Fig. 22; vgl. hier Figur
1 u. 2). Auch ein weiterer Campigny-Schaber
von Stendal in der Altmark zeigt zwar nicht
die amygdalische (mandelförmige) Form des
Neustädter Gerätes auf, wohl aber dieselbe
Bearbeitung in der Formgebung der Kanten
und der Retouchen (vgl. Zeitschr. f. Ethnologie,
47. Jahrg. 1915, S.405, Abi). 1 a), obwohl das
Fier. 2.
Schaber von Neustadt a. d. Hart.
Gewannen „Mandelring", „Vogelgesang" und
„Bohl" zwischen Neustadt a. d. Hart, Haardt und
Mußbach in weinrebenreicher Landschaft bei
geologischen Arbeiten vom Verfasser ausgelesen
wurden. Auch diese Artefakte bestehen aus
bodenständigem Gestein, drei aus Hornstein und
Muschelkalk, zwei aus Tonporphyr, der am
Nollen (490 m) lagerhaft ist, eins aus Förster
Basalt. Von diesen sechs bearbeiteten Stücken
ist eines eine Säge der Urzeit, drei sind
Schaber oder Kratzer (grattoir), eins eine lauge
J) Der mächtige Ringwall, der das Plateau um-
zieht, entstammt der La-Tcne-Periode (2. bis 1. Jahr-
hundert v. Chr.).
Schaber von Calbe.
Material verschieden ist — dort Muschelkalk,
hier Silex aus dem Diluvium. Diese Analogie
kann wohl kaum anf einen Zufall zurück-
gehen , sondern wohl auf die Schulung von
zwei Paar Händen, die iu derselben Kultur-
periode am Mittelrhein und an der unteren
Elbe gelebt haben, d. h. synchron und syn-
kulturell sind.
Da auf dem „Bohl" schon früher sich zahl-
reiche „bemalte Kiesel" gefunden hatten, die
denen aus der Südwest -französischen Station
Mas d'Azil gleichen (vgl. „Globus" 1906,
Bd. 89, S. 170— 177), so sind hier zwei Zeitalter
aus dem Übergänge von der Paläolithikum-
zeit zur geschliffenen Periode vertreten: 1. das
49
Campignyieu, 2. das Azilien oder Asylien 1).
Beide Perioden, die hier wohl zusammenfallen,
entsprechen der der nordischen Kjökkeninöd-
dinger, d. h. der dänischen Muschelabfallhaufen,
die von gleich rohen und schmucklosen Werk-
zeugen untermischt sich zeigen (Abb. vgl. bei
Hoernes: Kultur der Urzeit, I., S. 93). Auch
die Ansiedelung im Magiemose = großes
Moor auf Seeland gehört hierher (vgl. Hoernes:
a. a. O. I., S. 90 u. 91). —
Mit diesen nordischen Formen der Stufe
der Kjökkenmöddiuger zeigen die Funde am
Donnersberg und aus der Vorderpfalz in-
sofern Übereinstimmung, als die Technik der
1) Die richtige Lautform ist von Azil abzuleiten,
also Azilien.
Geräte auf gleich niederer Eutwickelung steht
und nur der Bedürfnisfrage entgegenkommt.
Die glänzenden Zeiten des Aurignacieu, Solu-
treen und Magdalenien, die überhaupt am Rhein
nur schwach entwickelt waren (vgl. Hoernes:
a. a. 0. I., S. 23 — 34), sind für immer versunken.
Azilien und l'ampignyien bieten nur schwachen
Ersatz dafür. Auf den Hochflächen des Don-
nersberges ward höchstens in roher Form
Hirse gepflanzt und geerntet. Am Speyer-
bach wurde gefischt und gejagt. Höhere
Kultur sollten erst neue Einwanderer aus dem
Süden Europas bringen, welche von dort die
Körnerfrüchte und Haustiere, Töpferei und
Weberei einführten.
Neustadt a. d. Hart, im September 19 IG.
Ein Nephrithammerfragment in Bad Dürkheim.
Von Dr. C. M e h 1 i s.
Bei Neuordnung der Sammlung des Alter-
tumsvereines zu Bad Dürkheim (Bad Dürk-
heim a. d. Hart) fiel dem Verf. unter den Stein-
artefakten , von denen etwa 400 Objekte aus
Dürkheim und Umgebung entstammen, ein
Nephritstück auf (vgl. Abbildung).
Es ist mit Nr. 111 bezeichnet und als Fundort
der „Feuerberg" bei Dürkheim angegeben. Das
Stück — ein Fragment! — hat eine Länge von
5,5 cm, eine von 0,1 bis 2,5 cm ansteigende Breite,
eine Höhe von 1,7 bis 2,7 cm. Die Oberfläche
ist glatt geschliffen (a — b — e — /'), nur an
einer Stelle (a — h), die 1,7 cm laug, bis 0,5 cm
breit ist und sichelförmige Gestalt hat, sind
Querriefen sichtbar. Möglicherweise deuten
diese auf eine ursprüngliche Geröllnatur des
Gesteines hin, die ja bei internen Stücken
gewöhnlich ist (Bodenseegegend, Zentralalpen,
Schweden usw.). Nach unten spitzt sich das
Stück in eine scharfe Kante aus, die auf vier
Seiten von mehr oder weniger zackigen und
eckigen Bruchflächen begrenzt wird. Auf der
einen dieser Seitenflächen, und zwar auf einer
Langseite (bei c — /' — e), ist eine Lochuug ein-
gebohrt, dereu Tiefe 2,1 cm, deren obere Sehne
2,9 cm beträgt. Da jedoch auch die Seiten-
kanten c — ■ /', nicht nur die Oberkante e — /',
im Bogen läuft, so scheint keine zylindrische
Bohrung, sondern eine trichterförmige statt-
gefunden zu halien. Durchbohrungen bei
einheimischen Nephritoidwerkzeugen ge-
hören bei uns in Deutschland zu den größten
Seltenheiten, was sich aus der Härte und der
Zähigkeit der betreffenden Mineralien erklärt.
In meiner Sammlung ist nur ein Nephrit-
werkzeug durchbohrt, und dies ist exotischen
Ursprungs, wahrscheinlich aus Neuseeland
(vgl. H.Fischer, a.a.O., S. 240, Zeile 13 v. o.).
Die Farbe des Gesteins ist matt apfelgrün.
Die Masse ist homogen gestaltet, und bei
Untersuchung durch die Lupe sind mineralische
Beimengungen nicht sichtbar. Bestimmt mau
den oberen Radius, so hat derselbe einen
Durchmesser von 2,5 cm, was auf die Makro-
lithik des Werkzeuges hindeutet. — Nach
Untersuchung des Stückes durch Herrn Prof.
Dr. Nachreiner zu Neustadt a. d. H. beträgt
das spezifische Gewicht 2,62; Härtegrad
= 7 bis 8.
Erstere Zahl stimmt auffallend mit dem
Neuseeländischen Tangiwai-Mineral überein, das
bei H.Fischer: „Nephrit und Jadeit" nach
7
50
Ferd. von Hochstetter S. 242 kurz beschrieben
ist Nephrit selbst hat ein etwas höheres spe-
zifisches Gewicht, von 2,96 an beginnend (vgl.
a.a.O., S. :»49 — 351). Vergleichen wir die bei
11. Fischer auf Tafel I und II angegebenen
Farben des Nephrites, Jadeites und Chloro-
melanites, so kommt die Farbe uuseres Stückes
am nächsten Nr. 2 = dem chinesischen Nephrit,
und Nr. 12 = Neuseeländer Nephrit: „licht
apfelgrün, etwa wie Chrysopras". Damit soll
jedoch keineswegs der exotische Ursprung
des Hammerfragmentes behauptet sein, zumal
da Fischer in der „Erläuterung" zu Tafel I
ausdrücklich bei Nr. 2 drei europäische Vor-
kommen, Tyrol, Schweden und Schottland
anführt. Warum soll auch Turkestan oder
Zentral-China allein das Privileg haben, in seinen
Gebirgen mattgrünen Nephrit zu besitzen ? —
Der 5 km östlich von Bad Dürkheim ge-
legene, jetzt von lieben bedeckte „Feuerberg"
ist eine diluviale Hochfläche von rund 130 m
Meereshcihc am rechten, südlichen Hochufer des
„Bruches" und der Isenach. Auf seiner Fläche
sind von jeher zahlreiche Altertümer bei Ro-
dungen gefunden worden. Diese reichen von
der Ncolithik an bis zur Spätrömerzeit (vgl.
Mehlis: „Studien zur ältesten Geschichte der
Rheinlande", .S.Abt., S. 43 und sub Eilerstadt,
S.45; 8. Abt., S. 27 sub Feuerberg und S. 28 sub
Eilerstadt; außerdem Korrespondenzblatt für
Anthropologie 1875, S. 22 ; 1877, S. 31).
Dieser seltsame Einzelfund gehört wahr-
scheinlich zu einer spä tueolithischen Siedelung,
die schon den Übergang zur frühen Metallzeit
gebildet hat. Aus dem nahen „Bruch" stammt
ein flaches Kupf erbeil von der bekannten
Pfahlbauform (Museum in Bad Dürkheim). —
Auffallend ist außer dem Mineral die
trichterförmige Gestaltung der Durchbohrung.
Neustadt a. d. Hart, Mitte September 1916.
Ausgrabungen in Gr.-Platon.
Von Dr. Rechenbach, Oberstabsarzt.
Anfang Januar 1916 wurden bei dem Gute
Gr.-Platon, etwa 26 km südlich Mitau, auf einem
Gelände dicht am Flüßchen Piatone zur Sand-
gewinnung Spreugungen vorgenommen (s. letztes
Bild in der Anlage zu den Ausgrabungen der
Fliegerabteilung 37). Durch die hierbei heraus-
beförderten Meuscheuknochen, eisernen und
Bronzegegeustände, welche teilweise noch in dem
angerissenen festen Erdreich steckten, aufmerk-
sam gemacht, gruben Angehörige der Formation
dort nach und stießen sehr bald auf weitere
Gegenstände gleicher Art.
Infolge mehrfach wiederholter Sprengungen
sowie durch vielfache Grabungen wurden immer
mehr ähnliche Funde zutage befördert, darunter
auch größere Skeletteile, so daß eine Friedhofs-
anlage aus vorgeschichtlicher Zeit hier vermutet
wurde. Eine diesbezügliche Meldung Ende Mai
an das A.-O.-K. Ost erreichte, daß die Zivil-
verwaltung für Kurland bzw. die Verwaltung
des Provinzialmuseums in Mitau mit der wei-
tereu Erforschung des Gräberfeldes betraut
wurde; diese übertrug dann mir in liebens-
würdigstem Entgegenkommen diese Aufgabe.
Mein erster Besuch in Gr.-Platon anfangs
Juli galt einer Besichtigung des in Frage
stehenden Geländes sowie der gemachten Funde
und einer Besprechung mit der Formation über
die gelegene Zeit der Ausführung weiterer Gra-
buntjen.
Die Besichtigung des Fundplatzes ließ zwar
mit größter Wahrscheinlichkeit eine vorgeschicht-
liche Siedelung vermuten , zugleich setzte sie
aber auch die Aussicht auf eine größere Aus-
beute sehr herab. Denn in weiter Ausdehnung
war das Gelände durch die vielfach vorgenom-
menen Sprengungen und durch die Abfuhr von
Saud umgestürzt und (s. Skizze 1) durchwühlt,
durch die allerorts wahllos angeschlossenen Nach-
grabungen war die Einheitlichkeit des Bildes
noch mehr gestört. Man konnte infolgedessen
wohl noch mit Gelegenheitsfunden rechnen, die
Hoffnung aber, das einheitliche Bild einer Siede-
lung oder Grabanlage aufzudecken, mußte außer-
ordentlich gering erscheinen. Auch von den
bisher gemachten Funden war nur noch wenig-
vorhanden, meist waren die gefundenen und
als wertvoll erachteten Gegenstände als An-
denken nach Hause geschickt, das übrige achtlos
beiseite geworfen oder verlegt. Gegenstände,
wie sie die dem A.-O.-K. vorgelegten photo-
graphischen Aufnahmen zeigten, fanden sich nicht
mehr vor, angeblich waren sie von dem Finder,
einem Unteroffizier, nach Magdeburg an das
Museum geschickt. Das in der gleichen Anlage
photographisch wiedergegeben e menschliche Ske-
lett erwies sich bei näherer Betrachtung als
zusammengesetzt aus Skeletteilen verschiedener
Individuen, und leider waren auch die so wichti-
gen ausgegrabenen Schädel nicht mehr zur Stelle.
51
Trotz alledem wollte ich eine genauere Fest-
legung der Ansiedelung nicht unversucht lassen,
zumal mir von Seiten der in Gr.-Platon liegenden
Formation möglichste Unterstützung in Aussicht
gestellt wurde.
Da mir zu diesem Zwecke nur ein kurzer
Urlaub — 5 Tage — gegeben werden konnte
und die verfügbaren Arbeitskräfte sehr gering
waren, so mußte ich mich auf die notwendigsten
Untersuchungen beschränken. Sie wurden vom
5. bis 10. Juli 1916 vorgenommen.
Lokalität des Fundortes. Das in Frage
kommende Gelände lag auf der rechten Seite
des Flüßchens Platoue, gegenüber dem Schloß-
ein Fuhrweg , welcher der Abfuhr des Sandes
gedient hatte. An das bearbeitete Gelände
schloß sich nach Norden und Nordosten zu eiu
größeres Brachfeld an, ebenfalls zum Fluß stark
abfallend und au diesem mit russischen Schützen-
stellungen durchsetzt. Nach Westen und Süd-
westen wurde das Gelände durch einen Fuhr-
weg von dem nächsten Acker abgegrenzt, und
uach Süden und Südosten zu erstreckten sich
Wiesen, teils bis zum lettischen Friedhof, teils
bis zum Fluß. (Skizze 1.)
In Frage kam nun , die Umgrenzung der
früheren Siedelung bzw. Grabaulage nach Mög-
lichkeit festzustellen. Bei der Begehung des
Skizze 1.
Sci'Uossparfc
schraffiert* flUe Grabimge
park, etwa 300 m vou dem noch jetzt in Ge-
brauch stehenden lettischen Friedhof entfernt.
Die Piatone zieht sich in Windungen um
den Schloßpark herum , gerade au der rechten
Seite meist von ziemlich steil abfallenden Ab-
hängen begleitet; an so einen Abhang grenzte
der Fundort, bis vor Kriegsausbruch ein be-
ackertes Feld oder Weide. Ein größerer Teil
des Abhanges wurde noch durch alte russische
Schützenstelluugen eingenommen , in der Mitte
des jetzigen Brachfeldes fand sich eine etwa
50 m lange und 35 m breite unregelmäßig ab-
gebaute Mulde, teilweise erfüllt von eingestürzten
Rasenstücken und Lehmmassen, die Stelle der
früheren Sprengungen; in diese Mulde führt
Geländes fanden sich schon verschiedene Gegen-
stände frei in dem umgeworfenen Sand oder in
der Nähe der russischen Schützenstellungen, wie
Überreste der verschiedensten Skeletteile, ver-
schiedene von den Findern achtlos weggeworfene
Lanzenspitzen, sowie kleinste Überreste von
Bronzeketten und eine Bronzenadel. Eine nähere
Erkundigung bei der Formation, besonders bei
den Unteroffizieren und Mannschaften, welche
Nachgrabungen angestellt hatten, ergab dann
das folgende Bild und Ergebnis der bisher an-
gestellten Forschungen.
Nach jeder Sprengung oder Sandabfuhr
wurde das Terrain nach herausgeschleuderten
Fundstücken von den interessierten Leuten (Unter-
52
Offizieren und Mannschaften) abgesucht; an tlen
Sprengrändern wurde teilweise nachgegraben und
naehgeschürft, besonders wenn sieh eine Brand-
oder Verwesungsschicht zeigte, in dieser sollen
dann die meisten Funde gemacht worden sein.
Von einem Unteroffizier sind dann auch mehrere
planmäßige Nachgrabungen angestellt worden,
und /.war nach Osten, nach dem Abhänge zu.
liier sollen siel) dann Grabanlagen, 12 bis 16
an der Zahl in einer Reihe, vorgefunden haben,
welche meist nur einzelne nicht vergangene
Knochenteile und fast stets Eisenwaffen und
Bronzesachen enthielten. Stets lagen die Funde
auf dem anstehenden Lehm, etwa a 2 bis 3 4 in
unter der Erdoberfläche, meist fand sieh eine
Verwesungsschicht von ungleichmäßiger Aus-
dehnung; ein vollständig erhaltenes Skelett
wurde niemals aufgedeckt, nur zweimal ein gut
erhaltener Schädel. Teilweise konnte man noch
aus der Lage der Kuochenteile zueinander die
Schützenstellungen gemacht worden, doch meist
nur Knochenstücke und Scherben. Auf Grund
dieser Angaben ließ sich das jetzt etwas ver-
änderte Terrain einigermaßen verwerten. Es
fanden sich 2 m vom Abhang entfernt noch die
deutlichen Grabungen der angeblich 12 bis
16 Reiheugräber, an diese schlössen sich nach
Nordosten zu die russischen Schützenstände am
Abhänge an, welche teilweise nochmals nach
Funden durchwühlt waren; vor letzterem und
bis ziemlich nördlich und westlich an das eigent-
liche Spreng- und Saudabfuhrterrain waren noch
die mehr oder minder tiefen , teilweise wieder
zugeworfenen Versuehsgräben zu sehen, welche
ebenfalls der Auffindung von Gegenständen
dienen sollten (s. Skizze 1).
Bei den nun selbst angestellten Grabungen
ergab sich meistens folgendes Bild: Nach Ent-
fernung der Humuserde stieß man auf einen
gelbrötlichen Sand, welcher sich in verschieden
5k iz-ze J.
Querschnitt
durch einen Versuclisorabeii.
Humusschicht ca. 30 cm. hoch
Sa-ndachfcht ZO-M-0 cm.
Fundscb ichf .
ans teilender Lehm-
ursprüngliche Lagerung der Leiche erkennen,
doch habe keine Einheitlichkeit bestanden, sehr
oft hätten bei der einen Leiche die Schädelreste
nach Nordosten, bei der benachbarten dagegen
nach Südwesten gelegen; au der Schulter fanden
sich meist zwei Lauzenspitzen, eine Hacke und
ein Sichelmesser, in der Gegend der Brust
Bronzenadeln und zuweilen ein eisernes Schwert
oder Messer. Diese oben erwähnten 12 bis
16 Reihengräber lagen durchschnittlich in 1 m
Entfernung voneinander, so daß die Lage der
nächsten Bestattung von vornherein schon hätte
festgestellt werden köunen. An anderen Stellen
hätten sich solche regelmäßigen Grabanlagen
nicht gefunden, meist nur wenige Einzelfunde,
oft in einer Verwesungsschicht und zuweilen in
verschiedener Höhe und Lage zueinander; manch-
mal hätten sich auch Überreste von Tongefäßen in
Scherben, sowie einzelne Brandkohle oder direkt
Brandherde gezeigt. Einzelfunde seien auch in
der herausgeworfenen Erde bei den russischen
dicker Lage (20 bis 40 cm hoch) bis zum an-
stehenden (s. Skizze 2) Boden, stets fester Lehm,
fortsetzte; zuweilen war der Sand etwas kiesig.
Der anstehende Lehm bildete strichweise nicht
eine ebene Fläche, sondern zeigte eine unregel-
mäßige wellige Ausdehnung, so daß man manch-
mal schon nach 40 cm von der Oberfläche ent-
fernt, auf diesen Lehm stieß (s. Skizze 2). Meist
an der Grenze zwischen Sand und Lehm fand
sich nun zuweilen eiue graue oder bräunlich
gefärbte Schicht von durchschnittlich 3, manch-
mal 10 cm Stärke, welche vielfach unregelmäßig
höher oder tiefer ging, zuweilen sich verlor und
zuweilen stärker zutage trat; manchmal ließ sich
diese Zone wie ein schmales unregelmäßiges
Band genau verfolgen, hatte eine Flächenausdeh-
nung von zuweilen 35 bis 40 cm und eiue Höhe
von 2 bis 8 cm; strichweise fanden sich nur
Spuren. War diese Zone von grauer oder grau-
schwarzer Farbe, so ließen sich in dieser Schicht
einzelne Überbleibsel von Kohle und Asche fest-
53
stellen; zeigte die Zone mehr bräunliche Färbung,
so fehlten meist Kohlenteilchen. Im Verlaufe
dieser angegebenen Schicht wurden die meisten
Gegenstände gefunden, sei es, daß sie direkt in
dieser Schicht lagen, sei es in nächster Nähe
seitwärts oder, was am häufigsten vorkam, dar-
unter, direkt auf dem Lehm. An zwei ver-
schiedenen Stelleu fanden sich große Brand-
herde mit verkohlten Holzstücken; über diese
5K/"zze SL
sprach aber nicht den Erwartungen. Nur in
den beiden ersten Versuchsgräben fanden sich
meist im Verlauf einer schmalen Braudschicht,
etwa 40 cm tief, ein flaches, 25 cm langes, 8 cm
breites, nicht angekohltes, aber halb ver-
modertes Holz (s. Tafel IV, Einzelfund, und
Tafel V) und vielleicht ' 2 m davon eine Bronze-
Fibula erhalten. Es handelt sich hierbei um
eine Hufeisen-Fibula mit bandartig aufge-
Neue 6
schraffiert Pi.i) Stöc
seLbstangelegle i) Hufe
5tichgrä.ben. 3)eiser
wird unten berichtet werden. Ich gehe nun zu
den einzelnen Grabungen bezw. Funden über.
Die meiste Aussicht auf Erfolg schien eine
Nachgrabung parallel zu den sogenannten Reihen-
gräbern zu haben, nach dem Abhänge zu. Hier
war noch freies, nicht duichwühltes Terrain bis
zu 3 m Breite. Es wurden deshalb in diesem
Gelände parallel und senkrecht zu den schon
ausgeworfenen Gräben mehrere (etwa vier parallel
und sechs senkrecht) Versuchsgräben gezogen,
welche sämtlich bis auf den anstehenden Lehm
und darüber hinaus gingen. Der Erfolg ent-
rollten Enden, Längsdurchmesser 6,2 cm, Quer-
durchmesser 5V2cm, ohne Verzierungen, glatt
viereckig (s. Katalog der Ausstellung zum X.
archäologischen Kongreß in Riga 1896, Tafel XIX,
Fig. 8 , und Ausgrabungen auf dem Landgute
Zeemalden durch Karl Boy, Tafel V, Fig. 4).
Weiter links davon, aber bedeutend höher liegend,
also ziemlich flach unter der Erde, ein eiserner
Kelt von 26,5 cm Länge mit schmaler Schneide
und runder Tülle (s. Katalog der Ausstellung
Riga 1896, Tafel XXII, Fig. 1). Knocheuüber-
reste fanden sich hier überhaupt nicht, sondern
54
nur einige Überbleibsel von Kohle und Asche.
(Nach unbestimmten Angaben soll vor Jahren
hier am Abhänge entlang- ein Fahrweg gegangen
sein; vielleicht erklärt dies du ich zufällige frühere
Umgrabungen das Fehlen weiterer Fundgegen-
stände und die jetzige Lage der noch vor-
handenen.) In den übrigen Stichgräben fand
sich wohl hier und da eine geringe Braudschicht
mit einigen kleinen Kohlenteilchen und auch
eiuige Überreste von Scherben , aber keine
Knochenstücke oder sonstigen Gegenstände, in
den dem Abhänge zunächst liegenden Stich-
gräben fand sich überhaupt nichts. (Skizze III.)
Weitere Grabungen wurden zwischen dem Ab-
hange in nächster Nähe der russischen Schützen-
stellungen (s. Skizze III B) und dem Spreng-
terrain vorgenommen; bei weiterem Ausbau
dieser Grabungen kam man aber schon in frühere
Versuchsgräben hinein, so daß die Resultate
unvollständig waren. Verhältnismäßig unberührt
war au dieser Stelle folgende Grabanlawe. Auf
dem Lehm aufliegend fanden sich nebeneinander
liegend zwei gut erhaltene eiserne Lauzenspitzen
von 25 cm Länge (s. Tafel V) mit Holzresten
des Schaftes; rechts von diesen, Teil eines Schädel-
daches, daran anschließend obere Hälfte des
linken Oberarmes, einige Halswirbel, die zwei
ersten Rippen, in Fortsetzung dieser in Richtung
von Osten nach Westen liegenden Teile fanden
sich ein gut erhaltener linker Oberschenkel und
Unterschenkel und einzelne Fußwurzelknochen;
das untere Ende des Schienbeines umfaßte noch
ein eiserner Sporn, Querdurchmesser 7cm (s.
Tafel IV, Fundplatz C 3) sonstige Spuren fehlten.
Es wurden nun einige Versuchsgräben auf
der anderen Seite des Sprengterrains zwischen
diesem und dem Fahrwege angelegt. (Skizze 3C.)
Nach verschiedeneu ergebnislosen Versuchen im
Anschluß an alte Nachgrabungen stieß man auf
eine größere Verwesungsschicht dicht oberhalb des
anstehenden Lehms, welche unregelmäßig in
Höhe und Ausdehnung, anscheinend drei ver-
schiedenen, aber doch direkt ineiuander über-
gehenden Grabanlagen angehörte. Es fand sich
am meisten rechts Grabanlage I.
1. Etwas abseits eine Bronzespirale in eiu-
faeher Windung, 3'2cm Durchmesser, einen
kleinen Knochen enthaltend, der aber sehr rasch
zerfiel. (Kinderarmring ?)
2. Ein mit Eisenrost und Grünspan über-
zogener Gegenstand aus einzelneu kleinsten
Brouzeriugen bestehend (s. Tafel III, Fund-
platz I und Kasten I) die anscheinend aufgereiht
sind (vielleicht auf Draht).
3. Überreste eines eisernen Sporens?
4. Zwei eiserne Sichelmesser, Holzgriff etwas
erhalten.
5. Ein eingedrücktes Schädeldach auf der
Hälfte eines Unterkiefers aufliegend; daran an-
schließend Reste von Halswirbeln, meistens alles
grünlich überzogen, Wirbel und Unterkiefer von
Resten einer Bronzekette bedeckt.
6. Eine eiserne Hacke und darunter
7. ein Scherbenstück ohne Besonderheiten.
Alle Knochen, besonders Schädelbein, waren
sehr weich ; anscheinende Lage der Bestattung
von Nordwest zu Südost.
Links daran anstoßend, vielleicht 40 cm ent-
fernt, Grabanlage II (s. Tafel III, Fundplatz II,
Kasten II) Schädelreste nicht vorhanden , im
übrigen
1. Schlüsselbein, erste Rippe, Reste von
Wirbeln und Unterkiefer.
2. Letzterer mit umschlungener und zusammen-
gebackener Ringkette aus Bronze, aus einzelnen
kleinen Bronzeringehen bestehend.
3. Zwei Fingerringe mit dem Fingerknochen
darin , beide aus Bronze. Der eine von sieben
Spiralen, die einzelne Spirale in der Mitte ver-
tieft, Durchmesser 2 cm; der andere Durchmesser
1 ' j i'iD , aus sechs Windungen bestehend, die
einzelne Windung mit Eiukerbungen.
4. Teile eines Lederbesatzes? V2 cm breit mit
halbkugeligen hohlen Bronzeknöpfchen.
5. Eine größere Anzahl kleinerer Tonperlen
(durchlöchert) und eine Bronze- oder Silberperle.
Zwei Touperleu fanden sich noch an einer feinen
Schnur aufgereiht.
6. Teile einer Ringkette mit röhrenförmigem
Anhängsel, ebenfalls aus kleinsten Brouzespiralen
bestehend.
7. Anhängsel oder Beschlag aus Silberblech
ohne Ösen in der Form einer halben Scheibe,
an den Rändern mit strichförmigen Erhebungen,
desgleichen durch solche in zwei Felder geteilt,
die je einen größeren Augenpunkt zeigen.
Die Ringketten (2. und 6.) sowie die Ton-
perlen und das Silberblech lagen mit den Knochen-
überresten zusammen und gehörten wahrscheinlich
zu einem oder mehreren Schmuckgegenständen;
Gewebereste ließen sich nicht mehr sicher nach-
weisen.
Am meisten links, aber vielleicht etwas weniger
tief uuter der Eidoberfläche lau- Grabstätte III
(s. Tafel III, Fundplatz III und Kasten III),
welche sich hauptsächlich durch eine größere
Partie grober Tonseherben kennzeichnete; letz-
tere schienen zusammen ein größeres Gefäß
oder Platte gebildet zu haben, denn sie lagen
dicht beieinander. Die Scherben bestehen ans
grobkörnigem, erdigem Ton mit einzelnen Quarz-
55
einschlüssen ; die Farbe ist schwärzlich (gebrannt),
grau bis rötlich ; die Innenfläche ist geglättet,
im übrigen sind es sehr roh geformte und ge-
braunte Scherben. Diese lagen etwas höher als
die übrigen Gegenstände, an denen sich vor-
fanden (s. Katalog Riga 1896, Tafel XIII, Fig. 16):
a) Zwei Bronzenadelu. Die erste eine ein-
fache Ringnadel mit Öse und noch darin be-
findlichem kleinen Ring, 12'/2 cm lang, die
zweite eine Kreuznadel mit drei runden, ab-
gesetzten Knöpfen und an Stelle des vierten,
am Schaft eine Öse für Anhängsel; diese Nadel
ist 14 cm lang. Dicht bei diesen Nadeln lag
der Rest einer etwas verschlungenen Kette mit
einer ziemlich 5 cm langen Ringspirale.
b) Ein Anhängsel, aus einem halbmond-
förmigen Kettenträger bestehend, der selbst
wieder an drei Ösen von drei kleinen Bronze-
ketten gehalten wurde, diese drei Ketten laufen
ebenfalls in einer Öse zusammen.
c) Ein Sichelmesser mit daneben liegender
Pfeilspitze.
d) Eine Hacke aus Eisen.
Auch diese zwei Grabanlagen hatten die
Richtung Nordwest zu Südost. Im Verlaufe
der weiteren Grabungen kam man wieder in
schon durchgewühltes Geläude. Das gleiche war
der Fall bei eiuer Bestattuugsanlage, welche 3 m
nordwestlich zu den drei oben beschriebenen,
also nach dem Wege zu, der den Acker von
dem Sandterrain trennt, lag. Im weiteren Ver-
folg einer alten Nachgrabung fand sich dicht
beieinander auf dem anstehenden Lehm auf-
liegend:
1. Ein massiver Armring, welcher die von
ihm umschlossenen Teile der Unterarmknochen
vor Verwesung geschützt hatte; es handelt sich
hierbei um die oberen Enden der rechten Unter-
armknochen, welche mit Erde und Sand um-
geben, fest in dem Armringe steckten. Da die
Öffnung des Armringes selbst aber für einen
Oberarm zu eng ist, so muß man wohl an-
nehmen, daß der Ring nach der Bestattung vom
Handgelenk nach oben, dem Ellenbogengelenk
zu, verrutscht ist und so die oberen Teile später
umschloß und schützte; eigenartigerweise fand
sich aber in der vom Armring umschlossenen
Sanderde noch das knöcherne Endglied des
kleinen Fingers. Der Armring selbst zeigte
einen Durchmesser von 9 cm, eiue Höhe von
5l/2cm; die Weite der Öffnung beträgt eben-
falls 5y2cm; die Hauptmasse des Ringes bildet
ein D'jCin hoher hohler Grat. Dieser zeigt die
einzigen Verzierungen, nämlich auf seinen beiden
Flächen strichförmige Reihen von vier Augen-
punkten, welche seukrecht zur Höhe des Grates
verlaufen und 2y2cm voneinander entfernt sind,
so daß auf jeder Seite anscheinend acht dieser
Verzierungen vorhanden waren. Die beiden
Händer des Armringes sind scharf und etwas
unregelmäßig ausgebrochen ; der Armring ist
nicht ganz geschlossen, sondern zeigt einen sehr
schmalen Spalt, so daß sich die Enden berühren,
wahrscheinlich zum besseren Überstreifen des
Ringes (s. Tafel III, Fundplatz IV, und Katalog
der "Ausstellung Riga 1896, Tafel XX, Fig. 1).
Dicht bei diesem Armringe lagen zwei große
Kreuznadeln, die eine 16, die andere 17 cm lang
mit Kreisornamenteu auf jedem Blatt und in
der Mitte, ein silberner Beschlag fehlt (s. Katalog
Riga 1896, Tafel XIII, Fig. 19). Die eiue Nadel
trug an einer Öse einen halbmondförmigen Ketten-
träger (s. Katalog Riga 1896, Tafel XIV, Fig. 1).
Im übrigen fanden sich in einer leichten Ver-
wesungsschicht nur Überreste von vermorschten
Knochen.
Verhältnismäßig unberührt durch Grabungen
war das südlich hiervon etwa 4 m entfernt
liegende Gelände (s. Skizze HIE). Es fanden
sich hier nebeneinander verschiedene Bestattungs-
anlagen, welche meist aber nur eine Verwesungs-
schicht mit wenigen Knochen, aber ohne Bei-
gaben, aufwiesen ; die Knochen, Teile des Schädels,
Wirbel und Extremitäten, waren fast alle sehr
morsch und zerfielen sofort. Bemerkenswert
56
sind drei Bestattungen, von denen zwei hinter-
einander, die dritte neben der größeren lag.
Bestattung I (s. Tafel I, Fundplatz A).
Koj>f nach Süden, Schädel zusammengedrückt,
am Kopf einzelne Halswirbel, neben diesen je
eine Bronzenadel mit einzelnen Überresten von
Ketten und Spiralen, an der linken Schulter
ein Sichelmesser und eine Pfeilspitze. Die Nadeln
sind Dreiecknadeln von 11cm Länge; die beiden
Knöpfe sind gut abgesetzt. Die Nadeln waren
wohl früher durch Kettengehänge miteinander
verbunden. Die noch vorhandenen Bronze-
spiralen enthalten Stoffreste.
I -,._,. liU-
- - r-r
In Verlängerung dieser Leiche nach Süd-
osten zu, aber mit dem Schädel nach Südwesten
zu liegend, faud sich die reichhaltigste Bestattung
(s. photographische Aufnahme).
Bestattung II (s. Tafel I und II, Fund-
platz B). Auf dem anstehenden Lehm , der
etwas unregelmäßige Oberfläche zeigte, lag eine
graubraune Verwesungsschicht von 2 bis 5 cm
Höhe, in welcher die Funde eingebettet waren.
1. Am meisten nach Süden zu lagen zwei
große Armspiralen aus Bronze; zwischen ihnen
2. zwei Bronzenadeln mit dreifachem, langem
Kettenurehänwe. Mit diesen zusammen eine An-
zahl kleiner Ketten und Spiralen. Darüber nach
dem Schädel zu
3. ein Bronze-Hohlring mit haftenden Gewebe-
resten, neben diesen
4. eine Perle von Bernstein, Durchmesser
ziemlich 1 cm durchlöchert. Mit dieser zusammen
lagen Überreste oberer Rippen und nördlich
hiervon fand sich der Teil eines Schädeldaches,
ziemlich morsch. Seitlich lagen
6. und 7. rechts eine Eisenhacke und ein
Sichelmesser aus Eisen, dicht beieinander;
8. links in Verlängerung des Ilohlringes
nach unten eine Pfeilspitze (oder Pfriem).
Die beiden Bronze - Armspiralen sind von
gleicher Größe und Ausführung; beide enthielten
noch die oberen Zweidrittel der dazugehörigen
LTnterarmknochen. Die Armringe selbst bestehen
aus neun Windungen, von denen die beiden
ersten Spiralen, und zwar beider Enden, strich-
förniige Verzierungen zeigen; sie gehen nach
1 ' 2 Windungen mit einem gewissen Absatz
in die etwas breiteren, mittleren Spiralen
über; diese sind glatt (s. Katalog Riga 1896,
Tafel XVI, Fig. 6). An einzelnen Spiralen
kleben noch äußerlich Stoffreste. Die beiden
Brouzenadeln sind Kreuznadeln mit sjut ab-
gesetzten Knöpfen, Länge 15 bis 16cm. Der
rautenförmige Mittelbezirk des Nadelkopfes war
mit einem Silberblech belegt; das erhaltene
Sillierblech weist in der Mitte einen Augen-
punkt und am Rande strichförmige Erhebungen
auf. An Stelle des unteren Knopfes befindet
sich am Schaft eine ziemlich starke Öse; von
dieser geht eine aus sechs Doppelriugen be-
stehende Kette aus, in deren letztem Ringe sich
die Enden der drei langen Ketten des Gehänges
vereinigen. Die oberste Kette ist etwa 40 cm
lang, hat etwas stärkere Ringe als die beiden
unteren, welche 50 bzw. 60 cm lang sind.
Mit diesem Schmuckgehänge lag noch eine
Reihe von kleineren Ketten und Anhängern, teils
aus Kettchen, teils aus röhrenförmigen Bronze-
spiralen bestehend, zusammen; die röhrenförmigen
Bronzespiralen enthielten teilweise noch schnur-
artige Gewebereste. Wahrscheinlich handelt es
sich bei ihnen auch um Schmuckgegenstände,
Besatz von Geweben oder dergleichen.
Der Bronze-Hohlring ähnelt in auffallender
Weise dem im Katalog der Ausstellung zum
X. archäologischen Kongreß in Riga 1896 auf
Tafel XIV, Fig. 13 wiedergegebenen ringför-
migen Trinkhornbeschlag aus Bronze. Er be-
steht aus Bronzeblech , das an der Oberfläche
glatt und abgerundet, innen rinnenförmig, Reste
von Leder oder irgend einer anderen festeren
Substanz enthält. Nach meiner Ansicht dürfte
57
es sich vielleicht um den oberen Teil eines
Pfeilköchers handeln, obwohl die in seiner Ver-
längerung liegende Pfeilspitze nicht als Beweis
angeführt werden soll. Der Durchmesser der
Öffnung des Hohlringes beträgt 6 cm. Die er-
wähnte Pfeilspitze ist 10 cm lang und am uuteren
Teile noch mit Holzresten bekleidet. Die vor-
gefundene Eisenhacke ist verhältnismäßig kurz,
13 cm laug, ohne Besonderheiten. Das bei ihr
liegende Sichelmesser ist auch ein kleineres
Exemplar, 17 cm laug; der in den Holzgriff ein-
gelassen gewesene Eisenschaft war noch von
Holzresten umgeben.
Weitere Beigabeu, Knochenreste oder son-
stiger Anhalt fanden sich nicht bei dieser reichen
Bestattung. Rechts von ihr und ziemlich parallel,
nur etwa 1/a m entfernt, fanden sich aber noch
einige Gegenstände, die aber wohl einer be-
sonderen Grabanlage zuzuteilen sind (s. Tafel II,
Fundplatz C).
1. Ein kleiner Bronze-Spiralring, aus 41 2 Win-
dungen bestehend, Durchmesser der Öffnung
4cm. Die erste Spirale zeigt parallele Striche-
Inner. Der Armring umfaßte zwei sehr morsche
und schmale Röhrenknochen (Teile), von denen
der eine nicht zu erhalten war.
2. Eine 10 cm lange Ringnadel aus Bronze
mit Öse und Resten einer kleinen Bronzekette.
3. Teil eines anscheinend geraden Messers.
4. Ein kleines Scherbenstück aus rotem Ton.
Knochenreste waren nicht mehr festzustellen,
dagegen fanden sich etwa 3/* m davon ver-
morschte Teile eines Schädels. Überhaupt fanden
sich verhältnismäßig oft Überreste von Schädeln,
manchmal von verschiedenen Individuen nahe
zusammenliegend, ohne Beigaben, s. o.
Etwas Interesse bietet noch eine Bestattung,
welche in diesem Gelände angeschnitten wurde,
aber auch kein vollständiges Bild ergibt, da
Skeletteile sich nur sehr spärlich vorfanden. Im
Verlaufe einer Verwesnngsschicht fand sich:
1. Ein Spiral- Armring aus Bronze, welcher
in Erde umschlossen noch Teile der Unlerarni-
knochen, sowie drei Handwurzelknoehen (große
und kleine Vielecksbeine) euthielt; an einzelnen
Windungen hafteten noch Gewebereste fest.
Der Riner umfaßt 11 Windungen, von denen an
jedem Ende die beiden ersten ziemlich schmal
sind, flache Einkerbungen zeigen und mit einem
Absatz in die viel breiteren Mittelwindungen
übergehen; diese zeigen ein rautenförmiges Muster
(Stricheluug).
2. (S. Tafel IV, Fundplatz 9.) Eine Ring-
nadel aus Bronze von 13 cm Länge mit Öse und
kleinem Kettchen.
3. (Dazu Kästcheu mit den Resten gezeichnet
Fundplatz D und Überreste eines Schädeldaches.)
Reste vou Gewebestoff (scheinbar mit Haaren
oder Fellresteu zusammengebacken) mit bron-
zenen Spiralen oder Ketten durchsetzt. Das
Ganze lag einer morschen Schädeldecke auf.
Vielleicht handelt es sich um eine Kappe aus
Spiralen, wie sie im Katalog der Ausstellung
Riga 1S96, Tafel XI, gezeichnet ist.
4. (S. Tafel V.) Zwei Lanzenspitzen, dicht
beieinander liegend, beide noch mit Holzresten
des Lanzenschaftes. Die eine Lanzenspitze ist
32 cm lang, das Blatt selbst 17 cm hing und
außerordentlich breit, 5cm breit; die andere
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Lanzenspitze ist 26 cm lang und hat ein Blatt
von 15 cm Länge und 31 2cm Breite.
Im Anschluß hieran können die eisernen
Gegenstände, besonders Waffen, Erwähnung
finden, welche sich fast bei jeder Bestattung
fanden und zwar in reichlicher Anzahl.
Zu einer vollständigen Bestattung schienen
zu gehören :
2 Lanzenspitzen, dicht beieinander gelegt,
1 Pfeilspitze,
1 oder mehrere Hacken und
1 oder 2 Sichelmesser.
8
58
Nur einmal fand sieb ein Ilohlkelt, der oben
beschrieben ist.
Die Lanzenspitzen zeigen fast alle eine eiserne
Tülle, in welcher der Holzschaft steckte; nur
einmal bei der breiten und besonders laugen
Lauzenspitze umgab der Holzschaft den Dorn
der Lanze.
Die Pfeilspitzeu waren ebenfalls mit dem
Dorn im Schaft befestigt. Die eigentliche Spitze
scheint eine Länge von 5 bis 9 cm gehabt zu
haben.
Drei Beile zeigen den Typus des Sehmal-
beiles, zwei sind groß und kräftig (18 und 16 cm
lang), die Schneide 6 bzw. 4V2cm breit, bei
ihnen ist der Stiel in einem großen Schaftloch
befestigt gewesen. Das dritte ist klein (Miuiatur-
Schmalbeil), 12 cm lang, Sehneide 3 cm und muß
eine andere Befestigung des Stieles gehabt
haben.
Die Beilhacken sind von verschiedener Größe
(12 bis 20cm lang, Schneide meist abgerundet
und 5 bis 7 cm breit), sie haben fast alle ein
großes Schaftloch , in welchem der Stiel be-
festigt war, nur eine Hacke hat mit dem spitzen
Ende in dem Schaftloch des hölzernen Stieles
gesteckt.
Die Messer zeigten fast sämtlich (auch die
vorgefundenen Reste) den Typus des Sichel-
messers, nur eins weist die gerade Form mit
11 cm langer Schneide auf.
Sonstige Gegenstände aus Eisen waren nicht
festzustellen.
Zu erwähnen wären nun noch die bei der
ersten Besichtigung auf dem Gelände gefundenen,
frei umherliegenden Gegenstände, sowie die
Funde, welche durch Angehörige der Formation
gemacht wurden, wie sie inden photographischen
Aufnahmen noch vorliegen. Es sind vorhanden
(s. Tafel IV, Einzelfunde):
1. Kinder-Armring aus Bronze, unvollständig,
noch vier Windungen vorhanden, Durchmesser
3,2 cm.
2. Fingerring aus Bronzespiralen, Weite 2,5 cm,
4 Windungen.
3. Fingerring, massiv, offen, Breite 1 cm.
4. Rest eines Halsringes aus Bronze, dieser
Teil anscheinend mit Haken (s. Katalog der
Ausstellung Riga 1896, Tafel XV, Fig. 6).
5. Eine 15 cm lange Ringnadel mit Kettchen.
Von den Funden der photographischen Auf-
nahmen interessieren vielleicht besonders:
1. Eine Kreuznadel ans vier Blättern, durch
eine Kette mit einer Ringnadel verbunden; an
der Kreuznadel noch ein Kettengehänge (siehe
Katalog der Ausstellung Riga 1896, Tafel XIII,
Fig. 14).
2. Eine Kreuznadel wie 1. mit Kettenträger
und lauger, daran hängender Kette.
3. Wahrscheinlich Teil einer Armbrust Fibula,
anscheinend der Bügel (s. Bericht über Aus-
grabungen auf dem Kronsgute Zeemalden von
Karl Boy, Grab 11, Nr. 1, und Katalog der
Ausstellung Riga 1896, Tafel VI, Fig. 3)?
Nachzutragen sind noch zwei Fundstelleu,
welche durch große Brandschiehten auffielen.
Die eine befand sich dicht bei den russischen
Schützenstellungen, etwa D/a™ parallel zu ihnen.
Sie begann dicht unter der Humuserde und
ging in die Sandschicht über; neben reichlichen
Kohleteilchen und Ascheresten fanden sich viel-
fach Tonscherben aus grobkörnigem, mit Quarz-
teilchen vermischtem Lehm. Besonders mächtig
war die zweite Brandschicht direkt am Abhang
selbst (also unter den russischen Schützen-
stellungen). Hier war die Brandschicht weit
ausgedehnt, umfaßte viel Holzkohle und große
Stücke gebrannten Holzes neben vielfachen Ton-
scherben ; es fanden sich auch Überreste mensch-
licher Knochen, darunter auch ein gut erhaltener
Unterkiefer, der aber oberflächlich in der aus
der Schützenstellung herausgeworfenen Saud-
aufhäufung lag, wie auch Überreste von Schädel-
decken usw. Nach Aussagen von Angehörigen
der Formation sollen auch hier sich einzelne
Bronzegegenstände vorgefunden haben. Nähere
Nachgrabungen waren erfolglos, wie auch weiter-
59
hin auf dem anschließenden nach Westen zu
sich erstreckenden Brachfelde durch Stichgräben
nichts mehr festgestellt werden konnte. Die
Sandschicht war hier meist sehr flach, man stieß
unter der Humusschicht fast stets gleich auf
den hoch anstehenden Lehm.
Zusammenfassung.
Überblickt man die durch die Ausgrabungen
gehobenen Funde und die Art der festgestellten
Beisetzung, so kommt man zu dem Schluß, daß
sich der Begräbnisplatz bei dem Gute Gr.-Platon
als ein Skelettgräberfeld der sogenannten zweiten
baltischen Eisenzeit und zwar wahrscheinlich des
X. Jahrhunderts erweist. Hierfür spricht nicht
allein die für diese Zeit besonders charak-
teristische Hufeisentibel, sondern auch alle
übrigen gefundenen Gegenstände, besonders die
aus Bronze (Kreuznadel, Ringnadel, Armband-
spiralen), sie alle weisen in die jüngere Periode
der Eisenzeit. In seinen Formen und Funden
reiht sich das Skelettgräberfeld von Gr.-Platon
den schon aufgedeckten Gräberfeldern von Meso-
then, Zeemalden, Alt-Rhaden an, und da diese
Fundstätten des Kreises Baaske in nächster Nähe
von Gr.-Platon liegen, so ist auch anzunehmen, daß
das VoJ-k , welches hier seine Toten beisetzte,
desselben Stammes war, mit Wahrscheinlichkeit
lettischen Stammes. Das Gräberfeld von Gr.-
Platon stellt einen verhältnismäßig reichhaltigen
Fuudplatz dar; wäre nicht durch die vielfachen
Sprengungen und die ohne jede Sachkenntnis
wahllos nur zur Gewinnung von Erinnerungs-
gegenständen vorgenommenen Nachgrabungen
das einheitliche Bild der Anlage so stark be-
einträchtigt, so konnte Gr. Piaton mit au erster
Stelle unter den Fundorten dieser Zeit stehen.
Aber auch so haben sich die fünftägigen Nach-
grabungen als erfolgreich erwiesen; neben der
eigentlichen Feststellung der Gräberanlage selbst
brachten sie einzelne Funde, welche in ihrer
Art (Armbandspiralen, massiver Armring, Bronze-
nadelu, Schmalbeile) bisher nicht allzuhäufig in
gleichen Grabanlagen gefunden wurden.
Weitere Nachgrabungen an Ort und Stelle
mögen wohl noch zur Hebung von Gelegenheits-
funden führen, ein größeres Ergebnis ist jedoch
wohl kaum zu erwarten.
Sämtliche Fandstücke sind dem Museum in
Mitau überwiesen.
Literaturbesprechungen.
Ed. Hahn: Von der Hacke zum Pflug. [Wissen-
schaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus
allen Gebieten des Wissens. Bd. 127.] Leipzig,
Quelle & Meyer, 1M14.
Das Büchlein erschien wenige Wochen vor Aus-
bruch des Krieges; so ist es wie vieles andere zunächst
liegen geblieben, um hoffentlich nach dem Kriege
um so eifriger gelesen zu werden. Die Anschauungen
des Verfassers, die er in dem Buche niedergelegt —
man achte auf den Abschnitt „Ausblick" — , verdienen
es, von den weitesten Kreisen, für die es bestimmt ist,
durchdacht und angenommen zu werden. Die National-
ökonomen haben sie längst ihren Vorlesungen und
Ausführungen zugrunde gelegt; die Geographen und
einige Ethnologen wollen sie noch nicht anerkennen;
einigen sind die Ha huschen Theorien und Hypothesen
vom Wagen, Hacke, PHug, Rind, Milch, Eriiudung der
Arbeit usw. zu „geistreich", um wahr zu sein. Sie
fußen, wie z.B. der Aufsatz von John Loewenthal
(Zeitschr. f. Ethn. 1916, I, S 11) zeigt, auf anderen
Lehren oder glauben, welche an ihre Stelle setzen zu
können, die „psychologisch einfacher und ethnologisch
weniger beanstandbar" sind. Mit sehr zweifelhaftem
Erfolg; denn die skizzenhaften, mit vielen Literatur-
zitaten dort vorgetragenen Ausführungen , die den
Hahnscheu Anschauungen widersprechen sollen, darf
60
man ruhig beiseite legen. Darin scheint mir, „sind
in Sachen des Boden- und Ackerbaues nunmehr alle
Hauptfragen" [S. 11 — 17, auf 6 Seiten!] doch nicht
geklärt. Solange Loewenthal sich seine eingehendere
Behandlung vorbehält, wollen wir Kthnologen froh
sein, daß wir Hahn und seine Bücher haben.
Allgemein verständlich, flott und nicht so ver-
zwickt wie seine Hauptwerke gesehrieben sind, gibt
Hahn in seinem neuesten Büchlein einen leicht ein-
gehenden Abriß der Wirtschaftsgeschichte desMenschen,
ihrer wirtschaftlichen Anfänge, der Anlange des Land-
baues, der Entstellung des Pflugbaues, der Viehzucht usw.,
und hämmert so denen — sonderbarerweise gibt es
noch solche — , welche die Listsche Dreistuf eutheorie
noch immer als die wichtige anerkennen, wonach der
Mensch erst Jäger, dann Hirt, dann Ackerbauer ge-
wor den ist, die Haltlosigkeit dieser Ansichten ein.
Die Ergebnisse seiner langjährigen, tiefgründigen
Forschungen auf dem Gebiete der geschichtlichen und
geographischen Wirtschaftskunde werden hier in an-
genehmer Kürze zusammengefaßt, so daß jeder sich
leicht mit den Theorien des Verfassers bekannt machen
und befreunden kann, die ein wichtiges Gebiet in der
Ethnologie so umgestalteten, daß man von einer Neu-
gründung sprechen darf. Das Büchlein ist Wilhelm
Wundt gewidmet, der in seinen völkerpsychologischen
Werken die Hahnschen Anschauungen als gefesteten
wissenschaftlichen Besitz aufgenommen hat.
P. Hambruch- Hamburg.
Die Märchen der Weltliteratur. Herausgegeben
von Friedrich von der Leyen und Paul
Zaunert. Jena, Eugen Diederichs Verlag.
Im Vorwort zu seinem Büchlein „Das Märchen.
Ein Versuch" (Leipzig, Quelle & Meyer, 1911) schreibt
von der Leyen: „Das Märchen ist ein unentbehr-
licher Helfer, der tief in die Dichtung und in das
geistige, religiöse und sittliche Werden der Mensch-
heit hineinleuchtet." Diese Bedeutung des Märchens
ist in den letzten 15 Jahren immer mehr von den be-
ruf enen Forschern in der Kulturgeschichte des Mensehen
erkannt worden. War die Märchenforschung bis dahin
mehr oder minder ein Sonderarbeitsgebiet der Philo-
logen und der Historiker, so beteiligte sich seitdem J
auch der Ethnologe eifrig daran, einmal neue Märchen- ■
Stoffe herbeizubringen, dann, um ihnen die ethnischen, j
volkskundlichen Grundlagen zu verschaffen, ohne die i
die Mäichenforschung in der Luft hängen bleibt. Es
braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden,
welche Verdienste sich um diese „Grundlagen" — von
den vielen seien nur wenige genannt — z.B. Andrew
Lang, Frazer, Andree, Ehrenreich u. a., er- |
warben. Sie begründeten die anthropologisch-ethnische '
Erklärungsweise der Märchen und taten dar, daß
Märchen und Sagen überall einheimische Niederschläge
ältester Kulturreste sind. Ihre Anschauungen sind
willig und völlig von den Ethnologen aufgenommen,
denen gerade die vergleichende Märchenforschung zu
einem hauptsächlichen Werkzeug wird , um bei der
Würdigung des Entstehens, Werdens und Vergehens
der verschiedenen Kulturen auf der Erde und bei den
einzelnen Völkern, diesen ihre Stellung in der Menschen-
familie anzuweisen. — Die Märchenliteratur ist in den
letzten 40 Jahren unheimlich angewachsen; ein Ein-
zelner wird sie knapp übersehen, noch weniger be-
herrschen können, so daß nur ein sich Beschränkungen
auflegendes Studium ihrer Sonderfragen, sie fördern
kann. Die Literatur gibt darüber hinreichende Aus-
weise. Doch wird man sich freuen, hin und wieder,
Einzel- und Sammelwerken zu begegnen, welche die
vielen Sonderfragen zusammenfassen und ihre Ergeb-
nisse vor allem durch unbeeinflußte, nicht bearbeitete
Belege und Beweisstücke aus dem Märchenschatz der
Völker festigen. Dahin gehört auch die Jenaer Samm-
lung, in der bisher folgende Bändchen zu einem
billigen Preise (3 ,/fe) veröffentlicht wurden: Zaunert:
Musäus, Volksmärchen der Deutschen, 2 Bde.; von
der Leyen: Kinder- und Hausmärchen von Grimm,
2 Bde.; Zaunert: Deutsche Märchen seit Grimm;
Wisser: Plattdeutsche Volksmärchen; Löwis of
Menar: Russische Volksmärchen; Wilhelm: Chine-
sische Volksmärchen; Ströbe: Nordische Märchen.
1. Dänemark, Schweden. 2. Norwegen, 2 Bde.; Les-
kien: Balkan-Märchen. — Die Sammlung ist auf
ungefähr 25 Bände berechnet.
In erster Linie wendet sich die Sammlung an die
große deutsche Lesewelt, aber auch der Ethnologe
wird sie mit großer Freude in die Hand nehmen,
spiegeln doch diese Märchen in schönster Weise den
Kulturzustand, ihr Auf und Ab, der Völker wieder,
die sie erzählen. Jeder Band bildet ein abgeschlossenes
Ganzes; eine Einleitung geht den eigentlichen Märchen
vorauf; darin werden die besonderen, namentlich volks-
kundlichen Eigentümlichkeiten der Märchenarten des
betreffenden Volksstammes geschildert, während im
Anhang- Quellennachweise und Anmerkungen für jedes
einzelne Märchen literarisch, kritisch und erklärend
wertvolle Zusätze enthalten. Ethnologisch besonders
wertvoll sind die Chinesischen Volksmärchen, die nicht
nach gedruckten Quellen, sondern nach mündlicher
Überlieferung veröffentlicht werden. Auch die anderen
Bände enthalten viel neues bisher noch nicht ge-
drucktes Material, das dem Märchenforscher und
Volkskundler recht zu statten kommt. Die Ausstat-
tung ist vortrefflich; jeder Märchenband hat einen
besonderen Buchschmuck erhalten, dessen Motive der
Volkskunst des jeweiligen Landes entlehnt sind.
P. Hambruch-Hamburg.
Reklamationen and sonstige Mitteilungen
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. E. Hagen, Hamburg 13, Binderstraße 14, zu senden.
Ausgegeben am i~<. November 1916.
Sammlung Vieweo
Tooeslraoen aus den Geliieien der
NaturwissenschaSten u. der Technik
Die „Sammlung Vieweg"
hat sich die Aufgabe gestellt, Wissens- und Forschungsgebiete, Theorien, chemisch-
technische Verfahren usw.. die im Stadium der Entwicklung stehen, durch zusammen-
fassende Behandlung unter Beifügung der wichtigsten Literaturangaben weiteren Kreisen
bekanntzumachen und ihren augenblicklichen Entwicklungsstand zu beleuchten. Sie
will dadurch die Orientierung erleichtern und die Richtung zu zeigen suchen, welche
die weitere Forschung einzuschlagen hat.
Als Herausgeber der einzelnen Gebiete, auf welche sich die Sammlung Vieweg
zunächst erstreckt, sind tätig und zwar für:
Physik (theoretische und praktische, und mathematische Probleme): Herr Professor Dr. Karl Scheel,
Kosmische Physik (Astrophysik, Meteorologie und wissenschaftliche Luftfahrt — Aerologie — Geo-
physik): Herr Geh. Ober-Reg.-Rat Professor Dr. med. et phil. R. Assmann,
Chemie (Allgemeine, Organische und Anorganische Chemie, Physikalische Chemie, Elektrochemie,
Techn. Chemie, Chemie in ihrer Anwendung auf Künste und Gewerbe, Photochemie, Metallurgie,
Bergbau): Herr Professor Dr. B. Neumann,
Technik (Elektro-, Maschinen-, Schiffbautechnik, Flugtechnik, Motoren, Brückenbau): Herr Professor
Dr.-Ing. h. c. Fritz Emde.
Biologie (Allgemeine Biologie der Tiere und Pflanzen, Biophysik, Biochemie, Immuuitätsforschung,
Pharmakodynamik, Chemotherapie): Herr Professor Dr. phil. et med. Carl Oppenheimer.
Erschienen sind:
Heft 1. Dr. Robert Pohl und Dr. P. Pringsheim-Berliu: Die lichtelektrischen Erscheinungen. Mit
36 Abbildungen. Jt 3, — .
Heft 2. Dr. C. Freiherr von Girsewald-Berlin-Haleusee: Peroxyde und Persalze. M 2,40.
Heft 3. Diplomingenieur Paul Bejeuhr- Charlottenburg: Der B 1 e r i o t - Flugapparat und seine Be-
nutzung durch Pegoud vom Standpunkte des Ingenieurs. Mit 26 Abbildungen. M, 2, — .
Heft 4. Dr. Stanislaw Loria-Krakau: Die Lichtbrechung in (. äsen als physikalisches und chemisches
Problem. Mit 3 Abbildungen und 1 Tafel. J, 3,—.
Heft 5. Professor Dr. A. Gockel -Freiburg in der Schweiz: Die Radioaktivität von Boden und
Quellen. Mit 10 Abbildungen. „H, 3,—.
Heft 6. Ingenieur D. Sidersky-Paris: Brennereifragen: Kontinuierliche Gärung der Rübensäfte. —
Kontinuierliche Destillation und Rektifikation. Mit 24 Abbildungen. Jk 1,60.
Heft 7. Hofrat Professor Dr. Ed. Donath und Dr. A. Gröger-Brünn: Die flüssigen Brennstoffe, ihre
Bedeutung und Beschaffung. Mit einer Abbildung. Jt, 2, — .
Heft 8. Geh. Reg.-Rat, Professor Dr. Max B. Weinstein-Berlin: Kräfte und Spannungen.
Gravitation»- und Strahlenfeld. ,tO 2, — .
H. 9/10. Geh. Reg.-Rat, Professor Dr. 0. Lummer-Breslau: Verflüssigung der Kohle und Hersti
der Sonnentemperatur. Mit 50 Abbildungen. Jk 5,—.
Fortsetzung siehe auf der 4. Seite des Umschlages.
Sammlung Vieweg
:•>
Tagesfraoen ans den Gebieten der
Naturwissenschaften u. der Technik
Heft 11. IH\ K. l'i .vbyllok- Berlin: Polhöhen-Sohwankungen. Mit 8 Abbildungen. .fc 1,60.
Heft 12. Professor Dr. Albert Oppel-IIalle a. S.: Gewebekulturen. Mit 32 Abbildungen. Jt 3,— .
Heft 13. Dr. Wilhelm Foerster-Berlin: Kalenderwesen und Kalenderreform. Jt 1,60.
Holt 14. Dr. 0. Zoth-Graz: Über die Natur der Mischfarben auf Grund der Undulationshypothese.
Mit 3 Textfiguren und 10 Kurventafeln. Jt
Heft 15. Dr. Siegfried Valentiner-Clausthal: Die Grundlagen der Quantentheorie in elementarer
tellung. Mit 8 Abbildungen. Jt 2,60.
Heft 16. Dr, Siegfried Valentiner-Clausthal: Anwendung der Quautenhypothese in der kinetischen
Theorie der festen Körper und der Gase. In elementarer Darstellung. Mit 4 Abbild. .& 2,60.
Heft 17. Dr. Hans Witte-Wolffe'nb'üttel: Raum und Zeit im Lichte der neueren Physik. Mit 17 Ab-
bildungen. Jt 2,80.
Ileitis. Dr. Erich Hupka-Tsingtau: Die Interferenz der Röntgenstrahlen. Mit 33 Abbildungen
und einer Doppeltafel in Lichtdruck. Jt 2,60.
Heft 19. Prof. Dr. Robert Kremann-Graz: Die elektrolytische Darstellung von Legierungen aus
wässerigen Lösungen. Mit 20 Abbildungen. Jt 2,40.
Heft20. Dr. Erik Liebreich-Berlin: Rost und Rostschutz. Mit 22 Abbildungen. Jt 3,20.
Heft 21. Prof. Dr. Bruno Glatzel-Berlin: Elektrische Methoden der Momentphotographie. Mit dem
Bild des Verfassers und 51 Abbildungen. .IL, 3,60.
Heft 22. Prof. Dr. med., et phil. Carl Oppeuheimer-Berlin: Stoffwechselfermente. Jt 2,80.
Heft23. Dr. A. Wegener-Marburg: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Mit 20 Abb. ^23,20.
Heft 24. Dr. W. Fahr ion- Feuerbach-Stuttgart : Die Härtung der Fette. Mit 4 Abbildungen. Jt 3,—.
Heft 25. Prof. Dr. A. Wassmuth-Graz: Grundlagen und Anwendungen der statistischen Mechanik.
Mit 4 Abbildungen. Jt 2,80.
Heft 26. Dr. A. Lipsehütz-Bern: Zur allgemeinen Physiologie des Hungers. Mit 39 Abbildungen.
Jt 3, — .
Heft27. Prof. Dr. C. Doelter-Wien: Die Farben der Mineralien, insbesondere der Edelsteine. Mit
2 Abbildungen. Jt 3, — .
Heft28. Dr. W. Fahrion -Feuerbach-Stuttgart: Neuere Gerbemethoden und Gerbetheorieu. Jt 4, — .
Heft 29. Dr. Erik Hägglund-Bergvik (Schweden): Die Sulfitablauge und ihre Verarbeitung auf
Alkohol. Mit 6 Abbildungen. Jt 2,—.
Heft 30. Dr. techn. M. Vi dmar- Laibach: Moderne Transformatoreufragen. Mit 10 Abbildungen.
Jt 2,80.
Heft 31. Dr. Heinrich Faßbender-Berlin: Die technischen Grundlagen der Elektromedizin. Mit
77 Abbildungen und einer Kurve. Jt 3,20.
Heft 32/33. Prof. Rudolf Richter-Karlsruhe: Elektrische Maschinen mit Wicklungen aus Aluminium,
Zink und Eisen. Mit 51 Abbildungen. Jt. 6, — .
Heft34. Obering. Carl Beckmann-Berlin- Lankwitz: Haus- und Geschäfts -Telephonanlagen. Mit
78 Abbildungen. Jt 3,—.
Heft :;ö. Dr. Aloys Müller-Bonn: Theorie der Gezeitenkräfte. Mit 17 Abbildungen. Jt 2,80.
ii. fr..). Dr. W. Kummer-Zürich: Die Wahl der Stromart für größere elektrische Bahnen.
, Abbildungen. Jt 2,80.
Zahlreiche weitere tiefte in Vorbereitung.
Korrespondenz- Blatt
der
Deutschen Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Herausgegeben von
Professor Dr. Georg Thilenius
Generalsekretär der Gesellschaft
Hamburg.
Druck und Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunachweig.
XLVIL Jahrg. Nl'. 10/12. Jährlich 12 Nummern.
Okt./Dez. 1916.
Für alle Artikel, Berichte, Rezensionen usw. tragen die wissenachaftl. Verantwortung lediglich die Herren Autoren; a. S. 16 des Jahrg. 1894.
Inhalt: Archäologie nnd Iudogermanenproblem. Von Sigmund Feist. — Zur Frage der willkürlichen
Beeinflussung der kindlichen Schädelform. Von Prof. A. J. P. v. d. Broek. — Neue Paläolithfunde
in Norddeutschland. Von E. Werth. — Hausers Micoquien. Von E. Werth. — Der Urtypus der
Schmalhacke. Von Dr. C. Mehlis. — Von den Steingeräten der Völkerschaften in Sachsen-Thüringen.
Von Bärthold.
Archäologie und Indogermanenproblem.
Von Si um und Feist.
Seit einigen Jahren kann man kaum eine
Schrift prähistorischen Inhalts lesen, ohne als-
bald auf Stellen zu stoßen, in denen Namen
wie Indogermanen, Nordindogermanen, Siidindo-
germanen, Arier, Illyrier, Germanen, Kelten, ja
selbst solche von Teilstämmen, wie Semnonen,
Veneter, Helvetiur, mit archäologischen Funden
und Aufstellungen in Zusammenhang gebracht
werden. Man braucht gar nicht einmal Arbeiten
von Kossinna, Wilke und anderen Anhängern
dieser Schule in die Hand zu nehmen, die mit
den genanuten sprachlichen und geschichtlichen
Begriffen geradezu Mißbrauch treiben, um sich
an einer unzulässigen Verquickung archäolo-
gischer und sprachlicher Tatsachen zu stoßen.
Selbst ein so durchaus wissenschaftliches Werk
wie das Reallexikon der germanischen Altertums-
kunde, dessen dritter Band soeben fertig ge-
worden ist, hält sich nicht frei von diesen Ver-
stößen. So findet sich in dem von dem jüngst
verstorbenen A. Schliz behandelten Artikel:
„Ilassefragen" zunächst die ganz zutreffende
Ansicht ausgesprochen, daß der Begriff „Staat-
sich auf die politische, der des „Volkes" auf
die Sitten und Sprachwissenschaft, der der
„Rasse" auf bestimmte körperliche und geistige
Eigenschaften bezieht, welche ihre Träger von
der übrigen Menschheit unterscheiden. Im
Deutschen Reiche z. B. wohne ein Volk mit
indogermanischer Sprache wie in einer Reihe
von Staaten Europas und Asiens, seine Rasse-
zufrehöriffkeit wäre erst zu untersuchen. Die
Zugehörigkeit zum indogermanischen Sprach-
kreis habe zunächst mit der Rasse, der ein
Volk angehört, oder den Rassen, die innerhalb
eines Volkes vertreten sind , nichts zu tun.
Daß verschiedene Rassen zur Bildung der indo-
germanischen Völker beigetragen haben, lehre
ihre oberflächliche anthropologische Betrachtung.
Jede einzelne Völkergruppe besitze bestimmte
geistige Eigenschaften, die sie von anderen
Gruppen unterscheide. Es frage sich nur, ob
dieser Unterschied in der Zusammensetzung
der verschiedenen Rassenbestandteile begründet
ist, aus denen sie hestehen. (Damit verwirft
Schliz also wieder die vorher ausgesprochene
Ansicht, daß eine Rasse bestimmte geistige
Eigenschaften besitze.) Im weiteren Verlauf
seiner Darlegungen untersucht A. Schliz nun
die Rasseubestandteile, aus denen sich die ein-
zelnen europäischen Völker zusammensetzen,
speziell die nordische Rasse und ihre ver-
G2
schiedenen Komponenten. Da hören wir nun,
daß die Rasse der Bandkeramik aus dem gleichen
Stammeselement wie die Megalithrasse (Nord-
landrasse mit Tiefstichkeramik) zusammengesetzt
sei. und daß kein Grand gegen die Annahme
vorhanden sei, daß alle diese Stämme eiue ge-
meinsame Ursprache, die indogermanische, ge-
sprochen haben sollen. „Xordindogermauen"
seien die Angehörigen der Megalithrasse im
Nord« es ten. „Westindogermanen" diejenigen
der Grenelle- und alpinen Rasse, Südindoger-
nianen die Völker der Bandkeramik im Süd-
osten. Außer Betracht müßten Nichtindoger-
maneii bleiben wie Iberer oder Finnen, die
außereuropäischen Zentren entstammen, oder
die Ligurer und Etrusker, deren Zugehörigkeit
zu einem europäischen Urstamm nicht zu er-
weisen sei.
Mau erkennt auf den ersten Blick, daß hier,
eutgegen dem anfangs ausgesprochenen Prinzip,
sprachliche und anthropologische Tatsachen ver-
mengt worden sind. Ein paar Seiten weiter
aber wendet sich A. Schliz von der Sicherheit,
mit der er die neolithischen Kulturkreise auf
einzelne (der heutigen Sprachwissenschaft
übrigens unbekannte) Unterabteilungen des indo-
germanischen Urvolkes zu verteilen weiß, wieder
ab, wenn er bei der Betrachtung der Hügel-
gräber der alten Bronzezeit in Bayern und der
schwäbischen Alp meint, das darin sich findende
Rassengemisch sei zweifellos indogermanisch
gewesen — woher weiß das Schliz übrigens? — ,
nichts aber berechtige uns, diese Misch-
bevölkerung Kelten oder Germanen zu neunen.
Gegen Kossinnas inzwischen übrigens wieder
aufgegebenes Lieblingskind, die Karpodaken,
verhält sich Schliz ebenfalls recht kritisch,
weiß aber andererseits, daß Südiudogermauen
aus Illyrien zur llallstattzeit Süddeutschland in
Besitz genommen haben und bis nach Schlesien
vorgedrungen sind.
Ich bin mit Absicht auf den jüngst er-
schienenen Artikel von A. Schliz so ausführlich
eingegangen, um an diesem Beispiel zu zeigen,
welch heillose Verwirrung entstehen kann, wenn
in anthropologischen oder archäologischen Dar-
legungen kritiklose uud unbewiesene Aufstel-
lungen über die Zugehörigkeit uns übrigens
oft nur dem Namen nach bekannter vor-
geschichtlicher und frühgeschichtlicher Sprach-
kreise zu bestimmten Rassen oder prähistorischen
Kulturgruppen gegeben werden. Der Haupt-
fehler liegt meines Erachtens darin, daß viele
Prähistoriker, die mit sprachlichen und histori-
schen Begriffen arbeiten, sich über die in diesen
Namen enthaltene Realität nicht klar genug
sind. Es sei mir daher gestattet, hier einige
dieser Begriffe auf ihren Inhalt hin zu prüfen.
Was besagt uns der Name „Indogermanen ",
mit dem die Archäologen aller Schattierungen
so gern operieren? Wir müssen uns zunächst
vor Augen haken, daß der Begriff „indoger-
manisches Stammvolk" nur eine Abstraktion
aus sprachlichen Rückschlüssen ist. Wir kennen
eiue Anzahl indogermanischer Sprachen zum
Teil ans älterer, zum Teil aus jüngerer Zeit.
Während das ludische und Griechische uns seit
dem Beginn des letzten Jahrtausends v. Chr.
bekannt sind, treten das Lateinische oder Per-
sische erst viel später in unseren Gesichtskreis.
Alle anderen indogermanischen Sprachen sind
überhaupt erst aus der Zeit nach Christi Geburt
überliefert. Rückschließend aus den genannten
indogermanischen Sprachen gewinnen wir die
gemeinsame Stammsprache, das Indogermanische,
über dessen Lautgestalt v,or 40 Jahren noch
andere Ansichten herrschten wie jetzt, und es
ist möglich, daß die Forschung in künftigen
Tagen wieder zu Ergebnissen gelangen wird.
die von den heutigen abweichen. Indes ist ja
kein Zweifel möglich, daß die gemeinsame
Stammutter, die indogermanische Ursprache,
einmal vorbanden gewesen sein muß. Ob das
aber im Jahre 2000 oder 2500 oder gar 3000
v. Chr. gewesen ist, darüber hat die Forschung
bis jetzt nichts Sicheres ermittelt. Unbestreitbar
ist, daß die indogermanische Stammsprache auch
einen Träger besessen haben muß, der sich
ihrer bedient hat. Wir neunen ihn das indo-
germanische Stammvolk, oder kurz die „Indo-
germanen". Vou diesem Urvolk ist uns keinerlei
geschichtliche Kunde erhalten. Keine Quelle
sagt uns, wie sie sich genannt haben, wo sie
gewohnt haben, wie ihre Ausbreitung über
Asien und Europa erfolgt ist, und wann das
Stamm volk sein Geschick erfüllt und vom
Schauplatz verschwunden ist. Was wir über
die Kultur der Indogermanen zu wissen glauben,
ist mittels Rückschlüssen aus dem für die Ur-
sprache ermittelten Wortschatz gewonnen worden
uud eigentlich nicht viel mehr, als wir bei
einem Volk der Außenzone der alten Welt iu
jener frühen Zeit ohnehin voraussetzen können.
Ferner ist nicht zu vergessen, daß, wie die An-
sichten über das Aussehen der Stammsprache
im Laufe der Zeit wechselten, so auch die Vor-
stellungen, die man sich von ihrem Wortvorrat
gemacht hat. nicht zu allen Zeiten die gleichen
gewiesen sind. Eine schärfere Handhabung der
aufgestellten Lautgesetze ließ manche Ety-
mologie älterer Zeit als verfehlt erscheinen,
während andererseits neuer Sprachstoff aus
63
wieder aufgefundenen indogermanischen Sprachen
(Tochavisch, Nordarisch, Sogdisch usw.) oder
aus der schärferen Sichtung des Wortvorrats
bereits früher bekannter Sprachen hinzugekommen
ist. Im einzelnen kann ich auf diese Dinge an
dieser Stelle nicht näher eingehen; ich ver-
weise für den Leser, der sieh darüber ein-
gehender zu unterrichten wünscht, auf meine
vor zwei Jahren erschienene Studie „Indo-
germanen und Germanen", Halle, Max Niemeyer
oder auf mein umfänglicheres Werk „Kultur,
Ausbreitung und Herkunft der Indogermanen",
Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1913.
IlalteD wir also fest, daß der Begriff „Indo-
germanen" keinen derart realen Inhalt hat wie
die Begriffe Griechen, Römer, Germanen, Gal-
lier usw., Völker, über die wir uns aus vor-
handenen geschichtlichen Quellen mehr oder
minder eingehend unterrichten könuen. Während
ferner bei den historischen indogermanischen
Völkern die Wohnsitze bekannt sind und wir
auch über ihre äußere Erscheinung einiger-
maßen informiert sind, wisseu wir bei dem
indogermanischen Stamm volk weder, wo es ge-
wohnt hat, noch wie es ausgesehen hat. Alle
Versuche, den Ausstrahlungspunkt der indo-
germanischen Sprachbewegung, die sogenannte
„Urheimat" genauer zu umgrenzen, müssen als
gescheitert betrachtet werden. Meiner Über-
zeugung nach ist sie weit eher in Zentralasien
als in Nordeuropa zu suchen. Zu welcher
Kasse aber das Urvolk gehört hat, nnd ob es
überhaupt eine einheitliche Rasse besessen hat,
ist vollkommen dunkel. Alles, was wir sagen
können ist, daß die Indogermanen, weil ihre
Heimat in einem nördlich gelegenen Lande zu
suchen ist, vermutlich zu dem dort über-
wiegenden hellfarbigen Typus gehört haben.
Die älteste Überlieferung übrigens, die wir
über das Aussehen eines indogermanischen
Volkes haben, ist eine Notiz auf einer Sieges-
säule Tiglatpilesers IV von Assyrien aus
dem 8. Jahrh. v. Chr., die von den „dunklen"
Medern spricht. Offenbar also sahen die Vor-
fahren der Bewohner Irans schon ebenso aus
wie die heutigen Perser.
Aus den bisherigen Darlegungen ergibt
sich, daß unsere Vorstellungen von dem Kultur-
besitz, der äußeren Erscheinung und den Ur-
sitzen der Indogermanen nur äußerst vage sind.
Wie kommt es nun, daß trotzdem ein bestimmter
Forscherkreis so bestimmte Angaben über alle
diese Punkte zu machen weiß? Die Antwort
auf diese Frage lautet: Man hat sich, gestützt
auf einige unbestimmte Andeutungen bei klas-
sischen Schriftstellern, eine aprioristische und
dogmatische Vorstellung von der äußeren Er-
scheinung eines „Ariers" gemacht, über die
man jede Diskussion ablehnt. Das tun nicht
nur z.B. Kossinna1) und seine Anhänger,
sondern auch Sprachforscher von Namen, wie
Hoops, Hirt, Streitberg usw., die unentwegt
an der Überzeugung von dem nordischen Typus
des Urvolks festhalten. Darauf gestützt wird
dessen Kultur als identisch mit der der nor-
dischen Steinzeit aufgefaßt und dargestellt.
Dieses Verfahren führt konsequent fortgesetzt
zu recht erheiternden Folgerungen. So be-
suchte ich vor einigen Jahren die prähistorische
Abteilung eines Proviuzialmnsenms, die von
einem sympathischen, leider allzu früh auf tra-
gische Weise hinweggerafften jüngeren Gelehrten
aus der Kossinnaschen Schule geleitet wurde.
Er rubrizierte alles Ernstes in seiner Abteilung
die frühesten Funde der jüngeren Steinzeit
unter dem Kennzeichen „indogermanische Zeit".
Andere Denkmäler figurierten als germanische,
ostgermanische, westgermanische, karpoda-
kische usw. Natürlich werden bei dem urteils-
losen Publikum durch ein solches Verfahren
ganz irrige Vorstellungen wachgerufen. Der
informierte Gelehrte weiß freilich, daß es nicht
einmal bei historisch beglaubigten Völkern mög-
lich ist, ihre Hinterlassenschaft mit Sicherheit
festzustellen, sowie uns die Inschriften im Stich
lassen. Ihnen allein verdanken wir es, daß wir
z. B. die etruskischen Nekropolen ethnographisch
festlegen können. Aber ist es bis jetzt ge-
lungen, etwa die älteste Hinterlassenschaft der
Italiker, der prähistorischen Griechen, der
Thraker, Ulyrier usw. unzweifelhaft festzustellen?
Man bezeichnet die Funde wohl als griechisch,
thrakisch, illyrisch usw., weil sie auf dem später
von den genannten Völkern eingenommenen
Boden gefunden wurden. Aber damit ist über
die ursprüngliche Zugehörigkeit eines solchen
Fundes zu einem bestimmten Volk eigentlich
noch nichts gesagt. Wie haben wir uns die
Verhältnisse in prähistorischer Zeit denn eigent-
lich vorzustellen? Wenn wir, um den Gegen-
stand an einem konkreten Beispiel zu er-
läutern, von einer keltischen Herrschaft über
Mitteleuropa um die Mitte des letzten Jahr-
tausends v. Chr. sprechen , so können wir sie
durch Ortsnamen und durch die verhältnismäßig
a) In einem Aufsatz: Über den Ursprung der TJr-
finnen und der Urindogermanen und ihre Ausbreitung
nach dem Osten Mannus, Band 1, 8 20: Diese vier
Dinge, d.h. indogermanische Ursprache, indogermani-
sches Urvolk, kleinerer Urraum als Urheimat und
nordischer Typus der Indogermanen, sind heute für
mich indiskutabel.
(34
einheitliche Hinterlassenschaft in Gräbern i"1
stimmter Gebiete wohl nachweisen. Aber diese
Vorherrschaft des keltischen Elements besagt
doch nicht, daß nun alle vorangegangeneu Be-
völkerungsschichten spurlos verschwunden sind.
Wir halten uns <las Verhältnis der Kelten zu
den von ihnen unterworfenen Stämmen nicht
anders ZU denken als das der Germanen ZU den
unterworfenen Romanen oder der Türken zu
den Völkerschaften des von ihnen noch bis vor
kurzem beherrschten Gebietes in Europa. Es
handelt sich bei allen diesen Herrschervölkern
nur um eine dünne Oberschicht, unter der
das autochthone Element fortlebt und zumeist
auch seine eigene Sprache behält. So hat sich
z. B. trotz der Kelten- und Römerherrschaft
nach dem Zeugnis des Li v ins das liätische in
den Alpen bis in das erste christliche Jahr-
hundert erhalten. |!| Noch die klassische Zeit
Griechenlands hatte die Lebhafte Erinnerung an
die anderssprachigen Pelasger und Karer in-
mitten der Hellenen erhalten. Welches Sprachen-
gewirr herrschte nicht im alten Perserreich,
ganz ebenso wie das heutige Rußland eine
bunte Musterkarte von Sprachen in sich schließt.
Wenn also aus prähistorischer Zeit ein Volks-
name aus irgend einer Gegend überliefert ist,
so ist damit noch lange nicht gesagt, daß das
unter ihm zu verstehende Element das einzig
vorhandene in einer bestimmten Gegend ge-
wesen ist. Es ist also durchaus verfehlt, Gräber,
die sieh auf griechischem, illyrischem, thraki-
schem usw. Sprachgebiet finden, nun einfach
als solche der betreffenden Sprachgemeinschaft
zu betrachten und von thrakischer Bandkeramik,
vom geometrischen Stil der ältesten Griechen,
von der Bandkeramik der Illyrier u. dgl. m.
zu sprechen. Sobald uns die Inschriften auf
prähistorischen Funden fehlen, können wir nicht
mit Bestimmtheit sagen, welches die Sprache
des Kulturkreises war, aus dessen Bezirk die
Funde herrühren. Die prähistorischen Kultur-
kreise sind für uus so lange anonym, als wir
keine historische Kunde aus den betreffenden
Gegenden besitzen, und selbst wenn das der
Fall ist, können wir sie nicht einem bestimmten
Sprachkreise zuschreiben, wenn sich nicht mit
ihnen \ zusammen sprachliche Denkmäler finden.
Wollten wir das indogermanische Urvolk
aber durchaus archäologisch erfassen, so müßte
die^. einzig zulässige Methode folgende sein:
Rückwärts schließend, zunächst zu ermitteln,
welches die kulturelle Hinterlassenschaft der
indogermanischen Stämme in ihren ältesten
Sitzen ist, an der Pfand der Funde den Weg
ihrer Wanderungen verfolgen und den Punkt
ermitteln, wo die Richtungen der Wanderzüge
konzentrisch zusammenlaufen. Dort könnte man
dann mit einiger Sicherheit den Ausgangspunkt
der indogermanischen Sprach- und Kultur-
bewegung annehmen, und die kulturelle Hinter-
lassenschaft des TJrvolks, vielleicht auch seinen
Rassentypus aus etwaigen Skelettfunden er-
mitteln. Aber von diesem Ziel sind wir noch
unendlich weit entfernt, und es ist mehr wie
fraglich, ob es der archäologischen Forschung
jemals gelingen wird, es zu erreichen. Denn
selbst in viel jüngeren Perioden ist es außer-
ordentlich schwer, Völker archäologisch zu
erfassen. Was weiß man z. B. über die Hinter-
lassenschaft der Goteu an der Ostsee und am
Schwarzen Meer zu sagen? Und doch kann
mau die Richtung ihrer Wanderung und die
Zeit ihres Aufenthalts in den genannten Gegenden
mit einiger Sicherheit angeben. Wäre mau im-
stande, ein alemannisches, fränkisches oder
bayerisches Grab nach der Hinterlassenschaft
zu unterscheiden, wenn es nicht auf dem von
den genannten Stämmen eingenommenen Boden
gefunden würde?
Aber wenn es selbst gelungen wäre, die
archäologische Hinterlassenschaft des indoger-
manischen Urvolks unter Befolgung einer exakten,
rückwärts schreitenden und wissenschaftlich
einwandfreien Methode, wie sie die Sprach-
wissenschaft von Anfang an befolgt hat, zu
ermitteln, so müßten wir uns dennoch darüber
klar sein, daß wir damit nur einen ganz kleinen
Ausschnitt aus dem kulturellen Leben des TJr-
volks gewonnen hätten, da nur das wenigste
seines materiellen Kulturbesitzes in die Gräber
gekommen seiu wird, und sein Geistesleben
aus den Funden überhaupt nicht wieder er-
mittelt werden kann. Damit und mit der Fest-
stellung des Rassentypus wäre es eiue mißliche
Sache, wenn das indogermanische Urvolk, was
wahrscheinlich ist, nicht Bestattung, sondern
Leichenverbrennung und-aussetzung geübt hätte.
Um das Gesagte an einem Beispiel zu er-
läutern, wollen wir uns denken, daß das
Lateinische bereits in vorgeschichtlicher Zeit
ausgestorben und keine Kunde von dem Land
und Volk der Römer überliefert sei. Wir
wären dann in die Notwendigkeit versetzt, die
lateinische Sprache und die römische Kultur
aus dem gemeinsamen Wortschatz der romani-
schen Sprachen zu erschließen. Würden wir
überhaupt ein klares Bild von dem Aussehen
des Lateinischen, seinem Wortvorrat, seinen
Flexionsformen und seiner Syntax erhalten?
Wieviel von alledem ist nicht spurlos in allen
romanischen Sprachen untergegangen? Von dem
65
hohen Stand der römischen Kultur bekämen
wir überhaupt keine Vorstellung, da die Völker
romanischer Sprache von dem selbst in der
Provinz noch sehr ansehnlichen Stand der
Lebensführung nach den Stürmen der Völker-
wanderung in verhältnismäßig kurzer Zeit tief
herabgesunken sind und erst in unseren Tagen
wieder die einstige Höhe erklommen haben.
Es ist nicht unmöglich, daß die Verhältnisse
bei einem einst und irgendwo einmal bestandenen
Imperium indogermanicum ähnlich lagen und
daß die Sprachen und Kulturen der Völker
indogermanischer Zunge nur ein mattes Abbild
des einstigen Glanzes geben, zumal hier der
zeitliche Abstand weit größer als zwischen Rom
und dem ersten Auftreten der Romanen ist.
Aber ebensogut kann man annehmen, daß das
Urvolk keinen höhereu Kulturstand als viele
seiner späteren Nachkommen besessen hat und
Asien sowie Europa in der Art von Hunnen,
Awaren, Mongolen, Türken usw. mit wilden
Horden überschwemmt und die Vorbewohner
unterworfen hat. Eine sichere Entscheidung
über fliese Fragen hat sich bis jetzt und wird
sich wohl nie treffen lassen.
Aus dem bis jetzt Ausgeführten ergibt sich
somit, daß wir nicht in der Lage sind, den Be-
griff „Indogermanen" mit einem auf einiger-
maßen sicherer und dauernder Basis stehenden
realen Inhalt auszuführen. Es muß dabei
bleiben, daß er nur eine Abstraktion aus
sprachlichen Tatsachen darstellt. Nieht viel
besser steht es um die Versuche, Unterabtei-
lungen des indogermanischen Urvolks aufzu-
stellen. Die vor 50 Jahren versuchte Eintei-
lung in Nord- und Südindogermanen ist von der
Sprachwissenschaft wieder aufgegeben worden,
da sie sich als nicht haltbar erwies. Sie führt
nur in Schriften prähistorischen Inhalts ein
kümmerliches Nachleben. Die Sprachwissen-
schaft pflegt die indogermanische Stammsprache
in die Gruppen der Kentum- und Satemsprachen
einzuteilen, d.h. Sprachen, in denen die indo-
germanischen Palatallaute als solche erhalte]]
und in Sprachen, in denen sie iu Zischlaute
gewandelt sind (man vergleiche lat. centum
„100" mit altiud. satam). Zu den Satem-
sprachen gehören das Arische (Indo-iranische),
das Slawische, Baltische, Thrakische, Phrygische,
Annenische und Albanische; zu den Kentum-
sprachen die übrigen. Somit ergab sich in
großen Zügen eine ostwestliche Gliederung
der indogermanischen Dialekte, die lange un-
bestrittene Geltung hatte. Nun aber wurde
vor einigen Jahren eine bisher unbekannte
indogermanische Sprache, die etwa bis zum
Jahre 1000 n. Chr. in Zentralasien gelebt hatte,
in Turkestan wieder entdeckt: das Tocharische.
Dieses stellt sich auffälligerweise in die Gruppe
der sonst nur in Europa vertretenen Keutum-
sprachen, wirft demnach die ost-westliche Gliede-
rung auch wieder über den Haufen. Die Sprach-
forscher stehen also aufs neue vor der Frage,
ob es möglich ist, in der Lagerung der Dialekte
des Indogermanischen deutliche Schichtungen
abheben zu können oder nicht. Jedenfalls tut
man gut daran, sich hier abwartend zu ver-
halten.
Wenn uns das indogermanische Urvolk nicht
aus historischen Quellen bekannt ist, so haben
wir dagegen Kunde von zahlreichen indo-
germanischen Völkern seit dem Beginn des
1. Jahrtausends v. Chr., die uns somit in mehr
oder minder großem Umfang gegenständlich
werden: die Inder, Perser, Griechen, Römer,
Gallier, Germanen usw. Es ist nun vielfach
der Versuch gemacht worden, diese historischen
indooermanischen Völker iu die indogermanische
Urzeit zurückzuverlegen und anzunehmen, daß
das LTrvolk gleichfalls schon in diese Teil-
stämme zerfallen ist. Hier liegt eine doppelte
Ungenauigkeit zugrunde. Zunächst wissen wir
nicht, wie viele von den Stämmen des Ur-
volks spurlos und ohne Kunde von ihrem ein-
stigen Dasein für uns zu hinterlassen, vom Erd-
boden verschwunden sind; zweitens können wir
nicht sagen, ob die Verbände, die in geschicht-
licher Zeit auftreten, auch in vorgeschichtlicher
Zeit vorhanden waren oder ob nicht andere
Gruppierungen vorlagen. Man denke nur daran,
wie schnell sich bei den Germanen die Stämme,
die zu Cäsars und Tacitus' Zeiten uns genannt
werden, in die aus den Zeiten der Völker-
wanderung uns bekannten größeren Verbände
der Sachsen, Franken, Schwaben, Bayern auf-
gelöst haben, ohne daß es uns möglich wäre,
die Zusammensetzung und sogar teilweise die
Herkunft dieser größeren Verbände nach-
weisen zu können. Wenn schon in historischer
Zeit und in einem verhältnismäßig kurzen Zeit-
raum so tiefgreifende Umwandlungen bei Völ-
kern stattfinden können, wie will man da für
die fernen prähistorischen Zeiten mit Sicherheit
ermitteln, ob die geschichtlich beglaubigten
Völker indogermanischer Sprache auch schon
in prähistorischer Zeit ihr Sonderdasein geführt
haben? Sehen wir doch vielfach, daß ein indo-
germanisches Volk sich über das andere lagert,
dessen Sprache vollkommen verdrängt und durch
die eigene ersetzt. So hat das Lateinische das
Gallische und Illyrische, das Griechische das
Thrakische und Mazedonische, das Deutsche in
9
66
historischer Zeit zahlreiche slawische Dialekte
und das Preußische aufgesogen. Es spiell sich
also auf größeren Gebieten der gleiche Vor-
ab, den wir in engeren Grenzen beob-
achten, wenn das Lateinische die anderen itali-
nischen Dialekte, die griechische Gemeinsprache
(Koine) 'las Ionische, Attische, Dorisehe usw.
verdrängt hat. Auch zahlreiche Schwankungen
in der Ausdehnung eines Sprachgebietes lassen
sieh beobachten. So, wenn .las Slawische nach
der Völkerwanderungszeil V>is zur Elbe vor-
gedrungen ist, um vom späteren Mittelaller an
wieder vom Deutschen über die Oder und
weiter zurückgedrängt zu werden.
Die gleichen Verhältnisse linn, die wir in
geschichtlicher Zeit beobachten, müssen wir
auch für die vorgeschichtliche Periode für
möglich ansehen. Freilich kann uns für diese
Vorgänge keine Kunde überliefert sein. Aber
durch die Entdeckung bisher unbekannter indo-
germanischer Sprachen in Zentralasien (Tocha-
risch, Sogdisch, Nordarisch), die sich bis tief
in die Mongolei hinein im frühen Mittelalter
ausgedehnt haben, um später von den Türk-
sprachen verdrängt zu werden und spurlos von
der Erde zu verschwinden , haben wir gelernt,
wie sehr sich die sprachlichen Verhältnisse im
Laufe der Jahrhunderte verschieben können.
Deshalb müssen wir mit Rückschlüssen aus der
geschichtlichen Zeit auf die Lagerung und Zahl
der Dialekte der indogermanischen Stamm-
sprache sehr zurückhaltend sein, um nicht den
Boden unter den Füßen zu verlieren.
Die gleiche Zurückhaltung ist geboten, wenn
man mit Teilstämmen, die uns aus historischer
Zeit bekannt sind, operieren will. Wohl können
wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen,
daß ein Grab, das auf sächsischem, fränkischem
oder bayerischem Gebiet aus der Zeit nach der
Völkerwanderung aufgefunden wird, in der Tat
einen Angehörigen dieser Stämme enthält. Bei
Gräbern, die aus der Latenezeit stammen und
Beigaben enthalten, die dem keltischen Kultur-
kreis entstammen, dürfen wir den Bestatteten
wohl unbedenklich als Kelten ansprechen, ob-
wohl natürlich keine Schwierigkeit besteht, daß
sich auch Augehörige von Stämmen mit anderen
Sprachen das keltische Kulturgut angeeignet
haben können. Aber sobald wTir weiter zurück
in die Hallstatt-, Bronze- oder gar Steinzeit
kommen, verlieren wir jeden Anhaltspunkt, um
die Angehörigen eines bestimmten Kulturkreises
ethnographisch festzustellen. Freilich kann man
sa'_ren, ob ein Skelett einem Angehörigen der
doliehokephalen nordischen Rasse oder der
mesokerihalen Grenelle-Rasse zuzusprechen ist;
aber wie die Angehörigen dieser Rassen oder
anderer prähistorischer Kulturen sprachlich ein-
zuordnen sind, wird uns auf immer ein Rätsel
bleiben. Gewiß wäre es recht verlockend, die
sogenannte Lausitzer Kultur, die sich von Ober-
italien über Mähren und Ungarn bis nach
Schlesien ausdehnte, mit Kossinna den Illyriern
zuzuweisen, durch die er seine früheren Karpo-
daken ersetzt hat. Aber es bleibt zu bedenken,
daß wir von Illyriern erst seit der Mitte des
letzten vorchristlichen Jahrtausends wissen1),
während die Lausitzer Kultur in die ältere
Bronzezeit gesetzt wird, also mindestens :">00 Jahre
älter als das historische Vorkommen des Namens
der Illyrier ist. Für eine einstige weitere Aus-
dehnung der Illyrier spricht ja allerdings die
auffällige Übereinstimmung zwischen dem Namen
der Veneter an der Nordküste der Adria und
dem deutschen Namen für die Slawen =Wenden.
Es scheint also, als ob auch einmal Veneter
östlich von den Germanen gewohnt hätten.
Freilich finden sich auch Veneter bei Cäsar in
der Bretagne, wo sie unzweifelhaft eine Völker-
schaft mit keltischer Sprache sind. Somit
bleibt der Name der Veneter eines der vielen
Rätsel, die uns die Namen prähistorischer
Völker oder auch solcher aus historischer Zeit
aufgeben, wenn sie an ganz verschiedenen
Stellen auftreten: Iberer kennen wir z. B. im
Kaukasus und in Spanien, Marser in Latium
und auf dem rechten Ufer des Niederrheins;
den Völkernamen der Russen, der den nor-
dischen Warägern von den Finnen gegeben
wurde und erst später auf das heute so ge-
nannte Volk überging, treffen wir in der Form
Ros oder Rüs bei byzantinischen und arabischen
Schriftstellern des 10. Jahrhunderts für einen
skythischen Volksstamm im Südosten Rußlands.
Diese Beispiele ließen sich noch vermehren.
Die Namen besagen in der Regel recht wenig
über das Volk, das die Alten unter ihnen ver-
standen, wenn nicht genauere geschichtliche
Quellen uns über die Lebensgewohnheiten und
die Sprache des betreffenden Volkes zur Ver-
fügung stehen. Zudem haftet ein Name häufig
an eitler bestimmten Gegend und geht dann
leicht, wenu die Bevölkerung wechselt, auf das
neue Element über, das die Stelle des älteren
eingenommen hat. Mau denke z. B. an die
eben besprochenen Wenden oder an das, was
wir heute unter Preußen verstehen und was
der Name vor 500 Jahren bedeutete.
J) Vgl. Herodot I, S. 196; IV, S.49; IX, S. 43,
wo übrigens nichts über die Vergangenheit, die Sprache
und die Ausdehnung der Illyrier zu rinden ist.
67
Aus allen diesen Gründen erscheint es gauz
aussichtslos, Namen von erst in historischer
Zeit auftretenden Völkern in die prähistorische
Zeit zurückzuverlegen und z.B. mit Schuch-
hardt die etwa aus der Zeit um 800 v. Chr.
stammenden, bei Eberswalde in der Mark auf-
gefundenen Goldgefäße als Hausschatz eines
Fürsten der Semnonen zu bezeichnen. Mißlich
ist es auch, mit Dr. Viollier die iu Gräbern
der Schweiz seit der Mitte des letzten Jahr-
tausends v. Chr. vertretene Lateuekultur dem
Stamm der Helvetier zuzuschreiben, obwohl uns
Caesar berichtet, daß diese Völkerschaft erst
vor kurzem unter dem Druck der Germanen
den Rhein zu überschreiten begonnen habe. Wie
wollen wir wissen, ob dieser Übertritt auch schon
in so früher Zeit bereits stattgefunden hat und
ob es überhaupt in jener weiter zurückliegenden
Zeit schon Helvetier im späteren Sinn gegeben
hat? Sind etwa die Schweizer um 1000 n.Chr.
noch Helvetier gewesen ? Ob die erst bei
Tacitus genannten Semnonen schon 1000 Jahre
früher da gewohnt haben, wer will das also
mit Sicherheit behaupten? Und wenn auch
die Semnonen bereits in jener Zeit in Branden-
burg ansässig gewesen wären, hätten wir immer
noch kein Recht, sie als Germauen zu bezeichnen,
denn wir wissen durchaus nicht, welche Sprache
damals in der Mark Brandenburg vorherrschend
war, und ob es um 800 v. Chr. überhaupt
schon Germanen in dem uns geläufigen sprach-
lichen Sinn gab.
Meiner Ansicht nach, die ich. in der oben
genannten Studie „Indogermanen und Ger-
manen" entwickelt habe, ist das aber nicht
mit Sicherheit anzunehmen. Aus sprachlichen
Gründen, zumal aus dem Phänomen der Laut-
verschiebung und mit Rücksicht auf den er-
heblichen Bruchteil nicht indogermanischer Her-
kunft des germanischeu Wortschatzes habe ich
an der genannten Stelle ausgeführt, , daß die
Germanen vor dem Beginn der keltischen Herr-
schaft über Mitteleuropa von einem indoger-
inanisierten mitteleuropäischen Volke die indo-
germanische Mundart übernommen haben, die
wir als germanisch zu bezeichnen gewohnt sind.
Die Prägermanen , worunter ich die Germanen
vor der Übernahme der indogermanischen
Mundart verstehe , besaßeu eine der ureuro-
päischen Sprachen, von denen uns keine Reste,
ja nicht einmal die Kunde von ihrem ein-
stigen Vorhandensein überliefert ist. Wir
müssen sie aus ihren Nachwirkungen in der
germanischen Sprache (Lautverschiebung, Wort-
schatz, Wortbetonung) erschließen, ebenso wie
wir eine vorindoffermanisebe Kultur aus den
Spuren des bei den Germanen (ebenso wie bei
den Iberern und Basken) nachzuweisenden
Mutterrechts entnehmen. Die Versuchung liegt
nahe, das indogermanische Volk, das den Ger-
manen seine Sprache vermittelte, in den Trägern
der bis in die heutigen Provinzen Schlesien
und Posen nachgewiesenen Lausitzer Kultur
(Illyrier nach Kossinna) zu finden. Indes ver-
meidet man besser diese noch sehr uusichere
archäologische Kombination und bescheidet sich
mit einem vorläufigen noii liquet. An und für
sich kann die Annahme, daß die Prägermanen
ihre Sprache gegen eine indogermanische Mund-
art aufgegeben haben, nicht auffällig erscheinen,
da wir denselben Hergang des Sprachenwechsels
auch in historischer Zeit beobachten, wenn die
hochdeutsche Schriftsprache das Niederdeutsche
teilweise ganz verdrängt hat und weiterhin zu
verdrängen den Anschein hat, ebenso wie das
Friesische dem Plattdeutschen weicht. Wir
können in der Mark Brandenburg z. B. inner-
halb eines Zeitraumes von nicht viel mehr als
1000 Jahren einen mehrfachen Sprachen Wechsel
feststellen: Germanisch bis etwa 500 n. Chr.,
Slawisch von 500 bis etwa 1300, Niederdeutsch
von 1400 bis 1600, von da ab überwiegend
Hochdeutsch.
Um nun wieder auf den Ausgangspunkt
zurückzukommen, wie will mau bei einem derart
schnellen Sprachenwechsel in historischer Zeit
für eine prähistorische Epoche von nahezu
1000 Jahren annehmen, daß die Bevölkerung
stets germanisch geblieben sei, wenn man mit
Schuchbardt die Semnonen rund 1000 Jahre
zurück verlegt? Mau sieht, in welche Schwierig-
keiten man gerät, wenn man archäologische
Ergebnisse ohne weiteres mit sprachlichen Ver-
hältnissen einer viel späteren Zeit zu kom-
binieren versucht. Ist es nicht viel richtiger
und im Interesse der Wissenschaft förderlicher,
wenn wir uns damit begnügen, die prähistorischen
Kulturen in ethnographischer und sprachlicher
Hinsicht so lange als anonym anzusehen, als
wir keine historische Kunde von ihren Trägern
besitzen? Ist dieses Verfahren aber in Mittel-
und Nordeuropa schon für die Zeit vor der
Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends
das richtigere, um wieviel mehr muß es Gel-
tung haben für jene noch fernere Vorzeit, in
der das einheitliche indogermanische Stamm-
volk angesetzt wird. Es muß nach den vor-
stehenden Ausführungen für eine nach strengen
Methoden arbeitende Wissenschaft, wie es die
prähistorische ja auch sein will, als ganz aus-
sichtslos erscheinen, das Indogermanenproblem
archäologisch zu erfassen. Was bisher von
68
•_mh issen Prähistorikern über das indogermanische
Stammvolk, über seine körperlichen uud geistigen
Eigenschaften, über seinen Kulturbesitz und
seine religiösen .Anschauungen vorgebracht
worden ist, unterscheidet sieh in nichts von den
Mythen, mit denen die alten Völker ihren Ur-
sprung aufzuhellen versuchten. Unsere be-
hauptete Abstammung von den Ariern kann
ruhig in eine Linie uestellt werden mit der von
den römischen Großen im 2. Jahrhundert v.Chr.
aufgenommenen Fabel von ihrer Herkunft von
flüchtigen Trojanern. Dieser Mythus hatte merk-
würdigerweise ein langes Nachleben, da er von
den Frauken übernommen wurde, die nun ihrer-
seits ihren Ursprung auf die Trojaner zurück-
führten. Hoffen wir, daß der Mythus von den
Ariern, wie er gegenwärtig im Schwange ist,
bald wieder einer vernünftigeren und wissen-
schaftlicheren Auffassung von der Vergangen-
heit der europaischen Völker Platz machen wird.
Zur Frage der willkürlichen Beeinflussung der kindlichen
Schädelform.
Von Prof. A. J. P. v. d. Broek, Utrecht.
Im 36. Bande dieser Zeitschrift veröffent-
lichte Walcher einen Aufsatz „über die Ent-
stehung von Brachy- und Dolichokephalie
durch willkürliche Beeinflussung des kiudlichen
Schädels". Ausgehend von der bekannten Tat-
sache, daß der kindliche Schädel, auch der nor-
male, deformierbar ist, hat er neugeborene
Kinder sozusagen in ihrer Lagerung auf dem
Kopfkissen fixiert und dadurch nicht unerheb-
liche Veränderungen in der Schädelform er-
zeugt; Brachykephalie bei Rückenlagerung, bei
Seitenlageruug dagegen Dolichokephalie.
Die Resultate sind, nach Walchers Meinung
auch für die Anthropologie nicht ohne Bedeu-
tung, denn er kommt zum Schlüsse, daß beim
Zustandekommen der Kopfform „eine gewisse
Heredität mitspielt", daß sie „aber in der
Hauptsache auch in der mit der Zeit erworbenen
Eigenschaft besteht, lieber auf der Seite oder
lieber auf dem Rücken zu liegen, oder in der
Sitte von gewissen Volksstämmen, z.B. der
schwäbisch - alemannischen Bevölkerung, ihre
Kinder im weichen Wickelkissen auf den
Kucken zu legen, oder der Engländer, die
Seitenlage auf hartem Kopfpolster zu bevor-
zugen (1. c. S. 44)". Walcher endet seinen
Aufsatz mit der Bemerkung, „daß ein großes
weites Feld noch unerforscht vor uns liegt,
aber ich hoffe damit den ersten Spatenstich
getan zu haben, und bitte die Kollegen, das
gleiche Feld auch in Angriff zu nehmen, das,
neben reichen Früchten auf geburtshilflich-
pädiatrischem Gebiete, für die Anthropologie
ungeahnte (manchem vielleicht unwillkommene)
Ernten verspricht" (1. c. S. 45).
Der genannte Forscher hat seine Beobach-
tungen und Experimente fortgesetzt, und zwar
hauptsächlich an eineiigen Zwillingen und be-
richtet über seine Ergebnisse nochmals in der
Münch. med. Woehenschr. (1911). Er faßt
seine Resultate jetzt positiver und kommt zum
Ergebnisse „daß der im ersten Lebensjahre
durch äußere Einflüsse erworbene Index sich
für das gauze Leben zu erhalten scheint" (1. c.
S. 136), und daß es wohl kaum anzunehmen ist,
daß für die Zukunft der Typus des (durch die
Lagerung deformierten) Schädels sich noch einmal
so verändern könnte, daß er den Schädeln der
übrigen Familie gleichkäme; damit wäre aber
nachgewiesen, daß es unstatthaft ist, von dolicho-
kephalen und brachykephalen Rassen zusprechen.
Mögen andere Maße des Schädels Rassenkenn-
zeichen sein, der Läugenbreitenindex ist es
nicht!"
Der Aufforderung Walchers, junge Kinder
während längerer Zeit zu beobachten, bin ich in
gewissem Sinne nachgekommen.
Eine reiche Ernte kann ich zwar nicht
bieten, jedoch nur ein einziges Hähnchen; und
dann sogar nur eines, das gewissermaßen frei
in der Natur aufgewachsen ist uud nicht vom
Experimentalfelde stammt. Doch kann es viel-
leicht in Zusammenhang mit der von Walcher
ventilierten Frage einigen Wert haben.
Es betrifft nämlich die Beobachtung meiner
eigenen, jetzt drei Jahre alten, Zwillinge.
Am 9. Oktober 1913 wurden wir erfreut
mit der Geburt zweieiiger Zwillinge; ein Junge
und ein Mädchen. Beide, ä terme geborene,
normale, obwohl bei der Geburt nicht sehr
schwere Kinder sind vollständig gesund; sie
haben, was hervorzuheben ist, keine einzige Er-
scheinung von Rachitis gehabt. Der Zahn-
durchbruch begann etwas spät, verlief jedoch
vollkommen normal; die Kinder standen mit
10 Monaten und liefen mit 11 Monaten.
69
Am zweiteu Geburtstage war die große
Fontanelle geschlossen. Das Gewicht war mit
zwei Monaten gleich dem Gewichte normaler
Kinder und ist es seither geblieben. Von der
Geburt sei folgendes erwähnt. Das Mädchen
wurde zuerst geboren in erster Kopflage; der
Junge eine halbe Stunde später, ebenfalls in
Kopflage, letzterer eigentlich ohne Geburts-
mechauismus.
Das sofort ins Auge springende Merkmal
war die sehr verschiedene Kopfform. Das
Mädchen war ausgesprochen brachykephal, der
Junge dagegen stark dolichokephal. Am zweiten
Tage bestimmte ich den Kopfindex und fand
für das Mädchen 82,2, für den Jungen nur 72,4.
Die Kinder kamen in gleich gestaltete
Wiegen; die Kopfkissen waren einander gleich.
Diese waren mit Kapok (Früchteduneu) gefüllt
und konnten weder als sehr weich, noch als
hart bezeichnet werden, der Kopf erzeugte im
Kissen einen deutlichen Eindruck.
Vom ersten Tage an war es vollkommen
klar, daß der Junge immer Seitenlage, das
M'tdehen immer Rückenlage annahm. Anfangs
war es vielleicht die Schwere des langen ei-
förmigen Kopfes, welche die Seitenlage verur-
sachte; später hat er immer selbständig diese
Lage eingenommen und er tut es auch heute
noch immer. Dasselbe gilt für die Rückenlage
des Mädchens. Wiederholt habe ich es ver-
sucht, eine andere Lage zu erzielen (allerdings
ohne exzessiv weiche oder harte Kissen), es ist
mir immer mißlungen. Ich habe sie selbst-
verständlich tagtäglich beobachtet. Ich denke,
daß sie zu denjenigen Kindern gehören, von
denen Walcher sagt, daß sie „eine unbesieg-
bare Neigung zeigen, auch bei imbequemer
Unterlage und trotz aller Listen stets den Kopf
auf die Seite bzw. auf den Hinterkopf zu legen"
(1. c. S. 135). Von ihren Wiegen bzw. Bettchen
war ihre Lage wenigstens unabhängig; die
Seiten der Wiegen waren undurchsichtig; die
Bettchen dagegen haben Drahtgitterwände.
Nun war ich, in Zusammenhang mit Wal-
chers Aufsätzen, sehr neugierig, wie sich die
Kopfmdices beider Kinder verhalten würden
und habe ich diese an bestimmten Zeiten auf-
genommen mit dem folgenden Resultate.
In einem Alter von vier Monaten bestimmte
ich den Kopfindex des Jungen auf 71, des
Mädchens auf 86,3. Hier konnte also bestimmt
au einen Einfluß der Lagerung auf die Kopf-
form gedacht werden, die Erscheinung stimmte
mit den Angaben von Walcher und kam,
wenigstens für den Jungen, nicht mit den An-
gaben von Tschepourko vsky überein, nach
dein der Kopfindex vom ersten Monat an regel-
mäßig zunimmt. (Großrussen).
Später jedoch änderte sich das Bild. Ob-
wohl, wie gesagt, der Junge die seitliche Kopf-
lage hartnäckig innehielt, stieg der Kopfindex
nichtsdestoweniger allmählich an.
Im Alter von einem Jahre ist der Kopfindex
bei ihm 75 (Länge 148, Breite 112); bei dem
Mädchen ist er 83 (Länge 143, Breite 119). Es
ist nicht denkbar, daß diese große Veränderung
in der Kopfform einzig von der Entwickelung
der Kaumuskulatur abhänuitr ist, auch die Form
des Schädels muß sich geändert haben.
Später hat sich die Kopfform nicht mehr
so stark geändert, denn jetzt, im Alter von
drei Jahren ist der Längen -Breiteniudex des
Kopfes beim Jungen 77,1 (Länge 166, Breite
128), beim Mädchen beträgt er 82,4 (Länge
168, Breite 138).
Zusammenfassend fiuden wir somit: bei einem
Kiude mit konstanter Seitenlage des Kopfes auf
einem nicht sehr weichen Kissen nach einer
geringen Zunahme der Dolichokephalie in den
ersten Monaten eine allmähliche Zunahme des
Kopfindexes bis zum dritten Lebensjahre; und
bei einem brachykephal geborenen Kiude, in
Rückenlage auf einem ähnlichen Kissen liegend,
eine allmähliche, obwohl geringere Abnahme
des Kopfindexes.
Beide Erscheinungen widersprechen den Er-
wartungen, welche man auf Grund der Ausein-
andersetzungen Walchers haben konnte, und
zeigen, daß das erbliche Moment doch an-
scheinend eine bedeutendere Rolle spielt, als es
Walcher sich vorstellt.
Bei den beschriebenen Kindern war es nicht
die Lagerung, welche die Kopfform bestimmte,
sondern die Kopfform, welche anfänglich die
Lagerung bestimmte, eine Lagerung, welche
dann später gewohnheitsmäßig oder der Bequem-
lichkeit halber innegehalten wurde.
Diese Beobachtung hat mich dann auch zur
Frage geführt, ob Walcher bei seinen anthro-
pologischen Auseinandersetzungen nicht Ursache
und Wirkung verwechselt hat und dadurch zu
solchen, für die messende Anthropologie so
„wehmütigen" Auffassungen gekommen ist.
Erstens muß bemerkt werden, daß Walcher
nicht das Recht hat zu sagen, „daß der im
ersten Lebensjahre durch äußere Einflüsse er-
worbene Index sich für das gauze Leben zu
erhalten scheint", denn es ist bekannt, daß durch
das Längenwachstum des Kopfes der Längen-
Breiteuindex zwischen dem 6. und 20. Lebens-
jahre bis zu o1 ., Einheiten abnimmt. Jedoch ab-
gesehen davon, daß die bedingenden Momente
70
für die Form des erwachsenen Kopfes nicht nur
in den äußeren Einflüssen im ersten Lebensjahre
Liegen, dringt sich doch unmittelbar die Frage
auf, ob Völker, bei denen die Köpfe zurDolicho-
kephalie neigen, eben nicht ihre Kinder auf der
Seite werden liegen lassen, weil diese Lagerung
von den Kindern selbständig eingenommen wird.
Sind die deutschen Wickelkissen und die eng-
lischen harten Kissen nicht viel eher eine Folge
der Kopfform als deren Ursache?
Und was für Kulturvölker womöglich gilt,
wird in nicht gerinfjerem Maße für die Natur-
völker, und diese sind im allgemeinen viel
mein als Rassentypen zu betrachten, Geltung
haben. Walcher mag recht haben, daß liier
noch ein großes Gebiet offen liegt, er hat aber
noch nicht gezeigt, daß man das Recht hat. der
Dolicho- und Brachykephalie jede anthropolo-
gische Bedeutung abzusprechen. Hoffentlich
wird bei künftigen anthropologischen bzw. eth-
nologischen l'ntersuchimgen auch bei Natur-
völkern der Kinderlage und der Schädelform
wahrend des Wachstumes größere Aufmerksam-
keit geschenkt werden.
Neue Paläolithfunde in Norddeutschland.
Von E. Werth.
Die durch ihre Wechsellagerung mit echten
Glazialablageruugen für die Urohronologie des
Menschen hochwichtigen, Paläolithe führenden
Elster-Pleiße Schotter von Markkle eberg legten
die Vermutung nahe, daß auch an anderen Stellen
in den gleichaltrigen, während der vorletzten
Eiszeit in umfangreichem Konnex miteinander
uestaudenen „altdiluvialen fluvioglazialen"
Schottern im Elster-Pleiße- und Muldetal Spuren
des paläolithisehen Mensehen nachweisbar sein
würden. Vorläufige daraufhin gerichtete, flüchtige
Untersuchungen einer gauzen Reihe von Auf-
schlüssen der fraglichen Schotterstufe ermög-
lichten in der Tat schon jetzt den Nachweis einer
weiteren Verbreitung des Menschen in dem
bezeichneten Gebiete im Vorlande des Eises
der vorletzten diluvialen Glazialperiode (Riß-
Eiszeit). Einen schönen Hochschaber (Kiel-
schaber), wie solche auch in Markkleeberg
gefunden worden sind, fand ich in der Schotter-
grube westlich von Cröbern, die uns so klar
über die Lagerungsverhältnisse des Decklößes zu
den Schottern und dem Geschiebelehm Aufschluß
gibt (vgl. E.Werth, Das Diluvium von Leipzig
und die Paläolithfundstätte von Markkleeberg.
Zeitschr. d. D. geol. Ges. 67, 26 ff., 1915). Diese
d1 - Schotter der Sächsischen geologischen Landes-
aufnahme sind bis Altenburg aufwärts zu ver-
folgen, wo ich reichlich Feuersteine führenden
und daher sicher hierher zu rechnenden Kiesen
eine Mo u stierspitze entnehmen konnte. Von
der Gegend von Grimma aus haben die dr
Schotter des Mulde tales über Otterwisch, Rohr-
bach usw. eine Verbindung mit denen des
Pleißetales, ziehen sich andererseits aber auch
im heutigen Muldetale abwärts bis Würzen
und weiterhin. Hier, wenig oberhalb Würzen,
fand ich in den zugehörigen Schotteraufschliissen
eiue große, roh geschlagene Klinge mit zwei
sorgfältig retuschierten Schaberkerben (en-
coche). Schließlich lieferte mir noch der Ge-
schiebelehm, in den die Markkleeberger Schotter
nach der Plateauhöhe (östlich) zu übergehen, in
der Grube hinter der Schule in Markkleeberg eiue
Spitze vom Typus La Micoque. So weni_r
diese paar Funde auch an sich bedeuten mögen,
so zeigen sie doch, daß der paläolithische Mensch
der vorletzten Eiszeit auch in Deutschland eine
viel allgemeinere Verbreitung gehabt hat, als
bisher angenommen wurde.
Daß auch während der letzten Eiszeit der
Mensch bei uns nicht gefehlt hat, glaube ich
aus einer kleinen Serie von Instrumenten des
Aurignac -Typus (Blattspitzen, Klinneuschaber,
Klingenkratzer, Rundschaber und Hochschaber)
schließen zu dürfen, die ich in der Gemarkung
Dahlem bei Berlin zum Teil bei Gelegenheit
größerer Erdarbeiten aufgefunden habe. Es
handelt sich hier um Geschiebesande und -lehme
des letzten Inlandeises mit reichlichen nordischen
Gesteinseinschlüssen, Feuersteinen und vom
Gletscher geschliffenen und gekritzten Ge-
schieben, auf dem Grenzgebiete zwischen dem
östlichen, lehmigen und dem westlichen, sandigen
Teile der Teltow - Grundmoränenfiäche. Die
Artefakte befinden sich hier natürlich nicht auf
primärer Lagerstätte, sondern haben einen mehr
oder weniger langen Transport im Gletscher-
schutt durchgemacht . was teilweise auch aus
der Abrollung der Stücke hervorgeht. Wir
finden sonst die Instrumente des Aurignacieu
vornehmlich in dem mit den Gletscherablage-
rungen der letzten Eiszeit gleichaltrigen (jün-
geren) Löß. Wir können sie mithin in dem
vom letzten Eise bedeckt geweseneu Gebiete
(Norddeutsches Glazialseengebiet) nicht anders
71
als im Gletscherschutte selbst begraben erwarten.
Die Aurignactypen im jüngsten Geschiebeglazial
Norddeutschlands zeigen aber, daß der Aurignac-
mensch bei uns gelebt hat, und geben uns die
Überzeugung, daß systeniatischeNachf orschungen
nach seinen Kultur- und Knochenresten im jün-
geren Löß Norddeutschlands, wo er in Sachsen
z.B. bis 10m Mächtigkeit erreicht, nicht ohne
Erfolg bleiben werden.
Das alte Märchen von dem Fehlen des paläo-
lithischen Mensehen in dem nordeuropäischen
Inlandeisgebiete dürfte endgültig überwunden
sein. Und damit dürften- gerade solche Ge-
biete wie Norddeutschland, wo die Gletscher-
ablagerungen die einzig mögliche Grundlage
für die chronologische Fixierung der Kultui-
und Skelettreste des diluvialen Menschen ge-
währen, endlich mehr Beachtung erfahren und
eine bevorzugte Forschungsstätte auf dem wich-
tigen Gebiete der ältesten Urgeschichte der
Menschheit werden. Es wäre wünschenswert,
daß sich dieser Einsicht auch öffentliche Mittel
und staatliche Stellen nicht länger verschließen
möchten.
Hausers Micoquien.
Von E. Werth.
La Micoque bei Les Eyzies in der Dor-
dogne war Hausers erste Ausgrabungsstation
in Frankreich. Zu ihr ist er im Laufe langer
Jahre immer wieder zurückgekehrt, weil ihm
diese Station mit den eigenartigen typologischen
Verhältnissen ein Rätsel zu bergen schien. Und
bald erkannte er, daß sich in La Micoque ein
in der üblichen Typologie des Paläolithikums
bisher noch nicht vorhandener Formenkreis
offenbart. Schon 1907 hat Hauser in Köln
über die merkwürdigen Typen von La Micoque
Bericht erstattet. In dem heute vorliegenden
Buche „Über eine neue Chronologie des mitt-
leren Paläolithikums im Vezeretal, speziell mit
Bezug auf meine Ausgrabungen auf La Micoque"
(Leipzig 1916) gelangt er nun auf Grund mehr
als zehnjähriger Grabungen und Sonderstudien
zur Aufstellung eines „Micoquien".
Es ist Hausers großes Verdieust, unbeirrt
von den landläufigen Vorstellungen über die
typologische Gliederung des Paläolithikums, aus
den Ergebnissen der bisher umfangreichsten
an einer paläolithischen Station geleisteten
wissenschaftlichen Ausgrabungstätigkeit den
Schluß gezogen zu haben , zu dem allein ihn
das in seinem Umfange fast unübersehbare
Fundmaterial zwang. Die Station von La Mi-
coque liefert bekanntlich Formen, die an die
Typen des Acheuleen erinnern neben solchen,
die denen des Mousterieu oder solchen des
Aurignacien ähnlich sehen. So wurde das Mico-
quien bald als Acheuleen, bald als Mousterieu,
bald als oberes Mousterieu behandelt, je nach-
dem diese oder jene Stücke als atypisch oder
„banal" für die Beurteilung des Formenkreises
außer acht gelassen wurden. Die erstmalige
volle Berücksichtigung sämtlicher Formen und
Werkzeugtypen durch Dr. Hauser machte eine
Einreihung der Gesanitiudustrie von La Mi-
coque in das Mortilletsche System unmög-
lich und führte zur Aufstellung des neuen
Micoquien.
Der durch Textfiguren, Profile, Pläne und
prächtige Farbendrucktafeln in hervorragender
Weise dem Verständnisse näher gerückte Text
des Werkes bringt im einleitenden Kapitel einen
Überblick über die Geologie, Paläoklimatologie
und Paläontologie des Vezcretales, der mit einer
sehr bemerkenswerten Fauuenliste der archäo-
logischen Epochen schließt, die für weiter-
gehende chronologische Parallel isierun gen von
allergrößter Bedeutung ist. Der nun folgende,
zehn Seiten umfassende Abschnitt über quartäre
Siedelungsveihältuisse in der Dordogne ist reich
an interessanten Ausblicken lind wichtigen An-
regungen auf einem bisher noch kaum beach-
teten Forschungsgebiete. Ausführlich werden
sodann die Geschichte und die Technik der
Ausgrabungen auf La Micoque behandelt. Die
aus reicher Erfahrung eingegebene sorgfältige
Hausersche Ausgrabungsmethode kann als vor-
bildlich für die Praxis des Diluvialforschers
gelten. Au ihrer Hand lernen wir in der vor-
liegenden Studie das komplizierte Profil von
La Micoque bis in alle Einzelheiten kennen.
Das bemerkenswerteste Resultat dieser minu-
ziösen Profilaufnahme ist die Feststellung eines
absolut homogenen Charakters von Artefakt
und Fauna durch alle Schichten hindurch. Vor
allem kommt die Micoquekeilspitze in absolut
gleicher Formentwickelung in hohen und tiefen
Horizonten vor. Dies ist für Hauser das
ausschlaggebende Moment für die neue Chrono-
logie von La Micoque gewesen.
Unter den Fossileinschlüssen der über 6 m
mächtigen Schichtenfolge von La Micoque sind
72
durch ihr summarisches Übergewicht vor allein
die Reste eines Pferdes bemerkenswert. Nach
Studer gehört das Pferd von La Micoque
einer großen Form an, die im Durchschnitt die
Art von Solutre an Schwere übertrifft. Im
ganzen fand sich bis jetzt in La Micoque
folgende Fauna: Equus caballus, Bison priscus,
Elephas antiquus, Cervus elaphus, Ursus spe-
laeus, Rhinoceros Merckii, Hippopotamus major.
Es ist also eine auf eine Interglazialperiode
weisende Tiergemeinschaft. Zur chronologi-
schen Fixierung der Industrie von La Micoque
ist jedoch diese Feststellung allein nicht aus-
reichend. Es bedarf dazu einer Einzelprüfung
des Kulturinventars.
„Das Gesamtbild der Industrie von La Mi-
coque zeigt zweifellos einen merkwürdig ge-
mischten Charakter." Wir haben da zunächst
verschiedene Formen von „Faustkeilen" ; vor
allem die elegant gearbeitete „Micoque -Keil-
spitze". Es ist aber gleich zu bemerken, daß
diese Micoquespitze nicht etwa als Leitform für
das Micoquien gelten kann, denn sie fehlt an
anderen Micoquienstationen und wird durch
Faustkeile anderer Formen und Ausführung
vertreten. Ferner rinden wir in La Micoque
Disknsformeu, Moustierspitzen, Bohrer, Kratzer,
Schaber oder Schäler in Rechteck- und Dreieck-
form, mit konvexer oder konkaver Arbeitskante,
Kielschaber und eine mannigfache Kleinindustrie.
Die Feststellung dieses gemischten Werkzeug-
charakters bei voller archäologischer Einheitlich-
keit aller Horizonte von La Micoque ist von
allergrößter Tragweite. Die Tatsache, daß in
einer einheitlichen paläolithischen Ablagerung
Instrumente, die au das Acheuleen erinnern,
mit solchen, die man für sich allein dem
Mousterien oder gar dem Aurignacien zuweisen
würde, regellos vergesellschaftet auftreten, ist
geeignet, das französische, rein typologische
System des Paläolithikums ernstlich zu er-
schüttern und endlich den Wunsch nach einer
gesicherteren chronologischen Grundlage für
die Diluvialarchäologie laut werden zu lassen.
Daß selbst gewisse Formen von La Micoque
von bekannten Forschern für „Archäolithen"'
oder „Eolithen" gehalten wurden, ist sehr be-
merkenswert.
Ilauser fand in La Micoque neben 60 Proz.
Sondert} pen '25 Proz. aurignacieiiähnliche, 10 Proz.
nioiisterienälmliche und 5 Proz. acheuleenähuliche
Stücke. Nach ihm haben bei sämtlichen Instru-
menten des Micoqueformenkreises die Schneide-
rlächeu zwei übereinanderliegende Reihen von
Retuschierungen, wie solche sonst erst aus dem
Aurignacien bekannt waren. Der in der Be-
avbeitungsweise hervortretende Aurignac- Cha-
rakter zahlreicher Instrumente von La Micoque
führt neben der iuterglazialen Begleitfauua dazu,
die eigenartige Kultur zwischen das bisherige
Alt- und Jungpaläolithikum und geologisch in
die letzte Interglazialperiode einzureihen. Diese
von Hauser in der beigefügten diluvialchrono-
logischen Tabelle klar dargelegte Fixierung
macht seine Ausführungen gegen dieWiegers-
sche Auffassung des Micoquien als warmes
Mousterien der letzten Interglazialperiode nicht
recht verständlich. Der Schwerpunkt zwischen
den Auffassungen von Wiegers und Häuser
liegt doch darin , daß ersterer das klassische
Mousterien der Micoquekultur zeitlich folgen
läßt, während dasselbe bei Hauser, sich dem
Acheuleen anschließend, vorhergeht.
In einer Fußnote am Schluß der markanten
Arbeit wird kurz einer Reihe von deutscheu
und schweizerischen Fundstätten gedacht, deren
Artefakte nach Hauser seinem neuen Micoquien
zuzuweisen sind. Möge das Buch, dessen ge-
diegener Inhalt, wie gesagt, unter anderem dem
französischen Paläolithschema einen schweren
Stoß versetzt, auch fernerhin zu Forschungen
über den Eiszeitmenschen in Deutschland an-
regen, in dem Laude , in dem die eiszeitlichen
Gletscherablageruugen allein eine sichere chrono-
logische Fixierung seiner Kultur- und Knochen-
reste ermöglichen.
Der Urtypus der Schmalhacke.
Von Dr. C. Mehlis, Prof. a. D. u. Konservator i. E.
Mit zwei Abbildungen.
Unter „Schuhleistenkeil", Lochaxt,
Schmalhacke, Bodenhacke werden in der
prähistorischen Archäologie und in der Ethno-
logie geschliffene, schmale, dicknackige bis dünn-
nackige Steinhacken verstanden, deren untere
Laufbahn in gerader oder etwas nach oben,
vorn und hinten aufgebogener Linie verläuft
und deren Kamm eine elliptische, nach oben
ausgebogene Linie aufweist (vgl. Fig. 2: eine
Schmalhacke aus der nördlichen Vorderpfalz,
73
Lauge 13,4 cm, Breite 2,5 cm, Höhe 3,5 cm;
vgl. Mehlis, Die sogenannten Schuhleistenkeile
der neolithischen Zeit, im Zentralblatt für An-
thropologie 1901, 3. Heft, S.-A., S. 3, Nr. 11 u.
S. 4 bis 5).
Wie der Verfasser in der eben angeführten
Spezialuntersuchung, sowie in einer im Jahre
1888 veröffentlichten Arbeit — „Hacke und Beil
am Mittelrhein zur Steinzeit", aus „Mitteilungen
der Polliehia", S.-A., S.5 bis 10 — nachgewiesen
hat, dienten diese Schmalhacken nicht zur Holz-
bearbeitung, wie Ingenieur Thomas annahm
(vgl. Mehlis, Die Schuhleistenkeile, S.-A., S. 1),
wozu sie wegen der zu stumpfen Angriffsfläche
nicht geeignet sind (vgl. a. a. O. S. 5), sondern,
wie jetzt die meisten Archäologen nach dem
Vorgange des Verfassers annehmen '), zur Be-
arbeitung des Bodens — als Bodenhacke. Auf
baues, und zwar auf Lößboden in Verbindung
zu setzen ').
Allein diese zweckvollendeten Artefakte
springen nicht wie Pallas Athene „fix und fertig"
aus dem Haupte des Kroniden; sie müssen eine
Vorgeschichte, eine Genesis durchgemacht
haben, ein Gedanke, dem meines Wissens bisher
noch niemand näher getreten ist.
Ein Zufallsfuud, den der Verfasser Ende
September 1916 zu Neustadt a. d. H. machte,
führte auf diese Spur.
Unmittelbar nordwestlich von Neustadt a.d.II.
liegt in etwa 220m Seehöhe die isolierte Muschel-
kalkinsel, „Vogelgesang" oder „Vogelsang" ge-
nannt. Hier fand der Verfasser schon vor einem
halben Menschenalter aus lagerhaftem Hörn stein
geschlagene rohe Messerchen und Pfeilspitzen
auf von unbekanntem Alter 2), ferner drei band-
Fig. 1.
d r
Paläolithische Schmalhacke vom „Vogelgesang" bei Neustadt a. d. Hart.
den Samoainseln diente ein ähnliches Werkzeug
zu diesem Zwecke (vgl. Mehlis, Der Grabfund
von Kirchheim a. d. Eck, S. 18 bis 19, mit Ab-
bildung des Originals, Fig. 1).
Vergesellschaftet finden sich diese ge-
schliffenen Bodenhacken nach der in meiner
„Ligurerf rage"3) gegebenen Übersicht von den
Höhlen Liguriens an durch die Dauphine, das
Elsaß, die Pfalz, Rheinhessen bis zum Taunus
und weiter rheinab mit den Funden der Band-
keramik.
Zweifellos sind diese Bodenbearbeitungs-
werkzeuge mit dem Betriebe eines rohen Hack-
*) Auch Hermann Hirt und Schötensack
schließen sich meiner Ansicht an; vgl. Hirt, Die Indo-
germanen, Bd. 1, S. 350 und Verhandl. der Berl. anthr.
Gesellsch. 1897, S. 493.
*) 2. Abteilung, S.-A., S. 28.
keramische Werkzeuge, das Hinterteil einer
Schmalhacke, eine Breithacke und einen Meißel.
Beim Durchschreiten des dortigen „Kübelweges"
stieß der Verfasser mitten im Wege auf ein
sonderbares Artefakt (vgl. Fig. 1). Die Farbe
ist grauweiß. Das Gestein besteht aus festem,
x) Den Löß als Bodenart führt wiederholt A. Seh Hz
au; vgl. Die Sammlungen des hist. Museums zu Heil-
bronn, S. 23 und sonst mehrfach.
2) Über diese Muschelkalkinsel vgl. Laubmann
in den Jahresberichten der Polliehia, 25. bis 27. Jahrgang,
S. 83 bis 84; C. W. von Gümbel: Geologie von Bayern,
2. Bd., S. 1015 u. 1040. — Die oben erwähnten Horn-
steinartef akte bildeten insofern ein Stratum, als
sie in der Nähe der dortigen Hornsteinbank lagen, die
den höchsten Teil des Kammes am „Vogelgesang" vor
ihrer Zerstörung — um 1900 — gebildet hat und weiter
höher eine Reihe von römischen Pfeilspitzen fest-
gestellt wurde. Der von Neustadt nach Haardt früher
über die Höhe führende alte Weg ist ein Bömerweg;
unmittelbar nach Osten stand eine römische Spectila.
10
74
dichtem kristallinischen Muschelkalk, den eine
weiße Verwitterungsrinde bis auf einige
verletzte Stellen umzieht und der an manchen
Len in Hornstein übergeht.
i je 11,3 ein
Größte Höhe ...... 4,6
Breite 3—4,1 „
Da nun an der Schneide ein Defekt vorhanden
ist, so mag die ursprüngliche Länge 12 bis 13cm
betragen haben. Das Stück ist nicht geschliffen,
wohl aber sorgfältig behauen, so daß weder
an der Unterseite, noch an den Seitenflächen
eine größere Unebenheit störend vortritt. Die
zur Schneide auf S cm Länge abfallende Vorder-
Säche verbreitert sich von der hohen „Schulter"
an bis zu 3 cm nach vorn, während nach rück-
wärts zum „Haupte" zu nur eine abgerundete
Kante besteht. Die beiden Seitenwangen fallen
Erdscholle oder des Gesteines geeignet und
„gemacht". Das Haupt ist hier — c bis e, ,wie
dort cbist', abgeschrägt, damit die aus Holz und
Bast bestehende Bindung1) besseren Halt tindeu
konnte.
Was die Dimensionen des Neustadter
Stückes anbelangt, so stimmen sie in der Länge
mit den vom Verfasser — Schuhleistenkeile der
neolithisehen Zeit, S. 3 — untersuchten neoli-
thischen Schmalhacken Nr. 11, 12, lo, 14 über-
ein; iu der Breite mit 7, 8, 11, 16, 17; in der
Höhe mit 9. Die Maße bei der Neustadter Boden-
hacke korrespondieren also im allgemeinen mit
denen der neolithisehen Werkzeuge, jedoch ein
völlig identisches Artefakt ist unter letzteren nicht.
Auch diese Tatsache bringt mit der Be-
hauung, der rohen Ausführung zum Ausdruck,
daß wir in der Neustadter Schmalhacke den
Fig. 2.
Neolithische Pchmalhacke aus der Vorderpfalz.
fast senkrecht nach unten zu ab. Die Laufbahn,
welche die Basis bildet, ist nach hinten zu auf
2,5 cm Länge abgeschrägt, nach vorn zu horizontal
gestaltet, mit Spuren von Abnutzung, die bis f
reichen. Nahe der Schneide — bei d — sind
7 scharfe Kerben sichtbar; nach meiner Ansieht
Spuren der Bearbeitung, die mit einem scharfen,
piekelartigen „Faustkeil" erfolgt sein muß. Die
Formgebung war eine bewußte, sonst hätte
der Lapicida sich wohl „verhauen". Er wußte,
worum es sich bei dem arte factum instrumentum
handelte, um ein Werkzeug, das zum Aufreißen
eines harten und widerspenstigen Urbodcns
dienen sollte.
Deshalb entsprechen auch die Umrisse und
Flächen in technischer Bewertung hier genau
der neolithisehen Bodenhacke dort. Man
vergleiche unbefangen Fig. 1 mit Fig. 2, und
man wird zu demselben Ergebnis gelangen.
liier wie dort die Arbeitsflächen a bis b und
a bis c; jene zum Eindrücken in den Boden, die
an der Stirn — bei c — ihren die Kraft retar-
dierenden Widerstand und Gegendruck fand,
diese zum Aufgreifen und zur Entfernung der
Urtypus der späteren geschliffenen und tech-
nisch verfeinerten Bodenhacke der Baud-
keramiker, d. h. der ligurischen Steinzeitbevölke-
rung der Rhone- und Rheinlandsebaften vor
uns haben. Als geeiguetste Zeit und bester
Kulturabschnitt bietet sich für diesen Urtypus
das Campignyen dar 2).
Daß sowohl am Donuersberg, wie gleich
unterhalb obiger Fundstelle von Neustadt a. d.
Hart zwei Camp igny Stationen vorhanden
sind, hat der Verfasser erst jüngst an dieser
Stelle 3) nachgewiesen. Der obige Befund ver-
tieft noch diesen primitiven Kulturkreis.
*) Vgl. das Samoaexemplnr: Grabfund von Kirch-
heim a. d. Eck, S. 78; hier Holzfassung und Kokosschnur-
umwickelung.
2) Vgl. Literatur bei Mehlis, Eine neolithische
Station (Campignyen) vom Donnersberg, 1916, S.-A.,
S. 5; dazu kommt noch A. Schliz, a. a. O., 8.20. Die
Campigny- Menschen kannten bereits Getreide (Hirse)
und dessen Verwendung.
3) Vgl. Korrespondenzblatt tl. D. Gesell, f. Anthro-
pologie, Ethnologie und Urgeschichte 1916, Nr. 7 bis 9;
Mcsolithische Stationen vom Donnersberg und aus der
Vorderpfalz.
75
Und wenn der Verfasser x) früher den Nach-
weis erbrachte, daß die Zone der Band-
keramik in Mitteleuropa mit der Ausbreitung
der Ligurer, den Angehörigen der Rasse des
homo mediterraneus2), vom Rande der Pyrenäen
J) Vgl. Die Ligurerfrage, II, S. 28.
2) A. Schulten, Nurnantia I, kam in letzter Zeit
unabhängig von des Verfassers „Ligurerfrage" zum
selben Resultat.
bis zum mons Cetius und der Wien = Vienna,
zusammenfällt, deren Hauptinstrument für ihren
rohen Hackbau die Schmalhacke oder Barock,
genannt der Schuhleistenkeil, war, so liegt der
Schluß nahe, daß die nachweisbar älteste Aus-
strahlung dieser Urbevölkerung der Mittelmeer-
länder, die in der Campigny kult m Oberitaliens,
Nordfrankreichs, West- und Ndrddeutschlands,
vorliegt, den Urligurern angehört und somit
auch der „Urtypus der Schmalhacke".
Von den Steingeräten
der Völkerschaften in Sachsen -Thüringen.
Von Bär thold -Halberstadt.
Mit 13 Abbildungen.
Die steinzeitlichen Gefäße mit ihren Ver-
zierungen sind in vieljährigem Forscheu immer
feiner unterschieden und in ihrer Verbreitung
festgestellt, zuletzt von Schumacher „Stand
und Aufgaben der neolithischen Forschung",
Bonn 1916, mit der Mahnung, nun auch die
Werkzeuge mehr zu berücksichtigen. Bisher
ist auch nur der „Schuhleistenkeil" der süd-
licheren, das Beil aus Wiedaer Schiefer der
nördlicheren Völkerschaft und der vielkantige
Hammer den Leuten mit den Amphoren als
eigentümlich zuerkannt, nud doch vollendet sich
in den Waffen und Werkzeugen die durch-
greifende Verschiedenheit der Kulturen. Es
wdrd daher allmählich festzustellen sein, was
ausschließlicher Besitz der einzelnen Völker-
schaften war, und was sie gemeinsam mit anderen
gebrauchten.
Durch ihre Größe und höchst geschmack-
volle Form zieht in Sachsen - Thüringen eine
sehr langirestreckte Axt die Blicke auf sich
(Fig. 2). Es ist eine Axt, denn Schneide und
Schaftloch haben die gleiche Richtung, während
bei der Hacke die Richtungen beider sich
kreuzen. — Aus Spuren der Verschniirung an
der Axt im Leubiuger Fürstengrabe schloß
Höfer, daß sie zwischen Wangen durch einen
Pflock befestigt hackenförmig geschattet war.
Das würde indes für den ursprünglichen Ge-
brauch nichts entscheiden, denn in der Bronze-
zeit war sie offenbar ein Fundstiick; die Meister
dieser Form hatten wohl schon geraume Zeit
den eingewanderten Germauen das Land völlig
überlassen.
Wie bei den gleichgeformten Meißeln, den
Schuhleistenkeilen, wird die Schneide von einer
stark gewölbten und einer ganz flachen Seite
I gebildet, so daß sie eigenartig gebogen ist.
I Bei der ersten Beschreibung der Gräber vom
Hinkelstein (Archiv f. Anthropol. 1868) meinte
Lindenschmit, die flache Seite sei durch
stärkeren Gebrauch abgeschliffen. Die Absicht-
lichkeit der Form wurde bezweifelt, weil die
Zweckmäßigkeit nicht ersichtlich war.
Besonders elegant sieht die Axt aus, wenn
die flache Seite verschmälert ist und damit die
beiden durchlochten Seiten etwas gewölbt sind.
In der Regel besteht sie aus Diabas, Diorit
oder schwarzem Kieselschiefer, also zähem und
hartem Gestein , das auch schöne Politur an-
[ nimmt. Sie ist wie der Schuhleistenkeil ein
Werk der südlicheren Völkerschaft — Krause
und Schötensack vermerkten ihr Fehlen schon
in der Altmark — und sie beweist auch den-
selben starken Sinn für Maß und Form wie
diese ganze Kultur. Unter 16 Stück der großen
Form haben 3 eine Länge von 29 cm, 9 die
Länge von 31 bis 33 cm und 4 andere sind
schätzungsweise ebensolang. Das ist sicherlich
nicht Zufall, sondern Absicht, zumal die Schwan-
kungen von Verkürzung durch Nachschleifen
kommen können oder davon, daß jeder das Maß
von sieh selbst nahm, denn es ist, wie Kauff-
mann bemerkt, die Länge des Oberarms, aber
auch — und das ist ein bequemeres Maß —
die innere Länge des Unterarms mit der Faust,
und es ist das bis zur Annahme des Meters so
weit verbreitete Maß „der Fuß", 32,5 cm. Die
größte bekannte Axt in der Sammlung Schröder
in Hainichen mißt 42 cm, das ist die äußere
Länge des Unterarms mit dem Daumen bei
einem Mann von etwa 1,75 xn; die kleinsten
haben nur reichlich Fingerlänge, so daß die
größte Axt gerade viermal so lang wie die
76
kleinste ist. Ahnlich Fig. 3, denn auch die
hochgewölbten Meißel steigen in der Länge von
6 bis 40 cm.
Diese Äxte zeigen meist keine Gebrauchs-
spuren, ihre glänzende Glätte ist vortrefflich
erhalten, nur im Schalt loch sind sie nicht selten
gebrochen, und dann ist. ein neues Loch gebohrt
oder doch angefangen. Manche haben frische
Bruchstellen und Scharten, sie sind von den
ersten Findern zerschlagen, auch vom Pfluge
Werkzeuge der südlicheren Völkerschaft mit Spiral-Mäander
und Stiebband - 1 iefäßen.
Abgebildet ist jedesmal das größte Stück aus dem Harz-
gan oder aus Gatersleben im Nachbargau , nur Abb. 2 ist —
dank freundlicher Mitteilung — von Gügleben, S. -Meiningen ;
hier eingeschaltet, weil ihre Größe mit Abb. 8 übe] einstimmt
(42 cm), und 4a weil aus zweifelfreiem Gesamtfunde.
1. Doppelaxt von Gatersleben Yg. 2. Größte hochgewölbte
Axt Sammlung Seh r iid er-Hainichen %. zugleich die kleinste
Axt von Gatersleben in y2 natürlicher Größe. 3. Hochgewölbter
Meißel von Gatersleben VB; in Vs Größe, z.B. S. Franke-
Rohrsheim. 4. Flachgewölbter Meißel S. Franke %. 4a Faust-
messer von Wolmirstedt 1/a. 5. Flachgewölbte Harke von
Gatersleben i/o.
beschädigt. Es ist öfter noch zu bemerken,
daß sie aus dem Gesteiu herausgesägt sind eben
in der gewollten Länge.
Die Doppelaxt (Fig. 1) schließt sich eng an,
ist aber hackenförmig geschattet, das Bohrloch
gi lit durch die Mitte der gewölbten und der
flachen Seite; von da an senkt sich die ge-
wölbte Seite ganz allmählich zur Schneide. Auch
bei gleicher Größe wie die Axt — 32 cm und
darüber — ist sie niedriger und schmaler; die
Wand isl daher schwach und die Schneiden
sind dünn ausgezogen. An ernstlichen Gebrauch
ist nicht zu denken, sie muß wohl ein 'Sinnbild
gewesen sein wie bei anderen Völkern.
Auch eine der Doppelaxt entsprechende
ETanimeraxt ist gefunden, aber ganz selten; ein-
zelne wurden nur geformt, weil eine Schneide
abgebrochen war.
Neben den hochgewölbten Formen waren
auch flachgewölbte Meißel in Gebrauch, die
ebenfalls eine Länge von 32 cm erreichten
(Fig. 4) , vielleicht auf das Nachschleifen be-
rechnet. Die übliche Größe ist rund 15 cm bei
einer Breite von 6,5 cm an der Schneide; sie
sind ebenfalls schön geformt und geglättet.
Viel zahlreicher sind die kleinen, die den Schabern
aus Feuerstein entsprechen. An einer Fund-
stelle, der Gatersleber Warte zwischen Halber-
stadt und Ascherslebeu, sind über 70 gefunden,
fast der fünfte Teil aller Fundstücke, zusammen
mit den nicht gewölbten Schabern beinahe die
Hälfte.
Einige solcher Breitmeißel sind durchlocht
und also zu Hacken geformt (Fig. 5). So konnten
sie gut zur Garteuarbeit dienen, aber für so
allgemeinen Gebrauch sind sie viel zu selten:
es wird der hölzerne Grabstock angewendet sein.
Um lange Schnitte, z. B. in Leder und Stoff,
zu führen, war, wie die Gräber am Hinkelstein
zeigten, ein Werkzeug mit gerader, nicht ge-
wölbter Schneide im Gehrauch (Fig. 4a); doch
auch mit spitzem Nacken und gerundeter
Schneide wie die Jadeitbeile. Bei Wolmirstedt,
Bezirk Magdeburg, war es zweimal mit je zwei
hochgewölbten Meißeln und einer Axt in der
Erde geborgen. Mit abgerundeten Kanten paßt
diese Form vortrefflich in die Faust und be-
durfte keiner Schaffung ; sie scheint aber auch
allein von allen Werkzeugen dieser Kultur ge-
eignet, in Holzkeule eingefügt, als Waffe zu
dienen — wie Schumacher, Fig. 11 — , doch
ist sie nicht zahlreich.
Die vielen Waffen und Werkzeuge der nörd-
lichen Völkerschaft aus kunstvoll bearbeitetem
Feuerstein sind längst als ihr eigentümlich er-
kannt, auch die nicht so weit verbreiteten,
gleichfalls bewundernswert geformten Äxte und.
Hammeräxte. Aber südlich von Magdeburg
nach Thüringen hin werden nur eben noch so
viel Dolche und Speerspitzen, Doppeläxte,
Hämmer und Beile gefunden, um die Herkunft
der Eiuwranderer zu bezeugen. Die ausgezeichnet
gearbeitete Hammeraxt (Fig. 7) ist hier wie in
Jütland in Einzelgräbern gefunden, in Kloster
Groningen auch wie dort mit schön geschliffenem
Feuersteinbeil und Fenersteinspan, der in diesem
77
Grabe ganz außergewöhnlich groß war, 21,5 cm
lang. Nur die großen Bernsteinscheiben , im
Kopenhagener Führer unter Nr. 30, fehlen
bis jetzt.
Mitgebracht ist auch die linsenförmige Stein-
scheibe (Fig. 11), da ihre Heimat durch die
große Riesenstube auf Sylt und Gräber in Jüt-
land erwiesen ist. Obschon sie nicht hantig ist,
scheint sie noch hier augefertigt zu sein, denn
einige schöne Exemplare bestehen aus schwarzem
Kieselschiefer, der im Norden nicht vorkommen
soll. Bisweilen ist die Schneide ringsum stark
abgenutzt — z. B. in Rossen und dem Grabe
auf Sylt (Altert, h. Vorzeit 5) — , was mehr
auf den Gebrauch als Werkzeug denn als Waffe
deutet.
In dem neuen Gebiet vereinfachten die
„Urgermanen" die Gefäße zum Bernburger Stil,
die kleinen Beile wurden ans Wiedaer Schiefer,
der im Harz ansteht, gefertigt, die mittleren
(Fig. 10) behielten die Form des Rechtecks,
wurden indes in anderem Gestein stärker ge-
macht. Die großen Äxte bekamen eine ganz
andere Gestalt; sie siud lang uud schlank, zu-
weilen gleich hoch und breit (Fig. 8). Wenn
die Kanten, was oft der Fall ist, abgerundet
sind, sehen sie den hochgewölbten Äxten so
ähnlich, daß au eine Beeinflussung zu denken
ist. Sie sind noch länger und schwerer; die
oben erwähnte Länge von 42 cm ist hier öfter
gemessen, bei Wolmirstedt wurden unter einem
großen Stein drei Stück von 45, 37 und 34 cm
gefunden und bei Burgscheidungen sogar die
riesige Größe von 49 cm, die auch die größesten
nordischen Fenersteinbeile noch überbietet.
Diese walzenförmige Axt ist nicht so
vollkommen und nicht so genau nach gleichem
Muster gearbeitet wie die hochgewölbte; ver-
tiefte Stelleu siud geblieben, die Stellung des
Schaftloches schwankt, das Bahnende ist gerade
abgeschnitten oder gerundet, auch schräg wie
bei der folgenden Form, doch wird ihre Eigen-
art dadurch nicht verwischt. Nachschleifen ver-
kürzte und veränderte insofern, als dann die
Schneide nicht mehr so allmählich erreicht wird,
sondern scharf keilförmig ist.
Eine Axtform von größerer Breite, die rund
1 3 der Länge beträgt, fällt dadurch auf, daß
die Breitseiten nur flüchtig geglättet sind, ebenso
das Bahnende und dieses ist — das kennzeichnet
die Form — immer schräg. Voß und Stimming
beschrieben sie schon von Brandenburg und
bemerkten , daß sie nach Süden verbreitet sei.
Gleichwohl kann sie nicht den südlicheren Völker-
schaften zugeschrieben werden , sie weicht zu
weit von der symmetrischen Gestaltung und
sorgfältigen Bearbeitung in dieser Kultur ab.
Es ist zunächst eine natürliche Form, veranlaßt
durch Geschiebestücke schieferiger Gesteine,
denen nur eine Schneide uuzuschleifen und ein
Loch zu bohren war; aber im Gebiet der Bern-
burger Gefäße erreicht diese Axt eine Länge
von 34cm bei 7cm Stärke, ist auch öfter all-
seitig gut geschliffen, so daß sie ein schief-
seitiges Dreieck darstellt. Es siud sehr wuch-
tige Keile, die wohl Baumstämme spalten konnten.
Waffen und Werkzeuge der nördlichen Völkerschaft
mit Bernburger Gefäßen.
6." Doppelaxt von Gatersleben V8. 7. Hammeraxt von
Kloster Groningen S. Klamroth und Rhoden am Fallstein V8.
8. Walzenförmige Axt S. Klamroth 1/g , gleich groß von
Gatersleben. 9. Schiefdreieckige Axt S. Ahlf eld-Groß-
Quenstedt Yg. 10. Rechteckiges Beil vom Bocksberg bei
Derenburg Y8. 11. Linsenförmige Scheibe von Nienhagen Y8.
12. Dolch von Rhoden '/8, auch S. Franke. 13. Messer von
Crottorf V8 . auch Groningen, Bocksberg, S. Ahlfeld,
S. Franke.
Bei dem schrägen Bahnende wirkte der Schlag
des Holzschlegels auf eine Kaute, nicht auf
die Mitte, die durch das große Schaftloch ge-
schwächt ist.
Ganz neu scheint hier dem Besitzstande ein
spitzes Steiumesser eingefügt zu sein, wohl als
Ersatz desFeuersteindolches. Nur wenige Stücke
von mäßiger Größe sind noch gut erhalten,
aber in den Siedelungen auf dem Gertling bei
Groß-Queustedt und dem Bocksberge bei Deren-
burg haben sorgfältige Sammler Bruchstücke
78
in größerer Zahl aufgehoben, deren Rücken bis
zu 1 cm stark ist, so daß sie den schweren
Eisenmessern späterer Zeiten gleichkommen.
Außerdem gehören dem nördlichen Gebiete kurze
gewichtige Axthämmer an, so hoch und noch
höher wie breit, gleich geeignet zu Hieb und
Wurf. Das „Faustmesser", wie sich vielleicht
bezeichnender als „Keil" sagen läßt (Fig. 4a),
ist wohl von beiden Völkerschaften gebraucht,
im nördlichen Kreise nur etwas kräftiger ge-
formt, ebenso die flachen Schaber, die vier-
kantigen Meißel und Feuersteinspäne. Nur zu
diesen und vielleicht auch kleinen Keilen reichte
der einheimische Feuerstein.
Der Besitz der Urgermanen war also reich-
haltiger namentlich an Waffen, die im Nachlaß
der südlichen Völkerschaft geradezu fehlen. Die
Lust am Betätigen der Kraft, die sich im Auf-
bau von Gräbern ans Felsblöcken von mehreren
hundert Zentnern ausspricht, erweist sich auch
in der Wucht der Werkzeuge und Waffen.
Zu diesen beiden Kulturen gesellt sieh be-
sonders oft in Thüringen noch der kunstvoll
geschliffene vielkantige Hammer, der mit dem
kleiuen Feuersteinbeil die Amphoren begleitet.
Andere Waffen und Werkzeuge dieses Volks-
stammes sind noch nicht nachgewiesen, auch
größere Siedelungen ergaben davon nichts
(Schlesiens Vorzeit 1916), außer dem dortigen
Serpentinhammer. Doch könnte Grössler ans
Amphorengräbern bei Burgscheidungen vier
Steinbeile bekannt machen, die eigenartig genug
siud, mn sie dieser Kultur als eigentümlich zu-
zuerkennen. Vierkantig geschliffen sehwellen
sie auffallend stark von beiden Enden zur Mitte
an, bei einer Länge von 14 cm und halb so
breiter Schneide in der Mitte 3,5 cm dick, am
Bahnende aber nur 1,5 cm, so daß die Seitenflächen
dem Durchschnitt einer Linse nahekommen.
Es bleibt bemerkenswert, daß bei diesem
Volksstamm, dessen Amphoren und Becher meist
geschmackvoll geformt und verziert sind, dessen
vielkantiger Hammer ein Meisterwerk ist, wieder-
holt ungemein dickwandige Schädel mit sehr
starken Augenbrauenwülsten und fliehender
Stirn beobachtet sind. In den Mitteilungen aus
dem Prov.- Museum Halle 1894, S. 18 und 20,
beschrieb Direktor Schmidt zwei solche Schädel
aus Hügelgräbern bei Querfurt und v. Wein-
zierl in den Mitteilungen der Anthropologischen
Gesellschaft in Wien 1894 aus einem Grabe
mit Amphora und Becher bei Lobositz einen
Schädel, der dem vom Neandertal sehr nahe
kommt. Hierher kann auch das „Urvolkgrab"
in Mecklenburg mit gleichem Schädel gehören
(Beltz, S. 108), da Kugelamphoren dort nicht
fehlen. In den meisten beschriebenen Gräbern
waren die Gebeine bereits aufgelöst; so ist
nicht zu beurteilen, wie häufig diese anffalleude
Schädelform war.
Die Mischung des Nachlasses zeigt sich recht
deutlich an der hier schon oft genannten Warte
hei Gatersleben. Dort wurden von Pastor
Theune durch 26 Jahre für mich gesammelt
aus der südlicheren Kultur: 3 Doppeläxte und
eine kleine Hammeraxt , 7 hochgewölbte Äxte,
67 hochgewölbte Meißel, darunter 12 von der
zierlichen Zwergform, 14 Breitmeißel (Fig. 4),
73 flachgewölbte Schaber, 2 Hacken (Fig. 5);
von der nördlichen Kultur: 5 walzenförmige
Äxte, 7 mit schräger Bahn, 12 rechteckige
Beile (Fig. 10), 3 kleine spitzovale Hammeräxte
und 6 Hammerbeile zum Anbinden. Wohl beiden
gemeinsam: 11 Faustmesser (Fig. 4a), 104 flache
Schaber, 12 vierkantige Meißel; dann noch
4 vielkantige Hämmer. Auf dem Tie bei
Gatersleben sind neben Gefäßen und Werk-
zeugen der südlicheren Kultur 2 Amphoren,
1 Becher und Feuersteinbeile gefunden.
Reklamationen und sonstige Mitteilungen
sind an die Adresse des Herrn Professor Dr. K. Hagen, Hamburg 13, Binderstraße 14, zu senden.
Ausgegeben am In. Januar 1917
-
GN Deutsche Gesellschaft für
2 Anthropologie, Ethnologie und
D485 Urgeschichte
Jg. 4.6- Korrespondenz-Blatt
47
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