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Full text of "Korrespondenz-Blatt"

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Korrespondenz-Blatt 


der 


Deutschen  Gesellschaft 


für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 


Herausgegeben  von 


Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg 


XLVI.  Jahrffan«:  1915 


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Braunschweig 

Druck  und  Verlag  von   Friedr.  Vieweg  &  Sohn 
19  15 


Inhalt  des  XL  VI.  Jahrganges  1915. 


Seite 

Nr.  1  bis  4.     Mitteilung  des  Vorstandes 1 

Karl  v.  Spiess,  Persönliche  und  unpersönliche  Kunst 2 

Nachruf  auf  Max  Höfler 20 

Nr.  5  bis  8.     J.  B.  Loritz,  Über  die  Herkunft  des  südbulgarischen  Dolichocephalus      21 

Hugo  Mötefindt,  Über  Alter  und  Herkunft  der  Kultur  des  Speltes  (Triticum  spelta  L.)    ....  26 

Max  Stein,  Ein  mineralogisches  Erkennungszeichen  prähistorischer  Feuersteinartefakte 30 

Emil  Fischer,  Dionysos-Sabazios 31 

L.  Knoop,  Rechter  Calcaneus  eines  Paläolithikers  aus  dem  Diluvium  von  Gr.-Winnigstedt  im  Kreise 

Wolfenbüttel 34 

Mitteilung  der  Schweizerischen  Naturforschenden  Gesellschaft 34 

Ernst  Lentz,  Methodische  Siedeluugsforschung 35 

Nr.  9  bis  12.     Albert  Kiekebusch,   Das   Aufsuchen  und  Feststellen  vor-  und  frühgeschichtlicher  Siede- 

lungsspuren 37 

Emil  Fischer,  Der  Anteil  des  Slavischen  im  Rumänischen 56 

Mitteilungen  aus  den  Lokalvereinen: 

Bonner  Anthropologische  Gesellschaft 62 

Literaturbesprechungen 73 

Außerordentliche  Allgemeine  Versammlung  der  Deutschen  Anthropologischen  Gesellschaft  in  Hamburg,  am 

18.  Oktober  1915 74 

Zum  Gedächtnis:    Prof.  Dr.  Eberhard  Fraas  und  Hofrat  Dr.  med.  Alfred  Sehliz 74 


Korrespondenz -Blatt 

der 

Deutschen  Gesellschaft 

für 

Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg. 


Druck   und  Verlag   von   Friedr.  Vieweg   &  Sohn   in    Braunschweig. 

XLVI.  Jahrg.  Nr.  1/4  Jänpiien  12  Nummern.  Jan.  /April  1915. 

Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw.  tragen  die  wissenschaftl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren;  e.  S.16  des  Jahrg.  1894. 

Inhalt:    Mitteilung   des   Vorstandes.    —   Persönliche   und   unpersönliche   Kunst.     Von    Karl  von   Spiess.    — 
Hofrat  Dr.  Max  Höfler.     Nachruf. 


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Mitteilung  des  Vorstandes 


Infolge  des  Krieges,  der  viele  Mitglieder  unserer 
Gesellschaft  zu  den  Fahnen  rief,  fiel  die  allgemeine 
Versammlung  im  Jahre  1914  aus,  gelegentlich  der  die 
Wahl  eines  zweiten  stellvertretenden  Vorsitzenden, 
des  Generalsekretärs  und  des  Kassenführers  statt- 
zufinden hatte.  Der  Vorstand  hat  beschlossen,  in 
seiner  bisherigen  Zusammensetzung  die  Geschäfte 
bis  zur  nächsten  allgemeinen  Versammlung  weiter- 
zuführen. 

Der  Generalsekretär 

Thilenius 


1 


Persönliche  und  unpersönliche  Kunst. 

Von  Karl  v.  Spiess,  Wien. 
(Mit   36  Abbildungen  im  Text.) 


Vor  einigen  Jahren  haben  die  kgl.  preußi- 
schen Kunstsammlungen  zu  Berlin1)  eine  Zier- 
platte aus  Bronze  (Fig.  1)  erworben,  die  dein 
skj  tb.isoh-sibiri8cb.en  Kunstkreise  zugewiesen  wird 
und  eine  menschliche  Gestalt  zwischen  zwei 
Tieren  zeigt.  Die  Leiber  dieser  Tiere  sind 
lang,  schmal,  in  der  Mitte  eingeknickt  und 
enden  unten  in  Köpfe  mit  aufgesperrten  Rachen, 
in  denen  sich  die  Füße  der  Figur  befinden. 
Bei  der  oberen  Endigung  der  Tierleiber  ist  es 
nicht  deutlich,  ob  es  sich  bloß  um  den  ge- 
ringelten Schwanz  oder  um  Vogelköpfe  handelt, 
die    nach   dem   Kopfe    der   Figur   picken.     Das 

Fig.  l. 


Fig.  2. 


Aus  Neu-Guinea J)  ist  seit  kurzem  ein  Schnitz- 
werk (Fig.  3)  bekannt,  das  seinem  Aufbaue  nach 
mit  der  zuerst  erwähnten  Zierplatte  große  Über- 
einstimmung zeigt.  Auch  hier  ist  ein  mensch- 
liches Wesen  beiderseits  von  Tieren  umgeben. 
Die  menschliche  Figur  ist  durch  Stilisierung 
ungemein  rückgebildet.  Der  Körper,  der  keine 
Gliedmaßen  hat,  ist  säulenförmig  gestaltet  und 
geht  an  beiden  Enden  in  einen  Kopf  aus,  von 
denen  der  obere  kreisrund  ist.  Zu  beiden  Seiten 
pickt  oben  und  unten  ein  Vogel  an  dem  Körper 
dieses  seltsamen  Wesens.  Die  Körper  der  Vögel 
einer  Seite  bilden  eine  Einheit,  so  daß  sich  da- 

Fig.  3. 


letztere  scheint  mir  wahrscheinlicher  zu  sein. 
Demnach  würde  es  sich  beiderseits  um  ein  Tier 
mit  zwei  Köpfen  handeln. 

Abgesehen  von  der  Seltsamkeit  der  Tier- 
gestalten und  der  steifen  symmetrischen  Haltung 
der  Glieder  der  menschlichen  Figur  ist  es  ohne 
weiteres  ersichtlich,  daß  es  sich  hier  nicht  um 
die  Darstellung  eines  iu  der  Natur  beobachteten 
Vorganges  handelt. 

Diese  Zierplatte  steht  mit  ihrem  Vorwurfe 
in  diesem  Kunstkreise  nicht  vereinzelt  da. 
Aspelin  bildet  unter  den  mordwinischen  Alt- 
sacheu 2)  eine  Bronzeplatte  (Fig.  2)  ab ,  die 
gleichfalls  eine  menschliche  Gestalt,  von  zwei 
Tieren  umringt,  wiedergibt.  Die  Tiere  besitzen 
hier  nur  unterseits  Köpfe,  ihre  Leiber  sind  mond- 
sichelförmig gekrümmt.  Von  dem  menschlichen 
Wesen  in  der  Mitte  ist  nur  der  Kopf  und  ein 
Teil  des  Leibes  deutlich  zu  erkennen,  während 
alles  andere  durch  Stilisierung  iu  Linien  auf- 
gelöst ist. 


x)  Amtl.   Ber.   d.   kgl.   preuß.    Kunstsammlg.    1907, 
8.  57  ff.,  Fig.  49. 

-i  Aspelin,  L'äge  du  Bronce,  8.  192,  Fig.  901. 


durch  Übereinstimmung  mit  der  Anordnung  der 
Tiere  in  Fig.  1   ergibt. 

Sicherlich  ist  dieses  Schuitzwerk  aus  Neu- 
Guinea  nicht  als  das  Erzeugnis  einer  seltsamen 
Laune  aufzufassen,  da  schon  nach  dem  bis  jetzt 
bekannten  Material  Darstellungen  vom  selben  Auf- 
bau daselbst  ungemein  verbreitet  sein  müssen. 
S  ch  lagin  häuf  en  2)  bildet  ein  beschnitztes  Brett 
aus  Sigrin  ab*  das  in  allen  Stücken  mit  Fig.  3 
übereinstimmt.  Wir  finden  zu  beiden  Seiten 
zweier  in  gegensätzlicher  Stellung  übereinander 
befindlicher  menschlicher  Gesichter  je  einen  Nas- 
hornvogel, wozu  nur  zu  bemerken  ist,  daß  die 
obere  Partie  deutlicher  als  die  untere  heraus- 
gearbeitet ist,  die,  obschon  noch  erkennbar,  doch 
stark  verwischt  ist. 

Diese  Bildwerke  aus  fernem  Osten  und  Westen 
stehen    nicht    vereinzelt    da.     Auf    dem    ganzen 


1)  v.  Luschan,  F.,  Zur  Ethnographie  d.  Kaiseriu- 
Augustaflussea,  Baessler  Arch.  I,  2. 

2)  Schlaginliauf  en ,  Ethnogr.  Sammig.  vom 
Kaiserin  -  Augustafluß.  Publikat.  d.  ethnogr.  Abt.  d. 
Dresdener  Museums,  XIII,  2;  S.  21. 


3 


Wege  finden  wir  ähnliche  Darstellungen.  Sie 
können  nicht  zufällig  entstanden  sein. 

Hierher  gehört  die  Darstellung  der  sume- 
rischen Untenveltsgöttiu  Ereskigal  (babylonisch 
Allatu)  auf  einem  assyrischen  Bronzerelief :) 
(Fig.  4).  Die  Komposition  zeigt  mit  Fig.  3  auf- 
fallende Übereinstimmung.  Die  Gruppe  befindet 
sich  in  einem  Halbmonde  (Nachen),  der  an  den 
Enden  Schwanz  und  Kopf  eines  Vogels  hat.  Mit 
den  Händen  wehrt  die  Göttin  zwei  Schlaugen 
ab,  ihre  Brüste  werden  von  zwei  Löwen  bedroht. 

Aus  Ägypten  kennen  wir  eine  Darstellung 
der  Göttin  Buto2),  nach  deren  Brüsten  zwei 
Krokodile  schnappen  (Fig.  5).  Die  ganz  unmög- 
liche Stellung  der  Tiere  zeigt,  daß  es  sich  hier 
nicht  um  die  Wiedergabe  eines  tatsächlichen 
Geschehens,  sondern  um  eine  Darstellung  mit 
untergelegter  Bedeutung  handelt. 

Von  Vorderasien  gelangten  derartige  Dar- 
stellungen  nach   Griechenland    und   Italien,  wie 


Fig.  5. 


mit  den  Händen  nieder,  indes  zwei  andere  ihre 
Schnäbel  nach  ihrem  Kopfe  richten ')  (Fig.  7). 
Das  Bild  erinnert  seiner  Gestaltung  nach  an 
jeue  Formen,  wo  die  mittlere  Figur  von  zwei 
Tierpaaren  oder  zwei  Doppeltieren  flankiert 
wird,  zugleich  aber  macht  es  den  Eindruck, 
als  wäre  sich  der  Verfertiger  über  die  rich- 
tige Anordnung  nicht  mehr  recht  im  klaren 
gewesen. 

Unmittelbar  damit  verwandt  ist  die  Dar- 
stellung auf  einer  Bronzeplatte  aus  Perm2) 
(Fig.  8).  Hier  sind  es  wieder  zwei  Vögel,  die 
sich  jederseits  an  den  Kopf  der  Figur  anlehnen. 
Die  ganze  Art  der  Darstellung  läßt  vermuten, 
daß  sich  auf  ähnlichen  Platten  Gegenstücke  zu 
den  Vögeln  am  Kopfe  au  den  Fußenden  be- 
funden haben. 

Auf  einer  korinthischen,  in  Italien  gefun- 
denen Vase3)  sehen  wir  in  konventioneller 
Stellung  eine   herausgeputzte  Frauengestalt  mit 


Fig.  6. 


Q 


Q  O  QCr-O  Q   OOOJO/ 


Fig.  8. 


sie  in  der  Frühzeit  hellenistischer  und  etruski- 
scher  Kultur  auftreten. 

Radet  hat  in  seinem  Aufsatze  Cybebe3),  an- 
läßlich eines  in  Sardes  gefuudenen  gebraunten 
Tonstückes  mit  der  Darstellung  der  nöxvia 
drjgäv,  47  ähnliche  Formen  gräko  -  italischer 
Herkunft  beschrieben  und  abgebildet. 

Zu  den  ältesten  auf  griechischem  Boden  ge- 
fundenen Formen  ist  die  Göttin  mit  Sichel- 
flügeln4) eines  Elfenbeinreliefs  aus  der  untersten 
Schichte  unter  dem  Orthiaheiligtume  in  Sparta 
(Fig.  6)  zu  rechnen,  die  zwei  Vögel  an  den 
Hälsen  hält  (8.  Jahrh.).  Auffallend  sind  die 
vorn  an  der  Brust  angesetzten  Flügel  von  aus- 
gesprochener Halbmondform. 

Auf  einer  weiteren  Elf  eubeinplatte  aus  Sparta 
(Ende  des  7.  Jahrh.)  hält  eine  Frauengestalt  mit 
heraushängender    Zunge    (Gorgo?)    zwei  Vögel 


x)  Revue  archeologique.  N.  S.,  vol.  38. 

2)  Champollion,  Pantheon  egyptien. 

3)  Bibliotheque  des  universitös  du  midi  XIII. 

4)  Poulsen,   Der  Orient  und   die   frühgriechische 
Kunst,  S.  113,  Fig.  119. 


hittitischer  Kopfbedeckung  zwei  Gänse  an  den 
Hälsen  packen  (7.  bis  6.  Jahrh.).  Seltsam  be- 
rühren die  auf  den  Rücken  aufgeklebten,  sichel- 
förmigen Flügel.  Die  Darstellung  läßt  deutlich 
erkennen,  daß  der  Künstler  zwischen  realistischer 
und  durch  die  Tradition  festgelegter  Manier 
schwankte. 

Im  Vergleiche  zu  diesen  Gestalten  ist  die 
Göttin  auf  der  Francois-Vase  (Fig.  9)  zu  Chiusi4) 
(6.  Jahrh.?)  eine  raffinierte  Modedame. 

In  Indien  sehen  wir  die  in  griechischer  Früh- 
kunst als  notvw  &rjQä>v  bezeichnete  Gestalt 
zwischen  zwei  Elefanten  6). 

Bezeichnend  ist,  daß  die  genannte  Gruppe 
—  wir  können  sie  als  die  Gruppe  zu  Dreien  be- 


x)  Poulsen,  Dei  Orient  und  die  frühgrieohische 
Kunst,  Fig.  121. 

s)  Aspel  in,  Antiquites  du  Nord  finno-ougrien, 
Fig.  536. 

3)  Eadet,  Cybebe,  S.  24,  Fig.  33. 

4)  Badet,  Cybebe,  Fig.  43  u.  44. 

5)  Maindron,  L'ärt  Indien,  S.  185,  Fig.  79.  Elfen- 
beinkamm ,  der  als  Gegenstand  eines  konservativen 
Kunstgewerbes  alte  Formen  erhalten  zeigt. 

1* 


zeichnen  —  in  der  Kunst  Vorderasiens  nicht 
verschwindet  und  in  Europa  überall  dort  auf- 
tritt, ho  wir  es  mit  sogenannter  Frühkuust  zu 
tun  haben. 

Mit  Darstellungen  auf  alten  persischen  Siegel- 
steinen, wo  der  Held  auf  zwei  Greifen' stehend 
zwei  Löwen  in  der  Luft  hält  und  würgt,  stimmt 
ilas  Muster  des  Viktor-Sudariums1)  aus  Sens 
(Fig.  10),  eines  juugpersischen  Stoffes  des  7.  bis 
9.  Jahrhunderts  überein.  Der  Held  hält  hier 
zu  ei  Löwen  an  der  Kehle,  die  mit  den  aufge- 
sperrten Rachen  Dach  seinem  Kopfe  schnappen, 
indes  zwei  andere,  in  I >;u aufsieht  gegebene 
Löwen  mit  Tatzen  und  Rachen  seine  Füße  ge- 
packt halten.  Denken  wir  uns  die  Körper  der 
Tiere   entlang   der  beiden  Seiten  verschmolzen, 

Fig.  10. 


Fig.  9 


hat  der  Held  zu  Begleitern  Pferd,  Hund  und 
Vogel,  die  seine  Schicksale  teilen  und  oft 
geradezu  Entsprechungen  des  Helden  selbst 
sind. 

Iu  der  Füllung  des  Talismantores  zu  Bagdad  ') 
(Fig.  11)  aus  der  Abbasidenzeit  sehen  wir  eine 
Gestalt  mit  Kreisnimbus  und  ausgestreckten 
Armen  zwischen  zwei  Drachen  mit  geöffneten 
Rachen.  Dasselbe  Motiv  tritt  uns  in  Stein  ge- 
hauen als  Füllung  eines  Rundfensters  der  Vor- 
halle des  Domes  zu  Trau2)  (Fig.  12)  wieder 
entgegen,  hier  noch  bewußter  und  deutlicher 
gestaltet,  die  menschliche  Gestalt,  Jonas  genannt, 
zwischen  zwei  halbmondförmig  gebogenen  Dra- 
chen, die  seine  Beine  bereits  in  ihrem  Rachen 
haben. 


Fig. 11. 


Fig.  12. 


so  bekommen  wir  ein  Bild,  wie  es  die  be- 
sprochene Bronzeplatte  des  Kgl.  Museums  zu 
Berlin  zeigt. 

Eine  byzantinische  Nachahmung  des  Viktor- 
stoffes (8.  bis  10.  Jahrh.),  die  Cahier  und 
Martin  aus  dem  Walburgisstifte  zu  Eichstätt2) 
veröffentlicht  haben,  zeigt  den  Helden  gleich- 
falls im  Kampfe  mit  zwei  wilden  Tieren,  deren 
Nacken  er  umschlingt.  Auch  hier  wie  in  allen 
weiteren  Darstellungen  sind  die  Mittelfiguren  in 
strenger  Vorderansicht,  die  Tiere  durchaus  in 
Profilstellung 3)  wiedergegeben.  Die  letztere 
Darstellung  ist  insofern  von  Interesse,  als  hier 
als  Begleiter  des  Helden  Hund  und  Vogel  er- 
scheinen.    Nach   der  mythischen  Überlieferung 


1)  Falke,  Kunstgeschichte  der  Seidenweberei, 
Fig.  129. 

-)  Ebenda,  Fig.  133. 

3)  Eine  einzige  Ausnahme  finden  wir  auf  der  cine- 
sischen  Steinskulptur,  Fig.  34,  wo  die  zu  beiden  Seiten 
der  menschlichen  Figur  befindlichen  Löwen  in  einer 
Mittelstellung  zwischen  Vorderansicht  und  Profil,  der 
eine  in  %  l'rofil,  gegeben  sind.  Bezeichnenderweise 
ist  dieses  Denkmal  eine  Übergangsform  von  der  unper- 
sönlichen zur  persönlichen  Kunst! 


Dieselbe  Gruppe  —  nunmehr  ein  Held  mit 
Rinderohren,  der  zwei  Ungeheuer  bändigt  — 
gewahren  wir  auf  einem  Kapitell3)  der  Kathe- 
drale von  Canterbury  (Fig.  13)  (Anfang  des 
12.  Jahrb.). 

Mit  diesen  wenigen  Beispielen  sei  die  unge- 
mein weite  Verbreitung  im  Westen,  das  immer 
wieder  sich  wiederholende  Auftauchen  des 
gleichen  Motives  aus  ganz  anders  geartetem 
Formenkreise  nur  skizziert. 

Neu-Guinea  ist  nicht  als  die  äußerste  Grenze 
der  Verbreitung  dieser  Gruppe  im  Osten  anzu- 
sehen. Als  v.  Luschau  das  genannte  Schnitz- 
werk aus  Neu-Guinea  beschrieb,  zog  er  zum 
Vergleiche  ein  Schnitzwerk  der  Maori  aus  Neu- 
seeland (Fig.  14)  heran,  wo  ebenfalls  Vögel  mit 
ihren  Schnäbeln  sich  am  Kopfe  des  Helden  zu 
schaffen  machen  4). 


*)  Strzygowski,  Amida,  i'ig.  31. 

ä)  Ivekovic,  Dalmatieus  Architektur  und  Plastik, 
II,   S.  106. 

3)  Mohrmann  u.  Eichwede,  Germanische  Früh- 
kuust,   Fig.  109. 

*)  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  Taf.  bei  S.548. 


Schurtz  hat  in  seinem  Aufsatze  über  das 
Augenornament1)  auf  vielfache  Beziehungen  hin- 
gewiesen, die  zwischen  polynesischer  und  uord- 
westamerikauischer  Kultur  bestehen.  Jedenfalls 
hat  hier  in  alter  Zeit  eine  Übertragung  von 
Kulturgut  über  den  Ozeau  nach  Amerika  statt- 
gefunden. Näher  und  bequemer  für  Kultur- 
übertragung nach  Nordwestamerika  von  Westen 
her  ist  der  Landweg.  Daß  solche  Übertragungen 
in  reichem  Maße  stattgefunden,  davon  zeugen 
die  Sprachen  Nordwestamerikas  und  des  nord- 
östlichen Sibiriens,  die  alle  zusammen  in  eine 
große  Sprachengruppe  gehören,  davon  zeugen 
die  übereinstimmenden  Züge  iu  den  Mythen 2) 
beider  großer  Gebiete. 

Es  wird  daher  nicht  wundernehmen,  die 
Gruppe  zu  Dreien  zunächst  auch  in  Nordwest- 
amerika anzutreffen.  Auf  einer  aus  dunklem 
Schiefer  geschnittenen  Pfeife  von  den  Aleuten3) 
(Fig.  15)  finden  wir  das  genannte  Motiv  in  einer 
Ausbildung,  die  ungemein  an  die  vorhin  er- 
wähnte neuseeländische  Schnitzerei  erinnert.  In 
der  Mitte  die  menschliche  Gesalt,  nach  deren 
Haupte  zwei  Vögel  mit  langen  Schnäbeln  ihre 
Köpfe  richten. 

Von  Westasien  übernommenes  Kulturgut  ist 
aber  nicht  allein  für  Nordwestamerika  festzu- 
stellen, wir  finden  solches  auch  in  Mittel-  uud 
Südamerika  (Peru).  So  hat  Bork4)  nachge- 
wiesen, daß  die  Bezeichnung  der  einzelnen  Tage 
des  Monats  außer  bei  den  Majavölkern  und 
anderen  Stämmen  Mittelamerikas  nur  mehr  bei 
den  iranischen  und  den  durch  sie  beeinflußten 
Völkern  zu  finden  ist,  wobei  als  letzter  Aus- 
gangspunkt das  alte  Elam  anzusehen  ist.  Über- 
einstimmung in  Kalenderfragen  mit  elamischen 
Verhältnissen  geht  über  Mittelamerika  bis  nach 
Peru.  In  Peru  ist  die  Stadt  Cuzco  5)  ein  riesiges 
Tierkreisdenkmal.  Um  einen  großen  Sonneu- 
tempel  liegen  im  Kreise  V2  Stadtteile,  die  ebenso 
vielen  Zeichen  des  Tierkreises  entsprechen. 
Was  die  Namen  der  Tierkreiszeichen  betrifft, 
so  weisen  sie  teils  unmittelbar  nach  Westasien, 
teils  mittelbar  über  Mittelamerika  dorthin. 


1)  Schurtz,  Das  Augenornament  usw.,  Abhandl. 
d.  säohs.  Ges.   d.  Wissensch.  XV,  8.  2. 

2)  W.  Schultz,  Vergleichende  Bemerkungen  zu 
Sagen  der  nordpazifischen  Indianer.  Sitzuugsber.  d. 
Mitt.  d.  Anthropol.  Ges.  Wien   1911/12  (143  bis   147). 

3)  Wien.  Naturhistor.  Hofmuseum,  ethnogr.  Abt.- 
Inv.-Nr.  11956.  Die  Abbildung  wurde  nach  einer  Photo- 
graphie angefertigt,  die  ich  der  Liebenswürdigkeit  des 
Direktors  der  anthropol.-ethnogr.  Abt.,  des  Herrn  Be- 
gierungsrat Fr.  Heger,  verdanke. 

4)  F.  Bork,  Amerika  und  Westasien.  Orientalisches 
Archiv  III,  1;  Weitere  Verbindungslinien  zwischen  der 
Alten  und  der  Neuen  Welt.  Orientalisches  Archiv  III, S. 4. 

5)  F.  Bork,  ebenda  HI,  7. 


Der  bereits  gelief  erte  Nach  weis  westasiatischen 
Kulturgutes  in  Peru  ist  für  die  richtige  Ein- 
schätzung einer  Darstellung  auf  einem  alt- 
peruanischen  Tonkruge1)  aus  Chimbote  (Fig.  16) 
von  größter  Bedeutung.  Wir  sehen  nämlich,  daß 
nicht  nur  die  mythische  Überlieferung,  sondern 
auch  die  darstellende  Kunst  hinsichtlich  ihrer 
Motive  letzten  Endes  von  Vorderasien  beeinflußt 
erscheint. 

Die  genannte  Darstellung  zeigt  mit  der  Bronze- 
platte des  sibirisch  -  skythischeu  Kunstkreises 
(Fig.  1)  und  dem  Schnitz  werke  aus  Neu-Guinea 
(Fig.  3)  derart  weitgehende  Übereinstimmung, 
daß  es  sich  in  diesen  drei  Fällen  nicht  jedes- 
mal um  ein  Neuschaffen,  sondern  nur  um  ein 
Zurückgreifen  auf  gemeinsame  alte  Überlieferung 
handeln  kann. 

Wir  wollen  bei  der  peruanischen  Darstellung 
zunächt  vom  Helme  der  menschlichen  Gestalt 
und   seiner  Zier  absehen.     Der  Held  wehrt  mit 


Fig.  15. 


Fig.  lfi. 


den  Händen  zwei  Tiere  ab,  deren  Natur  durch 
starke  Stilisierung  kaum  zu  erkennen  ist,  jedoch 
scheint  es  sich  um  Vögel  zu  handeln.  Merkwürdig 
ist  nun,  daß  jedes  dieser  vogelartigeu  Tiere  zwei 
Köpfe  hat,  einen,  der  nach  aufwärts,  und  einen, 
der  nach  abwärts  gerichtet  ist.  Die  Füße  der 
menschlichen  Gestalt  stehen  in  den  aufgesperrten 
Rachen  der  nach  abwärts  gerichteten  Köpfe. 

Wenn  wir  die  drei  genannten  Darstellungen 
miteinander  vergleichen,  so  linden  wir,  daß  die 
peruanische  mit  der  sibirisch -skythisclien  die 
größte  Übereinstimmung  aufweist.  Beide  Male 
in  der  Mitte  der  Held,  der  mit  ausgestreckten 
Armen  zwei  Tiere  mit  Doppelköpfen  abwehrt, 
während  seine  Füße  in  den  aufgesperrten  Rachen 
der  unteren  Köpfe  sich  befinden. 

Bei  dem  Schnilzwerke  aus  Neu-Guinea  macht 
sich  eine  starke  Abwandlung  in  der  Form  inso- 
weit geltend,  als  von  der  Gestalt  in  der  Mitte 
nur  mehr  der  Kopf  übrig  geblieben  ist,  während 
der  Leib  zu  einem  Pfeiler  zusammenschrumpfte. 
Die  Vögel  zu  beiden  Seiten  der  Figur  dagegen 
zeigen  hinsichtlich  ihrer  Anordnung  deutliche 
Beziehung  zu  den  Tieren  der  peruanischen  Dar- 
stellung2). 

J)  Baessler,  Altperuanische  Tongefäße,  Fig.  275  a. 
2)  Am  Ende  der  Formenreihe  möchte  ich  der  Christus- 
darstellungen auf  dem  Werdener-Beliquienkästchen(Zeit- 


Weitere  Klarheit  über  das  Wesen  und  die 
Bedeutung  der  Gruppe  zu  Dreien  werden  wir 
erhalten,  wenn  wir  durch  den  Vergleich  fest- 
stellen, welche  Veränderungen  und  Abwand- 
lungen im  ganzen  Verbreitungsgebiete  auftreten. 

Ich  beginne  mit  Gürtelschnallen  und  Zieraten 
aus     der     Völkerwanderungszeit.       Auf     einer 


st  alt  in  der  Mitte  der  Tiere  schon  sehr  ver- 
kümmert, im  Gegensatze  zu  anderen  Fundstücken 
[Schnalle  von  Lavigny1)  und  von  Cossouay  2)], 
wo  sie  wohl  ausgebildet  zwischen  zwei  Löwen 
steht,  die  au  ihren  Füßen  lecken  (genannt  Daniel 
in  der  Löwengrube).  Auf  der  Gürtelschnalle 
von  Wallis   ist   der  Körper   nur  in  Form  eines 


Pig.i; 


Fig.  18. 


IV'.  2i>. 


Piß.  19. 


Schweizer     Gürtelschnalle      aus      dem     Kanton 
Wallis1)   (Fig.  17)    ist   die    menschliche    Ge- 

schrift  f.  christl.  Kunst  1901,  U.Bd.:  W.  Effmauu, 
Kruzifixus,  Christus,  Engeldarstellungen  am  Werdener- 
Eeliquienkasten)  Erwähnung  tun ,  die  als  nordische 
Arbeit  angesehen  und  für  das  8.  bis  9.  Jahrhundert 
angesetzt  werden.  Ich  halte  mich  zunächst  an  jenes 
Beintäfelchen,  das  den  auferstandenen  Christus  in  recht 
ungelenker  Art  mit  erhobenen ,  in  den  Ellenbogen- 
gelenken abgebogenen  Armen  und  dem  Beschauer  zu- 
gekehrten Handflächen  wiedergibt  (Fig.  18).  Drei  Strah- 
len gehen  von  dem  Haupte  aus.  An  dem  oberen  picken 
zwei  Greif  en.  Zu  beiden  Seiten  der  Christusgestalt  sehen 
wir  zwei  seltsame ,  langgestreckte  Fabeltiere  bis  zur 
Hüftenhöhe  emporreichen ,  die  Tatzen  gegen  Leib  und 
Schenkel  gerichtet.  Auf  einer  Engeldarstellung  ähn- 
licher Art  auf  demselben  Kästchen  finden  wir  längs  der 
Beine  ebenfalls  zwei  Tiere,  von  welchen  das  eine  den 
Kopf  gegen  die  Füße  nach  abwärts,  das  andere  den 
Kopf  nach  aufwärts  gekehrt  hat.  Das  läßt  im  Zu- 
sammenhange mit  den  vorhergehenden  Darstellungen 
und  den  bereits  bekannten  vermuten,  daß  ursprünglich 
jederseits  ein  Tierpaar  vorhanden  war  der  Ausge- 
staltung, daß  das  eine  Tier  den  Kopf  nach  oben,  das 
andere  den  Kopf  nach  unten  gerichtet  hatte.  Diese 
Darstellung  wäre  dann  von  demselben  Aufbau  wie  das 
Bild  auf  dem  Viktorsudarium  (Fig.  10).  Die  Vögel,  die 
an  dem  einem  Strahle  picken,  erinnern  wieder  unge- 
mein an  die  gleiche  Darstellung  auf  dem  altperuani- 
schen Tonkruge  (Fig.  16)  (die  Ähnlichkeit  ist  keine 
zufällige  oder  verwunderliche,  da  hinter  beiden  Dar- 
stellungen die  gleiche  mythische  Überlieferung  steht. 
Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  in  den  "Werdener -Dar- 
stellungen christliche  und  mythisch-heidnische  Elemente 
zusammengeströmt  sind)  und  finden  sich  in  ähnlicher 
Beziehung  auch  auf  dem  Elfenbeintäfelchen  von  Sparta 
(Fig.  7).  Sicherlich  gehört  somit  die  genannte  Christus- 
darstellung iu  die  hier  angeführte  Formenreihe  hinein. 
Die  Datierung  dürfte  zutreffend  sein.  Ein  Abglanz  der 
sogenannten  Völkerwanderungskunst  ist  noch  über  diese 
Darstellung  gebreitet  Es  dürfte  nicht  leicht  fallen,  aus 
späterer  Zeit  —  von  volkstümlicher  Kunst  abgesehen,  in 
der  sich  oft  in  geradezu  wunderbarer  Weise  uralte  Motive 
erhalten  haben  —  ein  von  so  merkwürdigen  Motiven 
durchtränkti-s  Werk  ähnlicher  Art  ausfindig  zu  machen. 
*)  Salin,  Iüp  altgermanische  Tierornamentik,  S.:ioS, 
Fig.  664. 


Schleifenbandes  vorhanden;  die  Löwen 
trachten  hier  den  Kopf  zu  verschlingen.  Auf 
einem  Ortbande  aus  Schleswig8)  (Fig.  19)  ist 
nur  mehr  der  Kopf  allein  erhalten,  der  zwischen 
den  weit  geöffneten  Rachen  von  zwei  Unge- 
heuern liegt.  Die  gleiche  Bildung,  den  Kopf 
zwischen  den  Rachen  zweier  Tiere,  finden  wir 
weiter  auf  einem  Ortbande  aus  Norwegen4)  und 
einem  solchen  aus  der  Provinz  Naraur6).  Auf 
Gürtelbeschlägeu  aus  Italien  und  dem  Küsten- 
lande findet  sich  an  Stelle  des  menschlichen 
Hauptes  eine  Scheibe.  Löwen-  und  katzen- 
artige Raubtiere  flankieren  die  Scheibe  (Fig.  20) 
auf  den  Bronzestücken,  die  sich  im  Museum  zu 
Aquileia")  befinden.  Auf  dem  Bronzezierate  aus 
Italien  7)  sind  es  Hasen,  während  die  Zugehörig- 
keit der  Tiere  auf  dem  Fundstücke  aus  Dal- 
matien 8)  nicht  festzustellen  ist. 

Das  Motiv  „Scheibe  zwischen  zwei  Tieren." 
kennen  wir  aus  viel  früherer  Zeit.  Auf  einer 
Brouzeschüssel  der  Hallstattzeit9)  (Fig.  21),  um 
nur  ein  Beispiel  anzuführen,  sehen  wir  die  Scheibe 
zwischen  zwei  euteuartigen  Vögeln,  die  ihr  mit 
den  Schnäbeln  zugekehrt  sind. 


'!  Forrer,  Beallexikon,  Taf.  264,   1. 
'-)  Ebenda,  Taf.  264,  3. 
s)  Salin,  a.a.O.,  S.  166,  Fig.  394. 
4)  Ebenda,  S.  126,  Fig.  340. 

6)  Ebenda,  S.  110,  Fig.  290. 

")  Biegl,  Die  spätrömische  Kunstindustrie  nach 
den  Funden  in  Österreich-Ungarn.  Abbildung  nach 
eigener  Aufnahme. 

7)  Salin,  a.a.O.,  S.  127,  Fig.  343. 

8)  Ebenda,  S.  127,  Fig.  343. 

9)  Sacken,  Hallstatt,  Taf.  XXIV,  Fig.  6.  Das 
gleiche  Motiv  auf  einem  Bronzeringe  bei  L  i  n  d  e  n  s  c  h  m  i  t, 
II,   13,   141. 


Aus  gleicher  Zeit  und  vom  selben  Fundorte 
kenneu  wir  eine  Schüssel1),  au  deren  Rande 
zwei  kleine  Vögel  sitzen.  In  diesem  Falle  stellt 
das  Rund  der  Schüssel  die  Scheibe  vor,  zu  deren 
beiden  Seiten  sonst  die  Vögel  stehen2);  das 
Ganze  entspricht  dem  oft  sich  wiederholenden 
Ziermotiv3):  Scheibe  zwischen  paarigen  Vögeln. 

In  einer  Ausbildung,  die  unmittelbar  an  die 
der  Hallstattzeit  erinnert,  rinden  wir  das  gleiche 
Motiv  „Scheibe  zwischen  paarigen  Vögeln"  auf 
neupersischem  Silberschmucke  (Ohrringen)4),  auf 
einer  in  Südrußland  gefundenen  alten  Silber- 
schüssel5) und  dann  in  der  russischen  Bauern- 
kunst  auf   Holzschnitzereien 6)   (Fig.  22)   häutig. 

Dasselbe  Motiv  erscheint  dann  wieder  auf 
Zierplatten  venetiauischer  Paläste 7)  (Fig.  23)  des 
12.  bis  14.  Jahrhunderts.  Zwei  Vögel  picken  an 
einer  Kugel,  die  hier  als  das  Ende  eines  Baumes 


Links  und  rechts  davon  sieht  man  zwei  Tiere 
mit  gegeneinander  gekehrten  Köpfen,  die  schon 
stark  durch  Stilisierung  umgeformt  sind.  Die 
Köpfe  sind  noch  als  die  von  Vögeln  zu  erkennen, 
während  die  Leiber  lang  ausgedehnt  und  in  ein 
Band  aufgelöst  sind. 

An  Stelle  des  Menschenhanptes  ist  ein  Rinder- 
kopf getreten.  Daß  wir  es  hier  mit  einer  weit 
verbreiteten,  durch  Tradition  festgehaltenen  Kom- 
position zu  tun  haben,  geht  aus  einem  Bilde  auf 
einer  boiotischeu  Vase1)  (Fig.  24)  des  6.  Jahrb. 
v.  Chr.  hervor,  das  dieselbe  Gruppe  in  gleicher  Zu- 
sammenstellung zeigt:  ein  Rinderhaupt  zwischen 
zwei  Gänsen. 

Bei  dem  ungemein  starken  Hange  der  Ci- 
neseu  jener  Zeit,  alles  Bildliche  in  Linien  auf- 
zulösen, wurden,  wahrscheinlich  noch  begünstigt 
durch  die  schwindende  Kenntnis  der  Bedeutung 


Fig.  22. 


Fig.  23. 


Fig.  24. 


Fig.  25. 


Fig.  27. 


gedacht  ist.  Das  Ganze  ist  in  ein  Kreisrund 
komponiert,  von  strenger  Stilisierung.  Die  Leiber 
der  Vögel  sind  halbmondförmig  gebogen. 

Die  als  Taotie-  bezeichnete  Tierfratze,  die 
auf  den  alten  cinesischen  Bronzen  so  ungemein 
häufig  anzutreffen  ist,  geht  ebenfalls  auf  die 
Gruppe  zu  Dreien  zurück. 

Auf  einem  Brouzegefäße  der  Schangdynastie 
im  Museum  Cernuschi  (Nr.  14)  ist  die  Gruppe  deut- 
lich ausgeführt.  In  der  Mitte  befindet  sich  ein 
Kopf  mit  Hörnern  und  langen  schmalen  Ohren, 
deutlich  erkennbar  als  ein  Rinder-  (Büffel-)Kopf. 


x)  Sacken,  Hallstatt,  Taf.  XXIV,  Fig.  4. 

2)  Ähnliche  Gefäße :  Sogenannter  Becher  des  Nestor 
(Forrer,  Reallexikon,  Taf.  137,  1),  silberner  Becher, 
aus  dem  die  Chewsuren  das  heilige  Bier  tranken  (Radde, 
Die  Chewsuren  und  ihr  Land,  S.  108),  ostgotische  Schale 
mit  zwei  leopardartigen  Tieren  aus  dem  Schatze  von 
Petreossa  (Forrer,  a.a.O.,  Taf.  268,  10).  In  meinem 
Aufsatze:  Die  Behälter  des  Unsterblichkeitstrankes, 
Mitt.  d.  Anthrop.  Gesellsch. ,  Wien  1914,  sind  sie  als 
Rauschtrankbehälter  charakterisiert. 

3)  Daß  es  kein  bloßes  Ziermotiv  ist,  daß  es  sich 
um  eine  symbolische  Darstellung  handelt,  betont  auch 
Dechelette,  Manuel  d  Archäologie ;  II  Archäologie 
celtique ;  L'äge  du  Bronce,  S.  445. 

4)  Das  Budapester  Ethnograph.  Museum  besitzt  eine 
hübsche  Kollektion  davon. 

5)  Smirnow,  Argenterie  Orientale,  Fig.  152. 

6)  Bobrinsky,  Russische  Holzarbeiten,  Taf.  13,  5. 

7)  Nationalmuseum  München. 


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dieser  Tiergruppe,  allmählich  aus  den  zunächst 
fest  umrisseneu  Gestalten  Ornamente,  die  den 
ursprünglichen  Befund  unmöglich  mehr  erkennen 
lassen.  Für  die  Formwandlung  dieser  Gruppe 
(Fig.  25)  kommen  zwei  verschiedene  Wege  in 
Betracht.  Entweder  bildet  sich  der  mittlere 
Teil,  der  Kopf  des  Rindes,  zurück  und  fällt 
schließlich  ganz  aus  2)  (Fig.  26),  oder  die  Vögel 
verkümmern,  entarten  schließlich  zu  kleinen  orna- 
mentalen Schnörkeln  (Fig.  27),  in  welchen  man 
ohne  Vergleichsmaterial  niemals  mehr  die  Vogel- 
gestalt vermuten  würde 3) ,  und  verschwinden 
schließlich  ganz. 

Die  letztere  Art  der  Formwaudlung  trat  iu 
den  meisten  Fällen  ein  und  führte  zu  der  Tier- 
fratze, die  als  Taotie  allgemein  in  der  Literatur 
bekannt  ist. 


:)  Moriu,  Le  Dessin  des  animaux  en  Grece,  S.  140. 
In  der  koptischen  Kunst  der  Widderkopf  zwischen  einer 
Gans  und  einem  Pfau.  Kapitell,  4.  bis  5.  Jahrh.  n.  Chr., 
bei  Strzygowski,  Koptische  Kunst,  Nr.  7345. 

2)  Beispiele  dafür  bei  Muth,  Germanische  und 
chinesische  Tierornamentik.  Zunächst  auf  Taf.  22, 
Fig.  189,  190,  dann  in  der  Figurenerklärung  zu  Taf .  22 
die  Bilder  der  zwei  einander  zugekehrten  Vögel,  zwischen 
welchen  das  Mittelstück  vollständig  ausgefallen  ist. 

3)  Muth,  1.  c.  In  der  Figurenerklärung  zu  Taf.  22 
der  Rinderkopf  zwischen  den  zwei  Vögeln;  Taf.  22, 
Fig.  299,  der  Tierkopf  mit  zwei  geschlossenen  Zierlinien 
rechts  und  links,  als  Rudimente  der  paarigen  Vögel. 


Die  Weiterbildung  der  Gruppe  zu  Dreien  in 
der  Richtung,  daß  an  Stelle  des  Hauptes  die 
Scheibe  tritt,  findet  sich  in  Cina  gleichfalls.  Im 
Heft  8S  der  Kokka  ist  eine  Scheibe  (eherne 
Teinpelpauke)  mit  einem  Triskeles  in  der  Mitte 
und  acht  solchen  Figuren  am  Rande  abgebildet, 
die  von  zwei  Drachen  umrandet  wird.  Im  Heft  97 
derselben  Zeitschrift  linden  wir  die  gleiche 
Gruppe  ]).  Diesmal  ringeln  sich  zu  beiden  Seiten 
der  Scheibe  je  zwei  Drachen  empor.  Das  Ganze 
ruht  auf  dem  Rücken  eines  Löwen.  Die  Kom- 
position zeigt  weitgehende  Übereinstimmung  mit 
dem  Hilde  der  .sumerischen  Unterweltsgöttin 
Ereskigal.  An  die  Stelle  der  Göttin  ist  die 
Scheibe  getreten,  die  zwei  Paare  von  Tieren 
werden  hier  durch  Drachen  ersetzt.  Ereskigal 
kniet  auf  dem  Rücken  eines  Pferdes,  hier  ruht 
die  Scheibe  mit  den  Drachen  auf  dem  Rücken 
eines  Löwen. 

Die  Scheibe  oder  vielmehr  die  Kugel  zwischen 
zwei  Drachen  ist  ein  in  der  früheinesischen 
Kunst  ungemein  verbreitetes  Motiv. 

Auf  dem  Gebälke  der  Ehrenpforte  in  der 
großen    Tempelanlage    der   Göttin    Kuan   Yin2) 

Fig.  28. 


auf  P'u-t'o-shan  sehen  wir  die  Scheibe  zwischen 
jederseits  zwei  Drachen  (Fig.  28),  von  denen  in- 
folge von  Verwitterung  die  zwei  äußersten  nahezu 
unkenntlich  sind,  in  derartiger  Ausbildung,  daß 
das  Motiv  als  direkte  Parallele  zu  den  Zierstücken 
der  Völkerwanderungskunst  erscheint.  Ein  an- 
deres Mal  wieder  gewahren  wir  auf  dem  Sockel 
einer  Säule3)  eine  kleine  Scheibe,  von  einem 
halbmondförmigen  Träger  umgeben  —  die  Dar- 
stellung gemahnt  an  die  Vereinigung  von  Voll- 
nioudscheibe  und  Sichel  bei  den  alten  Ägyptern  — , 
im  Innern  eines  kleineu  Tempels,  zu  dessen 
Seiten  zwei  Drachen  mit  aufgerissenen  Rachen 
und  erhobenen  Pranken  lagern.  Die  Scheibe 
wird  von  den  Cinesen  als  Perle  bezeichnet  und 
soll  ein  Symbol  der  Vollkommenheit  sein.  Es 
ist  klar,  daß  es  sich  hier  um  eine  nachträgliche 
Deutung  und  nicht  um  eine  ursprüngliche  Be- 
deutung handeln  kann.  Der  dem  weltlichen  Ge- 
triebe abgeneigte  Sinn  des  Buddhisten  hat  hier 
nach  seiner  Art  und  Auffassung  dem  Bilde  eines 


*)  Sollten  die  beiden  Stücke  auch  in  Japan  ange- 
fertigt „worden  sein,  so  weist  doch  der  Stil  unbedingt 
nach  Cina. 

2)  Boerschmann,  Die  Baukunst  und  religiöse 
Kultur  der  Chinesen  I,  S.  47,  Fig.  40. 

3)  Ebenda,  S.  87,  Fig.  86. 


tatsächlichen  Geschehens  eine  ungreifbare,  blut- 
leere Vorstellung  als  Deutung  unterschoben.  Der 
buddhistische  Priester  wird  uns  die  Deutung 
einer  auf  uralter,  ihm  fremder  Tradition  aufge- 
bauten Komposition  nicht  zu  geben  vermögen, 
das  könnte  lediglich  durch  das  naivere  Volks- 
bewußtsein  geschehen. 

Wie  innerhalb  eines  und  desselben  Bildwerkes 
in  der  Gruppe  zu  Dreien  die  mittlere  Figur  durch 
die  Scheibe  ersetzt  werden  kann,  das  sehen  wir 
deutlich    an    einem    Schnitzwerke    aus    Timor1), 

Fig.  29. 


wo  zu  oberst  eine  menschliche  Gestalt  zwischen 
Tieren  zu  sehen  ist,  während  unterhalb  derselben 
paarige  Vögel  nach  einer  Scheibe  picken.  Wie 
sehr  es  sich  in  allen  diesen  Fällen  um  ein  durch 
die  Tradition  geheiligtes  Motiv  handelt,  ist  dar- 
aus ersichtlich,  daß  wir  in  Neu  -  Pommern 2) 
auf  Kanus  Darstellungen  von  gleicher  Form 
und  Ausbildung  wie  auf  Timor  finden,  nur 
sind  es  hier  Kasuare,  die  nach  der  Scheibe 
picken. 

Hoffmanu3)  hat  in  seiner  Arbeit  über  die 
Inuit  Nordamerikas  ein  Knochenstück  (Fig.  29) 
abgebildet,  auf  welchem  ein  rundes  menschliches 
Haupt  zwischen  zwei  langgestreckten  Robben 
eingeritzt  ist.  Dieses  Stück  ist  ein  Beleg  für 
die  weito-ehende  Wanderung  derartiger  Motive. 


Fig  30 


Auf  Pauken  der  Ilaida  iu  Nordwestamerika4) 
(Fig.  30)  finden  wir  die  Scheibe  —  von  den 
Eingeborenen  als  Mond  bezeichnet  —  und  da- 
neben den  Halbmond  dargestellt,  beide  mit  ein- 
gezeichneten kleinen  Gestalten.  Wenn  wir  diese 
Zeichnungen  mit  der  Darstellung  auf  der  ge- 
schnitzten Wand  einer  hölzernen  Schüssel  der 
Tlinkitindianer5)  (Fig.  31)  vergleichen,   so   fällt 


*)  Loeber,  Timoreesch  Snijwerk  en  Ornament. 
s'Gravenhage   1903. 

ä)  Meyer,  Die  Schiffahrt  bei  den  Bewohnern  von 
Vuaton  (Neu-Pommern).  Baessler,  Archiv  I,  Taf .  XII, 
Nr.  22. 

3)  Hoffmann,  The  Graphic  Art  of  the  Eskimos. 
(Report  of  the  U.S.Museum  f.  1895.)     Taf.  32,  7. 

*)  Seier  im  Globus  Bd.  61,  S.  332,  Fig.  18. 

6)  Krause,  Die  Tlinkitindianer,  Taf.  I,  Fig.  4. 


die  große  Übereinstimmung  auf.  In  der  Mitte 
haben  wir  das  Kreisrund  und  zu  beiden  Seiteu 
ähnliche  Ovale.  Der  Unterschied  zur  vorher- 
gehenden Darstellung  besteht  darin,  daß  das 
Kreisrund  und  die  Ovale  hier  nur  als  Ge- 
sichter gedacht,  Körper  und  Gliedmaßen  nicht 
hineiugezeichnet,  sondern  außerhalb  derselben 
wiedergegeben  sind.  Während  die  mittlere  Figur 
mit  ihren  Anhängen  noch  deutlich  zu  erkennen 
ist,  sind  die  in  Profilstelluug  gedachten  seit- 
lichen Figuren  —  spitze  Köpfe  mit  einem  Auge 
—  stark  stilisiert  und  wären,  wenn  sie  als  Einzel- 
bildungen aufträten,  kaum  erkenntlich. 

Stellen  wir  diesen  zwei  Darstellungen  noch 
die  Tonpfeife  von  den  Aleuteu  (Fig.  15)  zur 
Seite,  so  wird  es  deutlich,  daß  in  allen  Fällen 
die  Art  der  Darstellung  und  der  zugrunde 
liegende  Naturvorgang  der  gleiche  ist,  nämlich 
der  Phasenwechsel  des  Mondes. 

So  ähnlich  diese  Bildwerke  untereinander 
sind,  so  grundverschieden  ist  doch  die  Um- 
setzung des  Geschauten  ins  Bildhafte.  Bei  der 
Haidazeichnung  ist  der  Umriß  des  Naturobjektes 
beibehalten  und  das  „Erschaute",  die  Gestalten, 
als  leibhaftiger  Mann  im  Monde  hineiugezeichnet. 
Lassen  wir  die  Ausfüllung  der  Fläche  fort,  so 
erhalten  wir  die  tatsächliche  Gestalt  des  Mondes, 
die  Scheibe  und  die  Sichel.  Bei  der  Schnitzerei 
der  Tlinkit  ist  aus  dem  zeitlichen  Hintereinander 
ein  räumliches  Nebeneinander  geworden,  die  auf- 
einander folgenden  Phasen  siud  nach  Art  primi- 
tiver Künstler *)  gleichzeitig  dargestellt  (auf- 
nehmender, Vollmond  und  abnehmender  Mond), 
Körper  und  Gliedmaßen  als  Anhänge  der  Mond- 
gestalt gegeben. 

Am  meisten  „Erschautes",  Gedachtes  und 
Abgeleitetes,  und  am  wenigsten  „Geschautes", 
direkt  Beobachtetes  gibt  die  vorher  beschriebene 
Pfeife  von  den  Aleuten. 

Die  drei  Stücke  sind  insofern  von  Bedeutung, 
als  sie  zeigen,  wie  das  Geschehen  am  Monde 
das  eine  Mal  getreu  wiedergegeben  wird,  das 
andere  Mal  nach  eingetretener  Deutung  als  ein 
dramatischer  Vorgang  zwischen  bestimmten  Ge- 
stalten mit  gesetzmäßiger  Anordnung  dargestellt 
wird.  Aus  der  Mondscheibe  wird  eine  mensch- 
liche Gestalt  mit  einem  runden  Gesicht,  umge- 
kehrt kann  diese  Gestalt  in  einer  anderen  Dar- 
stellung wieder  durch  die  Scheibe  ersetzt  werden. 
Was  wir  bei  der  Völkerwanderungskunst  beob- 
achten konnten,  die  Umwandlung  der  mensch- 
lichen Gestalt  in  eine  Scheibe  (bzw.  umgekehrt), 
das  sehen  wir  in  gleicher  Weise  in  Nordwest- 
amerika vor    sich   gehen.     Nun  wird    es   immer 


deutlicher,  daß  alle  Darstellungen  der  Gruppe 
zu  Dreien  infolge  einer  inneren  Notwendigkeit 
eine  natürliche  Einheit  bilden. 

Auf  Tongefäßen  aus  Alt-Mexiko  ')  findet  sich 
die  Zeichnung  eines  drachenartigen  Tieres,  das 
eine  Scheibe  verschlingen  will,  in  einer  Aus- 
bildung, die  auch  hinsichtlich  der  Stilisierung 
an  cinesische  Vorbilder  erinnert.  Bis  nach  Peru 
läßt  sich  das  gleiche  Motiv  verfolgen.  Auf 
dem  Mouolithtore  der  Steinpfeilerumfriedung 
von  Tiahuanaco 2)  kehrt  elfmal  ein  Haupt  von 
paarigen  Vögeln  umgeben  wieder,  von  denen 
immer  zwei  Paare  zugekehrt,  zwei  Paare  abge- 
kehrt sind. 

Die  Beispiele,  die  hier  angeführt  wurden, 
geben  kaum  eiuen  Begriff  von  dem  Reichtume 
des  Stoffes.  Wo  immer  man  in  diese  Art  primi- 
tiver Kunst  Einblick  nimmt,  überall  wird  man 
die  beschriebene  Gruppe  vorfinden.  Es  erscheint 
zunächst  unwahrscheinlich,  an  so  weit  ausein- 
ander liegenden  Orten,  im  selben  Verbreitungs- 
gebiete zu  ganz  verschiedenen  Zeiten,  stets  die 
gleichen  Formen  anzutreffen.  Eine  innere  Not- 
wendigkeit muß  hier  vorliegen,  aus  der  heraus 
die  Menschen  immer  wieder  zur  Darstellung 
desselben  Motives  schritten.  Dem  Motiv  muß 
eine  bestimmte  Bedeutung  zugrunde  liegen,  sonst 
könnte  es  nicht  so  oft  von  den  verschiedensten 
Völkern  dargestellt  worden  sein. 

In  Nr.  3889  der  London-News  (Vol.  143)  ist 
folgende  Szene  aus  einem  in  Alt-Ciua  üblichen 
Neujahisspiele  abgebildet:  Ein  Mann  schwingt 
eiue  Kugel,  die  zwei  zu  beiden  Seiten  befindliche 
Drachenmasken  zu  verschlingen  suchen.  Die  Szene 
ist  das  getreue  Abbild  des  im  alten  Cina  üb- 
lichen Motives  der  Scheibe  zwischen  den  Drachen. 
Wenn  wir  nun  hören,  daß  im  Spiele  der  Ball  den 
Mond3)  bedeutet,  der  von  feindlichen  Mächten 
bedroht  und  verschlungen  wird,  um  alsbald  in 
neuer  Schönheit  wieder  zu  erstehen,  so  haben 
wir  damit  mehr  als  eine  Andeutung  für  das 
Verständnis  der  wahren  Bedeutung  des  genannten 
Motives  gewonnen. 

Daß  hier  eiue  Szene  aus  einem  Spiele  zur 
Erklärung  von  Bildwerken  herangezogen  wird, 
enthält  nichts  Unerlaubtes,  da  Spiele,  auch  Kinder- 


x)  Wickhoff  u.  Härtel,  Die  Wiener  Genesis,  S.  6. 


1)  Strebe],  Über  Tierornamentik  auf  Tongefäßen 
aus  Alt-Mexiko,  Taf.  XIII,  Fig.  129. 

2)  Stübel  u.  Uhle,  Tiahuanaco,  Taf.  17. 

3)  Wenn,  wie  mir  gesagt  wurde,  in  manchen  Gegen- 
den Cinas  Drachen  und  Ball  als  Personifikation  von 
Cina  und  Japan  angesehen  werden,  so  ist  es  klar,  daß 
hit-r  an  Stelle  der  alten,  nicht  mehr  gewußten  Bedeu- 
tung eine  neue  Deutung  gesetzt  wurde.  Das  Spiel  ist 
seiner  ganzen  Art  und  dem  Stile  der  Masken  nach 
zweifellos  älter  als  die  maritime  Rivalität  Cinas  und 
Japans. 


10 


spiele,  als  Bewahret'  uralter  mythischer  Vor- 
stellungen bekannt  sind  ').  Vielleicht  sind  sie 
noch  mehr,  die  Reste  der  ältesten  Form  des 
\l\  thos. 

In  Nordwestamerika  übrigens  sahen  wir  die 
Gruppe  in  einer  Ausbildung,  aus  der  ohne  wei- 
teres—  von  den  übereinstimmenden  Erklärungen 
der  Eingeborenen  ganz  abgesehen  —  ihre  wahre 
Bedeutung  erkannt   werden  konnte. 

Dali  die  der  Gruppe  ZU  Dreien  ursprünglich 
zugrunde  liegende  Idee  auf  das  Geschehen  am 
Monde  abzielt,  das  können  wir  übrigens  aus  ge- 
wissen Bildwerken  direkt  ablesen: 

In  Alt-Peru  wurde  in  der  Nasenscheidewand 
häufig  ein  Goldamulett  von  Halbmondform  ge- 
tragen. Neben  den  goldenen  Halbmonden  gab 
es  aber  auch  Amulette  reicherer  Ausgestaltung2). 
Ein  Halbmond  in  der  Mitte  wird  von  zwei  stili- 
sierten Vögeln  (Fig.  3'2),  die  ihre  Schnäbel  gegen- 
einander kehren,  flankiert.  Diese  Amulette  /.eigen 
eine  ganze  Reihe  von  Formwandlungen.  Die 
Vögel  können  so  klein  werden,  daß  sie  nur  mehr 
in  Andeutung  vorhanden  sind,  der  Halbmond 
schließt  sich  zu  einer  Scheibe.  An  anderen 
Stücken  wieder  nehmen  die  Vögelköpfe  an  Größe 
zu  und  die  Stelle  des  Halbmondes  nimmt  eine 
kleine  Scheibe  ein. 

Hierher  gehören  auch  die  paarigen  Vögel, 
die  an  der  halbmondförmigen  Helmzier  des 
Helden  auf  dein  peruanischen  Tongefäße  (Fig.  16) 
picken.  Die  Anbringung  dieses  Motives  gibt 
uns  zugleich  einen  Einblick  in  den  Stil  solcher, 
unserem  gauzen  Empfinden  nach  fremdartiger 
Kunstwerke,  für  welche  Wiederholung,  Häufuug 
und  Durchdringung  ähnlicher  Motive  besonders 


Fig.  32. 


Fig.  33. 


charakteristisch  ist.  Wir  haben  hier  zwei  ähn- 
liche Motive  übereinander  und  entnehmen,  daß 
dem  in  der  Mitte  befindlichen  Helden  unten 
der  Halbmond  oben  entspricht.  Der  Held 
unten  ist  also  identisch  mit  der  Mondgestalt 
oben,  nur  ein  anderes  Bild  derselben. 

Die  Mondgestalt  ist  das  Geschaute,  die 
Gruppe  mit  der  Menschengestalt  das  Ergebnis 
der  Umwandlung  des  Go schauten    in   das  Er- 


J)  Näheres  bei  A.  Jeremias,  Handbuch  der  alt- 
orientalischen  Geisteskultur,  S.  303:  „Die  antiken  Spiele 
sind  sämtlich  kosmisch-kalendarisch...." 

-)  Anitl.  Ber.  d.  Kgl.  Kunstsammlungen  z.  Berlin, 
1911.    Seier,  Neue  Erwerbungen  von  Goldschmuck  aus 

rika. 


schaute.  Die  beiden  Darstellungen  überein- 
ander verhalten  sich  zueinander  wie  Beobach- 
tung  und   Deutung. 

Amerika  steht  mit  Bildungen  dieser  Art 
lacht  vereinzelt  da,  wir  finden  sie  auch  in  der 
Alten  Welt. 

Hin  Silberanhängsel  vorptolemäischer  Zeit  aus 
Luxor  in  Gestalt  eines  Doppellöwen  (Fig.  33) 
zeigt  über  dem  Rücken  des  Tieres  die  Mond- 
scheibe und  die  Mondsichel ').  Auf  einem  mili- 
tärischen   Abzeichen  2)    (Fig.  34)    spätrömischer 


Fig.  34. 


Fig.  35. 


Zeit  sehen  wir  den  Halbmond  zwischen  zwei 
nach  entgegengesetzten  Seiten  schauenden  Tieren. 
Auf  einem  sarazenischen  Gewebe  s)  (14.  bis 
15.  Jahrh.)  finden  wir  den  Halbmond,  dessen 
dunkle  Ergänzung  zugleich  angedeutet  ist, 
zwischen  zwei  anspringenden  Löwen  (Fig.  35), 
wo  sonst  gewöhnlich  die  Scheibe    zu  sehen  ist. 

Wenn  wir  kurz  zusammenfassen,  so  haben 
wir  es  hier  mit  Kunsterzeugnissen  zu  tun,  deren 
gleiche  Formgebung  auf  die  Gleichheit  des  Ge- 
dankens  zurückzuführen  ist,  den  sie  verkörpern. 
Parallel  den  Kuustformen  geht  die  mythische 
Überlieferung  der  Völker,  die  in  den  wesent- 
lichen Motiven  ebenfalls  völlige  Übereinstim- 
mung zeigt.  Die  Grundlage  der  Mythen  aber 
erweist  sich  als  gleich  mit  der  der  hier  be- 
sprochenen Motive  einer  primitiven  Kunst.  Diese 
wie  jene  spiegeln,  wo  älteste  unverderbte  Über- 
lieferung im  Spiele  ist,  lunare  Vorgänge  wieder. 
Der  gemeinsame  Schatz  an  Kunstformen  und 
das  gemeinsame  Gut  mythischer  Überlieferung 
sind  demnach  der  Ausdruck  einer  geschlossenen 
Weltanschauung,  einer  Weltanschauung,  die  von 
der  unsrigen  völlig  abweicht. 

Die  Weltanschauung,  in  der  wir  aufgewachsen 
sind,  die  unser  ganzes  Denken  ausfüllt,  möchte 
ich  als  die  wissenschaftliche  bezeichnen.  Als 
deren  Begründer  gelten  die  Griechen ,  die  bei 
ihren  Untersuchungen  nicht  von  Voraussetzungen 
übersinnlichen  Charakters  ausgingen,  sondern  an 
das    Zuuächstliegende,    die     umgebende    Natur, 


J)  Museen  z.  Berlin,  Mitteil.  d.  ägypt.  Abteil.  Bd.  I. 
Agypt.  Goldschmiedearbeiten,  Fig.  78. 

2)  Otto  Seeck,  Notitia  dignitatum,  Taf.  VIII. 

8)  Fischbach,  Die  wichtigsten  Webeornamente, 
Taf.  103  b. 


11 


anknüpften.  Schon  die  Vertreter  der  inilesi- 
schen  Naturphilosophie  ringen  um  eine  auf 
Beobachtung  gegründete  Naturerkenntiiis.  Pro- 
tagoras  spricht  später  den  stolzen  Satz  aus: 
Der  Mensch  ist  das  Maß  aller  Dinge.  Es  ist 
klar,  daß  die  darstellende  Kunst,  die  solchem 
geistigen  Nährboden  entsproß,  verwandter  Art 
sein  mußte.  Der  Leib  des  Menschen  als  Er- 
gebnis körperlicher  und  geistiger  Pflege  ist  das 
höchste  Ziel  des  Kunstschaffens. 

Während  bis  zu  dieser  Zeit  die  Menschen 
als  armselige  Schatten  erscheinen,  die  kommen 
und  gehen,  während  die  ägyptischen  Könige 
ihr  ganzes  Leben  lang,  das  ihnen  als  ein  flüch- 
tiges Nichts  erscheint,  ungeheure  Grabbauten 
aufführen,  um  sich  ein  Weiterleben  wenigstens 
im  toten  Stein  zu  erzwingen ,  steigert  sich  bei 
den  Griechen  das  Leben  des  Einzelnen  zur  un- 
vergänglichen Persönlichkeit.  Solange  es  Men- 
schen unserer  Art  geben  wird,  werden  die  Ge- 
stalten eines  Sokrates,  eines  Alkibiades  nicht 
verblassen.  Merkwürdig,  daß  der  Name  eines 
Phidias  in  aller  Munde  ist,  wo  doch  nicht  ein 
einziges  Werk  dieses  Mannes  auf  uns  gekom- 
men ist. 

Die  Griechen  sind  die  Begründer  einer  bis  dahin 
unbekannten  Kunst,  der  Persönlichkeitskunst. 

Den  Gegensatz  zur  wissenschaftlichen  Welt- 
anschauung bildet  jene  Weltanschauung,  welche 
die  Begründung  für  alle  Erscheinungen  nicht 
in  den  Dingen  selbst  sucht,  sondern  alles  ab- 
hängig von  einer  außerhalb  derselben  befindlichen 
Gewalt  macht.  So  erschien  der  Pflanzenwuchs 
den  alten  Indern  nicht  durch  das  Sonnenlicht 
bedingt,  sondern  abhängig  vom  Monde,  und 
zwar  in  der  Weise,  daß  der  Mond  sich  ins 
Wasser  begibt,  dieses  befruchtet  und  auf  diesem 
Mittelwege  durch  das  Wasser  auf  das  Gedeihen 
der  Pflanzen  Einfluß  nimmt.  Das  Leben  des 
Einzelnen,  das  Los  der  Völker,  das  Schicksal 
der  Welt,  alles  war  nur  eine  Wiederholung:  der 
Vorgänge  am  Himmel,  des  Geschehens  am 
Monde. 

Der  Urahne  aller  Könige  ist  ein  Sohn  des 
Mondgottes.  Sein  Lebenslauf  und  der  aller 
seiner  Nachfolger  ist  damit  festgelegt.  Ihr  aller 
Schicksal  ist  das  des  Gottes,  wie  es  der  Mythos 
erzählt.  Mag  die  Macht  eines  orientalischen 
Despoten  in  jener  alten  Zeit  noch  so  groß  ge- 
wesen sein,  für  die  Betätigung  eigenen  Willens 
und  Strebens  gab  es  in  einem  solchen  Leben 
wenig  Raum.  Ungeheurer  Glanz  und  schwerer 
Prunk  umgab  ihn,  unter  dem  sein  Ich  erstickte. 

Es  ist  klar,  daß  unter  solchen  Verhältnissen 
von  dem  Hervortreten  der  Persönlichkeit  des 
Künstlers  in  unserem  Sinne  nicht  die  Rede  sein 


konnte.  Im  Banne  der  alles  beherrschenden 
Überlieferung  steht  sein  Schaffen.  Er  ist  in 
allen  wesentlichen  Stücken  gebunden,  nur  in 
unbedeutenden  Einzelheiten  frei.  Dieser  Art 
Weltanschauung  entspricht  eine  völlig  andere 
Kunst,  die  unpersönliche  1). 

Es  ist  leicht  zu  zeigen,  daß  die  Kunst  des 
auf  eigene  Faust  lebenden  Jägers  rein  natura- 
listisch, die  des  in  Verbänden  lebenden  Acker- 
bauers unpersönlicher  Art  ist2). 

Dort,  wo  die  mythische  Weltanschauung  die 
Grundlage  eines  größeren  Staatswesens  ist,  wird 
selbstverständlich  die  unpersönliche  Kunst  an- 
zutreffen sein.  Das  ist  der  Fall  bei  den  alten 
Staaten  Vorderasiens,  in  Babylonien  und  Ägypten. 
Allerdings    finden    wir    zu    jenen    Zeiten    auch 


')  In  meinen  Aufsätzen:  „Prähistorie  und  Mythos", 

1910,  und  „Der  Mythos  als  Grundlage  der  Bauernkunst1', 

1911,  wies  ich  bereits  auf  die  auffallende  Erscheinung 
hin ,  daß  im  alten  Orient  zu  allen  Zeiten  Kunstwerke 
ganz  verschiedener  Art  gleichzeitig  auftreten,  nämlich 
solche,  die  auf  Grund  vorzüglicher  Naturbeobachtung, 
und  solche,  die  getreu  nach  der  Überlieferung  in 
strenger  Stilisierung  geschaffen  wurden. 

Unabhängig  von  mir  hat  Bela  Läzär  die  gleiche 
Beobachtung  gemacht  und  sie  in  einer  Abhandlung 
„Die  beiden  Wurzeln  der  Kruzifixdarstellung"  (Zur 
Kunstgeschichte  des  Auslandes,  Heft  98,  1912)  nieder- 
gelegt. 

Wenn  wir  in  der  Feststellung  des  Tatsächlichen 
übereinstimmen ,  so  gehen  wir  in  der  Erklärung  des- 
selben weit  auseinander. 

Läzär  erklärt  die  zwei  verschiedenen  Arten  der 
Darstellung  durch  zwei  verschiedene  Strukturen  der 
künstlerisch  schaffenden  Phantasie.  Nach  seiner  Mei- 
nung gibt  es  Künstler  mit  konkreter  und  solche  mit 
abstrakter  Phantasie.  Damit  ist  nicht  viel  gesagt.  Es 
ist  selbstverständlich,  daß  die  Psyche  zweier  Künstler, 
die  Kunstwerke  von  so  verschiedener  Art,  wie  beispiels- 
weise das  „Hundertguldenblatt"  und  das  hier  abgebildete 
Rundfenster  zu  Trau,  schufen,  von  Grund  aus  ver- 
schieden sein  muß.  Die  Annahme  zweier  verschiedener 
Phantasiestrukturen  ist  nichts  anderes  als  ein  Zurück- 
schrauben des  Problems.  Nun  muß  man  erst  von 
neuem  wieder  fragen:  Wie  kommt  es  denn,  daß  die 
Struktur  der  Phantasie  so  verschieden  ist? 

Die  Phantasie  eines  Künstlers  ist  durchaus  nicht 
völlig  frei.  Sie  reicht  nirgends  über  die  Bewußtseins- 
mannigfaltigkeit, über  das,  was  wir  Weltanschauung 
nennen,  hinaus.  Das  von  der  Phantasie  des  Künstlers 
angeregte  Werk  ist  der  getreueste  Spiegel  seines  Ichs, 
seiner  Weltanschauung.  Sehen  wir  zwei  Werke  von 
ganz  verschiedener  Art  der  Auffassung  nebeneinander, 
so  müssen  wir  notgedrungen  schließen ,  daß  die  Welt- 
anschauung der  beiden  Künstler,  die  sie  schufen,  in 
allen  Stücken  verschieden  war.  Hinreichend  erklärt 
weiden  die  beiden  Kunstwerke  hinsichtlich  ihres  Ge- 
haltes dann  sein,  wenn  wir  den  Weltanschauungen  der 
Schaffenden  nachgegangen  sind  und  ihre  Verschieden- 
heit klargelegt  und  begründet  haben. 

Diesen  Weg  zu  gehen,  habe  ich  mit  diesen  Zeilen 
versucht.  Und  es  hat  sich  gezeigt,  daß  es  durchaus 
nichts  Zufälliges  ist,  keine  Frage  des  Nervensystems 
im  psychologisch-naturwissenschaftlichen  Sinne,  ob  ein 
Künstler  naturalistisch-persönlich  oder  stilisiert-unper- 
sönlich schafft,  sondern  immer  eine  Frage  der  kultu- 
rellen Verfassung  des  Einzelnen. 

2)  v.  Spiess,  Die  kulturgeschichtliche  Bedeutung 
von  Tiurdarstellungen.     Programm  1913. 

2* 


12 


Regungen  der  anders  gearteten  Kunst,  der  per- 
sönlichen. Die  Mittelpunkte  jener  Staaten  waren 
große  Städte  und  dort  setzten  bereits  wissen- 
schaftliche Bestrebungen1)  ein,  freilich  noch 
durchaus  in  Verbindung  mit  Voraussetzungen 
aus  dem  Mythos.  Derartige  geistige  Strömungen 
Bind  im  Kunstschaffen  sogleich  fühlbar.  Im  baby- 
lonischen und  ägyptischen  Kulturkreise  finden 
wir  neben  den  nach  der  landläufigen  Tradition 
geschaffenen  Kunstwerken  auch  solche,  welche 
die  Persönlichkeit  des  Künstlers  schon  stark 
fühlen  lassen.  Man  denke  au  die  Wildeseljagd 
auf  einem  Relief  Asurbanipals  aus  Kujund- 
scliik 2)  oder  an  die  lebensvolle  Gestalt  eines 
ägyptischen  Kriegers  aus  dem  alten  Memphis 
auf  einem  Holzrelief  aus  dem  Grabe  des  Hesi3). 

In  Städten,  wo  die  mythische  Weltanschauung 
durchaus  herrschend  war,  wie  in  den  Städten 
von  Mittelamerika  und  von  Peru,  die  sogar  in 
ihrem  Bauplane  oft  den  Tierkreis  widerspiegeln, 
ist  man  nicht  imstande,  ein  Werk  zu  finden, 
welches  die  Züge  des  persönlichen  Künstlers 
trüge.  Hier  ist  alles  streng  im  Rahmen  einer 
unveränderlichen  Tradition  geschaffen. 

Der  Untergang  der  Antike  ist  verknüpft 
mit  dem  Niedergänge  wissenschaftlichen  Den- 
kens und  in  dessen  Gefolge  mit  dem  Erlöschen 
persönlicher  Kunst.  Die  ganze  byzantinische 
Kunst  ist  ein  Beweis  dafür. 

Wenn  man  in  Italien  im  13.  Jahrhunderte 
sich  an  ausgegrabenen  griechischen  Bildwerken 
in  römisch- hellenistischer  Nachschaffung  be- 
geistert, so  setzt  das  ein  Vorhandensein  einer 
neuen  Weltanschauung  voraus.  Mit  dem  Er- 
wachen der  Persönlichkeit  ersteht  eine  neue 
Kunst.  Notwendig  muß  sie  dort  ergänzend 
und  erweiternd  eiusetzeu,  wo  die  Hand  des 
Griechen  erlahmte. 

Von  Italien  griff  die  neue  Kunst  nach  allen 
Kulturländern  über,  wobei  zu  beachten  ist,  daß 
die  unpersönliche  Kunst  entsprechend  der  Un- 
bildung und  der  Abgeschlossenheit  der  großen 
Menge  und  der  Zähigkeit  der  Überlieferung 
nie  tranz  zum  Erlöschen  kam.  Sie  haftet  in 
Resten  sogar  noch  den  Werken  eines  Dürer4) 
an,  der  gelegentlich  mit  alten  Symbolen  ar- 
beitet; sie  ist  in  starkem  Maße  im  Kunsthand- 
werk nachzuweisen  und  erfüllt  in  hohem  Maße 


')  Wir  verdanken  den  Babyloniern  die  Grundlage 
aller  exakten  Wissenschaft,  die  Festlegung  der  Zeit- 
und  Längeneinheit. 

2)  Hunger  u.  Lamer,  Altorientalische  Kultur  im 
Bilde,  Fig.  124. 

3)  Maspero,  Ägyptische  Kunst,  S.  60,  Fig.  101. 

4)  Näheres  bei  lt.  Wustmann,  Von  einigen  Pflanzen 
und  Tieren  bei  Dürer.  Zeitschr.  f.  bildende  Kunst, 
46.  Jahrg.,  8.  109  ff. 


die  Volkskunst.  In  dieser  Kunst,  die  so  sehr 
von  Überlieferung  beherrscht  ist,  hat  sie  noch 
heute   Leben. 

Es  wird  sich  nun  darum  handeln,  alle  jene 
Merkmale  herauszuholen,  durch  welche  beide 
Arten  von  Kunstschaffen  einerseits  ausreichend 
charakterisiert  sind ,  anderseits  sich  vonein- 
ander wesentlich  unterscheiden. 

Ein  rein  äußerliches  Kennzeichen  gibt  uns 
einen  wertvollen  Fingerzeig.  Das  Werk  der 
persönlichen  Kunst  ist  eng  verknüpft  mit  der 
Person  des  Künstlers,  es  trägt  seiuen  Namen, 
es  ist  signiert.  Ein  Werk  der  unpersönlichen 
Kunst  kann  von  irgend  jemandem  verfertigt 
worden  sein,  es  ist  namenlos  ]). 

Sämtliche  Kunstschöpfungen  des  alten  Orients 
sind  insofern  als  unpersönlich  anzusehen,  als 
auf  keinem  Werke  der  Name  des  schaffenden 
Künstlers  zu  finden  ist,  auch  literarische  Werke2) 
niemals  mit  dem  Namen  eines  bestimmten 
Künstlers  verknüpft,  Künstlernamen  überhaupt 
unbekannt  und  nur  hie  und  da  durch  Zufall  auf 
uns  gekommen  sind. 

In  der  ägyptischen  Kunst  sind  wir  außer- 
stande, die  einzelnen  Kunstwerke  mit  bestimmten 
Namen  zu  verknüpfen.  Aus  den  Merkmalen 
Schulen  zusammenzustellen  und  diese  auf  den 
Namen  eines  Königs  oder  einer  Reihe  von 
Herrschern  zu  beziehen,  ist  alles,  was  sich  tun 
läßt.  Ein  seltsames  Geschick  hat  uns  aus  der 
memphitischen  Zeit  den  Namen  eines  Bild- 
hauers, Ptah-anch,  zugetragen,  der  sich  im 
Grabe  des  Bestellers  abgebildet  hat,  in  einer 
Barke  beim  Mahle  sitzend,  vom  Gesinde  be- 
dient 3).  Ein  anderer  Künstler  gräbt  an  einer 
leeren  Stelle  in  einem  Grabe  sein  Bild  ein,  das 
ihn  an  der  Staffelei  mit  Pinsel  und  Farbtopf 
fleißig  arbeitend  zeigt,  jedoch  vergißt  er  seinen 
Namen  beizusetzen.  Aus  späterer  Zeit  sind 
uns  die  Namen  von  einigen  Bildhauern  und 
Malern  dadurch  bekannt  geworden,  daß  sie  in 
den  Akten  als  Beamte  geführt  wurden  (Ober- 
und  Unterbildhauer !),  nicht  aber  im  Zusammen- 
hange mit  bestimmteu  Werken. 

Bei  den  Sumerern,  Babyloniern,  Assyrern  ist 
es  Regel,  daß  das  Kunstwerk  namenlos  ist.  So 
gilt    es    schon    als   etwas    Besonderes,   wenn    in 


x)  Wir  kennen  freilich  Werke  der  personlichen 
Kunst,  die  nicht  signiert  sind.  Hier  ist  das  Fehlen 
des  Namens  ein  bloßer  Zufall.  Wir  sind  dann  immer  in 
der  Lage,  die  besagten  Werke  einem  bestimmten 
Künstler  oder  wenigstens  einer  Schule  seines  Namens 
zuzuschreiben. 

2)  Vgl.  0.  Weber,  Die  Literatur  der  Babylonier 
und  Assyrer,  S.  34  ff. 

3)  Maspero,  Geschichte  der  Kunst  in  Ägypten, 
S.  65,  Fig.  111. 


13 


den  Quellen  einmal  der  Name  eines  Künstlers 
zufällig  auftaucht.  Für  die  alte  persische  Knust 
vermögen  wir  nicht  einen  einzigen  Künstler- 
namen anzugeben ,  haben  aber  durch  Quellen 
bezeugt,  daß  der  griechische  Künstler  Telephanes 
von  Pkokaia  am  Hofe  des  Dareios  und  Xerxes 
arbeitete. 

Während  wir  für  die  hohe  Kunst  des  alten 
Orieut  nur  sehr  wenige  Künstlernamen  und  kein 
einziges  signiertes  Kunstwerk  angeben  können, 
stoßen  wir  im  griechischen  Kunstgewerbe  schon 
zu  Anfang  des  6.  Jahrhunderts  auf  Künstler,  die 
ihre  Werke  signierten.  Auf  der  Fraucoisvase 
(Florenz)  lesen  wir:  Ergotimos  hat  sie  geformt, 
Klitias  sie  bemalt.  Von  500  an  ist  alle  bessere 
Keramik  signiert.  Da  erscheint  dann  im  wei- 
teren Laufe  der  Eutwickelung  eine  so  weit 
gehende  Differenziertheit  im  Gestalten,  daß  wir 
auch  ohne  Signatur  zwei  Vasen  aus  gleicher 
Zeit,  mit  gleicher  Art  der  Bemalung  dennoch 
als  von  zwei  verschiedenen  Künstlern  herrüh- 
rend erkennen  können.  Ganz  verschieden  ist 
die  Auffassung  eines  Brygos  von  der  eines 
Euphrouios. 

Der  Kunst  der  byzantinischen  Zeit  ist  ein 
Reichtum  an  Formen  und  eine  Höhe  der  Tech- 
nik nicht  abzusprechen.  Und  doch  macheu  die 
Werke  einen  ganz  anderen  Eindruck  auf  uns 
als  die  der  klassischen  und  hellenistischen  Zeit. 
Diese  andere  Art  wird  von  denen,  die  nur  auf 
Leistungen  der  persönlichen  Kunst  eingestellt 
sind,  als  Altersschwäche  oder  Entartung  der 
Kunst  bezeichnet.  Was  nach  den  bisherigen 
Ausführungen  vorauszusagen  ist,  den  mit  der 
Unpersöulichkeit  der  Kunst  zusammenhängenden 
Maugel  au  überlieferten  Künstlernamen  und  sig- 
nierten Werken,  finden  wir  in  der  byzantini- 
schen Kunst  glänzend  bestätigt.  Nur  durch 
Zufall  ist  uns  von  beiläufig  einem  Jahrtausend 
byzantinischer  Kuustentfaltung  eine  kleine  Zahl 
von  Künstlernamen  erhalten.  Signierte  Werke 
gibt  es  in  dieser  Kunst,  in  der  der  Begriff  der 
Persönlichkeit  eine  unbekannte  Größe  ist,  über- 
haupt nicht 1).  Der  Orient  hat  seine  Pforten 
geöffnet,  uralte  Motive,  die  Jahrhunderte  lang 
diesem  Bodeu  fremd  waren,  tauchen  wieder  auf. 

Halten  wir  dagegen  eine  Schaumünze  aus 
der  Zeit  der  Frührenaissance.  Auf  der  Rück- 
seite finden  wir  den  Namen  desseu,  der  sie  ent- 
worfen,   Pisano,    in    genau    so    großen    Lettern 


l)  Bei  F.  W.  Unger,  Quellen  zur  byzantinischen 
Kunstgeschichte  finden  wir  I,  S.  52  ff.  zehn  Namen  von 
Malern,  einen  Namen  eines  Metallarbeiters.  Von  Bild- 
hauern ist  nur  ein  Name  überliefert  und  bei  diesem 
ist  es  nicht  gewiß,  ob  er  nicht  der  Name  des  Stifters 
des  Werkes  ist. 


wie  den  Namen  dessen,  für  den  sie  geprägt 
wurde.  Die  Renaissance  gilt  als  die  Zeit  der 
großen  Persönlichkeiten.  Die  Persönlichkeit  des 
Künstlers  erhob  sich  hier  zu  einer  Größe  wie 
nie  später.  Die  stolzen  Künstlernamen  auf  den 
Schaumünzen  sind  ein  handgreiflicher  Beweis 
hierfür. 

Wiewohl  der  Umstand,  ob  ein  Kunstwerk 
zur  Gruppe  der  signierten  oder  der  niemals 
signierten  gehört,  für  die  Bewertung,  ob  es  der 
persönlichen  oder  der  unpersönlichen  Kunst  ent- 
stammt, von  großer  Bedeutung  ist,  so  ist  dieses 
Merkmal  zunächst  rein  äußerlicher  Natur  und 
es  wird  sich  nunmehr  darum  handeln,  beide 
Schaffensarteu  miteinander  zu  vergleichen. 

Wir  wollen  zunächst  die  Person  des  Ver- 
fertigers einer  nähereu  Betrachtung  unterziehen. 

Der  Schöpfer  der  Werke  der  persönlichen 
Kunst  ist  der  Künstler,  eine  besondere  Art 
Mensch.  Er  bildet  mit  den  Genossen  gleichen 
Strebens  eine  eigene  Gesellschaft,  deren  An- 
schauungen von  den  Anschauungen  der  gewöhn- 
lichen Menschen,  der  Bürger  und  Philister, 
wesentlich  abweichen.  Der  Küustler  vertritt 
zumeist  einen  besonderen  Zweig  der  Kunst,  er 
ist  wie  alle  Städter  Spezialist,  Maler,  Bildhauer, 
Musiker,  Dichter.  Zuweilen  tritt  wohl  eine 
Sehnsucht  darnach  auf,  die  Künste,  die  in  der 
Urzeit  einander  durchdringend  als  eine  selbst- 
verständliche, organische  Eiuheit  auftraten,  künst- 
lich zu  verschmelzen.  Allein  diese  Versuche 
können  nie  von  Erfolg  begleitet  sein.  Die 
Künste  haben  bei  den  Kulturvölkern,  vonein- 
ander getrennt,  eine  lauge  Eutwickelung  durch- 
gemacht, haben  dadurch  die  Beziehung  zuein- 
ander verloren,  woraus  sich  die  Unmöglichkeit 
ergibt,  die  weit  voneinander  abliegenden  Sproß- 
enden zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zu  ver- 
einigen. Stehen  nun  schon  die  Künstler  der 
verschiedenen  Kunstzweige  notgedrungen  ein- 
ander fremd  gegenüber,  so  werden  sie  von  der 
breiten  Menge  durch  eine  noch  größere  Kluft 
getrennt.  Es  ist  immer  nur  eine  bald  größere, 
bald  kleinere  Minderzahl  von  Menschen,  mit 
denen  sie  wirklich  in  Verbindung  stehen.  Dürer 
war  iu  den  Städten  Deutschlands  noch  durch 
seine  Holzschnitte  im  guten  Sinne  populär,  wäh- 
rend die  Renaissaucekünsüer  vielleicht  zum 
kleinsten  Kreise  von  Verständigen  sprachen. 
Der  Durchschnittsstädter  ist  in  Dingen  der  dar- 
stellenden Kunst  völlig  unproduktiv  und  befindet 
sich  daher  ganz  außerhalb  der  Entwickelungs- 
linie  des  Kunstschaffens.  Derartige  Menschen 
stehen  Kunstwerken  fremder  gegenüber  als 
Wilde.  Sie  sind  auf  das  Abbildungsmaterial 
einer  bestimmten  illustrierten  Zeitung  eingestellt 


14 


und   erklären   alles   andere    für  Schwindel,    ver- 
rückt oder  abscheulich. 

Ganz  im  Gegensatze  zum  Schöpfer  der  Per- 
sönlichkeitskunSt  steht  der  Verfertiger  von 
Werken  der  unpersönlichen  Kunst.  Derartige 
Werke  entstehen  heute  noch  in  Dörfern,  in 
Gebieten  geringer  Kultur  (Osten  von  Europa), 
oder  in  Gebieten  von  hochkonservativem  Geiste, 
wie  in  Tirol,  als  Erzeugnisse  des  Ilausfieißes, 
ferner  durch  den  Kunsthandwerker  des  Orients 
und  in  den  weiten  Gebieten  der  sogenannten 
kulturlosen  Völker.  Wenn  es  auch  in  den  Dör- 
fern besonders  Begabte  gibt,  so  kann  als  Er- 
zeuger der  Kunstwerke  doch  jedermann  ange- 
sprochen werden.  Der  Bauernküustler  sticht 
in  Nichts  von  seiner  Umgebung  ab.  Er  steht 
mit  den  Gefühlen  und  dem  Verlangen  aller 
seiner  Mitmenschen  in  engster  Beziehung.  Bei 
ihm  wie  bei  allen  anderen  ist  noch  die  Verbin- 
dung mit  den  Schwesterkünsten  vorhanden.  Er 
dichtet,  singt,  schnitzt  und  malt.  Und  das  alles 
bildet  eine  natürliche  Einheit.  Auch  einzelne 
besonders  begabte  Individuen  bleiben  hier  völlig 
im  jeweiligen  Rahmen  der  Gesellschaft.  Es  ist 
also,  wie  wir  sehen,  gar  kein  Grund  vorhanden, 
daß  hier  der  Einzelne  ein  Kunstwerk  mit  seinem 
Namen  verknüpft. 

Das  Leben  des  Persöulichkeitskünstlers  ist 
völlig  mit  den  Ideen  seiner  Kunst  ausgefüllt. 
Das  bringt  oft  vollständige  Weltfremdheit  mit 
sich,  die  sich  in  seinen  Werken  widerspiegelt. 
Die  Kunst  wird  auf  diesem  Wege  Selbstzweck 
—  l'art  pour  Part.  Mit  diesem  Ausspruche 
soll  uns  versichert  werden,  daß  künstlerisches 
Schaffen  auch  ohne  irgend  einen  Zusammenhang 
mit  dem  Leben  der  Allgemeinheit  bestehen 
könue. 

Der  Schöpfer  von  Werken  der  unpersön- 
lichen Kunst  ist  im  gewöhnlichen  Leben  Bauer. 
Nur  wenn  er  freie  Zeit  hat  und  gut  auf- 
gelegt ist,  wird  er  Künstler.  Hier  entspringt 
das  Kunstschaffen  aus  einem  Überfluß  an  Kraft, 
hier  ist  die  Kunst  Begleiterin  auf  dem  Lebens- 
wege. 

Auch  hinsichtlich  der  Wahl  des  Gegenstandes 
und  der  Verarbeitung  verhalten  sich  die  Künstler 
beider  Kunstarten   verschieden. 

Der  Persöulichkeitsküustler  ist  völlig  frei  in 
der  Wahl  seines  Vorwurfes  und  in  der  Ver- 
arbeitung desselben.  Die  Wahl  des  Stoffes,  das 
„Was",  als  etwas  Zufälliges  ist  von  geringerer 
Bedeutung  als  die  Ausführung,  das  „Wie".  So 
ist  die  Art  der  Ausführung  für  die  Wertung 
der  Persönlichkeit  allein  ausschlaggebend.  Hier 
liegen  ungezählte  Möglichkeiten  vor  und  wir 
bewerten  die  Persönlichkeit  eines  Künstlers  um 


so  höher,  je  reicher  und  origineller  der  Auf- 
wand seiner  äußeren  Mittel  ist.  So  erleben  wir 
eine  so  intensive  Steigerung  der  äußeren  Aus- 
drucksmittel,  daß  die  Technik  als  solche  schon 
(die  Wahl  der  Farben,  die  Linienführung)  psychi- 
sches Erleben  widerspiegelt. 

Der  Persönlichkeitsküustler  gestaltet  den 
Stoff  nach  seinem  inneren  Erleben.  Die  großen 
Persönlichkeitsknnstwerke  sind  große  Konfes- 
sionen. Wir  schätzen  solche  Werke  nach  dem 
Maße  des  ihnen  allein  zukommenden,  eigenen 
Gehaltes.  Die  Kunstgeschichte  der  hohen  Kunst 
ist  nichts  anderes  als  die  Aufeinanderfolge 
einiger  weniger  starker  Persönlichkeiten  und 
derjenigen,  die  ihrem  Beispiele  nacheiferten, 
wobei  die  Schule  immer  den  Niedergang  be- 
deutet, denn  sie  bietet  nichts  Neues,  nichts 
Eigenartiges. 

Wenden  wir  die  naturgeschichtliche  Betrach- 
tungsweise folgerichtig  auf  Erscheinungen  im 
Kunstschaffen  an ,  so  haben  wir  es  hier  eigent- 
lich gar  nicht  mit  einer  Entwickelung  —  vom 
rein  Technischen  abgesehen  —  zu  tun.  Die 
großen  Künstler  sind  das,  was  man  natur- 
geschichtlich als  Mutation  bezeichnet,  eine  neue 
Art,  die  sprunghaft,  völlig  fertig,  in  dem  für 
sie  Charakteristischen  ohne  Bezug  auf  Früheres 
auftritt.  Daraus  ergibt  sich,  daß  die  entwicke- 
lungsgeschichtliche  Betrachtung  nur  auf  die 
Schule  anwendbar  ist.  Hier  werden  bestehende 
Merkmale  weiter  gebildet  und  abgeändert. 

Dadurch,  daß  man  vom  Künstler  fortgesetzt 
Neues  fordert,  tritt  oft  ein  ungesundes  Haschen 
nach  Orginalität  bei  schwächeren  Naturen  ein, 
beim  Publikum  eine  übergroße  Wertschätzung 
äußerer  Merkmale.  Der  Blick  wird  vom  Ganzen 
abgezogen  uud  zu  sehr  auf  das  Technische,  die 
Mache  hin  gerichtet. 

Die  feine  Abschätzung  von  Kleinigkeiten  in 
der  Arbeitsweise  bringt  es  mit  sich,  daß  wir 
für  jeden  Künstler  nicht  nur  den  ihn  kenn- 
zeichnenden Stil,  den  Stil  seiner  Persönlichkeit, 
feststellen ,  sondern  an  den  Werken  aus  ver- 
schiedener Zeit  —  von  Jugendweihen  ganz  ab- 
gesehen  —  verschiedene  Entwickeluugsstufen 
dieser  Persönlichkeit  herausfinden. 

Insofern  als  die  schwächeren  Individualitäten 
von  einer  größeren  Persönlichkeit  abhängig  sind 
und  die  Arbeitsweisen  sich  in  gewissen  Punkten 
berühren,  können  wir  von  einem  Zeitstile 
sprechen,  in  dem  allerdings  die  Eigenart  des 
starken  Einzelnen  nicht  verschwindet.  Die  Gegen- 
wart freilich  mag  eines  ausgeprägten  Zeitstiles 
ermangeln,  da  das  universelle  Bewußtsein,  das 
in    der   ganzen  Welt,   in    den  Kunststilen    aller 


15 


Völker  nach  Vorbildern  sucht,  ein  Schaffen  nach 
einer  bestimmten  Richtuni;'  verhindert. 

Der  ßauernkünstler  verhält  sich  hinsichtlich 
Vorwurf  und  dessen  Verarbeitung  völlig  gegen- 
sätzlich. Die  Anzahl  der  zur  Verfügung  ste- 
henden Motive  ist  eine  geringe  uud  in  einem 
bestimmten  Gebiete  durch  die  jeweilige  Über- 
lieferung gegeben.  Diese  reicht  weit  zurück, 
oft  bis  in  die  Vorzeit l)  und  wurzelt  teils  in 
mythischen  Vorstellungen,  die  dem  Landvolke 
heute  kaum  mehr  bewußt  sind ,  oder  in  reli- 
giösen Mysterien,  deren  bildliche  Formung  oft 
auf  die  alten  Darstellungen  mythischen  Gehaltes 
zurückgeht  2). 

Ebenso  wie  der  Bauernkünstler  in  der  Wahl 
seines  Vorwurfes  eingeengt  ist,  ist  er  auch  in 
der  Ausführung  gebunden.  Im  Laufe  der  Zeit 
hat  sich  eine  bestimmte  Anzahl  von  Auffas- 
sungen und  Ausführungen  herausgebildet,  die 
nun  getreu  nachgebildet  werden,  ohne  daß  der 
Einzelne  darüber  hinausginge  oder  Neues  er- 
streben würde.  Während  beim  Persönlichkeits- 
künstler die  Technik  allein  nicht  nur  ein  Be- 
stimmungsmerkmal für  die  Person,  sondern  sogar 
für  eine  bestimmte  Zeit  abgibt,  ist  die  Technik 
von  Werken  der  Volkskunst  zunächst  unab- 
hängig von  der  Person  uud  durch  lange  Zeit, 
oft  durch  Jahrhunderte  dieselbe  3). 


:)  Bobrinsky  (Volkstümliche  russische  Holz- 
arbeiten 1911)  führt  das  auf  russischen  Holzarbeiten 
auftretende  Motiv  „Scheibe  mit  paarigen  Vögeln"  auf 
das  in  der  Hallstattzeit  häufige  Motiv  gleicher  Art 
zurück  und  legt  ihm  zugleich  mit  Dechelette  eine 
besondere  Bedeutung  zu. 

Ahnliches  habe  ich  in  meinem  Aufsatze  „Der 
Mythos  als  Grundlage  der  Bauernkunst"  1911  ausge- 
führt, wo  ich  die  Gruppe:  Paarige  Vögel  zu  seiten 
eines  Baumes,  Gefäßes,  der  Scheibe  usw.  eingehend  be- 
handelte und  reichliches  Ver^leichsinaterial  beibrachte. 

Auch  die  russischen  Holzschüsseln  in  Vogelform 
bringt  Bobrinsky  in  Zusammenhang  mit  prähistori- 
schen Formen,  wie  ich  das  in  meinem  1912  gehaltenen 
Vortrage  „Die  Behälter  des  Unsterblichkeitstrankes" 
getan  habe,  und  hält  auch  die  Form  nicht  für  zu- 
fällig, sondern  im  Zusammenhange  stehend  mit  be- 
stimmter mythischer  Überlieferung  Allerdings  bezieht 
er  das  Motiv  in  der  jetzt  noch  geläufigen  Weise  auf 
die  Sonne,  ohne  sich  für  die  Beweisführung  anderer 
Argumente  als  abgebrauchter  Schlagwörter  und  unbe- 
wiesener Vermutungen  zu  bedienen.  (Nach  dem  deut- 
schen Texte,  S.  18  ff.) 

Die  Stärke  der  Tradition  zeigt  sich  auch  darin, 
daß  in  der  Reliefschnitzerei  von  Gefäßen,  Klopfhölzern 
und  Teilen  von  Pferdegeschirren  ein  Flechtmuster  er- 
scheint, daß  2500  Jahre  v.  Chr.  in  Vorderasieu  geläufig 
war  und  das  Morgan  als  „Torsade  elamite"  bezeichnet 
(Memoires  VII,  129),  zu  dem  noch  ein  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  zur  Sassanidenkunst  verfolgbares,  herzför- 
miges Muster  (Memoires  VIII,  94)  tritt  (Bobrinsky, 
1.   c,  Deutscher  Text,  8.46). 

2)  K.  v.  Spie  ss,  Trinitätsdarstellungen  mit  dem 
Dreigesicht.     Werke  der  Volkskunst   1914. 

3)  In  der  Bauernkuust  finden  sich  oft  die  Nieder- 
schläge der  großen  Stile  der  Stadtkunst,  wie  der  Renais- 
sance, der  Barocke  usw.    Sie  sind  als  fremdes  Gut  stets  von 


Insofern  als  gewisse  Nationen  oder  Völker 
bestimmte  Motive  bevorzugen  und  dem  Dar- 
gestellten eine  eigene  Ausgestaltung  erteilen, 
woraus  die  Volkszugehörigkeit  ohne  weiteres 
erkenntlich  ist,  können  wir  von  einem  National- 
stile sprechen,  insofern  als  gewisse  Motive  der 
Unpersönlichkeitsknnst  ihrer  Formgebuug  nach 
auf  dem  ganzeu  Kreise  Europa — Asien— Ame- 
rika in  gleicher  Ausbildung  auftreten,  von  einem 
Ewigkeitsstile.  Denken  wir  an  die  Gruppe  zu 
Dreien ,  so  handelt  es  sich  dabei  um  Formen, 
die  nicht  dem  Wandel  der  Zeit  unterliegen,  die 
nicht  ein  Geschehen  von  dieser  Welt,  son- 
dern letzten  Endes  Vorgänge  am  Himmel,  die 
Formwandlungen  am  Monde  darstellen.  Seine 
Gestaltsänderung  ist  aber  nur  ein  Beispiel  für 
die  allgemeine  Wandlung,  für  die  des  Menschen 
und  des  Weltalls.  Über  Mikrokosmos  und  Ma- 
krokosmos waltet  das  gleiche  Gesetz:  Geburt, 
Tod,  Wiederkehr. 

Wie  verhalten  sich  die  Werke  beider  Kunst- 
arten hinsichtlieh  ihrer  Bestimmung  und  ihres 
Endzweckes? 

Die  Werke  der  Persönlichkeitskunst  auf  Ver- 
anlassung weniger,  der  Befehlenden  und  Be- 
sitzenden, ausgeführt,  haben  den  Zweck,  ihre 
Paläste  zu  schmücken.  Für  wenige  berechnet, 
sind  sie  der  großen  Menge  unzugänglich  :). 
Auch  dort,  wo  derartige  Kunstwerke  in  Kirchen, 
in  öffentlichen  Gebäuden  und  auf  Plätzen  auf- 
treten, rühren  sie  nicht  an  die  Seele  des  Volkes, 
da  sie  ja  vor  allem  dazu  bestimmt  sind,  die 
Macht  der  Herrschenden  nach  außen  hin  kund- 
zutun. 

Diese  Umstände  bringen  es  mit  sich,  daß 
die  Persönlichkeitskunst  nicht  in  die  breiten 
Schichten  des  Volkes  dringen   kann. 

Wenn  der  Endzweck  der  persönlichen  Kunst, 
wie  der  jeder  Kunst,  der  ist,  bestimmte  Ge- 
danken und  Gefühle  zum  Ausdrucke  zu  bringen, 
so  ist  es  nach  dem  bereits  Gesagten  leicht  ver- 
ständlich, daß  dieser  Endzweck  der  persönlichen 
Kunst  am  besten  dort  erreicht  wird,  wo  per- 
sönliche   und    unpersönliche   Kunst    noch   näher 

dem  Bodenständigen  zu  trennen.  Die  Volkskunst  eines 
Landes  ist  um  so  reiner  und  ursprünglicher,  je  weniger 
sie  derartige  städtische  Anleihen  aufweist.  Schwedische, 
isländische,  russische  Volkskunst. 

:)  Mau  denke  an  die  Trostlosigkeit  der  Bilder- 
galerien, wo  zumeist  noch  die  Bilder  wahllos  über- 
und  nebeneinander  hängen.  Es  gehört  eine  große  Ab- 
härtung dazu,  um  in  dem  grenzenlosen  Durcheinander 
der  verschiedensten  Eindrücke  auch  nur  ein  wenig  ge- 
nießen zu  können.  Demjenigen  aber,  der  in  unbefan- 
genem Verlangen  zum  ersten  Male  derartige  Kata- 
komben betritt,  wird  auf  lange  Zeit,  wenn  auch  nicht 
für  immer  der  Appetit  vergehen.  In  der  Mehrzahl  der 
Fälle  allerdings  ist  der  Besuch  der  Galerien  keine 
seelische,  sondern  nur  eine  touristische  Leistung.    ' 


16 


der  gemeinsamen  Wurzel  liegen.  Die  weitere 
Entfaltung   iler   Persönlichkeitskunst   bringt    es 

mit  sich,  <lnß  die  Künstler  von  der  Darstellung 
allgemeiner  Ideen  immer  mehr  abgedrängt  und 

dazu  geführt  werden,  nicht  nur  die  Umwelt, 
sondern  auch  Szenen  mit  bestimmter  Über- 
lieferung nach  eigenem  Gutdünken  auszuge- 
stalten. In  steigendem  Maße  wird  auf  das  rein 
Technische  und  rein  Äußerliche  ein  zu  großes 
Gewicht  gelegt,  oder  aber  derartig  willkürlich 
mit  der  Ausgestaltung  bestimmter  Motive  ver- 
fahren, daß  dann  Schöpfungen  entstehen,  die 
mit  dem  Namen  dessen,  was  sie  eigentlich  dar- 
stellen sollen,  nichts  mehr  zu  tun  haben. 

Das  große  Wandbild  eines  Unbekannten  im 
Campo  santo  zu  Pisa,  der  Triumph  des  Todes, 
ist  sicher  das  Werk  eines  persönlichen  Künst- 
lers, eines  Realisten  ungebrochenster  Kraft,  und 
doch  ist  alles  in  diesem  Bilde  einer  großen 
Idee  so  unterstellt,  daß  das  Bild  der  Gegenwart 
völlig  entrückt  als  eines  der  größten  Mensch- 
heit swerke  vor  unseren  Augen  sich  aufrollt. 

Die  Versuchung  Christi  von  Tintoretto  in 
der  Scuola  di  San  Koeco  zeigt  uns,  wie  die 
Phantasie  des  persönlichen  Künstlers  mit  Szenen 
bestimmter  Überlieferung  umgeht.  Vor  Christus 
steht  hier  nicht  der  Teufel,  sondern  eine  schöne 
geflügelte  Frauengestalt.  Der  biblische  Gehalt 
der  Szene  ist  hier  bereits  völlig  umgewertet. 
Tintoretto  will  uns  etwa  sagen:  Der  sittliche 
Wille  des  Menschen  muß  die  Sinnlichkeit  über- 
winden.    So  entsteht  Kultur. 

Die  Bilder  religiösen  Stoffes  von  Rubens 
und  Jordaens  verdeutlichen  uns,  wie  am  Ende 
fortgesetzter  persönlicher  Auffassuug  von  einem 
ehemaligen  Inhalte  überhaupt  nichts  mehr  zu 
verspüren  ist.  Die  Altarbilder  Rubens  über- 
raschen uns  durch  die  Schönheit  der  dargestellten 
Menschen,  durch  die  spielerische  Leichtigkeit 
der  Komposition ,  durch  den  sinnlichen  Glanz 
der  Farben.  Das  alles  aber  vermag  nicht  hinweg- 
zutäuschen über  den  Mangel  jeglichen  geistigen 
Gehaltes.  Die  Gestalten,  verkleidete  Satyrn 
und  Faune,  langweilen  sich  in  der  ihnen  auf- 
gezwungenen Pose.  Die  Altarbilder  Jordaens 
sind  mühsam  gestellte  Gruppen  von  Trunken- 
bolden und  Fettwänsten,  die  mißmutig  sind,  weil 
sie  nicht  an  der  langen  Tafel  bei  vollen  Schüsseln 
und    Humpen  sitzen. 

Wollte  man  derartige  Bilder  nur  vom  rein 
inhaltlichen  Standpunkte  aus  beurteilen,  so  würde 
man  dem  Künstler  schwer  Unrecht  tun. 

Wir  sehen  immer  das  gleiche  Spiel.  Der 
Künstler,  der  eigene  Ziele  verfolgt,  gewinnt  zwar 
für  seine  Persönlichkeit,  vereinsamt  aber  und 
verliert  au  Beziehung  zu  seiner  Mitmeuschheit. 


Die  unpersönliche  Kunst  ist  ausschließlich 
Zweckkunst1).  Da  gibt  es  kein  \YTerk,  das  als 
Prunkstück  nur  zum  Bestaunen  und  zum  Be- 
wundern geschaffen  wäre,  das  nicht  irgend  eine 
Verwendung  hätte.  Diese  Kunst  greift  überall 
ins  alltägliche  Leben  ein.  Die  Wände  des  Hauses 
werden  mit  Ornamenten  bemalt,  die  Türstöcke 
geschnitzt,  die  Giebel  verziert.  Jedes  der  Ein- 
richtungsstücke zeigt  irgend  einen  Schmuck, 
meist  von  der  Hand  des  Besitzers  oder  dessen 
Vorfahren  selbst  geschaffen.  Die  Gebrauchs- 
gegenstände bis  zum  hölzerneu  Trinkgefäß  und 
zur  irdenen  Schüssel,  die  Arbeitsgeräte  bis  zum 
Wetzsteinbehälter  und  zum  Wäscheklopfholz, 
alle  sind  in  reichstem  Maße  ausgeschmückt,  mit 
Ornamenten  und  Gestalten  bedeckt.  Den  Fest- 
tagen wird  erhöhte  Weihe  gegeben  durch  Spiele 
mit  eigenen  Masken  (Paradies- ,  Fastuachts-, 
Ptingstspiele  usw.),  durch  Gebäcke  besonderer 
Form,  die  Gebildbrote  usw.  Besonders  dort 
setzt  diese  Kunst  ein,  wo  es  gilt,  die  für  den 
Menschen  wichtigsten  Abschnitte  seines  Daseins, 
die,  wie  wir  sahen,  in  Beziehung  zum  Kosmos 
gesetzt  wurden,  zu  feiern :  Geburt,  Hochzeit  und 
Tod.  Er  begeht  sie  in  besonderem  Kleide,  das 
die  Frauen  nach  altüberkommener  Art  fertigen 
und  ausschmücken,  im  Tauf-,  Hochzeits-  und 
Totenhemd.  Jedes  Volk,  jeder  Kreis  hat  im 
Zusammenhange  mit  seinen  eigenen  Gebräuchen 
auch  seine  eigenen  Gewänder,  Schmuckgegen- 
stände, Geräte  mit  bestimmter  Verzierung  für 
diese  besonderen  Tage,  da  der  Mensch  heraus- 
tritt aus  der  Allgemeinheit. 

Es  ist  klar,  daß  die  kunstgeschichtliche  Be- 
trachtung, die  bis  jetzt  fast  ausschließlich  den 
Werken  der  persönlichen,  auf  eine  bestimmte 
Zeit  abgestimmten  Kunst  galt,  für  die  Werke 
der  unpersönlichen  Kunst  keinen  Raum  hatte. 
An  manchen  Stellen  war  es  freilich  notwendig, 
auch  auf  diese  Werke  einzugehen,  die  dann  als 
Erzeugnisse  einer  frühen,  verwilderten  oder 
Barbarenkunst  den  Werken  der  hohen  Kunst 
gegenübergestellt  wurden.  Waren  derartige 
Werke  aus  edlem  Stoffe  gefertigt  und  von 
vollendetem  Stile,  so  ordnete  man  sie  ins  Kunst- 
gewerbe ein  oder  wies  sie  der  Kleinkunst  zu, 
wo  die  heterogensten  Schöpfungen  friedlich 
nebensammen  stehen  mußten.  Daß  man  in  Ver- 
folgung der  „hohen"  Kunst  oft  unmittelbar  auf 
die  „Barbaren"-Kunst  stieß  und  sich  mit  dieser 


')  Das  Kunstgewerbe,  vertreten  durch  Namen  be- 
rühmter Meister,  ist  bis  auf  unsere  Zeit  nie  Zweckkunst 
gewesen,  da  es  lediglich  als  eine  Verkleinerung  der 
großen  Kunst  erscheint.  Vgl.  hierzu  die  treftenden 
Ausführungen  0.  Kümmels  in  „Illustrierte  Geschichte 
des  Kunstgewerbes"   II,  S.  722  ff. 


17 


notgedrungen  abgeben  mußte,  erwuchs  aus  der 
ohne  jede  Begründung  und  Notwendigkeit  von 
der  Naturwissenschaft  übernommenen  Entwicke- 
lungshypothese.      Nach    ihr    bewegen    sich    alle 
Kunsterscheinungen     in     einer     ununterbrochen 
nach    aufwärts    strebenden    Linie.     Da   die    Ge- 
schichte  aber  das  Gegenteil   zeigt,   nämlich  am 
Ausgange    einer   jeden    Kulturepoche    ein    Zu- 
sammenbrechen    der    Persönlichkeitskunst,     so 
mußte  dann  die  „ Barbaren "-(Völkerwanderungs-) 
Kunst  herhalten,  um  das  „Stillstehen"  und  die 
„toten  Punkte"  in  der  angeblichen  Ent- 
wickeln"   zu    illustrieren.     Wie    völlig 
falsche  Vorstellungen  erweckt  eine  der- 
artige  Auffassung!      Dieses   Stillstehen 
der  Entwickelung   besteht  in  Wahrheit 
darin,  daß  Völker  niedriger  Kultur  mit 
ihrer  unpersönlichen  Kunst  die  Gebiete 
ehemaliger  persönlicher  Kunstübung  be- 
zogen, daß  sich  eine  neue  lebeusfrische 
Kulturschichte     allenthalben    auf    eine 
alte,  abgestorbene  legte. 

Entsprechend  den  drei  hervor- 
stechenden Kulturstufen,  der  Höhlen-, 
Dorf-  und  Stadtkultur,  rinden  wir  auch 
drei  verschiedene  Kunstübungen:  die 
ausschließlich  naturalistische,  die  un- 
persönliche und  die  persönliche. 

Diese  drei  Stämme  des  Kunst- 
schaffens, die  wesensfremd  einander 
gegenüberstehen,  greifen  in  der  Ge- 
schichte der  Menschheit  oftmals  über- 
einander. Auch  heutigen  Tages  beob- 
achten wir  bei  genauerem  Zusehen  zwei 
Kulturschichten  übereinander,  die  länd- 
liche und  die  städtische.  Wollen  wir 
nun  bei  Besprechung  des  künstlerischen 
Schaffens  den  tatsächlichen  Verhält- 
nissen gerecht  werden ,  so  dürfen  wir 
nicht  eine  Reihe  von  Erscheinungen, 
wenn  sie  uns  auch  zunächst  liegen  und 
am  verständlichsten  sind,  herausgreifen 
und  die  anderen  dabei  völlig  übersehen. 

Demnach  wäre  der  Stoff  der  Kunstgeschichte 
dreifach  zu  teilen : 

1.  Rein  naturalistische  Kunst. 

2.  Unpersönliche  Kunst. 

3.  Persönliche  Kunst. 

Bevor  ich  nun  daran  gehe,  das  Forschungs- 
feld der  unpersönlichen  Kunst  näher  zu  ent- 
wickeln, sei  erwähnt,  daß  in  Übergangszeiten 
oft  beide  Kunstarten  an  einem  Kunstwerke 
nebeneinander  vorkommen  werden. 

Als  Beispiel  sei  ein  Flachrelief  früheine- 
sischer  Kunst  (524  n.  Chr)  angeführt.  Auf  dem 
den  Steinuntersatz  der  Maitreyatigur  (Nordwei) 


zierenden  Flachrelief ')  (Fig.  36)  sehen  wir  auf 
zwei  übereinander  liegenden  Streifen  eine  Pro- 
zession des  Stifters  abgebildet,  der  mit  großem 
Gefolge  des  Weges  zieht.  Die  Darstellung,  die 
eigentlich  nichts  anderes  ist  als  eine  Über- 
tragung von  Malerei  auf  Stein,  da  ihr  jedes 
räumliche  Gestalten  fehlt,  ist  von  großer  Le- 
bendigkeit und  setzt  gute  Naturbeobachtung 
voraus.  Ihr  liegt  das  Bestreben  zugrunde,  einen 
tatsächlichen  Vorgang  möglichst  getreu  wieder- 
zugeben.   Befremdend    wirkt    nur    die    Füllung 

Fig.  36. 


«r  n  f"_ 


jeglichen     leeren    Raumes     durch    Rankenwerk 
und  stilisierte  Tiere. 

In  schroffem  Gegensatze  zu  diesen  beiden 
Streifen  steht  der  darunter  befindliche  dritte 
Streifen.  Da  sehen  wir  zwei  Löwen  mit  zausiger 
Mähne  und  aufgesperrtem  Rachen  zu  beiden 
Seiten  einer  aus  einer  Lotosblüte  auftauchenden 
weiblichen  Gestalt,  die  auf  dem  Haupte  eine 
große  flache  Schale  mit  einem  Räuchergefäße  in 
Kucelform    trägt.      Auch    hier    sind    Zwisehen- 


*)  Abgebildet  bei  Miinsterberg,  Chinesische  Kunst- 
geschichte nach   Bushell  1,    141,   Fig.  102. 

3 


18 


räume  mit  stilisierten  Blüten,  Blättern  und  Tieren 
erfüllt. 

Die  regelmäßige  Anordnung  dieser  Gruppe 
und  ihre  Stilisierung  läßt  sofort  erkennen,  daß 
es  sich  hier  nicht  um  die  Wiedergabe  irgend 
eines  Erlebnisses  handelt,  sondern  um  die  Ver- 
körperung eines  bestimmten  Gedankeniuhaltes. 
Das  ergibt  sich  ferner  daraus,  daß  die  darüber 
dargestellte  Szene  in  genau  derselben  Ausbil- 
dung nicht  wieder  nachzuweisen  ist,  während 
die  darunter  dargestellte  Gruppe  sich  in  genau 
gleicher  Ausführung  noch  öfters  vorfindet.  Als 
Beispiele  seien  angeführt  die  Vorderseite  des 
„Tama-muschi"-Schreiues  (etwa  600  n.  Chr.),  auf 
der  wieder  das  kugelförmige  Räuchergefäß 
zwischen  zwei  geflügelten  Fabeltieren  abgebildet 
ist,  und  von  weit  abliegendem  Gebiete  das  gleiche 
Motiv  auf  einem  bemalten  Stoffe  aus  Tun  Huang 
(Sammlung  Peliot,  Louvre). 

Uns  bietet  diese  Gruppe  nichts  wesentlich 
Neues.  Das  kugelförmige  Weihrauchbeckeu  steht 
au  Stelle  der  Perle,  die  von  den  Drachen  ge- 
hütet oder  bedroht  wird. 

Wir  haben  für  diese  Zeiten  des  Überganges 
noch  mit  einer  anderen  Möglichkeit  zu  rechnen, 
nämlich  mit  der  Vermischung  beider  Dar- 
stellungsarten. 

Als  Beispiel  hierfür  führe  ich  einen  der 
babylonischen  Etana-Siegelzylinder  an,  und  zwar 
den  im  Louvre  befindlichen  (Zeit  ungefähr  1.  Hälfte 
des  2.  Jahrtausends).  Von  der  ganzen  Darstellung 
greife  ich  den  Einporflug  des  Helden  mittels 
des  Adlers  heraus.  Die  Gruppe  zeigt  streng 
symmetrische  Anordnung.  Unterhalb  des  Adlers 
zwei  Hunde  beiderseits  eines  behenkelten  Ge- 
fäßes, zu  beiden  Seiten  dieser  zwei  Gestalten. 
Diese  Darstellung  geht  offenbar  auf  eine  ältere, 
ganz  anders  geartete  zurück.  Darauf  weist  auch 
der  Kopf  des  Adlers  hin,  der  auf  dem  Pariser 
Zylinder  nicht  zu  erkennen,  auf  dem  Berliner 
aber  löweuköpfig  ist.  Es  handelt  sich  hier  also 
nicht  um  die  Darstellung  eines  tatsächlichen  Ge- 
schehens, um  den  Raub  eines  Menschen  durch 
einen  Vogel,  sondern  um  die  Darstellung  eines  ge- 
dachten Vorganges,  einer  Szene  aus  dem  Mythos. 
Die  diesem  Stoffe  entsprechende  Darstellungsart 
wäre  die  der  unpersönlichen  Kunst.  Den  Grund- 
sätzen der  persönlichen  Kunst  entspricht  die 
Behandlung  der  zwei  dem  Etana  nachblickenden 
Gestalten.  Sie  sind  trefflich  in  der  Bewegung, 
so  gut  nach  dem  lebenden  Vorbilde  erfaßt,  daß 
durch  sie  die  Bedeutung  des  Vorganges  zurück- 
gedrängt, das  Gegenständliche  in  den  Vorder- 
grund gerückt  wird.  Diese  zwei  Menschen  sind 
bereits   das  Werk   eines  persönlichen  Künstlers. 


Aus  den  bis  jetzt  augeführten  Beispielen 
ergibt  sich,  daß  ein  Erzeugnis  der  unpersön- 
lichen Kunst  an  der  Wahl  und  Verarbeitung  der 
Motive  rein  äußerlich  erkannt  werden  kann,  ab- 
gesehen davon,  daß  ein  solches  Werk  niemals 
ein  tatsächliches  Ereignis  darstellt,  sondern  immer 
auf  etwas  Gedeutetes,  Erdachtes  zurückgeht  und 
dies  bei  aller  gegenständlichen  Darstellung  betont. 

Auf  beschränktem  Räume  wurden  hier  einige 
Abwandlungen  der  Gruppe  zu  Dreien  besprochen 
und  es  seien  hier  noch  einige  der  wichtigsten 
Motive  der  unpersönlichen  Kunst  genannt. 

Zu  der  Gruppe  zu  Dreien  gehört  noch  das 
Motiv  der  Dreiköpfigkeit  (drei  Köpfe  über-  oder 
nebeneinander)  und  der  Dreigesichtigkeit,  ferner 
das  Motiv  des  Lebensbaumes  mit  den  Tieren. 
Dadurch,  daß  das  Mittelstück  wegfällt,  erhalten 
wir  die  Gruppe  zu  Zweien.  Formen:  1.  Paarige 
Tiere  getrennt,  a)  einander  zu-,  b)  einander  ab- 
gekehrt. 2.  Paarige  Tiere  vereinigt,  Doppel- 
tiere, z.  B.  Doppeladler.  Oft  soll  ein  Gegensatz 
in  der  Beleuchtung  ausgedrückt  werden;  dann 
finden  wir  eine  helle  und  eine  dunkle  Gestalt  ein- 
ander gegenübergestellt.  (In  übertragener  Be- 
deutung z.  B.  Hase  und  Kröte.)  Daneben  gibt 
es  Formen,  die  halb  hell  (weiße,  glatte,  goldene 
Haut),  halb  dunkel  (rauhhaarig,  mit  Schuppen 
bedeckt)  gedacht  sind  (Meerweibchen,  Melusine, 
Skylla).  Als  bedeutsames  Motiv  finden  wir  in 
ganz  eigenartiger  Ausbildung  über  die  ganze 
Erde  verbreitet  den  Kampf  des  Helden  mit  den 
Tieren.  Gewissermaßen  ein  Verkürzungsmotiv 
hiervon  ist  der  „Kopf  im  Rachen"  und  eine 
Parallelform  der  Kampf  der  Tiere.  Hiermit 
wären  einige  der  wichtigsten  Motive  der  unper- 
sönlichen Kunst  hinsichtlich  ihrer  gegenständ- 
lichen Seite  aufgezählt. 

Wenn  es  sich  darum  handelt,  das  Gebiet  der 
unpersönlichen  Kunst  abzugrenzen,  so  umfaßt  es 
der  Hauptsache  nach  die  Kunsterzeugnisse  ge- 
schichtsloser  Völker  und  solcher  bereits  im  Be- 
sitze der  Schrift  befindlicher  Völker,  deren  Welt- 
anschauung noch  im  Mythos  wurzelt. 

Es  kommen  daher  in  erster  Linie  die  Kunst- 
werke der  vorgeschichtlichen  Zeit  in  Betracht, 
insofern  es  sich  um  Ackerbauer  und  nicht  um 
Jägervölker  handelt,  also  die  Fundstücke  aus 
neolithischer  Zeit  und  der  folgenden  Entwicke- 
luugsstufen.  Die  Bildwerke  frühgeschichtlicher 
Zeit  tragen,  wenn  sie  aus  Ägypten  oder  Baby- 
lonien  kommen,  oft  schon  fremdartige  Züge  an 
sich,  die  davon  herrühren,  daß  wir  es  bereits 
mit  einer  Vermischung  zweier  Kunstarten,  per- 
sönlicher und  unpersönlicher,  zu  tun  haben. 
Wenn  auch  die  Weltanschauung  der 'Ägypter, 
Phöniker   und  Babylonier   durchaus    im  Mythos 


19 


fußt,  so  hatte  die  hoch  ausgebildete  Stadtkultur 
bereits  den  Ansät/,  zu  dem  gezeitigt,  was  wir  als 
persönliches  Element  erkennen.  Derartige  Ein- 
flüsse verschwiuden  sofort,  wenn  wir  auf  Zeiten 
zurückgreifen ,  wo  die  Stadtkultur  noch  nicht 
bestand,  oder  wenn  wir  uns  zu  anderen  Völkern 
begeben,  die  zur  selbeu  Zeit  noch  keine  Stadt- 
kultur besaßen.  Die  älteste  Frühkunst  Griechen- 
lands, z.B.  die  Fundstücke  der  tiefsten  Schichten 
von  Mykenä  und  Tyrins  J),  vielleicht  gleichaltrig 
mit  den  babylonischen  Siegelzylindern,  weisen 
uns  die  unpersönliche  Kunst  in  schönster  Aus- 
prägung, während  wir  bei  den  Siegelzyliudern 
die  starke  Einwirkung  von  persönlicher  Kunst 
zu  fühlen  bekamen.  Dort  aber,  wo  die  ausge- 
sprochene Burgenkultur  (Kreta,  Mykenä  usw.) 
einsetzt,  die  Persönlichkeit  innerhalb  einer  kleinen 
Gesellschaft,  der  Burgherren,  erwacht,  dort  er- 
steht mit  einem  Male  die  Persönlichkeitskunst 
in  einer  Stärke  des  Ausdruckes,  der  den  Be- 
schauer der  Wandmalereien  von  Knossos  in  das 
größte  Erstaunen  versetzt. 

Man  ruft  verwundert  aus:  Wie  war  das  zu 
dieser  Zeit  nur  möglich,  und  bedenkt  nicht,  daß 
das  Kunstschaffen  nicht  von  der  Stellung  in  der 
Zeitlinie,  sondern  einzig  und  allein  von  der 
psychischen  Verfassung  des  Verfertigers  ab- 
hängig ist. 

Mit  dem  Verfalle  der  Mittelmeerkultur  setzt 
überall  die  unpersönliche  Kunst  ein,  byzantinische 
und  Völkerwanderungskunst  genannt,  wobei  letz- 
tere in  die  Abschnitte:  Kaukasus-,  skythische, 
gotische,  langobardische,  angelsächsische,  irische 
Kunst  zu  gliedern  wäre.  Bei  der  byzantinischen 
Kunst  wäre  besonders  auf  das  Moment  der 
Stadtkultur  hinzuweisen,  durch  welches  die  un- 
persönliche Kunst  wesentlich  getrübt  erscheint. 
Über  Deutschland  (Merovinger  Zeit)  ist  das 
Wirken  der  unpersönlichen  Kunst  bis  nach  Eng- 
land und  Irland  zu  verfolgen.  Im  Figürlichen 
des  romanischen  Stiles  findet  diese  Art  Kunst 
ihre  letzte,  große  Wiederbelebung  auf  euro- 
päischer Erde. 

Auf  dem  Boden  der  Volkskunst  hat  sich  die 
unpersönliche  Kunst  bis  auf  den  heutigen  Tag 
erhalten.  Die  uralten  Motive,  deren  mythische 
Bedeutung  dem  Bewußtsein  des  Volkes  zum 
größten  Teile  verloren  gegangen  ist,  die  zum 
Teile  christliche  Deutung  erhalten  haben,  treten 
heute  noch  in  derselben  Ausbildung  auf  wie 
vor  3000  Jahren.  Das  Volk  freilich  —  ich  habe 
hier  ursprüngliche  Verhältnisse  vor  Augen,  mög- 
lichstes   Fehlen    des    städtischen    Einflusses    — 


x)  Ich  denke  an  die  weiblichen  Tonidole,  deren 
Körper  bald  als  Sichel,  bald  als  Scheibe  gestaltet  ist. 
Schliemann,  Tyrins,  Taf .  25  a,  d. 


spürt  nichts  vom  Flusse  der  Zeit,  das  Volk,  das 
vielfach  noch  ohne  die  Kenntnis  der  Schrift 
ebenso  dahinlebt  wie  in  vorgeschichtlicher  Zeit. 

Unter  ähnlichen  Verhältnissen  schafft  der 
Kunsthandwerker  im  Orient  seine  Teppiche  und 
Metallarbeiten.  Wir  werden  uns  daher  nicht 
wundern,  wenn  wir  an  diesen  Erzeugnissen  oft 
uralte  Motive  unverändert  auftauchen  sehen. 
Morin  bildet  in  seinem  Werke  »Le  Dessin  des 
Animaux  en  Grece«  vier  Tiere  ab1),  die  zu- 
sammen nur  einen  Kopf  haben.  Von  den  ägäi- 
schen  Inselsteinen 2)  sind  die  zwei  Löwen  mit 
gemeinsamem  Kopfe  bekannt.  Auf  einem  sassa- 
nidischen  Gewebe 3)  finden  sich  vier  Löwen  mit 
nur  einem  Kopfe,  von  Halbmonden  rings  uni- 
geben. Das  Motiv,  das  Morin  abbildet,  ent- 
stammt einer  ganz  modernen  orientalischen 
Met  allarbeit.  Das  Zurückgreifen  auf  so  alte 
Motive  ist  nach  den  früheren  Ausführungen 
nicht  nur  begreiflich,  sondern  vielmehr  vorher- 
zusagen. ■ 

Die  Erkenntnis  der  beiden  Arten  des  Kunst- 
schaffens ist  weiter  von  Bedeutung  für  die  richtige 
Einschätzung  der  Kunstbetätigung  der  Gegen- 
wart. 

Wir  finden  heute  einerseits  extreme  Betonung 
der  Persönlichkeit,  anderseits  dein  demokratischen 
Zuge  des  Zeitalters  entsprechend  das  Bemühen, 
die  Kunst  der  Allgemeinheit  zugänglich  zu 
machen.  Nach  dem  vorher  Ausgeführten  würde 
sich  ergeben,  daß  in  diesem  Falle  die  Persön- 
lichkeit des  Künstlers  wird  zurücktreten  müssen, 
was  auch  tatsächlich  zutrifft.  So  erklärt  es  sich, 
daß  das  Gegenständliche  mit  seiner  Mannig- 
faltigkeit in  der  Erscheinung  im  Kunstgewerbe 
womöglich  vermieden  wird ,  daß  die  mensch- 
liche Gestalt  weitgehende  Stilisierung  erfährt 
und  das  Ornament  vorherrscht.  Instinktiv  knüpft 
man  dort  an,  wo  gleiche  Voraussetzungen  hin- 
sichtlich der  Wirkung  auf  die  Masse  bestehen, 
an  die  Volkskunst.  So  feiern  uralte  Motive  im 
heutigen  Kunstgewerbe,  der  Kunst  für  die  breitere 
Menge,  ihre  Auferstehung.  Das  Motiv  der 
paarigen  Vögel  mit  dem  Lebensbaume  fand 
ich  unverändert  in  graphischen  Zierleisten  und 
auf  bemalten  Tellern ,  das  hier  besprochene 
Motiv  des  Löwenwürgerstoffes  als  Flächen- 
schmuck einer  bemalten  Vase,  zn  meinem  Er- 
staunen einmal  sogar  ein  iu  Silber  und  Glas  ge- 
arbeitetes Likörgefäß  in  Gestalt  einer  Doppel- 
ente als  bewußte  getreue  Nachbildung  eines 
Gefäßes  aus  vorgeschichtlicher  Zeit,  dann  wieder 


Taf.' 


!)  Morin,  I.e.,  8.139,  Fig.  13. 

2)  Lichtenberg,  Ägäische  Kultur,  S.  118,  Fig.  69. 

3)  Fischbach,   Die   wichtigsten  Webeornamente, 


'20 


ein  Gefäß  in  Fisohgestall  mit  vorne  anhaftendem 
Menschenkopfe  (Kunstgewerbemuseum  in  Buda- 
pest) als  getreue  Nachbildung  eines  altetrus- 
kischen   Gefäßes  "). 

Bestrebungen  ähnlicher  Art  sind  über  das 
Kunstgewerbe  hinaus  auch  in  der  Persöulieh- 
keitskunst  zu  spüren.  Auch  hier  strebt  man 
nach  Vereinfachung,  mau  stilisiert  und  sucht 
den  Vorgang  bei  aller  persönlichen  Anschauung 
möglichst  absolut  zu  geben.  So  kommt  es,  daß 
man  nicht  nur  beim  Schmucke  großer  Flächen, 
sondern  auch  im  Bilde  auf  Giotto  und  die 
Primitiven  zurückkommt.  Die  Anlehnung  be- 
zieht sich  nur  auf  die  eindringliche  Art  der 
Darstellung,  nicht  auf  die  Motive.  Man  ver- 
meidet nach  Möglichkeit  die  Wiedergabe  be- 
stimmter Vorgänge  und  bevorzugt  dekorative 
Bilder  allgemeinen  Inhaltes  mit  Überschriften 
wie  Sommer,  der  Strand  usw.  Weun  wir  auf 
einem  Bilde  Frauen  sehen,  die  mit  Kindern 
spielen,  die  sich  im  Freien  ergehen,  die  im 
Grünen  ruhen,  die  baden,  so  soll  damit  nicht 
ein  persönlicher  Eindruck,  sondern  das  Gefühl 
der  ganzen  Menschheit  zur  Sommerszeit  zum 
Ausdrucke  gebracht  werden.  Man  vergleiche  ein- 
mal ein  solches  Bild  mit  einem  Mosaik  aus  San 
Vitale.  Obwohl  hinsichtlich  Material  und  Technik 
ganz   andere  Verhältnisse   vorliegen,   überrascht 


J)   Spiess,    Behälter  des  Unsterblichkeitstrankes, 
Fig.  37. 


doch  die  Ähnlichkeit  des  Kindruckes,  der  auf 
der  Übereinstimmung  in  der  Hervorhebung  der 
Linie,  der  dekorativen  Wirkung  und  der  be- 
tonten Zeitlosigkeit  des  dargestellten  Vorganges 
beruht. 

Es  ist  interessant  zu  beobachten,  wie  Be- 
strebungen, die  auf  die  exzessive  Äußerung  der 
Persönlichkeit  abzielen,  bei  Schöpfungen  landen, 
die  die  Vernichtung  des  Individuums  bedeuten. 
Die  Werke  der  Kubisten,  Expressionisten,  Or- 
phisten  usw.  zeigen  uns  in  eindringbeher  Weise 
eine  neue  Arbeitsweise,  aber  keine  Persönlich- 
keit. Der  Einfluß  einer  Zeit  ist  stärker  als  der 
Einzelne  mit  seinem  Willen.  So  sehen  wir,  daß 
diejenigen,  die  die  Großstadt  und  ihr  Leben 
mit  noch  so  sensiblen  Nerven  des  besonderen 
Menschen  erfassen  und  uns  ihr  Wesen  sozusagen 
in  kristallisierter  Form  geben  wollen,  schließlich 
der  Möglichkeit  des  persönlichen  Ausdruckes 
verlustig  gehen. 

Im  kulturgeschichtlichen  Zusammenhange  er- 
scheinen derartige  Bestrebungen  als  notwendig 
und  es  ist  daher  nicht  angebracht,  diese  Rich- 
tungen —  wobei  natürlich  leere  Reklamesucht 
und  offenkundige  Absicht  zum  Betrüge  auszu- 
schalten sind,  ein  Unternehmen,  das  einem  in 
heutiger  Zeit  allerdings  nicht  immer  leicht  ge- 
macht wird  —  von  vornherein  mit  dem  Schwer- 
gewichte einer  nichts  besagenden  Überzeugung 
als  „neueu  Schwindel"  abzulehnen. 


Am   8.  Dezember   1914  verschied   im   67.  Lebensjahre   in   Bad  Tölz,   dessen 
Ehrenbürger  er  war, 

Hofrat  Dr.  Max  Höfler. 

Der  Verstorbene  war  einer  der  fruchtbarsten  und  erfolgreichsten  Forscher  auf 
dem  Gebiete  der  vergleichenden  Volksmedizin  und  der  deutschen  Volkskunde. 
Seine  grundlegenden  Untersuchungen  über  Volksmedizin,  die  er  in  einer  Anzahl 
von  Werken  niederlegte,  sowie  seine  reich  illustrierten  Arbeiten  über  die  Opfer- 
kulte und  namentlich  über  die  anläßlich  der  verschiedenen  Feste  hergestellten 
Gebildbrote,  die  in  der  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  und  im  Archiv 
für  Anthropologie  erschienen  sind,  werden  immer  ihren  Wert  behalten  und  den 
Namen  des  Dahingeschiedenen  nie  vergessen  lassen. 

Die  Redaktion. 


Reklamationen  and  sonstige  Mitteilungen 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  K.  Hagen,  Hamburg  13,  Binderstraße  14,  zu  senden. 


Ausgegeben  am  10.  Mai  1915. 


Korrespondenz- Blatt 


der 


Deutschen  Gesellschaft 


für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg. 


Druck  und  Verlag   von   Friedr.  Vieweg   &  Sohn   in   Braunschweig. 


XLVL  Jahrg.  Nr.  5/8. 


Jährlich  12  Nummern. 


Mai/Aug.  1915. 


Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw.  tragen  die  wissenBchaftl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren;  s.  S.  16  des  Jahrg.  1894. 

Inhalt:  Über  die  Herkunft  des  südbulgarischen  Dolichocephalus.  Von  Dr.  J.  B.  Loritz.  —  Über  Alter  und 
Herkunft  der  Kultur  des  Speltes  (Triticum  spelta  L.).  Von  Hugo  Mötefindt.  —  Ein  mineralogisches 
Erkennungszeichen  prähistorischer  Feuersteinartefakte.  Von  Max  Stein.  —  Dionysos-Sabazios.  Von 
Dr.  Emil  Fischer.  —  Rechter  Calcaneus  eines  Paläolithikers  aus  dem  Diluvium  von  Gr.-Winnigstedt 
im  Kreise  Wolfenbüttel.  Von  L.  Knoop.  —  Mitteilung  der  Schweizerischen  Naturforschenden  Gesell- 
schaft. —  Methodische  Siedelungsforschung.    Von  Ernst  Lentz. 


Über  die  Herkunft  des  südbulgarischen  Dolichocephalus. 

Von  Dr.  J.  B.  Loritz  (München). 


Eine  vor  kurzem  erschienene  Untersuchung 
von  Krum  Drontschilow1)  gibt  mir  Veran- 
lassung, vorläufige  Mitteilungen  zu  machen  über 
Untersuchungen,  die  ich  im  Münchener  Anthro- 
pologischen Institut  im  Winter  1914  an  104  bul- 
garischen Studenten  ausführte.  Des  weiteren 
sollen  hier  kurz  Ergebnisse  zur  Sprache  kommen, 
die  meine  Untersuchungen  an  mazedonischen 
Flüchtlingen  in  Bulgarien  im  Jahre  1913  ergaben. 
Die  letzterwähnte  Arbeit  wird  in  Bälde  im  Arch. 
f.  Anthr.  veröffentlicht  werden. 

Drontschilows  Arbeitsfeld  ist  Südwest- 
bulgarien, ein  Gebiet,  das  geographisch  etwa 
festlegbar  ist  im  Norden  durch  die  Stara  Planina 
(=  Altes  Gebirge)  sowie  den  Westabfall  des 
Balkans,  im  Osten  durch  das  Quellgebiet  des 
Staria  Isker  und  die  Höhen  Ikunita  Kara  Bair 
und  im  Süden  durch  das  Rila  Planiua  sowie 
das  nordwestsüdöstlich  streichende  Osogowska 
Planina.  Im  Westen  ist  die  Grenze  der  Drou- 
tschilow  sehen  Arbeit  durch  die  politische 
Grenze   gezogen,    welch    letztere   nur   zum   Teil 


')   Krum   Drontschilow,    Beiträge    zur   Anthro- 
pologie der  Bulgaren.     Arch.  f.  Anthr.  Bd.  XIV,  Heft  1. 


mit  den  Kulmiuationsrücken  der  Crkvena  Pla- 
uina  sowie  der  Vidlic  Planina  zusammenfällt. 
Daß  Drontschilow  auch  dem  Ort  Orchauie 
in  seine  Untersuchung  mit  einbezog,  ist  nicht 
sehr  vorteilhaft,  da  der  genannte  Ort  geo- 
graphisch nicht  mehr  zu  Südbulgarien  gerechnet 
werden  kann,  denn  er  liegt  auf  der  Nordseite, 
richtiger  gesagt  an  den  Nordabhängen  der  west- 
lichen Balkanausläufer.  Das  von  ihm  untersuchte 
Material  umfaßt  601  Manu,  und  zwar  im  Alter 
von  20  bis  52  Jahren.  Da  unter  diesen  601  Indi- 
viduen etwa  330  nicht  ausgewachsene  Individuen 
zwischen  20  bis  23  Jahren  sich  finden,  so  ist 
natürlich  der  Einfluß  dieser  mehr  als  50  Proz. 
nicht  vollkommen  erwachsenen  auf  die  metrischen 
Werte  der  ganz  ausgewachsenen  nicht  zu  unter- 
schätzen, was  Drontschilow  auch  genügend 
betont.  Die  Körpergröße  sowie  die  Extremitäts- 
maße  leiden  darunter  besonders,  alter  auch  auf 
die  übrigen  Körpermaße,  wie  Schädel-  und 
Gesichtsmaße,  werden  geringere  Einflüsse  wohl 
vorhanden  sein. 

Jedenfalls  aber  sind  die  Ergebnisse  der  sehr 
hübschen  Arbeit  Drontschilows  als  sicher  zu 
betrachten  und  mit  meinen  sehr  gut  vergleichbar, 


22 


um  so  mehr,  als  meine  Studenten  eben  auch  nicht 
ganz  ausgewachsene  Leute  waren,  wenigstens 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle. 

Unter  meinen  104  Studenten,  die  den  ver- 
schiedensten Gebieten  Bulgariens  entstammen, 
mehrere  sind  auch  aus  Mazedonien,  fand  ich  auch 
als  größte  Schädellänge,  den  Höchstwert  von 
210,  und  danebenher  gehen  201,  203  und  206. 
Das  sind  sehr  beträchtliche  Längen.  Mein 
Minimum  liegt  mit  175  mm  5  cm  höher  als  das 
von   Drontschi  low    gefundene. 

Die  Dolichokephalie  findet  Drontschilow 
mit  nur  10  Proz.  in  Südwestbulgarien  vertreten, 
denen  stehen  43,0'J  Proz.  Mesokephale  und 
47,25  Proz.  Brachykephale  gegenüber.  Die  breiten 
Schädelforuieu  überwiegen  hier  unzweifelhaft. 
Manche  Sätze  aus  Drontschilows  Arbeit  kann 
ich,  was  mich  überaus  freut,  Wort  für  Wort 
bestätigen,  und  meine  Untersuchung  über  bul- 
garische Schädel1),  die  im  Druck  ebeu  der 
Fertigstellung  entgegengeht,  wird  das  auch  tun. 
So  schreibt  Drontschilow  über  die  Brachy- 
kephalie  in  seinem  Untersuchungsgebiet:  „Diese 
ist  auch  reichlich  im  Distrikt  Sofia  vertreten, 
wo  eine  bedeutende  Anzahl  der  Gemesseneu 
sogar  hytjerbrachykephal  ist."  Ganz  richtig. 
Ich  finde  unter  meinen  Sofiater  Schädeln  aus 
moderner  Zeit  55,6  Proz.  Brachykephalie.  Ein 
erstaunlich  hoher  Betrag  für  Bulgarien.  Di 
römischer  Zeit  war  dem  anders,  da  hatten 
wir  in  einer  römischen  Serie,  die  ich  im  Ethuo- 
graphitscheski  Musei  maß,  nur  14,2  Proz.  Brachy- 
kephalie, und  11  Proz.  Dolichokephalen  in  der 
rezenten  Serie  standen  28,4  Proz.  in  der  römischen 
gegenüber.  Auch  Wratza  ist  nach  den  Beob- 
achtungen Wateffs  und  nach  allem,  was  ich 
an  Wratzaer  Schädeln  sah  —  untersuchen  konnte 
ich  nur  2  —  ein  Gebiet  hohen  Längen-Breiten- 
indexes. 

Drontschilow  findet  als  Gesichtsindex  in 
seinem  Gebiet  ein  Überwiegen  der  Mesoprosopie. 
88  als  Index  tritt  in  10  Proz.  auf.  Chamäprosopie 
ist  häufig.  Ganz  meine  eigene  Anschauung.  In 
meiner  schon  zitierten  Arbeit  wird  beim  Ver- 
gleich zwischen  Sofiater  Schädeln  aus  römischer 
Zeit  und  denen  aus  rezenter  der  Satz  zu  finden 
sein :  „Es  können  nur  die  aus  der  Obergesichts- 
höhe und  der  Mittelgesichtsbreite  resultierenden 
Indices  miteinander  verglichen  werden  (Material- 
erhaltung!). Danach  ist  zu  konstatieren 
eine  Zunahme  der  chamäprosopen  Ober- 
gesichter  in  neuerer  Zeit."  Und  bezüglich 
meiner  zwei  Wratzaer  Schädel  schreibe  ich:  „Was 

J)  J.  B.  Loritz,  Craniolo^isphe  Untersuchungen  an 
bulgarischen  Schädeln  aus  alter  und  neuer  Zeit.  Eben 
im   Druck. 


die  Gebiete  betrifft,  die  westlich  von  Sofia 
gegen  die  bulgarische  Grenze  zu  gelegen 
sind,  so  scheinen  mir  kürzere  Gesichter  dort 
ziemlich  h auf  i g  vorzuko m m e n.  Noch  weiter 
nach  Serbien  hinein  herrschen  sogar  die  kurz- 
gesichtigen  Formen  vor."  Also  was  Dron- 
tschilow am  Lebenden  fand,  konnte  ich  bei 
meinem  Aufenthalt  in  dem  fraglichen  west- 
bulgarischen Gebiet  durch  Beobachtung  am 
Lebenden  sowie  durch  Messungen  am  Schädel 
feststellen. 

Wie  liegen  nun  die  beiden  Indices,  Gehirn- 
schädellängen-Breiteniudex  und  Gesichtsiudex  im 
übrigen  Bulgarien ''.  Das  führt  uns  zu  der  Er- 
örterung der  im  Titel  dieser  Zeilen  aufgeworfenen 
Frage  sowie  zu  einem  richtigen  Verständnis  der 
Ergebnisse  von  Drontschilow  im  Kabinen  der 
Bevölkerung  Bulgariens  überhaupt.  Was  den 
Längen -Breitenindex  anbelangt,  so  ist  er  in 
Bulgarien  an  verschiedenen  Stellen  überaus  ver- 
schieden, einer  von  den  vielen  Beweisen  für  die 
reichen  Mischungen,  die  in  diesem  Volke 
sich  zu  einem  heute  politisch  und  national 
so  einheitlichen  Grundstock  vereinigt 
haben. 

Ich  erwähne  da  zuerst  wieder  die  Ergebnisse 
meiner  craniologischen  Untersuchungen.  Für 
Schuneu  (Nordbulgarieu)  finde  ich  da: 

doliehokephal 44,4  Proz. 

mesokephal 44,4      „ 

brachykephal 11,2      „ 

Was  das  heißt,  ist  ganz  klar,  die  Dolicho- 
kephalen sind  reichlich  vertreten,  die  Brachy- 
kephalen  nur  spärlich,  aber  die  Mesokephalen 
halten  den  Dolichokephalen  ganz  die  Wage. 
Meine  Serie  ist  eine  rezente.  Aber  einmal  lagen 
die  Verhältnisse  wohl  anders.  Hellichs  ')  Arbeit 
ergab  höhere  Längen -Breitenindices,  und  Hel- 
lichs Schädel  stammen  aus  dem  4.  Jahrhundert. 
Das  Gesamtmittel  für  meine  rezente  Serie  ergab 
75,31,  der  Durchschnitt  der  Hellich  sehen  Serie 
liegt  mit  79,46  beträchtlich  höher.  Also  im 
4.  Jahrhundert  breitere,  heute  längere  Schädel, 
das  ist  der  Ausdruck  der  angeführten  Zahlen- 
werte. 

Von  Norden  gegen  den  Balkan  zu 
steigen  die  Längen-Breitenindices  an, 
mit  Annäherung  an  den  Balkan  erreichen 
sie  ihre  Maxima.  Überschreiten  wir  nun  den 
Balkan  nach  Süden,  so  beobachten  wir  den 
entgegengesetzten  Prozeß.  Mit  Entfernung  vom 
Balkan  fallen  die  Längen-Breitenindices  ab,  und 


')  Bog.  Hellieh,  Tscherepi.Iavertija  russk.  archael. 
instit.  wof  Kongtantinopofja.  Tom.  X,  Gl.  16.  Prag 
1905. 


23 


zwar  außerordentlich  beträchtlich.  Man  be- 
tritt mit  der  Maritzaebeiic  ein  von  Nord- 
bulgarien weit  verschiedenes  anthro- 
pologisches Gebiet. 

Unter  den  Schädeln  aus  Tschirpan  (Süd- 
bulgarien),  die  ich  untersuchte,  sind  (Ji),3Dolicho- 
kephale  und  kein  einziger  Brachykephaler.  Das 
Zentrum  der  Doiichokephalie  in  Bulgarien  ist  das 
Gebiet  um  Plowdif  (Philippopel)  —  Tschirpan. 

Was  ich  hier  für  Schädel  zeigte,  fand  ich 
genau  so  an  Lebenden.  Meine  52  Studenten  aus 
Nordbulgarien  zeigen  einen  mittleren  Index  von 
81,33.  Wateff  findet  genau  dasselbe,  nämlich 
81,4.  Die  Studenten  aus  Sotia  sind  hier  nicht 
mit  eingerechnet,  ebenso  wie  ich  sie  auch  in  der 
südbulgarischen  Gruppe  nicht  mit  einbezog.  In 
Südbulgarien  finde  ich  als  Mittel  nur  TU, 30,  und 
dabei  sind  einige  hohe  Indices  aus  Dupnitza 
und  Samokoff  mit  einbezogen,  also  aus  Gebieten, 
für  die  auch  Drontscbilow  eine  hohe  Zahl 
von  Brachykephalen  aufwies.  Meines  Erachtens 
muß  bei  einer  Untersuchung  Südbulgariens  ganz 
exakt  geographisch  vorgegangen  werden.  Die 
Gebirgsgebiete  Südwestbulgariens  können  nur 
zum  Vergleich  mit  dem  anthropologisch  einheit- 
lichen Gebiet  der  Maritzaebene  herangezogen 
werden.  Lasse  ich  diese  fraglichen  hohen  In- 
dices meiner  Studenten  aus  Dupnitza  und  Küsteu- 
dil  beiseite,  so  bekomme  ich  ein  ganz  ähnliches 
Resultat  wie  Wateff,  nämlich  es  liegt  in  der 
Mitte  des  Index  78. 

Recht  anschaulich  wird  das  anthropologische 
Bild,  wenn  wir  mit  Querschnitten  arbeiten.  Legen 
wir  einen  geographischen  Querschnitt  durch  Bul- 
garien von  Nord  nach  Süd,  und  zwar  sollen  dar- 
gestellt werden  die  Ergebnisse  meiner  Unter- 
suchungen an  den  schon  mehrmals  erwähnten 
Studenten  bezüglich  Körperhöhe,  Längen-Breiten- 
index, Gesichtsindex  und  Nasaliudex.  Das  Bild 
ist  folgendes: 


Nordbulgarien 
Südbulgarien  . 


Körper- 
höhe 


1665 
1669 


Längen- 
Brei  ten- 
index 


81,33 
78,7 


Gesichts- 
index 


87,05 
88,64 


Nasal- 
index 


68,63 
65,38 


Klarere  Verhältnisse  wären  wohl  undenkbar. 
Von  Nord  nach  Süd  fortschreitend  nimmt  die 
Körperhöhe  zu  und  der  Längen- Breiteuindex  ab, 
von  Nord  nach  Süd  fortschreitend  werden  die 
Gesichter  und  ebenso  die  Nasen  schmäler. 

Drontschilow  hat  ganz  das  Richtige  ge- 
troffen, wenn  er  vom  Dolichocephalus  schreibt, 
„auch  durch  ziemlich  große  Körperstatur  und 
recht    schmale    Nase    ausgezeichnet".     Die    vor- 


stehende Übersicht  bestätigt  das.  Hohe  Statur, 
brünett,  langes  Gesicht  und  schmale  Nase  ist 
für  den  südbulgarischen  Dolichocephalus  typisch. 
Drontschilows  aufmerksamer  Untersuchung 
gelang  es,  noch  eine  zweite  Form  als  Dolicho- 
cephalus zu  finden;  er  beschreibt  ihn:  „selten 
ganz  rein,  der  blonde,  schmalgesichtige,  große 
Dolichocephalus,  d.h.  der  nordische  Typ".  Ich 
habe  ihn  noch  nie  gesehen.  Er  ist  jedenfalls, 
wie  auch  Drontschilow  sagt,  selten,  und 
ich  glaube  nicht,  daß  er  am  heutigen  anthro- 
pologischen Bilde  irgendwie  auffällt.  Ob  er  je 
in  größerer  Masse  auftrat,  ist  wohl  vorerst  nicht 
zu  entscheiden.  Das  eine  aber  kann  wohl  sicher 
gesagt  werden,  daß  er  gegenüber  dem  brü- 
netten großen  Dolichocephalus  in  der 
Minderheit  von  vornherein  war.  Denn 
während  der  brünette  Typ  sehr  häufig  anzutreffen 
ist,  tritt  der  blonde  eben  nur  ganz  sporadisch 
auf.  Südbulgarien,  genauer  noch  gesagt  die 
Maritzaebene,  ein  Tal,  das,  wie  kurz  bemerkt 
sei,  tektonisch  gebildet  ist  und  ein  riesiges 
Einbruchsbeckeu  darstellt,  ist  das  Zentrum  des 
bulgarischen  Dolichocephalus.  Die  Maritza- 
ebene ist  wohl  das  Ausstrahlungsgebiet 
für  ganz  Bulgarien. 

Nun  werfen  wir  die  Frage  auf:  woher  kommt 
denn  dieser  bulgarische  Dolichocephalus?  Dron- 
tschilow legt  sich  diese  Frage  in  seiner  zitierten 
Arbeit  auch  vor  und  glaubt,  „daß  die  brünetten, 
langköpfigen  Bulgaren  seiner  Serie  mit  jener 
älteren  Bevölkerung  Rußlands  in  Zusammenhang 
zu  bringen  sind".  Jene  ältere  Bevölkerung  Ruß- 
lands war  wohl  großenteils  laugköpfig,  soweit 
mau  bis  heute  die  Ergebnisse  überblicken  kann. 
So  ergeben  nach  Topinard,  was  auch  Dron- 
tschilow zitiert,  10  neolithische  Schädel  vom 
Ladogasee  72,1  als  Längen  -  Breiteuindex  und 
140  Schädel  aus  Moskau  75,9.  Dem  stehen 
gegenüber  34  Kurganschädel,  die  aber  bereits 
einen  Index  von  78,3  aufweisen.  Es  darf  aber 
dennoch  als  richtig  betrachtet  werden,  besonders 
auch  nach  den  Untersuchungen  von  Toldt,  daß 
die  alten  slawischen  Schädel  langköpfig  waren 
oder  doch  den  langen  Gehirnschädelformen  recht 
nahe  standen. 

Der  Gedanke  ist  es,  an  den  Drontschilow 
in  seiner  Arbeit  anknüpft  und  der  ihn  dazu 
bestimmte,  unseren  bulgarischen  Dolichocephalus 
mit  jener  altrussischen  Bevölkerung  in  direkten 
Zusammenhang  zu  bringen. 

Über  die  Zeit,  wann  die  brünetten  Lang- 
köpfe nach  dem  Süden  kommen ,  äußert  sich 
Drontschilow  folgendermaßen:  „Entweder  sind 
diese  brünetten  Langköpfe  schon  vor  den  Slawen 
in    den    nördlichen    ßalkauländern    ansässig    ge- 


21 


wesen  oder  sie  sind  zugleich  mit  den  Slawen 
eingewandert.  Dann  aber  mußte  man  annehmen, 
daß  diese  Slawen,  ehe  sie  über  die  untere  Donau 
nach  der  Balkanhalbinsel  kamen  und  dann  das 
heutige  bulgarische  Volk  bilden  halfen1), 
lauere  Zeit  in  inniger  Berührung  mit  der  älteren 
finnischen2)  Bevölkerung  Rußlands  gestanden 
haben".  Das  ist  der  fragliche  Gedanke  und 
Satz,  der  Drontschilow  dann  weiterhin  bewegt, 
seiner  Arbeit  als  Schlußsatz  beizufügen,  „daß 
unter  den  heutigen  Bulgaren  neben  dem  slawi- 
schen auch  ein  numerisch  recht  bedeutendes 
finnisches  Element  vertreten  ist". 

Wir  haben  nun  oben  gesehen,  daß  die  Lang- 
köpfigkeit  in  Bulgarien  von  Nord  nach  Süd  in 
ihrer  Häutigkeit  fortschreitet,  wir  fanden  weiter, 
daß  die  Häufigkeit  der  Zunahme  der  Dolicho- 
kephalie  zusammentrifft  mit  einer  Zunahme  des 
Größenwuchses.  Wir  konstatierten  für  Nord- 
bulgarien die  niedrigsten  Körperhöhen  und 
gleichzeitig  relativ  breite  Schädel.  Wir 
konnten  weiterhin  übereinstimmend  mit  Watef  f 
feststellen,  und  indirekt  bestätigt  das  auch 
Drontschilow,  daß  für  diesen  Dolichocephalus 
eine  schmale  Nase  typisch  ist.  Wir  fanden  auch 
die  Leptorrhinie  viel  häufiger  in  Südbulgarien 
als  in  Nordbulgarien.  Weiterhin  möchte  ich 
beifügen,  daß  dieser  süd bulgarische  Dolicho- 
cephalus eine  beträchtlichere  Naseneleva- 
tion  besitzt,  als  sie  in  Nordbulgarien  anzutreffen 
ist,  und  daß  für  ihn  der  gerade  bis  konvexe 
Nasenrücken  eigentümlich  ist.  In  Nord- 
bulgarien treten  dagegen  neben  der  breiteren 
Nase  viel  häufiger  die  konkaven  Nasenrücken  auf. 

Weist  das  nun  nicht  alles  nach  Süden  hin? 
Und  zum  zweitenmal  fragen  wir:  Woher  kommt 
denn  eigentlich  dieser  südbulgarische  Dolicho- 
cephalus V  Ich  habe  schon  dargetan,  daß  in 
Nordbulgarien  auch  Dolichokephalie  nicht  selten 
ist,  muß  aber  beifügen,  daß  Schunen,  woher 
meine  nordbulgarische  Serie  stammt,  jedenfalls 
dolichokephaler  ist  als  viele  andere  nordbulga- 
rische und  danubische  Gebiete.  Wir  sahen  auch, 
daß  im  4.  Jahrhundert  dort  in  Nordbulgarien 
höhere  Schädeliudices  nachgewiesen  wurden,  als 
das  heute  der  Fall  ist. 

Für  Sofia  zeigen  die  von  mir  untersuchten 
Schädel  aus  römischer  Zeit,  daß  diese  alte 
Sofiater  Bevölkerung  schmalschädelig  war,  daß 
ihr  relativ  viel  längere  Schädel  eigen  waren  als 
der  heutigen  Sofiater  Bevölkerung,  von  der  ich 
ja   das   bestätigen   konnte,   was  Drontschilow 


')  Von  mir  gesperrt  gedruckt. 

-)  Von  Drontschilow  gesperrt  gedruckt. 


von  ihr  sagt  bezüglich  ihrer  Brachykephalie. 
Demnach  konstatieren  wir  für  Nordbulgarien 
(Schunen)  in  historischer  Zeit  eine  auftretende 
längere  Schädelform,  für  Sofia  einen  vorhanden 
gewesenen  längereu  Gehirnschädeltyp  und  ein 
modernes  Überwuchern  der  brachykephalen  Ele- 
mente. Und  im  Süden,  in  der  schönen  breiten 
Maritzaebene  haben  wir  ein  Zentrum  niedriger 
Schädeliudices.  Lassen  wir  den  Dolicho- 
cephalus von  Norden  kommen,  so  ist 
das  Auftreten  seiner  größten  Energie 
und  Intensität  im  Süden  des  Balkans  und 
sein  geringes  Auftreten  im  Norden  des 
Balkans  gar  nicht   zu  erklären. 

Auch  daß  wir  im  4.  Jahrhundert  in  Schunen, 
einer  nordbulgarischen  Stadt,  eine  Bevölkerung 
von  beträchtlich  höheren  Schädeliudices  haben 
als  heute,  spricht  jedenfalls  nicht  für  eine  Nord- 
südrichtung der  Verbreitung  des  doliehokephalen 
Typs.  Daß  wir  andererseits  in  sehr  alter  Zeit 
Sofias  viel  längere  Schädel  antreffen  und  in 
moderner  Zeit  viel  kürzere,  spricht  für  eine 
ehemalige  viel  weitere  Verbreitung  und 
noch  größere  Häufigkeit  der  dolieho- 
kephalen Schädelform  in  Bulgarien.  Dieser 
in  der  Jetztzeit  so  häufig  auftretende  Sofiater 
Brachycephalus  mit  seinem  niedrigen  Gesieht 
hat  sein  Verbreitungsgebiet  nicht  in  Bulgarien, 
sondern  im  Westen.  Ich  stimme  auch  ganz  mit 
Drontschilow  überein,  wenn  er  sagt,  daß  der 
hochwüchsige  brünette  Brachycephalus  als  her- 
zegowinischer  Typ  zu  bezeichnen  ist.  Es  ist  das 
ein  typischer  Bewohner  adriatischer  Küsten- 
länder. Drontschilow  fügt  diesem  dunklen  hoch- 
wüchsigen Brachycephalus  noch  einen  blonden 
hochwüchsigen  Brachycephalus  bei.  Auch  den 
konnte  ich  finden1),  aber  neben  ihm  ist  noch  ein 
relativ  niedriger  blonder  Brachycephalus 2)  in 
Bulgarien  vertreten.  Ein  früher  in  München  wei- 
lender bulgarischer  Student  war  sein  Repräsen- 
tant. Es  ist  ein  kurzgesichtiger,  niedriger, 
hellfarbiger  Brachykephaler.  Weisbach3)  fand 
für  seine  „Serbokroaten  Kroatiens  und  Slawo- 
niens" die  niedrigsteu  Körperhöhen  mit  blondem 
Typ  und  Brachykephalie  vereint.  Ich  bringe 
diesen  kleinen  bulgarischen  blonden  Brachy- 
cephalus mit  Weisbachs  eben  genanntem 
serbokroatischen  Typ  in  Zusammenhang.  Er  ist 
sehr  selten.  Wieweit  armenische  Bestandteile 
auf  das  heutige  anthropologische  Bild  von  Ein- 
fluß sind,  läßt  sich  vorerst  noch  nicht  ent- 
scheiden. 


')  Student. 

2)  Student. 

3)  A.  Weisbach,  Die  Serbokroaten  Kroatiens  und 
Slawoniens.     Wien   1905. 


25 


Wir  können  also  jedenfalls  ein  Überhand- 
nehmen kurzköpfiger  Elemente  in  der  modernen 
Zeit  Bulgariens  konstatieren. 

Wie  liegen  denn  nun  die  Verhältnisse  noch 
weiter  südlich  über  Südbulgarien  hinaus.  Es 
schließt  da  Mazedonien  an,  und  ich  kann  da  nun 
meiner  Untersuchungen  an  erwachsenen  Männern 
und  Frauen  Kukuschs  —  die  Kinder  lasse  ich 
hier  beiseite   —  kurz  Erwähnung  tun. 

Die  Dolichokephalie,  die  wir  so  mächtig  in 
Südbulgarien  vertreten  fanden,  erreicht  iii  diesem 
mazedonischen  Gebiet,  das  nach  dem  Meere 
gelegen  ist,  ihr  Maximum.  Ich  verlängere  den 
Schnitt,  den  wir  von  Nordbulgarien  über  Süd- 
bulgarien zogen,  damit  er  auch  dieses  Gebiet 
rings  um  Kukusch  trifft.  Eine  solche  Zusammen- 
stellung wirkt  am  klarsten. 


Nordbulgarien     .  . 

Südbulgarien  .    .  . 

Mazedonien  cf    •  • 

(Kukuschko)    $  .  . 


Körper- 
hohe 


1665 
1669 
1677 
1543 


Längen- 

Breiten- 

index 


81,33 

78,7 

74,23 

72,77 


Gesichts- 
index 


87,05 
88,64 
86,14 
83,48 


Nasal- 
indes 


68,63 
65,38 
73,93 
70,13 


Die  Körperhöhe  nimmt  in  Mazedonien  noch 
weiterhin  zu,  und  gleichzeitig  auch  werden  die 
Gehirnschädel  noch  dolichokephaler.  Anders 
liegen  die  Verhältnisse  bezüglich  der  Gesichts- 
maße. Da  treffen  wir  etwas  kürzere  Lang- 
gesichter und  vor  allem  breitere  Nasen.  Dadurch 
unterscheidet  sich  jedenfalls  der  hier  vorliegende 
mazedonische  Dolichocephalus  vom  südbulga- 
rischeu.  Geradezu  erstaunlich  sind  die  niedrigen 
dolichokephalen  Werte.  So  liegen  aber  die 
Verhältnisse  durchaus  nicht  in  ganz  Maze- 
donien. In  Westmazedonien  herrschen  viel 
kürzere  Schädel  vor  und  kürzere  Gesichter,  so- 
weit ich  Leute  aus  jenen  Gebieten  sehen  konnte, 
in  Thrazien  dagegen  finden  wir  nach  Wateffs 
Mitteilungen  ebenfalls  lange  Gehirnschädel- 
formen.  Hinweisen  möchte  ich  noch  darauf, 
daß  ich  unter  meinen  Männern  aus  Kukuschko 
(=  Gebiet  von  Kukusch)  relativ  häufig  Augen 
fand,  die  ich  als  „grau-grün"  notierte.  Ich  er- 
inuere  mich  übrigens,  bei  dem  bulgarischen 
Dichter  Karaweloff  einmal  gelesen  zu  haben 
von  Nymphen  mit  „sivo-seleni  otschi",  mit 
graugrünen  Augen.  Auch  in  Bulgarien  selbst 
sind  graue  Augen  sehr  häufig  und  wenn  man 
besonders  noch  schwarze  Haare  damit  vereint 
findet,  so  hat  man  die  Sicherheit,  einen  Repräsen- 
tanten reicher  Typenmischung  vor  sich  zu  haben. 
Die  mazedonischen  Frauen  zeigten  dagegen  viel 
häufiger  dunkle  Augen,  die  sie  selbst  als  „kes- 
teni",  kastauienfarbig,  bezeichneten.    Noch  eins 


soll  hervorgehoben  werden,  mongoloide  Eigen- 
tümlichkeiten fand  ich  unter  diesen  Mazedoniern 
viel  weniger  als  in  Bulgarien.  Nur  zwei  Mädchen 
mit  sehr  ausgeprägten  asiatischen  Merkmalen 
sind  notiert  und  eine  im  Bilde  festgehalten. 

Auf  Grund  der  angeführten  Tatsachen 
glaube  ich,  dieses  südmazedonische  Ge- 
biet verantwortlich  machen  zu  sollen  für 
den  südbulgarischen  Dolichocephalus. 
Im  Süden  liegt  das  Maximum  der  Dolicho- 
kephalie und  das  Maximum  der  Körperhöhe, 
nach  Norden  zu  fallen  beide  Eigentümlichkeiten 
metrisch  ab *).  In  Mazedonien  am  Ägäischen 
Meer  fanden  wir  als  Gesichtstypen  lange  und 
kurze,  und  in  meinem  Untersuchuugsgebiet  herr- 
scheu kürzere  vor,  mit  denen  sich  breitere  Nasen 
verbinden. 

Für  Nordbulgarien  ist  es  gar  nicht  von  der 
Hand  zu  weisen,  daß  ein  Dolichokephaler  von 
Norden  kam,  sei  es  mit  den  Slawen  oder  sei  es, 
daß  er  bereits  vor  ihnen  eingewandert  war.  Der 
nordbulgarische  Dolichocephalus  ist.  höher  als 
der  südbulgarische;  in  der  Höhe  beider  faud 
ich  für  Schunen  (Nordbulgarien)  und  Tschirpau 
(Südbulgarien)  unterscheideude  Momente.  Daß 
alier  auch  der  südbulgarische  Dolichocephalus 
von  Norden  kam,  halte  ich  aus  den  angeführten 
Gründen  und  Tatsachen  für  sehr  unwahrscheinlich. 
Hinweisen  möchte  ich  noch  auf  v.  Luschan2), 
der  bei  seinen  „Middle  Minoan"-  Schädeln  als 
Längen -Breitenindex  73,6  fand,  bei  seinen  re- 
zenten Kretern  78,0.  Unter  deu  „Middle  Minoan"  - 
Schädeln  waren  58,8  Proz.  dolichokephale,  unter 
den  rezenten  Kreterschädeln  21,4  Proz.  Unter 
den  „Middle  Minoau"-Sehädelu  stehen  5,9  Proz. 
brachykephale,  unter  den  rezenten  50,0  Proz. 
brachykephale.  Also  eine  stark  dolichokephale 
Urbevölkerung  für  Kreta.  Gleichzeitig  paart 
sich  mit  der  hohen  kretischen  Dolichokephalie 
eine  breitere  Nase  vom  Index  49,5  und  mit  den 
brachykephalen  rezenten  Kreterschädeln  eine 
schmalere  Nase  vom  Index  47,6. 

Also  sehr  schmale  Schädel  und  etwas  breitere 
Nase  in  der  alten  Kretaer  Bevölkerung.  Für 
die  Mazedonier  fand  ich  schmale  Schädel  und 
breite  Nase.  Es  klingt  das  etwas  ähnlich.  Freilich, 
bis  zu  dem  nun  naheliegenden  Schluß  von 
einer  einheitlichen  Urbevölkerung,  die  sich  über 
die  Inseln  des  Ägäischen  Meeres  ausbreitete 
und  den  europäischen  Kontinent  im  heutigen 
Mazedonien    mit    besiedelte,    ist    noch    ein    gut 


J)  Was  aber  für  die  Körperhöhe  wichtig  ist,  si 
hält  sich  innerhalb  einer  Grenze,  die  den  südbulgarischei 
Werten  nahesteht. 

2)  v.  Luschan,  Beiträge  zur  Anthropologie  vo 
Kreta.    Berlin  1913.  (Zeitschrift  für  Ethnologie,  Heft  3 


26 


Stück  Weg,  und  der  führt  über  die  Prähistorie. 
Die  Prähistorie  der  Inselwelt  des  Ägäischen 
Meeres,  und  zwar  denke  ich  da  ganz  besonders 
:m  die  somatisch  anthropologische  Seite,  sowie 
die  Prähistorie  Bulgariens  und  Mazedoniens,  wird 
uns  die  heute  noch  dunklen  Fragen  klären  helfen. 


Das  eine  aber  glaube  ich  sagen  zu  dürfen, 
daß  das  Zentrum  des  südbulgarischen  Dolicho- 
cephalus  nicht  im  Norden,  sondern  im  Süden 
des  Kontinents  zu  suchen  ist,  woraus  sich  der 
Zusammenhang  mit  der  Mittelmeerbevölkerung 
der  verschiedenen  Zeiten  ergibt 


über  Alter  und  Herkunft 
der  Kultur  des  Speltes  (Triticum  spelta  L.). 

Von   Hugo   Mötefindt,  Wernigerode. 


Unter  allen  Fragen  aus  dem  Gebiete  der  prä- 
historischen Botanik  ist  im  letzten  Jahrzehnt 
wohl  keine  so  brennend  gewesen  und  hat  den 
Pflanzenhistorikern  so  viel  Kopfzerbrechen  ver- 
ursacht, wie  die  Frage  nach  dem  Alter  und  der 
Herkunft  der  Kultur  des  Speltes  oder  Dinkels 
(Triticum  spelta  L.).  Um  die  Lösung  dieser 
Frage  hat  sich  eine  ganze  Reihe  von  Forschern 
bemüht.  Wir  begnügen  uns,  von  einschlägigen 
Arbeiten  aus  neuerer  Zeit  nur  folgende  anzu- 
führen : 

1.  Georg  Buschan,  Vorgeschichtliche  Bo- 
tanik der  Kultur-  und  Nutzpflanzen  der  alten 
Welt  auf  Grund  prähistorischer  Funde,  Breslau 
1895.  S.  2 1  ff . 

2.  Robert  Gradmann,  Der  Dinkel  und  die 
Alemannen.  Jahrbücher  für  Statistik  und  Landes- 
kunde. Jahrgang  1901.  Erschienen  Stuttgart 
1902.  S.  103—158. 

3.  Johannes  Ho ops,  Waldbäume  und  Kul- 
turpflanzen im  germanischen  Altertum,  Straß- 
burg 1905.     S.  411— 443. 

4.  G  rad  mann ,  Der  Getreidebau  im  deutscheu 
und  römischen  Altertum.  Beiträge  zur  Verbrei- 
tungsgeschichte der  Kultnrgewächse.    Jena  1909. 

5.  H.  L.  Krause,  Besprechung  von  Grad- 
mann, Der  Getreidebau  usw.  Maunus  II,  1910. 
S.  254—255. 

6.  H.  L.  Krause,  Spelz-  und  Alemannen- 
grenze.    Maunus  II,  1910.  S.  200. 

7.  August  Schulz,  Die  Geschichte  der 
kultivierten  Getreide,  I,  Halle  a.  S.  1913.  S.  23  ff. 

Wir  wollen  zunächst  versuchen,  an  der  Hand 
dieser  Arbeiten  einen  Überblick  über  den  Gang 
der  Forschung  und  den  augenblicklichen  Stand 
der  Frage  zu  geben.  Daran  sollen  sich  einige 
Ausführungen  über  Speltfunde  aus  vorgeschicht- 
licher Zeit  schließen,  die  für  den  Pflauzen- 
historiker  neues  Material   bieten  werden. 

Buschan  ging  bei  seiner  Untersuchung  von 
der  Voraussetzung  aus,  daß  Spelt  in  prähisto- 
rischer Zeit  noch  unbekannt  gewesen  sei.     Mit 


de  Candolle1)  und  Schweinf  urth  2)  hielt  er 
den  Emmer  (Triticum  dicoecum  Schrenk)  für 
die  älteste  Kulturform  des  Speltes.  Die  Um- 
wandlung des  Emmer  in  den  Spelt  habe  sich 
erst  in  sehr  junger  historischer  Zeit,  ziemlich 
gleichzeitig  mit  dem  ersten  Auftreten  des 
Namens  spelta,  im  Jahre  301  n.  Chr.  vollzogen, 
so  daß  der  neue  Name  zugleich  auch  eine  neue 
Pflanze  bezeichnet  hätte.  Als  Ursprungsland 
der  Speltkultur,  d.  h.  als  dasjenige  Land,  in 
dem  sich  dieser  Umwaudlungsprozeß  vollzog, 
kommt  nach  Buschan  „das  gemäßigte  Ost- 
europa und  seine  benachbarten  asiatischen 
Gebiete"  in  Frage.  Hier  im  Osten  reiche  die 
Speltkultur  möglicherweise  bis  in  prähistorische 
Zeiten  zurück,  was  für  Mittel-  und  Südeuropa 
jedoch  ausgeschlossen  sei. 

Gradmann  vertritt  in  seiner  ersten  Ver- 
öffentlichung folgende  Ansichten:  „Der  Spelt 
ist  ebenso  wie  der  Roggen  und  Hafer  zuerst 
von  nordalpinen,  keltischen  und  germanischen 
Völkern  in  Kultur  genommen"  (S.  125)  und 
„könnte  recht  wohl  auch  auf  mitteleuropäischem 
Boden  unmittelbar  aus  einem  wildwachsenden 
Steppengrase  gezüchtet  worden  sein,  nur  müßte 
man  diesen  Vorgang  in  eine  ziemlich  frühe  Zeit 
hinaufrücken,  eine  Zeit,  in  der  das  Klima  einen 
etwas  kontinentaleren  Charakter  hatte  und  von 
einer  steppenartigen  Quartärflora  noch  mehr  vor- 
handen war  als  in  der  Gegenwart"  (S.  123).  Die 
Geschichte  und  Ausbreitung  der  Speltkultur  ist 
nach  Gradmann  auf  das  engste  verknüpft  mit 
dem  germanischen  Stamme  der  Alemannen.  Die 
Sueben  oder  Alemannen  seien  schon  in  ihren 
Irsitzen  östlich  der  Elbe  im  Besitz  dieser  Ge- 
treideart gewesen  und  hätten  sie  aus  ihrer 
ostelbisehen  Heimat  nach  Süddeutschlaud  mit- 
gebracht.    Die   scharfen   Grenzen    des   heutigen 


*)  Ursprung  der  Kulturptlanzen,  Leipzig  1884.  S.  485. 

•)  Ägyptens  auswärtige  Beziehungen  hinsichtlich 
der  Kulturgewächse.  Verhandl.  d.  Berlin.  Anthropol. 
Ges.   1891,  S.  654. 


27 


Speltgebietes  deckten  sich  weder  mit  klima- 
tischen, noch  mit  geographischen,  noch  mit 
wirtschaftsgeographischen  Grenzlinien;  sie  seien 
vielmehr  vom  Staudpunkt  der  physischen  und 
Wirtschaftsgeographie  aus  völlig  unverständlich 
und  müßten  als  willkürlich  erscheinen.  Grad- 
mann schließt  sich  darum  den  jüngeren  For- 
schern an,  die  sich  einer  historischen  Erklärungs-' 
weise  zugewandt  haben,  bekämpft  jedoch  die 
von  Stalin1),  Titot2)  und  Volz3)  vertretene 
Ansicht,  daß  die  Römer  die  Träger  der  Spelt- 
kultur waren.  Im  Anschluß  an  Buschan  unter- 
nimmt er  es,  auf  Grund  eines  reichen,  aus  der 
klassischen  Literatur  zusammengetragenen  Ma- 
terials den  Nachweis  zu  führen,  daß  die  Römer 
in  vorchristlicher  Zeit  den  Spelt  überhaupt  noch 
gar  nicht  kannten,  daß  die  Alemannen  ihn  nicht 
erst  bei  ihrer  Niederlassung  in  den  Agri  decu- 
mates  von  den  Römern,  sondern  daß  diese  ihn 
umgekehrt  etwa  im  dritten  Jahrhundert  unserer 
Zeitrechnung'  samt  dem  germanischen  Nameu 
von  den  Alemannen  erhielten.  Gradmann  weist 
dabei  vor  allem  darauf  hin,  daß  der  Wohn- 
bezirk des  schwäbisch -alemannischen  Stammes 
zugleich  das  Ilauptverbreitungsgebiet  des  Spelt- 
baues sei,  was  schon  Ed.  Langethal4)  und  Th. 
Engelbrecht5)  bereits  früher  bemerkt  hatten. 
Grad  mann  geht  aber  noch  weiter,  indem  er 
wahrscheinlich  zu  machen  versucht,  daß  das 
heutige  südwestdeutsche  Speltgebiet  im  fünften 
Jahrhundert  zur  Zeit  der  endgültigen  Festsetzung 
des  schwäbischen  -  alemannischen  Volkes  ent- 
standen sei,  zumal  der  heutige  Umfang  des 
Speltgebietes  fast  bis  ins  einzelne  der  gleiche 
geblieben  ist  wie  im  Mittelalter.  Auch  die 
verstreuten  anderen  Speltgebiete  in  der  Rhein- 
provinz, Italien,  Herzegowina,  Ungarn  möchte 
Gradmanu  auf  versprengte  Alemannenscharen 
zurückführen,  welche  auf  den  zahlreichen  weit- 
reichenden Kriegszügen  dieses  Volksstammes  in 
den  fremden  Ländern  hängen  geblieben  seien. 
Einzig  und  allein  für  das  belgische  Speltgebiet 
gesteht  Gradmann  selbständigen  keltischen 
Ursprung  zu.  Hinsichtlich  des  Speltbaues  in 
Serbien  und  Südrußland  bezweifelt  er  dagegen, 
daß   es   sich   hier  wirklich    um    Triticum   spelta 


')  Wirtembergische  Geschichte  1,  Stuttgart  u.  Tü- 
bingen  1841.     107. 

2)  Beiträge  zu  einer  Geschichte  des  Feldbaues  usw. 
Korrespondenzblntt  des  Kgl.  Württemb.  Landwirtschaft!. 
Vereins,  N.  F.,  29,   1846,  130. 

3)  Die  Getreidearten  und  Hülsenfrüchte  der  Alten. 
Korrespondenzblatt  des  Kgl.  Württemb.  Landwirtschaftl, 
Vereins,  N.  F.,  29,  1846,  130.  Beiträge  zur  Kultur- 
geschichte, Leipzig  1852.     S.  145. 

4)  Geschichte  d.  deutsch.  Landwirtschaft  1,  18+7,  47. 
6)  Die  Landbauzonen   der   außertropischen  Länder 

1,   1899,  41. 


handle,   und   wenn   ja,  daß   sich   dasselbe   zeitlich 
weit  zurückverfolgen   lasse. 

Ganz  erheblich  abweichende  Ansichten  äußerte 
wenige  Jahre  später  Johannes  Iloops  in 
seinem  bekannten  dickleibigen  Werke  „Wald- 
bäume  und  Kulturpflanzen  im  germanischen 
Altertum",  das  die  Forschung  in  dieser  Spezial- 
frage  ebenso  gefördert,  wie  es  für  das  ganze 
Gebiet  der  Pflanzengeschichte  befruchtend  ge- 
wirkt hat.  Hoops  ging  in  der  Speltfrage  von 
Anfang  an  von  einer  ganz  anderen  Basis  aus. 
Im  Gegensatz  zu  WTeizeu,  Einkorn  und  Emmer 
war  Spelt  in  vorgeschichtlichen  Fundstätten  bis 
jetzt  nirgends  nachgewiesen.  Nun  hatte  aber  Os- 
wald Heer1)  Körner  und  Ährchen  des  Speltes 
in  den  bronzezeitlichen  Pfahlbauresten  der  Peters- 
insel im  Bieler  See  entdeckt.  Buschan  hatte 
gegen  diesen  Fund  Bedenken  vorgebracht,  ob 
es  sich  überhaupt  wirklich  um  Spelt  handele, 
weil  dieser  Fund  von  der  Petersinsel  in  der 
ganzen  prähistorischen  Botanik  vereinzelt  da- 
stände2).  Diesem  Zweifel,  den  vor  Buschan 
bereits  de  Candolle3),  Kör  nicke4), 
Schweinfurth  5)  ausgesprochen  hatten,  schloß 
sich  G  r  a  d  m  a  n  n  6)  in  seiner  ersten  Abhand- 
lung noch  an.  Hoops  ging  jedoch  der  Sache 
auf  den  Grund.  Auf  seine  Veranlassung  unter- 
suchte der  vorzügliche  Botaniker  E.  Schröter 
in  Zürich  das  von  dem  betreffenden  Funde  auf 
der  Petersinsel  erhaltene  einzige  Ährchen,  jetzt 
im  botanischen  Museum  des  eidgenössischen 
Polytechnikums  in  Zürich  befindlich,  noch  ein- 
mal eingehend  und  gelangte  trotz  der  gegen- 
teiligen Behauptungen  Buschans  und  de  Can- 
dolles  zu  der  Ansicht,  daß  das  Ährchen  ganz 
sicher  Spelt  sei.  Auf  dieses  Ergebnis  der  Unter- 
suchung von  Schröter  baute  Hoops  seine 
Folgerungen  auf:  der  Spelt  müsse  bereits  in  der 
Bronzezeit  in  der  Schweiz  gebaut  sein.  Für 
jeden,  der  die  Richtigkeit  dieser  Folgerungen 
anerkannte,  fielen  damit  die  von  Buschan  und 
Gradmanu  aufgestellten  Kombinationen  über 
Alter  und  Herkunft  der  Speltkultur,  über  die 
Stammesgeschichte  der  Alemannen  usw.  in  sich 
zusammen.  Bedenklich  mußte  aus  der  Hoops- 
schen  Folgerung  jedoch  immer  das  eine  bleiben, 
daß  sie  sich  nämlich  nur  auf  einen  einzigen 
bisher  für  unsicher  gehaltenen  Fund  stützte. 


x)  Die  Pflanzen   der  Pfahlbauten.     Mitteil.  d.  anti- 
quarischen Ges.  zu  Zürich   1865,  S.  15. 
'-)  A.  a.  0.,  S.  24. 

3)  A.  a.  O.,  S.  458. 

4)  Die  Arten  und  Varietäten  des  Getreidebaues. 
Band  1  des  Handbuches  des  Getreidebaues  von  Kör- 
nicke, und  "Werner,  S.  76,  83,  110.     Berlin   1885. 

5)  Verhandlungen  usw.   1891,  S.  653. 
G)  A.  a.  O.,  S.  118,  Audi.  7. 


28 


Hoops  begnügte  sich  mit  diesem  Ergebnis 
nicht,  sondern  ging  noch  weiter.  Im  weiteren 
Verlauf  seiner  Untersuchungen  wies  er  nach, 
daß  der  Name  spelta  germanischen  Ursprunges 
ist  und  wahrscheinlich  eines  der  frühesten  deut- 
schen Lehnwörter  im  Lateinischen  sein  dürfte. 
Aus  dieser  Feststellung  folgerte  er  jedoch  nicht, 
daß  die  Kömer  mit  dem  Namen  auch  die  Pflanze 
von  den  Germanen  erhalten  hatten  —  womit 
er  sich  an  Gradmanns  Ansicht  angeschlossen 
hätte  — ,  sondern  er  griff  auf  den  Fund  von 
der  Petersinsel  zurück  und  begründete  durch  ihn 
folgende  Ansicht:  Es  gibt  keine  Belege  von 
einem  prähistorischen  oder  auch  frühhistorischen 
Anbau  des  Speltes  in  Deutschland  und  den 
nordischen  Landen;  die  schweizerischen  Pfahl- 
bauer haben  den  Spelt  dagegen  sicher  gebaut. 
Auch  im  Mittelalter  und  in  der  Neuzeit  ist 
außerhalb  des  Alpeugebietes  und  des  südwest- 
lichen Deutschlands,  in  Mittel-  und  Nordeuropa, 
gleichfalls  nirgends  Speltbau  getrieben  worden. 
Deshalb  spricht "  alle  Wahrscheinlichkeit  dafür, 
daß  die  Germauen  in  ihren  ursprünglichen 
Wohnsitzen  in  Norddeutschland  und  den  nor- 
dischen Ländern  den  Spelt  nicht  besaßen,  son- 
dern ihn  erst  bei  ihrem  Vorrücken  nach  Süd- 
deutschland und  den  Alpeuländern  kennen  lernten, 
und  weiter,  daß  der  Name  spelta  zwar  deutsch, 
die  Frucht  aber  undeutsch  ist;  den  Romanen 
sollte  der  Spelt  bereits  früher  bekannt  gewesen 
seiu ,  das  germanische  Fremdwort  spelta  sei 
ihnen  aber  erst  im  Laufe  des  dritten  und 
vierten  Jahrhunderts  durch  den  Getreidehandel 
bekanut  geworden  und  habe  sich  bei  ihnen 
durchgesetzt. 

Hoops  leugnet  nicht,  daß  der  Speltbau  in 
Deutschland  vorzugsweise  eine  Eigentümlichkeit 
des  schwäbischen  Stammes  ist.  Er  erkennt  es 
vielmehr  als  unbestreitbares  Verdienst  von 
Gradmann  an,  daß  er  auf  Grund  eines  um- 
fassenden Materials  für  die  Gegenwart  wie  für 
das  Mittelalter  diesen  Nachweis  erbracht  hat. 
Aber  die  Alemannen  kann  Hoops  nicht  als 
die  Urheber  des  Speltbaues  anerkennen;  der 
letztere  ist  nicht  durch  sie  nach  Südwestdeutsch- 
land  eingeführt  worden.  Hoops  nimmt  an,  daß 
die  Alemaunen  den  Spelt  selber  erst  im  Deku- 
matenlaude  kennen  gelernt  haben ;  sie  seien  hier 
sozusagen  in  die  Speltkultur  hineingewachsen, 
hätten  sie  dann  vielleicht  in  manche  Gegenden 
eingeführt,  wo  sie  vorher  nicht  zu  Hause  gewesen 
wäre,  und  hatten  auf  jeden  Fall  bis  auf  den 
heutigen  Tag  mit  großer  Zähigkeit  an  ihr  fest- 
gehalten. Hoops  bezweifelt  aber  auch  die 
Richtigkeit  der  Ansicht  Gradmanns,  daß  sich 
das  Speltgebiel    überall   genau    mit   dem  Siede- 


lungsbereich  des  schwäbischen  Stammes  decke, 
und  wendet  sich  vor  allem  gegen  Gradmanns 
kühne  Hypothese,  daß  die  zahlreichen  außer- 
schwäbischen Speltgebiete  auf  dem  Hunsrück, 
in  der  Eifel,  in  Frankreich,  Spanien,  Italien  und 
Österreich  auf  einwandernde  Alemannenscharen 
zurückzuführen  seien.  Diese  heutigen  Spelt- 
gebiete sind  nach  Hoops  vielmehr  als  Reste 
eines  ehemaligen  größeren  Speltkulturgebietes 
aufzufassen.  Hoops  hat  sofort  anch  daraus  die 
Konsequenzen  gezogen  und  die  Frage,  wann 
denn  jenes  große  Speltreich  entstanden  sei  und 
ob  bei  der  Ausbreitung  desselben  vielleicht 
irgend  ein  Volk  besonders  beteiligt  war,  zu 
beantworten  versucht.  Hier  wies  er  zunächst 
darauf  hin,  daß  die  Römer  zur  Einführung  und 
Förderung  der  Speltkultur  in  ihren  Provinzen 
wohl  ziemlich  viel  beigetragen  haben  werden. 
Dann  aber  erinnerte  er  an  die  Tatsache,  daß  in 
der  Umgegend  der  Schweizer  Seen  der  Spelt 
bereits  in  der  Bronzezeit  kultiviert  wurde.  Er 
zieht  daraus  den  kühnen  Schluß,  daß  der  „Spelt 
zur  Bronzezeit  schon  im  ganzen  Mittelmeer- 
gebiet heimisch  war;  denn  wenn  der  Spelt  zur 
Bronzezeit  schon  nördlich  der  Alpen  bekannt 
war,  so  wurde  er  sicher  auch  in  Südfrankreich 
kultiviert,  denn  die  alte  Völkerverkehrsstraße 
vom  Mittelmeer  nach  der  Westschweiz  führte 
das  Rhouetal  aufwärts".  Hoops  sprach  dabei 
die  Überzeugung  aus,  daß  „bei  genauerer 
archäologischer  Nachforschung  nicht  nur  in 
Italien,  sondern  auch  in  anderen  Mittelmeer- 
ländern noch  Spuren  einer  prähistorischen  Spelt- 
kultur zum  Vorschein  kommen  werden". 

Wenige  Jahre  nach  dem  Erscheinen  des 
Hoopsschen  Werkes  erschien  eine  neue  Schrift 
von  Gradmann  über  den  „Getreidebau  im 
deutschen  und  römischen  Altertum"  (Jena  1909). 
In  dieser  Schrift  nahm  Gradmann  ganz  ent- 
schieden Stellung  gegen  die  von  Hoops  vor- 
getragenen Ansichten.  Gradmanu  läßt  dort 
seine  Vermutung,  daß  die  Alemannen  den  Spelt 
aus  ihrer  nordostdeutscheu  Heimat  mitgebracht 
hätten,  auf  die  von  Hoops  vorgebrachten  Ein- 
wände hin  fallen.  Die  Differenzen  zwischen 
Gradmanns  jetzigem  Standpunkt  und  dem 
Hoopsschen  Buche  drehen  sich  vor  allem  um 
die  Auffassung  und  Interpretation  einiger  ein- 
ander widersprechender  Pliniusstellen,  über  die 
man  allerdings  verschiedener  Meinung  seiu  kann. 
Hoops  hat  bisher  zu  diesen  Ausführungen 
Gradmanns    noch    nicht    Stellung    genommen. 

Wie  ein  Motiv  hört  man  überall  aus  der 
Darstellung  heraus,  daß  die  Germanen  keine 
einzige  Getreideart  den  Römern  zu  verdanken 
halien.    Andererseits  wird  der  römische  Ursprung 


29 


des  deutschen  Gartenbaues  voll  anerkannt.  Fin- 
den Orient  und  Osteuropa  läßt  sich  mit  ziem- 
licher Sicherheit  behaupten,  daß  man  dort  nie- 
mals Spelt  gekannt  hat;  für  Italien  ist  das 
wenigstens  möglich.  In  der  Literatur  erscheint 
der  Spelt  erst  301  n.  Chr.  Die  Grenze  des 
Hauptspeltgebietes  fällt  in  Südwestdeutschland 
im  Mittelalter  wie  noch  jetzt  auf  weiten  Strecken 
in  auffälliger  Weise  zusammen  mit  den  Grenzen 
der  alemannischen  Siedlung.  Den  Ausnahmen 
gesteht  Gradmann  wenig  Bedeutung  zu,  wäh- 
rend Hoops  gerade  diese  hervorgehoben  hatte. 
Der  Ursprung  des  Speltes  erscheint  nun  ganz 
dunkel.  Aus  den  vorgeschichtlichen  Funden 
ergibt  sich,  daß  der  Spelt  in  der  Schweiz  be- 
reits lange  vorher  gebaut  wurde,  bevor  die 
Alemannen  kamen,  und  in  deren  Wohnsitzen 
ist  kein  Speltbau  erkennbar.  Gradmaun  sucht 
deshalb  den  Ursprung  dieses  Getreides  jetzt  in 
einer  vorgeschichtlichen  deutschen  Steppe.  Diese 
letztere  Hypothese  ist  aber,  worauf  bereits 
E.  II.  L.  Krause  in  seiner  Besprechung  des 
Grad  mann  sehen  Buches  hingewiesen  hat,  durch- 
aus unannehmbar;  denn  soweit  wir  die  post- 
glazialen Felder  auf  Grund  von  Fossilien  und 
Relikten  wiederherstellen  können,  müssen  sie  in 
Fauna  und  Flora  einen  durchaus  sibirischen 
Charakter  gehabt  haben,  und  dort  im  Osten 
wird  ja  gerade  jede  Spur  von  Spelt  vermißt; 
dieser  muß  demnach  wohl  westeuropäisch   sein. 

Ernst  H.  L.  Krause  lehnte  in  seiner  Be- 
sprechung des  Gradmannschen  Buches  die 
Gradmannsche  Hypothese  vom  alemannischen 
Ursprung  noch  einmal  entschieden  ab,  konnte  aber 
für  das  auffällige  Zusammentreffen  der  Stammes- 
und Wirtschaftsgrenze  keine  anderweitige  Er- 
klärung geben.  Jetzt  glaubt  er  in  dem  Haferbau 
der  alten  Alemannen  und  den  klimatischen  Bedin- 
gungen des  Weizenbaues  eine  Erklärung  für  das 
auffällige  Zusammentreffen  gefunden  zu  haben. 

Schließlich  hat  noch  August  Schulz  in 
seinem  oben  angeführten  Buche  eingehend  zu 
diesen  Fragen  Stellung  genommen  (S.  '23  ff.). 
Er  setzt  sich  wieder  eingehend  mit  der  römi- 
schen Literatur  auseinander  und  kommt  dort  zu 
der  Ansicht,  daß  die  Römer  und  Griechen  bis 
zum  zweiten  Jahrhundert  nach  Christus  den 
Spelt  gar  nicht  gekannt  haben.  Neue  Gesichts- 
punkte bietet  Schulz  eigentlich  nicht.  Er 
unterscheidet  sich  von  Hoops  vor  allen  Dingen 
durch  die  Meinung,  daß  der  Anbau  des  Speltes 
im  nördlicheren  Europa  bereits  in  neolithischer 
Zeit  begonnen  haben  soll  (S.  40).  Für  diese 
Ansicht  kann  Schulz  jedoch  keinerlei  Beweise 
vorbringen,  und  es  handelt  sich  lediglich  um 
eine  Sache  der  persönlichen  Überzeugung. 


Seit  dem  Erscheinen  des  Schulzschen  Buches 
hat  sich  meines  Wissens  noch  niernaud  wieder 
über  die  uus  hier  beschäftigenden  Fragen  ge- 
äußert. Wir  können  deshalb  unseren  Überblick 
über  die  bisher  dargelegten  Meinungen  über 
Alter  und  Herkunft  der  Speltkultur  hiermit  ab- 
schließen und  wenden  uns  dem  zweiten  Teile 
unseres  Aufsatzes  zu,  in  dem  wir  auf  einige 
neue  Funde  hinweisen  möchten. 

Als  Basis  der  Hoops  scheu  Ansicht  bezeich- 
neten wir  bereits  oben  den  Fund  von  der 
Petersinsel.  Es  mußte  immer  sehr  unsicher  er- 
scheinen, einen  einzigen  derartigen  Fund  zum 
Grundstock  für  Theorien  zu  machen,  zumal 
dieser  Fund  noch  von  mehr  als  einer  Seite  an- 
gezweifelt war.  Das  letzte  Wort  nach  dem  Alter 
des  Speltbaues  mußte  deshalb  immer  noch  der 
zukünftigen  Spatenforschung  überlassen  bleiben. 
Und  diese  Forschung  ist  seitdem  auch  nicht 
müßig  gewesen.  Seit  der  Veröffentlichung  des 
Hoopsscheu  Buches  sind  zwei  neue  Funde  von 
prähistorischein  Spelt  entdeckt,  von  denen  einer 
in  der  Literatur  noch  so  gut  wie  völlig  un- 
bekannt ist;  es  verlohnt  sich  deshalb,  hier  auf 
diese  beiden  neuen  Speltfunde  näher  einzugehen. 

Ein  Speltfund  ist  zunächst  unter  den  Fund- 
stücken aus  dem  brouzezeitliehen  Pfahlbau  von 
Möringen  im  Bieler  See  im  Jahre  1908  im 
historischen  Museum  in  Bern  wieder  entdeckt 
worden.  Es  gelang  hier  dem  um  die  Erforschung 
der  prähistorischen  Pflauzenreste  hochverdienten 
Botaniker  Neuweiler,  ein  verkohltes  Ähren- 
stück sicher  als  Spelt  zu  rekognoszieren;  meines 
Wissens  ist  dieser  Fund  bisher  leider  noch  nir- 
gends eingehend  veröffentlicht;  er  findet  sich  nur 
in  Gradmanns  Buche  auf  S.81,  Anm.2  angeführt. 

Dieser  Fund  besitzt  eigentlich  wissenschaft- 
lich keine  große  Bedeutung;  denn  abgesehen 
davon,  daß  Funde  von  prähistorischem  Spelt 
bisher  so  selten  sind  und  deshalb  jeder  weitere 
Fund  als  willkommener  Beleg  mit  großer  Freude 
begrüßt  wird,  wurde  unsere  Kenntnis  des  prä- 
historischen Speltbaues  durch  diesen  Fund  von 
Möringen  in  keiner  Weise  erweitert,  denn  dieser 
Fund  sagte  uns  ja  nichts  Neues,  was  wir  nicht 
durch  den  Fund  von  der  Petersinsel  bereits 
gewußt. 

Anders  dagegen  der  zweite  Fund. 

Am  Südende  des  Thüringer  Waldes  befinden 
sich  in  der  Nähe  von  Römhild  zwei  große  Be- 
festigungen aus  vorgeschichtlicher  Zeit,  der 
große  und  der  kleine  Gleichberg,  die  zahlreiche 
Funde  aus  der  La-Tene-Zeit  geliefert  haben1). 

*)  Vgl.  G.  Jacob,  Die  Gleichberge  bei  Rönibild 
als  Kulturstätten  der  La-Tene-Zeit  Mitteldeutschlands. 
Vorgeschichtliche    Altertümer     der     Provinz    Sachsen, 


30 


Am  kleinen  Gleichberge  entdeckte  im  Jahre 
1901  der  Technikumslebrer  Kumpel  aus  Hild- 
burghausen eine  Wohn-  oder  Vorratsgnibe,  über 
welcher  früher  der  Wall  mit  seiner  ganzen 
Mächtigkeit  gelagert  haben  soll  und  die  dem- 
nach alter  als  der  Wall  selbst  sein  müßte.  Bei 
der  Untersuchung  des  Inhaltes  dieser  Grube 
stieß  Kumpel  auf  einige  Körner  und,  nun  auf- 
merksam geworden,  durchsuchte  er  durch  Sieben 
und  Schlämmen  große  Bodenmassen  an  der 
Stätte  und  erhielt  so  aus  einer  bestimmten 
Schicht  an  Zerealien  1/i  Liter,  au  Mohn  1  Liter, 
an  Ackerbohnen  l/«  Liter,  von  anderen  Frucht- 
sorten kleinere  Mengen a). 

Um  zunächst  über  das  Alter  des  Fundes  zu 
sprechen,  so  ist  die  von  Kumpel  gegebene 
Datierung  des  Fundes  in  die  Bronzezeit  völlig 
unsicher.  Leider  sind  die  bei  dem  Funde  ge- 
hobenen „zahlreichen  Scherben"  in  der  Küm- 
pelscben  Publikation  weder  näher  beschrieben 
noch  abgebildet,  trotzdem  gerade  Scherben  ein 
Leitfossil  des  Prähistorikers  sind.  Der  Fund 
dürfte  vielmehr,  wie  die  übrigen  Siedlungsfunde 
vom  Gleichberg,  in  die  La-Tene-Zeit  gehören. 

Nach  der  Bestimmung  von  Braungart  in 
München  sind  in  dem  Gleichbergfuude  folgende 
Fruchtsorten  vertreten : 

1.  Triticum  monocoecum  L.,  Einkorn; 

2.  Triticum  spelta  L.,  Spelt; 

3.  Triticum  vulgare  compactum  nuticum, 
Dinkel-  oder  Igelweizen; 

4.  Triticum  vulgare  antiquorum   O.   Heer, 
kleiner  Pfahlbauweizen ; 

5.  Hordeum    hexastichum     sanetum,     kleine 
Pfahlbaugerste; 

6.  Vicia  faba  L.  varia  celtica  nana  O.  Heer, 
keltische  Zwergbohne; 

7.  Pisum  sativum  L.,  Erbse; 


Heft  5—8,  1887  ff.  Außerdem  die  Aufsätze  von  Götze 
in  den  Verhandl.  d.  Berl.  Antbropol.  Ges.  1900,  S.  416, 
in  den  Neuen  Beitr.  z.  Gesch.  d.  deutsch.  Altertums, 
Lieferung  16,  Meiningen  1902,  und  in  den  Bau-  und 
Kunstdenkmälern  Thüringens,  Heft  31,   1904,  S.  466. 

l)    0.  Kumpel,    Ein    Zerealienfund    vom     kleinen 
Gleichberg  bei  Kömhild.     Ohne  Ort  und  ohne  Jahr. 


8.  Papaver  somniferum  var.  antiquorum, 
Gartenmohn; 

9.  Ein    unbestimmbares    Fruchtkorn,    wahr- 
scheinlich ein  Apfelkern. 

Dieser  zweite  neue  Speltfund  erweitert  unsere 
Kenntnis  der  prähistorischen  Verbreitung  des 
Speltes  in  bisher  ungeahnter  Weise.  Durch  ihn 
wissen  wir  jetzt,  daß  der  Speltbau  in  der 
La-Tene-Zeit  über  beträchtliche  Teile  von  Siid- 
deutschland  verbreitet  gewesen  sein  wird,  und 
zwar  ziemlich  weit  nördlich  reichte,  wie  es  bis- 
her kein  Forscher  vermutet  hatte. 

Gradmann  suchte  in  seiner  Arbeit  zu  be- 
weisen, daß  „überall  da,  wo  für  das  Mittelalter 
Dinkelbau  nachweisbar  ist,  auch  heute  noch 
Dinkel  gebaut  wird"  (S.  115).  „Die  Behauptung, 
daß  der  Dinkelbau  seit  alter  Zeit  beständig  zu- 
rückgegangen sei",  sagt  er,  „hat  demnach  zum 
mindesten  für  das  deutsche  Sprachgebiet  keine 
Geltung.  Das  heutige  Dinkelgebiet  hat  seine 
enge  Umgrenzung  nicht  erst  allmählich  im 
Laufe  der  Zeiten  erhalten;  vielmehr  hat  der 
Dinkelbau  die  gleichen  Grenzen  wie  heute  schon 
im  frühen  Mittelalter  inne  gehabt,  und  erst  in 
den  letzten  Jahrzehnten  hat  die  Intensität  des 
Anbaues  besonders  in  der  Schweiz  und  im 
Oberelsaß  beträchtlich  abgenommen,  wodurch 
jedoch  das  geographische  Verbreitungsbild  kaum 
eine  Veränderung  erlitten  hat".  Dieser  Hypo- 
these Gradmanns  ist  der  neue  Fnnd  am  Gleich- 
berge  nicht  günstig;  denn  aus  ihm  scheint  her- 
vorzugehen, daß  tatsächlich  das  Speltgebiet  in 
vorgeschichtlicher  Zeit  größer  gewesen  ist  als 
im  Mittelalter  und  heutiarestaus. 

Dagegen  tragen  diese  beiden  neuen  Funde 
wesentlich  zur  Stützung  der  von  Hoops  und 
Schulz  vertretenen  Ansicht  bei.  Hoffentlich 
sind  diese  beiden  neuen  Funde  aber  noch  nicht 
die  letzten  und  erhalten  wir  bald  weitere  Be- 
lege. Vielleicht  werden  wir  dann  unsere  An- 
sichten über  Alter  und  Herkunft  des  Speltes 
noch  etwas  umändern  müssen,  wobei  sie  aber 
auf  jeden  Fall  auch  eine  weit  sichere  Grund- 
lage als  bisher  erhalten  werden. 


Ein  mineralogisches  Erkennungszeichen  prähistorischer  Feuersteinartefakte. 

Von  Max  Stein1),  Dresden. 


Bei  Aufsammlung  der  Feuersteiuartefakte 
bemerkte  ich  auf  denselben  immer  wieder- 
kehrend schwarzbraune,   halbkugelige  Ansamm- 


')  Vorgetragen    in  der  Sitzung  der  Prähistorischen 
Sektion  der  Isis,  Dresden,  am  19.  November  1914. 


hingen  eines  Minerals,  welches  meine  Aufmerk- 
samkeit auf  sich  lenkte.  Bei  näherer  Untersuchung 
durch  die  Lupe  stellte  sich  dasselbe  als  eine 
Eisenverbindung  heraus,  wofür  mir  eine  Er- 
klärung der  Entstehung  anfänglich  fehlte,  da 
ich  die  Beobachtung  immer  nur  an  Feuerstein- 


31 


splittern  machte,  welche  sich  als  von  Menschen- 
hand bearbeitet  erwiesen. 

Die  äußere  Form  dieses  in  oft  winzig  kleiner, 
oft  auch  größerer  kugeliger  und  oft  auch  ring- 
förmiger Gestalt  auftretenden  Minerals  ließ  mich 
auf  die  Vermutung  kommen,  daß  ein  zersetzter 
Pyrit  vorliegen  müßte.     Und  zwar  deshalb: 

Beobachtet  man  das  Vorkommen  des  Pyrits 
in  der  Natur,  so  findet  man  denselben 

1.  als  Ausscheidung  auf  Erzgängen  in  der 
oben  beschriebenen  Form  (z.  B.  auf  den  Erz- 
gängen von  Freiberg)  oder 

2.  als  Vererzungsmittel  (z.  B.  innerhalb  der 
Gehäuse  der  Kephalopoden,  im  Ton  von  Löt- 
hain bei  Meißen  als  Vererzung  von  Holzteilen, 
in  der  Braunkohle  von  Böhmen  und  vielen 
anderen  Orten). 

Die  Chemie  hat  nun  nachgewiesen,  daß  der 
Pyrit  aus  einem  chemisch  flüssigen  Prozeß  her- 
vorgeht. Besonders  bemerkenswert  aber  ist  der 
Umstand,  daß  die  Abscheidung  desselben  immer 
an  Stellen  geschieht,  an  welchen  ein  Verwesungs- 
prozeß stattgefunden  hat,  wo  Schwefelammonium 
aus  Eisenvitriol  Schwefeleiseu  fällte  oder  auch 
die  Bildung  der  Ansammlungen  von  Eisensultid 
(FeS2,  Pyrit)  veranlaßte. 

Chemische  Formel: 

FeS04  +  (NH4)2S 
(Eisenvitriol  -\-  Schwefelammonium) 

=  FeS-f(NH4)2S04 

(Schwefeleisen  -\-  Ammonsulfat). 

In  dieser  letztgenannten  Form  erscheint 
dieser  nun  an  den  Artefakten  (wenn  auch  im 
Laufe  der  Zeit  wahrscheinlich  wiederum  eine 
Zersetzung  eingetreten  ist)  als  ein  Beweis,  daß 
auch    hier    eine   Verwesung    organischer    Stoffe 


stattgefunden  haben  muß.  Die  Feuersteinarte- 
fakte, welche  beim  Gebrauch  durch  Menschen- 
hand eine  Menge  Fett  aufgesogen  hatten  oder 
auch  mit  tierischen  Resten  behaftet  waren, 
kamen  in  die  Erde,  wo  nun  gleichfalls  der 
oben  geschilderte  Prozeß  zur  Bildung  von 
Schwefeleisenverbindungen  in  Tätigkeit  treten 
konnte. 

Es  ist  mir  möglich  gewesen,  nachzuweisen, 
daß  diese  Schwefeleisenverbiiiduugen  an  allen 
Artefakten  aller  Altersstufen  sich  vor- 
finden, teils  häufiger,  teils  seltener,  aber  sie  sind 
vorhanden ! 

Sie  zeigten  sich  an  den  Artefakten  der 
jüngsten  Steinzeit  unserer  Gegend,  an  den  Arte- 
fakten von  Rügen,  an  denen  von  Spiennes 
(Belgien),  an  einem  mir  vorliegenden  Schaber 
von  Nordamerika,  an  allen  Altersstufen  der 
paläolithischen  Funde  des  Vezeretales  und  selbst 
an  den  Eolithen  von  Kent  (England). 

Bei  meinem  letzten  Besuche  in  Markklee- 
berg bei  Leipzig  konnte  ich  auch  dort  an  den 
aufgesammelten  Artefakten  das  Vorhandensein 
dieser  Schwefeleisenverbindung  feststellen,  aller- 
dings immer  nur  an  den  vor  nachträglicher  natür- 
licher Bearbeitung  geschützten  Stellen. 

Niemals  aber  konnte  ich  diese  Schwe- 
feleisenablagerung an  Feuersteinen  und 
Splittern  aus  natürlichen  Fundplätzen 
(Kiesgruben  usw.)  nachweisen. 

Wenn  nun  diese  Beobachtung  auch  von 
auderer  Seite  gemacht  würde  und  eine  che- 
mische Untersuchung  von  fachmännischer  Seite 
meine  oben  angeführte  Mutmaßung  der  Bildung 
dieser  Schwefeleisenablagerung  bestätigte,  hätte 
man  vielleicht  ein  Erkennungsmittel  mehr,  um 
die  künstliche  oder  natürliche  Entstehung  zweifel- 
haft erscheinender  Artefakte  nachzuweisen. 


Dionysos-Sabazios. 

Von   Dr.  Emil  Fischer    (Bukarest). 


Einleitend  muß  bemerkt  werden,  daß  ich  in 
mehreren  Arbeiten  („Anthropos"  1913,  Bd.  8, 
1915;  Korrespondenzbl.,  Hamburg  1914,  Heft  1/2; 
Zeitschr.  f.  Ethnol.  1914,  Heft  2)  nachgewiesen 
zu  haben  glaube,  daß  sich  thrakische  Völker- 
schaften ehemals  von  Iiätien  und  Venetien  bis 
nach  Phrygien  hin  ausgedehnt  haben  und  daß 
die  Pelasger  —  ein  nordgriechischer  Stamm, 
der  seinen  Volksgenossen  in  der  Kultur  wohl 
um  einiges  vorausgeeilt  war  —  mit  demselben 


Recht  als  die  Voreltern  der  späteren  Griechen1) 
angesehen  wurden  und  als  solche  verehrt  werden 
durften,  wie  die  späteren  "EXlog  oder  Hekhog 
(um  Dodona)  als  die  Stammväter  der  Hellenen. 
Alle  diese  Völker:  die  Pelasger,  die  Thraker, 
Illyrier,  Daker,  die  Hellenen,  die  Kreter,  die 
Phryger    (Bryger),   Myser  (Moeser)    waren,   da 

l)  Nach  Jacobitz  und  Seiler  lautete  der  alte 
Name  der  Griechen  rgnixög,  früher  als  "jSXXrjr  (Arist. 
Apd.  St.  B.). 


32 


wir  sie  kennen  lernen,  noch  Hirten,  die  erst 
zum  Ackerbau  überzugehen  im  Begriffe  waren. 
Das  schließt  nicht  aus,  daß  z.  B.  bei  den  Thrakern 
auch  schon  der  Weinbau  einigermaßen  geübt 
wurde. 

Die  alten  griechischen  (und  ein  Teil  der 
lateinischen)  Schriftsteller  verlegen  den  Ursprung 
der  hellenischen  Theogonie  zu  den  nörd- 
lichsten thrakischen  Völkern.  Viele  späteren 
Riten  und  Mysterien,  den  „Musendienst"  der 
Griechen  linden  wir  schon  bei  diesen  „Barbaren", 
so  z.  B.  bei  den  Dakern  eine  Priesterkaste,  die 
im  Zölibat  lebte,  eine  eigene  Kleidung  trug  und 
sich  strenge  von  gewissen  Speisen  enthielt,  bei 
den  Thrakern  die  „Orphiker",  die  den  Wert 
des  Diesseits  leugneten  und  das  wahre  Leben 
erst  in  das  Jenseits  verlegten,  die  Askese  übten, 
an  die  Seelenwanderung  glaubten  und  sich 
reinigenden,  heiligen  Weihen  unterzogen,  wie 
wir  sie  auch  im  späteren  Hellas  antreffen. 

Daß  Apollo  (dak.  Aplu),  Hermes  (dak. 
Armi(s),  Sarmiz),  Dionysos  (thrak.  Sabazios, 
Sabadios),  daß  Zeus1)  (thrak.  Z«,  artic.  ZaA, 
macedovlax.  dza  =  Gott,  vgl.  Delametra)  bei 
den  Dakern  und  Thrakern  verehrt  wurden,  steht 
unwiderleglich  fest.  Richtig  ist  es,  daß  die 
erwähnten  Gottheiten  nicht  die  spätereu  helle- 
nischen Namen  trugen  und  daß  mancher  ihrer 
Kulte  noch  nicht  die  Ausgestaltung  der  folgenden 

O  Ö  ö 

Jahrhunderte  an  sich  hatte. 

Die  griechischen  Urstämme,  die  im 
Norden  des  Balkans  und  des  Ister,  seinerzeit 
vielleicht  noch  jenseits  der  sogenannten  „Hyper- 
boreer" saßen,  waren  sicherlich  weniger  volk- 
reich, als  am  Ende  ihrer  Südwanderung,  sie 
waren  in  Sprache  und  Gewohnheiten  auch  noch 
einheitlicher,  fremde  Volkssitten  waren  auf  sie 
noch  von  geringem  Einfluß  gewesen  —  man 
denke  z.  B.  an  die  Phryger  (Bryger)  und  Myser 
(Moeser)  in  Kleinasien,  an  die  Griechen  in 
Kypern,  die  mancherlei  Einrichtungen  orien- 
talischer Völker  kennen  gelernt  und  zum  Teil 
angenommen  hatten.  Aber  eins  darf  mit  aller 
Bestimmtheit  gesagt  werden:  daß  es  unter  ihnen 
schon  damals  eine  Gemeinsamkeit  der  Idee  der 
großen  Gottheiten,  der  Nationalgott- 
heiten gab,  die  sie  nicht  erst  von  anderen 
Völkern  entlehnen  mußten.  Zu  ihnen  gehört 
vor  allem  der  echte  „thrakische"  Gott  Bdt,%%og, 
der    bei    den    Hellenen    Dionysos    [Zagreus 3), 

J)  Hierher  gebort  auch  Z(ti.un'iig  {Za,  ZuX  =  Zeus 
und  *mox  =  rumän.  mos,  Vater,  Ahnherr,  also  etwa 
„Gott  Vater");  vgl.  N.  Densusianu  „Dacia  preistoriea" 
1913,  S.  1110. 

2)  Beiname  des  ersten  Bakchos,  Sohn  des  Zeus  und 
der  Persephone,  der  von  den  Titanen  hald  nach  der 
Geburt  zerrissen  und  verzehrt  wurde.     Das  Herz  rettete 


der  „Jäger"  =  Z  -f-  äygsvg]  hieß,  jedoch  mit 
dem  vorigen  vollkommen  wesensgleich  ist. 
Bakchos  hatte  auch  den  thrakischen  Namen 
Sabazios,  Sabadios.  Die  Vorstellung  der 
Thraker  von  ihrem  Gott,  die  Feste  (Mänaden, 
Korybanten)  nnd  Mysterien,  mit  denen  er  ge- 
feiert wurde,  sind  zu  bekannt,  um  hier  des 
breiteren  dargelegt  zu  werden.  Nur  so  viel  sei 
erwähnt,  daß  Bakchos  als  der  Ausdruck  der 
Zeugungskraft  der  Natur  auch  als  Stier 
gedacht  wurde,  wie  bei  einem  Hirtenvolk 
auch  nicht  anders  zu  erwarten.  In  derselben 
Gestalt  aber  verehrten  die  alten  Ägypter  ihren 
Osiris,  auch  die  Kreter  ihren  Minos  (Mino- 
taurus),  sogar  die  alten  Juden  ihren  Stiergott 
Jahve.  Gleiche  Lebenslagen  erzeugen  ja  bei 
den  Völkern  gleiche  Deutungsversuche. 

Ich  halte  deshalb  die  Meinung  Belochs 
(„Griech.  Geschichte"  1912  bis  1913,  Zweite  Auf- 
lage, I,  1,  S.  165)  für  unbegründet:  „Daß 
Dionysos  nicht  aus  Thrakien  gekommen  ist, 
zeigt  schon  der  Name,  der  mit  Zeus  zusammen- 
hängt; der  Versuch  Kretschmers,  diesen 
Namen  aus  dem  Thrakischen  abzuleiten,  hat 
mich  so  wenig  überzeugt,  wie  Rohde.  Der 
entsprechende  thrakische  Gott  heißt  Sabazios. 
Auch  die  allgemeine  Verbreitung  des  Dionysos- 
kultes schon  in  homerischer  Zeit,  als  die  thra- 
kischen Küsten  noch  gar  nicht  von  Griechen 
besiedelt  waren,  würde  diese  Annahme  sehr 
unwahrscheinlich  machen."  Darauf  mnß  nun 
gesagt  werden,  daß  die  Einwanderung  der 
Griechen  mit  ihren  Herden  in  ihre  Halbinsel 
doch  am  natürlichsten  über  Thessalien,  d.  h. 
auf  dem  Landwege,  vor  sich  gegangen  ist  und 
nicht  über  das  Meer,  etwa  vom  thrakischen 
Chersonnes  her.  Eine  andersartige,  gekünstelte 
Annahme  ist  nur  danach  angetan,  das  Erkennen 
der  tatsächlichen  Ereignisse  unmöglich  zu  machen. 
Ferner  kaun  gezeigt  oder  mindestens  sehr  wahr- 
scheinlich gemacht  werden,  daß  beide  Gott- 
heiten: Dionysos  und  Sabazios  anfänglich 
mit  Zens  zusammenhängen1).  Auch  Zeus 
hatte,  wie  sie,  chthonischen  Charakter  als  Gott 
des  Erdsegens  (Beloch,  1.  c,  S.  164).  Sabazios 
läßt  sich  ungezwungen  zerlegen  in:  S-aba-zios. 
Das  prothetische  S  (eine  dialektische  Aspiration) 
kommt  im  Dakischen  und  Thrakischen  mehrfach 
vor:  Armi(s)  =  Sarmi(z)  —  Hermes;  Sarmi- 
zegetusa;  Zagreus;   Sirmus  (König  der  Triballer 


Athena.    Zeus  verschlingt  es  und  zeugt  dann  mit  Semele 
einen  anderen  Dionysos. 

x)  Ed.  Meyer,  „Geschichte  des  Altertums"  1893, 
II,  S.  116.  „. .  .  Naturgott  Dionysos  ursprüngliche  Gestalt 
des  Zeus",  II,  S.  733.  „Der  kretische  Zeus  entspricht 
dem  kleinasiatischen  Sabazios  und  dem  griechischen 
Dionysos." 


33 


in  Moesien)  =  Rimus  =  Irmus  (Transposition) 
-f-  S  (dialektische  Aspiration) ;  aba  =  aßßä 
=  pater  (Said.)  =  uimu,  ana,1);  zios  (Zaog 
bei  Sext.  Empir.  African.)  =  Zeus;  demnach 
(S)-aba-zios  =  Gott  Vater  oder  Himmel  Vater 
[griech.Z£i)sjr«ri}p,  ind.Dyauspitar,  ital.Juppiter. 
-  Deivos  (Gott)  ist  von  djeus  (Himmel)  ab- 
geleitet. Kretschmer,  Einleitung  SO].  N.Deu- 
susian,  I.e.,  S.  891,  leitet  Sabazius  von  Saba 
und  dius  her:  „In  Thrakien  wurde  Liber  pater 
oder  Bacchus,  als  Gottheit  der  Sonne,  unter  dem 
Namen  Sebazius,  Sabazius,  Sabadius  verehrt 
(Macrobius,  Sat.  I,  18).  Diese  thrakische  Gott- 
heit ist  eine  und  dieselbe  mit  dem  altnationalen 
Sounenheros  Sabus2)  der  Latiner,  Sabiner,  (Sa- 
beller)  und  Umbrer  (Dionys.  II,  49.  —  Sil.  Ital. 
VII,  424)";  Völkerschaften,  die  mit  den  Massa- 
piern,  Venetern  und  Thrakern  ehemals  im  engsten 
ethnischen  Zusammenhang  gestanden  haben. 
Dieser  Eponymus  Sabus  war  ein  Sohn  des  Gottes 
Semo  Sancus. 

Aber  Bkx%os  (Dionysos)  wurde  gerade  so 
wie  Zeus  auch  als  Stier  vorgestellt3).  *Baku 
bedeutete  im  Thrakischen  =  Stier,  femin.  bacca 
=  vacca  (Act.  frat.  arval.),  in  der  Lingua  latina 
ruetica  lautete  es  boca[Bocas  dieunt  esse  boves 
mariuos  quasi  boacas.  Isid.]  4).  Im  Istrovlachi- 
schen  bedeutet  bäc  heute  noch  Stier. 

Osiris  wurde  auch  als  Stier  gedacht.  Beider 
Hauptfeste  fielen  bezeichnenderweise  in  dieselbe 
Jahreszeit;  beide  waren  halb  chthonische  Wesen  6), 
und  es  ist  dabei  griechischer  Einfluß  (nament- 
lich seit  Alexander  d.  Gr.)  nicht  ausgeschlossen. 

BovxEQCog  =  mit  Rindshörnern,  wurde  von 
Herodot  und  Aeschylos  für  Bakchos  gebraucht 
(Jakobitz  und  Seiler). 

Auch  bezüglich  der  orphischen  Lehre 
äußert  Beloch,  1.  c,  I,  1,  S.  434,  seine  Bedenken 
wie  folgt:  „Ob  diese  Religion  sich  ganz  selb- 
ständig  auf  griechischem  Boden  entwickelt  hat 


1)  Teste  N.  Densusianu  „Dacia  preistoricä":  „Bex 
Samuel  (c.  1040),  qui  pro  sua  pietate  Oba  vocabatur". 
Anonym.  Belae,  32.  Aba  war  also  auch  in  Pannonien 
noch  zur  Zeit  der  Arpaden  gebräuchlich. 

2)  Ed.  Meyer,  I.e.,  II,  S.  740.  „—  die  Sonne  ist 
eine  Manifestation  des  Dionysos."  —  Sabazios  ist  aber 
mit  Dionysos  identisch.  —  N.  Densusianu  erwähnt 
gelegentlich  der  Nennung  dieses  Sabus  den  halkanischen 
Heil.  Sava,  den  er  für  eine  volkstümliche  Fortsetzung 
jenes  Sonnenheros  Sabus  erklärt,  eine  Deutung,  der  wir 
doch  nichtfolgen  können,  ebensowenig  jener  für  Sabbath, 
Sabbato  (Samstag)  =  Sabus. 

3)  So  hat  Zeus,  in  Stiergestalt,  unter  der  berühmten 
Platane  bei  Gortyn  (Kreta)  mit  Europa  Hochzeit  gefeiert. 

4)  Teste  N.  Densusianu,  1.0. 

6)  Le  boeuf  Hapi  est  l'äme  d'Osiris.  G.  Maspero, 
„Histoire  ancienne  des  peuples  de  l'Orient.  S.  36/37. 
1905. 


oder  wieweit  etwa  mythologische  und  kosmo- 
gonische  Vorstellungen  der  benachbarten  Thraker 
und  Phryger  bzw.  der  Kulturvölker  des  Orients 
auf  ihre  Ausbildung  von  Einflulj  gewesen  sind, 
läßt  sich  zurzeit  noch  nicht  entscheiden." 

Darauf  ist  zu  erwidern,  daß  es  gar  keinem 
Zweifel  unterliegt,  daß  Orpheus  in  der  Vor- 
stellung der  Hellenen  stets  als  Thraker  gegolten 
hat.  Auch  was  wir  vom  Hermeskult  derBesser1) 
wissen,  weist  ebenfalls  manche  verwandte  Züge 
auf,  die  also  wohl  im  thrakischen  Volks- 
charakter  begründet  sein  müssen.  Die  Grund- 
lage auch  der  orphischen  Lehre  ist  zweifellos 
thrakisch2).  Da  aber  die  Hellenen  auf  ihrer 
Südwanderung  lange  Zeit  mit  den  Thrakern  in 
naher  Berührung  gestanden  haben  müssen,  da 
sie  weiteres  anfänglich  sogar  desselben  ethnischen 
Ursprunges  mit  ihnen  sind,  so  ist  es  ganz  aus- 
geschlossen, daß  „mythologische  und  kosmogene 
Vorstellungen  der  Thraker"  auf  sie  hätten  aus- 
bleiben können. 

Weiter.  Die  Phryger  waren,  wie  heute 
festgestellt  ist,  ebenfalls  thrakischer  Herkunft 
(Bryger),  sie  haben  daher,  falls  eine  Einwirkung 
von  ihrer  Seite  auf  die  Griechen  stattgefunden 
hat,  sich  vorwaltend  in  diesem  genetischen  Sinne 
geltend  gemacht.  Dabei  soll  aber  nicht  ver- 
gessen weiden,  daß  gerade  diesen  (phry- 
gischen)  Einflüssen  auch  „Vorstellungen  der 
Kulturvölker  des  Orients"  (Mithraskult  usw.) 
beigemischt  sein  mußten. 

Es  kann  also  diesbezüglich  festgestellt  werden, 
daß  wir  zurzeit  zwar  den  Ursprung  aller  Einzel- 
heiten der  Entlehnungen,  welche  die  Hellenen 
in  der  Ausbildung  der  „orphischen  Lehre" 
gemacht  haben  mögen,  noch  nicht  angeben,  daß 
aber  ihre  Grundlage  thrakischer,  besser  gesagt, 
thrako-hellenischer  Herkunft,  in  letzter  Linie  ein 
gemeinsames  indogermanisches  Gemüts- 
erbe ist.  Zügelloser  Lebensgenuß  und  Welt- 
flucht waren  von  jeher  allen  alten  Balkanvölkern 
gemeinsam,  ihr  Hang  zu  Mysterien,  zum  aske- 
tischen Lebenswandel 3)  hat  sich  bis  auf  unsere 
Tage  rege  erhalten,  selbst  bei  ihren  weitest 
entfernten  Nachkommen. 


1)  Sie  waren  die  Hüter  des  (dein  Hermes  geweihten) 
Nationalheiligtums,  vornehmlich  einer  Grotte  in  der 
Ehodope.  Der  Name  der  Besser  ist  etwa  mit  Priester- 
volk wiederzugeben  (albanisch  besf  =  Glaube). 

2)  Ed.  Meyer,  I.e.,  II,  S.  739.  Den  Orphikern  ist 
alle  göttliche  Macht  nur  Ausfluß  einer  ursprünglichen 
weltbildenden  Gottheit,  die  zugleich  Dionysos  und  Zeus 
ist.  II,  S.  740.  Dionysos  ist  —  wie  Zeus  —  zugleich 
männlich  und  weiblich  —  (Orphikerlehre). 

3)  Vgl.  die  zahlreichen  Balkanklöster,  die  teilweise 
nur  im  Hängekorb  zugänglich  sind. 


34 


Rechter  Calcaneus  eines  Paläolithikers  aus  dem  Diluvium  von 
Gr.-Winnigstedt  im  Kreise  Wolfenbüttel. 

\<>n   L.  Knoop,  Börßum. 


Zur  neolithischen  Zeit  war  der  südliche  Teil 
des  Kreises  Wolfenbüttel  —  die  Ufer  der  Oker 
von  Ohrum  bis  Hebungen  und  des  Hasenbaches 
von  Kalme  nach  Börßum  —  stark  besiedelt1). 
Spuren  aus  paläolithischer  Zeit  konnten  dagegen, 
Fig.  l. 

b 


Von  der  unteren  Seite. 

von  den  Eolitheu  der  Interglazialzeiten  ab- 
gesehen, bislaug  nur  zweimal  festgestellt  werden. 
In  dem  einem  Falle  bandelt  es  sich  um  das 
Mittelstück  eines  Oberschenkels1),  das  1892  in 
dem  feinkörnigen  Kiese  nördlich  von  Börßum 
beim  Brunnenbau  ausgegraben  wurde,  während 
der    zweite    Fund    1908    bei    Gr.-Winnigstedt2) 


x)  8iehe  Braunschw.  Magazin  1915,  Nr.  4:  „Die 
vorgeschichtlichen  Siedelungen  in  der  Umgebung  von 
Börßum"  von  L.  Knoop. 

2)  Er  wird  aufbewahrt  in  der  Sammlung  des 
Lehrers  Fr.  Thiemann  daselbst. 


gemacht  wurde.  Obgleich  der  hier  in  Betracht 
kommende  Knochen  nicht  tadellos  erhalten  ist, 
machte  seine  Bestimmung  als  menschlicher  Cal- 
oaneus  keine  Schwierigkeiten.  Er  wurde  mit 
verschiedenen  anderen  Knochen,  die  wegen  ihrer 
mangelhaften  Erhaltung  nicht  bestimmt  werden 
konnten,  in  der  westlichen  Kiesgrube,  die  sich 
auf  der  Höhe  von  Gr.-Winnigstedt  nach  dem 
Bahnhofe  Mattierzoll  befindet,  nebst  zahlreichen 
Senonpetrefakten  aufgefunden.  Der  Kies  gehört 
seinem  Alter  nach  der  zweiten  Interglazialzeit 
an  und  ist  vermutlich  als  Anschwemmungs- 
produkt eines  größeren  Stauwassers  aufzufassen. 
Jener  Calcaneus  fällt  durch  seine  geringe  Größe 
auf.    Die  stark  ausgeprägten  Berührungsflächen 


Von  der  Innenseite. 

mit  dem  Talus  beweisen  aber,  daß  es  sich 
keineswegs  um  ein  jugendliches  Individuum 
handeln  kann.  Zur  weitereu  Charakteristik  mögen 
folgende  Maßverhältnisse  dienen : 

Fig.  1:  ab  (Durchmesser)  =  70 mm,  m n  (Quer- 
schnitt) =  24  mm,  cd  =  29  mm,  il  =  12  mm, 
ef  ■=  8  mm,  gh  =  37  mm,  ko  =  25  mm,  kp 
=  21  mm. 

Fig.  2:  ab  =  22  mm,  ac  =  42  mm,  ad 
=  61  mm  und  ae  =  39  mm.  (Die  Längen  be- 
zeichnen die  geraden  Luftlinien.) 


Mitteilung:  der  Schweizerischen  Naturforschenden  Gesellschaft. 


Die  Schweizerische  Naturforschende 
Gesellschaf  t  wird  am  12.  bis  15.  September  d.J. 
in  Genf  ihre  97.  Jahresversammlung  abhalten 
und  gleichzeitig  die  Jahrhundertfeier  ihrer  Grün- 
dung begehen.  Mit  Rücksicht  auf  die  gegen- 
wärtigen Umstände  hat  das  Komitee  der 
( >i  Seilschaft    beschlossen,    diese    Feier    in    sehr 


bescheidenem  Rahmen  zu  halten  und  die  üblichen 
Einladungen  an  die  gelehrten  Gesellschaften 
des  Auslandes  und  die  außerhalb  der  Schweiz 
wohnenden  Naturforscher  zu  unterlassen. 

Der  Präsident  des  Jahreskomitees 
Prof.  Dr.  Arne  Pictet. 


35 


Methodische  Siedelungsforschung. 

Von  Ernst  Lentz,  Berlin-Lichterfelde. 


„Beim  Ausschachten  eines  Hauses  stießen  die  Ar- 
beiter auf  Knochen  und  Gefäße;  der  sofort  benach- 
richtigte Leiter  des  Museums  in  Z.  konnte  feststellen, 
daß  . .  ."  oder  „Schon  längst  hatte  eine  Stelle  im  Ge- 
lände meine  Aufmerksamkeit  geweckt,  weil  .  .  .",  so 
beginnt  fast  ohne  Ausnahme  die  Veröffentlichung  vor- 
geschichtlicher Forschung.  Je  nach  der  Zahl  und 
örtlichen  Verteilung  der  so  angebahnten  und  zur  Ver- 
öffentlichung oder  doch  zur  Aufzeichnung  gelangten 
Untersuchungsergebnisse  ist  die  Grundlage  zustande 
gekommen ,  auf  der  sich  die  Schlüsse  allgemeiner 
Überblicke  aufbauen.  Selbst  bei  vorausgesetzter  Er- 
schöpfung des  Möglichen  an  Zuverlässigkeit  bleibt  es 
mißlich,  die  Vollständigkeit  des  Materials  zu  beurteilen. 
Es  fällt  heute  keinem  Forscher  ein ,  aus  dem  Fehlen 
von  Beobachtungen  Schlüsse  zu  ziehen,  bevor  er  glaubt, 
das  gesamte  Gebiet  lückenlos  zu  überblicken,  aber  in 
der  Sache  liegt  es,  daß  ihn  jeder  neue  Zufallsfund  zu 
einem  unser  Vertrauen  schwächenden  Rückzug  nötigen 
kann.     Es  erübrigen  sich  Beispiele. 

Dies  und  der  in  der  Vorgeschichte  bereits  stark 
veredelte,  aber  noch  kaum  organisierte  Dilettantismus 
machen  es  verständlich,  wenn  heute  noch  der  „exakte 
Historiker"  und  der  „klassische  Archäologe"  die  Vor- 
geschichte und  besonders  die  Sachforschung  nicht  be- 
dingungslos als  ebenbürtig  anerkennen.  Nun  bietet 
aber  die  vorgeschichtliche  Sachforschung  mindestens 
die  gleiche  Möglichkeit  exakter  Arbeit,  wie  diese 
älteren  Lehrgebiete. 

Was  zurzeit  an  Beobachtung  von  Siedelung  und 
Bestattung ,  Hausrat  und  Ernährung  in  der  Vorzeit 
vorliegt,  genügt  durchaus,  um  die  Wege  zu  beleuchten, 
auf  denen  sich  die  vorgeschichtliche  Forschung  von 
Zufallsfunden  unabhängig  machen  kann. 

So  gut  sich  die  von  Dr.  Kiekebusch  bei  Küstrin 
untersuchte  Siedelung  in  den  Urkunden  als  slawisches 
Dorf  Klößnitz  erkennen  ließ,  so  wird  es  der  Forschung 
möglich  sein,  mindestens  die  Mehrzahl  der  z.  B.  im 
Codex  diplom.  Brandenb.  oder  im  Landbuch  Kaiser 
Karls  genannten  und  heute  verschollenen  Siedelungen 
im  Gelände  einwandfrei  festzustellen.  Dabei  sind  wir 
durchaus  nicht  auf  Volksmund  und  Flurnamen,  alte 
Salz-,  Hoch-  oder  Heerstraßen  und  Verteilung  der  Ge- 
wanne allein  angewiesen. 

Soweit  wir  uns  über  die  Bedürfnisse  der  früheren 
Kulturabschnitte  unterrichten  konnten,  gibt  uns  diese 
Kenntnis  beachtenswerte  Winke.  Keine  Siedelung 
ohne  Wasser ;  keine ,  bei  welcher  wir  Hütten  mit 
Lehmbewurf  voraussetzen  dürfen  ohne  Lehmgrube  in 
unbeschwerlicher  Nähe;  keine  Haustierzucht,  ohne  den 
Pfad  der  Tiere  und  ohne  Hürde.  Das  gilt  von  jeder 
Zeit.  Je  weiter  zurück,  je  mühsamer  mit  dem  vor- 
handenen Gerät  die  Bodenbearbeitung ,  um  so  kost- 
barer die  fruchtbare  Ackerkrume  und  um  so  be- 
schränkter das  Gebiet  für  den  Suchenden.  Das  Unland 
für  Siedelungen  muß  schnell  trocknenden  Boden  haben ; 
Sand  wird  um  so  mehr  bevorzugt,  je  unvollkommener 
das  Grabgerät.  Ein  Platz ,  zu  dem  man  von  allen 
Seiten  leicht  Zutritt  hat,  muß  nach  allen  Seiten  weiten 
Überblick    bieten ,     aber    ein    Schlupfwinkel    mit    nur 


einem  Zugang  ist  unbrauchbar.  Im  wildesten  Luch 
führt  uns  das  von  Horst  zu  Horst  wechselnde  Wild 
heute  sicher  auf  alte  Furten.  Gewachsene  Furten  gibt 
die  geologische  Landkarte  an,  und  da  fast  jede  vom 
Menschen  vervollkommnet  werden  mußte,  muß  die 
Stelle  zu  finden  sein ,  von  der  die  Furtschüttung  ent- 
nommen wurde.  Daheim  am  Kartentisch  müssen  wir 
Siedelungen  ermitteln,  wie  Galle  den  Planeten  Xeptun, 
und  mit  dem  Spaten  dann  unsere  Schlüsse  beweisen. 
Daß  die  Bücher  füllende  Frage  der  Runddörfer 
mit  dem  Spaten  beantwortet  werden  wird ,  ist  ein 
Trost  der  Prähistorie  angesichts  des  Versagens  der 
Dokumentenforschung.  Für  die  Zeit,  worin  die 
Rundlingform  geschaffen  wurde,  bietet  der  Grundriß 
des  Dorfes  einen  guten  Anhalt,  verglichen  mit  den 
Grundrissen  ausgesprochener  Rundstädte.  Man  halte 
z.  B.  die  bei  der  Kolonisation  entstandenen  Stadtbilder 
von  Demmin,  Templin  oder  Neubrandenburg  neben  die 
Dorfanlage  von  Lüdersdorf  (Kr.  Teltow)  oder  Räsdori 
(Kr.  Zauche).  Das  Runddorf  ist  nie  ein  gewachsenes, 
sondern  nur  als  gegründete  Siedelung  mehrerer  Zeit- 
genossen denkbar.  Dabei  kann  natürlich  die  Koloni- 
sation zu  jeder  Zeit  stattgefunden  haben,  wie  die 
wendische  Siedelung  bei  Hasenfelde  (Kr.  Lebus)  be- 
weist. 

Was  von  der  Siedelungsstätte  vorauszusetzen  ist, 
gilt  auch  von  der  Siedelungsform.  Soweit  in  der 
Steinzeit  Gefäße  zurückverfolgt  werden  können ,  die 
unterhalb  des  Umbruchs  Verzierungen  aufweisen  oder 
gar  auf  der  ganzen  Unterseite,  so  weit  müssen  wir  die 
Spuren  von  Pfostenbau  und  Schwellenbau  finden. 
Diese  Gefäßverzierungen  haben  nur  Sinn,  wenn  sie  an 
ihrem  Aufbewahrungsort  oder  beim  Gebrauch  dem 
Auge  des  Beschauers  zugänglich  sind.  Sie  standen 
nicht  auf  dem  Erdboden,  nicht  in  Zelten,  sondern  ihr 
Standort  fußte  lotrecht  in  der  Erde  und  muß  in  ihr 
zu  finden  sein. 

Einige  Forscher  rechnen  noch  für  die  Steinzeit 
mit  Teilen  der  Bevölkerung,  welche  weder  Ackerbau 
noch  Viehzucht ,  sondern  Jagd  trieben.  Sie  sollen 
Zeltbau  über  Wohngruben  gehabt  und  nach  den 
gefundenen  Knochenresten  ausschließlich  Jagdtiere 
verspeist  haben.  An  solche  Siedelungen  vermag  ich 
nicht  zu  glauben.  Entweder  sind  das  Jagdlager  oder 
Wanderlager,  aber  keine  Siedelungen.  Die  typologisch 
oder ,  wenn  man  will ,  chronologisch  bestimmbare 
Töpferei  der  Steinzeit  ist  so  durchgebildet ,  daß  erst 
in  den  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderten  ein 
kleiner  Fortschritt  festzustellen  ist.  So  hoch  ent- 
wickelte Töpferei  setzt  einen  mindestens  gleich  alten 
Ackerbau  voraus ,  dessen  Alter  wohl  ethnologische 
Gliederung  der  nordeuropäischen  Bevölkerung  verträgt, 
aber  für  kulturelle  Reste  einer  Jägerbevölkerung 
keinen  Raum  läßt.  Töpfe  mit  mühsam  und  kunstvoll 
gearbeiteter  Verzierung  entstehen  in  festen  Siedelungen; 
der  Jäger  braucht  solche  Zierstücke  nicht,  so  wenig 
dem  Ackerbauer  jemals  Zelte  genügten. 

Wenn  z.  B.  die  Erforschung  südwestdeutscher 
Steinzeitsiedelungen  keine  Spuren  von  Pfostenbau  um 
sogenannte  Wohngrubeu  gefunden  hat,  so  bleibt  nur 
die  Möglichkeit    einer   noch  nicht  gesuchten  und  des- 


36 


halb  uns  verborgenen  Technik  des  Baues  lotrecht 
stehender  Wände.  Eine  noch  offene  Frage  ist,  ob  wir 
jede  gefundene  Siedelung  auch  zu  erkennen  vermögen. 
Nach  den  zurzeit  vorliegenden  Veröffentlichungen  ge- 
winnen wir  die  Erkenntnis  aus  der  vom  gewachsenen 
Hoden  sich  abgrenzenden  Kulturschicht  und  aus  den 
sie  begleitenden  Einschlüssen  des  Bodens.  Durchweg 
beschränken  sich  die  Beweismittel  auf  Artefakte  und 
Steinpackungen  auf  Pfostenlöcher,  Vorrats-  und  Abfall- 
gruben  und  ihren  Inhalt.  Grab!  aber  der  Mensch  in 
jungfräulichem  gewachsenen  Boden  ohne  andersfarbige 
Decke,  so  wird  die  rohe  optische  Spur  davon  sich  der 
Wahrnehmung  um  so  öfter  entziehen,  je  länger  zer- 
setzende und  ausgleichende  Faktoren,  wie  Witterungs- 
wechsel, Feuchtigkeit  und  Druck  einwirken  konnten. 
Nicht  einmal  die  Holzkohle  ist  unbedingt  haltbar,  ge- 
schweige denn  gebrannter  Lehm,  Knochen  oder  pflanz- 
liche Stoffe.  Wohl  aber  ist  jeder  nicht  an  der  Ober- 
fläche liegende  Stein  —  solange  nicht  eine  Sendung 
durch  Auswaschung  seines  Untergrundes  oder  durch 
wühlende  Kräfte  ersichtlich  ist  —  als  dort  eingelagert 
anzusehen ,  wo  ihn  die  letzte  Bewegung  bettete.  In- 
mitten von  Sandaufwehungen  darf  kein  Stein  uu- 
befragt  bleiben.  Aufgewehter  Boden  und  im  Wasser 
allgelagerter  Niederschlag  ist  unschwer  zu  erkennen, 
aber  auch  in  anderem  Boden  ist  die  Einwirkung  von 
Pflanzen  oder  Lebewesen  noch  optisch  ohne  besonders 
abweichende  Färbung  an  der  Struktur  zu  erkennen. 
Die  Pfahlwurzel  eines  Baumes  kann  im  Mergel ,  be- 
sonders im  Anschnitt  gesehen,  Erscheinungen  ähnlich 
einer  Grube  hervorrufen.  Trocknet  der  Anschnitt  im 
Sonnenbrand ,  so  verrät  er  sich  schnell  durch  die 
schuppigen  Abblätterungen,  weil  die  saugenden  Faser- 
würzelchen den  Mergel  in  kleine  Würfel  zerlegten. 
In  wirklich  bewegtem  Boden  bewirkt  die  verschiedene 
Schwere  der  einzelnen  Bestandteile  und  ihr  abweichen- 
des Verhalten  gegenüber  der  durchsickernden  Feuchtig- 
keit, Sonnenbestrahlung  und  Frost  ein  Bestreben  gegen- 
seitigen Lagerungsausgleichs,  der  im  frischen  Anschnitt 
optisch  stets  als  gewisse  Maserung  erscheint  und  noch 
leichter  bei  photographischer  Vergrößerung  zu  er- 
kennen ist.  Es  ist  dringend  zu  wünschen,  daß  durch 
photographische  Aufnahme  und  Veröffentlichung  ver- 
größerter Ausschnitte  von  jeder  erwiesenen  Kultur- 
schicht unser  Erkenntnisvermögen  bereichert  wird. 

In  ähnlicher  Weise  wirken  die  als  Ortsteinbänder, 
Eiserlinien  bekannten  Sickerungserscheinungen  und 
ihre  auffälligen  Ablenkungen ,  auf  die  hingewiesen  zu 
haben  ein  Verdienst  Dr.  Kiekebuschs  ist. 

Im  Flämingdorfe  Grubo  fand  ich  einen  Anschnitt 
in  der  Richtung  dreier  gleichmäßiger  Pfosten,  die  in 
jungfraulichem  Sand,  also  in  nur  mühsam  zu  be- 
grenzenden Pfostenlöchern  von  gleicher  Tiefe  und 
gleichem  Durchmesser  stehend,  lediglich  als  senkrechte 
Bahnen  winziger  Kohleteilchen  einwandfrei  festzustellen 


waren.  Wenn  diese  außergewöhnlich  kleinen  Reste 
nicht  das  Ergebnis  natürlicher  Oxydation  sind ,  so 
haben  wir  es  hier  mit  Pfählen  zu  tun,  die  vor  ihrer 
Fjinsenkung  dem  Feuer  oberflächlich  ausgesetzt  waren 
und  von  deren  Kohlenhaut  ein  großer  Teil  optisch 
unerkennbar  wurde. 

Aber  chemisch  müssen  die  Pfähle  noch  wahr- 
nehmbar sein.  Die  als  Oxyd  flüchtig  gewordene  Kohle 
muß  sieh  als  Anreicherung  ihrer  Lagerstelle  mit 
Kohlensäureverbindungen  verraten,  genau  so,  wie  sich 
behauptete  Abfallgruben  als  Anreicherung  bestimmter 
Salzverbindungen  chemisch  im  Erdreich  erweisen 
müssen.  Deshalb  ist  wünschenswert,  daß  die  chemische 
Untersuchung  der  Erdproben  mehr  in  den  Bereich 
vorgeschichtlicher  Siedeluugsforschung   gezogen   wird. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  einer  in  allen  bisherigen 
Veröffentlichungen  empfindbaren  Mißachtung  des  Mate- 
rials gedacht ,  weil  sie  uns  Wege  der  Erkenntnis  ver- 
schleiert. Die  Forscher  beschränken  sich  auf  Mit- 
teilung von  grob  augenfälligen  Merkmalen,  wie  Form 
der  Gefäße  und  Art  und  Technik  der  Muster,  während 
nur  selten  von  feingeschlemnitem  oder  geraultem  oder 
klingend  hart  gebranntem  Material  und  dann  auch 
nur  flüchtig  geschrieben  wird.  Die  hierauf  gestützte 
Chronologie  kann  bestenfalls  nur  eine  des  Geschmacks 
sein ;  wenig  aber  finden  wir  Beiträge  zur  ungleich 
wichtigeren  Chronologie  der  Technik.  Und  doch  hilft 
uns  diese  in  all  den  vielen  Fällen,  wo  wegen  Kleinheit 
der  Scherbenreste  die  Chronologie  oder  Typologie  des 
Geschmacks  glatt  versagt.  Wir  müssen  fortan  einmal 
das  typologisch  genau  bestimmbare  Scherbenmaterial, 
auf  seine  Masse  untersucht,  veröffentlichen  und  zum 
anderen  auf  die  Verarbeitung  der  Masse.  Der  ver- 
größerte Dünnschliff  des  Scherbeudurchschnitts  zeigt 
nicht  nur  die  Mischung  des  Materials ,  sondern  auch, 
ob  die  Oberfläche  rein  mechanisch  geglättet ,  ver- 
strichen oder  aufgelegt  ist  —  innen  und  außen.  Ich 
weiß  nicht,  ob  schon  chemisch  untersucht  wurde, 
welche  kohlenstoffhaltigen  Aufbaumittel  in  den  kera- 
mischen Perioden  dem  Ton  oder  Lehm  beigemengt 
wurden.  Verständlich  aber  kaum  gewürdigt  ist  z.  B. 
die  häutig  wiederkehrende  Beobachtung,  daß  der  Ober- 
flächenstrich der  Außenwand  horizontal,  der  der  Innen- 
wand senkrecht  oder  schräg  verläuft.  Beobachtungen, 
die  am  trockenen  Gefäß  nur  schwer ,  aber  fast  stets 
leicht  am  feuchten  Scherben  nach  der  Waschung 
augenfällig  sind.  Ich  habe  Scherben  vor  mir,  in  die 
sich  der  polierende  Graswisch  eingrub  und  solche, 
deren  feiner  Strich  nur  durch  Sand  oder  Gewebe  (?) 
erklärlich  erscheint.  Daneben  Scherben,  die  nur  im 
Aufstrich ,  nicht  aber  in  der  Masse  die  metallisch 
glänzenden  Blättchen  der  Hornblende  enthalten.  Zahl- 
reich sind  ferner  die  mit  leeren  Abdrücken  der  beim 
Brennen  vergangenen  Reste  abgerissenen  Glättungs- 
materials. 


Reklamationen  und  sonstige  Mitteilungren 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  K.  Hagen,  Hamburg  13,  Biuderstraße  14,  zu  senden. 


Ausgegeben  am  12.  Oktober  1915. 


Korrespondenz-  olatt 

der 

Deutschen  Gesellschaft 

für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben   von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg. 


Di 

uck 

und  Ver 

*g 

von   Fried r.  Vieweg   &  Sohn 

in 

Braunschweig. 

XLVI.  Jahrg. 

Nr. 

9/12. 

Jährlich  12  Nummern. 

Sept. /Dez. 

1915. 

Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw 

tragen  die  wissenschaftl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren ;  s.S. 36  des  Jahrg.  1894. 

Inhalt:  Das  Aufsuchen  uud  Feststellen  vor-  und  frühgeschichtlicher  Siedelungsspuren.  Von  Dr.  Albert  Kieke  - 
busch. —  Der  Anteil  des  Slavischen  ira  Rumänischen.  Von  Dr.  Emil  Fischer.  —  Mitteilungen 
aus  den  Lokalvereiuen :  Bonner  Anthropologische  Gesellschaft.  —  Literaturbesprechungen.  —  Außer- 
ordentliche Versammlung  der  Deutschen  Anthropologischen  Gesellschaft  in  Hamburg  am  18.  Oktober 
1915.  —  Zum  Gedächtnis:  Prof.  Dr.  Eberhard  Fraas  und  Hofrat  Dr.  med.  Alfred  Schliz. 


vor- 


Das  Aufsuchen  und  Feststellen 
und  frühgeschichtlicher  Siedelungsspuren. 


Von  Ur.  Albert  Kiekebusch. 


In  meinem  Vortrage  über  „Vorgeschichtliche 
Wohnstätten  und  die  Methode  ihrer  Unter- 
suchung", den  ich  auf  der  Anthropologeu- 
versammlung  in  Weimar  hielt ]),  habe  ich  auch 
kurz  über  die  „Gelegenheiten  7.ur  Entdeckung 
vorgeschichtlicher  Ansiedelungen"  gesprochen. 
Da  ira  engen  Rahmen  jeues  Vortrages  nur  das 
Wichtigste  gesagt  weiden  konnte  und  ira  Laufe 
dreier  Jahre  naturgemäß  neue  Erfahrungen  hin- 
zugekommen sind,  dürfte  eine  ausführlichere 
Behandlung  dieses  Gegenstandes  wünschenswert 
sein.  Besonders  aber  die  in  unserer  Mark 
Brandenburg  in  Angriff  genommene  systematische 
Erforschung  vorzeitlicher  Siedelungen  macht  es 
notwendig,  den  freiwilligen  Helfern  und  auch 
sonstigen  Altertumsfieuuden  und  -forschem  zur 
Erkennung  alter  Wohnstätten  möglichst  genaue 
und  ausführliche  Anleitung  zu  geben.  Festzu- 
halten  bleibt  da  immer,  daß  es  sich  hier  nur 
um  die  Entdeckung,  nicht  um  die  Unter- 
suchung vorgeschichtlicher  Wohnstätten  han- 
delt. Das  Recht  der  Ausgrabung  ist  ja  jetzt 
glücklicherweise  beschränkt  und  geregelt  durch 
das  Ausgrabuugsgesetz  vom  26.  März   1914. 


J)  Korrespondenzblatt  der  Deutschen  Gesellschaft 
für  Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte  1912, 
S.  63—68. 


1.    Die  äußeren  Kennzeichen   vor- 
geschichtlicher Wohnstätten. 

Vorgeschichtliche  Siedelungen  verraten  sich 
in  erster  Linie  durch  Scherben,  die  auf  oder 
in  dem  Boden  der  Fundstelle  beobachtet  werden 
können.  Liegen  die  gut  erhaltenen  Kulturreste 
der  Wohnstätte  auch  tiefer,  so  daß  sie  fast 
immer  von  der  modernen  Humus-  oder  Acker- 
schicht bedeckt  werden,  so  reißen  Pflug  oder 
Spaten  bei  jeglicher  Kulturarbeit  stets  einige 
alte  Überreste  mit  nach  oben.  An  Stellen,  die 
lange  und  dicht  bewohnt  waren,  ist  die  Ober- 
fläche des  Ackers  nicht  selten  mit  Gafäßresten 
dicht  besät,  so  daß  ein  auch  nur  flüchtiges 
Sammeln  meist  schou  die  Bestimmung  der  in 
Frage  kommenden  Zeit  ermöglicht.  Werden 
an  der  Stelle  Bodenverbesserungeu  vorgenommen 
oder  Baugruben  ausgehoben,  so  daß  der  Boden 
auch  aus  tiefer  liegenden  Schichten  nach  oben 
kommt,  so  finden  sich  neben  den  Scherben  vor 
allem  auch  große  Mengen  von  Tierknochen 
vor.  Sie  sind  schon  ein  einigermaßen  sicheres 
Zeichen  dafür,  daß  es  sich  wirklich  um  eine 
Wohnstätte  und  nicht  um  ein  Gräberfeld  han- 
delt. An  verschiedenen  Stellen,  wenn  auch 
nicht  so  häufig  wie  Scherben  und  Knochen, 
treten  auch  Lehmbrocken  auf,   die,  wenn  sie 


38 


deutliche  Abdrücke  von  Rundhölzern,  von 
kantigen  Stämmen  oder  von  Rutengeflecht  auf- 
weisen, mit  fast  unfehlbarer  Sicherheit  auf 
Siedelungsspuren  schließen  lassen.  Ganz  sichere 
Anhaltspunkte  sind  kleinere  oder  größere  Stein- 
packungen aus  Feldsteinen,  die  sorgfältig  an- 
gelegt sind,  fasl  immer  auf  und  zwischen  den 
Steinen  größere  Massen  von  Holzkohle,  Scherben 
und  Knochen  enthalten  und  aus  teilweise  ganz 
mürbe  gebrannten  Feldsteinen  bestehen ,  die 
sich  leicht  zwischen  den  Fingern  zerreiben 
lassen.  Der  sicherste  Beweis  für  eine  Wohu- 
stätte  mit  lang  andauernder  Besiedelung  ist  eine 
schwächere  oder  stärkere  alte  Kulturschicht, 
die  sich  oft  ganz  gleichmäßig  unter  der  modernen 
Schicht  hinzieht  und  neben  alten  Kulturresten 
viel  Branderde  enthält.  Von  dieser  Schicht  aus 
reichen  dann  schmalere  oder  breitere  Gruben 
(Pfostenlöcher,  Herdgruben,  Abfallgruben  usw.) 
in  den  gewachsenen  Boden  hinein.  Das  Bneher 
Profil x)  ist  in  seiner  Anschaulichkeit  der  Aus- 
gangspunkt zur  "Entdeckung  vieler  Siedelungen 
geworden.  Ein  ähnliches  Profil  wiederholt  sich 
auf  allen  Siedelungsstätteu,  die  vou  der  Stein- 
zeit an  bis  in  die  Weudenzeit  hineinreichen 
und  ist  der  untrüglichste  Beweis  für  das  Vor- 
handensein einer  vorgeschichtlichen  Wohnstätte. 
Das  Bucher  Profil  hat  denn  auch  in  neuester 
Zeit  am  häufigsten  zur  Entdeckung  vorgeschicht- 
licher Siedelungen  beigetragen.  Auch  die  stein- 
zeitliche Wohnstätte  bei  Trebus  und  das  ger- 
manische Dorf  bei  Kleiubeereu  aus  den  ersten 
Jahrhunderteu  unserer  Zeitrechnung  sind  an 
diesem  Profil  erkannt  worden i).  Sind  uns  erst 
die  Kennzeichen  vorgeschichtlicher  Siedelungen 
vertraut  geworden,  so  kommt  es  nur  darauf 
an,  die  Plätze  mit  diesen  Kennzeichen  aufzu- 
finden. 

2.  Ältere  Berichte  in  Fachzeitschriften, 
Zeitungen  u.  dgl. 

Eine  große  Fülle  derartiger  Fundstätten 
ließe  sich  zunächst  feststellen  beim  Durchstöbern 
der  vorgeschichtlichen  Literatur.  Zuweilen  sind 
in  früherer  Zeit  die  Wohnstätten  als  solche 
erkannt  worden ;  meist  aber  standen  die  Forscher 
vor  einem  Rätsel  und  wußten  nicht  recht,  was 
sie  aus  dem  Befunde  macheu  sollten.  Da  sie 
fast  nur  in  der  Untersuchung  von  Gräbern  geübt 
waren,  so  erkannten  sie  nicht  selten,  daß  man 
es    au    bestimmten    Stellen    sicher    nicht    mit 


J)  Brand enburgia  1910,  Taf.  VIII;  Prähistor.  Zeit- 
schrift II,  1910,  8.379. 

a)  Vgl.  außerdem  Zeitsohr.  f.  Ethnol.  XL  VI,  1914, 
S.  887;  Prähistor.  Zeitsohr.  VI,  S.  307. 


Gräbern  zu  tun  hatte.  Eine  weitere  Deutung 
lag  ihnen  meist  fern.  Einige  kamen  einen  Schritt 
weiter  und  schlössen  aus  mannigfach  beob- 
achteten Abfällen,  daß  hier  einmal  Leute  ge- 
wohnt haben  mußten.  Noch  andere  bezeich- 
neten die  in  den  Wohnstätten  vorkommenden 
größereu  Gruben  als  „Wohngruben".  Bei  vielen 
hat  dieser  Begriff  auch  Unheil  angerichtet,  weil 
sie  glaubten,  daß  diese  elenden,  bestenfalls 
D/s111  ur,d  wenig  darüber  messenden  Erdlöcher, 
iu  denen  ein  Erwachsener  kaum  hocken,  viel 
weniger  aber  stehen  oder  liegen  konnte,  wirklich 
als  die  ganze  Wohnung  menschlicher  Wesen 
zu  betrachten  wären.  Andere  sahen  wenigstens 
die  Unmöglichkeit  und  Widersinnigkeit  dieser 
Ansicht  ein  und  rechneten  ganz  richtig  damit, 
daß  diese  „Wohngruben"  nur  ein  Teil  mensch- 
licher Wohnstätten  gewesen  sind.  Auf  jeden 
Fall  läßt  sich  ans  der  großen  Zahl  mehr  oder 
weniger  klarer  Berichte  eine  unendliche  Fülle 
von  Ausgangspunkten  zur  Erforschung  neuer 
Siedelungen  gewinnen.  Eines  der  besten  Bei- 
spiele findet  sich  in  der  Zeitschrift  für  Ethno- 
logie [IX,  1877,  S.  (254)].  Aus  dem  Virchow- 
schen  Bericht  über  eine  Fundstelle  bei  Selchow 
(Mark)  entnehmen  wir  trotz  aller  Unsicherheit 
des  Verfassers,  daß  es  sich  ohne  Zweifel  auch 
um  Wohnplätze  haudelt.  „Wir  fanden  nur 
Bruchstücke"  vou  Tongefäßen,  „Stellen,  wo 
Mengen  von  gebrannten  Kohlen  zusammen- 
lagen", „eiu  Rinderzahu,  eine  beliebige  Rippe, 
bimssteinartig  gebrannte  Tonmasseu,  die  bei 
starkem  Feuer  gelegen  haben",  lassen  schon  mit 
Sicherheit  auf  eine  Siedeluug  schließen.  Noch 
deutlicher  aber  sind  die  Hinweise  des  damaligen 
stud.  phil.  und  späteren  Guineaforschers,  des  in 
diesem  Jahre  durch  Infektion  in  einem  Kriegs- 
lazarett verstorbenen  Prof.  Dr.  Richard  Neu- 
hau ß  in  seinem  Bericht  an  das  Märkische 
Museum J).  „In  kohlschwarze  Branderde  ein- 
gebettete Scherbenhaufen  bedecken  eine  weite 
Fläche;  kreisförmige  Anordnung  der  Brand- 
stelleu ;  zuweilen  schwach  gebrannte  Lehm- 
patzen ;  oft  beginnt  die  Brauderde  schon  wenige 
Dezimeter  unter  der  Oberfläche ;  1  bis  2  m  ist 
die  vorherrschende  Tiefe;  die  Zahl  der  Scherben- 
haufen ist  sehr  groß;  zahlreiche  mittelgroße 
Steine  fehlen  unter  den  Scherben  nie;  die 
Wirkung  des  Feuers  ist  au  vielen  Töpfen  un- 
verkennbar; nirgends  eine  Spur  von  Menschen- 
kuochen;  Scherben  von  20  bis  30  der  verschie- 
densten Gefäße  auf  gauz  engem  Räume."  Jedes 
Wort  und  jeder  Satz  paßt  auf  Buch  und  auf  alle 
Wohnstätten,  die  wir  bis  jezt  untersucht  haben. 


l)  „Bär"    1878,  S.  19  ff. 


39 


Sehr  gut  beobachtet  sind  auch  folgende  Einzel- 
heiten: „Seit  der  Zeit,  welcher  unsere  Gegen- 
stände angehören,  ist  der  Boden  auf  dem  Hünen- 
berge nicht  angeschwemmt  oder  durch  Flugsand 
erhöht,  was  man  bei  der  tiefen  Lage  der  Brand- 
stellen vermuten  könnte.  Offenbar  gruben  die 
Alten  Vertiefungen ,  in  denen  sie  arbeiteten, 
denn  an  den  Plätzen,  wo  die  Brandstätten  fehlen, 
ist  die  Erde  bis  zur  Oberfläche  geschichtet." 
Hier  fehlt  nichts  weiter  —  als  die  richtige  Deu- 
tung. Der  Nebensatz  „in  denen  sie  arbeiteten" 
fügt  sich  dem  Gedankenkreise  des  jungen 
Forschers  ein,  der  annahm,  daß  auf  der  süd- 
lichen Hälfte  des  Hünenberges  die  Urnen  an- 
gefertigt seien,  die  auf  der  nördlichen  Hälfte 
in  den  Gräbern  zu  finden  waren.  Es  wird  heute 
schwerlich  jemand  geben,  der  nach  dem  Lesen 
des  guten  Berichtes  von  Neuhauß  daran  zweifelt, 
daß  auf  der  Südseite  die  Wohnstätten  lagen, 
deren  Herdstelleu,  Pfostenlöcher,  Abfallgruben, 
Wandreste  u.  dgl.  mit  anerkennenswerter  und 
erwünschter  Klarheit  geschildert  sind.  Rudolf 
Virchow  kannte  diesen  Bericht,  aber  auch  Dach 
eingehender  Besichtigung  noch  war  er  —  wie 
wir  oben  gesehen  haben  —  der  Meinung,  „daß 
es  sich  im  wesentlichen  um  eiu  Gräberfeld 
handelt" ,  „daß  von  irgend  einer  anhaltenden 
Bewohnuug  nicht  die  Rede  sein  kann".  Immer- 
hin gesteht  er  die  Möglichkeit  zu,  „daß  in 
späterer  Zeit  dort  vorübergehend  Leute  gehaust 
haben". 

Bei  E.  Friede!  ])  finden  wir  den  Gedanken 
an  Wohnstätten  ebenfalls :  „Die  Scherben- 
anhäufungen in  Gruben  oder  Erdtrichtern  finden 
sich  bei  diesen  primitiven  Begräbuisstellen  hier 
und  da,  sie  deuten  die  Anlage  von  Wohn- 
plätzen, j  edenfalls  vonFeuerungsanlagen, 
wo  gekocht  (vielleicht  der  Leichenschmaus  be- 
reitet) wurde."  Es  ist  ungemein  interessant  zu 
sehen,  wie  hier  der  für  die  märkische  Vor- 
geschichtsforschung so  hochverdiente  Verfasser, 
der  die  Umgebung  Berlins  schon  vor  40  Jahren 
systematisch  nach  Fundstellen  absuchte,  mit  den 
von  mir  breitgesetzten  Worten  die  richtige 
Deutung  schon  getroffen  hat,  mit  dem  ein- 
geklammerten Satze  dagegen  der  herrschenden 
Anschauung  noch  seinen  Tribut  zollen  muß. 

Als  „Wohnstätte"  sehen  wir  denn  den  Hünen- 
berg bei  Selchow  auch  zitiert  in  einer  Arbeit, 
die  uns  an  dieser  Stelle  ganz  besonders  inter- 
essieren muß.  Auch  noch  in  neuester  Zeit  wird 
mir  oftmals  entgegengehalten,  daß  die  Siedelungs- 
plätze  in  anderen  Provinzen  nicht  so  leicht  zu 
erkennen    wären    wie    in    der   „sandigen"  Mark. 


Für  gewisse  Gegenden,  wie  etwa  die  Schwarz- 
erde der  Magdeburger  Börde,  mag  das  —  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  wenigstens  —  zu- 
treffend sein.  Daß  man  aber  auch  anderswo 
die  letzten  Spuren  vorgeschichtlicher  Siedelungen 
sehr  wohl  beobachten  kann,  mag  aus  dem  durch 
Voß  mitgeteilten  Bericht  vonCredner,  „Über 
das  Gräberfeld  von  Giebichensteiu  bei  Halle" 
hervorgehen  J).  Die  in  den  Sand  eingeschnittenen, 
auf  S.  48  dargestellten  Grubeuprofile  könnten 
sehr  wohl  in  Buch  aufgenommen  sein.  Credner 
deutet  sie  als  „Gräber  und  Opferstätten 
(zum  Teil  wohl  auch  Wohnplätze)". 

Die  hierauf  unter  Klopfleischs  Leitung 
durch  die  Historische  Kommission  der  Provinz 
Sachsen  unternommene  Untersuchung  stellt 
13  Gruben  fest,  „gefüllt  mit  Resten  einst- 
maliger Opferungen  und  Opf erschmäuse". 
Voß  spricht  dagegen  mit  Recht  (S.  56)  wieder 
von  Begräbnissen  „auf  der  Stelle  eines  Wohu- 
platzes",  über  dessen  Natur  und  dessen  Einzel- 
heiten niemand  recht  wagt,  eine  Meinung  zu 
äußern.  Auf  die  auch  au  anderen  Stellen  scharf 
hervortretenden  Grubeuprotile  vgl.  meine  Aus- 
führungen in  der  Prähist.  Zeitschr.  VI,  1914, 
S.  3*27  und  Moritz  Heyne,  Deutsche  Haus- 
altertümer I,  S.  59  (13b),  wo  Siedelungsreste  als 
Töpferöfen   gedeutet  werden. 

Aus  vorstehenden  Bemerkungen  dürfte  zur 
Genüge  hervorgehen,  welch  reiche  Fundgrube 
für  vorgeschichtliche  Wohnstätten  die  durch 
alle  Zeitschriften  weithin  zerstreuten  Berichte 
sind. 

3.    Handschriftliche  Aufzeichnungen 

in    den    Sammelkästen    der    Museen    und 

Archive. 

Nicht  jede  Beobachtung,  die  durch  Zufall,  auf 
Ausflügen  oder  beim  systematischen  Aufsuchen 
von  vorgeschichtlichen  Fundstellen  gemacht 
werden  konnte,  ist  durch  Druck  der  Öffent- 
lichkeit übergeben  worden.  In  den  Archiven 
jedes  einzelneu  Museums  finden  sich  zahlreiche 
Nachrichten,  auf  die  hin  nicht  immer  gleich 
umfangreiche  Untersuchungen  angestellt  werden 
konnten.  So  sind  z.  B.  die  „Sammelkästen"  des 
Märkischen  Museums  wahre  Fundgruben  für 
noch  nicht  bearbeitetes  Material.  Diese  von 
Herrn  Friedel  bei  der  Gründung  des  Märki- 
schen Museums  eingerichteten  Sammelkästen 
haben  sich  durch  vierzig  Jahre  hindurch  aus- 
gezeichnet bewährt,  und  wo  etwa  in  anderen 
Museen  nicht  schon  ähnliche  Einrichtungen  vor- 
handen sind,  kann  man  nicht  warm  und  dringend 


*■)  „Bär"   1878,  S.  791 


"■)  Zeitschr.  f.   Ethnol.  XI,   1879,  S.  (47)  ff. 


40 


genug  diese  wahren  Schatzkammern  aufgehäuften 
Wissens  empfehlen.  Es  ist  geradezu  unglaub- 
lich, was  sicli  in  diesen  Kästen  an  flüchtigen 
Notizen  wie  an  ausführlicheren  Mitteilungen  im 
Laufe  der  vierzig  Jahre  angehäuft  hat.  Mögen 
auch  zuweilen  belanglose  Bemerkungen  mit 
unterlaufen.  Alan  kann  wirklich  nicht  immer 
wissen,  was  in  späteren  Jahrzehnton  wichtig 
oder  nichtig  erscheinen  könnte.  Besser,  man 
ist  in  der  Sammlung  aller  möglichen  Nach- 
richten zu  weit  gegangen,  als  daß  Wesentliches 
versäumt  worden  ist.  Für  alle  Wissenszweige, 
die  nur  irgend  welche  Berührung  mit  dem 
Museum  haben,  sind  Kästen  vorhanden.  [Über 
Aberglaube  und  Abdeckerei,  Abge- 
ordnetenhaus, Abfuhr  aus  Berlin,  märkischen 
Adel  und  Adelswappen,  Adreßkalender, 
Ärzte  und  Ärztewesen,  Akademien,  Alko- 
holismus, Alraune,  Alt-Berlin,  Altertums- 
forscher usw.  wird  in  Kästen  alles  gesammelt, 
was  nur  irgend  einem  Museumsbeamten  in  die 
Hände  fällt.  | 

Für  vorgeschichtliche  Siedelungen  kommen 
aber  vor  allem  die  außerdem  noch  vorhandenen 
Kreis-  und  Ortssammelkästen  in  Betracht.  Jeder 
Kreis  hat  seinen  „Kreiskasten"  mit  alten  Karten 
des  Kreises  und  allgemeinen  Nachrichten.  In 
den  Ortssammelkästen  hat  jedes  Städtchen,  ja 
jedes  Dorf  seine  Mappe  (früher  nannte  man 
so  etwas  bekanntlich  „Faszikel").  Bevor  ein 
Musen msbeamter  auf  einer  Dienstreise  einen 
Ort  berührt,  braucht  er  nur  alle  Nachrichten 
des  Sammelkastens  zu  studieren.  Er  ist  dann 
über  die  Geschichte  des  Ortes,  über  seine 
Altertümlichkeiten,  über  alle  wichtigeren  Er- 
eignisse im  Dorfe  oder  Städtchen  oft  besser 
unterrichtet  als  die  besten  Lokalforscher.  In 
diesen  Sanimelkästen  ist  nun  auch  ein  unschätz- 
bares Material  für  die  Siedelungsforschung  auf- 
gespeichert. Mau  ersieht,  wo  irgend  einmal 
„Scherben"  gefunden  wurden,  wo  man  vor 
dreißig  Jahren  „geborstene,  mürbe  Feldsteine" 
zwischen  Kohlenhäufchen,  Tierkuochen  und  zer- 
brochenen Tongefäßen  beobachtete  und  weiß 
jetzt,  daß  das  Herdstellen  waren.  Es  begegnen 
einem  sonderbare  Flurnamen  oder  „Burgwälle", 
die  keine  waren. 

Ein  Beispiel  für  viele:  Im  Jahre  18911  (am 
5.  Juni)  unternahmen  Pfleger  des  Märkischen 
Museums  unter  Friedeis  Führung  einen  Aus- 
flug nach  Genshagen  im  Kreise  Teltow  zu  einem 
„Burgwall",  der  sich  nur  als  eine  natürliche 
Erhöhung  erwies.  Wendische  und  mittelalter- 
liche Reste  fehlten;  wohl  aber  waren  „vor- 
wendische Scherben"  in  großer  Zahl  vorhanden. 
Vor    allem    wurden    „Reste    von    Reibesteinen, 


feuergeplatzte  Steine  sowie  gebrannte  Tier- 
knochen festgestellt".  Die  Fundstelle  wurde 
richtig  als  Ansiedelung  erkannt;  die  Bedeutung 
der  wenigen  Beobachtungen  ist  uns  heute  viel 
klarer  als  sie  einst  den  Augenzeugen  sein  konnte 
und  muß  nun  natürlich  dazu  anreizen  bei  näch- 
ster Gelegenheit  den  Charakter  der  Siedelung 
gründlich  zu   erforschen. 

4.    Siedelungsf unde  in  Museen. 

Wer  die  Literatur  und  die  Archive  gründ- 
lich durchstöbert  hat,  wird  auch  nicht  versäumen, 
die  Museumsfunde  durchzusehen.  Wohl  stammt 
honte  noch  die  größte  Menge  aller  vorgeschicht- 
lichen Funde  aus  Gräbern.  In  jedem  größeren 
sowohl  wie  kleineren  Museum  linden  sich  jedoch 
meist  ganz  verschämt,  in  irgend  einem  Winkel 
verborgen,  unansehnliche  Scherben  und  Leb  in - 
stücke,  die  dem  Kenner  auf  den  ersten  Blick 
sagen ,  daß  Reste  einer  alten ,  meist  gar  nicht 
erkannten  Siedelung  vorliegen,  die  ähnliche 
Ergebnisse  vermuten  lassen,  wie  wir  sie  bei 
Buch  zutage  fördern  konnten.  Besonders 
empfehlenswert  dürfte  es  sein,  neben  der  Schau- 
sammlung  auch  die  in  vielen  Museen  schon  vor- 
handene Studiensammlung  und  vor  allem  das  in 
zahlreichen  Museen  aus  wohlverschlossenen,  un- 
zugänglichen Kisten  bestehende  „Magazin"  einer 
gründlichen  Durchsicht  zu  unterwerfen.  Im 
Märkischen  Museum  bin  ich  dabei,  sämtliche 
zwar  unansehnliche,  aber  äußerst  wichtige  Siede- 
lungsfunde  in  einem  Speicher  zu  vereinigen. 
Wie  ich  mir  die  Einrichtung  eines  solchen 
Speichers  (Magazins  oder  Depots)  denke,  habe 
ich  ausführlich  in  einem  Aufsatze  der  „Museums- 
kunde" (herausgegeben  von  K.Koe  tschau,  1916, 
Heft  1)  auseinandergesetzt '). 

5.    Bekannte  Gräberfelder. 

Schon  in  meiner  Dissertation  aus  dem  Jahre 
1908,  also  lange  vor  der  Entdeckung  des  bronze- 
zeitlichen Dorfes  bei  Buch  habe  ich  (S.  67)  ge- 
sagt2): „Die  zu  den  Begräbnisplätzen  gehörigen 
Ansiedelungen  müssen  und  werden  sich  finden 
lassen.  Einer  oberflächlichen  Betrachtung  werden 
die  Ergebnisse  derartiger  Ausgrabungen  zwar 
wenig  glänzend  erscheinen;  aber  für  das  Ver- 
ständnis altgermanischer  Kultur  und  für  die 
ganze  germanische  Forschung  werden  diese 
Resultate  von  unberechenbarer  Bedeutung  sein." 
Zu  den   mehr  als  50  Gräberfeldern   am  Nieder- 


x)  Vgl.  daselbst  auch  Abbildung. 

2)  Der  Einfluß  der  römischen  Kultur  auf  die  ger- 
manische im  Spiegel  der  Hügelgräber  des  Niederrheius. 
Nebst  einem  Anhang:  Die  absolute  Chronologie  der 
Augeulibel.     Strecker  u.  Schröder,  Stuttgart  1908. 


41 


rheiu  war  damals  keine  einzige  Siedelung  be- 
kannt. Auf  meine  diesbezügliche  Frage  und 
Mahnung,  doch  auf  die  Siedelungen  zu  achten, 
sagte  mir  ein  sehr  eifriger  Sammler:  „Siede- 
lungen gibt  es  hier  nicht."  Als  ich  nach  einem 
halben  Jahre  wieder  an  denselben  Ort  kam, 
konnten  mir  schon  Funde  aus  einer  Wohustätte 
gezeigt  werden  und  bei  einem  abermaligen  Be- 
such wurde  mir  gesagt:  „Jetzt  können  wir  uns 
vor  Siedelungen  kaum  noch  retten."  So  ist  es 
natürlich  überall.  Zu  jedem  Gräberfelde  muß 
notwendigerweise  mindestens  eine  Wohnstätte 
gehören.  Und  welche  Fülle  von  neuen  Fund- 
plätzen würden  wir  kennen  lernen,  wenn  erst 
für  jedes  bekannte  Gräberfeld  die  Ansiedelung 
festgestellt  ist!  Oftmals  ist  die  Wohustätte  bei 
der  Ausbeutung  des  Gräberfeldes  schon  gefunden, 
aber  nicht  erkannt  worden.    Dafür  ein  Beispiel: 

Das  Märkische  Museum  besitzt  von  der  Feld- 
mark eines  im  Ruppiner  Kreise  gelegenen  Dorfes 
eine  reiche  Auswahl  von  Altertümern  aller  mög- 
lichen Perioden.  Leider  ist  nur  ganz  unsyste- 
matisch gearbeitet  worden  und  von  einer  ge- 
ordueten,  gründlichen  Untersuchung  ist  bis  jetzt 
gar  keine  Rede  gewesen.  Immer  ist  nur  von 
„Urnenfriedhöfen"  die  Rede.  Ein  Bericht  er- 
zählt jedoch  von  einer  „Töpferwerkstatt".  „Viele 
verworfene  prähistorische  Scherben ,  teils  gut 
erhalten,  teils  verschlackt,  dicke  Tonpatzen,  der 
Lehmboden  durch  Brand  gerötet."  Wir  brauchen 
nicht  mehr  zu  sagen,  daß  es  sich  um  eine 
Siedelung  handelt.  Die  Deutung  solcher  Fund- 
stellen als  „Töpferwerkstätte"  ist  mir  übrigens 
in  mündlichen  und  schriftlichen  Berichten  be- 
reits so  oft  begegnet,  daß  wir  sie  schon  allein 
beinahe  mit  Sicherheit  als  das  Kennzeichen  für 
eine  Wohnstätte  ansehen  können. 

In  einem  Bericht  über  eine  in  der  Nachbar- 
schaft der  oben  erwähnten  Friedhöfe  liegenden 
Fundstelle  heißt  es:  „Einige  Feuerstellen. 
Hiermit  bezeichne  ich  die  Steinpackungen,  2  bis 
3  Fuß  im  Durchmesser,  1  Fuß  tief,  D/2  Fuß 
unter  der  Oberfläche,  deren  Steine  keinen  Klang 
haben,  sehr  mürbe  und  ringsum  von  schwarzer 
Erde  mit  Topfscherben  umgeben  sind."  Natür- 
lich sind  das  Steinherde  vorgeschichtlicher 
Häuser. 

Oder  in  demselben  Bericht  heißt  es  von 
einer  anderen  Stelle:  „Ich  ermittelte  einige 
Feuerstellen,  einige  runde  Stellen,  9  Fuß  im 
Durchmesser,  betonartig  aus  kleinen  geschla- 
genen Steinen  und  Lehm  hergestellt.  Eben- 
falls eine  „runde",  4  Fuß  im  Durchmesser 
haltende  brunnenartige  Steinpackung;  der  iuuere 
Raum  war  bis  zu  einer  Tiefe  von  4  Fuß  mit 
gebranntem   Lehm    ausgefüllt;    sehr    viele 


Topfscherben  ....,  Fragmente  von  bedeutender 
Größe  ...  wohl  die  Größe  eines  Wasch  - 
kesseis  ...  Knochen  und  Zähne  von  Rind,  Pferd 
und  Schwein  in  der  schwarzen  Erde."  Wer  denkt 
da  nicht  gleich  an  die  großen,  iu  den  Boden 
eingelassenen  Vorratsgefäße  von  Buch?  Wir 
können  aus  den  angeführten  Worten  mehr 
herauslesen  als  der  Verfasser  damals  ahnte. 
Die  Untersuchung  dieser  Stätte  verspricht  recht 
große  Erfolge  und  wird  vielleicht  noch  eine 
der  dankbarsten  Aufgaben  unseres  Museums 
werden.  Wie  ich  bei  Ilasenfelde  vom  Gräber- 
felde aus  auf  die  Wohnstätten  gestoßen  bin,  das 
mag  man  in  der  Prähist.  Zeitschr.  III,  1911, 
S.  '288  nachlesen. 

Was  von  Gräberfeldern  gilt,  das  gilt  auch 
\  on  Einzel-  und  ganz  gewiß  auch  von  Depot- 
funden. Auf  jeden  Fall  muß  die  Umgebung 
der  Fundstellen  nach  Spuren  vorgeschichtlicher 
oder  verschwundener  mittelalterlicher  Siedelun- 
gen hin  durchsucht  werden.  Schuchhardt 
nimmt  bekanntlich  sogar  an,  daß  die  meisten 
Depotfunde  Schatzfunde  seien,  die  einst  im 
Hause  des  Besitzers  aufgehoben  waren1),  und 
in  der  Sitzung  der  Berliner  Anthropologischen 
Gesellschaft  wies  er  im  Anschluß  an  die  Be- 
sprechung des  Fundes  geradezu  darauf  hin,  daß 
man  ja  bisher  so  gut  wie  gar  keine  Siedelungen 
erforscht  habe,  durch  die  Ausstellung  des  Märki- 
schen Museums2)  aber  zur  Anschauung  gebracht 
worden  sei,  welche  Aufschlüsse  wir  durch  die 
Wohnstättenforschuug  zu  erwarten  hätten. 

6.    Heutige  Dörfer. 

In  Anbetracht  der  Tatsache,  daß  viele 
unserer  heutigen  Dörfer  mit  ihrer  Geschichte 
so  weit  zurückreichen  wie  die  ältesten  geschicht- 
lichen Nachrichten,  müssen  wir  uns  die  heutigen 
Dorfstellen  und  die  unmittelbar  an  den  Dörfern 
liegenden  Gärten  darauf  hin  ansehen ,  ob  sie 
nicht  Spuren  älterer  Siedeluugen  aufweisen. 

Das  frühmittelalterliche  Bauernhaus  von 
Niedergörsdorf3)  lag  unmittelbar  neben  dem 
letzten  Hause  des  Dorfes  und  ähnliche  Gefäß- 
reste sammelte  Herr  Ortsvorsteher  Richter 
iu  seinem  Garten.  Herr  Dr.  Ilindenburg  hat 
in  einer  gauzen  Zahl  von  Gärten  bei  Groß- 
beeren vorgeschichtliche  Scherben  festgestellt. 
Gerade  diese  Untersuchungen  sind  ja 
ungemein  wichtig  für  die  Kontinuität 
der    Besiedelung    von    der  Urzeit   her,   an 


*)  Der  Golrtfund  vom  Messingwerk  bei  Eberswalde, 
S.  46,  Verlag  f.  Kunst  u.  Wissenschaft.     Berlin   1914. 

a)  Korresp.-Blatt   1914,  S.  61— 73,  Abb.  1—10. 

3)  Vorgeschichte  der  Mark  Brandenburg.  Landes- 
kunde, Bd.  III,  8.455  und  Abb.  Tat  XIX. 

6 


42 


die  ja  viele  auch  heute   noch   nicht  recht 
glauben  wollen. 

Ganz  besonders  werden  unsere  heutigen  Dörfer 
uns  dann  auf  die  Spur  vorgeschichtlicher  Siede- 
lungen führen,  wenn  sie  (vgl.  S.  44)  auf 
Inseln  mit  Dünen  liegen.  Ein  ganz  vorzügliches 
Beispiel  dafür  ist  Schmöckwitz  im  Kreise  Teltow. 
Schon  der  Name  weist  darauf  hin.  daß  wir 
dieses  Dorf  bis  in  die  wendische  Zeit  hinab 
verfolgen  können.  Es  liegt  heute  auf  einer 
Halbinsel,  die  nur  durch  einen  schmalen  Streifen 
mit  dem  Pestlande  verbunden  ist.  Ein  Blick 
auf  die  geologische  Karte  lehrt  uns,  daß  diese 
Landbrücke  früher  ebenfalls  unter  Wasser  stand. 
Die  Kirche  steht  auf  einer  noch  jetzt  ganz 
deutlich  erkennbaren  Düne,  von  deren  einer 
Seite  sogar  heute  noch  der  Sand  abgefahren 
wird.  Und  dabei  ist  der  Kirchhügel  so  klein, 
daß  die  Kirchhofsmauer  unmittelbar  an  die 
Sandgrube  stößt.  In  der  Sandgrube  findet  man 
seit  Jahrzehnten  vorgeschichtliche  Scherben. 
Schmöckwitz  und  seine  unmittelbare  Umgebung 
waren  sicher  während  der  ganzen  Vorzeit  be- 
siedelt. Seine  schönsten  Funde  gehören  ja  der 
mittleren  (dritte  Periode;  große  Bronzetibel  im 
Märkischen  Museum)  und  der  ältesten  Bronze- 
zeit an  (erste  Periode;  zwei  Schwertstäbe  im 
Köuigl.  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin). 
Merkwürdigerweise  wurden  die  ältesten  auf  eine 
Wohustätte  deutenden  Funde  nicht  auf  der 
heutigen  Dorfstelle,  soudern  auf  dem  gegenüber- 
liegenden Försteracker  gefunden.  Es  sind  die 
bekannten  Feuersteinsplitter  und  -gerate,  die 
gewiß  bis  in  die  jüngere  Steinzeit  hinein  ge- 
braucht worden  sind  *). 

7.    „Wüste  Feldmarken". 

Bekanntlich  sind  während  des  Mittelalters 
zahlreiche  Dörfer  untergegangen.  Besonders 
der  schwarze  Tod  (1348)  und  der  dreißig- 
jährige Krieg  scheinen  unheilvolle  Wirkungen 
ausgeübt  zu  haben.  Wenn  neuere  Geschichts- 
forscher gern  einer  milderen  Auffassung  dieser 
Wirkungen  zuneigen  möchten,  so  kann  man 
ihnen  nur  raten,  sich  für  die  Mark  in  die  be- 
kannten „Landreiterberichte"  zu  vertiefen.  Da 
werden  sie  einen  Begriff  bekommen,  welche 
furchtbaren  Wunden  der  Krieg  deutschen  Landen 
geschlagen  hat.  Poetische  Berichte  bis  zum 
Simplicius  Simplicissimus  köunen  übertrieben 
sein.  Die  nackten  Zahlen  der  Landreiterberichte 
reden  jedoch  eine  weit  furchtbarere  Sprache. 
Wenn  von  8  oder  13  Bauernhöfen  eines  märki- 


J)  Vorgeschichte  der  Mark  Brandenburg.    Landes- 
kunde UI,  S.  353. 


sehen  Dorfes  nach  dem  Kriege  (1652)  nur  noch 
drei  oder  einer  oder  gar  keiner  mehr  besetzt  sind, 
auch  alles  übrige  „wüst"  geworden  ist,  dann  kann 
mau  sich  eine  Vorstellung  davon  machen,  welches 
das  Schicksal  der  armen  Dorfbewohner  gewesen 
sein  mag.  Manches  Dorf  konnte  sich  nicht 
wieder  erholen  und  blieb  wüst.  In  Betracht 
gezogen  muß  allerdings  auch  werden,  daß  die 
im  12.  und  13.  Jahrhundert  einsetzende,  im 
großen  und  ganzen  hervorragend  erfolgreiche 
Kolonisation  der  ehemals  slavischen  Gebiete 
teilweise  so  blind  und  übereifrig  gearbeitet  hat, 
daß  man  dadurch  an  die  „Gründerjahre"  und 
den  wirtschaftlichen  Niederbruch  nach  dem 
französischen  Kriege  erinnert  wird.  Manche 
wüste  Dorfstätte  zeugt  also  auch  von  verfehlter 
Gründungswut. 

Die  Zahl  wüster  Dorfstätten  ist  sehr  groß. 
Plawe  oder  Plaue  am  Plagesee  in  der  Ucker- 
mark, Slatdorf  im  Kreise  Teltow,  Diepensee, 
Melwendorf,  Altona  sind  nur  wenige  Beispiele. 
Oftmals  wurde  die  wüste  Feldmark  wenigstens 
soweit  wieder  bebaut,  daß  sie  jetzt  ein  „Vor- 
werk" trägt  (Diepensee,  Melwendorf,  heute 
Neubeeren).  In  alten  Kirchenbüchern  ist  oft 
von  der  „wüsten  Feldmark"  in  der  Nähe  noch 
bestehender  Dörfer  die  Rede.  Andere  (z.  B.  das 
alte  Gerhardsdorf  bei  Königswusterhausen)  haben 
geradezu  die  amtliche  Bezeichnung  Wüstemark 
oder  auch  Wustermark  (z.  B.  bei  Brandenburg) 
erhalten.  An  vielen  dieser  Stellen  stehen  heute 
wenigstens  einige  Häuser.  Nicht  selten  scheint 
eine  Försterei  als  letzter  Rest  des  Dorfes  übrig 
geblieben  zu  sein.  Bei  noch  anderen  hat  sich 
nur  der  Flurname  erhalten. 

8.  Flurnamen. 

Auf  alte  Flurnamen  muß  denn  auch  der 
Siedelungsarchäologe  ganz  besonders  sein  Augen- 
merk richten.  Sie  sind  ihm  überaus  wertvolle 
Wegweiser  zu  untergegangenen  mittelalterlichen, 
aber  auch  zu  vorgeschichtlichen  Siedelungeu. 
Ganz  bekannt,  fast  berühmt,  in  mancher  Be- 
ziehung sogar  berüchtigt,  ist  ja  die  „Stadtstelle" 
im  Blumental  bei  Straußberg  geworden.  Was 
ist  über  sie  geredet  und  gefabelt  worden !  Eine 
gründliche  Untersuchung  hat  noch  nicht  statt- 
gefunden. Bei  fast  allen  Auseinandersetzungen 
spielten  in  alter  Dilettantenart  die  „Opfersteine" 
eine  Rolle.  All  diesen  Fabeleien  hat  ja  Schuch- 
hardt  nun  wohl  ein  Ende  gemacht1).  Schuch- 
hardt  schließt  seinen  Bericht  mit  den  Worten: 
„Eine  Grabung    würde    für   die    mittelalterliche 


x)  Geschäftsbericht   d.   Brandenb.   Prov.   Kommiss. 
f.  Denkmalspflege  1911—1913,  S.  83  ff. 


43 


Kulturgeschichte  gewiß  Interessantes  zutage 
fördern,  eine  Aufgabe  für  die  vorgeschichtliche 
Forschung  ist  sie  nicht".  Damit  kann  er  im 
Rechte  sein,  vorausgesetzt,  daß  das  mittelalter- 
liche Dorf  nicht  —  wie  so  oft  —  an  der  Stelle 
eines  vorgeschichtlichen  stand.  Auf  keinen  Fall 
wird  aber  eine  genaue  Untersuchung  überflüssig. 
Im  Gegenteil.  Jetzt  sind  immerhin  noch  Reste 
vorhanden.  Dürfen  wir  warten,  bis  auch  der 
letzte  Stein  verschleppt  ist?  Außerdem  ist 
gerade  in  der  Mark  die  mittelalterliche  Besiede- 
lung  mit  der  vorgeschichtlichen  so  eng  ver- 
knüpft, daß  beide  gar  nicht  gesondert  behandelt 
werden  können.  [Vgl.  Braudenburgia,  Monats- 
blatt 1915,  S.  119,  Abschnitt  2]*). 

Wie  uns  Sagen  und  Spukgeschichten 
gute  Führer  sein  können,  darüber  lese  man  in 
der  Zeitschi-,  f.  Ethnol.  1912,  S.  426  meinen 
Bericht  über  Breddin  nach.  In  ausgezeichneter 
Weise  hat  sich  auch  der  Flurname  „alter  Berg" 
in  Verbindung   mit  einer  Urkunde  bewährt2). 

9.  Das  Gelände  und  die  Karten  der 
geologischen  Landesanstalt. 

Die  besten  Führer  sind  nun  aber  die  far- 
bigen Karten  der  geologischen  Laudesanstalt. 
Ursprünglich  wirtschaftlichen  Zwecken  dienend, 
geben  sie  auch  der  Vorgeschichtswissenschaft 
ein  Material  von  unerschöpflicher  Fülle  an  die 
Hand.  Von  unseren  Geologen  wird  der  heimische 
Boden  auf  seine  Beschaffenheit  hin  so  gründ- 
lich untersucht,  daß  man  meinen  sollte,  schon 
durch  die  Herstellung  so  zahlloser  Handbohr- 
löcher hätte  im  Laufe  der  Zeiten  kaum  noch 
eine  vorgeschichtliche  Fundstätte  der  Aufmerk- 
samkeit der  Bodenforscher  entgehen  können. 
Ganz  gewiß  hat  die  geologische  Landesanstalt 
in  erster  Linie  andere  Aufgaben  zu  erfüllen. 
Das  Handinhandarbeiten  der  verschiedenen 
Wissenschaften  läßt  ja  auf  anderen  Gebieten 
ebenfalls  noch  manches  zu  wünschen  übrig.  Im 
vorliegenden  Falle  wäre  aber  vielleicht  doch 
erwägenswert,  ob  die  Arbeiten  der  Landes- 
anstalt nicht  zugleich  in  den  Dienst 
auch  der  Siedelungsf orschung  zu  stellen 
wären.  Die  daraus  erwachsenden  geringen 
Kosten  und  Mühen  wären  jedenfalls  ganz  uner- 
heblich gegenüber  dem  ungewöhnlichen  Erfolge, 
sei  es  auch  nur ,  daß  die  Geologen  verpflichtet 
würdeu ,  alle  ihnen  bei  ihren  Untersuchungen 
zufällig  aufstoßenden  Funde  und  Beobachtungen 


1)  Über  weitere  verdächtige  Flurnamen  vgl.  meine 
Ausführungen  im  Korr.-Bl.  1912,  S.  65. 

2)  Vgl.  meinen  Bericht  über  die  Ausgrabungen  des 
Mark.  Museums  bei  Cüstrin.  Zeitschr.  f.  Ethnol.  1914, 
S.  882. 


zu  notieren  und  zu  sammeln.  Die  Museen 
würden  auf  diese  Weise  Anhaltspunkte  in  großer 
Zahl  gewinnen,  und  es  ließen  sich  in  kürzester 
Zeit  Siedelungskarten  für  große  Gebiete,  zuletzt 
für  den  ganzen  Staat  und  für  das  ganze  Reich 
herstellen. 

Erfreulicherweise  ist  während  der  letzten 
Jahre  sowohl  den  Vorgeschiehtsforschern  wie 
auch  den  Geologen  immer  mehr  die  Notwendig- 
keit des  Zusammenarbeitens  aufgegangen.  Diese 
Zusammenarbeit  muß  nicht  nur  stattfinden  auf 
dem  Gebiete  der  paläolithischen  Kulturen,  sondern 
auch  auf  dem  späterer  Perioden.  Vor  allem 
aber  für  Siedelungsf  ragen  muß  die  Erd- 
geschichte stets  die  Grundlagen  bieten.  Die 
Beschaffenheit  des  Bodens  ist  nicht  nur  für 
unsere  Zeit  von  so  erheblicher  wirtschaftlicher 
Bedeutung ;  sie  war  entscheidend  auch  für  das 
Wirtschaftsleben  der  Vorzeit,  für  die  Wahl  des 
Wohnplatzes,  für  die  Anlage  der  Dörfer,  fin- 
den Betrieb  von  Ackerbau  und  Viehzucht. 
Vgl.  dazu  meine  Ausführungen  über  die  „Heu- 
kammer" bei  Sophieudorf  *).  So  sind  die  Ergeb- 
nisse der  siedeluugsarchäologischen  Forschungen 
zugleich  recht  wesentliche  Bausteine  für  die 
Geschichte  der  Besiedelung  und  Bewirt- 
schaftung unseres  Landes  überhaupt,  und 
damit  auch  für  die  Geschichte  der  deutscheu 
Landwirtschaft.  So  erwogen,  liegen  auch  die 
rein  siedelungsarchäologischen  Forschungen  den 
Arbeiten  der  geologischen  Landesanstalten  weit 
näher  als  mancher  bisher  vielleicht  angenom- 
men hat. 

Auch  jetzt  schon  enthalten  die  „Erläute- 
rungen" zu  den  einzelneu  Blättern  der  geolo- 
gischen Karten  zuweilen  wertvolle  Hinweise 
auf  vorgeschichtliche  Fundstellen  und  müssen 
daraufhin  genau  so  gewissenhaft  wie  die  übrige 
Literatur  durchgesehen  und  geprüft  werden. 
Das  Mäi  kische  Museum  erhielt  erst  in  letzter 
Zeit  von  Herrn  Prof.  Kaunhowen  aus  der  Gegend 
von  Lübbeu   einige  Funde  überwiesen. 

Das  wichtigste  Hilfsmittel  zur  Förderung  der 
Siedeluugsarchäologie  bleibt  aber  für  die  Zukunft 
das  Auffinden  vorgeschichtlicher  Wohn- 
stätten  im  Gelände  an  der  Hand  der  geo- 
logischen Karten. 

Zahlreiche  Beobachtungen  an  den  vom  Mär- 
kischen Museum  untersuchten  vorgeschichtlichen 
Wohnstätten  und  an  den  bisher  —  wenn  auch 
nur  aus  einzelnen  Fundeu  —  bekannten  Siede- 
lungsplätzen  haben  ergeben,  daß  die  Wahl  des 
Wohnplatzes  gewissen  Gesetzmäßigkeiten  unter- 
liegt.    Stellen,  die  sich  für  Besiedelung  in  her- 


!)  Zeitschr.  f.  Ethnol.  1912,  S.  415. 


44 


vorragendem  Maße  eigneten,  müssen  deshalb 
heute  daraufhin  untersucht  werden,  ob  sie  nicht 
in  der  Tat  einmal  als  Wohnstätte  gedient  haben. 
Die  mit  Moorerde,  VViesenkalk  oder  Torf  aus- 
gefüllten alluvialen  Niederungen  scheiden  als 
Wohnplätze  für  die  Vorzeit  fast  ganz  aus, 
da  sie  damals  mindestens  zu  einem  großen 
Teile,  wenn  nicht  überschwemmt,  so  doch  sehr 
sumpfig  waren.  Nicht  so  dürfen  wir  an  den 
diluvialen  Ablagerungen  des  oberen  und  unteren 
Geschiebemergels  sowie  des  oberen  und  unteren 
Sandes  vorübergehen.  Wir  müssen  damit  rechnen, 
auf  diesen  trocken  und  hochgelegenen  Plätzen 
alten  Wohnstätten  zu  begegnen.  Auf  diluvialen 
Hochflächen  liegen  z.  B.  die  altgermanischen 
Döifer  bei  Großbeeren,  Lagardesmühlen  und 
Paulinenaue,  wie  die  wendischen  Siedelungen 
bei  Cüstrm  und  bei  Hasenfelde.  Weit  besseren 
Schutz  noch  boten  aber  die  aus  einer  alluvialen 
Niederung  emporragenden  Inseln  und  Werder, 
meist  aus  Talsand  gebildet  und  von  Dünen- 
sanden  überweht.  Diese  Stellen  ziehen  in  aller- 
erster Linie  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich. 
Sie  boten  mit  ihrem  Dünensaude  nicht  nur 
trockene  Wohnplätze;  der  Tal-  oder  Flußsand 
der  nächsten  Umgebung  gab  vielmehr  zugleich 
Gelegenheit  zum  Hackbau.  Die  Wohnstätten 
selber  lagen  fast  ausschließlich  auf  den  Dünen, 
wohl  auch  um  die  wertvollen  Stellen  für  den 
Anbau  frei  zu  lassen. 

Welche  Bedeutung  diese  inselartigen  Diluvial- 
höhen, die  sich  aus  dem  Alluvialen  herausheben, 
für  unsere  Siedelungsforschung  haben,  das  sei 
au  folgendem  Beispiel  erörtert.  Ich  wähle  aus 
ganz  bestimmten  Gründen  das  Blatt  Zossen 
(Gradabteilung  45,  Nr.  4a),  topographisch  auf- 
genommen vom  Kgl.  Preuß.  Generalstabe  1 86'.* 
(Nachträge  bis  Ende  1875);  geognostisch  und 
agronomisch  aufgenommen  von  G.  Berendt 
und  D.  Brauns;  die  Erläuterungen  dazu  sind 
erschienen    1882. 

Die  gewaltigen  Wassermassen,  die  sich  am 
Ende  der  Eiszeit  zwischen  dem  Baruther  und  Ber- 
liner Haupttal  wälzten,  haben  die  Diluvialhoch- 
fläche  durchwühlt,  zerrissen,  zum  Teil  hinweg- 
gespült, zum  Teil  eingeebnet,  so  daß  zwischen 
beiden  Urstromtälern  die  Notte-  und  Nuthcniede- 
rungen  entstanden.  Innerhall)  dieser  Niederungen 
sind  jedoch  ganze  Blöcke  des  oberen  Geschiebe- 
mergels stehen  geblieben  und  ragen  jetzt  insel- 
artig aus  der  wiesenreichen  Niederung  empor. 
Diese  diluvialen  Inseln  müssen  uns  verdächtig 
erscheinen.  Weit  verdächtiger  aber  sind  noch 
die  aus  eingeebneten  Diluvialsanden  bestehen- 
den Talsandflächen,  die  teilweise  rings  von 
Niederungen    umgeben  sind,    teilweise    sich    an 


höher  gelegene  Diluviallandschaften  anlehnen 
oder  diese  an  ihren  Kändern  begleiten.  Recht 
häufig  trieben  auf  diesen  Talsandflächen  die 
Winde  ihr  Spiel  und  wirbelten  auch  hier  an 
gewissen  Stellen  die  tranz  unfruchtbaren  Diinen- 
sande  auf.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  von  den 
10  heutigen  Siedelungen,  die  in  und  an  der 
Niederung    liegen,    nicht    weniger    als    sieben, 

DO?  3 

nämlich  dieStadt  Zossen,  die  Dörfer  Dergischow, 
Schünow,  Dabendorf,  Tel/,,  Jühnsdorf,  auch 
Hangsdorf  und  das  Vorwerk  Pramsdorf  auf 
Talsanduntergrund  liegen.  Nur  Groß-Machnow 
und  Nächst- Neuendorf  sind  auf  rein  alluvialen 
Bildungen  entstanden;  beim  Besuch  dieser  beiden 
Dörfer  kann  man  jedoch  fest-tellen ,  was  sich 
aus  der  Karte  nicht  ersehen  läßt,  daß  sie 
auf  einer  gar  nicht  unwesentlichen  Erhöhung 
liegen,  die,  wenn  auch  der  Wiesenkalk  sich  in  der 
Tat  unter  beiden  Dörfern  in  ihrer  ganzen  Aus- 
dehnung hinzieht,  nur  aus  starksandiger  Moor- 
erde bestehen  kann.  Zur  Zeit  der  Gründung  der 
Dörfer  Groß-Machuow  und  Nächst-Neueudorf 
muß  also  selbst  die  alluviale  Niederung  au 
den  betreffenden  Stellen  schon  so  trocken 
gelegen  haben,  daß  eine  Ansiedelung  mög- 
lich war.  Für  die  Beurteilung  des  Zustandes 
unserer  Heimat  in  den  einzelnen  Perioden  sind  der- 
artige Erwägungen  von  größtem  Werte  und  werden 
dazu  beitragen,  daß  mit  weit  verbreiteten  falschen 
Anschauungen  endlich  aufgeräumt  wird.  Für 
die  Vorzeit  und  ihre  unsicheren  Rechtsverhält- 
nisse gaben  zweifellos  die  inmitten  von  unzu- 
gänglichen Sümpfen  emporragenden  Talsand- 
inseln die  günstigste  Gelegenheit  zur  Besiede- 
lung.  Kein  Ort  auf  unserem  Blatte  konnte 
sich  in  dieser  Beziehung  mit  Zossen  messen. 
So  ist  es  nicht  verwunderlich,  daß  diese  Gegend 
reiche  vorgeschichtliche  Funde  aufweist. 

Hier  kommt  es  mir  nun  darauf  an  zu  zeigen, 
welche  Erüchte  ein  einziger  Spaziergang  zeitigen 
kann.  Ich  war  bisher  durch  Zufall  noch  nie 
in  diese  Gegend  gekommen.  Der  einzige  Ort, 
deu  ich  vor  zwei  Jahren  einmal  besuchte,  war 
Rangsdorf.  Vom  Bahnhof  in  Rangsdorf 
wanderte  ich  am  Langen  Berge  vorüber,  über- 
schritt den  Zülowgraben  und  steuerte  auf  einen 
Dünenhügel  zu,  der  mir  auf  der  Karte  ver- 
dächtig vorgekommen  war.  Er  liegt  auf  einer 
Talsandfläche  am  Südfuße  des  Zabelberges  und 
hat  nur  einen  Durchmesser  vou  150  bis  200  m. 
Der  Dünensand  ist  noch  heute  so  leicht,  daß 
er  sich  für  Ackerbau  nicht  eignet.  Es  bedurfte 
nur  einiger  Minuten  aufmerksamen  Suchens 
an  der  Oberfläche,  um  vorgeschichtliche 
Scherben  und  Lehmbrocken  zu  finden  und  damit 
festzustellen,    daß     dieser    Platz    in    vorge- 


45 


schichtlicher  Zeit  wirklich  besiedelt  war. 
Alle  übrigen  Fragen,  die  sich  an  diese  erste 
Beobachtung  knüpfen ,  können  zurückgestellt 
werden  bis  zur  gründlichen  Untersuchung  der 
Fundstelle. 

Der  weitere  Weg  führte  mich  am  Mühlen- 
berge vorüber  nach  Groß  -  Maclmow.  Fast  un- 
mittelbar südlich  vou  diesem  Dorfe  führt  die 
Zossener  Straße  über  eine  langgestreckte  Tal- 
saudinsel  mit  Dünenhügeln.  Da  man  zum  Be- 
treten dieser  für  vorgeschichtliche  Besiedelung 
günstig  gelegene  Stelle  erst  besonderer  Erlaubnis 
bedurfte,  ließ  ich  sie  diesmal  liegen. 

Westlich  vom  Pfählingssee  erhebt  sich  aus 
der  Niederung  eine  größere  Talsandinsel  mit 
teilweise  recht  stattlichen  Dünen.  Der  auf  den 
Dünen  stehende  Kiefernwald  wird  auf  der  Karte 
als  „Wukrow- Fichten"  bezeichnet.  Am  Süd- 
rande  der  Insel  liegt  Dabeudorf.  —  Rechts  des 
Weges,  der  von  der  Zossener  Straße  nach  Daben- 
dorf  führt,  ist  etwa  200  m  von  der  Chaussee 
entfernt  Sand  abgefahren  worden.  Dabei  waren 
zwei  runde  schwarze  Stellen  zum  Vorschein  ge- 
kommen, wie  sie  auf  jeder  vorgeschichtlichen 
Wohnstätte  ungemein  häutig  sind  —  die  ersten 
sicheren  Spuren  einer  vorgeschichtlichen 
S  i  e  d  e  1  u  n  g. 

Am  nächsten  Morgen  brach  ich  von  Zossen 
auf,  um  zwei  der  nordwestlich  von  der  Stadt  aus 
der  niederen  Umgebung  aufragende  Inseln  auf- 
zusuchen. Da  durch  Regulierung  des  Notte- 
laufes  der  Wasserstand  hier  au  manchen  Stellen 
sogar  mehr  gesunken  ist,  als  wünschenswert 
war,  so  vermag  nur  ein  geübtes  Auge  diese 
Inseln  als  solche  zu  erkennen.  Die  größere 
Erhebung,  über  die  heute  die  Berlin-Dresdener 
Eisenbahn  geht  und  auf  der  heute  das  Gut 
Marienau  liegt,  war  mir  nicht  zugänglich.  Auf 
der  westlich  von  der  letzteren  gelegenen  kleineren 
Erhebung  fand  ich  große  Mengen  von  früh- 
mittelalterlichen Gefäß  resten. 

An  alleu  drei  Plätzen  also,  die  ich  als  für 
ältere  Besiedelung  geeignet  besuchte,  fand  ich 
Reste  alter  Kulturen.  Schwerlich  wird  das 
jemand  für  einen  Zufall  halten  wollen. 

In  der  in  Rede  stehenden  Gegend  inter- 
essierte mich  nun  aber  noch  ein  Fandplatz,  der 
nach  der  Beschreibung  in  den  Erläuterungen 
zum  Blatt  Zossen  nicht  mit  voller  Sicherheit 
zu  bestimmen  war.  Ich  vermutete  als  solchen 
aber  doch  eine  kleine  Talsandinsel,  die  in  einer 
Torf  bucht  nur  500  m  nordwestlich  von  Nächst- 
Neuendorf  liegt.  Die  Vermutung  bestätigte 
sich.  Der  größere  Teil  des  Hügels  war  leider 
schon  abgefahren;  zermürbte  Herdsteine,  zahl- 
reiche   Scherben    und    ein    eisernes  Messer    aus 


der  Kultnrschicht  einer  wallartigen  Erhöhung 
bestätigten  die  von  den  Geologen  vor  mehr  als 
30  Jahren  gemachten  Beobachtungen.  Außer- 
dem hatte  ich  die  Freude,  durch  einen  glück- 
lichen, unzweifelhaft  sicheren  Scherbenfund  fest- 
stellen zu  können,  daß  hier  eine  wendische 
Fundstätte  vorlag. 

Zwei  weitere  neue  Fundstellen,  die  ich 
auf  derselben  Wanderung  auffand,  liegen  bereits 
auf  einem  anderen  geologischen   Kartenblatt. 

So  hat  eine  einzige  Wanderung,  die  sich 
am  Sonnabend  durch  drei  und  am  Sonntag  durch 
acht  Stunden  erstreckte,  immerhin  fünf  neue, 
bisher  ganz  unbekannte  Fundstellen  ergeben, 
und  die  schon  bekannte  sechste  wenigstens 
chronologisch  bestimmt.  Ein  derartiges  Er- 
gebnis ist  natürlich  nur  möglich  bei  sehr 
auf  merksamer  Beobachtung  des  Geländes 
an  der  Hand  einer  geologischen  Karte. 

Der  oben  angegebene  Weg,  das  plan- 
mäßige Aufsuchen  von  vorgeschichtlichen 
Fundstellen,  ist  das  beste  Mittel  zu  dem  erstrebens- 
werten Ziele,  in  absehbarer  Zeit  eine  siedelungs- 
archäologische  Karte  zu  erhalten.  Selbstverständ- 
lich darf  man  sich  mit  dem  bloßen  Feststelleu 
einer  Siedeluug  nicht  begnügen.  Mindestens 
müssen  wir  durch  Untersuchung  der  Fundstelle 
dahin  kommen,  die  Zeit  ihrer  Besiedelung  zu  be- 
stimmen. Wenn  irgend  möglich,  wird  es  sich 
empfehlen,  den  Charakter  der  Siedelung  so  weit 
zu  erforschen,  wie  ich  es  bei  Hasenfelde,  Cüstrin, 
Lagardesmühle,  Paulmenaue,  Kleinbeeren,  Nieder- 
görsdorf, Nackel,  Stüdenitz  usw.  getan  habe. 
Wo  der  Fundplatz  gefährdet  ist,  muß  natürlich 
jede  in  den  Grenzen  der  Möglichkeit  liegende 
gründliche  Erforschung  stattfinden. 

Hauptsache  ist,  daß  sich  möglichst  viele 
Kräfte  in  den  Dienst  der  Sache  stellen.  In 
Berlin  hat  sich  jetzt  ein  Kreis  von  Altertums- 
freunden zu  „Siedelungsarchäologischen 
Übungen  und  Studien  am  Märkischen 
Museum"  zusammengeschlossen1).  Freunde 
der  Siedelungskunde,  Lokalforscher  und  Ver- 
treter verschiedener  Grenzwissenschaften  widmen 
als  regelmäßige  Teilnehmer  oder  als  Gäste  einen 
Teil  ihrer  Kraft  unserem  Werke  und  haben 
auch  ganz  unabhängig  von  mir  recht  erfreuliche 
Ergebnisse  zu  verzeichnen. 

In  kürzester  Zeit  werden  sich  schon  an  hin- 
reichend zahlreichen  Beispielen  gewisse 
Eigentümlichkeiten  und  Unterschiede  in 
der  Wahl  des  Siedelungsplatzes  während  der 
verschiedenen  Perioden  feststellen  lassen,  so  daß 


:)  Vgl.   darüber  Brandenburgia ,    Monatsblatt  1915, 
8.  117—120  (vgl.  S.  55  f.). 


Iti 


wir  von  vornherein  ans  der  Art  des  Ge- 
ländes auf  Steinzeit.  Bronzezeit,  Wcndeuzeit  usw. 
schließen  können. 

10.    Was  iiiuLi  geschehen,    wenn   ein  neuer 

vorgeschichtlicher  V u u d ] >  1  a t z  entdeckt 

worden  i st V 

Wenn  nun  ein  frisch  gepflügter  Acker  durch 
eine  Reihe  schwarz  hervortretender  Hausstellen, 
wenn  eine  Sandgrube,  eine  Baugrube  oder  ein 
Schützengraben  durch  Herdstellen  und  Pfosten- 
löcher sich  verdächtig  machen  oder  wenn  der 
aufmerksame  Beobachter  irgendwelche  Kultur- 
reste an  der  ( »bei  fläche  entdeckt  hat,  dann  kommt 
es  —  und  das  ist  mindestens  ebenso 
wichtig  —  darauf  an,  die  Stelle  für  alle  Zeiten 
im  Interesse  der  Wissenschaft  festzulegen.  Zu- 
nächst muß  die  Lage  des  Fundplatzes  auf  einer 
guten  Karte  genau  bestimmt  werden.  Dann  ist 
es  nötig,  die  Dorfflur  zu  ermitteln,  zu  welcher  das 
Grundstück  gehört.  Auf  den  Meßtischblättern 
[1:25  000]  und  den  geologischen  Karten  sind  die 
Flurgrenzen  der  Dörfer  ja  genau  verzeichnet.  Man 
hat  besonders  darauf  zu  achten,  ob  der  Fund- 
platz zum  Gemeinde-  oder  zum  Gutsbezirk 
gehört.  Wünschenswert,  aber  nicht  immer 
ausführbar  ist  es,  den  Besitzer  des  Grundstückes 
ebenfalls  zu  erfragen.  Auf  jeden  Fall  lassen 
sich  Notizen  macheu  über  den  augenblicklichen 
Zustand  der  Stelle  und  Beobachtungen  ver- 
zeichnen, ob  Wald,  Wiese  oder  Ödland  vorhauden 
ist.  Wichtig  ist  unter  Umständen  weiter,  daß  be- 
merkt wird,  welche  Feldfrucht  der  Acker,  wenn 
es  sich  um  einen  solchen  handelt,  im  laufenden 
Jahre  trägt.  Ein  mit  landwirtschaftlichen  Ver- 
hältnissen Vertrauter  kann  daraus  ungefähr  er- 
sehen, was  für  Boden  vorhanden  ist.  Es  ist  ein 
großer  Unterschied,  ob  der  Acker  mit  Roggen 
oder  mit  Mohrrüben  bestanden  ist.  Wo  die 
letzteren  üppig  gedeihen,  wird  man  selten  eine 
Siedelung  finden.  Ein  kurzer  Bericht,  der  alle  diese 
Dinge  festlegt,  wird  von  jedem  Museum  dankbar 
aufgenommen  werden.  Die  letzte  und  zugleich 
wichtigste  Aufgabe  ist  aber  —  und  das  ver- 
stößt gewiß  nicht  gegen  den  Geist  des  Aus- 
grabuugsgesetzes  — ,  auf  der  Oberfläche  her- 
umliegende Scherben  und  andere  Kulturreste 
aufzuheben  und  als  Beweisstücke  dem  Berichte 
beizulegen.  Bei  günstiger  Gelegenheit  muß  die 
Kundstelle  dann  einer  genaueren  Prüfung  unter- 
zogen werden. 

Im  zu  zeigen,  wie  wirksam  die  Wissenschaft 
und  das  Märkische  Museum  durch  meine  Hörer 
in  der  „Freien  Hochschule",  der  Lehrer-  und 
Oberlehrerkurse    und    durch   die  Teilnehmer  an 


den  Übungen  unterstützt  wird,  füge  ich  einige 
Beispiele  an,  die  ohne  weiteres  als  Muster  dienen 
können  und  zugleich  beweisen,  mit  welchem 
Eifer  und  Erfolg  auf  unserem  Gebiete  schon 
gearbeitet  wird. 

Auf  diese  Weise  sind  dem  Märkischen 
Museum  seit  1910  im  ganzen  etwa  200  vor- 
geschichtliche Fundstelleu,  fast  ausschließlich 
Siedelungen,  mitgeteilt  worden.  Jede  dieserFund- 
stätten  so  zu  bearbeiten  wie  es  bei  Buch  ge- 
schah, ist  natürlich  zunächst  bare  Unmöglich- 
keit. Soviele  Museumskräfte  und  so  große  Mittel 
gibt  es  gar  nicht. 

Eine  gute  Wirkung  darf  man  sich  aber 
weiter  noch  von  unserer  Arbeitsweise  ver- 
sprechen. Durch  das  planmäßige  Auf  suchen 
der  Fundstellen  werden  so  viele  neue  Aus- 
grabungsplätze  zur  Verfügung  stehen ,  daß  die 
vielfach  zutage  getretene,  nach  außen  hin  so 
abstoßend  wirkende,  meiner  Ansicht  nach  schon 
immer  ganz  überflüssige  und  unwürdige  Kon- 
kurrenz zwischen  den  Museen  aufhören  muß. 
Das  Arbeitsfeld  ist  so  überreichlich  ijroß,  daß 
alle  — ■  die  größten  wie  die  kleinsten  —  Museen 
genügend  Raum  rinden  für  rastlose  Tätigkeit. 
Nur  das  unwissenschaftliche  Jagen  nach  Parade- 
funden muß  aufgegeben  werden.  Allein  die 
gründliche,  nach  neuer  Erkenntnis  rin- 
gende Forscherarbeit,  die  unbeeinflußt 
von  jeder  Rücksicht  auf  äußere  Erfolge 
ihren  Weg  geht,  hat  ein  Recht  darauf, 
Spuren  der  Vorzeit  zu  untersuchen. 

Im  folgenden  gebe  ich  eine  Zusammen- 
stellung der  dem  Märkischen  Museum  seit 
der  Entdeckung  des  vorgeschichtlichen 
Dorfes  bei  Buch  (1910)  bekannt  gewordenen 
Siedelungen. 

Vom  Märkischen  Museum  sind  bis  jetzt 
teils  eingehend  untersucht  teils  wenigstens  schon 
in  Angriff  genommen  worden : 

1.  Buch  I.      Bronzezeitliches   Dorf.     (Branden burgia, 

Monatsblätter  1910,  S.  408  ff.  Prähist.  Zeitschr. 
II,  1910,  S.  371.  Hoops'  Reallexikon  der  germ. 
Altertumskunde,  Artikel  „Buch".  Vorgesch.  d. 
Mark  Brandenburg,  Landeskunde  III,  1912, 
S.  313  ff.) 

2.  Buch  II.     Bronzezeitliches    Dorf   am   Wege    nach 

Carovv.  Bodenausschnitte  in  der  Bucher  Aus- 
stellung. Herdstellen,  Pfostenlöcher,  Abfallgruben 
und  Gefäßreste. 

3.  Buch  III.     Bronzezeitliches  Dorf  rechts  vom  Wege 

nach  Hobrechtsfelde.  Kultursuhicht ,  Pfosteu- 
löeher.  Herdstellen,  Abfallgruben,  Seherben. 

4.  Buch    IV.      Frühmittelalterliche    Siedelungsreste ; 

nicht  weit  von  Buch  III. 

5.  Trebus,  Kr.  Lebus.     Steinzeitsiedelung.     (Prähist. 

Zeitschr.  V,  1913,  S.  340— 361.  Müncheberger 
Mitt.  II  u.  III,  Pfarrer  Heßler.) 


47 


6.  Wutzetz-Nackel,  Kr.  Ruppin.     Bronzezeitliches 

Dorf,  unter  einer  Düne  verschüttet.  (Branden- 
burgia,  Monatsblatt  XXIII,  1914,  S.  33— 45  ff.) 

7.  u.  8.  Paulshof,    Kr.  Niederbarnim.     Zwei  Siede- 

lungen und  Gräberfeld.  Grundriß,  Pfosten,  Herd- 
stellen U9W. 
9. — 12.  Breddin,  Kr.  Ostprignitz.  a)  Wohnstätten 
und  Gräber  am  Wege  Stüdenitz  -  Kümmernitz, 
und  zwar  eine  am  „Hand weiser"  nach  Sophien- 
dorf, eine  zweite  in  der  Koberschen  Sandgrube 
und  eine  dritte  auf  dem  Blumentalscben  Acker. 
(Zeitschr.  f.  Ethnol.  1912,  S.  413— 42(i.  I  b)  Wohn- 
stätten (Herdstellen)  auf  der  Hirtenwiese. 

13.  Oderberg-Bralitz.  Siedeluug  am  Bahnhof  Oder- 
berg.     Kulturschicht,  Pfosten,  Hordstellen  usw. 

1-1.  Stüdenitz,  Kr.  Ostprignitz.  Germanisches  Dorf 
aus  den  ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeitrech- 
nung (Rädchentechnik).  (Korresp.-Bl.  d.  Deutsch. 
Authropol.  Ges.  1913,  S.  91— 92.) 

15.  u.  16.  Neukölln  bei  Berlin.  Auf  dem  Richard- 
platze. Germanische  und  frühmittelalterliche 
Wohnstätte.  (Korresp.-Bl.  d.  Deutsch.  Anthropol. 
Ges.  1913,  S.  90  ff.) 

17.  Klein-Beeren,   Kr.  Teltow.     Germanische   Siede- 

luug aus  den  ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeit- 
rechnung (Rädchentechnik).  (Großberliner  Ka- 
lender 1913,  S.  149—155.) 

18.  Lagardesmühlen     bei     Cüstrin.        Germanische 

Siedelung  aus  den  ersten  Jahrhunderten  unserer 
Zeitrechnung.  (Prähistor.  Zeitschr.  VI,  1914, 
S.  303—330.) 

19.  u.  20.  Paulinenaue,  Kr.  Westhavellaud.     a)  Ger- 

manische Siedelung  aus  dem  3.  u.  4.  Jahrh.  n.  Chr. 
(Prähistor.  Zeitschr.  IV,  1912,  S.  152  —  165.) 
b)  Frühmittelalterliche  Wohnstätte  auf  dem 
Hasselberge. 

21.  Hasenfelde,    Kr.  Lebus.       Frühweudisches    Dorf 

aus  dem  7.  u.  8.  Jahrh.  n.  Chr.  10  Grundrisse 
um  einen  Pfuhl  („die  Schafwäsche")  herum. 

22.  Hasenfelde,    Kr.  Lebus.      Brouzezeitliche    Siede- 

lung und  Gräberfeld. 

23.  Eichwerder  bei  Warnick,  Kr.  Königsberg,  Neu- 

mark. Wendische  Siedelung.  Pfosten ,  Abfall- 
gruben,  Getreidekörner.  (Vgl.  Brandenburgia 
XXIII,  1914,  S.  60 f.) 

24.  Klößnitz   bei   Cüstrin.     Wendisches   Dorf   (9.  bis 

13.  Jahrh.  n.  Chr.).  (Zeitschr.  f.  Ethnol.  XLVI, 
1914,  S.  880— 912.  Fredrich,  Die  Stadt  Cüstrin, 
S.  73.  Der  Name  des  Dorfes  wird  in  einer  Ur- 
kunde von  1261  genannt.) 

25.  Niedergörsdorf,  Kr.Jüterbog.  Deutsches  Bauern- 

haus (12.  bis  14.  Jahrh.).  (Vorgeschichte  d.  Mark 
Brandenburg,  Landeskunde  III,  S.  455 — 458.) 

26.  u.  27.     Niedergörsdorf,  Kr.  Jüterbog,     a)  Vor- 

geschichtliche Siedelung  „Kesselsdorf",  b)  Wohn- 
stätte in  der  Nähe  des  Bahnhofes. 

28.  Zorndorf,  Kr.  Königsberg.  Neumark.   Am  Tanger. 

Herdstelle ,  Pfostenlöcher.  Vorgeschichtliche 
Scherben.     In  der  Nähe  ein  Gräberfeld. 

29.  Nowawes  bei  Potsdam,  Kr.  Teltow.     Frühmittel- 

alterliche Siedelung  auf  dem  Grundstück  des 
Herrn  Häberer  an  der  Nuthe.  Kulturschicht, 
Hausstellen,  Gefäßreste. 

30.  u.  31.      Sonnewalde,    Kr.   Luckau.       Zwei    vor- 

geschichtliche Wohnstätten  mit  Kulturschichten, 
Herdstellen,  Gefäßresten,  Schlacken  u.  dgl.  Spuren 
wie  bei  Buch  und  anderen  bedeutenden  Fund- 
stellen. 


Zu  den  bisher  behandelten  Siedelungen 
kommen  die  oben   besprochenen : 

32.  Groß-Machnow,   Kr.  Teltow.     (Am  Zabelsberg.) 

33.  Dabendorf,  Kr.  Teltow.     (Wuckrowfichten.) 

34.  Marienau  bei  Zossen. 

35.  Nächst  Neuendorf,  Kr.  Teltow. 

36.  Saalow,  Kr.  Teltow. 

37.  Meilen,  Kr.  Teltow.     (Mühlenberg.) 

In  der  Nähe  der  vom  Märkischen  Museum 
untersuchten  Siedelung  bei  Wutzetz-Nackel  sind 
von  Herrn  Pfarrer  Wolfram  in  Nackel  auf- 
gefunden und  vom  Märkischen  Museum  teils 
nur  besichtigt  teils  auch  schon  angeschnitten 
worden : 

38.  Vorwerk  Damm.   „Frühmittelalterliche  Scherben. 

Wohl  alte  Zollstätte." 

39.  Au  der  „Völkerscheide".    „Frühmittelalterliche 

Scherben.     Wall  und  Graben." 

40.  „Lüneburg"  im  Zootzen.    „Mittelalterliche  Scher- 

ben.    Wüstes  Dorf." 

41.  u.  42.     Läsikower    „Breiteu".      „In    der    Asche 

der  Torfschicht,  die  1911  abgebrannt  war,  ein 
schwarzes,  schön  gearbeitetes  Feuersteinbeil,  ein 
walzenförmiger  Hammer  aus  Sandstein,  drei 
Reibesteine  und  eine  Anzahl  Scherben  vor- 
wendischer und  frühmittelalterlicher  Art." 

43.  Am    „Gericht".      „Hier   soll   es   spuken.     Spuren 

einer  mittelalterlichen  Siedelung." 

44.  Sandgrube      an      den     „Hüntenf eidbergen". 

„Wendische  Gefäßreste." 

45.  Am  Siepgraben.     „Westlich  am  Abhänge  in  der 

Höhe  der  kleinen  Insel  eine  Stelle  mit  wendi- 
schen Scherben ;  der  Boden  ist  teilweise  dunkel 
gefärbt.  Weiterhin  nach  Westen  sehr  viele 
Scherben  vorwendischer  Herkunft.  Eine  Probe- 
grabung erwies  vorgeschichtliche  Grabstellen." 
•46.  Nackeler  Försterei.  „Frühmittelalterliche  Seher- 
ben sehr  zahlreich." 

47.  „Paunenberg"  bei  Wutzetz.    Frühmittelalterliche 

Siedelung;  darunter  bronzezeitlicheB  Grab.  (Aus- 
grabung des  Märkischen  Museums.)" 

48.  „Alte  Hamburger  Straße".    „ÜberBät  mit  früh- 

mittelalterlichen Scherben." 

49.  Das  „heilige  Land"  in  Läsikow.   „Vorgeschicht- 

liche Scherben." 

Großes  Interesse  nehmen  die  Siedelungs- 
spuren  in  den  „Läsikower  Breiten"  (41  u.  42) 
in  Anspruch.  Herr  Pfarrer  Wolfram  hatte  be- 
reits die  Beobachtung  gemacht  und  eine  Be- 
sichtigung hat  diese  Beobachtung  bestätigt,  daß 
namentlich  in  den  tiefliegenden  und  der 
Überschwemmung  noch  heute  leicht  ausgesetzten 
„Schienken"  vorgeschichtliche  Kulturreste  zu 
finden  sind.  Es  handelt  sich  da  unstreitig  nicht 
nur  um  die  beiden  angegebenen,  sondern  um 
noch  mehrere  Wohnstätten.  Siedelungen  in  den 
rein  alluvialen  Schienken  des  Luches  sind  aber 
an  sich  sowohl  wie  nach  all  meinen  Beob- 
achtungen im  Luch  selber  und  an  anderen  Stel- 
len eine  Unmöglichkeit.  Nach  genauer  Unter- 
suchung   löste    sieh  das  Problem.     Von  den  im 


48 


Luch  Holenden  diluvialen  Horsten  hatte  man 
den  Sand  in  die  sauren  Wiesen  gefahren,  um 
den  Graswuchs  zu  verbessern,  leb  konnte  zu 
mehreren  Fandstellen  die  höher  gelegenen 
Stellen  ausfindig  machen,  von  denen  der  Sand 
und  die  Scherben  mit  dem  Sande  abgefahren 
waren. 

Über  die  von  Herrn  Pfarrer  Wolfram  in 
der  Umgebung  bei  Naekel  beobachteten  Stellen 
vgl.  Brandenburgia,  Monatsblatt  1915.  Außer- 
dem verdanken  wir  Herrn  Wolfram  noch  Mit- 
teilungen über 

50.  u.  51.  Altdrewitz  bei  Cüstrin  (29.  Oktober  1912). 
„Ich  kann  Ihnen  zwei  mittelalterliche  Siedelungs- 
stellen  nachweisen,  die  auf  sandigem  Unland  des 
rechten  Oderufers  liegen.  Durchschnitt  eines 
Pfostenloches  mit  dunkler  Erde  und  Kohlen- 
resten; der  kleine,  6cm  starke  Pfosten  scheint 
nur  eingetrieben  zu  sein.  Die  beiliegende  Zeich- 
nung 2  zeigt  deutlich  die  obere  jetzige  Humus- 
schicht (15  cm),  dann  etwa  5  cm  Dünensand  und 
unten  die  20  cm  starke  Kulturschicht :  reichliche 
Kohlenreste." 

Herr  Dr.  Hindenburg  in  Groß-Beeren,  der 
schon  die  ersten  bei  Erdarbeiten  ans  Tageslicht 
getretenen  Spuren  der  germanischen  Wohn- 
statte  am  Lilowgraben  auf  der  Feldmark 
Klein-Beeren  entdeckte  („nördlich  davon  liegt 
ein  Gräberfeld  mit  Mäanderuruen"),  hat  in  der 
Umgebung  seines  Wohnortes  folgende  vor- 
geschichtliche Siedelungen  beobachtet: 

52.  bis  54.  Klein-Beeren,  Kr.  Teltow,  a)  „Gutsfeld- 
mark ;  Wuthes  Pachtland.  Kleine  Steinherde, 
Scherben.  Beim  Chausseebau  sind  einst  viele 
Gefäße  gefunden  worden  und  augeblich  zum  Teil 
in  den  Besitz  des  alten  Behrend,  des  letzten 
Besitzers  des  Gutes  Klein-Beeren,  gekommen." 
b)  „Am  Kinberg,  auch  Weinberg  genannt.  Früh- 
mittelalterliche Scherben."  c)  „Neues  Feld", 
südlieh  der  Chaussee  Groß- Beeren  =  Diedersdorf, 
unweit  der  Diedersdorfer  Grenze;  zahlreiche 
Scherben  (Lausitzer  Typus),  scheibenförmige 
Wirtel  mit  Fiugernageleindrücken,  halber  durch- 
bohrter Steinhammer,  Lehmbewurf,  Tierknochen, 
Schlacken,  Lehmkugeln." 

55.  bis  58.  Groß-Beeren,  Kr.  Teltow,  a)  „Am  Dorf: 
Gärten  von  Mehlis  und  Wilhelm  Dietrich 
im  südlichen  Ortsteil  zwischen  der  Genshagener 
Straße  und  dem  Lilow.  Scherben  des  Lausitzer 
Typus,  Tierknochen,  Tonlöffel  (Mehlis),  Herde, 
Ahfallgruben."  b)  „Beim  Hausbau  Tierarzt 
Dr.  Garbe.  Große  Tierknochen,  V»  Wirtel 
[spät  -  kaiserzeitliche  (?)  oder  slavische  (?) 
Scherben."  e)  „Mein  Garten.  Frühmittelalter- 
liche Scherben,  V2  Wirtel."  d)  „Knippling" 
und  „Kohlland"  am  „Kuhdamm"  (westlich  und 
östlich  der  Chaussee  Groß  -  Beeren  =  Genshagen, 
nördlich  der  Genshagener  Grenze.  Scherben 
von  zum  Teil  sehr  großen  Gefäßen,  Tierknochen. 
( Westlich  davon  liegt  das  „Latene- Gräberfeld 
an  den  Schinderfichten";  vgl.  Hindenburg, 
Mannus  II,  S.  194  ff.)." 


59.  Melwendorf.    wüste  Mark  (Neu-Beeren).     „Vom 

Märkischen  Museum  vor  mehreren  Jahrzehnten 
untersucht :  auf  den  frisch  bestellten  Riesel- 
feldern heben  sich  noch  jetzt  die  Hofstellen  ab. 

60.  u.  61.   Löwenbruch,   Kr.  Teltow.      „Stellmaeher- 

meister  Ewald  Neumann,  jetzt  im  Felde,  der 
namentlich  durch  seine  Mithilfe  bei  Grabungen 
des  Märkischen  Museums  bei  Klein-Beeren  unter- 
richtet ist,  kennt  mindestens  zwei  Stellen  mit 
Funden  wie  auf  Wohnplätzen;  ich  glaube  mich 
zu  erinnern ,  daß  die  eine  bei  dem  Vorwerk 
Weinberg ,  die  andere  nördlich  von  dem  be- 
kannten Latene  -  Gräberfelde  (nordwestlich  vom 
Dorfe)  liegt." 

62.  J ii tchendorf ,   Kr.  Teltow.      „Südlich   der   Land- 

brücke zwischen  dem  Siethener  und  dem 
Gröbener  See.  Zahlreiche  Tierknochen, 
Herde,  Scherben.  (Iu  der  Nähe  vier  Gefäße, 
darunter  ein  auf  der  Scheibe  gedrehtes  Latene- 
Gefäß  mit  Leichenbrand,  dreigliedrigem,  bron- 
zenen Gürtelhaken  und  Latene -Eisenfibel  mit 
geknicktem  Bügel.  Hindenburg,  Mannus  II, 
S.  197)." 

63.  Jühnsdorf,  Kr.  Teltow.     „Lindenberg,  Sandgrube 

an  dessen  Südwestabhange.  Kleine  Gruben  mit 
dunklem  Inhalt  mit  Kohle  und  kleinen  Feuer- 
steinartefakten ,  wie  sie  sich  auf  dem  Linden- 
berge massenhaft  finden.  (Kiekebusch,  Landes- 
kunde III,  S.  365.)" 

64.  Blankenfelde,     Kr.   Teltow.        „Südabhang    des 

Mühlenberges  in  der  Nähe  der  Wiesen  (nach 
mündlicher  Mitteilung  von  Dr.  Blume  f)-  (Auf 
dem  Mühlenberge  bronzezeitliches  Gräberfeld, 
z.  B.  doppelkonische  Urne  und  Etagenurne.)" 

65.  Kolonie     Dahlewitz     (1913).         „Nördlich     der 

Chaussee  Profile  wie  bei  Buch.  Scherben,  Lehm- 
herde ;  südlich  der  Chaussee  dunkle  Stellen  auf 
dem  westlichen  Teile  des  großen  Schlages,  nach 
der  Bestellung  sichtbar." 

66.  B irkholz,     Kr.   Teltow.        „Am     Mahlower     See. 

Herde,  ein  dickwandiger  Steinhammer,  Scher- 
ben (ein  doppelkonischer  mit  zirkulären  Rinnen 
über  dem  Umbruch)." 

67.  Gütergotz,   Kr.  Teltow.     „Am   See    wurden  1913 

oder  1914  bei  der  Feldbestellung  viele  Scherben 
gefunden,  welche  Inspektor  Greve,  Gütergotz, 
für  das  Märkische  Museum  aufbewahrt  hat.  Er 
zeigte  sie  mir,  und  ich  gewann  nach  dem,  was 
ich  sah  und  hörte,  die  Überzeugung,  daß  es 
sich  um  einen  vorgeschichtlichen  Wohnplatz 
handelt." 

68.  Königsberg  i.  d.  Neumark.     „Nordwestlich   vom 

Galgenberge ,  nahe  diesem ,  zahlreiche  Stücke 
von  gebranntem  Lehmbewurf.  Dicht  dabei  das 
bronzezeitliche  Urnenfeld  an  der  Graupenmühle." 

Die  Funde  der  meisten  Siedelungsplätze  und 
Gräberfelder  (Nr.  52 — 67)  befinden  sich  in  der 
schönen  Sammlung  des  Herrn  Dr.  Hinden- 
burg in  Groß-Beeren. 

Fruchtbare  Tätigkeit  hat  auch  Herr  Gym- 
nasialdirektor Prof.  Dr.  Fred  rieh,  früher  in 
Cüstrin,  jetzt  in  Stettin,  entwickelt.  Vgl.  dazu 
die  Berichte  über  Lagardesm üblen  und  Klößnitz. 
Über   die  Gräberfelder  in    der  Uma-ebunff   von 


49 


Cüstrin  [Schiff bauerstraße  (germanisch-wendisch), 
Pionierkaserne,  Harnischs  Gärtnerei  usw.]  vgl. 
Fredrich,  Die  Stadt  Cüstrin  1913,  S.  72  f.  und 
153  ff. 

Zu  den  genannten  Wohnstätten  kommt  noch 
die  bei 

69.  War  nick,   Kr.  Königsberg   (Neumark).     Auf   der 

Höhe  neben  dem  Einschnitt  der  Eisenbahn. 

In  diesem  Zusammenhange  müssen  auch  ge- 
nannt werden  die  von  Herrn  Dr.  Bestehorn, 
früher  Volontär  am  Märkischen  Museum,  ent- 
deckten und  für  das  Potsdamer  Museum  mit 
ausgezeichnetem  Erfolge  untersuchten  Fund- 
stellen bei 

70.  Krampnitz,  Kr.  Osthavelland.  Germanische  Siede- 

lung  der  ersten  Jahrhunderte  (Rädchentechnik). 

71.  Göttin,  Kr.  Zauch-Belzig.     Steinzeitsiedelung  mit 

Tiefstichkeramik.  Die  Funde  aus  den  beiden 
letztgenannten  Wohnstätten  befinden  sich  im 
Museum  in  Potsdam. 

Recht  beachtenswert  ist  auch  eine  Mitteilung 
des  Herrn  Bankbeamten  Wilke  über  Beob- 
achtungen bei 

Hoppenrade,  Kr.  Westhavelland.  „Am  Mühlen- 
berge, 2km  südlich  von  Hoppenrade,  Kreis 
Westhavelland ,  befindet  sich  eine  Sandgrube. 
Der  Weg  zu  ihr  führt  an  dem  am  Fuße  des 
Mühlenberges  gelegenen  Gehöfte  entlang.  Auf- 
merksam geworden  durch  einige  am  Boden 
verstreute  unverzierte  Tongefäßseherben,  beob- 
achtete ich  am  Nordabhange  der  Sandgrube, 
75  cm  unter  der  Erdoberfläche ,  eine  ungefähr 
30  cm  starke  dunkelbraune  Kulturschicht ,  die 
sich  von  dem  hellen  Sande  deutlich  abhob. 
Stellenweise  nahm  sie  eine  nahezu  schwarze 
Färbung  an.  Eine  Anzahl  der  aus  der  Kultur- 
schicht entnommenen  Tongefäßscherben  zeigte 
Tief  Stichverzierung  und  zwar  Furchenstich." 

Die  hier  von  Herrn  Wilke  (gefundene  Stein- 
zeitsiedelung ist  schon  bekannt  (vgl.  Brunner, 
Die  Steinzeitkeramik  der  Mark  Brandenburg, 
Arch.  f.  Authropol.  XXV,  1898,  S.  11  u.  Abb.  14). 
Dadurch  wird  der  Wert  dieser  Beobachtung 
durchaus  nicht  herabgesetzt.  Es  ist  im  Gegen- 
teil sehr  erwünscht,  zu  hören,  in  welchem  Zu- 
stande sich  bekannte  Fundstellen  augenblicklich 
befinden.  Außerdem  werden  die  alten  Beob- 
achtungen auch  ergänzt.  Auf  die  30cm  starke 
Kulturschicht,  „die  sich  vom  hellen  Sande  deut- 
lich abhob",  ist  von  Herrn  Wilke  zum  ersten 
Male  hingewiesen  worden. 

Weitere  Fundstellen  hat  Herr  Wilke  an 
folgenden  Stellen  beobachtet: 

72.  u.  73.  Havelberg,    a)  Am  „Großen  Burgwall". 

„Eine  Kulturschicht,  die  unter  einer  zweiten 
liegt ;  mehrere  Scherben ,  darunter  einen  mit 
Furchenstich."  Wahrscheinlich  also  steinzeitlich, 
b)   In     der    Sandgrube     am    Ostende    der 


Weinberge.  „Eine  etwa  1  m  starke  Kultur- 
schicht; darin  Knochen,  Scherben;  ein  Scherben 
mit  Rädchentechnik."  Wahrscheinlich  germa- 
nische Siedelung  aus  den  ersten  Jahrhunderten 
unserer  Zeitrechnung. 

74-.  Döheritz,  Kr.  Osthavellaud.  Am  Truppen- 
übungsplatz. „Mittelalterliche  Scherhen  auf 
der  Oberfläche;  etwas  tiefer  vorwendische." 

75.  Philippstal  an  der  Nuthe.  „Scherben  mit 
Rädchentechnik ;  Eisenschlacke ;  auf  der  Ober- 
fläche mittelalterliche  Scherben."  Diese  Fund- 
stelle mit  germanischen  Resten  der  ersten  Jahr- 
hunderte war  dem  Märkischen  Museum  bereits 
aus  einer  freundlichen  Mitteilung  des  Herrn 
Major  Allard  (1911)  bekannt. 

7G.  Zwischen  Schildow  und  Schönerlinde, 
Kr.  Niederbarnim.    Südwestlich  der  Arkenberge. 

77.  Zwischen  Nauen   und   Bredow,   Kr.  Osthavel- 

land.    (März  1914.) 

78.  ÖBtlich  von  Tamsel    auf    dem   Gelände  von 

Wilkersdurf,  Kr.  Königsberg  (Neumark). 

Von  dieser  Fundstelle  sandte  mir  Herr 
Wilke  einige  Scherben  eiu.  Sie  liegt  auf  eiuer 
Hochfläche,  die  von  Norden  her  ins  Warthetal 
vorstößt.  Durch  eine  Probegrabung  stellte  ich 
fest,  daß  am  Abhänge  zur  Warthe  hin  Siedeluugs- 
spuren  zu  beobachten  sind.  Die  meisten  Kultur- 
reste liegen  dagegen  auf  der  Höhe.  Gelegent- 
lich eines  Besuches  mit  Hörern  der  „Freien 
Hochschule"  fanden  wir  neben  zahlreichen  an- 
deren Kulturresten  auch  einen  steinzeitlichen 
Scherben  mit  Tiefstichverzierung.  Die  Lage 
dieser  Wohnstätte  auf  hohem ,  saudigem  Berg- 
rücken erinnert  an  die  Lage  der  steinzeitliehen 
Siedelung  bei  Trebus  und  an  eine  Fundstelle 
bei  Treuenbrietzen.  Beim  Ausheben  von  Be- 
festigungsgräben (1914)  stieß  man  auch  auf  ein 
Gräberfeld. 

Herr  Ferdinand  Krause  in  Neukölln  sandte 
folgenden   interessanten   Bericht  ein: 

79.  Seddin,   Kr.  Westprignitz    (16.  Okt.   1914).      „An 

einer  abgestochenen  Wand  zeigte  sich  unter  der 
Humusschicht  eine  etwa  1,60  tief  gehende,  mit 
tiefschwarzer  Kulturschicht  ausgefüllte  Grube, 
enthaltend  kohlige  Erde  und  überaus  zahlreiche 
Gefäßreste ;  dazwischen  einzelne  etwas  über 
faustgroße  Steine ;  daneben  im  Feuer  gewesene 
Herdsteine.  Ein  einzelnes  Stück  zu  rotem  Ziegel 
gebrannter  Lehmbrocken  mit  Eindruck  eines 
kantigen  Balkens  ...  Abfall-  oder  Scherben- 
grube; dicht  daneben  eine  kleinere  Grube,  mit 
grauer  Humuserde  gefüllt.  Eine  andere  Wand 
zeigt  ein  mit  schwarzer  Erde  gefülltes,  1  m  tiefes 
Pfostenloch  ohne  Einschlüsse." 

Herr  Krause  hat  auch  schon  auf  die  mittel- 
alterliche Siedelung  auf  dem  Richardplatze 
in  Neukölln  aufmerksam  gemacht.  Bei  der 
genaueren  Untersuchung  fand  ich  dann  in  tieferen 
Schichten  die  germanische  Wohnstätte  aus  den 
ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeitrechnung.  (Vgl. 
Nr.  15  u.  16.) 

7 


50 


Herr  Lentz  [vgl.  Korrcsp.-Bl.  1915,  S.Höf.]') 
machte  dem  Märkischen  Museum  Mitteiluug  von 
folgenden  Siedelungen : 

80.  u.  81.  Dahlem,  Kr.  Teltow  (Juli  1912).  a)  „Gegen- 
über dem  Bahnhof  >Botani  eher  Garten«,  Ecke 
Steglitzer  and  Moltkestraße.  Profil  wie  bei 
Buch."      Ii    „Frühmittelalterliche    Scherben   am 

Dorfe"  i  I ber  l'.MJ). 

Weinberge  bei  Fürstenwalde  (Sommer  1912 
und  L9I5).  „In  mehreren  grubenartigen  Ver- 
tiefungen vorgeschichtliche  Scherben."  Eine 
mit  zahlreichen  Hörern  der  „Freien  Hochschule" 
ausgeführte  Besichtigung  bestätigte  diese  Beob- 
achtung. 

83.  Sohlabbersdorf  (Schiabendorf,  Schlamsdorf)  bei 

Etzin,  Kr.  Osthavelland  (Mai  1915).  Wüstes 
Dori  :  heute  Vorwerk.  „Auf  der  Feldmark  haben 
die  Landleute  von  jeher  Scherben  gefunden." 

84.  Jeserig     bei    Wiesenburg,     Kr.   Zaueh  -  Beizig 

(Mai  1915).  „Auf  der  Kuppe  neben  der  .Mühle 
Kulturschicht,  PfoBtenlöcher  und  Scherben." 

85.  Röthehof,  südlich  von  Markee  (.Mai  1915).    „Alte 

Kulturschicht  unter  sterilem  Flugsand.  Mittel- 
alterliche Scherben." 

86.  Salzbrunn,    Kr.  Zauch-Belzig  (Januar  und  März 

191")).  „Kohlen.  Scherben  (vorgeschichtliche 
und  mittelalterliche  i.  Henkel,  Randstücke,  großer 
Teil  eines  etwa  ii  >>is  8  mm  starken  Gefäßes. 
nNucleus« ,  kleine  Feuersteinabsplisse  und  zwei 
Steinkeme.  Alle  Funde  latren  auf  der  Ober- 
fläche." „Außer  einem  wahrscheinlich  als  Pfosten- 
loch zu  deutenden  dunklen  Anschnitt,  der  vom 
heutigen  Humus  durch  eine  sterile  Schicht  ge- 
trennt war,   fand  sich  fast  überall  eine  schwach 


1)  Während  ich  die  erste  Korrektur  meines  Auf- 
satzes lese,  erscheinen  im  Korresp.-Bl.  (1915,  S.  35  f.) 
die  Ausführungen  von  E.  Lentz  über  „Methodische 
Siedelungsforschuug".  Sie  enthalten  manches,  das  rech! 
ihtenswert  ist.  Über  die  bloße  Berücksichtigung 
der  Zufallsfunde  sind  wir  allerdings  bereits  weit  hinaus 
(vgl.  meinen  Weimarer  Vortrag,  Korresp.-Bl.  1912, 
S.  65  f.  und  vorliegenden  Aufsatz).  Zu  der  Frage  der 
chemischen  Untersuchung  der  Erdproben  sei  hier  ein 
Beispiel  angeführt,  aus  dem  ersehen  werden  kann, 
wie  notwendig  derartige  Untersuchungen  oft  sind,  um 
geradezu  eine  Entscheidung  herbeizuführen.  Bei  Hasen- 
felde war  in  einer  Kiesgrube  eine  schwärzt-  Stelle 
aufgedeckt  worden,  die  einer  vorgeschichtlichen 
Herdstelle  in  mancher  Beziehung  ähnlich  war.  Das 
erste ,  was  mich  stutzig  machte ,  war  die  Lagerung  in 
einer  Schicht,  die  von  der  Grundmoräne  überdeckt 
war.  Außerdem  lieij  sich  auch  keine  Spur  von  Kultur- 
resten finden.  Ich  war  davon  überzeugt,  daß  es  sich 
hier  nicht  um  eine  Herdstelle  oder  dergleichen 
handeln  konnte,  sondern  nur  um  eine  natürliche 
'  i  fiirbung  des  Bodens.  Andere  glaubten  an  der  Deu- 
tung als  Herdstelle  „unbedingt"  festhalten  zu  müssen. 
Die  von  mir  veranlaßte  .Untersuchung  durch  das 
„Städtische  Untersuchungsamt  für  hygienische  und  ge- 
werbliche Zwecke'  hatte  folgendes  Ergebnis:  „Orga- 
nische Stoffe  haben  sich  nicht  nachweisen  lassen.  Die 
Braunfärbung  hat  ihren  Grund  in  einem  Gehalt  an 
Braunstein;  außer  diesem  wurden  neben  Sand  und 
Steinchen  Verbindungen  des  Kalkes,  Eisens,  der  Phosphor- 
säure,  Kieselsäure  und  Kohlensäure  gefunden1'  (30.  Okt. 
1913).      Damit  war  die  Frage   endgültig  entschieden. 


gefärbte  und  nur  durch  eingesprengte  Kohlen- 
stückchen erkennbare  Kulturschicht." 

87.  Wuusdorf,    Kr.  Teltow   (November  1914).      „Der 

eniLie  Wünsdorfer  See  hat  an  seinem  südöst- 
lichen Ende  .  . .  eine  kleine  Bucht,  gebildet  durch 
die  Auslaufer  einer  von  Kielern  bestandenen 
Sanddüne.  Die  Spitze  der  Düne  ist  durch  eine 
Sandgrube  angeschnitten  und  zeigt  deutlich  in 
einer  Tiefe  von  ungefähr  70  cm  eine  stellenweise 
15  cm  starke  Kohlenschicht  . . .  grubenartige  Ein- 
schnitte .  . .  Scherben.  Etwa  15  cm  unterm 
Planum  befindet  sich  stellenweise  eine  zweite 
Kohlenschicbt  ....  etwa  Im  noch  eine  unterste 
Kulturschicht  ...  Feuersteinschlagstätte,  Splitter, 
zwei  Kernstücke,  messeraitige  Spitzen,  ein  sehr 
schönes,  mit  Gebrauchsretouchen  versehenes 
Faustmesser  aus  Feuerstein.  Die  festgestellte 
Siedelung  tritt  auch  an  einem  Ausschnitt  auf 
der  Ostseite  der  Hüne  zutage.  Die  ganze  Siede- 
lung ist  in  ihrer  Dünenstruktur  und  Lage  ähn- 
lich wie  die  von  Trebus"  (Prähist.  Zeitschr.  V, 
S.340ff.),  ...  von  Gräben  umgebene  Erhöhungen." 

Frl.  E.  Beilot  hat  ihre  Aufmerksamkeit 
namentlich  auf  deu  Fläming  gerichtet.  Ihre 
Fundstellen  liegen  sämtlich  auf  Blatt  Klepzig 
der  geologischen   Speziulkarte  von  Preußen. 

88.  u.  89.  Raben,   Kr.  Zauch-Belzig.     a)  „Nördlich 

vom  Dorfe  an  der  Straße  Beizig- Wittenberg. 
Auf  der  wüsten  Feldmark  des  in  den  Hussiten- 
kriegen zerstörten  Dorfes  Wulkow.  An  der 
frisch  abgestochenen  Böschung  der  östlichen 
Straßenseite  eine  alte  Kulturschicht.  Vor- 
geschichtliche Scherben.  Geologische  Karte  zeigt 
auf  der  diluvialen  Hochfläche  »Sand";  Meeres- 
höhe 1 18,4.  Das  Alluvium  des  Tales  Niederungs- 
torf über  Sand."  b)  „Auf  derselben  Diluvial  - 
halbinsel,  die,  östlich  und  westlich  von  je 
einem  Alluvialnebental  (Rummel)  des  Flüßchens 
Plane  begrenzt,  in  das  Alluvium  des  Planetals 
hineinragt,  befinden  sich  Reste  des  Dorfes  Wul- 
kow (Fundament  der  Kirche  noch  erkennbar). 
Außerordentlich  viel  mittelalterliche  Scherben. 
Sand,  lehmig,  über  Geschiebemergel."  (Im  Jagen 
134  dicht  bei  der  Planequelle  Gräberfeld.  Desgl 
am  Wege  nach  Rädigke.) 

90.  bis  92.  Rädigke,  Kr.  Zauch-Belzig.  a)  „Südlich 
von  der  Plane,  an  der  Straße  nach  Raben  auf 
einer  Halbinsel  von  diluvialem  Sande,  die  mit 
ihrem  äußersten  Zipfel  noch  über  die  Straße 
hinweg  in  den  Talsand  hineinragt,  neben  mittel- 
alterlichen Scherben  ein  älterer  vorgeschicht- 
licher." b)  „Hinter  der  Kirche  von  Rädigke 
auf  der  Hochfläche  (Sand,  Meereshöhe  100). 
Sandgrube ;  am  Anschnitt  die  alte  Kulturschicht 
zu  erkennen.  Dort  soll  bis  zum  Jahre  1000  die 
Burg  Rädigke  gestanden  haben.  Die  Scherben, 
die  ich  dort  fand,  sind  aber  nicht  mittelalterlich, 
sondern  älter;  sie  können  sogar  bronzezeitlich 
sein."  c)  Zu  beiden  Seiten  des  Weges  von 
Rädigke  nach  Grubo;  auf  Talsand  am  Rande 
des  Alluviums .  neben  der  Scheune  zahlreiche 
vorgeschichtliche  Scherben,  an  den  Anschnitten 
der  Wegböschungen  eine  alte  Kulturschicht  zu 
erkennen." 

93.  Wer  dermo  hie  bei  Niemegk.  „Talsand  fällt 
ziemlich  steil  zum  Alluvium  ab  (Niederungstorf 


51 


und  Moorerde  über  Sand).  Einige  Scherben  an 
der  Straße,  zum  Teil  mittelalterlich,  doch  auch 
älter." 

Von  Henri  Lentz  und  Frl.  Bellot  wurden 
geraeinsam  gefunden  und  mitgeteilt: 

94.  Forst  haus     Weinberg     bei     Lud  wigsf  elil  e, 

Kr.  Teltow  (Juli  1915).  „Kulturschicht  mit  vor- 
geschichtlichen Scherben." 

95.  u.  96.  Wietstock,  Kr.  Teltow  (Juli  1915).    a)  Am 

Mühlenberg.  „Kulturschicht.  Vorgeschichtliche 
Seherben"  Profil  wie  bei  Buch,  b)  Höhe  3b. 
„Vorgeschichtliche  Scherben." 

Von  den  Herren  Lentz  und  Weinens  und 
von  Frl.  Bellot  wurden  gemeinsam  beobachtet 
und  mitgeteilt : 

97.  Turmhügel   der  Burg  Eisenhart  bei  Beizig 

(Juli  1915).  „Auf  dem  Hügel  und  im  Garten 
finden   sich   in  Massen   blauschwarze  Scherben." 

98.  Hügel   der  Brixiuskapelle    (Juli  1915).     „Vor- 

geschichtliche Scherben  verschiedener  Perioden." 

99.  Sandberg   südwestlich    des   Bahnhofes   (Juli 

1915).     „Vorgeschichtliche  Scherben." 

100.  Schäferei  Stollenberg  (Juli  1915).     „Vor  allem 

große,  mit  Häcksel  durchknetete  Stücke  von 
Lehm,  zum  Teil  mit  gewölbter  Überfläche." 

101.  Saarower    Wiesen     (August    1915).        „Sichel- 

förmige Landzunge  mit  der  dort  erwarteten  Siede- 
lung.  Zu  Hunderten  neben  unverzierten  Scher- 
ben Absplisse  der  Feuersteinbearbeitung. " 

102.  Petersdorf  bei  Fürstenwalde  (August  1915). 

„Dünenspitze.  Hartgebrannte  Stücke  von  Lehm- 
bewurf mit  prächtigen  Binsen  -  und  Schilf- 
abdrücken. Dazwischen  viel  Kohle  . .  .  neben 
Scherben  des  Mittelalters  und  vorgeschichtlicher 
Ware." 

103.  Fürstenwalde  (August  1915).     „Gegenüber  der 

Kaiser- Wilhelmbrücke." 

104.  Grubo,    Kr.  Zaucb  -  Beizig    (Juli    1915).      „Ruß- 

geschwärzte Reste  mindestens  zweier  Herde 
(nur  gepackt,  nicht  verstrichen).  Kulturschicht 
Kohlenspuren ;  kleine  unverzierte  Scherben; 
Feuersteinbruchstücke." 

Mit  demselben  Eifer  und  Erfolg  im  Auf- 
suchen vorgeschichtlicher  Wohnstätten  hat  Herr 
Max  Schneider  gearbeitet.  Auch  seine  Be- 
richte enthalten  alles  Wissens-  und  Wünschens- 
werte und  bilden  darum  im  Verein  mit  den 
eingesandten  Scherben  und  anderen  Kulturresten 
ausgezeichnete  Grundlagen  für  spätere  Unter- 
suchungen. 

105.  Golmberg  bei   Götz,  Kr.  Zauch-Belzig  (26.  Sept. 

1915).  „An  der  Nordwestseite  des  großen  Götzer 
Horstes  erhebt  sich  aus  den  Havelwiesen  ein 
kleinerer  Horst,  der  Golmberg.  Wenn  man  die 
Chausse  Götz  -  Ziegelei  und  dann  die  Bergstraße 
weiter  verfolgt,  so  geht  bald  hinter  den  Sand- 
und  Mergelgruben  (rechts)  ein  Feldweg  nach 
links  ab.  Er  durchquert  zuerst  Wiesen  auf 
grandigem  Talsand,  dann  eiue  Zunge  aus  Dünen- 
sand und  steigt  rechts  durch  oberen  Mergel 
zum  flachen  Gipfel  des  4>m  hohen Golmer  Berges 
hinauf.  Das  ziemlich  umfangreiche  Plateau  be- 
steht nach   der  geologischen  Karte  von  1886/89 


(44,  Nr.  33)  aus  unterem  Sande,  der  zum  Anbau 
von  Kartoffeln  und  Klee  benutzt  wird.  Nur  ein 
kleines  massives  Gerätehaus  ist  dort.  Früher 
muß  der  Berg  dicht  besiedelt  gewesen  sein. 
Schon  auf  der  Dünenzunge  finden  sich  einige 
vorgeschichtliche  Scherben;  auf  dem  Gipfel  aber, 
besonders  auf  dem  Kleefeld  an  der  Havelseite 
und  auf  der  Südosthälfte  des  Plateaus  sehr  zahl- 
reiche Scherben  steinzeitlicher  (Furehenstich, 
Punktstich ,  Schnurmuster)  und  anderer  vor- 
geschichtliche!' Keramik.  Dazu  auch  Bruchstücke 
von  zum  Teil  fein  bearbeiteten  Feuersteinen. 
Der  Ton  steinzeitlicber  Zapfengefäßbruchstücke 
enthält  auffallend  \  iel  Beimischungen  von  kleinen 
Steinchen.  Auf  dem  Gipfel  des  Golmer  Berges 
befinden  Bich  einige  Mergelgruben.  Durch  diese 
Gruben  ist  die  äußere  Erscheinung  des  Plateaus 
besonders  an  der  üstseite  zwar  verändert;  dennoch 
hat  es  fast  den  Anschein,  als  ob  früher  eine 
kleine  Wallaulage  vorhanden  gewesen  wäre.  Der 
Fahrweg  über  den  Gipfel  steigt  den  Hang  nach 
Nordost  hinunter  und  verliert,  sich  in  den  Wiesen 
zur  Havel.  Da,  wo  er  von  dem  oberen  Diluvium 
in  die  Wiesenebene  tritt,  liegt  links  auf  schwarzer 
fetter  Moorerde  ein  Acker,  auf  dem  viele  Scher- 
ben verschiedener  Perioden  liegen." 

107.  Vorgeschichtliche  Siede  hing  bei  Schmer- 
gow,  Kr.  Zauch-Belzig  (Okt.  1915).  „Mitten 
in  dem  wildzerrissenen  Gebiete  des  Havelbruches 
erhebt  sich  der  bis  55  m  hohe  und  etwa  3  km 
breite,  herzförmige  Schmergower  Horst.  In  der 
Hauptmasse  aus  oberem  Mergel  bestehend,  weist 
der  stark  zernagte  Ostrand,  der  der  wühlenden 
Kraft  des  Havelwassers  am  meisten  ausgesetzt 
war,  die  verschiedensten  geologischen  Forma- 
tionen auf.  Zsvei  Straßen  führen  zu  ihm,  die 
7  km  lange  Chaussee  vom  Bahnhof  Gr.-Kreutz 
über  den  Deetzer  Horst  und  dann  auf  künst- 
lichem Damm  durch  das  Bruch  und  die  nur 
halb  so  lange  von  Ket/m  über  die  Fahre  an 
der  Havelenye;  aber  es  ist  die  einzige  weit  und 
breit  vom  Havelland  zur  Zauche.  In  1 5  Minuten 
gelangt  man  von  hier  auf  breitem  Damm  durch 
das  Schmergower  Bruch  zum  Vorland  des  Hor- 
stes. Ein  breiter  Gürtel  von  Abrutschmassen 
—  jetzt  fruchtbarer  Ackerboden  —  säumt  ihn 
ein.  Dann  hebt  sich  langsam  das  Land  zu  beiden 
Seiten  der  Chaussee,  steigt  über  sie  hinweg, 
bildet  einen  kleinen  schluchtartigen  Engpaß  und 
senkt  sich  dann  wieder  zum  Hochplateau  des 
Dorfes  nieder.  Wahrscheinlich  war  das  ganze 
Gebiet  zwischen  dem  Vorsaum  und  dem  Engpaß 
einst  vor  Anlage  der  alten  Straße  nach  Ketzin 
ein  zusammenhängender  Hügel,  der  nördliche 
Teil.  Gehren  genannt,  Grand  und  Geröllmassen, 
unterlagert  von  Sand  mit  Lehmuestern  uud  des- 
wegen durch  mächtige  Sand-  und  Mergelgruben 
längs  der  Straße  stark  zerstört,  der  südliche, 
viel  niedrigere,  eine  etwa  500  m  lange  Düne, 
mit  Bändern  von  blaugrauem  Ton  durchzogen. 
Beide  Gebiete  tragen  an  den  Außenseiten  lichten 
Kiefernwald.  In  vorgeschichtlicher  Zeit  muß 
diese  vorspringende  Ecke  stark  besiedelt  gewesen 
sein;  dafür  sprechen  steinzeitliche  Funde  der 
Schnurkeramik,  die  Herr  Pfarrer  Schmidt  in 
Ketzin  jüngst  auf  den  Nordhügeln  gemacht  hat, 
dafür  sprechen  besonders  die  reichen  Funde 
auf    dem    Dünenplateau.      Diese    Düne    auf    der 


52 


Südseite  der  Chaussee  hinter  etwa  50m  breitem, 
buschbewachsenem  Vorland  ist  in  letzter  Zeit 
durch  einen  I  bis  2  m  tiefen  und  straßendamm- 
I. reiten  Einschnitt  von  einer  großen  Scheune  im 
Westen  bis  zu  den  Wiesen  im  Osten  in  ihrer  ganzen 
Länge  aufgeschnitten  worden.  Die  Straße  hat 
dabei  eine  Siedelung  aufgedeckt,  die  sich  über  die 
I luiii:  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  hinzieht.  20  bis 
30  cm  unter-  dem  Planum  läuft  an  beiden  Graben- 
wunden  eine  schwarzbraune,  teilweise  graublaue 
Kulturschicht  entlang,  mindestens  l/a  m  stark, 
ungefüllt  mit  außerordentlich  zahlreichen  vor- 
geschichtlichen Scherben ,  mit  kleineren  und 
größeren  Herdsteinen.  Eine  Stelle  in  der  Mitte 
des  Nordrandes,  dicht  bei  einem  Weidenstrauch  an 
einer  einsamen  großen  Pappel,  ist  näher  in  ihre)' 
Schichtenlage  untersucht  worden.  Dabei  ergab 
sich  folgendes  Ergebnis:  Diese  Stelle  der  Wand 
ist  von  dem  Hauptteil  des  Dünenrestes  ab- 
gerutscht. 25  cm  unter  dem  Abrutschplanum 
beginnt  die  Kulturschicht,  schwärzlich,  stellen- 
weise graublau.  In  ihr  lag  in  einer  Tiefe  von 
20cm  ein  etwa  3«)  cm  langer  Herdstein,  au- 
geschwärzt. Er  ruhte  auf  einer  5  cm  starken 
ganz  harten  Lehmsohicht.  In  dieser  steckten 
unter  anderen  fast  sämtliche  Scherbenteile  eines 
kleinen  zierlichen  Gefäßes.  Dann  folgte  wieder 
eine  Kulturschicht  mit  dunkler  Erde  (5  cm ), 
dann  eine  6  cm  -  Schicht  aus  Lehm ,  Kohlen- 
stückchen, kleinen  Steinchen.  Darauf  kamen 
8  cm  Sand,  dann  wieder  4  cm  Lehm  und  Kohle, 
schließlich  feiner  Sand.  Jenseits  des  Kiefern- 
waldrandes auf  dem  Acker  des  Südfeldes  im 
unteren  Mergel  gab  es  neben  zerstreuten  vor- 
geschichtlichen Scherben  viele  frühmittelalter- 
liche." 

108.  Bornim,  Kr.  Osthavelland  (August  1915).    „Acker 

am  Düsteren  See.  Viele  mittelalterliche  Scher- 
ben." 

109.  Bornim  (August  1915).    „Auf  Talsand  ein  lichtes 

Gehölz,  im  Norden  von  einer  Viehkoppel  (Wiesen) 
begrenzt.  Zahlreiche  vorgeschichtliche  Scher- 
ben ("Wendenkirchhof")." 

110.  Bornim.     „Kl.-Heyneberg".    „Reste  verschiedener 

Perioden." 

111.  Chaussee  Wannsee  =  Kl.-Machnow,  Kr. Teltow 

(Juni  1915).  „Brandschicht.  Lehmbrocken  mit 
Eindrücken  wie  von  Weidenruten.  Zahlreiche 
frühmittelalterliche  und  andere  Scherben." 

112.  Seeberg  bei  Kl.-Machnow,  Nordseite.    „Früh- 

mittelalterliche Scherben." 

113.  Kl.-Machnow  (Insel).    „Frühmittelalterliche  und 

ältere  Scherben." 

114.  Glashütte   bei   Teltow.      „Frühmittelalterliche 

und  ältere  Scherben." 

115.  Stahnsdorf,   Kr.  Teltow.      „Alte   Kulturschicht, 

darunter  frühmittelalterliche  Scherben." 

116.  Bekewiese  gegenüber  Albrechts  Teerofen. 

„Schützengräben;  zahlreiche  Pfostenincher;  auch 
frühmittelalterliche  Scheiben;  Lehmbrocken." 

117.  u.  118.  Havelufer  Werder-Phöben  (Mai  1915). 

a)  „Kulturschicht;   Scherben   sehr  roher  Arbeit, 
steinig,  dunkel-  bis  schwarzbraun ;  ein  Scherben 
mit    Zapfen    (steinzeitlich  ?)"       b)   „Frühmittel- 
alterliche Reste." 
119.  Phöbener  Berg.      „Frühmittelalterliche  Reste." 


120.  bis  122.  Kemnitz,  Kr.  Zauch-Belzig.  „An  drei 
verschiedenen  Stellen  ältere  und  frühmittel- 
alterliche Scherben." 

123.  Derwitz,  Kr.  Zauch-Belzig.     „Ähnliche  Seherben 

wie  117.     Ein  Scherben  mit  Zapfen." 

124.  Feldweg  Derwitz-Krielo w.    „Frühmittelalter- 

liche Reste." 

125.  bis  127.     Krielow,    Kr.   Zauch-Belzig.     a)    „Am 

Dorfgraben  zwischen  Gutshaus  und  Burgwall 
frühmittelalterliche  Scherben."  b)  „Feldweg 
nach  Schmergow,  frühmittelalterliche  Scherben." 
c)  Höhenland  zwischen  den  Chausseen  Krielow- 
Schmergow  und  Krielow-Deetz. 

128.  Deetz,     Kr.  Zauch-Belzig.       „Königsberg;    vor- 

geschichtliche und  frühmittelalterliche  Scherben 
weithin  zerstreut." 

129.  Trebelb  erg  bei  Schmergow  (Juli  1915).  „Knochen 

und  Tonscherben  in  einer  Abfallgrube;  schwarze 
Erde ;  Kulturschicht  auf  der  Bergspitze." 

130.  Acker  an  der  Chaussee  Götz-Deetz  (26.  Sept. 

1915).  „Brachland  auf  unterem  Sande  (nach  der 
geologischen  Karte).  Kulturreste  verschiedener 
Perioden." 

131.  Acker    an    der    Chaussee    Götz-Ziegelei 

(26.  Sept.  1915).  „Auf  oberem  Geschiebemergel 
am  hohen  Uferrande  bis  zur  Waldhöhe  liegen 
zahlreiche   Kulturreste  verschiedener  Perioden." 

132.  Mergelgrjiben  an  der  Bergstraße  bei  Götz 

(26.  Sept.  1915).  „Vorgeschichtliche  Scherben 
und  Lehmbrocken." 

133.  Hinter   dem   Feldwege   zum  Golmer  Berge 

(26.  Sept.  1915).  „Kartoffelfeld  auf  Talsand. 
Vorgeschichtliche  Scherben." 

134.  Östlich     von     Götz     in     den     Havelwiesen 

(2.  Juli  1915).  „Auf  kreisrunder  Fläche  von 
oberem  Geschiebemergel  mit  Durchbruch  von 
unterem  Sande  (geologische  Karte).  Darauf 
Weizen  und  Kartoffeln.  Viele  vorgeschichtliche 
und    unglasierte   frühmittelalterliche   Scherben." 

135.  Am  Nordrand   der   Kochschen   Lehm-    und 

Mergelgrube  (2.  Juli  1915).  „Viele  frühmittel- 
alterliche Scherben,  dazu  an  vier  Stellen  Brand- 
erde wie  bei  Buch ,  etwa  20  cm  dick ,  50  cm 
breit."  Zu  den  eingesandten  Scherben  gehört 
auch  ein  steinzeitlicher  mit  Bogenstichverzie- 
rung. 

136.  Sandgrube    bei    Götz    (Sept.  1915).      „Unterer 

Sand  (nach  der  geologischen  Karte),  der  an  einigen 
Stellen  von  breiten  Streifen  aus  Ton,  Mergel  oder 
stark  lehmigem  Sande  durchsetzt  ist.  Große  Bruch- 
stücke eines  bronzezeitlichen  Gefäßes  mit  Resten 
von  gebrannten  Knochen  . . .  Viele  gebrannte 
Knochen ;  zahlreiche  bronzezeitliche  Scherben. 
25cm  unter  dem  Bergplateau  eine  10cm 
starke  Kulturschicht,  die  fast  den  gan- 
zen Grubenrand  entlang  lief,  zum  Teil  aber 
bis  auf  75  cm  hinabstieg  .  . .  Bronzereste  . .  .  Auf 
der  Höhe  Bodenstücke  eines  vorgeschichtlichen 
Gefäßes ;  ein  anderes  Gefäßbruchstück  hatte  im 
Boden  noch  ein  Getreidekorn  (?)." 

137.  Götz.  „Vom  Dorfausgang  hinter  der  Kirche 
am  breiten  Wege  zum  Götzer  Berg  mit  Aussichts- 
turm bis  zum  Wald  und  Aufstieg  bnks.  Viele 
frühmittelalterliche,  glasierte  Scherben." 

Die  vou  Herrn  Schneider  in  der  Um- 
gebung von  Götz  mit  so  ausgezeichnetem  Er- 
folge   in    so    großer   Zahl    festgestellten    Fund- 


53 


stellen  geben  zu  der  Vermutung  Anlaß,  daß 
unter  Umständen  nicht  jede  Fundstelle  eine 
einstmals  für  sieh  bestehende  Siedelang  ist. 
Hier  wie  an  anderen  Stellen  muß  erwogen 
werdeu,  ob  die  vorgeschichtlichen  Kulturreste 
etwa  von  einer  Stelle  aus  überall  hin  verschleppt 
worden  sind.  Dabei  könnten  die  Merkel- 
gruben  eine  recht  erhebliche  Rolle  gespielt 
haben.  Die  Römer  berichten  uns  bekannt- 
lich schon,  daß  die  Ubier  das  Mergeln  der 
Äcker  von  den  Kelten  gelernt  haben.  Auch 
in  unseren  Gegenden  dürfte  diese  Methode  der 
Bodenverbesserung  und  -Verjüngung  sehr  alt 
sein;  sie  war  bis  in  die  siebziger  und  achtziger 
Jahre  des  abgelaufenen  Jahrhunderts  hinein  in 
der  Umgebung  Berlins  noch  üblich  und  ist 
ganz  auch  jetzt  noch  nicht  vergessen.  Zweck 
der  Mergelung  war,  die  durch  Verwitterung 
kalkarm  gewordenen  oberen  Schichten  des  Dilu- 
vialmergels immer  von  neuem  mit  Kalk  zu 
versorgen  und  so  den  Pflanzenwuchs  zu  fördern. 
Zu  diesem  Zwecke  wurden  die  unteren,  kalk- 
reichen Schichten  des  Diluvialmergels  freigelegt. 
Der  Mergel  wurde  auf  den  Acker  gefahren 
und  dort  auf  die  Oberfläche  gestreut.  Der  Er- 
folg ist  stets  ein  ausgezeichneter  gewesen.  An 
diese  Methode  der  Düngung  des  Ackerbodens 
erinnern  noch  die  zahlreichen  „Mergelgruben", 
die  wir  in  der  Umgebung  der  Dörfer  finden 
und  die  auf  den  geologischen  Karten  verzeichnet 
sind.  Das  Mergeln  war  eine  erfolgreiche,  aber 
auch  sehr  mühevolle  Arbeit.  Heute  sind  unsere 
Landleute  mehr  und  mehr  davon  abgekommen. 
Tierischer  und  künstlicher  Dünger  ist  an  die  Stelle 
des  Mergels  getreten.  Schnitt  einmal  eine  Mergel- 
grube eine  vorgeschichtliche  Siedelung  an,  so 
mußten  die  Scheiben,  die  sich  ja  in  ungezählten 
Mengen  in  alten  Wohnstätten  vorfinden,  über  die 
umliegenden  Äcker  weithin  zerstreut  werden. 
Vielleicht  erklärt  sich  auf  diese  oder  ähnliche 
Weise  noch  einmal  das  in  schier  unglaublicher 
Fülle  an  geradezu  zahllosen  Stellen  und  über  weit 
ausgedehnte  Flächen  zu  beobachtende  Auftreten 
namentlich  der  frühmittelalterlichen  Kulturreste. 
Gerade  aber  aus  diesen  Gründeu  ist  es  unbe- 
dingt notwendig,  zunächst  jede  Fundstelle  genau 
zu  verzeichnen.  Die  nähere  Untersuchung  wird 
dann  ergeben,  ob  es  sich  um  gesonderte,  für 
sich  bestehende  Siedelungen  handelt  oder  ob 
einzelne  Fundstellen  nur  Zeugen  einer  durch 
den  Ackerbau  oder  aus  irgend  welchen  anderen 
Gründen  erfolgten  Umlagerung  der  alten  Kultur- 
reste sind.  Dem  Rätsel  des  so  überaus  häufigen 
Vorkommens  frühmittelalterlicher  Siedelunsjs- 
reste  steht  kraß  gegenüber  die  Tatsache,  daß 
wir  mit  Grabfunden  aus  jener  Zeit  recht  wenig 


vertraut  sind.     Ein  großes  Arbeitsgebiet  ist  hier 
also  nach  zwei  Richtungen  hin  zu  beackern. 

Herr  Herbert  Lehmann-Berlin  hat  fol- 
gende Fundstellen  gemeldet  (April-Okt.  1915): 

138.  „Nördlich  vonPlaue  am  Ostufer  der  Havel  hinter 

dem  Walde  auf  dem  Acker  slavische  Scherben 
und  Eisengeräte." 

139.  „Auf  dem  Wege  von  Pritzerbe,   Kr.  Westhavel- 

land, zur  Ziegelei  zahlreiche  Scherben,  darunter 
ein  verzierter." 

140.  „Südlich    von    der    Kolonie    Gapel,    Kr.  West- 

havelland, auf  dem  Friedhof  vorgeschichtliche 
Scherben." 

141.  „Südlich    von     der    Ziegelei     (trigonometrischer 

Punkt  31)  liegt  ein  Burgwall.  Er  erhebt  sich 
3  m  über  Wiesen ;  zwei  Vorwälle.  Die  Erhebung 
ist  durchstochen  und  als  Sandgrube  benutzt. 
Es  fanden  sich  Scherben  mit  Strichverzieruncren, 
einer  mit  Rädchentechnik  und  Tierknochen." 
Also:  auch  germanische  Besiedelung  in  den  ersten 
Jahrhunderten  unserer  Zeitrechnung. 

142.  „Zwischen    dem    Burgwall   und    der    Ziegelei    be- 

findet sich  eine  flache  Erhebung  mit  Aufschluß. 
Zahlreiche  Feuersteinsplitter,  vereinzelt  unver- 
zierte  vorgeschichtliche  Scherben.  Ein  Scherben 
mit  Rädchentechnik."  Also  wieder  germanische 
Spuren  aus  den  ersten  Jahrhunderten. 

143.  Reckahn,  Kr.  Zauch-Belzig.     „Burgwall  »Duster 

Reckahn«.  Nordwestlich  vom  Wall  am  Weo-e 
zur  neuen  Mühle  wendische  und  frühmittel- 
alterliche Scherben  (trigonometrischer  Punkt  32). 
Beackert." 

144.  Hohennauen,  Kr.  Westhavelland.     „Burgwall  in 

der  großen  Lake.  Westlich  vom  Wall  Siede- 
lungsspuren.  In  einem  Aufschluß  fanden  sich 
Scherben  mit  Stichverzierungen,  ein  siebartig 
durchlochter  Gefäßrest,  Lehmbewurf  und  Tier- 
knochen." 

145.  Görne,    Kr.  Westhavellaud.       „Burgwall.       Auf- 

schluß mit  unverzierten  vorgeschichlichen  Scher- 
ben.    Lehmbewurf  (mit  Abdrücken)." 

146.  Bamme,  Kr.  Westhavelland.     „Aschen-  und  Holz- 

kohlenschicht; zerstörter  Wall.     Wendisch." 

Weiter  wurde  das  Märkische  Museum  in 
dankenswerterweise  auf  folgende  vorgeschicht- 
liche Siedelungen  aufmerksam  gemacht. 

147.  Rummelsburg  bei  Berlin.    „Frühmittelalterliche 

Siedelung  im  Garten  des  Arbeitshauses."  Herr 
Oberinspektor  M.  Schmidt  (1914). 

148.  Premnitz,    Kr.  Westhavelland.       „Pulverfabrik; 

Siedelung  der  Bronze-  und  La-Tenezeit."  Herr 
Pfarrer  Schmidt-Ketzin  (1913). 

149.  Rüdnitz-Bernau,      Kr.   Oberbarnim.         „Viele 

Scherben  und  Lehmstücke."  Herr  C.  Dom- 
h  r  o  w  s  k  y  -  Bernau. 

150.  Dubrow,     Kr.  Krossen.        „Hausstellen;     Lehm- 

klumpen; geschwärzte  Flecke."  Herr  Lehrer 
H.  Brüger-Dubrow. 

151.  Hermsdorf,  Kr.  Niederbarnim.    „Großes  bronze- 

zeitliehes  Dorf.  Dieselben  Beobachtungen  wie 
bei  Buch."  Herren  Ingenieur  J.  Lud  wig  (1910); 
Vorschullehrer  W.  Hunke  (1912);  Ingenieur 
W.  Tabbert  (1915). 

* 


54 


152.  Penzlin,   Kr.  Ostprignitz.     „Tiefe   schwarze  Ab- 

lagerung unter  der  Ackerkrume,  10  bis  15  m  im 
Quadrat.  Reste  von  Lehmwänden ;  Scherben." 
Herr    Ingenieur   H.  Voß- Charlottenburg  (1912). 

153.  Rhinow,  Kr.  Westliavelland  (Kietz).   „Frühmittel- 

alterlich ;  zahlreiche  Scherben ;  auch  wendisch." 
Herren  Lehrer  Rausch  und  Rektor  Alb  recht 
(1912  13). 

154.  Rohrwall      bei      Sohmöckwitz,      Kr.   Teltow. 

„Wendisch."     Herr  Direktor  P.  Bestgen  (1914). 

155.  Stolpe,     Kr.  Niederbarnim.      „An    der    Wiesen- 

niederung große  Mengen  von  Gefäßscherben." 
Rektor  Monke  (1912). 

156.  Im  Wentowsee  bei  Marienthal,    Kr.  Ruppin. 

Herr  Lehrer  Kriesen  (1!M4). 

157.  Tiefwerder,     Kr.   Osthavelland.       „Feuersteiu- 

splitter,  von  denen  einige  Spuren  von  Bearbei- 
tung verrieten.  Düne;  am  südwestlichen  Rande 
ein  stark  zurückgetretener  Arm  der  Havel;  deut- 
lich ist  noch  das  alte  Flußbett  zu  erkennen, 
/ahlreiche  Scherben."  Der  ausgezeichnete  Be- 
richt wird  durch  Zeichnungen  (Pläne  und  Profile) 
und  Photographien  veranschaulicht.  Herr  Stu- 
dent Alfred  Werner  (Riga)  1911. 

158.  Dahnsdorf  ,-Kr.  Zauch-Belzig.    „Scherben  in  der 

nördlichen  Grube  am  Wege  Komthurmühle- 
Dahnsdorf."  Herren  Primaner  K.  Hu  eck  (Juni 
1915);  Rektor  Troll  u.Oberlehrer  Dr.  Schneider. 

159.  Cöpenick,  Kr.  Teltow.      Am   Ufer  der    Dahme. 

„Siedelungsstelle;  Holzkohlenreste;  Stirnzapfen 
der  Ziege,  ovale  Grube;  Pflasterung."  Herr  stud. 
archäol.  Georg  Lechler. 
1G0.  Krummensee,  Kr.  Niederbarnitn. 
liehe  Funde;  Burg;  "Hofstelle«  oder 
Herr  Lehrer  Rohrsdorf  (1911). 

161.  Buschow,  Kr.  Osthavelland.     Herr  H.  Kirchner 

(1913). 

162.  Wilsnack,   Kr.  Westprignitz. 

liehe    Siedelung ;    zahlreiche 
H.  Wels-Friesack  (1913). 

163.  Hoppegarten,    Kr.  Niederbarnini.       „Siedeluug 

und  Gräber."     Herr  Horst  Steinert  (1914). 

164.  Rietz  bei  Brandenburg,  Kr.  Zauch-Belzig.    „Siede- 

lung."    Herr  Dr.  Stimming  (1913). 

165.  Mauskow,   Kr.  Uststernberg.      „Frühmittelalter- 

liche Siedelung."     Herr  Pastor  Martiny  (1913). 

166.  Britz,  Kr.  Teltow.  „Siedelung  und  Gräber."    Herr 

W.  Lehmann  (1913). 

167.  Lobetal,  Kr.  Niederbarnim.  „Steinherde,  Pfosten- 

löcher ;  zuweilen  Scherben."  Herr  Däbritz- 
Rüdnitz  (1914). 

168.  Rosental,  Kr.  Niederbarnim. 

169.  Marwitz.  Kr.  Osthavelland.     Dr.   Jahn  (August 

1910).     [Vgl.  Mannus  III,  S.  138]. 

Herr  Dr.  Bersu  war  so  freundlich,  vor  seiner 
Einberufung  zu  deu  Fahueu  dem  Märkischen 
Museum  noch  folgende  Siedeluugen  anzuzeigen 
(Dezember   1914): 

170.  Kliestow,    Kr.    Lebus.       „Slavische    Scherben; 

kleine  Befestigung." 

171.  Sandgrube.     „Kaiserzeitl.  Siedelung." 

172.  Birnbaumsmühle,  südlich  der  Bahn  von  Wer- 

big. „Vorslavische  Siedelung."  (Blatt  Frank- 
furt a.  0.). 


,Mittelalter- 
■alter  Hof«." 


„Frühmittelalter- 
Scherben."       Herr 


173.  Boossen,  Kr.  Lebus.      „Vorslavische  Siedelung." 

(Blatt  Boossen). 

174.  Brückmühle.     „Vorslavische  Siedelung." 

175.  Brückmühle,     nördlich    davon.       „Vorslavische 

Siedeluug." 

176.  Westlich  vom  Badeplatz.      „Slavische  Siedelung." 

177.  Sandgrube   bei  Höhe  52,7.      „Vorslavische  Siede- 

lung." 

178.  Hohlweg  nördlich  der  Abdeckerei.     „Vorslavische 

Scherben." 

179.  Lebus,  Fußweg  von  der  Abdeckerei  nach  Klessin. 

„Vorslavische  Scherben  auf  dem  Acker  (Siede- 
lung)." 

180.  Klessin,  Kr.  Lebus.      „In  den  Gärten  des  Gutes 

Klessin  slavische  Scherben  (Siedelung)." 

181.  Burgwall,     2km    östlich    Lebus.       „Hügel    mit 

Steinzeitscherben." 

182.  Brieskow,  Kr.  Lebus.     „Weinberg  500  nördlich 

von  Brieskow ;  Lausitzer  Scherben  (wohl  das  von 
Bekmann  erwähnte  Gräberfeld)." 

183.  Reipzig,  Kr.  Weststernberg.    „In  der  Sandgrube 

500  m  östlich  vorslavische  Siedelung." 

184.  Madlitzer    Fischerhütte.       „Slavische    Siede- 

lung, vom  Fußweg  angeschnitten." 

185.  Buckow,    Kr.  Lebus.      „Vorgeschichtliche  Siede- 

lung."    Herr  Paul  Strauch  (Juli  1915). 

186.  Alt-Landsberg,  Kr.  Niederbarnim.  „Frühmittel- 

alterliche Scherben ;  Lehmbrocken  mit  Stroh- 
abdrücken wie  bei  Niedergörsdorf."  (Vgl.  Nr. 25). 

187.  Ahrensfelde,  Kr.  Niederbarnim.  „Am  Friedhofs- 

gelände ;  Kiesgrube;  zwei  Pfostenlöcher  mit  tief- 
schwarzem Inhalt."  Nr.  186  u.  187  gefunden 
vom  Museumshandwerker  Herrn  Cumbrowsky 
(1914). 

Wie  freudig  jede  Anregung  aufgenommen 
wird  und  wie  fruchtbar  unter  Umständen  einige 
Hinweise  werden  köuuen,  dafür  nun  ein  letztes 
Beispiel.  Gelegentlich  einer  Vortragsreihe  über 
„Märkische  Vorgeschichte",  im  Winter  1912/13 
vom  Lehrerverein  zu  Brandenburg  a.  H.  ver- 
anstaltet, hatte  ich  im  Anschluß  an  meine  Aus- 
führungen über  das  Gräberfeld  von  Breddin 
auf  die  große  Wichtigkeit  der  Flurnamen 
und  der  an  bestimmte  Örtlichkeiteu  anknüpfenden 
Sagen,  Legenden  und  Spukgeschichten 
für  vorgeschichtliche  Forschung  hingewiesen 
und  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  Flur- 
namen und  „alte  Geschichten"  gesammelt 
werden  müßten.  Kurze  Zeit  darauf  erhielt  ich 
von  Herrn  Lehrer  Hein  atz  in  Prützke  bei 
Brandenburg  einige  Kisten  mit  Scherben  zu- 
gesandt und  dazu  einen  ausführlichen  Bericht 
mit  Angabe  einer  Reihe  von  Flurnamen  aus 
der  Umgebung  von  Prützke  (Kietzhügel,  das 
alte  Dorf,  Haininge  und  Haiuholz,  das  heilige 
Land,  Burung,  Rapstücken),  von  denen  jeder 
eiuzelue  Name  schon  von  Bedeutung  ist.  Vor 
allem  aber  knüpfen  sich  an  einige  dieser  Stellen 
ganze    Sagenreihen ,    die    uns    eine    Fülle    von 


55 


Anhaltspunkten  geben  können  für  vorgeschicht- 
liche Besiedelung  (Untergang  des  Dorfes  Görn 
und  Entstehung  des  Görusees;  Frau  Harke  und 
die  Entstehung  des  Holzberges;  Mord-  und 
Sühnekreuz  sowie  Steinhügel  auf  dem  Holz- 
berge ;  Sage  von  Owera  Krug).  Die  Funde 
stammen : 

188.  vom  Holzberg; 

189.  vom     Görnberg     (Brandstelle,     Lehm, 

Scherben,  Knochen,  Spinnwirtel); 

190.  vom  „alten  Dorf"; 

191.  von  den  „Rap8tücken"  ; 

192.  von  der  Flur  „Burung". 

Hier  der  beste  Beweis,  was  noch  geleistet 
werden  muß  aber  auch,  was  noch  geleistet 
werden  kann.  Es  ist  allerdings  beinahe  die 
letzte  Stunde.  Die  Spukgeschichten  verschwin- 
den immer  mehr,  auch  auf  den  Dörfern.  Flur- 
namen werden  wenigstens  oftmals  durch  die 
Separationsrezesse  erhalten. 

Ganz  zum  Schluß  nun  noch  eine  Warnung  vor 
blindem  Eifer  und  eine  Mahnung  zur  Vorsicht 
und  zu  einer  kaltblütigen  Beurteilung  der  Fund- 
verhältnisse. Durch  Baumlöcher  wird  sieh  nach 
meinen  Ausführungen  in  der  Prähistorischen 
Zeitschrift  (V,  1913,  S.  352)  niemand  mehr  irre- 
führen lassen.  Die  bei  alten  Siedelungen  aus 
der  Kulterschicht  in  den  gewachsenen  Boden  ein- 
schneidenden Gruben,  die  ich  oben  als  eines  der 
besten  Merkmale  einer  vorgeschichtlichen  Wohn- 
stätte angegeben  habe,  können  aber  von  Unkun- 
digen unter  Umständen  auch  da  gesehen  werden, 
wo  sie  nicht  vorhanden  sind.  Sie  zeigen 
nämlich  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  sack- 
artig nach  unten  führenden  Ausbuchtungen 
an  der  unteren  Verwitterungsgrenze  des 
Geschiebemergels.  In  den  meisten  Fällen 
ist  der  diese  Ausbuchtungen  ausfüllende  „san- 
dige Lehm"  mit  seiner  gelblichen  Färbung 
dunkler  als  der  kalkhaltige  und  darum  hellere, 
mit  weißen  Adern  durchzogene  Geschiebe- 
mergel. Ein  Blick  auf  das  in  den  „Erläute- 
rungen" zu  den  geologischen  Karten  oftmals 
wiedergegebeue  Profil  des  Geschiebemergels 
(z.  B.  Gradabt.  45,  Nr.  26,  S.  5)  zeigt  schon  die 
äußere  Ähnlichkeit  mit  dem  „Bucher  Profil". 
In  zweifelhaften  Fällen  entscheidet .  ja  ohne 
weiteres  der  Inhalt  der  Gruben.  Falls  aber 
weder  Brand-  noch  Kulturreste  in  einer  Grube 
vorkommen ,  dürfte  es  nicht  immer  leicht  sein, 
festzustellen,  ob  es  sich  um  vorgeschicht- 
liche oder  um  erdgeschichtliche  Spuren 
handelt.  Beim  Profil  von  Klößnitz  bei  Cüstrin 
wagte  auch  ich  nicht  immer  auf  den  ersten 
Blick  bei  jeder  einzelnen  der  sich  ganz  schwach 


abhebenden  Gruben  mit  Bestimmtheit  zu  sagen, 
ob  sie  eine  Lehmausbuchtung  ist  oder  ob  sie 
der  ältesten  Gruppe  der  vorgeschichtlichen 
Siedelungsspuren  angehört.  An  der  nur  in 
Schwarzweiß  gehaltenen  Abbildung  in  der  Zeit- 
schrift für  Ethnologie  1914,  S.  887,  Abb.  7  ist 
das  übrigens  bei  weitem  nicht  so  uiit  zu  er- 
kennen wie  an  der  von  Herrn  Maler  Wehrens 
farbig  dargestellten  Originalzeichnung  im  Mär- 
kischen Museum. 

Wir  sehen,  daß  wir  unser  Auge  nach  jeder 
Richtung  hin  schärfen  müssen ,  um  es  auf  die 
feinsten  Unterscheidungsmerkmale  der  Boden- 
und  Siedelungsspuren  einstellen  zu  können. 

Wir  haben  schon  einiges  erreicht,  aber  wir 
stehen  erst  am  Anfang.  Ich  biu  vielleicht  der 
letzte,  der  alle  noch  vorhandenen  Schwierig- 
keiten übersieht.  Und  wenn  ich  hier  eine  so 
große  Zahl  von  vorgeschichtlichen  Wohnplätzen 
in  der  Mark  verzeichnen  konnte,  so  bin  ich 
mir  selber  vollkommen  darüber  klar,  welche 
Arbeit  noch  geleistet  werden  muß,  um  nur  alle 
an  diese  Wohnplätze  sich  knüpfenden  Fragen, 
namentlich  in  ethnologischer  Hinsicht  zu  beant- 
worten. 

Immerhin:  Seit  der  Entdeckung  und 
Ausgrabung  des  bronzezeitlicheu  Dorfes 
bei  Buch,  also  seit  1910,  stehen  wir  all 
diesen  Fragen  anders  gegenüber  als 
früher.     Hilflos  sind  wir  nicht  mehr. 

Wenn  wir  seit  1910  nunmehr  192  vorge- 
schichtliche Siedelungen  finden  konnten ,  so  ist 
das  ein  erfreulicher  Erfolg.  Selbst  wenn  sich 
herausstellen  sollte,  daß  an  einigen  Stellen  zwei 
oder  mehrere  Fundplätze  zu  derselben  Wohu- 
stätte  gehören,  so  bleiben  doch  mindestens  180 
übrig.  Dieser  Erfolg  war  nur  möglich 
durch  die  Mitarbeit  vieler  und  eifriger 
Forscher  und  Altertumsfreunde.  Hoffent- 
lich erfreue  ich  mich  dieser  regen  Mitarbeit  auch 
in  Zukunft,  dann  werden  weitere  Erfolge  nicht 
ausbleiben.  Der  Weg  dazu  ist  ja  gegeben  durch 
die  „Siedelungsarchäologischen  Übungen 
und  Studien  im  Märkischen  Museum". 

Durch  das  freundliche  Entgegenkommen  und 
die  Unterstützung  der  Direktion  des  Märkischen 
Museums  und  vor  allem  ihres  Vorsitzenden,  des 
Herrn  Bürgermeister  Geheimen  Regierungsrat 
Dr.  Reicke,  ist  es  mir  möglich  geworden,  einen 
großen  Teil  der  oben  genannten  Mitarbeiter 
und  einige  andere  Altertumsfreunde  zu  einem 
Kreise  zusammenzuschließen,  der  in  regelmäßigen 
Sitzungen  im  Märkischen  Museum  zu  gemein- 
samer Arbeit  zusammentritt.  Erfolgreiche  und 
durch     wertvolle     Veröffentlichumren     bewährte 


56 


Forscher,  Hörer  meiner  Vorlesungen  in  der 
„Freien  Hochschule",  diu  sich  seit  Jahren  durch 
eifriges  Studium  mit  dem  Stoffe  vertraut  ge- 
macht haben,  Teilnehmer  an  den  von  der  Stadt 
Berlin  veranstalteten,  von  mir  geleiteten  Lehrer- 
kursen hallen  sich,  nach  jeder  Richtung  hin 
gut  vorgebildet,  zusammengefunden.  Wer 
echterweise  die  Tätigkeit  dieses  Kreises 
von  Altertumsfreunden  und  -forschem  nach  den 
oben  verzeichneten  Krachten  beurteilt,  die  vor 
dem  Zusammenschluß  gezeitigt  wurden,  darf 
gute  und  die  Wissenschaft  fördernde  Ergeb- 
nisse erhoffen.  Ich  betrachte  diese  Einrichtung 
als  einen  wesentlichen  Schritt  zur  Erfüllung 
meiner  Forderung,   daß   alle   vorgeschichtlichen 


Museen     Forschungsinstitute     im     besten 
Sinne  des  Wortes  werden  müssen1). 

In  den  Monatsblättern  der  „Brandenburgia" 
(1915,  S.  117  bis  120)  habe  ich  in  einem  kurzen 
Artikel  „Zur  Einführung"  über  die  „Siede- 
1  u  n  g  s  a r  c  h  ä  o  1  o  g  i  s  c  h  e  n  Übungen  und 
Studien  im  Märkischen  Museum"  ausführ- 
licher gesprochen.  Heute  ist  mir  schon  die  Ge- 
wißheit gegeben,  daß  sich  der  Versuch  bewährt, 
und  ich  kann  nur  empfehlen,  daß  andere  Museen 
ähnliche  Weere  einschlagen. 


*)  Korr.-Bl.  1914,  S.  61  ff.  und  „Museumskunde", 
herausgegeben  von  Kötschau  1916,  Heft  1:  „Auf- 
gabe und  Einrichtung  der  vorgeschichtlichen 
Sammlungen". 


Der  Anteil  des  Slavischen  im  Rumänischen. 

Von  Dr.  Emil  Fischer  (Bukarest). 

Motto:  „.  .  .  nur  die  Volkssprache  ist  wirküch  national  und  wenn 
sie  noch  so  viele  slavische  Wörter  enthält  ;  die  Kunstsprache ,  und 
wenn  sie  noch  so  viel  slavische  Wörter  durch  lateinische  ersetzt,  ist 
nur  für  ein  paar   gelehrte  Köpfe  verstandlich  ,   sie    ist   pseudonational. u 

T  1 1  us  Maiorescu. 
(Rede    Prof.  Mey  er-Lübke'B  bei  der  T.  MaioreBCu- Feier    der  Wiener 
„Romänia  Junä",  28.  Februar  bis  1.  März  1910.) 


Die  vorliegende  Untersuchung  befaßt  sich 
nur  mit  der  „Volkssprache",  die  von  den 
6  Millionen  Bauern  des  Königreichs  gesprochen 
wird,  so  „wie  ihnen  der  Schnabel  gewachsen 
ist".  Die  Städter  —  etwa  1300  000  Köpfe,  dar- 
unter 46  Proz.  Fremde  -  -  verwenden  für  die 
Mode,  Theater,  Wissenschaften,  Rechtsprechung, 
Militärwesen,  Kunst,  Gewerbe  usw.  einen  kürz- 
lich (mit  Hilfe  des  Französischen  und  Italie- 
nischen) geschaffenen  Jargon,  der  selbst  nach 
dem  Urteil  des  national-heißblütigen  Historikers, 
N.  Jorga,  nur  oberflächlich  mit  „zorzoane 
francese",  d.  h.  mit  französischem  Flitter,  heraus- 
geputzt wurde.  J.  Rad u lesen  bricht  in  der 
„Ehrengabe  an  T.  Maiorescu"  (Omagiu  lui 
T.  Maiorescu,  pag.  461)  vollends  den  Stab  über 
sie:  „Nimm  welche  rumänische  Zeitung  immer 
in  die  Hand,  ein  Schulbuch,  eine  militärische 
Dienstordnung,  ein  Gesetz,  ein  ministerielles 
Umlauf  schreiben ,  eine  kirchliche  Rundschau; 
hör'  die  Reden  auf  den  Gerichten  und  in  den 
gesetzgebenden  Körperschaften,  die  Vorträge 
auf  der  Hochschule,  und  du  wirst  gewahr  werden, 
welcher  sprachliche  W'echselbalg  von  den  meisten 
gebildeten  Menschen  in  Rumänien  seit  30  bis 
40  Jahren  geschrieben  und  gesprochen  wird, 
eine  buntscheckige,  rohe  (barbarische),  ent- 
artete   Sprache,    ohne   Mark,    ohne   eigenen 


volkstümlichen  Sinn  und  Zug  —  eine  überstürzte, 
aus  Frankreich  eingeschmuggelte  Sprache,  in 
aller  Eile  behangeu  (dem  Schein  zuliebe)  mit 
rumänischen  Fähnchen,  mit  ein  Paar  lächerlichen 
Lappen:  daß  Gott  erbarm'...".  Ilarie  Chendi 
sagt  zu  diesem  Urteil:  „strenge,  aber  durchaus 
gerechtfertigt". 

Mit  dieser  „Boulevard-  oder  Boudoir- 
sprache" werden  wir  uns  also  nicht  weiter 
abgeben.  — 

Der  Volkssprache  habe  ich  seit  33  Jah- 
ren eingehende  Studien  gewidmet.  In  dem 
rumänisch  -  deutschen  Wörterbuch  von 
L.  Saiueauü  (Bucuresti,  Socecü  &  Cie-,  1889) 
habe  ich,  die  Entlehnungen  betreffend,  folgende 
Zählungen  vorgenommen: 

Lateiu 2509  Schlagworte, 

Slavisch 2284 

Türkisch 833  Vokabeln  *), 

Magyarisch 342  „ 

Griechisch 1358  „ 

Unerklärter  Herkunft  .  1485        .     „ 

Nur  nebenbei  sei  erwähnt,  daß  Professor 
S.  Mändrescu  (Germanist  an  der  Universität 
in  Bukarest)  fast  1000  deutsche  Lehnwörter 


J)  L.  Saineanuü   führt   in   seinen   „Elemente   tur- 
cesti  usw."  1445  Vokabeln  auf. 


57 


im  Rumänischen  aufgezählt  hat,  die  wir  aber 
hier  vernachlässigen  dürfen,  weil  sie  erst  in  aller- 
jüngster  Zeit  in  den  Sprachschatz  eingedrungen 
und  fast  ausnahmslos  gewerblichen  Ur- 
sprungs sind,  für  die  Beantwortung  der  Her- 
kunftsfrage  der  Rumänen  also  ohne  Belang 
bleiben. 

Entscheidend  für  die  Herkunft  der  Ru- 
mänen sind,  wie  ich  schon  des  öfteren  nach- 
gewiesen habe,  die  Sexualtermini,  die  Fisch- 
namen1), die  Berg-,  Fluß-,  Orts-  und 
Flurnamen  der  vou  ihnen  (nördlich  und  südlich 
der  Donau)  bewohnten  Gebiete,  ihre  Tauf-  und 
Familiennamen,  die  Benennungen  der 
Körperteile,  der  Haustiere2)  (namentlich 
auch  ihre  Kose-  und  Schimpfnamen),  der  bäuer- 
lichen Meteorologie,  die  Benennungen 
der  Krankheiten  und  endlich  der  hydro- 
graphischen Nomenklatur  (z.  B.  Strom,  See, 
Teich,  Insel,  Ufer,  Sumpf,  die  vielerlei  Be- 
nennungen für  Flußarme  u.  dgl.).  — 

Für  die  „patriotischen"  rumänischen  Ge- 
lehrten steht  die  lateinische  Herkunft  der 
Rumänen  felsenfest,  für  sie  haben  alle  histo- 
rischen und  sprachlichen  Untersuchungen,  die 
zum  mindesten  ein  Mischvolk  nachweisen,  gar 
keine  Bedeutung.  Für  sie  hat  Trajan:  das  alte 
Dacien  erobert  und  durch  seine  Legionen  und 
durch  seine  Kolonisten  kurz  und  gut  „römisch" 
gemacht,  und  zwar  für  alle  Zukunft.  Und  damit: 
Basta !  Daß  gerade  Trajan  es  war,  der  die 
Auswanderung  aus  Italien  uuter  den  strengsten 
Strafen  verbot3),  da  der  italische  Bauernstand 
schon  seit  Sullas  spanischen  Kriegen  arg  zu- 
sammenzuschmelzen begonnen  hatte4),  das  ficht 


*)  Vgl.  Fauna  ichtiologicä  a  Romäniei"  de  Dr. 
Gr.  Antipa,  (Bucuresti,  C.  Göbl,  1909).  Derselbe  Ge- 
lehrte hat  ein  großes  "Werk  über  die  rumänische 
Fischerei  in  Vorbereitung,  das  noch  heuer  erscheinen 
soll.  Es  bietet  eine  ungemein  große  Zahl  von  Be- 
nenuungen  der  verschiedenartigsten  Fanggeräte  und 
Fangarten  in  dem  Betriebe  der  Fischerei.  —  J.  Aurel 
Candrea  „Straturi  de  culturä  si  straturi  de  linibä". 
Bucaressti,  1914.  Oandrea  macht  in  seiner  Schrift 
auch  darauf  aufmerksam ,  daß  alle  Fische  nicht 
lateinisch  benannt  sind  und  bemerkt  (S.  16  Anm.), 
daß  ich  der  erste  war,  der  diesen  auffälligen  Zustand 
bemerkt  hat. 

ä)  Hier  könnten,  wenn  es  nicht  doch  zu  weit  führen 
würde,  auch  die  Namen  der  in  Rumänien  vorkommenden 
Vögel  angeführt  werden,  wie  sie  in  der  „Ornjs 
Romaniae"  (Die  Vogehvelt  Rumäniens)  von  Rob. 
v.  Dombroski  (Bukarest,  Staatsdruckerei,  1912)  ver- 
zeichnet sind,  und  zum  Vergleich  die  bulgarischen  Vogel- 
namen in  dem  Werk  Dr.  E.  Klein's  „IIAHIII  IITIIHI1" 
(Unsere  Vögel)  (Sofia,  J.  Kadela,  1909.) 

3)  Vgl.  die   betreffende  Nachricht  des   Capitolinus. 

4)  Vgl.  die  von  Grenfell  und  Hunten  in  Oxy- 
rhynchos  in  Ägypten  aufgefundene  und  veröffentlichte 
Liviusepitome  (Bücher  48 — 55,  Zeitraum  150 — 137 
v.  Chr.),  die  die  Entvölkerung  Italiens  schon  auf  die 
Kriege  Sullas  zurückführt. 


die  Verfechter  der  Latinität  der  Rumänen 
nicht  im  mindesten  an,  auch  das  nicht,  daß 
die  „Fasten  der  Provinz  Dacia"  (Beamten- 
listeu)  nur  ab  und  zu  einen  italischen  Legaten 
oder  höheren  Beamten,  unter  den  Legionen 
und  Hilfsvölkern  aber  keine  einzigen  ita- 
lischen —  woblaber  britannische,  mauretanische, 
kleinasiatische  usw.  Völkerschaften  erwähnen. 
Die  Kolonisten,  die  „ex  toto  orbe  Romano" 
in  der  „Dacia  felix"  zusammengelaufen  waren, 
waren  guteuteils  Syrer  und  Griechen,  aber  keine 
„Römer",  ja  nicht  einmal  Italiker. 

Und  dann  dauerte  die  Römerherrschaft  in 
der  Dacia  Trajana  überhaupt  nur  150  Jahre, 
und  in  so  kurzer  Zeit  wird  bei  einem  so  wider- 
haarigen Element,  wie  es  die  Daker  waren  — 
mau  denke  nur  an  ihre  immerwährenden  Auf- 
stände —  kein  neues  Volkstum  und  kein  neuer 
Dialekt  geschaffen.  Und  dann  brach  die  Völker- 
wanderung ein. 

Den  nördlichen  thrakischen  Völkern  an- 
gehörend, hatten  die  Daker,  wie  Herodot  be- 
richtet, manches  an  sich,  was  an  eine  Verwandt- 
schaft mit  den  benachbarten  Slaven 
(Anten,  Bastarner,  Karper)  denken  läßt,  nämlich 
die  Einrichtung  der  sogenannten  Zadruga  (Groß- 
familie), ferner  die  Sprache:  z.  B.  Dierna, 
Tierna  =  slav.  Cerna,  Berzovia,  Berzava  =  slav. 
der  „raschfließende"  (Fluß);  auch  der  damalige 
(illyrische)  Markt  =  Trg  (Tergeste)  =  slav. 
Trügü,  das  heutige  Triest  gehört  sicherlich 
hierher.  Endlich  berichtet  Strabon  (VII,  cap.  5) 
von  einer  thrakischen  Völkerschaft  in  Dalmatieu, 
daß  es  den  (slav.)  Mir  ausübte.  Alle  acht  Jahre 
wurden  dort  die  Ländereien  an  die  Bebauer 
von  neuem  verteilt. 

Es  läßt  sich  aber  auch  noch  etwas  anderes 
wahrscheinlich  machen,  nämlich  eine  viel  frühere 
Südwanderung  der  Slaven  nach  dem  Balkan 
hin,  als  die  offizielle  Geschichtswissenschaft  es 
einstweilen  noch  zugeben  mag.  Die  Slaven  sollen 
etwa  um  das  Jahr  600  die  Donau  überschritten 
haben.  Vorher  waren  sie  die  Heloten  der  Avaren 
gewesen  J).  Nun  sind  uns  iu  den  alten  Autoren 
(vor  Christi  Geburt)  zahlreiche  Vokabeln  auf- 
bewahrt —  geographische  und  Völkernamen  und 
sonstige  Wörter  — ,  die  sich  auf  den  Balkan 
und  auf  Kleinasien  beziehen,  die  auffällige  „sla- 
vische  Anklänge"  haben.  Allerdings  mag  dabei 
auch  die  indogermanische  Sprachverwandtschaft 


l)  Das  Magyarische  hat  mehr  als  1 000  slavische  Lehn- 
worte (Simonyi  „Die  ungarische  Sprache".  Straßburg, 
1907.)  Fr.  Müller  (Grundriß.  I.,  S.  59)  meint  sogar, 
daß  es  zu  einem  Drittel  slavische  Elemente  aufgenommen 
habe. 

8 


58 


ihren  Anteil  besitzen.  Man  denke  dabei  nur 
an  P.  Papahagis  „Parallele  Ausdrücke  und 
Redensarten  im  Rumänischen,  Albanischen, 
Neugriechischen    und    Bulgarischen"     (Leipzig, 

.1.  Ambr.  Barth,  1908),  wo  für  unsere  moderne 
Zeit  451  ganz  auffälliger  Übereinstimmungen  der 

„inneren  Sprachform"  abgehandelt  werden1). 
I  ml  dabei  hat  mir  P.  Papahagi  die  Versiche- 
rung gegeben,  daß  er  mit  Leichtigkeit  das 
Doppelte,  ja  das  Dreifache  an  Übereinstim- 
mungen hätte  geben  können.  — 

Es  müssen  demnach  die  Slaven  entweder 
früher,  als  bis  noch  angenommen  wird,  die 
Donau  überschritten  haben,  oder  es  müssen  ge- 
wisse verwandtschaftliche  Beziehungen  —  auch 
sprachliche  —  zwischen  den  Slaven  und  den 
angrenzenden  „Thrakern"  bestanden  haben,  auf 
die  wir  nach  und  nach  aufmerksam  werden. 

Es  wird  gut  sein,  diese  entfernte  slavisehe 
Verwandtschaft  im  Auge  zu  behalten. 

Daß  aber  daneben  auch  eine  gewisse  An- 
näherang an  die  südwestlich  abgewanderten 
„Lateiner"  bestanden  haben  muß,  darauf  hat 
neuerdings  auch  N.  Densusianü  in  seinen 
„arimischen"  Studien  aufmerksam  gemacht2). 
(Die  Nachfolger  jener  „Arimier"  sind  die 
heutigen  macedovlach.  Armunen.  Densusianü 
nennt  sie  in  seinem  Enthusiasmus  auch  „Proto- 
lateiuer".) 

Jedenfalls  gelang  die  „lateinische"  Beein- 
flussung der  balkanischen  Thraken  und  Illyrier 
den  Römern  besser  —  sie  dauerte  auch  minde- 
stens 600  Jahre  —  als  den  Dakern  gegenüber. 
Ich  habe  mich  darüber  in  meiner  „Herkunft 
der  Rumänen"  (Bamberg  1904)  ausführlich 
geäußert. 

Es  steht  also  außer  allem  Zweifel,  daß  die 
römische  Verwaltung  auf  dem  Balkan  zur  Bildung 
des  neuen  Volkselemeuts  der  Thrakoromanen 
geführt  hat.  Aus  diesen  ist  dann  in  Verbindung 
mit  den  Slaven  das  Vlachentum  entstanden. 
Thrakoromanen  -4-  Slaven  =  Vlachen. 

Die  „Wiege"  der  walachischen  oder  rumä- 
nischen Sprache  ist  zweifellos  auf  dem  Balkan 
zu  suchen.  C.  Jirceck  und  ich  halten  die 
Gegend  um  Kossovopolje  (Amselfeld)  dafür 3). 
Vom  Balkan   sind  die   vlachischen  Wander- 


s)  Auch  P.  Hasden  hat  auf  den  albanesischen 
Einfluß  im  Rumänischen  nachdrücklich  aufmerksam  ge- 
macht. Er  meint,  daß,  wollte  man  das  Alhanesische 
daraus  entfernen,  der  ganze  rumänische  Sprachbau  zu- 
sammenstürzen müßte. 

2)  Vgl.  dazu  meine  Arbeit  „Die  Thrako-Illy  rier 
und  die  Arimier"  im  Korrespondenzblatt.  Hermanu- 
Stadt,    1914.    Heft  8—9. 

3)  Alles  Nähere  darüber  in  meiner  „Herkunft  der 
Rumänen". 


hirten  ]),  wie  F.  Sulzer,  Thunmann,  v.  Engel 
und  R.  Rösler  ausgeführt  haben,  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  nordwärts,  in  die  Karpathenländer, 
gelangt.  Dieser  „Wandertheorie",  die  anfangs 
von  den  rumänischen  Gelehrten  zum  Teil  wütend 
bekämpft  wurde,  widersetzen  sich  heute  nur 
noch  wenige  Forscher.  N.  Jorga  hat  in  der 
Akademie  und  im  offenen  Parlament  sich  offen 
zur  „thrakischen  Grundlage"  im  Rumä- 
nischen bekannt,  und  O.  Densusianü  gibt  [in 
„Pastoritul  la  popoarole  romanice"  (Hirtenleben 
bei  den  romanischen  Völkern)  1913,  S.  28]  ohne 
weiteres  zu,  daß:  „wir  (die  Rumänen)  schön 
allmählich  unser  Gebiet  erweitert  und  in  fremde 

Länder  ausgeschwärmt  sind Ohne  diese  Kraft 

der  Ausbreitung  wäre  die  Moldau,  zusammen 
mit  Bessarabien,  ja  selbst  der  größte  Teil  der 
Muntenia  (der  gebirgige  Teil  der  Walachei), 
die  ehedem  von  anderen  fremden  Völkern  be- 
wohnt waren,  niemals  rumänische  Erde  a:e- 
worden"2).  In  seiner  neuesten  Arbeit  „Graiul 
din  Tara  Hetegului"  (Die  Hatzeger  Mundart), 
Bucuresti,  Socecü  &  C^,  1915,  erwTähut  er  (S.  14) 
die  dortige  Gewohnheit  der  Rumänen,  sich  einen 
Familien-Schutzheiligen  zu  wählen,  gerade 
so  wie  es  die  Serben  auch  tun  („Slava").  Die 
Familie  heißt  bei  den  Hatzeger  Rumänen  farä 
(alban.  fara,  bulg.  fara),  wozu  O.  Densusianü 
bemerkt  (S.  60 — 61),  daß  dieser  Ausdruck  jeden- 
falls durch  armumsche  Wanderhirten  zugetragen 
worden  sei. 

Die  „Toponimia"  (Berg-,  Flur-  und  Fluß- 
namen), die  Tauf-  und  Familiennamen  jener 
Gegend,  „enthalte  einen  ansehnlichen  Anteil  von 
slavischen  Elementen,  und  er  war  hier  ebeuso 
zahlreich  wie  anderwärts  in  unserem  Gebiet. . . 
Andererseits  war  auch  das  rumänische  Element 
in  diesen  Landesteileu  weniger  zahlreich,  und 
die  Namen  der  Dörfer  zeigen  uns,  daß  wir  uns 
hier  mit  nach  und  nach  und  verhältnismäßig 
spät  niedergelassen  haben8)."  (S.  72)  „Aus  den 
toponymischen  Untersuchungen  geht  hervor,  daß 
in  der  Hatzeger  Gegend  zahlreiche  Slaven  gelebt 
haben  und  daß  sowohl  die  einen  wie  die  anderen 
(Slaven    und    Rumänen    Dr.  E.  F.)    das    volks- 


1)  Vgl.  meine  „Alpen-  oder  Hirtensprache", 
Korrespondenzblatt.  Hamburg  1915,  Heft  1,  worin  über 
die  rumänischen  W'anderhirten  ausführlich  abgehandelt 
wird. 

-)  Auch  Prof.  S.  Puscariu  („Zur  Rekonstruktion 
des  Urrumänischen")  1910,  S.  28)  gibt  zu,  daß:  „.  .  .  die 
Rumänen  selbst  im  späten  Mittelalter  nicht  so  weit 
nach  Osten  reichten,  wie  heute." 

3)  Dieses  Zugeständnis  ist  um  so  bemerkenswerter, 
als  gerade  hier,  im  sin  [westlichen  Siebenbürgen,  die 
früheste  und  lebhafteste  Zuwanderung  vom  Balkan  her, 
stattgefunden  haben  muß. 


59 


bildende  Element  in  dieser  Ecke  Siebenbürgens 
waren." 

Man  darf  hinzufügen:  nicht  nur  in  dieser 
Ecke, sonderniing  an  zenKarpathen  gebiet. 

Iu  meiner  Untersuchung  der  Berguamen 
Siebenbürgens  (Jahrb.  d.  Siebenb.  Karpathen- 
vereins.  Hermannstadt  1904),  ferner  in  meiner 
Arbeit  über  „Das  alte  Burzenland  und  seine 
Besiedelung"  (Sachs.  Hausfreund.  Kronstadt 
1914/15)  bin  ich  früher  und  unabhängig  von 
O.  Densusianü,  zu  demselben  Ergebnis  gelaugt, 
zur  Bestätigung  der  Mitteilung  des  Ano- 
nymus Belae  Notarius1),  daß:  zur  Zeit  der 
Eroberung  Siebenbürgens  durch  Stephan  d. 
Heil,  (also  bald  nach  dem  Jahre  10ÜÜ)  das  Land 
noch  zusainen  mit  den  „Blassii  et  Slavi" 
(Blacci  =  Vlachen)  bewohnt  war.  R.  Rösler 
hat  mit  einem  großen  gelehrten  Aufwand  dem 
„Anonymus"  die  Glaubwürdigkeit  absprechen 
wollen.  Die  Ergebnisse  der  jüngsten  Unter- 
suchungen haben  jedoch  dem  Anonymus  Recht 
gegeben.  Rösler  war  nicht  im  Besitze  unserer 
anthropologischen,  ethnographischen,  prähisto- 
rischen2), archäologischen,  sprachwissenschaft- 
lichen und  rein  geschichtlichen  Forschungsergeb- 
nisse uud  hat  deshalb  befangen  urteilen  müssen. 
Dadurch  ist  aber  zugleich  erwiesen,  daß  wir 
auf  anderen  Wegen  zur  Beantwortung  der 
Herkunftsfrage  der  Rumänen  gelangt  sind 
und  deshalb  mit  Unrecht  „Röslerianer"  genannt 
und  damit  abgetan  werden  sollen. 

Die  Rumänen  sind  also,  gerade  in  Sieben- 
bürgen, keineswegs  ein  „neamul  bastinas"3), 
d.  h.  die  Urbevölkerung,  sondern  sie  sind 
allmählich  zugewandert  und  haben  sich  in  der 
Folge  allerdings  sehr  stark  vermehrt.  Sie  zählen 
(nach  der  neuesten  ethnographischen  Karte 
von  H.  F.  Stanciovici,  Craiova,  „Samitca", 
1915)  iu  Siebenbürgen  und"  in  den  angrenzenden 
Landesteilen  Ungarns  3  600000  Se  eleu.  Neben 
ihnen  wohnen  3  400000  Deutsche,  Schwaben, 
Sachsen,  Ungarn,  Szekler,  Csängös,  Zigeuner, 
Armenier,  Juden  usw.  Sie  machen  demnach 
nicht  ganz  55  Proz.  der  Bevölkerung  aus,  wäh- 


*)  Es  hat  zwei  ungarische  Könige  mit  dem  Namen 
Bela  gegeben  (lOöl — 63  und  1235 — 40),  es  ist  bisher 
unentschieden,  wessen  Notar  der  „Anonymus"  war. 

2)  Vgl.  meine  „Steinzeitliche  Zustände  bei  den 
heutigen  Eumänen"  (Umschau,  Leipzig,  1909,  Nr.  39): 
„Haus-  und  Kleidertracht  vorgeschichtlicher  Karpathen- 
und  Balkanvölkerschaften".  Arch.  f.  Anthropol.  1908, 
Bd.  VII,  Heft   1. 

3)  Neamul  bastinas  lassen  sich  die  siebenb.  Eu- 
mänen in  neuerer  Zeit  mit  Vorliebe  nennen. —  Mihaiü 
Viteazu  war  „beschworenermaßen"  nur  „Guber- 
nator"  des  Kaisers  Rudolf  II.,  und  auch  das  nur 
l1  2  Jahre,  er  war  aber  niemals  „Herr  in  Sieben- 
bürgen". 


rend  die  andere  (nicht  rumänische)  etwas  über 
45  Proz.  beträgt  und  dabei  ist  diese  in  der 
Kultur  bei  weitem  höher  stehend.  Auch 
in  diesem  Sinne  darf  also  Siebenbürgen  nicht 
eine  Tara  romäueascä"  d.h.  ein  rumänisches 
Land  genannt  werden.  Eine  Mehrheit  von  nur 
200000  rumänischen  Bauern  uud  Hirten, 
die  auch  wirtschaftlich  noch  gar  sehr  zurück- 
stehen, darf  Siebenbürgen  nicht  für  sich  alleiu 
in  Anspruch  nehmen,  nicht  als  sogenannte  Ur- 
bevölkerung, nicht  der  Kopfzahl,  nicht  dem 
Kulturgrad  nach  und  nicht  ökonomisch.  Nach 
der  kaiserlichen  Fiskaldirektion  betrug  im  Jahre 
1751  ihre  Zahl  auf  dem  siebenb.  Königs- 
bodeu  (d.  h.  auf  dem  von  den  Sachsen  be- 
wohnten Gebiet)  erst  6000  Familien,  also  an- 
nähernd 30000  Köpfe. 

Aus  den  angeführten  Daten  sollen  —  für 
deutsche  Wissenschaft  selbstverständlich  —  keine, 
irgendwie  gearteten,  politischen  Folgerungen 
gezogen  werden.  Auch  daraus  nicht,  daß  noch 
im  Jahre  1751  das  Siebenbürgische  Guber- 
nium  iu  Wien:  die  Rumänen  „als  staatsrecht- 
lich nur  geduldete  Nation"  und  zur  Bekleidung 
von  öffentlichen  Stellen  für  unfähig  erklärte. 
Ein  weiterer  Beweis,  daß  die  Rumänen  damals 
nicht  als  gleichberechtigte,  und  keineswegs  als 
„Urbevölkerung"  augesehen  wurden.  Erinnerte 
mau  sich  doch,  daß  z.  B.  die  „Kronstädter 
Rumänen"  (die  sogenannten  Schei)  beim  Bau  der 
dortigen  sogenannten  „Schwarzen  Kirche"  ein- 
gewanderte Bulgaren  (bulgarisch  Scheau)  waren. 
Gab  es  doch  im  Jahre  1492  in  Kronstadt 
erst  29  rumänische  Steuerzahler,  1497  freilich 
schon  47.  In  den  „Bulgerey"  in  Rosenau 
(Markt  bei  Kronstadt)  werden  im  Jahre  1526 
bloß  95  Vororterumänen  erwähnt,  aber  im  Jahre 
1900  gab  es  dort  schon  2611.  Iu  den  Ge- 
meinden des  (siebenbürgischen)  Burzeulaudes 
haben  sich  die  Rumänen  seit  dem  Jahre  1790 
fast  ums  Doppelte  vermehrt. 

Daß  die  Rumänen  durch  Vermischung  viel 
slavisches  Blut  aufgenommen  haben,  wird  auch 
durch  ihre  frühen  und  zahlreichen  Heiraten 
und  durch  ihren  reichen  Kindersegen  be- 
wiesen. Dr.  L.  Colescu  (der  Direktor  des 
Statistischen  Dienstes  beim  Domänen-Ministerium 
in  Bukarest)  hat  diesbezüglich  im  Jahre  1903 
auf  dem  Statistischen  Kongreß,  einen  Vortrag 
gehalten  *),    in    dem    er   auseinandersetzte:    „La 


:)  Resum6  demagographique  presente  ä  la  IX  e 
Session  de  l'institut  international  de  statistique.  Berlin 
1903.  Vgl.  auch  J.  Scarlutescu  u.  Miscarea  popu- 
latiunei  Romäniec  pe  ani  1898  si  1899.  (Natalität 
35  bis  40  v.  H. ;  Mortalität  25  bis  30  v.  H.) ;  ferner 
Dr.  Dinescu  „Ne  mor  copii"  (die  Kinder  sterben  uns), 
Jassy  1915. 


60 


Rouuianie  fait  donc  exception  ä  ce  sujet  (hohe 
Geburtsziffer  und  große  Kindersterblichkeit)  an 
groupe  de  nations  romaniques,  qui,  eomme  on 
le  sait,  manifestent  nn  f aible  tendance  d'accroisse- 
ment  de  leur  population."  Er  schloß  mit  der 
Bemerkung,  daß  die  Rumänen  in  diesem  Betracht 
anthropologisch  zu  den  südosteuropäi- 
schen Völkern  gehören.  Eine  spätere  lahme 
Erläuterung  in  einem  Bukarester  politischen 
Tageblatt  hat  die  offizielle  Erklärung  in  Berlin 
natürlich  nicht  entkräften  können. 

Auch  noch  ein  anderes  anthropologisches 
Merkmal  ist  ein  slavisches  Erbe,  nämlich  die 
auffallende  Kurzbeinigkeit  der  Rumänen,  was 
namentlich  an  den  Frauen  unseren  Künstlern 
schmerzlich,  auffällt.  Die  Haare  und  Augen 
sind  in  der  Überzahl  dunkel l),  Rundköpfe  sind 
sehr  häufig,  die  Körperlänge  ist  durchschnittlich 
mittelgroß. 

Pogoneanu-Raduleseu,  der  ausersehen 
wurde  zusammen  mit  Prof.  S.  Puscariu  das 
große  Wörterbuch  der  Rumänischen  Akademie 
herauszugeben,  sagt  in  seiner  historischen  Gram- 
matik der  rumänischen  Sprache  (S.  14):  „So 
sehen  wir  denn  wie  das  Slavische  die  Gestalt 
unserer  Sprache  verändert  hat.  Zuerst  sind 
eine  Menge  slavischer  Wörter  in  sie  eingedrungen 
und  haben  sich  zu  unserer  Sprache  umgewandelt 
und  zwar  ebenso  viele  wie  die  ererbten  latei- 
nischen ;  und  zwar  uicht  nebensächliche  Wörter. 
sondern  solche ,  die  für  unser  Denken  und 
Fühlen  unumgänglich  nötig  sind,  für  unsere 
tagtägliche  Rede,  Wörter  ohne  die  wir  unsere 
heutige  Sprache  gar  nicht  denken  können." 
Das  ist  doch  gewiß  sehr  bestimmt  und  sehr 
deutlich.  Die  slavischen  Entlehnungen  im 
Rumänischen  sind,  wie  wir  noch  geuauer  sehen 
werden,  sehr  häufig  nicht  Synonyme,  son- 
dern Wörter  eigener  Bedeutung. 

Eine  Besonderheit  der  rumänischen  Sprache, 
die  sonst  in  keiner  mir  bekannten  Sprache  vor- 
kommt, bilden  die  Sexualtermiui,  und  zwar 
sind  alle  männlichen  lateinische  und  alle 
weiblichen  —  ausnahmslos — ■  nichtlateinische 
(vorwalteud  slavische)  Entlehnungen.  Wie  ist 
das  zu  erklären?  Meiner  Meinung  nach  nur  so, 
daß  wir  sagen:  Als  die  thrakoromanischen  Wan- 
derhirten von  ihren  Bergen  in  die  Ebenen 
herunterzusteigen  begannen,  da  fanden  sie  diese 
schon  von  den  Slaven  besetzt.  Die  thrako- 
romanischen Männer,  die  in  das  große  slavische 
Volksmeer  hineiusickerten  und  die  Slavinnen 
zur    Ehe    nahmen,    brachten    ihre    romanischen 


l)  In    der   Moldau    sind    Blonde    und    Blauäugige 
häufiger  als  iu  der  Walachei. 


Termini  mit  und  fanden  die'  weiblichen  slavi- 
schen bei  ihren  Weibern  vor. 

Gleicherweise  müssen  wir  uns  den  Vorgang 
bei  den  485  Fischnamen  denken.  Im  Gebirge 
gibt  es  iu  den  kleinen  seichten  Bächen  nur 
geringe  Fische.  Als  die  thrakoromanischen 
Gebirgshirten  tue  großen  wohlschmeckenden 
Fische  in  den  großen  Flüssen  der  Ebene  kenneu 
lernten,  da  konnte  das  wiederum  nur  durch  die 
dort  ansässige  slavische  Bevölkerung  geschehen. 
Man  bedenke  nur,  welch  wichtige  Rolle  der 
Fisch  bei  den  Rumänen  spielt  und  doch  ist 
kein  einziger  lateinisch  benannt,  auch  der 
crapu  (Karpfen)  nicht,  der  vom  serbischen  Krap 
herkommt,  und  auch  der  moldauische  carasu 
(Karausche)  nicht,  der  eher  auf  serbisch  karac, 
czechisch  karas,  lithauisch  karüsas  zurück- 
zuführen ist. 

Hierher  gehören  ferner  die  Berg-,  Fluß- 
und  Flurnamen.  Ich  habe  im  Jahre  1904  die 
siebenbürgischen  Bergnamen  sprachlich  unter- 
sucht, die  Prof.  Xenopol  in  seiner  „Teoria 
lui  Rösler"  angeführt  hat,  und  habe  nach- 
gewiesen, daß  von  den  318  Namen  mindestens 
80  slavisch  und  nur  65  lateinisch  sind  *).  Eine 
weitere  (von  mir  gegebene)  Liste  von  88  Berg- 
namen zeigt  ein  gleiches  Ergebnis.  Auch  die 
von  O.  Densusianu  aufgestellte  Liste  von 
Berg-,  Fluß-  und  Flurnamen  aus  der  Hatzegen- 
gegend  hat  die  auffällig  große  Zahl  slavischer 
Benennungen  ergeben.  Das  gleiche  hat  meine 
Ortsnamenforschung  im  Bnrzenland  ge- 
zeigt. Auch  im  Szekler gebiet  sind  die  Orts- 
namen ,  die  nicht  mit  Szent —  gebildet  sind, 
sehr  häufig  slavischen  Ursprungs. 

Daß  die  Taufnamen  der  Rumänen,  schon 
durch  den  Umstand,  daß  sie  der  slavisch-ortho- 
doxen  Kirche  angehören ,  vorwaltend  slavisch 
sind,  war  von  vornherein  zu  erwarten.  Aber 
auch  ihre  Familiennamen  sind  mit  Vorliebe 
vom  Slavischen  hergenommen  2). 

Für  die  Benennung  der  Körperteile  liefert 
uns  die  Volkssprache  auch  eine  ansehnliche 
Zahl  slavischer  Ausdrücke,  die  keine  Synonyme 
haben:  glava  (Hirnschale),  gät  (Hals),  gätlej 
(Schlund),  gältan  (Kehlkopf),  gusä  (Kopf), 
ränzä  (Magen),  crac  (Höhreuknochen,  Schenkel), 


1)  InLenk  v.  Treuenfels'  „Siebenbiirgiscb.es  Orts- 
lexikon" kommt  (das  älav.)  Virf  157  mal,  das  (alban.) 
Mägurä  123  mal  vor,  dagegen  tritt  (das  latein.)  Munte 
sehr  zurück,  etwa  15  mal.  Sogar  im  „Dictionaru  topo- 
graphieu  si  statisticu  alu  Romäniec"  de  D.  Frundescu 
(Bucuresti,  Staatsdruckerei,  1872)  kommt  Munte,  Munti, 
Muntenel,  Muntenesci  nur  18  mal,  dagegen  Magla, 
Magura,  Mägurele,  Mägureni  43  und  Deal- Delureni 
60  mal  vor. 

2)  Vgl.  0.  Densusianu  „Graiul  din  Tara  Hate- 
gulni"   1915. 


61 


gärb  (Buckel),  gleznä  (Knöchel),  ciolan  (Röhren- 
knochen), gälcä  (Drüse),  drob  (Eingeweide), 
sold  (Hüfte),  turloiü  (Schienbein),  titä  (Brust- 
drüse), bale  (Geifer),  obraz  (Gesicht),  sgärciu 
(Knorpel),  virtecap  (Halswirbel),  brau  (Gürtel), 
lopatieä  (Schulter),  trup  (Körper,  Schoß),  stinghie 
(Leistengegend) ,  tidvä  (Hirnschale) ,  matcä 
(Gebärmutter),  prapor  (Netz),  borhot  (Kot), 
poalä  (Schoß),  pragu  (Schambogen),  splinä 
(Milz),  tärtitä  (Steißbein),  terae  (Kopf weiche), 
plod  (Samen,  Gebärmutter),  colt  (Ellbogen), 
chisita  (Knöchel),  lenti  (Drüsen),  gärlant)  (Luft- 
röhre), cos  (Brustkorb),  mozol  (Drüse)  usw. 

Ein  Teil  der  Haustiere  ist  nur  slavisch 
(resp.  albanisch  oder  griechisch)  benannt,  z.  B. : 
tap  (Ziegenbock),  eapä  (Stute),  cotoiu  (Kater), 
cocos  (Hahn),  gäscä  (Gans),  mäuz  (Fohlen), 
malac  (Büffelkalb),  bibilica  (Perlhuhn),  mägar 
(Esel),  godau  (Jungschwein),  pirciü  (Schöps), 
catir  (türkisch  Maultier),  soldau  (junger  Hase), 
curcä,  curcan  (Truthenne,  Truthahn)  usw.  Von 
den  Kose-  und  Schimpfnamen  der  Haus- 
tiere habe  ich  in  meiner  „Herkunft  der  Rumä- 
nen" und  O.  Deususiauü  in  seinem  „Graiul 
diu  tara  Hateguliu"  genügende  Proben  ge- 
geben. 

Aus  der  bäuerlichen  Meteorologie  ver- 
zeichnen wir:  träsnet  (Blitz),  vifor  (Sturm), 
chiciura,  oiourä  (Reif),  sloiü  (Eiszapfen),  näboiü 
(Eisbruch),  produf  (Wacke),  namete,  nemete 
(Schnee),  uagodä  (Unwetter),  zäpore  (Eisstoß), 
omet  (Schneehaufen),  poleiü  (Eisschlag),  zäpadä 
(Schnee),  lapovitä  (Schneeschmelze),  promorooacä 
(Reif),  sloatä  (feuchtes  Wetter),  cea  ä  (Nebel), 
piclä  (Schwüle),  moina  (Tauwetter),  burä,  bure- 
alä  (Sprühregen),  inie  (zuerst  sich  bildendes 
Eis  eines  Flusses)  usw. 

Hochinteressant  ist  das  Glossar,  das  ich  aus 
Tudor  Pamfiles  „Industria  casnicä  la 
Romäni"  (das  häusliche  Gewerbe  der  Rumänen), 
Bucuresti  Socecü  &  Cie.  1910,  zusammengestellt 
habe.  Es  sind  2969  Vokabeln,  von  denen  774 
slavischer  und  716  lateinischer  Herkunft  sind. 
Einstweilen  unbekannten  Ursprungs  sind  914, 
von  denen  aber  sicherlieh  fast  zwei  Drittel 
slavisch  sein  dürften,  wie  schon  die  Endungen 
auf  — vitä,  — itä,  — iscä  usw.  verraten  J). 

Von  den  Krankheitsnameu  sind  wenig- 
stens 56  slavischen  und  nur  43  lateinisch -grie- 
chischen Ursprungs.  („Rumänische  Termini" 
Krankheitsnameu.  Korrespondenzbl.  Hermann- 
stadt 1905,  Heft  1.) 


*)  Vgl.  meinen  Aufsatz  „Die  rumänische  Volks- 
sprache" im  Korrespondenzbl.  Hermannstadt  1911, 
Heft  6  bis  7. 


In  der  Liste  der  hydrographischen  Ter- 
minologie können  wir  die  Slavismen  an- 
führen: puhoiü  (Strom),  balta,  ezerü  (See),  ostrov 
(Insel),  mal  (Ufer),  potmolit  (unterwaschenes 
Ufer),  smärc  (Pfütze),  mlastina  (Sumpf),  grind 
(Sandbank),  produf  (Wuhne),  plaur,  prundoiu 
(schwimmende  Insel),  gärla  (Bach),  prund  (Kiea- 
bank),  perisip  (höher  gelegene  Teile  des  Über- 
schwemmungsgebietes), japse  (kleinere,  flachere 
meist  temporäre  Tümpel),  saha  (umgewandelte 
alte  große  Donauarme,  die  jede  Verbindung 
mit  der  Donau  verloren  haben).  Interessant  ist 
es,  daß  der  einfache  Steg  (Baumstamm),  wie 
er  im  Gebirge  über  die  schmalen  Bäche  gelegt 
wird,  noch  pnnte,  also  lateinisch,  daß  dagegen 
die  kunstvolle  Brücke,  wie  sie  in  der  Ebene 
durch  die  grossen  Flüsse  notwendig  gemacht 
wird,  podu,  also  schon  slavisch  benannt  ist, 
Wiederum  deshalb,  weil  die  Ebenen  schon  mit 
Slaveu  besetzt  waren,  als  die  Thrakoromanen 
anfingen    von    den   Gebirgen   herunterzusteigen. 

Aber  nicht  nur  der  lexikalische  Teil  der 
rumänischen  Sprache,  sondern  auch  ihr  for- 
maler hat,  wie  ich  ausführlich  und  zu  wieder- 
holten Malen  gezeigt  habe1),  reiche  Anlehen 
beim  Slavischen  (Bulgarischen)  gemacht. 

Vielerlei  in  Kleidung,  im  Bau  und  in  der 
Einrichtung  der  Wohnungen,  in  der  Nah- 
rung (Backglocke  usw.),  iu  Lebensgewohn- 
heiten, in  Tänzen,  Volksliedern,  Erzäh- 
lungen, im  Glauben  und  Aberglauben,  iu 
Sitten  und  Gewohnheiten  ist  nördlich  und 
südlich  der  Donau,  in  den  Karpathen  und 
im  Balkan  so  ähnlich,  manches  so  vollkommen 
gleich,  daß  man  notoedruusren  an  einen  iremein- 
samen  Ursprung  denken  muß.  Mau  darf  es 
ruhig  aussprechen,  daß  es  das  „Thrako- 
slavische"  ist. 

Ich  habe  alle  hierher  crehöriaen  Fragen  in 
mehr  als  fünfzig  streng  wissenschaftlichen  Spezial- 
arbeiten  untersucht  nnd  habe  meine  Arbeiten 
in  der  hiesigen  Akademie  und  in  der  Univer- 
sitäts-Stiftung Carol  I.  niedergelegt;  ferner 
habe  ich  sie  an  die  rumänischen  Seminare  der 
Universitäten  Berlin,  Leipzig  und  Wien  geschickt 
und  vielen  deutschen  Historikern  und  Sprach- 
forschern zugestellt.  Ich  habe  von  allen  Ge- 
lehrten, die  die  Wissenschaft  um  ihrer  selbst 
willen  betreiben,  viele  wertvolle  Zustimmung 
erfahren,  hierzulande  freilich,  wo  auch  die 
„Wissenschaft"   politischen  Zwecken    zu   dienen 


*)  Vgl.  meine  „Herkunft  der  Rumänen",  ferner 
„Die  Herkunft  der  Rumänen  nach  ihrer  Sprache  be- 
urteilt".   Korrespondenzbl.  Hamburg,  1909,  Heft  1  bis  2. 


62 


hat,  auch  manche  Anfeindung,  und  zwar  in 
gröbster  Form. 

Zusammenfassend  sei  gesagt,  daß  die  Rumä- 
nen ein  ausgesprochenes  Mi.-,  hvolk  sind  und 
(wie  die  Volkssprache  auch  heute  noch  beweist) 
eine  Mischsprache  reden.  Der  Hauptauteil 
an  ihrem  Volkstum  ist  das  Thrako-  bzw.  das 
Dako-Slavische.  Wie  aber  ihre  Sprache  und 
die  Geschichte  bezeugt,  so  ist  auch  das  Latei- 
nische seinerzeit  von  mehr  oder  weniger  großem 
Einfluß  gewesen;  in  der  „Dacia  Trajana"  war 
er  allerdings  stets  gering  und  hörte  nach  Aure- 
lian  (271  n.  Ohr.)  ganz  auf,  im  Balkan  führte 
er  dagegen  zur  Bildung  des  Thrakoroma- 
uischen.  Aus  diesem,  in  Verbindung  mit  den 
Slaven,  ist  das  Vlachische  entstanden. 

Das  Hin- und  Herwandernder  walachischen 
Gebirgshirten  hat  danach  das  neue  Volkstum 
und  die  neue  Sprache  immer  weiter  verbreitet: 
\  im  Nordgriechenland  bis  nach  Mähren  und  bis 
an  den  Dnjester.  Im  Schutze  des  Karpathen- 
walles  und  angeregt  durch  in  der  Kultur  hoch- 
stehende  Landsgenossen  (Sachseu,  Deutsche, 
Schwaben)  habeu  die  siebenbürgischen  Rumänen 
uuter  ihren  Volksverwandten,  nach  Zahl,  Wohl- 
stand und  Zivilisation  die  größten  Fortschritte 
gemacht.  Physisch  stehen  sie  sicherlich  am 
besten.  Auch  in  manchen  Charaktereigenschaften 
(Arbeitsamkeit,  Ausdauer,  Sparsamkeit,  Moral) 
hallen  sie  zweifellos  ihre  südlichen  Volksgenossen 
übertroffen. 

Zum  Schluß  einige  kurze  historische  Be- 
merkungen, die  aber  nicht  ohue  Wichtigkeit 
für  die  Herkunftsfrage  der  Rumänen  sind. 

1.  Das  Fürstengeschlecht  der  Bassaraba 
scheint  vom  Balkan  abzustammen.  Mindesteus 
erwähnt  schon  Diodorus  Siculus  (149  n.  Chr.) 
einen  BuQöKßdv  tov  &Qaxäv  ßaöilm  und  führt 
Joruandes  eine  Nachricht  des  Dio  Chryso- 
stomus  (Tu  rexLiiu.)  au,  wonach  alle  dakischen 
und  luetischen  Könige  aus  der  Familie  der 
„Zarabos  Tereos"  abstammten.  (Zarabos  Tereos 
darf  man  vielleicht  mit  Zarabi  oder  Sarabi 
terei  wiedergeben.  Saralu  würde  also  Herzog, 
Fürst  bedeutet  haben.) 


2.  Steht  fest,  daß  nach  der  Einnahme  und 
Zerstörung  Tirnoväs  durch  Bajazed  (a.  1393) 
die  Hauptmasse  der  bulgarischen  Bojaren  auf 
das  linke  Donauufer  auswanderte. 

3.  Das  slavisch- orthodoxe  Christentum  ist 
den  Rumänen  aus  den  Balkanländern  zuge- 
kommen. Bezeichnend  genug  hieß  der  erste 
Metropolit  der  Moldau  Särb.  Die  ersten  Buch- 
drucker in  Rumänien  (Govora,  Monastirea  din 
Deal)  waren  slavische  Mönche  von  jenseits  der 
Donau. 

4.  Eine  Anzahl  von  rumänischen  Fürstinnen 
waren  serbische  oder  bulgarische  Prinzessinnen. 

5.  Eine  ansehnliche  Zahl  der  rumänischen 
Distrikte  hat  heute  noch  slavische  Namen: 
Prahova,  Ilfov,  Jalomi  a,  Neamt,  Putna,  Vlasca, 
Gorj'ü,  Dolj'ü  usw. 

6.  Die  Zuwanderung  aus  Bulgarien  ist  auch 
heutigentags  noch  sehr  groß  (Schankwirte,  Tag- 
löhner,  Gemüsebauer  usw.).  Die  „Archondolo- 
gia"  und  andere  Listen  der  alten  Bojaren- 
familien  (Ghibanescu  usw.)  zeigen  es  deutlich, 
wieviel  slavisches  Blut  (aber  auch  griechisches, 
magyarisches,  ja  sogar  deutsches)  von  den 
rumänischen  Bojaren  aufgenommen  wurde. 

7.  Die  Hof-  und  Gerichtssprache  (Urkunden, 
Geschäftsbriefe)  war  jahrhundertelang  die  sla- 
vische. In  den  Kirchen  sangen  die  Sänger  noch 
im  Jahre  1864  ausschließlich  russisch.  Die 
Bücher,  Theaterzettel  usw.  werden  erst  seit  dem 
Beginn  der  sechziger  Jahre  lateinisch  gedruckt. 

Trotz  aller  dieser  Tatsachen,  die  einem  Histo- 
riker doch  bekannt  sein  müssen,  hat  N.  Jorga 
die  leichtfertige  Ausflucht  gebraucht:  das 
Slavische  im  Rumänischen  eine  Mode  zu 
nennen,  die  nun  überwunden  sei. 

Jeder  denkende  Leser  der  vorstehenden  haar- 
genauen Ausführungen  wird  vielmehr  erkannt 
hallen,  daß  das  Slavische  zum  organischen  Auf- 
bau, zum  innersten  Wesen,  des  auf  thrakischer 
Grundlage  Gewordenen  gehört,  und  das  Rumä- 
nische ohne  das  Slavische  zusammen- 
stürzen müßte,  wie  das  Hasdeu  vom  voraus- 
gesetzten Fehlen  des  Albanesischen  im  Rumä- 
nischen ausgesprochen  hat. 


Mitteilungen  aus  den  Lokalvereinen. 


Bonner  Anthropologische  Gesellschaft. 

In  der  Hauptversammlung  der  Anthropologischen 
Gesellschaft  in  Bonn  am  20.  Januar  1914  berichtete 
der  Vorsitzende,  Herr  Geheimrat  Verworn,  über  das 
abgelaufene  Geschäftsjahr  folgendes:  Die  Zahl  der 
Mitglieder  betrug  zu  Beginn  des  Jahres  1913  128, 
durch  Wegzug   von    Bonn   verlor   die   Gesellschaft  10, 


durch  den  Tod  4  Mitglieder,  so  daß  heute  die  Zahl 
114  beträgt.  In  den  sieben  Sitzungen  des  verflossenen 
Jahres  wurden  zehn  Vorträge  aus  den  verschiedenen 
Gebieten  der  Anthropologie  gehalten.  Sodann  erstattete 
Herr  Bankdirektor  Steinberg  Bericht  über  die 
Finanzlage  der  Gesellschaft.  Die  Revision  der  Rech- 
nungen wurde  von  Herrn  Professor  Schöndorff  vor- 
genommen. Dem  Kassenführer  wurde  Entlastung  erteilt. 


63 


Die  Wiederwahl  des  Vorstandes  wurde  gemäß  einem 
Antrage  aus  der  Versammlung  durch  Akklamation 
vorgenommen.  Darauf  sprach  der  Vorsitzende,  Herr 
Geheimrat  Verworn,  über  „ideoplastische  Kunst". 

Unter  den  beiden  großen  Richtungen  der  Kunst, 
die  wir  bereits  in  prähistorischer  Zeit  unterscheiden 
können,  der  physioplastischen  und  der  ideo- 
plastischen  Kunst  tritt  bekanntlich  die  erstere  als 
die  früheste  Kunstäußerung,  und  zwar  mit  dem  Beginn 
der  Renntierzeit  auf.  Sie  wird  allmählich  von  der  im 
Paläolithikum  zunächst  nur  spärlich  neben  ihr  er- 
scheinenden ideoplastischen  Richtuug  vollkommen  ver- 
drängt, und  die  letztere  herrscht  dann  unumschränkt 
in  allen  späteren  prähistorischen  Kulturstufen  bis  zur 
klassischen  Zeit  und  zur  Renaissancekultur  ebenso 
wie  in  den  primitiven  Kulturen  fast  aller  modernen 
Naturvölker.  Ist  die  physioplastische  Kunst  charak- 
terisiert durch  ihr  Streben  nach  naturwahrer  Wieder- 
gabe des  sinnlich  wahrgenommenen  Objekts ,  so  ist 
andererseits  die  ideoplastische  Kunst  eine  durchaus 
von  der  Naturwahrheit  abgekehrte  Kunst,  welche  die 
Gegenstände  in  merkwürdiger  Entstellung  und  selt- 
samer Umgestaltung  der  Formen  häufig  bis  zur  völligen 
Unkenntlichkeit  und  zu  phantastischer  Neugestaltung 
verändert  darstellt.  Diese  ideoplastische  Kunst  er- 
fordert ein  nicht  minder  großes  Interesse  als  die  in 
unserer  Zeit  so  viel  bestaunte  und  durch  die  wunder- 
lichsten Theorien  gedeutete  physioplastische  Kunst 
der  diluvialen  Renntierjäger. 

Die  Kunst  ist  ganz  allgemein  ein  Ausdrucksmittel 
für  Bewußtseinsvorgänge.  Von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  gewinnt  die  primitive  Kunst  der  prähistorischen 
Zeiten  eine  ganz  besonders  hohe  Bedeutung.  Wir 
schöpfen  aus  ihrer  Analyse  ein  geradezu  unschätzbares, 
vielfach  durch  nichts  zu  ersetzendes  Material  für  die 
Entwickelungsgeschichte  des  menschlichen  Geistes, 
d.  h.  des  menschlichen  Empfindens ,  Vorstellens ,  Den- 
kens, Fühlens  und  Wollens  in  Zeiten,  über  die  keinerlei 
schriftliche  Überlieferung  uns  Aufschluß  gibt. 

Die  ideoplastische  Kunst  könnte  leicht  auf 
den  ersten  Blick  für  einen  Rückschritt  gehalten  werden 
gegenüber  der  physioplastischen  Richtung  der  dilu- 
vialen Jäger.  Man  pflegt  leicht  zu  dieser  Ansicht  zu 
gelangen,  weil  man  so  vielfach  die  Naturwahrheit  als 
den  einzigen  Maßstab  für  die  Entwickelungsstufe  der 
Kunst  betrachtet.  Das  ist  einseitig  und  verkehrt.  Im 
Hinblick  auf  die  Tatsache,  daß  die  Kunst  ein  Ausdrucks- 
mittel für  Bewußtseinsvorgänge  vorstellt,  genügt  ein 
solcher  naiver  Maßstab  nicht.  Vielmehr  ist  hier  eine 
tiefere  psychologische  Analyse  für  die  Beurteilung 
notwendig,  und  als  Maßstäbe  müssen  einerseits  die 
Bewußtseinsinhalte  ihrer  Art  nach,  andererseits  die 
Mittel ,  mit  denen  der  Künstler  ihre  Wiedergabe  ver- 
sucht, herangezogen  werden. 

Von  diesem  Standpunkte  einer  eingehenderen 
psychologischen  Betrachtungsweise  aus  erscheint  aber 
die  ideoplastische  Kunst  als  eine  wesentlich  höhere 
Stufe  gegenüber  der  physioplastischen  Stufe  der  paläo- 
lithischen  Jäger.  Die  letztere  bringt  nur  mehr  oder 
weniger  naturgetreu  reine  Sinneswahrnehmuugen  zum 
Ausdruck,  Vorstellungen ,  d.  h.  Erinnerungsbilder  von 
einzelnen  konkreten  Objekten,  vor  allem  von  Jagdtieren. 
Selbst  Darstellungen  von  Handlungen  und  ganzen 
Szenen  kennt  der  diluviale  Renntierjäger  noch  nicht. 
Was  demgegenüber  die  ideoplastische  Kunst 
charakterisiert,  das  ist  ganz  allgemein,  daß 
man  nicht  mehr  allein  den  einfachen  sinn- 
lichen Eindruck  des  konkreten  Einzelobjekts, 


das  man  gesehen  hat,  wiedergibt,  sondern 
daß  das  dargestellte  Objekt  zum  Ausdruck 
einer  symbolischen  Bedeutung  wird  für  Ge- 
danken, Vorstellungen,  Gefühle  der  ver- 
schiedensten Art.  Es  werden  aus  den  sinnlich 
wahrgenommenen  Dingen  bestimmte  Momente  hervor- 
gehoben und  betont,  andere  vernachlässigt  oder  weg- 
gelassen. Was  aus  irgend  einem  Grunde  besonderen 
Reiz  oder  besonderes  Interesse  hat,  etwa  einen  starken 
Gefühlswert  positiver  oder  negativer  Art,  wie  z.  B.  ein 
ästhetisch  wirksames  Moment,  oder  was  besonders  auf- 
fällig erscheint  und  sich  daher  stärker  einprägt,  oder 
was  besondere  Vorstellungen  und  Ideengänge  auslöst, 
das  wird  hervorgehoben  in  der  Darstellung.  Die 
anderen  Elemente  treten  in  deu  Hintergrund  oder 
fallen  ganz  fort.  Auf  diese  Weise  entfernt  sich  die 
Darstellung  mehr  oder  weniger  von  der  naturwahren 
Wiedergabe  des  konkreten  Objekts  bzw.  des  unmittel- 
baren Sinneseindrucks.  In  ihrer  durch  bewußte  Spe- 
kulationen erstrebten  Übertreibung  führt  diese  Rich- 
tung schließlich  zu  dem  konkrete  Objekte  absichtlich 
vermeidenden  Versuch  der  modernen  Futuristen.  Die 
ideoplastische  Kunst  ist  rein  expressio- 
nistisch, die  physioplastische  Diluvialkunst 
rein  impressionistisch  und  der  Gegensatz 
zwischen  beiden  Richtungen  wird  um  so  be- 
merkbarer und  klaffender,  je  mehr  sich  das 
Vorstellungs-  und  Gefühlsleben  des  Künstlers 
im  Gegensatz  zur  Wirklichkeit  befindet. 

Der  gemeinsame  psychologische  Vorgang,  der  aller 
ideoplastischen  Kunst  zugrunde  liegt  und  in  seinen 
ersten  Anfängen  lediglich  in  einer  Heraushebung 
einzelner,  dem  Künstler  besonders  wichtiger  Momente 
aus  dem  Material  des  sinnlich  Wahrgenommenen  be- 
steht, ist  der  Vorgang  der  Abstraktion.  Wir 
pflegen  konkrete  und  abstrakte  Begriffe  zu  unter- 
scheiden. Die  konkreten  haben  ihre  genau  korre- 
spondierenden Objekte  in  der  Wirklichkeit,  die  ab- 
strakten nicht.  Die  Wirklichkeit  zeigt  uns  Eichen 
und  Pappeln  und  Linden  und  Kiefern  und  Weiden  usw., 
aber  keinen  „Baum".  Der  Begriff  „Baum"  ist  abstra- 
hiert dadurch,  daß  wir  aus  zahlreichen  wirklich  sinnlich 
wahrgenommenen  Objekten  die  allgemeinen  Bestandteile, 
die  immer  und  immer  wiederkehren ,  mögen  wir  eine 
Eiche,  oder  eine  Pappel,  oder  eine  Linde  usw.  ansehen, 
also  den  Stamm,  die  Zweige,  die  Blätter  usw.  heraus- 
heben und  allein  berücksichtigen ,  die  speziellen ,  wie 
die  Form  und  Dicke  des  Stammes,  die  Art  der  Ver- 
zweigung, die  Gestalt  und  Anordnung  der  Blätter  usw. 
vernachlässigen  und  ganz  weglassen.  Setzen  wir  die 
gemeinsamen  Bestandteile  sämtlich  synthetisch  zu- 
sammen ,  so  entsteht  ein  Vorstellungsgebilde ,  wie  der 
abstrakte  Begriff  „Baum",  aber  das  ist  weder  eine 
Eiche,  noch  eine  Linde,  noch  sonst  eine  Baumart,  die 
wir  sinnlich  wahrnehmbar  irgendwo  in  der  Wirklich- 
keit fänden. 

Diese  Abstraktion  findet  bereits  in  der  frühesten 
Kinderzeichnung  des  modernen  Kindes  ihren  schlagen- 
den Ausdruck  (vgl.  Korrespondenzblatt  d.  Deutschen 
Ges.  f.  Anthrop.,  Ethnol.  u.  Urgesch.  XXXVII.  Jahrg., 
Mai/Juni  1907).  So  ist  auch  das  Auftreten  und  die 
Entwickelung  der  ideoplastischen  Kunst  in  der  vor- 
historischen Zeit  ein  äußerst  wertvoller  Indikator  für 
die  fortschreitende  Entwickelung  des  abstrahierenden 
Denkens  beim  Menschen. 

Dieser  Grundprozeß  der  Abstraktion  kann  nun 
in  der  Kunst  in  sehr  verschiedenem  Grade  und  uach 
verschiedenen  Richtungen  hin  sich  geltend  machen,  je 


64 


nachdem,  was  als  wichtig  und  wesentlich  hervor- 
gehoben werden  soll  und  je  nach  dem  Grade,  in  dem 
es  vor  anileren  Elementen  das  Bewußtseinsfeld  be- 
herrscht. 

Die  ersten  Anfänge  der  ideoplastischen  Kunst, 
finden  sich  bereits  in  der  Renntierzeil  neben  den 
phvsioplastischen  Tierdarstellungen.  Sie  bestehen  in 
der  ornamentalen  Verwendung  einzelner  Tier-  und 
Pflanzenmotive.  .Man  ordnet  Tierteile,  besonders 
Köpfe,  in  Reihen  an  als  Dekoration  für  Gebrauehs- 
.'.  vi!  .lande  viin  Knochen.  Dabei  sind  ursprünglich 
die  Tierteile  noch  durchaus  naturwahr  dargestellt. 
Auch  die  Hanken  von  Pflanzen  weiden  dekorativ  be- 
nutzt, und  hier  bemerkt  man  bereits  eine  Stilisierung 
bei  der  ornamentalen  Verwendung.  So  entsteht  eine 
Vermischung  von  ornamentaler  und  figuraler  Kunst. 
Bestimmte  Elemente  von  realen  Objekten,  die  aus 
irgend  einem  Grunde  besonderen  Affektwert  besitzen, 
werden  aus  dem  Zusammenhang  herausgehoben  und 
als  Ornament  verwertet.  So  entsteht  eine  „ornamen- 
tale Ideoplastik". 

In  spateren  prähistorischen  Perioden  geht  die 
ornamentale  Umformung  solcher  figuralen  Motive  dann 
aber  viel  weiter,  bis  zur  völligen  Unkenntlichkeit.  Die 
bronzezeitliche  und  besonders  die  keltische  Kunst,  und 
die  Kunst  der  prähistorischen  Indianer,  sowie  der 
Südseeinsulaner  zeigt  eine  unendliche  Fülle  von  Belegen 
dafür. 

Das  Hervorheben  als  wichtig  erscheinender  Ele- 
mente führt  zu  der  „schematisierenden  Ideo- 
plastik". In  der  neolithischen  Zeit,  in  der  Bronzezeit, 
in  der  Hallstattzeit  ebenso  wie  bei  den  meisten  heutigen 
Naturvölkern  finden  wir  weitverbreitet  eine  Schemati- 
sierung der  dargestellten  Objekte,  die  darin  besteht, 
daß  nur  das  Wichtige  dargestellt,  alles  andere  einfach 
fortgelassen  ist.  Die  Fortlassungen  sind  häufig  so 
umfangreich,  daß  das  Objekt  als  Ganzes  nur  eben 
noch  angedeutet  und  nur  das,  worauf  es  dem  Künstler 
ankommt,  besonders  deutlich  oder  übertrieben  dar- 
gestellt und  hervorgehoben  ist. 

Schließlich  führt  diese  Methode  in  der  „deskrip- 
tiven Ideoplastik"  zur  stärksten  Vereinfachung  der 
figuralen  Darstellungen.  Hier  genügt  es  dem  Dar- 
steller vollkommen,  irgendwie  bei  dem  Beschauer  die 
Vorstellung  des  betreffenden  Gegenstandes  oder  Vor- 
ganges zu  erwecken,  um  so  durch  Aneinanderreihung 
solcher  Symbole  eine  Erzählung  oder  Beschreibung 
zu  liefern.  So  'entstehen  die  piktographischen  Dar- 
stellungen der  Indianer,  die  prähistorischen  und  mo- 
dernen Petroglyphen  usw.  Endlich  geht  diese  Ver- 
einfachung am  weitesten  bei  der  Schrift,  z.  B.  bei  der 
Kntwickelung  der  demotischen  Schrift  der  alten 
Ägypter  aus  der  Hieroglyphenschrift. 

In  moderner  Zeit  findet  eine  stärker  ausgesprochene 
ideoplastische  Kunst  ganz  besonderen  Anklang  in  der 
Reklamezeichnung,  und  am  weitesten  suchen  einzelne 
„Futuristen"  das  der  Ideoplastik  zugrunde  liegende 
Prinzip  zu  übertreiben.  Man  will  sich  im  Lager 
einiger  moderner  Künstler  womöglich  vollkommen  von 
allen  sinnlichen  Elementen  in  der  Kunst  befreien. 
Das  ist  das  Ideal.  So  sehr  es  nun  auch  zu  verwerfen 
ist,  wenn  man  die  moderne  expressionistische  Rich- 
tung einfach  mit  einem  Lächeln  erledigen  zu  können 
glaubt  —  sie  enthält  eine  Fülle  sehr  wertvoller  und 
psychologisch  interessanter  Elemente  —  so  ist  es  doch 
andererseits  eine  psychologische  Ungeheuerlichkeit, 
wenn  man  ernsthaft,  glaubt, ,  etwas  künstlerisch  zum 
Ausdruck  bringen  zu  können,  was  nicht  wenigstens  in 


seinen  einzelnen  Bestandteilen  ursprünglich  einmal 
durch  das  Tor  der  Sinne  seinen  Einzug  in  unser 
Bewußtsein  erhalten  hat.  Man  kann  ja  allerdings  sehr 
weitgehende  Abstraktionen  bilden  und  diese  Gebilde 
zum  Ausdruck  bringen  wollen,  aber  wenn  man  sie 
zum  Ausdruck  bringt,  so  ist  man  immer  wieder  ge- 
zwungen, sie  in  sinnlich  wahrnehmbare  Formen  zu 
kleiden,  sonst  sind  sie  eben  von  niemandem  wahrnehm- 
bar. Beschränkt  sich  aber  der  Künstler  darauf,  seine 
abstrahierten  Gedanken  und  Gefühle  und  Stimmungen 
durch  ein  äußerstes  Minimum  von  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Linien  oder  Farben  auszudrücken ,  so  ent- 
stehen Bilder,  wie  die  einiger  exh-emer  Futuristen,  bei 
deren  Betrachtung  schließlich  kein  Beschauer  mehr 
dahinter  kommt,  was  der  Künstler  ausdrücken  will, 
und  der  einzige  Bewußtseinsvorgang,  den  das  „Kunst- 
werk" schließlich  auslöst,  besteht  in  der  Vorstellung 
„geistesgestört". 

Die  Ausführungen  des  Vortragenden  wurden  durch 
eine  große  Zahl  von  Lichtbildern  aus  der  vorgeschicht- 
lichen Kunst,  aus  der  Kunst  der  heute  lebenden  Natur- 
völker, aus  der  Kunst  des  modernen  Kindes  und  aus 
der  Kunst  der  Futuristen  erläutert.  Im  vorliegenden 
Referate  kann  von  der  Wiedergabe  von  Abbildungen 
abgesehen  werden  unter  Hinweis  auf  die  inzwischen 
erschienene  Schrift  des  Vortragenden  (MaxVerworn, 
„Ideoplastische  Kunst".  Jena,  Gustav  Fischer, 
1014) ,  welche  mit  einem  reichen  Abbildungsmaterial 
ausgestattet  ist. 

In  der  Sitzung  vom  lü.  Februar  1914  sprach  Herr 
Prof.  A.  Philip  pson  über  „Die  Völker  der  Balkan  - 
halbinsel." 

Die  heutige  und  zukünftige  politische  Entwicke- 
lung  der  Balkanhalbinsel  ist  ein  wesentlich  ethno- 
graphisches Problem,  denn  die  Art  und  geographische 
Verbreitung  der  Völker  ist  für  die  dortige  Staaten- 
bildung  in  erster  Linie  maßgebend  geworden.  Die 
Völkerverbreitung  aber  ist  wieder  das  Ergebnis  der 
geographischen  Gestaltung  des  Landes  und  der  histo- 
rischen Ereignisse. 

Der  Vortragende  schildert  daher  zunächst  die 
großen  Züge  der  Natur  der  Balkanhalbinsel  und  dann 
die  geschichtliche  Entwickelung  der  Bevölkerung :  die 
Völker  des  Altertums,  die  Einwanderungen  und  Ver- 
schiebungen der  Völkerwanderung,  die  hier  die  lange 
Zeit  vom  3.  Jahrhundert  n.  Chr.  bis  zur  türkischen 
Eroberung  im  14.  und  15.  Jahrhundert  umfaßt.  Darauf 
wurden  die  einzelnen  Völker  der  Gegenwart  nach  ihrer 
Abstammung,  kulturellen  Bedeutung  und  ihren  Wohn- 
gebieten kurz  charakterisiert:  die  alten  Völker  der 
Griechen  —  mit  ihrer  vielseitigen  Betätigung,  ihrer 
Seemacht  und  ihrer  großen  und  reichen  Diaspora  — 
und  der  Albanier  —  der  alten  Ulyrier,  noch  heute 
in  primitiven  sozialen  Zuständen  lebend  —  ferner  die 
Rumänen  nebst  den  mazedonischen  W lachen, 
ein  Volk  romanischer  Zunge,  das  wenigstens  in  seinen 
Wurzeln  auf  das  spätere  Altertum  zurückgeht;  dann 
die  in  der  Völkerwanderung  eingewanderten  Slaven: 
Bulgaren,  Serben  und  mazedonische  Slaven; 
die  aus  Kleinasien  herübergekommenen  osmanischen 
Türken,  mit  denen  die  größeren  Einwanderungen 
abschließen;  endlich  noch  die  kleiueren  Volkssplitter. 
Besonders  wichtig  aber  ist  es ,  daß  zwischen  den  ge- 
schlosseneu Wohngebieten  dieser  einzelnen  Völker  sich 
Mischgebiete  ausdehnen,  in  denen  die  verschieden- 
sten Bestandteile  durcheinander  wohnen;  es  sind  das 
namentlich:  die  Dobrudscha,  Ost-Thrakien,  der  Küsten- 


65 


säum  im  Norden  des  Ägäisohen  Meeres,  Mazedonien, 
die  Umgebung  Albaniens  (besonders  Alt-Serbien  und 
Nord-Epirus).  Dadurch  wird  die  Ziehung  solcher  po- 
litischer Grenzen,  die  den  Völkergrenzen  möglichst 
entsprechen  sollen,  äußerst  erschwert. 

Diese  Aufgabe  wird  aber  vollends  unlösbar  da- 
durch, daß  die  religiöse  Gruppierung,  die  für  das  Be- 
wußtsein der  Zusammengehörigkeit  dort  meist  ent- 
scheidender ist  als  die  Umgangssprache ,  ferner  die 
sozialen,  wirtschaftlichen  und  geographischen  Verhält- 
nisse sich  auf  das  verwickeltste  mit  den  Sprachgrenzen 
kreuzen. 

Schließlich  wurde  noch  kurz  auf  den  körperlichen 
Habitus  der  Balkanvölker  eingegangen ,  der  eine  Mi- 
schung verschiedener  Typen  zeigt,  die  aber  bei  den 
verschiedenen  Völkern  der  Balkanhalbinsel  in  ziemlich 
gleichartiger  Weise  herrscht,  was  auf  das  hohe  Alter 
und  die  Beständigkeit  des  körperlichen  Habitus  gegen- 
über den  Einwanderungen  der  historischen  Zeit  schließen 
läßt.  Zum  Schluß  zeigte  der  Vortragende  eine  Reihe 
von  Lichtbildern  von  Siedelungen  der  Balkanhalb- 
insel vor. 

In  der  Sitzung  vom  26.  Mai  1914  sprach  Herr 
Prof.  C.  Clemen  über  „Wesen  und  Ursprung  der 
Magie". 

Der  Vortragende  besprach  einleitend  die  verschie- 
denen in  neuerer  Zeit  gemachten  Versuche ,  das  Ver- 
hältnis von  Religion  und  Magie  zu  bestimmen ,  und 
entschied  sich  für  die  zuerst  von  Frazer  vertretene 
Ansicht,  daß  man  in  der  Religion  (richtiger  im  Kultus 
oder  noch  besser  in  den  nicht-magischen  Verhaltungs- 
weisen) die  höheren  Mächte  gewinnt  oder  versöhnt, 
in  der  Magie  zwingt.  Dann  zeigte  er,  daß  als  Magie 
auch  das  Tabu  und  umgekehrt  der  Glaube,  sich  durch 
den  Genuß  oder  die  Berührung  von  Dingen  deren 
Kräfte  aneignen  zu  können,  zu  bezeichnen  sei,  während 
sich  dagegen  die  Mantik  dadurch  von  der  Magie  unter- 
scheide, daß  bei  ihr  die  Gottheit  die  Initiative  ergreife, 
wenn  auch,  nachdem  sie  die  Zukunft  angekündigt  habe» 
diese  kommen  müsse.  Aber  auch  so  sei  das  Gebiet 
der  Magie  außerordentlich  groß;  es  bestehe  also,  wenn 
man  nun  ihren  Ursprung  untersuche,  die  Gefahr,  daß 
von  ihr  eine  Erklärung  gegeben  wird ,  die  nur  auf 
gewisse  magische  Erscheinungen  zutrifft.  Das  gilt, 
wie  weiterhin  gezeigt  wurde ,  in  der  Tat  von  der 
Marettsohen  Theorie,  die  außerdem  dasjenige,  was 
sie  erklären  soll,  schon  voraussetzt.  Auch  Wundts 
Erklärung  der  Magie  scheitert  daran ,  daß  sie  den 
Animismus  als  die  älteste  Form  der  Religion  ansieht, 
was  er  doch  nicht  ist.  Tylors  und  Frazer s  Be- 
hauptung aber,  die  Magie  beruhe  auf  einer  Verwechse- 
lung der  association  in  thought  mit  der  connectiou 
in  reality,  erklärt  noch  nicht,  wie  es  zu  jener  kam;  der 
Vortragende  glaubte  den  Grund  dafür  darin  sehen  zu 
müssen  ,  daß  man  von  der  Erfahrung  zwar  ausging, 
aber  nicht  bei  ihr  stehen  blieb. 

Um  diese  These  als  richtig  zu  erweisen ,  wurde 
zunächst  daran  erinnert ,  daß  sich  der  Primitive  die 
Eigenschaften  gewisser  Tiere  durch  den  Genuß  ihres 
Fleisches  aneignen  zu  können  glaubt.  Auch  der  Kanni- 
balismus hatte,  zum  Teil  wenigstens,  denselben 
Zweck,  nämlich  sich  die  Kräfte  der  betreffenden  Men- 
schen anzueignen,  die  manchmal  in  einem  besonderen 
Teil  ihres  Körpers  wohnhaft  gedacht  wurden.  Um- 
gekehrt muß  man  sich  gewisser  Tiere,  deren  Eigen- 
schaften man  nicht  haben  möchte ,  enthalten ;  ja  so 
kann  mau  sich  nicht  nur  vor  wirklichen  Eigenschaften, 


j  sondern  auch  vor  Zuständen ,  in  denen  sich  das  be- 
treffende Tier  zufällig  befindet,  hüten. 

Weiter  findet  diese  Kraftübertragung  durch  bloße 
Berührung  verschiedener  Art  statt  und  ist  daher  auch 
bei  Steinen  und  Pflanzen,  nicht  nur  bei  Tieren  und 
Menschen  möglich.  Diejenigen,  deren  Kräfte  man 
sich  nicht  aneignen  möchte,  sind  daher  Tabu  —  dies 
allerdings  auch ,  weil  diese  Kräfte  sonst  den  Be- 
treffenden selbst  entzogen  werden  würden. 

Handelt  es  sich  dabei  um  Kräfte,  die  in  dem 
ganzen  Gegenstande  oder  Wesen  wohnend  gedacht 
werden,  so  gibt  es  doch  auch  solche ,  die  nur  in  be- 
stimmten Teilen  des  menschlichen  oder  tierischen  Kör- 
pers gefunden  werden.  So  im  Kopf,  Gehirn,  Haar,  in 
den  Nägeln,  Füßen  und  Händen,  dem  Herzen,  Blut,  die 
daher  alle  in  der  Magie  eine  große  Rolle  spielen.  Um- 
gekehrt wohnen  jene  allgemeinen  Kräfte  auch  in  Aus- 
scheidungen des  Menschen,  seinem  Hauch,  Wort,  Namen, 
seiner  Nahrung  und  Kleidung,  seinem  Schatten  und 
Bild;  man  kann  also  mit  ihnen  ebenfalls  zaubern. 
Ebenso  ist  das  Verhalten  ein  Teil  des  Wesens  des 
Betreffenden,  mit  dem  man  ihn  selbst  in  seine  Gewalt 
bekommt:  so  erklären  sich  die  Tier-  und  Kriegstänze, 
sowie  manche  Fruchtbarkeitszauber. 

Zum  Schluß  wurde  darauf  hingewiesen  ,  daß  aus 
diesen  letzteren  vielfach  Spiele  entstanden  sind ,  und 
daß  vor  allem  Wissenschaft  und  Kunst  zum  Teil  aus 
der  Magie  stammen.  Den  nicht-magischen  Verhaltungs- 
weisen gegenüber  bezeichnet  diese  die  ältere  Ent- 
wickelungsstufe,  da  sie  es  auch  mit  bloßen  Kräften, 
noch  nicht  mit  Seelen  in  den  Dingen  zu  tun  hat ;  zur 
Religion  ist  aber  auch  sie  zu  rechnen. 

In  der  Sitzung  vom  23.  Juni  1914  berichteten 
die  Herren  Geheimräte  Verworn, Bonnet  undStein- 
mann  über  „Diluviale  Menschenfunde  in  Ober- 
cassel  bei  Bonn". 

I.  Fundbericht.  Von  Max  Verworn.  Am 
18.  Februar  dieses  Jahres  teilte  der  Steinbruchbesitzer 
Herr  Uhrmacher  aus  Obercassel  der  Universität  Bonn 
mit,  daß  in  seinem  Steinbruch  zwei  menschliche  Ske- 
lette und  ein  „Haarpfeil"  gefunden  worden  seien,  und 
fragte  an,  ob  einer  der  Herren  Professoren  Interesse  an 
dem  Funde  hätte  und  ihn  sich  ansehen  wollte.  Er 
sei  eventuell  bereit,  den  Fund  der  Universität  zu  über- 
lassen. Herr  Prof.  Max  Verworn,  dem  der  Brief 
übermittelt  wurde,  fuhr  dann  in  Begleitung  der  Herren 
Prof.  Bonuet  und  Heiderich  nach  vorhergehender 
Anmeldung  bei  Herrn  Uhrmacher  am  21.  Februar 
zur  Besichtigung  des  Fundes  nach  Obercassel.  Herr 
Uhrmacher  jun.,  der  die  Herren  an  der  Bahn  abholte, 
hatte  den  „Haarpfeil"  bei  sich.  Nach  der  Mitteilung 
erwarteten  die  Herren  einen  Fund  aus  der  Metallzeit. 
Sie  waren  daher  nicht  wenig  überrascht,  als  der 
„Haarpfeil"  sich  als  ein  paläolithisches  Knochenwerk- 
zeug aus  der  Renntierperiode  erwies.  Die  Überraschung 
wurde  noch  größer  bei  der  Besichtigung  der  Skelette 
und  der  Fundstelle.  Es  konnte  nach  allem  kein  Zweifel 
mehr  sein,  daß  das  Knochenwerkzeug  und  die  Skelette 
gleichaltrig  waren  und  daß  hier  zwei  nahezu  voll- 
ständige Menschenskelette  von  bewundernswerter  Er- 
haltung aus  der  Renntierzeit  vorlagen.  Die  Herren 
Max  Verworn,  Bonnet,  Steinmann,  Heiderich 
und  Stehn  nahmen  sich  sogleich  der  Angelegenheit 
an  und  kameu  überein,  über  den  Fund  erst  nach  Ab- 
schluß der  vorläufigen  Untersuchung  in  der  Bonner 
Anthropologischen  Gesellschaft  eine  genauere  Mit- 
teilung   zu    machen,    um    zu    vermeiden ,    daß    falsche 

9 


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Nachrichten  über  denselben  in  die  Tagesblätter  ge- 
langten. Dennoch  ist  es  leider  nicht  gelungen,  solche 
Zeitungsnachrichten  ganz  zu  verhindern. 

II.  Die  Kulturstufe  des  Fundes.  Von  Max 
Yerworn.  Die  Skelette  waren  bereits  einige  Zeit  vor 
der  Benachrichtigung  der  Universität  auf  Veranlassung 
des  Aufsehers,  der  zufallig  bei  ihrer  Auffindung  zu- 
gegen war,  von  den  Arbeitern  dem  Boden  entnommen 
und  in  der  Arbeitshütte  geborgen  worden,  so  daß  die 
Bonner  Anthropologen  leider  nicht  mehr  in  der  Lage 
waren,  alle  Einzelheiten  der  Situation  durch  eigene 
Ausgrabung  genau  festzustellen.  Indessen  ergab  doch 
eine  nachträgliche  Ausgrabung  noch  eine  ganze  An- 
zahl weiterer  Skeletteile  und  wichtiger  Momente  für 
die  Beurteilung  des  ganzen  Fundes. 

Der  Fundort  liegt  in  der  Nähe  eines  Basaltkegels, 
von  dem  im  Laufe  der  Jahrzehnte  bereits  ein  großer 
Teil  durch  den  Steinbruchbetrieb  abgetragen  ist.  An 
den  Abhang  des  Basaltkegels  lehnt  sich  eine  mächtige 
diluviale  Sandschicht  an,    die  überlagert  ist  von  einer 


gleichmäßig  gemischt  hatte.  In  dieser  Verwendung 
der  roten  Farbe  besteht  eine  völlige  Analogie  mit  ver- 
schiedenen französischen  und  österreichischen  Skelett- 
funden der  Diluvialzeit,  in  denen  typische  Begräbnisse 
zu  erblicken  sind,  wie  z.  B.  in  den  „Roten  Höhlen  von 
Mentoue"  und  im  Löß  von  Brunn. 

Bei  den  Skeletten  befanden  sich  verschiedene  Bei- 
gaben, und  zwar  einerseits  aus  Knochen  geschnitzte 
Gegenstände  und  andererseits  Tierknochen.  Feuerstein- 
geräte oder  überhaupt  nur  Spuren  von  Feuerstein- 
bearbeitung  wurden  nicht  beobachtet.  Auch  wurden 
keinerlei  Steingeräte  aus  andersartigem  Material  ge- 
funden, so  sorgfältig  und  oft  die  Fundstelle  auch  ab- 
gesucht und  weiter  frei  gelegt  wurde. 

Die  Knochengeräte  liefern  den  wichtigsten  An- 
haltspunkt für  die  Feststellung  der  Kulturstufe  und 
Zeitstellung  des  Fundes.  Sie  gestatten  glücklicher- 
weise mit  größter  Schärfe  und  Genauigkeit  die  Zu- 
weisung desselben  in  das  untere  Magdaleuieu.  Der 
„Haarpfeil",   welcher  nach  Angabe  der  Arbeiter  unter 


Fig.  1. 


Fundstelle  der  Skelette   von  Obercassel   bei  Bonn. 
Zu   Füßen  der  links  stehenden  Person  lagen  die  Skelette  und  Beigaben. 


spärlichen  Lehmlage ,  auf  der  sich  eine  lose  Schicht 
von  Basaltschotter  auftürmt,  der  im  Laufe  der  Zeit 
vom  Basaltkegel  sich  losgelöst  hat.  An  der  Basis  dieses 
Basaltschotters  zwischen  die  großen  und  kleinen  Basalt- 
blöcke eingebettet  liegt  die  Fundstelle  (Fig.  1).  Hier 
lagen  die  Skelette ,  deren  Orientierung  nicht  die 
gleiche  gewesen  zu  sein  scheint,  kaum  mehr  als 
einen  Meter  voneinander  getrennt,  nach  übereinstim- 
mender Angabe  der  Arbeiter,  von  Behr  großen  Basalt- 
platten bedeckt  in  einer  etwa  20  bis  30  m  dicken  und 
etwa  3  m  im  Flächendurchmesser  ausgedehnten ,  in- 
tensiv rot  gefärbten  Lage  von  kleineren  Basaltstücken 
und  Lehm.  Durch  die  Angabe  der  Arbeiter,  daß  die 
Skelette  von  großen  Basaltplatten  bedeckt  waren,  wird 
allein  ihre  ausgezeichnete  Erhaltung  erklärt,  die  sonst 
in  dem  groben,  schweren  und  scharfkantigen  Schotter- 
material nicht  leicht  verständlich  wäre.  Der  rote  Farb- 
stoff, welcher  die  Skelette  und  alle  Steine  in  der  ge- 
nannten Ausdehnung  umgab ,  bestand  aus  einem  pul- 
verigen Rötel,   welcher   sich  mit   dem  Lehm  ziemlich 


dem  Kopf  des  einen  Skelettes  lag,  ist  ein  aus  hartem 
Knochen  geschnitztes,  etwa  20cm  langes,  im  Quer- 
schnitt rechteckiges,  sehr  fein  poliertes  Glättinstrument, 
ein  sogenannter  „lissoir"  von  großer  Schönheit  der 
Arbeit  und  vorzüglicher  Erhaltung  (Fig.  2).  An  seinem 
Griffende  ist  ein  kleiner  Tierkopf  ausgearbeitet,  welcher 
Ähnlichkeit  mit  einem  Nagetierkopf  oder  einem  Marder- 
kopf hat.  Das  andere  Ende  ist  stumpf.  Auf  den 
Schmalseiten  zeigt  das  Instrument  eine  für  die  Renn- 
tierzeit sehr  charakteristische  Kerbschnittverzierung. 
Die  zweite  Knochenschnitzerei  ist  einer  jener  kleinen 
brettartig  schmalen  ,  auf  beiden  Seiten  gravierten 
Pf  erdeköpf  e ,  wie  sie  von  Girod  und  Massenat  in 
Laugerie  basse  und  von  Piette  in  den  Pyrenäen  in 
größerer  Zahl  und  mannigfachen  Variationen  gefunden 
wurden  und  die  ein  charakteristisches  Leitfossil  der  un- 
teren Magdalenienschichten  vorstellen.  Das  Obercasseler 
Exemplar,  das  sich  in  einzelnen  Bruchstücken  erst  bei 
der  Durchsicht  der  Menschenknochen  fand,  ist  leider 
bei   dem   Ausgraben   der   Skelette   zerbrochen  worden 


67 


und  nicht  mehr  ganz  vollständig.  Außerdem  sind  noch 
zwei  weniger  charakteristische  Knochenstücke,  welche 
Bearbeitung  erkennen  lassen,  gefunden  worden. 

Nach  allen  Feststellungen  kann  kein  Zweifel  sein, 
daß   es   sich   bei   dem    Funde    um   ein   Begräbnis   und 

Fig.  2. 


Glättinstrument  von  Obercassel 

mit  angesebnitztem  Tierkopf  und  Kerbverzierungen. 

Von  allen   vier  Seiten  gesehen.     Y2  nat.  Größe. 

nicht  um  einen  Lagerplatz  handelt.  Vermutlich  haben 
die  diluvialen  Jäger  in  der  Nähe,  wahrscheinlich  im 
Schutze  der  Basaltwand,  ihren  Lagerplatz  gehabt  und 
die  Toten  mit  ihren  Beigaben  in  nicht  allzu  großer 
Entfernung  davon  beigesetzt ,  indem  sie  dieselben 
nach  dem  üblichen  Ritus  mit  reichlichen  Mengen  roter 
Farbe  umgaben  und  mit  großen  Steinen  sorgfältig 
überdeckten. 

III.  Die  Skelette.  Von  R.  Bonn  et.  Außer  den 
überraschend  gut  erhaltenen  Schädeln  nebst  Unter- 
kiefern eines  männlichen  und  eines  weiblichen  Ske- 
lettes waren  fast  alle  wichtigen  Knochen  entweder 
ganz  oder  bruchstückweise  geborgen  worden.  Es  fehlten 
nur  die  Hand-  und  Fußwurzelknochen,  ein  Oberschenkel- 
bein, einige  Finger  und  Zehen,  sowie  die  Brustbeine. 
Wir  besitzen  einstweilen  in  Deutschland ,  abgesehen 
von  dem  nach  seinem  geologischen  Alter  nicht  be- 
stimmbaren und  in  seinen  Knochen  leider  sehr  unvoll- 
ständigen Neandertalskelett x)  und  dem  hochwichtigen 
Unterkiefer  von  Mauer  bei  Heidelberg  an  diluvialen 
Menschenresteu  nur  einige  mehr  oder  minder  defekte 
Unterkiefer,  einige  Zähne  und  vereinzelte  nahezu  wert- 
lose Kuochenstücke.  Die  Schädelfunde  aus  der  Ofnet 
bei  Nördlingen  in  Bayern  fallen  in  die  Übergangszeit 
des  Diluviums  in  die  Jetztzeit  (Alluvium). 

Der  Fund  von  Obercassel  stellt  sich  durch  seinen 
Erhaltungszustand,   durch   die  Sicherheit   der  Bestim- 


x)  Gefunden    in    der    kleinen    Feldhofer    Grotte    in    dem 
von   der  Dussel  durchströmten  Keandertal  bei  Düsseldorf  1856. 


mung  seines  geologischen  und  archäologischen  Alters, 
durch  seine  Vollständigkeit  und  dadurch,  daß  er  aus 
einem  männlichen  und  weiblichen  Skelett  besteht,  den 
besten  diluvialen  Funden  an  die  Seite.  Er  ist  außer- 
dem der  erBte  Fund  nahezu  vollständiger 
menschlicher  Skelette  aus  dem  Quartär  und 
speziell  aus  dem  Magdalenien  in  Deutschland. 

Es  muß  ein  seltsames  Paar  gewesen  sein,  dessen 
Reste  die  Hacke  des  Arbeiters  aus  ihrer  vieltausend- 
jährigen Ruhe  wieder  zutage  förderte.  Ich  beschränke 
mich  einstweilen  nur  auf  die  wichtigsten  Angaben  über 
die  Schädel.  Der  eine  Schädel  von  einer  etwa  20jäh- 
rigen  Frau  war  in  den  sehr  einfachen  Nähten  gelöst 
in  Beine  einzelnen  Knochen  zerfallen,  konnte  aber,  ab- 
gesehen von  Teilen  beider  Schläfenschuppen,  den  Nasen- 
beinen und  einigen  Defekten  au  der  Schädelbasis  vor- 
züglich zusammengesetzt  werden. 

Der  dolichocephale  (langköpfige),  in  Scheitelansicht 
durch  Einziehung  der  fhichen  Schläfen  und  Auftreibung 
der  Schläfenschuppe  leicht  gitarrenf örmige  Hirnschädel 
hat  einen  Längen- Breitenindex  von  71,  eine  größte 
Länge  von  181,  eine  größte  Breite  von  129,  sowie  eine 
größte  Höhe  von  134  mm  (vom  vorderen  Rande  des 
Ilinterhauptsloches  zum  Scheitelpunkt  gemessen).  Sein 
Horizontalumfang  beträgt  512  mm.  In  Seitenansicht 
verläuft  der  Contur  des  Hirnschädels  über  die  gut  ge- 
wölbte steile  Stirn  bis  zum  Hinterhauptsloch  in  schönem 

Fig.  3. 


Schädel  der_Frau  von   Obercassel,   etwa  \  »■ 

Bogen.  Das  Gesicht  zeigt  in  Vorderansicht  einen  kräftig 
entwickelten  Kieferapparat.  Die  mäßig  breite  Stirn  wird 
durch  eine  Stirnnaht  geteilt ,  eine  Seltenheit  bei  den 
diluvialen  Langschädeln.  Die  Uberaugenhöcker  sind  für 
eine  Frau  gut  entwickelt,  die  viereckigen  Augenhöhlen 
verhältnismäßig  groß.  Die  Nasenöffnung  ist  von  mäßiger 


68 


Größe,  der  Gaumen  ist  tief  gewölbt,  ein  sehr  kräftiger 
Unterkiefer  mit  deutlichem  Kinn  vervollständigt  die 
steile  l'rotilliuie.  Das  (lebiß  war  während  des  Lebens 
bis  auf  den  dritten,  rechten,  oberen  Mahlzahu  voll- 
ständig. Die  drei  letzten  Mahlzähne  sind  weniger  ab- 
gekaut  als    das   übrige  Gebiß,   also  noch   nicht    allzu 

Fig.  4. 


Hinterhauptsansicht  der  Krau   von  Obercassel,   *  o. 

lange  durchgebrochen.  Der  Zahnbogen  ist  paraboloid, 
die  Hinterhauptsansicht  bildet  ein  schlankes  und  hohes 
Pentagon,  dessen  obere  Kante  durch  den  hausdach- 
ähnlichen  Abfall  der  vorderen  Hälfte  der  Seitenwand- 
beine  zu  beiden  Seiten  der  oflenen  Pfeilnaht  kiel- 
ähnlich vorspringt.  Die  Kleinhirnausbuchtungen  des 
Hinterhauptsbeines  sind  beträchtlich. 

Die  übrigen  Skelettknochen  deuten  auf  einen  zier- 
lichen Körper  von  etwa  155  cm  Länge. 

Im  Gegensatze  zu  diesem  Schädel  zeigt  der  bru- 
tale Gesichtsschädel  des  Mannes  durch  seine  Breite 
und  Niedrigkeit  ein  grobes  Mißverhältnis  zu  der  mäßig 
breiten  und  etwas  geneigten  Stirne  und  dem  gut  ge- 
wölbten Hirnschädel.  Eine  leichte,  schon  während  des 
Lebens  vorhandene  Verbiegung  des  Oberkiefers  nach 
rechts  und  das  mangelhafte  Gebiß  machen  die  Phy- 
siognomie noch  abstoßender  und  lassen  den  Schädel 
greisenhafter  erscheinen ,  als  er  tatsächlich  ist.  Da 
nur  die  Pfeilnaht  und  das  an  sie  angrenzende  Stück 
der  Lambdanaht  verknöchert  sind,  darf  man  auf  ein 
Alter  von  40  bis  50  Jahren  schließen.  Auch  dieser, 
in  Scheitelansicht  schön  ovale ,  Schädel  ist  mit  einem 
Längen-Breitenindex  von  74  dolichocephal.  Seine  größte 
Länge  beträgt  194,  die  größte  Breite  144,  die  größte 
Hohe  138.  Der  Horizontalumfang  552  mm.  Die  Kapa- 
zität wurde  auf  etwa  1500  cm3  bestimmt.  Die  Über- 
gesichtsbreite ist ,  abgesehen  von  dem  breiten  Ober- 
kiefer, durch  ein  ungewöhnlich  großes  und  breites 
Jochbein  eine  sehr  beträchtliche  (153  mm).  Die  nie- 
drigen rechteckigen  Augenhöhlen  sind  stark  nach 
außen  und  unten  geneigt,  über  ihnen  fällt  ein  einheit- 
licher etwa  8  mm  breiter  Oberaugenhöhlenwulst  (Torus 
supraorbitalis)  auf.  Ein  niedriger  mittlerer  Stiru- 
wulst  zieht  sich  verbreiternd  und  verflachend  bis  zum 
Scheitelpunkt.  Die  Nasenöffnung  ist  im  Verhältnis 
zur  Gesichtsbreite  schmal,  der  Gaumen,  abgesehen  von 


der  teilweisen  Rückbildung  seines  Zahnfachfortsatzes 
im  Verhältnis  zum  übrigen  Kiefergerüst  auffallend 
klein.  Der  nicht  paraboloide  Zahnbogen  des  sehr 
kräftigen  Unterkiefers  hat  die  Form  eines  V  mit  ab- 
gestumpften Winkeln ,  umfaßt  den  Oberkiefer  von 
außen  und  besitzt  ein  stark  vorspringendes  Kinn- 
dreieck, abgerundete  Winkel  und  einen  sehr  schwachen 
Fortsatz  für  den  Schläfenmuskel,  der  den  nach  ein- 
wärts gebogenen  Gelenkfortsatz  nach  außen  kreuzt. 
Im  Oberkiefer  waren  während  des  Lebens  nur  noch 
die  beiden  letzten  stark  nach  auswärts  gerichteten 
Mahlzähne  beiderseits  und  der  linke  Eckzahn  vor- 
handen. Im  Unterkiefer  sind  während  des  Lebens 
zwei  Schneidezähne ,  nachträglich  noch  ein  Schneide- 
und  ein  Eckzahn  ausgefallen.  Sämtliche  Zahnkronen 
sind,  wie  man  das  vielfach  auch  an  Gebissen  noch 
nicht  seniler  Schädel  aus  dem  Quartär  findet ,  bis  auf 
schmale  Beste  des  Emails  abgekaut.  Das  freiliegende 
Dentin  ist  schwarz  wie  Ebenholz. 

Zwei  stark  gewölbte  Gelenkfortsätze  flankieren 
das  große,  etwas  nach  rückwärts  gerückte  Hinterhaupts- 
loch.  Die  Profillinie  des  Gesichts  ist  zum  Teil  durch 
Rückbildung  des  etwas  prognathen  Zahnfachfortsatzes 
des  Oberkiefers  eine  steile. 

Fig.  5. 


Schädel  des  Mannes  von  Obercassel,    l/g.  Das  fehlende   rechte 
Jochbein  und  ein  Teil    des    rechten  Oberkiefers  sind  ergänzt. 

Die  starke  Entwickelung  sämtlicher  Muskelfort- 
sätze am  Schädel  und  an  den  Extremitätenknochen 
zeugt  von  ungewöhnlicher  Körperkraft  des  etwa  160  cm 
großen  Mannes. 

Der  sehr  auffallende  Gegensatz  zwischen  beiden 
Schädeln  wird  gemildert  und  verständlicher  durch  die 
Tatsache,  daß  die  derbe  Modellierung  beim  Manne  an 


69 


dem  zarteren  und  kleineren  weiblichen  Schädel  der- 
selben Rasse  stets  abgeschwächt  wird  und  daß  dessen 
Augenhöhlen  verhältnismäßig  größer  sind.  Beide 
Obercasseler  Schädel  zeigen  eine  auffallende  Gesichts- 
breite, beide  zeigen  ziemlich  steile  Gesichter  mit  ein- 
gezogener Nasenwurzel,  beide  eine  gute  Profilrundung 
des  Hirnschädels,  beide  lassen,  wenn  auch  der  Mann 
in  viel  geringerem  Grade ,  den  Scheitelkiel  erkennen. 
Der  bei  der  Frau  nur  augedeutete  Stirnwulst  erinnert 
beim  Manne  zusammen  mit  dem  Überaugenhöhlenwulst 
an  die  Neandertalrasse.  Das  breite  niedere  Gesicht 
des  Mannes  mit  den  niederen  rechteckigen  Augen- 
höhlen, der  schmalen  Nase  und  dem  V-förmigen  Unter- 
kiefer mit  seinem  ausgesprochenen  Kinndreieck  sind 
dagegen  bekannte  Merkmale  der  Cro-Magnon-Rasse  x). 
Von  dieser  unterscheidet  er  sich  aber  ebenso  wie 
die  Frau  durch  die  Lage  der  größten  Schädelbreite. 
Diese  liegt  bei  den  Cro  -  Magnons  im  Bereiche  ihrer 
seitlich  weit  ausladenden  Scheitelhöcker,  bei  den  Ober- 
casseler Schädeln  dagegen  im  Bereiche  der  Schläfen- 
schuppen über  dem  Warzenfortsatze ,  also  wesentlich 
tiefer  und  an  einem  ganz  anderen  Knochen.  Diese 
Lage  der  größten  Breite  und  namentlich  der  bei  der 
Frau  gut  modellierte  Scheitelkiel  nähern  die  Schädel 
dem  ebenfalls  einer  Magdalenienschicht  entstammenden 
Schädel  von  Chancelade  in  der  Dordogne.  Außerdem 
gleicht  der  Frauenschädel  etwas  in  Vorderansicht  dem 
1909  ebenfalls  in  der  Dordogne  aus  einer  Aurignacien- 
schicht  durch  Hauser  und  Klaatsch  ausgegrabenen 
Schädel  von  Combe-Capelle.  Aber  im  Gegensatze  zu 
dem  Schädel   von  Combe-Capelle   mit   seinem   zapfen- 


förmig  vorspringenden  Hinterhaupt  ist  das  Hinterhaupt 
der  Frau  von  Obercassel  halbkugelförmig  abgerundet. 
Die  Obercasseler  Schädel  weisen  also  neben  un- 
verkennbaren, durch  den  Geschlechtedimorphismus 
etwas  verdeckten,  Ähnlichkeiten  auch  nicht  unbeträcht- 
liche Abweichungen  voneinander  auf.  Während  der 
Manu  RasBezeichen  der  Neandertaler,  der  Cro-Magnons 
und  Anklänge  an  den  Schädel  von  Chancelade  zeigt, 
die  auch  an  dem  Hirnschädel  der  Frau  auffallen,  treten 
bei  dieser  die  Cro-Magnon- Merkmale  zurück.  Der 
Gesichtsschädel  der  Frau  unterscheidet  sich  von  dem 
männlichen  von  Combe-Capelle  im  wesentlichen  durch 
das  besser  entwickelte  Kinn  und  die  beträchtlich 
größere  Winkelbreite  des  Unterkiefers.  In  beiden  Ober- 
casseler Schädeln  kommen  die  sehr  bemerkbaren  Folgen 
während  des  Diluviums  stattgefundener  Kreuzungen 
zum  Ausdruck.  Das  ist  kaum  überraschend.  Die 
Frage  ist  nur,  zu  welcher  Zeit  und  wo  sie  stattgefunden 
haben,  sowie,  ob  die  einstweilen  nur  nach  verhältnis- 
mäßig wenigen  Funden  getroffene  Aufstellung  dilu- 
vialer Rassen  auch  alle  damals  tatsächlich  vorhandenen 
umfaßt,  oder  ob  weniger  Urrassen  anzunehmen  sind, 
als  man  gegenwärtig  meint,  und  wie  hoch  deren  indi- 
viduelle Variationsbreite  zu  veranschlagen  ist.  In 
mancher  dieser  „Rassen" ,  wie  z  B.  in  dem  zurzeit 
recht  weiten  Begriff  der  Cro-Magnon -Rasse,  scheint 
mir  vieles  untergebracht  zu  werden .  was  ihr  nicht 
zugehört  oder  höchstens  ,noch  neben  beträchtlichen 
Abweichungen  vereinzelte  Anklänge  an  sie  erkennen 
läßt.  Eine  weitere  Erörterung  dieser  Frage  behalte 
ich  mir  einstweilen  vor. 


Geologische  Periode 


Menschenreste 


Kulturstufe 


Jetztzeit 


Heutige  Menschenformen 


jüngeres  Neolithikum 


Bandkeramik  | 

Schnurkeramik  / 

,„...,,  .. ,,.         x     älteres  Neolithikum 

(Kjokkenmoddmger)  | 


s 


Nacheiszeit 
Würmeiszeit 

III.  Zwischeneiszeit 
(jüngerer  Löß) 
Rißeiszeit 


g  f  IL  Zwischeneiszeit 

H  ]     (älterer  Löß) 
•g  Mindeleiszeit 

«  C  I.  Zwischeneiszeit 

fe  <     (alte  diluviale  Sande) 

3  [     Günzeiszeit 


Skelette  von  La  Madeleine, 
Chancelade,  Laugerie  basse 
und  Obercassel 

Skelette  v.  Brunn,  Pfedmost, 
Grimaldi,  Combe  Capelle, 
Cro  Magnon 


Neandertalrasse 


Unterkiefer  von  Mauer 


Tertiär 


Pliocän 
Miocän 
Eocän 


Magdalenien 


Solutreen 
Aurignacien 

Mousterien 
Acheuleen 
Chelleen 
Strepyien 


jüngeres  Paläolithikum 


älteres  Paläolithikum 


Archäolithikum 


\   Eolithikum 
;  (hypothetisch) 


x)  So  genannt  nach    dem    ersten  Fundort    dieser  Rasse  unter    dem  Abri  (Schutzdach)    von  Cro-Magnon    im   Vezevetal    bei 
Les  Eyzies  in  der  Dordogne. 

* 


70 


IV.  Über  das  geologische  Alter  der  Fund- 
stelle. Von  G.  Steinmann.  Die  geologischen  Ver- 
hältnisse der  Fundstelle  und  ihrer  Umgebung  wurden 
unter  Mitwirkung  des  cand.  geol.E.Stehn  untersucht. 
VorAnlagi  de  heul  ;en  Steinbruchs  „im  Stingenberg" 
bildete  die  liabenlav  an  ihrem  V  n  iprunge,  dem  so- 
genannten Kuekstein,  einen  Steilabsturz ,  der  durch 
den  Steinbruchsbetrieb  fasl  ganz  beseitigt  ist.  Am 
Fuße  dieses  früheren  Steilabsturzes  befindet  sich  die 
Fundstelle  in  einer  Meereshöhe  von  99m  über  dem 
Meere.  Folgendes  Profil  wurde  durch  die  Weganlage 
aufgeschlossen  (von  oben  nach  unten): 

etwa  0,5  in  Abraum  des  Steinbruchs  und  Humus- 
decke ; 

etwa  6m  ungestörter  Gehängeschutt,  aus  mehr 
der  minder  verwitterten  Blöcken  und  Brocken  von 
Ilasalt,  untermischl  mit  Basaltton.  Lößmateria]  fehlt 
darin  (und  darüber)  durchaus,  dagegen  fanden  sich 
einige  Gerolle  aus  (juarz,  die  aus  der  Hauptterrasse 
von  der  Höhe  des  Kucksteins  herabgerollt  oder  -ge- 
schwemmt sind.  An  der  Basis  dieses  Gehängeschutt- 
lagers fanden  sich  die  Skelette  und  Beigaben ,  sowie 
ein  Eckzahn  vom  Renntier  und  ein  Bo videnzahn, 
in  einer  rötlichen  Kulturschicht  auf  und  in 
0,1  m  sandigem  Lehm.     Darunter  folgen 

bis  4  m  mächtiger  graugelber  Rheinsand.  Dieser 
Sand  gehört  der  Hochterrusse  des  Rheins  an ;  er  findet 
sich  in  gleicher  geologischer  Stellung  an  mehreren 
Punkten  der  Umgebung; 

1  m  anstehender  Basalt ,  in  die  Tiefe  fortsetzend, 
oberflächlich  tonig  zersetzt. 

In  der  Fortsetzung  der  rotgefärbten  Kulturschicht 
gegen  die  Basaltwand  zu  wurden  ferner  gefunden :  ein 
rechter  Unterkiefer  vom  Wolf,  ein  Zahn  vom  Höhlen- 
bären und  Knochen  vom  Reh,  sowie  Holzkohle, 
die  einigen  Knochen  anhaftete. 

Für  die  Altersbestimmung  sind  außer  den  paläon- 
tologischen Funden ,  die  bestimmt  auf  ein  diluviales 
Alter  hinweisen,  folgende  Tatsachen  von  Wichtigkeit. 
Das  gänzliche  Fehlen  von  Löß  auf  und  im  Gehänge- 
schutte beweist ,  daß  die  Kulturschicht  jünger  ist  als 
der  Löß.  Damit  ist  ein  Aurignacien- Alter  ausge- 
schlossen ,  da  diese  Kultur  in  die  Lößzeit  fällt.  Es 
kann  sich  also  nur  um  eine  nachlössische  Kultur  han- 
deln, um  Solutreen  oder  Magdalenien.  Da  Solutreen- 
Kulturen  bis  jetzt  am  Niederrhein  noch  nicht  bekannt 
geworden ,  Magdalenien  -  Kulturen  dagegen  mehrfach 
vorhanden  sind,  so  spricht  die  Wahrscheinlichkeit  für 
Magdalenien. 

Die  bedeutende  Mächtigkeit  des  Gehängeschuttes, 
der  die  Kulturschicht  bedeckt,  läßt  sich  dahin  deuten, 
daß  auf  die  Bildung  der  Kulturschicht  noch  ein  be- 
trächtlicher Teil  der  letzten  Eiszeit  folgte,  während 
dessen  der  Gehängeschutt  entstand. 

In  der  Sitzung  vom  21.  Juli  1914  sprach  Herr 
Prof.  Hübner  über  „Kriminalpsychologisches 
und  Anthropologisches  aus  der  Polizeiwissen- 
schaff. 

Der  Zweck  des  Vortrages  liegt  darin,  zu  zeigen, 
daß  sich  die  Polizeiwissenschaft  ebenso  wie  die  gericht- 
liche Medizin.  Psychologie  und  Psychiatrie  naturwissen- 
schaftlicher Methoden  bedient. 

Vortragender  bespricht  die  Gewinnung  von  Fuß- 
und  Fingerabdrucken,  das  Bertillonsche  System  und 
das  „Gedächtnisbild". 

Ausführlicher  geht  Vortragender  auf  die  psycho- 
logischen Probleme  ein. 


Zunächst  zeigt  er  an  einfachen  Experimenten,  die 
er  in  seinen  Vorlesungen  ausgeführt  hat,  daß  die 
Wiedergabe  von  frühereu  optischen  und  akustischen 
Eindrücken  auch  von  Gebildeten  nur  ungenau  erfolgt. 
So  hat  Hübner  z.  B.  an  ein  Auditorium  von  50  Stu- 
denten sechs  Fragen  über  den  Bonner  Bahnhof  (Zahl 
der  (ieleise  und  Bahnsteige,  Ausgänge,  Anordnung  der 
Briefkästen  usw.)  gerichtet.  Er  erhielt  bei  einzelnen 
Fragen  (Ausgänge)   bis   zu  50  Proz.  falscher  Angaben. 

Es  wurde  dann  die  Rolle  der  Intelligenz  und  der 
Phantasie  bei  der  Verarbeitung  schnell  ablaufender 
Vorgänge  besprochen.  Hübner  hat  intellektuell  tief 
stehenden  Versuchspersonen  und  Hysterischen  einfache 
Handlungen  mit  Hilfe  deB  Kinematographen  vorgeführt 
und  sie  dann  zu  einer  Beschreibung  des  Gesehenen 
veranlaßt.  Bei  den  schwach  Beanlagten  zeigte  sieh, 
da  Li  das  (iesehene  nur  unvollständig  wahrgenommen 
und  durch  eigene  Erfindungen  ergänzt  wurde.  Einzelne 
Hysterische  brachten  phantastische  Erzählungen  vor, 
die  mit  dem  wirklich  Vorgeführten  zum  Teil  kaum 
noch  in  Zusammenhang  standen. 

Zum  Schluß  bespricht  Hübner  die  Assoziatious- 
experimente  zur  Psychologie  der  Aussage  und  streift 
die  Psychologie    der  Spezialisten   des  Verbrechertums. 

In  der  Sitzung  vom  1.  Dezember  1914  sprach  Herr 
Prof.  MaxVerworn  mit  Rücksicht  auf  das  Interesse, 
das  die  Sinaihalbinsel  durch  die  Ausdehnung  des 
Krieges  auf  jene  wenig  bekannten  Gegenden  augen- 
blicklich gewonnen  hat,  auf  Grund  seiner  in  den  Jahren 
1890/91  und  1894/95  ausgeführten  Studienreisen  über 
„Land  und  Leute  der  Sinaihalbinsel". 

Die  eigentliche  Sinaihalbinsel  wird  begrenzt  im 
Westen  durch  den  Golf  von  Suez,  im  Osten  durch  den 
Golf  von  Akaba  und  im  Norden  durch  eine  Ver- 
bindungslinie zwischen  den  beiden  einzigen  Städten, 
die  an  ihrem  Rande  liegen ,  Suez  und  Akaba ,  eine 
Verbindungslinie,  die  zugleich  die  wichtige,  alte  Pilger- 
straße der  über  Suez  nach  Mekka  ziehenden  Karawanen 
vorstellt.  Weiter  nach  Norden  erstreckt  sich  die  weite, 
südlich  steil  nach  der  Sinaihalbinsel  hin  abfallende 
Wüste  Et  Tih ,  die  im  Westen  vom  Suezkanal ,  im 
Osten  durch  die  von  Akaba  aus  nach  dem  Toten  Meer 
hinaufziehende  Einbruchsrinne  abgegrenzt  wird.  Um- 
geben ist  die  Küste  der  Halbinsel  von  Korallenbänken, 
die  namentlich  im  Süden  zu  einigen  vollkommen  öden 
Koralleninseln  sich  erhoben  haben.  Das  ganze  Gebiet, 
die  „Arabia  petraea"  der  Alten  stellt  ein  echtes  Wüsten- 
gebiet vor  und  gehört  zu  den  wasser-  und  vegetations- 
ärmsten der  ganzen  Erde.  Rotleuchtende,  scharf- 
geschnittene Bergketten  des  Urgebirgsstockes  ziehen 
unter  dein  türkisblauen  Himmel  durch  die  Mitte  der 
Halbinsel  nach  Süden.  Steile,  von  nackten  Felsen  ein- 
geengte Wädis  führen  in  labyrinthartigen  Windungen 
von  den  sonnendurchglühten  Bergkuppen  nach  Westen 
hinab  in  die  offene  Sandwüste  El  Käa,  wo  sie  sich 
verbreitern  und  in  ihren  flachen  Ausläufern  vielfach 
bis  ans  Meer  erkennbar  bleiben.  Nur  an  wenigen 
Orten  in  den  Wädis  finden  sich  kleine  Wasserstellen, 
die  durch  spärliche,  im  Winter  fallende  Regengüsse 
erhalten  werden.  An  solchen  Stellen ,  wie  z.  B.  im 
Wädi  Feirän,  in  dem  die  Ruinen  der  alten  römischen 
Wüstenstadt  Pharan,  des  Schauplatzes  von  Ebers'  „Homo 
suin".  gelegen  sind,  gedeiht  überall,  wo  der  Boden  mit 
Wasser  und  Sonnenglut  sich  mischt,  eine  überaus 
üppige  Vegetation.  Weiter  unten,  wo  das  Wasser  im 
Boden  versiegt ,  beginnt  aber  haarscharf  abgegrenzt 
wieder  die  öde,  von  sengenden  Sonnenstrahlen  durch- 
glühte Wüste. 


71 


Die  Bewohner  der  eigentlichen  Siuaiwiiste  sind 
die  Towära  -  Beduinen ,  die  sich  in  etwa  12  Stämme 
gliedern.  Indessen  diese  Stämme  sind  klein  und  um- 
fassen durchschnittlich  nicht  mehr  als  100  bis 
200  Männer.  Sämtliche  Towära-Stämme  sind  Nomaden 
und  leben  von  Viehzucht  und  Jagd.  An  der  Küste 
hält  sich  aber  auch  immer  eine  Anzahl  von  Familien 
auf,  die  sich  durch  Fischfang  ernähren,  der,  wenn 
auch  von  den  Beduinen  mit  sehr  primitiven  Mitteln 
(z.  B.  kleinen  Wurfnetzen ,  großen ,  an  langer  Leine 
hinter  dem  schnellsegelnden  Boote  her  geschleiften 
Angelhaken  usw.)  betrieben ,  doch  wegen  des  großen 
Fischreichtums  des  Roten  Meeres  sehr  ergiebig  ist. 
Eine  der  wichtigsten  Einnahmequellen  aber  ist  für 
die  Towära-Beduinen  die  Führung  der  Pilgerkarawanen 
zum  und  vom  Sinaikloster  im  zentralen  Hochgebirge 
der  Halbinsel,  und  vor  allem  auch  der  Seeraub.  Das 
Recht  der  Karawanenführung  nehmen  zwei  Stämme 
für  sieh  in  Anspruch,  die  Allegät  und  die  Sawalche, 
die  sich  als  die  Herren  der  Sinaihalbinsel  betrachten, 
und  nach  ganz  bestimmten,  durch  die  Tradition  ge- 
heiligten Gesetzen,  die  den  Europäer  höchst  sonderbar 
anmuten ,  den  Gewinn  teilen.  Der  Seeraub  wird  im 
großen  betrieben,  sobald  ein  größerer  Handelsdampfer 
auf  eine  der  zahllosen  Korallenriffe  im  Süden  der 
Halbinsel  aufgelaufen  ist.  Dann  strömt  es  von  allen 
Seiten  in  Fischerbooten  herbei  und  unter  dem  Vor- 
wand retten  zu  helfen ,  raubt  man  alles ,  was  irgend 
beweglich  ist  und  einigen  Wert  hat,  und  scheut  auch 
vor  Mord  und  Todschlag  nicht  zurück.  Von  dieser 
Seeräuberei  finden  sich  die  seltsamsten  Spuren  weit 
durch  die  Wüste  hin  verbreitet  in  den  verschiedenen 
Zeltlagern  der  Towära-Stämme.  Kabinenlaternen, 
Weckeruhren,  Regenschirme,  Teller,  Taschentücher  usw. 
findet  mau  gelegentlich  in  trostlosem  Zustande  im 
Besitz  der  Leute. 

Die  Verfassung  der  einzelnen  Stämme  ist  eine 
vollkommen  demokratische.  Der  Schech  eines  jeden 
Stammes  hat  lediglich  als  Sprecher  und  Vertreter  des 
Stammes  bei  Verhandlungen  und  im  Kriege  mit  anderen 
Stämmen  zu  dienen,  genießt  aber  im  übrigen  keinerlei 
Vorrechte  vor  den  anderen  Männern,  ja  wird  sogar 
nicht  einmal  höher  geachtet.  Die  Gesamtheit  der 
Stämme  wird  vertreten  durch  einen  von  allen  aus  den 
angesehensten  Leuten  gewählten  Schech  aller  Sinai- 
beduinen, der  nur  die  Gesamtinteressen  der  Towära- 
Stämme  anderen  Völkern,  vor  allem  den  Ägyptern 
gegenüber,  wahrzunehmen  hat.  Geschriebene  Gesetze 
existieren  nicht.  Alles  ist  Tradition ,  die  man  aber 
ungeheuer  konservativ  festhält.  So  herrscht  noch 
immer  das  Gesetz  der  Blutrache.  Bei  den  weiten 
Entfernungen  und  den  Schwierigkeiten  der  einzelnen 
Stämme,  miteinander  in  Verhandlungen  zu  treten, 
schweben  einzelne  Fälle  oft  viele  Jahre  lang.  Recht- 
liche Streitigkeiten  entwickeln  sich  fast  immer  um 
das  Recht  der  Karawanenführung  und  die  Teilung  des 
Gewinnes.  Aber  es  geht  auch  kaum  eine  Führung 
ohne  diesen  üblichen,  bis  zur  Leidenschaft  gesteigerten 
Streit  ab.  Diebstahl  kommt  fast  niemals  vor,  da  so 
schwere  Strafen  darauf  stehen ,  daß  der  Dieb  für  sein 
Leben  ruiniert  wäre. 

Die  Religion  folgt  dem  Islam  ohne  Fanatismus. 
Die  durch  und  durch  fatalistische  Weltauffassung  des 
Islam  erhält  den  Beduinen  bedürfnislos  und  das  ist 
seine  wichtigste  Lebensforderung ,  denn  zunehmende 
Bedürfnisse  würde  er  in  der  Wüste  nicht  erfüllen 
können.  So  charakterisiert  das  ganze  Beduinenleben 
ein  äußerster  Konservativismus.   Wie  sieh  die  äußeren 


Lebensbedingungen ,  für  die  Mohammed  einst  seine 
Religion  in  eklektischer  Weise  geschaffen  hat,  seit 
jenen  Tagen  nicht  im  geringsten  verändert  haben, 
so  sind  auch  die  Lebensverhältnisse  und  die  An- 
schauungen der  heutigen  Beduinen  noch  genau  die- 
selben, wie  zu  Mohammeds  Zeit,  und  der  Islam  bleibt 
die  beste  Religionsform  für  diese  Stämme,  solange 
ihre  Weltabgcschlossenheit  in  dem  Wüstenmilieu  sich 
nicht  ändert.  Der  Fatalismus  erhält  die  Leute  zu- 
frieden und  verhindert,  daß  sie  je  wirklich  unglücklich 
werden. 

Die  Stellung  der  Frau  ist  eine  eigenartige.  Die 
Frau  wird  gekauft.  Ist  die  „Fantasia",  welche  das 
Hochzeitsfest  bildet ,  vorüber ,  so  hat  auch  die  Frau 
de  facto  die  Herrschaft  übernommen,  die  sie,  gestützt 
durch  die  eng  zusammenhaltende  Gesamtheit  der  Frauen 
des  Lagers,  auch  rückhaltlos  für  die  Erreichung  ihrer 
Ziele  ausübt.  Der  Mann  erfüllt  ihr ,  wenn  auch  oft 
erst  nach  langwierigen  Verhandlungen,  fast  ausnahms- 
los ihre  Wünsche,  besonders  hinsichtlich  des  Schmuckes 
und  der  Süßigkeiten ,  sonst  macht  sie  ihm  den  Auf- 
enthalt im  Lager  zur  Hölle.  Erst  wenn  die  Zeichen 
des  Alters  ihre  Reize  verdrängen,  kehrt  sich  das  Ver- 
hältnis um,  und  die  Frau  wird  nicht  selten  verstoßen. 

Sehr  primitiv  sind  die  medizinischen  Vorstellungen 
der  Towära  -  Beduinen.  Es  herrscht  die  unklare  Auf- 
fassung, daß  die  gleiche  Medizin  gegen  alle  möglichen 
Krankheiten  helfen  könne ,  indem  die  AVirkung  einer 
Medizin  eben  darin  besteht,  daß  sie  den  kranken  Men- 
schen gesund  macht.  Dennoch  wendet  man  gelegentlich 
für  einzelne  Krankheiten  spezielle  Mittel  an ,  so  z.  B. 
Schießpulver  und  Hammeltalg  als  Augensalbe,  Kaffee- 
satz als  Wundpflaster,  Brennen  mit  glühendem  Eisen 
gegen  Gliederschmerzen  usw.  Eine  wichtige  Rolle 
spielen  die  Teufelsaustreibungen  mit  seltsamen  Zere- 
monien, denn  viele  Krankheiten  werden  als  Besessen- 
heit durch  böse  Geister  aufgefaßt.  Zu  der  Anschauung 
des  Islam,  daß  alles,  was  geschieht ,  nur  durch  Allahs 
Willen  geschieht,  daß  alles,  was  Allah  will,  gut  ist, 
und  daß  man  nichts  gegen  den  Willen  Allahs  tun  darf, 
erblickt  man  in  der  Anwendung  von  Mitteln  zur  Be- 
seitigung einer  Krankheit  keinen  Widerspruch ,  denn 
wie  ein  Beduine,  den  der  Vortragende  in  diesem 
Punkte  einmal  ausforschte,  ihm  sagte,  will  Allah  zwar, 
daß  den  Menschen  diese  oder  jene  Krankheit  befällt, 
aber  er  hat  auch  diesen  oder  jenen  Menschen  zu 
einem  „Hakim"  (Arzt)  gemacht,  damit  dieser  die 
Krankheit  heilen  kann. 

Der  Vortragende  schloß  mit  der  Schilderung  einiger 
Reisen  und  Reiseerlebnisse  in  der  Wüste  und  im  Ge- 
birge und  begleitete  seine  Darstellung  mit  zahlreichen 
Lichtbildern  selbstaufgenommener  Photographien  von 
Land  und  Leuten  am  Sinai. 

In  der  Hauptversammlung  der  Anthropologischen 
Gesellschaft  in  Bonn  am  2.  Februar  1915  berichtete 
der  Vorsitzende  Herr  Geheimrat  Verworn  über  das 
abgelaufene  Geschäftsjahr  folgendes :  Die  Zahl  der 
Mitglieder  betrug  zu  Beginn  des  Jahres  1914  114,  sie 
sank  auf  112.  In  den  sechs  Sitzungen  des  verflossenen 
Jahres  wurden  acht  Vorträge  aus  den  verschiedenen 
Gebieten  der  Anthropologie  gehalten.  Herr  Bank- 
direktor Steinberg  erstattete  sodann  den  Kassen- 
bericht. Die  Prüfung  der  Rechnungen  wurde  von 
Herrn  Prof.  Sehöndorff  vorgenommen,  dem  Herrn 
Kassenführer  Entlastung  erteilt.  Die  Wiederwahl  des 
Vorstandes  wurde  gemäß  einem  Antrage  aus  der  Ver- 
sammlung durch  Akklamation  vorgenommen. 


72 


Sodann  sprach  Herr  Prof.  Dr.  E.  Küster  über 
„Zauber  pflanzen". 

Der  Vortragende  leitet  seine  Ausführungen  mit 
einem  Hinweis  auf  die  Schwierigkeiten  ein,  die  einer 
befriedigenden  Definition  der  Begriffe  Zauber,  Zauber- 
kunst, Zauberpflanzen  im  Wege  stehen.  Die  Zauber- 
püanzeu  sind  diejenigen  Nutz-  oder  Schadenpflanzen, 
von  welchen  man  sieh  Wirkungen  verspricht,  die  nicht 
eintreten  können,  weil  ihr  Eintreten  den  Natur- 
gesetzen widersprechen  würde  —  bzw.  von  welchen 
man  bestimmte  Wirkungen  erhofft,  obwohl  diese  im 
Widerspruch  zu  den  bekannten  Naturgesetzen  stehen 
wurden.  Schwierigkeiten  in  der  Definition  ergeben 
sich  schon  daraus,  daß  die  Kenntnis  der  Naturgesetze 
zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  war  —  zur  Zeit 
des  „Steins  der  Weisen"  eine  andere  als  in  unseren 
Tagen  —  und  auch  heute  sehr  viele  Erscheinungen 
noch  nicht  auf  hinreichend  erforschte  gesetzmäßige  Zu- 
sammenhänge zurückgeführt  werden  können.  Schließ- 
lieh rechnet  man  ja  überall  da,  wo  man  eine  Wirkimg 
erwartet,  die  nicht  eintritt,  mit  der  Möglichkeit  einer 
Wirkungsweise,    die   den  Naturgesetzen  widerspricht. 

Die  Zahl  der  Pflanzen,  die  aus  verschiedenen  Zeit- 
altern und  Kulturkreisen  als  Zauberptianzen  uns  be- 
kannt sind,  ist  außerordentlich  groß.  Der  Vortragende 
will  versuchen ,  einige  allgemeine  Gesichtspunkte  zu 
erläutern,  nach  welchen  jene  betrachtet  werden  können. 

1.  Wodurch  kamen  die  als  Zauberpflanzen 
bekannten  Gewächs  e  in  den  Huf  besonderer 
Kraft? 

Zunächst  durch  ihre  absonderlichen  äußeren,  for- 
malen Eigenschaften ,  welchen  auch  eine  besondere 
innere  Kraft  zu  entsprechen  schien :  die  Alraune  steht 
wegen  der  menschenähnlichen  Gestaltung  ihrer  Wurzel 
im  Ruf  der  Zauberpflanze:  —  Dudaim  des  alten  Testa- 
ments; „Moly"  bei  Homer;  Ortus  sauitatis  (XV.  Jahrh.), 
Goethes  Faust  (II).  —  Der  Allermamisharnisch  (Allium 
victorialis,  Gladiolus  palustris)  wird  wegen  seiner 
panzerartig  genervten  Zwiebelblätter  mit  einem  Har- 
nisch verglichen ,  und  hieraus  wird  seine  Kraft  abge- 
leitet, gegen  Stich  und  Stoß  zu  schützen :  —  Signaturen- 
lehre. —  Viele  pflanzenpathologische  Erscheinungen 
sind  dem  Volk  als  wunderliche  Anomalien  bekannt  und 
werden  in  Beziehung  zu  überirdischen  Kräften  ge- 
bracht: Hexenbesen,  Honigtau,  Galleubildungen,  Bede- 
guare,  Misteln.  -  -  In  anderen  Fällen  sind  es  der 
besonders  auffällige  Geruch  (Ruta,  Laurus)  oder  un- 
gewöhnlich gefärbte  Säfte  (Chelidonium)  oder  andere 
wirkliche  oder  vermeintliche  Abweichungen  vom  All- 
täglichen, welche  das  Urteil  des  Volkes  begründeten : 
die  unverfängliche  Weide  wurde  vielleicht  dadurch 
zum  Zaubergewächs,  daß  ihr  seit  den  Zeiten  des  Ari- 
stoteles die  Fähigkeit  zum  Blühen  abgesprochen  wurde. 
—  Daß  Eigentümlichkeiten  der  äußeren  Form  und 
ähnliches  in  Verbindung  mit  dem  Jenseits,  mit  Mächten 
oder  Gestalten  der  Heiligen  Schrift  gebracht  werden, 
finden  wir  beim  Teufelsabbiß ,  beim  Salomonssiegel, 
dem  Johanniskraut-  u.  a.  m.  In  anderen  Fällen  genügt 
die  Herkunft  der  Pflanzen  aus  dem  heiligen  Lande. 

In  allen  diesen  Fällen  liegt  dem  Zauberglauben  eine 
morphologische ,  anatomische ,  pflanzengeographische 
Beobachtung  zugrunde.  Bei  einer  weiteren  Reihe  von 
pflanzlichen  Zaubermitteln  wird  von  der  Pflanze  und 
ihren  Eigenschaften  ganz  abgesehen ;  ein  in  der  Stube 
erdachtes  System  bringt  die  Pflanzen  —  auf  Grund 
des  Anfangsbuchstabens  ihres  Namens  —  in  Bezie- 
hungen zu  Planeten,  zu  Edelsteinen  u.  a.,  deren  Wir- 
kungen die  ihnen  beigesellte  Pflanze  übernimmt. 


2.  Was  leisten  die  Zauberpflanzen?  Außer- 
ordentlich groß  ist  die  Zahl  der  Pflanzen,  die  apo- 
fropäiache  Wirkung  haben:  Krankheit,  Verwun- 
dung, Diebe,  Liebesgram,  Hungersnot,  Blitz,  Ungeziefer, 
aber  auch  Zauberübel,  wie  Verhexung  und  bösen  Blick 
hält  man  sich  durch  die  Zauberpflanzen  fern.  Man 
schützt  durch  sie  sich  selbst,  die  Angehörigen,  das 
Vieh,  das  Haus,  indem  man  das  Zaubermittel  an  der 
l'nr  anbringt,  auf  dem  Leibe  trägt,  im  Garten  ver- 
scharrt, auf  dem  Dache  pflanzt,  an  der  Uhrkette  be- 
festigt oder  in  den  Schlot  hängt.  Viele  hundert  Pflanzen 
ließen  sich  namhaft  machen,  die  als  Apotropaia  ein- 
mal empfohlen  worden  sind.  Eingehend  erläutert  wird 
die  Wertschätzung  des  Sempervivum  tectorum  als 
Hausschutzgeist  und  Familienorakel  (Capitulare  Karls 
des  Großen). 

Die  bekannteste  Sage,  die  zauberische  Trans- 
mutation zum  Gegenstand  hat,  ist  die  des  Königs 
Midas.  Auch  viele  Pflanzen  sind  seit  dem  Altertum 
zur  Transmutation  eines  Stoffes  in  einen  anderen  oder 
auch  zu  inneren  seelischen  Wandlungen  benutzt  worden  : 
Alchemilla  und  Botrychium  dienten  zur  Goldfabri- 
kation. Verbena  verwandelt  Eisen  in  Stahl.  Magische 
Assimilation  ist  der  Vorgang,  bei  welchem  das 
Zaubermittel  und  das  von  ihm  beeinflußte  Objekt  ein- 
ander ähnlich  werden.  Entweder  der  Mensch  oder 
irgend  ein  Gegenstand  werden  dem  Zaubermittel  ähn- 
lich —  Chelidonium  bzw.  sein  gelber  Saft  macht  wert- 
loses Material  zu  Gold,  eine  bei  Plinius  genannte  fabel- 
hafte feurig  rote  Pflanze  steckt  alles  in  Brand  usw. 
—  oder  die  Zauberpflanzen  machen  sich  dem  Menschen 
ähnlich,  nehmen  sein  Ungemach  auf  sich  und  befreien 
ihn  von  seinen  Übeln  (Artemisia  vulgaris). 

Die  lösende  Kraft  der  Zauberpflanzen  offen- 
bart sich  in  der  Wirkung  der  „Springwurzel"  gegen- 
über Schlössern  aller  Art:  Salomo  sprengte  die  Felsen 
beim  Tempelbau  mit  Salomonssiegel  und  ähnliches 
mehr. 

Der  L  i  e  b  e  s  z  a  u  b  e  r  schließlich,  den  Bry onia,  Lilium 
eandidum,  Phallus  impudicus  (Signaturenlehre!)  u.  a. 
ausüben,  gewinnt  das  Herz  eines  Jünglings  oder  Mäd- 
chens denjenigen,  die  die  Kräfte  der  Zauberpflanze 
zu  gebrauchen  verstanden. 

3.  Unter  welchen  Bedingungen  äußern  die 
Zauberpflanzen  ihre  Kraft?  Vor  allem  müssen 
sie  sachverständig  gewonnen  werden  (Schweigen  beim 
Sammeln,  Kreuzweg,  Johannisnacht,  Vollmondschein, 
l'lanetenstellung) ;  beim  Gewinnen  der  Zauberpflanze 
ist  ein  Zauberwort  oder  Zauberspruch  zu  sprechen. 
Vor  allem  aber  ist  schließlich  das  Zaubermittel  auf 
das  richtige  Objekt  anzuwenden:  das  Wissen  der  mit 
ihm  Behandelten  ist  bedeutungsvoll  (Faust:  Hexen- 
küche). Den  Ursprung  der  Zeremonien ,  die  beim 
Sammeln  beachtet  sein  wollen,  sieht  der  Vortragende 
in  der  Geheimniskrämerei  der  berufsmäßigen  Zauberer 
und  Medizinmänner,  andererseits  in  dem  Bedürfnis, 
Mißerfolge  bequem  erklären  und  auf  ungenügende 
Beachtung  der  Zeremonien  zurückführen  zu  können. 
In  anderen  Fällen  mögen  wohl  auch  richtige  Beob- 
achtungen —  über  den  Einfluß  des  Wetters  auf  die 
Heilkraft  gewisser  Pflanzen  usw.  (Rhizotomen!)  —  zu 
allerhand  krausen  Zeremonien  ausgebaut  worden  sein. 

Der  Vortragende  schließt  mit  einigen  Worten 
über  die  Industrialisierung  des  Zauber wesens: 
Handel  mit  Zauberpflanzen,  künstliche  Herstellung  be- 
sonders auffällig  geformter  Alraune,  Zucht  der  Zauber- 
pflanzen, sogenannter  vierblätteriger  Klee  im  Blumen- 
handel usf. 


73 


In  der  Sitzung  am  23.  November  sprach  Herr 
Prof.  C.  Giemen  über  Reste  der  primitiven  Religion 
im  ältesten  Christentum.  Der  Vortragende  erinnerte 
einleitend  daran,  daß  die  religiousgeschichtliche  Be- 
trachtung des  Christentums  und  seiner  Vorstufe,  der 
israelitisch- jüdischen  Heligion,  zuerst  auf  Analogien 
aufmerksam  gemacht  habe,  die  jene  Religionen  zu 
anderen  zeigten,  daß  diese  Analogien  manchmal  so 
frappant  gewesen  seien,  daß  sich  die  Frage  aufgedrängt 
habe,  ob  hier  nicht  Christen-  tiud  Judentum  von  anderen 
Religionen  abhängig  seien ,  daß  aber  auch  mit  der 
Zurückfühvuug  auf  solche  manche  jüdische  oder  christ- 
liche Anschauung  oder  Einrichtung  deshalb  noch  nicht 
erklärt  sei,  weil  sie  —  ebenso  wie  manches  in  dem 
sonstigen  Juden-  und  Christentum  —  in  Wahrheit  aus 
der  sogenannten  primitiven  Religion  stamme.  Das  sei 
für  das  Judentum  vielfach  anerkannt,  weniger  dagegen 
naturgemäß  für  das  Christentum ;  es  solle  also  für  dessen 
älteste  Stufe,  das  Neue  Testament,  einmal  an  einigen 
Beispielen  nachgewiesen  werden. 

So  wurde  zunächst  gezeigt,  welche  Spuren  die 
verschiedenen  Gegenstände  des  religiösen  Glaubens 
der  Primitiven  im  ältesten  Christentum  hinterlassen 
haben.  Die  Verehrung  von  Fetischen,  speziell  Steinen, 
wirkt  in  der  Offenbarung  Johannis  insofern  nach,  als 
nach  2,  17  dem  Überwinder  ein  weißer  Stein  gegeben 
werden  soll,  wie  das  in  Neusüdwales  bei  der  Pubertäts- 
weihe üblich  ist,  und  daß  nach  21,  19  die  Grundfesten 
des  himmlischen  Jerusalems  mit  Edelsteinen  geschmückt 
sein  werden,  die  ursprünglich  als  mit  besonderen  Kräften 
ausgerüstet  gelten.  Ähnlich  klingt  hier  und  da  noch 
die  Verehrung   der  Elemente   im  populären  Sinne   des 


Wortes  (Feuer,  Wasser,  Luft  und  Erde)  an,  sowie 
diejenige  des  Himmels  und  der  Himmelskörper,  der 
Pflanzen  und  Tiere.  Auch  der  Herrscherkult,  der 
manche  Aussagen  über  Christus  beeinflußt  hat,  geht 
auf  primitive  Anschauungen  zurück,  noch  mehr  die 
übermenschliehe  Schätzung  der  Toten,  die  in  der  Notiz, 
der  gerasenische  Besessene  habe  sich  in  den  Gräbern 
aufgehalten,  nachwirkt,  sowie  der  sonstige  Geister- 
glaube, der  an  zahlreichen  Stellen  des  Neuen  Testa- 
ments vertreten  wird. 

Von  dem  religiösen  Verhalten  der  Primitiven 
klingt  zunächst  die  Magie  noch  in  manchen  altchrist- 
lichen Ausdrücken  und  Vorstellungen  nach,  z.  B.  in 
der  Redewendung:  mit  dem  heiligen  Geist  oder  iu 
Christus  taufen,  d.  h.  untertauchen,  in  seinem  Namen 
Wunder  tun  usw.  Der  Kult  wirkt  in  seiner  spezifisch 
primitiven  Gestalt  nicht  nach;  wohl  aber  geht  es  in 
letzter  Linie  auf  solche  Anschauungen  zurück,  wenn 
manchmal  neben  dem  Gebet  das  Fasten  genannt  wird. 
Und  ebenso  stammt  endlieh  der  Glaube  wenigstens 
an  gewisse  Vorzeichen,  die  die  Gottheit  den  Menschen 
gibt,  damit  sie  sich  danach  richten,  schon  aus  jener  Zeit. 

Sind  es  vielfach  nur  Ausdrücke  oder  Nebensachen, 
die  sieh  so  erklären,  so  hat  doch  auch  diese  Erkenntnis, 
sofern  jene  uns  nicht  mehr  verständlich  oder  annehmbar 
sind,  etwas  Befreiendes.  Namentlich  aber  müssen  alle 
einer  überwundenen  Vorstelluugsschicht  angehörigen 
Anschauungen  aufgegeben  werden,  wenn  man  durch 
Verkündigung  des  Christentums  andere  Völker  auf  eine 
höhere  Stufe  heben  will.  Und  am  wenigsten  darf  man 
Primitiven  dasjenige  predigen,  was  in  Wahrheit  Hin- 
ein Rest  der  primitiven  Religion  im  Christentum   ist. 


Literaturbesprechungen. 


C.  B.  Klunzinger:  Erinnerungen  aus  meinem 

Leben  als  Arzt  und  Naturforscher  zu 

Koseir  am  Roten  Meer.     8°.     89  S.  mit 

15  Abb.    Würzburg,  C.  Kabitzseh,  1915. 

Gerade   recht    kommen    jetzt,   wo   das   Rote 

Meer  wegen  des  Kampfes   der  Türkei  mit  den 

Engländern  erhöhtes   Interesse  beansprucht,  die 

Erinnerungen    C.   B.   Klunzingers    an    seineu 

jahrelangen  Aufenthalt  am  Roten  Meer. 

Wir  werden  bekannt  gemacht  mit  den 
Schwierigkeiten,  mit  denen  der  deutsche  Arzt 
und  Naturforscher  dort  zu  kämpfen  hatte,  wie 
er  es  aber  trotzdem  verstanden  hat,  sich  bei 
der  Bevölkerung'  beliebt  zu  machen. 


Reiche  Ausbeute  an  zoologischem  und  bota- 
nischem Material  erhielten  vor  allem  deutsche 
Museen.  Rassenanatomisches  und  rasseupatho- 
lo^isches  Material  zu  sammeln,  war  ihm  we^n 
der  religiösen  Anschauungen  des  Volkes  nicht 
möglich,  dagegen  hat  er  mit  offenen  Augen 
die  Sitten  und  Gebräuche  der  Eingeborenen 
beobachtet  und,  abgesehen  von  Aufsätzen  in 
verschiedenen  Zeitschriften  (Ausland,  Globus), 
eingehend  iu  seinem  Werke  „Bilder  aus  Ober- 
ägypteu,  der  Wüste  und  dem  Roten  Meere" 
(Stuttgart   1877)  beschrieben. 

F.  Birkner. 


74 


Außerordentliche  Allgemeine  Versammlung 
der  Deutschen  Anthropologischen  Gesellschaft 

in  Hamburg,  am  18.  Oktober  1915. 

Geschäftliche  Verhandlungen: 

Nach  der  Satzung  muß  alljährlich  eine  Vorstandswahl  stattfinden.    Da  im  Jahre  1914  und 
auch  im  laufenden  Jahre  allgemeine  Versammlungen  mit  wissenschaftlichen  Verhandlungen  nicht 
stattfanden,  beschließt  die  Versammlung  den  im  Jahre  1913  in  Nürnberg  gewählten  Vorstand 
wiederzuwählen.     Demnach  besteht  der  Vorstand  für  1916  aus  folgenden  Herren: 
Ehrenvorsitzender:  Geh.  Hofrat  Prof.  Dr.  J.  Ranke -München, 
1.  Vorsitzender:    Prof.  Dr.  A.  Kr  am  er- Stuttgart, 

1.  Stellvertretender  Vorsitzender:   Prof.  Dr.  R.  Beltz-Schweriu, 

2.  Stellvertretender  Vorsitzender:   Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  H.  Virchow-Berliu. 
Generalsekretär:   Prof.  Dr.  G.  Thilenius-Hamburg, 

Stellvertretender  Generalsekretär:   Prof.  Dr.  E.  Fischer-Freiburg  i.  Br. 
S(-hatzm"eister:   Prof.  Dr.  K.  Hagen -Harnburg. 

Der  Generalsekretär 

T  h  i  1  e  n  i  u  s. 


Zum  Gedächtnis. 

Im  Jahre  1915  hatte  die  Gesellschaft  den  Verlust  zweier  hervorragender  Mit- 
glieder zu  beklagen.     Am  27.  Februar  1915  starb  im  Alter  von  52  Jahren 

Professor  Dr.  Eberhard  Fraas, 

Konservator  an  der  geologischen  Abteilung  des  Kgl.  Naturalienkabinetts  in  Stuttgart. 
Er  war  ein  eifriger  Teilnehmer  der  allgemeinen  Versammlungen,  die  stets  gerne 
seinem  nüchternen,  vornehmen  Urteil  in  allen  Grenzfragen  der  Geologie  und  Prä- 
historie folgten. 

Am  30.  Juni  1915  starb  im  Alter  von  66  Jahren 

Hofrat  Dr.  med.  Alfred  Schliz, 

Vorstand  des  Historischeu  Vereins  in  Heilbronn. 

Die  Deutsche  Anthropologische  Gesellschaft  verliert  in  ihm  einen  verdienten  Vor- 
sitzenden, die  Wissenschaft  einen  gedankenreichen  Forscher  auf  dem  Gebiete  der 
Schädellehre  und  einen  treuen  Pfleger  der  Vorgeschichte  seiner  schwäbischen  Heimat. 
Das  Andenken  der  beiden  zu  früh  von  uns  geschiedenen  württembergischen 
Forscher  wird  in  unserer  Gesellschaft  nie  verlöscben. 


Reklamationen  und  sonstige  Mitteilungen 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  K.  Hagen,  Hamburg  13,  Binderstraße  14,  zu  senden. 

Ausyeyeben  am  31.   Dezember  1915. 


Korrespondenz-Blatt 


der 


Deutschen  Gesellschaft 


für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 


Herausgegeben  von 


Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg 


XLVII.  Jahrgang-  1916 


Braunschweig 

Druck  und  Verlag  von  Friedr.  Vieweg  &  Solin 

19  16 


Inhalt  des  XL VII.  Jahrganges  1916. 


Seite 

Nr.  1  bis  3.     Nachruf.     Hermann  Klaatseh 1 

Emil  Fischer,  Wer  waren  die  minoischen  Kreter V 5 

Bärthold.  Eine  Ergänzung  der  Mustertafel 9 

.Mitteilungen  aus  den  Lokalvereiuen: 

Bonner  Anthropologische  Gesellschaft 11 

Literaturhesprechungen iy 

Nr.  4  bis  G.     Nachruf.     Gustav  Schwalbe 15 

Jahresbericht  der  Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft l!l 

Sitzung  der  Anthropologischen  Sektion  der  Naturhistorischen  Gesellschaft  Nürnberg 30 

Bärthold,  Ein  Gebiet  der  Vorgeschichte,  das  der  Orient  beleuchtet 31 

Literaturbesprechungen 33 

Nr.  7  bis  0.     Nachruf.     Johannes  Ranke 35 

F.  Birkner,  Die  Vorgeschichte  Bulgariens 41 

C.  Mehlis,  Mesolithische  Stationen  vom  Donnersberge  und  aus  der  Vorderpfalz 47 

C.  Mehlis,  Ein  Nephrithammerfragment  in  Bad  Dürkheim 49 

Rechenbach,  Ausgrabungen  in  Gr.-Platon 50 

Literaturbesprechungen 59 

Nr.  10  bis  12.     Sigmund  Feist,  Archäologie  und  Indogermanenproblem Gl 

A.  J.  P.  v.  d.  Broek,  Zur  Frage  der  willkürlichen  Beeinflussung  der  kindlichen  Schädelform    ...  68 

E.  Werth,  Neue  Paläolithfunde  in  Norddeutschland 70 

E.  Werth,  Hausers  Micoquien 71 

C.  Mehlis,  Der  Urtypus  der  Schmalhacke 72 

Bärthold,  Von  den  Steingeräten  der  Völkerschaften  in  Sachsen-Thüringen 75 


Korrespondenz- Blatt 

der 

Deutschen  Gesellschaft 

für 

Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben   von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg. 


Druck   und  Verlag   von   Fried r.  Vieweg   &  Sohn   in    Braunschweig. 

XLVII.  Jahrg.    Nr.  1/3.  Jährlich  12  Nummern.  Jan./Mäi'z  1916. 

Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw.  tragen  die  wissenachaftl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren ;  s.S.  16  des  Jahrg.  1894. 

Inhalt:  Hermann  Klaatsch  f.  —  Wer  waren  die  minoischen  Kreter?  Von  Dr.  Emil  Fischer.  —  Eine 
Ergänzung  der  Mustertafel.  Von  Bärthold.  —  Mitteilungen  aus  den  Lokalvereinen:  Bonner  Anthro- 
pologische Gesellschaft.  —  Literaturbesprechungen. 


Hermann  Klaatsch  f. 

Der  Beginn  des  neuen  Jahres  hat  der  anthropologischen  Wissenschaft  einen  schweren 
Verlust  gebracht  und  unsere  Gesellschaft  eines  ihrer  eifrigsten  Mitglieder  beraubt:  Am 
5.  Januar  verstarb  plötzlich  zu  Eisenach  der  außerordentliche  Professor  der  Anatomie, 
Anthropologie  und  Ethnologie  an  der  Schlesischen  Friedrich-Wilhelms-Universität,  Dr. 
med.  et  phil.  Hermann  Klaatsch,  im  53.  Lebensjahre. 

Klaatsch  entstammt  einer  alten  Berliner  Arztfamilie,  und  schon  den  Schüler  be- 
herrschten ausgesprochen  naturwissenschaftliche  Neigungen;  als  sechsjähriger  Junge  wird 
er  unter  den  Donatoren  des  damals  neu  errichteten  Berliner  Aquariums  genannt,  dem  er 
einige  im  Harz  gesammelte  Molche  schenkte,  und  in  den  siebziger  Jahren  gründet  er 
einen  naturwissenschaftlichen  Schülerverein,  in  dem  er  klar  und  anschaulich  über  astro- 
nomische, biologische,  zoologische  Dinge  sprach.  Seine  Studienzeit  begann  er  in  Heidel- 
berg, wo  ihn  von  Anfang  an  der  Anatom  Gegenbau r  fesselte;  später  siedelte  er  nach 
Berlin  über  und  wurde  1883  noch  als  Student  Assistent  am  Anatomischen  Institut  unter 
Waldeyer.  1888  kehrte  er  als  Assistent  Gegenbaurs  nach  Heidelberg  zurück.  Er 
habilitierte  sich  1890  für  Anatomie  und  wurde  1895  außerordentlicher  Professor  für 
Anatomie  in  Heidelberg.  Von  hier  aus  unternahm  er  1904  seine  Forschungsreise  zur 
Untersuchung  der  Eingeborenen  Australiens,  die  ihn  auch  nach  Tasmanien  und  Java 
führte.  Bei  der  Rückkehr  im  Jahre  1907  erhielt  er  den  Ruf  an  die  Breslauer  Universität, 
an  der  er  auch  Kustos  der  anatomischen  Sammlung  und  Direktor  des  anthropologischen 
Instituts  wurde. 


Wer  die  zahlreichen  wissenschaftlichen  Arbeiten  überblickt,  < lie  Klaatsch  veröffent- 
lichte, wird  leicht  zwei  Perioden  erkennen.  In  iler  ersten  behandelt  er  vergleichend- 
anatomische  Themata,  vor  allem  Krauen  nach  der  morphologischen  Bedeutung  der  Haut 
und  ihrer  Organe,  auch  des  Skeletts.  (Jleich  vielen  anderen  Anatomen  der  achtziger 
und  neunziger  Jahre  gehörl  er  zu  Gegenbaurs  Schule,  und  von  der  vergleichenden 
Anatomie  her  tat  Klaatsch  den  Schritt  zur  Anthropologie,  der  seine  Arbeit  von  18'JII 
ab  galt.  Auf  der  Allgemeinen  Versammlung  der  Deutschen  Anthropologischen  Gesell- 
schaft in  Lindau  erscheint  er  zum  erstenmal  als  Vortragender,  sein  Thema  ist:  „Die 
Stellung  des  Menschen  in  der  Primatenreihe  und  der  Modus  seiner  Hervorbildung  aus 
eiuer  niederen  Form."  Es  war  die  Zeit,  da  der  Pithecanthropus  erectus  Duhois  die 
Kraue  Dach  dem  „missing  link"  neuerdings  in  den  Brennpunkt  rückte,  und  in  diese  Er- 
örterung warf  Klaatsch  den  Satz:  „Der  Mensch  ist  eine  primitive  Primatenform,  die 
Primaten  sind  eine  primitive  Mammalierform",  einen  Satz,  den  er  gleich  darauf  im  Globus 
noch  erläutert:  „Nicht  zwischen  Anthropoiden  und  dem  Menschen,  nicht  zwischen  irgend 
einem  jetzt  lebenden  Affen  und  dem  Menschen  ist  das  Bindeglied  zu  suchen,  sondern 
vom  niedersten  Primatenzustande  aus  .  .  .  ist  die  Brücke  zu  schlagen."  Die  Untersuchung 
des  Gebisses,  der  Greifhand  und  des  Greiffußes  hatten  den  vergleichenden  Anatomen 
zu  diesem  Ergebnis  geführt,  der  die  ihm  längst  vertraute  morphologische  Betrachtungs- 
weise nun  auf  den  Menschen  anwandte.  Der  Vortrag,  den  die  große  rednerische  Be- 
gabung und  die  ehrliche  Überzeugung  Klaatschs  besonders  wirksam  machten,  hatte  einen 
unerwarteten  und  für  den  Vortragenden  selbst  überraschenden  Erfolg:  hier  stießen  neue 
Gedankengänge  hart  auf  alte,  eine  Vermittelung  war  zunächst  ausgeschlossen. 

Auch  im  folgenden  Jahre  in  Halle  tritt  Klaatsch  als  Kämpfer  vor,  wenn  er  aus 
der  morphologischen  Untersuchung  des  M.  biceps  femoris  und  anderen  Überlegungen 
folgert,  hierdurch  werde  „die  völlige  Zusammengehörigkeit  des  Menschen  mit  den  Primaten 
und  den  anderen  Säugetieren  so  zur  Evidenz  erwiesen,  daß  man  nicht  begreift,  wie  noch 
in  unseren  Tagen  der  Versuch  gemacht  werden  kann,  den  Menschen  loszulösen  von  der 
übrigen  Schöpfung".  Ein  Jahr  darauf  stellt  er  in  Metz  seine  Anschauungen  über  „die 
Ausprägung  der  spezifisch  menschlichen  Merkmale  in  unserer  Vorfahrenreihe"  dar  und 
verficht  sehr  entschieden  die  Sonderstellung  der  Neandertalrasse,  nachdem  er  seil  ist  die 
Gliedmaßenskelette  von  Neaudertal  und  Spy,  Schwalbe  die  Schädel  untersucht  hatte. 
Es  bleibt  Klaatschs  Verdienst,  die  vergleichend-anatomische  Betrachtung  des  Menschen 
wieder  betont  zu  haben,  ihm  und  Schwalbe  ist  es  zu  danken,  wenn  heute  die  Neander- 
talrasse als  gesicherter  Besitz  der  Wissenschaft  angesehen  werden  kann.  Die  neue  Er- 
rungenschaft ist  indessen  für  Klaatsch  zunächst  wichtig  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
Stammesgeschichte.  In  Merkel-Bonnets  Ergebnissen  usw.  1899  behandelt  er  „die 
fossilen  Knochenreste  des  Menschen  und  ihre  Bedeutung  für  das  Abstammungsproblem" 
und  findet,  daß  die  fossilen  Menschenreste  keine  Annäherung  an  die  Affen  in  dem  Häckel- 
schen  Sinne  verraten:  das  hohe  Alter  des  Menschengeschlechts  erscheint  in  immer  deut- 
licherer Weise  und  das  Problem  des  Tertiärmenschen  kann  für  den  Deszendenztheoretiker 
nur  so  lauten:  „Waren  die  im  Miozän  selbstverständlich  vorhandenen  direkten  Vorfahren 
des  Menschen  bereits  so  entwickelt,  daß  man  sie  als  Menschen  bezeichnen  muß?"  Seine 
Hypothese  knüpft  den  Menschen  an  die  paläozoischen  Chirotherien,  und  der  Neandertaler 
ist  ihm  ein  „Durchgangsstadium  zum  rezenten  Menschen".  Als  Klaatsch  vier  Jahre 
darauf    in    der    gleichen    Zeitschrift    über    „die    Fortschritte   der   Lehre    von    den   fossilen 


Knochenresteu  des  Menschen  in  den  Jahren  1900  bis  1903"  berichtet,  hat  er  mit  Gor- 
janovic-Kramberger  die  Funde  von  Krapina  untersucht  und  auf  Studienreisen  durch 
Deutschland,  Belgien,  Frankreich,  England  die  Reste  der  paläolithischen  Menschen  gesehen, 
so  daß  er  seine  Darstellung  der  Literatur  mit  eigenen  Beobachtungen  ergänzen  kann.  Als 
Ziel  der  Forschung  sieht  er  die  Beantwortung  der  drei  Frauen:  „In  welcher  Zeil  des 
Tertiärs  die  Ausprägung  der  spezifisch  menschlichen  Merkmale  an  dem  gemeinsamen 
Primatenahnen  des  Menschen  und  der  Menschenaffen  stattgefunden  habe,  an  welcher 
Gegend  der  Erdoberfläche  diese  Menschwerdung  erfolgt  sei  und  welche  Faktoren  hierbei 
wesentlich  eingewirkt  haben?"  Schoe  ten  sacks  Hypothese,  der  Ort  der  Umwandlung 
sei  Australien  gewesen,  führt  dann  Klaatsch  zur  Untersuchung  der  Australier  und 
damit  seiner  ganzen  Arbeitsweise  entsprechend  nach  Australien  selbst.  Er  will  anthro- 
pologisches Material  sammeln  für  die  spätere  Untersuchung  im  Laboratorium,  aber  auch 
den  lebenden  Australier  studieren.  Noch  ein  anderer  als  der  rein  anthropologische  oder 
deszendenztheoretische  Gedanke  zwang  Klaatsch  zu  seiner  Reise.  Die  morphologische 
Untersuchung  der  fossilen  Menschenreste  führte  ihn  naturgemäß  auf  die  chronologischen 
Fragen.  Neolithikum  und  Paläolithikum  waren  scharf  zu  trennen,  auch  das  Paläolithikum 
sellist  mußte  gegliedert  werden.  Wenn  Klaatsch  zunächst  Mortillets  Schema  an- 
nahm, so  ging  er  doch  sehr  bald  eigene  Wege,  nachdem  er  die  Mängel  des  Systems 
erkannt  hatte,  und  wollte  die  Fauna  zur  Gliederung  benutzen.  Weiter  aber  galt  seine 
Arbeit  den  Eolithen  und  er  ging  in  Frankreich,  Belgien,  England  den  „Tertiär-Silexen" 
nach,  um  auch  an  ihnen  seine  Anschauungen  über  den  Tertiärmenschen  zu  prüfen.  Einen 
Maßstab  für  die  Richtigkeit  der  an  europäischen  paläolithischen  Stücken  aufgefundenen 
technologischen  Merkmale  erwartete  Klaatsch  von  der  Sammlung  australischer  Stein- 
geräte und  von  der  Beobachtung  ihrer  Herstellung.  Seine  Reiseberichte  legen  Zeugnis 
ab  von  dem  Fleiß,  mit  dem  er  arbeitete,  zugleich  auch  von  der  Vielseitigkeit  des  For- 
schers, der  sich  neben  seinen  ursprünglichen  Aufgaben  auch  noch  der  Volkskunde  zu 
widmen  vermochte. 

Bald  nach  seiner  Rückkehr  konnte  Klaatsch  an  einer  Reihe  der  wichtigsten  Ent- 
deckungen auf  seinem  eigensten  Gebiete  teilnehmen.  Schoetensack  hatte  den  Unter- 
kiefer von  Mauer  gefunden,  in  dessen  anthropologischer  Beurteilung  er  sich  vollständig 
an  Klaatsch  anschloß.  Im  August  1908  barg  Klaatsch  zusammen  mit  Haus  er  den 
Homo  Mousteriensis  Hauseri,  wie  er  ihn  nannte,  einen  vollständigen  Skelettfund  der 
Neandertalrasse,  bei  dem  auch  unzweifelhafte  Beweise  für  eine  rituelle  Bestattung  auf- 
gedeckt wurden;  1909  folgte  das  Skelett  von  Combe-Capelle,  der  Homo  Aurignacensis 
Hauseri,  der  gleichfalls  diluvial,  aber  von  der  Neandertalrasse  verschieden  ist  und  dem 
jetzigen  Europäer  nahe  steht.  Beide  Funde  gehören  heute  zu  den  Schätzen  des  Museums 
für  Völkerkunde  in  Berlin.  An  den  Gegensatz  der  beiden  diluvialen  Skelette  knüpfte 
Klaatsch  weit  ausgreifende  Betrachtungen.  Er  hatte  einst  den  Lis  sau  ersehen  Dia- 
graphen verbessert  und  zu  der  üblichen  Sagittalkurve  noch  Horizontal-  und  Transversal- 
kurven am  Schädel  eingeführt,  außerdem  aber  das  Instrument  auch  für  die  Untersuchung 
der  Extremitätenknochen  verwendet  und  hier  eine  eigene  Methode  ausgebildet.  Sie  kam 
ihm  jetzt  besonders  zustatten.  Er  findet  bei  dem  Aurignacskelett  Merkmale  des  Orang, 
bei  dem  Neandertaler  dagegen  solche  des  Gorilla,  bei  beiden  daneben  europäische  und 
australische.  Es  ist  bezeichnend  für  Klaatsch,  daß  er  in  seinen  Beobachtungen  vor 
allem  eine  „Klärung   über  die  Art  des  Zusammenhangs  /.wischen  fossilen  Menschenrassen 


and  Menschenaffen"  findet;  er  nimmt  jetzt  zwei  große  Ströme  der  Vormenschheit  an, 
einen  östlichen  und  einen  westlichen,  deren  jeder  sich  in  Menschenrassen  und  Menschen- 
affen gegliedert  hat.  Unbeirrt  durch  den  Widerspruch,  den  seine  Ausführungen  fanden, 
prüft  er  dann  den  neuen  Gedanken  an  Gehirnen  verschiedener  Menschenrassen  und 
Menschenaffen.  Eine  ausführliche  Darstellung  seiner  Gedanken  und  eine  Zusammenfassung 
seiner  Arbeiten  versprach  das  groß  angelegte  Reisewerk,  das  er  unter  der  Feder  hatte,  als 
der   Tod    ihn   abrief. 

Klaatsch  bezeichnete  sich  selbst  immer  als  Anatomen,  nur  daß  er  bei  seinen  ver- 
gleichenden Arbeiten  nicht  die  niederen  Wirbeltiere,  sondern  die  durch  ihre  Gehirn- 
entwickelung  zu  den  höchsten  gewordenen  untersuchte.  Mochte  er  die  endgültige  An- 
erkennung der  Neandertalerrasse  erreichen,  neue  Funde  bergen,  neue  Methoden  schaffen, 
oder  Fragen  der  Diluvialgeologie  behandeln,  den  Paläolithen  nachgehen  und  ethnograpische 
Beobachtungen  machen,  so  kehrt  er  doch  immer  wieder  zu  dem  Problem  der  Abstammung 
zurück,  von  dem  er  ausging  und  das  er,  wie  seine  Verwertung  des  Kampfes  ums  Dasein 
und  der  Zuchtwahl  zeigt,  im  wesentlichen  darwinistisch  ansah.  Vieles  was  Klaatsch 
erarbeitete,  wird  dauern,  über  anderes  ist  heute  noch  kein  Urteil  möglieh.  Alle  Hypothesen 
und  Theorien  haben  ihre  Zeit;  für  diejenigen,  die  Klaatsch  aufstellte,  wird  aber  der 
Satz  gelten,  den  er  selbst  über  die  Australierhypothese  Schoetensacks  schrieb:  sie 
gehören  zu  denjenigen,  „welche  die  Wissenschaft  nicht  schädigen,  sondern  fermeutartig 
belebend  auf  den  Gang  des  Meinungsaustausches  und  auf  die  Herbeischaffung  neuen 
Materials  einwirken".  Klaatsch  besaß  eine  Eigenschaft,  die  unter  Gelehrten  nicht  allzu 
häufig  ist,  Phantasie.  Sie  ließ  ihn  gelegentlich  Lücken  unterschätzen  und  durch  Hypothesen 
überbrücken,  die  noch  zu  prüfen  waren,  aber  dieselbe  Phantasie  befähigte  ihn  auch  zur 
zusammenfassenden  Darstellung  und  zu  einer  Fülle  von  Anregungen.  Er  gab  sie  den 
Lesern  seiner  flüssig  geschriebenen  Veröffentlichungen  und  den  Hörern  seiner  Vorträge, 
nicht  zum  wenigsten  auch  seineu  Schülern,  die  in  ihm  den  glänzenden  Lehrer  und  mit  seinen 
Freunden  zugleich  den  guten  Kameraden  und  warmherzigen  fröhlichen  Menschen  ver- 
ehrten. Der  Anthropologie  werden  die  fleißigen  Arbeiter  nie  fehlen;  mögen  ihr  auch  in 
Zukunft  gedankenreiche  Forseher  beschieden  sein,  so  wie  Klaatsch  einer  war  und  in 
der  Erinnerung  seiner  Fachgenossen  fortleben  wird.  Th. 


"Wer  waren  die  minoischen  Kreter? 

Von  Dr.  Emil  Fischer  (Bukarest). 


J)  IliXayoq  =  Meer,  See;  Nebenform:  ne'naayoi 
(näheres  bei  Beloch,  S.  70,  Note  2).  Pelagonen 
(Niederländer)  =  Pelasger.  IlcXuyovia,  Landschaft 
Makedoniens.     Strb. 

2)  „Nam  tota  fere  ora  (Asiae  minoris)  ad  occasum 
vergens  quondam  Pelasgis  impleta  fuisse  ..." 

3)  Herodot,  der  doch  aus  Karien  stammte,  sagt, 
daß    die  Karer    und    Leleger  dieselbe  Sprache  redeten. 


Es  ist  noch  nicht  so  lange  her,  daß  die 
ernste  Wissenschaft  die  meisten  Berichte  über 
die  Pelasger1)  in  das  Reich  der  Mythe  ver- 
wies. Noch  Niebuhr  (Römische  Geschichte, 
1833)  mußte  gegen  diese  Voreingenommenheit 
ankämpfen:  „Nicht  aus  Hypothese,  sondern  mit 
Voller  historischer  Überzeugung,  sage  ich, 
daß  eine  Zeit  war,  wo  die  Pelasger,  vielleicht 
damals  das  ausgedehnteste  aller  Völker 
in  Europa,  vom  Padns  und  Arnus  bis  gegen 
Bosporus  wohnten  — ,  daß  die  nördlichen  In- 
seln im  Ägäischen  Meer  die  Kette  zwischen 
den  Tyrrhenern  Asiens  und  dem  pelasgischen 
Argos   erhielten." 

Welche  Wandelung  der  Anschauungen  über 
die  griechische  Vor-  und  Frühzeit  selbst  in  der 
kurzen  Zeit  der  letzten  zwei  Jahrzehnte  Platz 
gegriffen  hat,  zeigt  uns  aufs  deutlichste 
K.  J.  Belochs  „Griechische  Geschichte", 
1912.  Zweite  Auflage.  S.  21  bis  26,  68  bis  72, 
74,  75,  77,  96  bis  125. 

Nach  den  alten  griechischen  Autoren  (Homer, 
Äschylos,  Dionysios  von  Halicarnass,  Dio- 
dorus  Siculus)  waren  die  Pelasger  die  Be- 
gründer der  europäischen  Kultur.  Sie  haben 
die  Menschen  gelehrt,  sich  Hütten  (xccXi'ßas) 
zu  bauen,  Ackerbau  zu  treiben,  Gesetz  und 
Rechte  zu  achten  („ÖtxouoL  Tlslaöyoi11)  und  die 
Götter  zu  ehren  („isooi  Ilslccöyol").  Homer 
nennt  sie  die  „guten",  ja  geradezu  „Slot,  ts 
Tl£Xa6yolu.  Auch  Diodorus  Siculus  schreibt 
ihnen  die  Begründung  der  Kultur  in  Kreta  zu. 
Die  Schaffung  des  ältesten  griechischen  Heilig- 
tums in  Dodoua  war  auch  ihr  Werk  (Zsvg 
nakaöyixi Lg).  Herodot  sagt:  ro  ' '  Axxvxov 
sdvog  iöv  Htl.a6yiY.6v.  Noch  Thukydides 
berichtet,  daß  viele  athenische  Familien  sich 
pelasgischer  Abkunft  rühmten. 

Aber  nicht  nur  war  ehemals  auch  Ulyrien 
und  Thrakien  (mit  Einschluß  des  alten  Daker- 
reiches)  von  ihnen  bewohnt,  auch  Kleiuasien 
war  von  ihnen  besiedelt2).  Nach  Mela  waren 
die  Karer,  nach  Stephanos  Byz.  die  Le- 
leger3)  Pelasger.     Von    dort  aus  sollen  beide, 


unter  dem  Namen  der  Tursener  (Etrusker), 
nach  Italien  ausgewandert  seien  (I,  94).  Die 
Trojer  und  Phrygier  waren  Thraker  (Bryger), 
also  ehemalige  Pelasger.  Aber  noch  weiter, 
bis  nach  Paphlagonien,  nach  Kappadökien,  bis 
nach  Arabien,  ja  sogar  bis  au  den  Indus  sollen 
pelasgische  Kolonisten  gelangt  seien;  ganz  na- 
türlich, daß  sie  nach  Unterägypten,  an  den 
Nordrand  Afrikas,  nach  Gallien  und  Iberien 
verschlagen   wurden. 

Diodor  berichtet  auf  das  bestimmteste,  daß 
die  Kreter  die  Erfinder  der  Schrift  seien.  Ihr 
Alphabet  sei  später  zu  den  Phönikern  gelangt 
und  erst  von  diesen  (umgeändert)  au  die  Griechen 
weitergegeben    worden. 

Daß  ein  Volk,  das  in  so  weiten  Wohnsitzen 
—  in  drei  Erdteilen  —  siedelte,  kein  einheit- 
liches war  und  nicht  einheitlich  bleiben  konnte, 
ist  sicher.  Kleinere  Kolonien  sind  in  der  ganz 
barbarischen  Urbevölkerung,  unter  der  sie  an- 
sässig waren,  wahrscheinlich  bald  untergegangen, 
größere  aber  sind  im  Laufe  der  Zeit  doch  auch 
merklich  verändert  worden. 

Jedenfalls  sind  die  Pelasger  im  Neo- 
lithikum in  Europa  erschienen. 

Wir  müssen  sie  aus  mancherlei  Gründen, 
darunter  auch  sprachlichen,  für  Arier  halten, 
etwa  für  die  ersten  Stämme,  die  sich  von  den 
„Indogermanen"  abspalteten  und  nach  Süden 
und  Südwesten  auswanderten. 

Überaus  wertvoll  zur  Zeitbestimmung  sind 
die  prähistorischen  Knochenfunde  aus 
Kreta,  die  von  Dr.  Hazzidakis  (Direktor  des 
Archäol.  Museums  in  Kaudia)  an  C.  Keller 
übergeben  und  von  diesem  in  der  „Viertel- 
jahrsschrift der  naturforschenden  Gesell- 
schaft zu  Zürich"  besprochen  worden  sind. 
Diese  Kuochenreste  stammen  aus  dem  Neo- 
lithikum und  gehören  der  alt-,  mittel-  und 
spätminoischen  Zeit  an1)  und  dem  Be- 
ginu  der  Eisenkultur  (1200  bis  1000  v.Chr.). 


a)  Die  altminoische  Schicht  hat  eine  Mächtig- 
keit von  6  m,  die  anderen  von  5,5m.  Die  neoli- 
thische  Zeit  mag  etwa  in  der  ersten  Hälfte  des 
5.  Jahrtausends  begonnen  haben,  hierauf  folgte  um 
3000  bis  2500  die  Stein  —  Bronzezeit,  endlich  die 
Bronzekultur,  die  augenscheinlich  von  Kypros  aus- 
ging. Daran  schloß  sich  die  Eisenkultur,  deren 
Beginn  etwa  in  die  Zeit  des  trojanischen  Krieges  ge- 
setzt werden  kann.  Evans  unterscheidet  drei  Pe- 
rioden: Early-,  Middle-  (sogenannte  Kamareszeit)  und 
Late-Minoan  (m\ kenische),    die  er  dann  wieder    in     \e 


Dat.  bevorzugte  Haustier  4er  jüngeren  Stein- 
zeit war  <las  Rind.  Daneben  kommt  ein 
II  aussehwein  vor  (das  der  Sus  indicns- 
Rasse  angehört)  und  eine  Hausziege,  die  aber 
nicht  von  der  einheimischen  Wildziege  ab- 
Btammt.  Spärlich  tritt  auch  das  mit  dem  Torf- 
schaf  verwandte  Hausschaf  auf. 

In  der  mittelminoischen  Zeit  erscheint  ein 
neuer  großer  Rinderschlag,  wie  er  in  dem 
Palast  des  Minos,  dann  in  Mykenä,  ferner 
auf  dem  Hecken  von  Amyklä  mehrfach  ab- 
gebildet ist. 

In  der  spätminoischen  Periode  (Blüte  der 
kretischen  Bronzekultur)  tritt  das  Pferd  auf, 
das  nur  von  außen  (und  zwar  aus  Kleinasien) 
eingeführt  sein  konnte.  (Auf  einem  kretischen 
Täfelchen  ist  ein  Streitwagen  und  daneben  ein 
Pferdekopf  abgebildet.)  Jetzt  erscheint  auch, 
zum  erstenmal,  ein  großer  (Wind-)H  und. 

Mit  der  Eisenzeit  beginnt  der  Niedergang 
der  alten  höheren  Kultur.  Jetzt  tritt  auch  der 
Esel  auf,  die  .Haustaube  und  die  Honig- 
biene. 

Durch  den  Einbruch  der  Dorier  in  Kreta 
(Bauernkultur),  ist  die  alte  pelasgische  Bevölke- 
rung nach  dem  Osten  und  Westen  der  Insel 
abgedrängt  worden1)  und  hat  sich  dort,  unter 
dem  Namen  der  Eteokreter  2),  noch  jahr- 
hundertelang erhalten.  Von  ihr  sind  einige 
Inschriften  vorhanden,  die  zwar  in  griechischen 
Buchstaben,  aber  in  einer  uns  (bis  jetzt  noch) 
unverständlichen  Sprache  abgefaßt  sind. 

Die  bekannten  kretischen  Täfelchen  (aus 
dem  Palaste  von  Knossos)  sind  teils  in  einer 
Linear-,  teils  in  einer  Art  vou  Bilderschrift  ge- 
halten 3).  Der  Schild  von  Phästos  scheint 
vielleicht  von  außen  importiert  zu  sein.  Die 
einzelnen  Bilder  (Tiere.  Menschen,  Pflanzen, 
Werkzeuge,  Schiffe  u.  dgl.)  sind  mit  Stempeln 
in   den  weichen  Ton  eingedrückt   und  der  Ton 


drei  Teile  zerlegt.  Er  rückt  mit  ihrem  Beginn 
bis  zum  Jahre  12  000  bis  10  000  hinauf,  was  jedenfalls 
zu  weit  gegangen  ist. 

l)  Kreta  war  ehedem  gerühmt  worden  wegen  seiner 
100  Städte. 

ä)  'Etsöq  =  wahr,  wirklich,  echt.  Die  Schädel  aus 
den  vorgriechischen  Gräbern  auf  Kreta  sind,  wie  die 
griechischen,  dolichokephal;  Gesichtswinkel  75,7,  mittlere 
Kapazität  1388,7  com.  Das  Haar  der  Eteokreter  ist 
auf  den  Wandgemälden  dunkel,  während  die  Griechen 
(anfänglich)  wie  die  Thraker  vorwaltend  blond  waren. 
Die  „Philister"  auf  dem  Diskus  von  Phätos  haben 
gerade  Nasen. 

3)  In  solcher  Bilderschrift  erscheinen  namentlich 
die  zahlreichen  Siegel  und  die  Aufschriftmarken.  Die 
letzteren  sind  gelocht  und  wurden  offenbar  Krügen, 
Säcken  od>T  sonstigen  Gegenständen  umgebunden,  um 
den   Besitzer  festzustellen. 


nachher  gebrannl  worden.  Man  hält  die  helm- 
buschgeschmückten  Krieger  einstweilen  für 
Philister.  Ob  die  beiden  Frauengestalten  mit 
den  bauschigen  Köcken  und  den  großen,  nackten 
Brüsten  mit  Recht  für  die  Göttin  Kybele 
(Rhea)  gehalten  werden,  möchte  ich  bezweifeln. 
Dergleichen  Frauen  (mit  so  großen,  nackten 
Brüsten)  begegnen  uns  auch  auf  einem  Gold- 
ring  aus  Mykenä  und  auf  Glasflüssen  von 
Amyklä.  Die  Tierköpfe  des  Schildes  erinnern 
ganz  und  gar  an  chetitische  Hieroglyphen. 

Die  kretische  Linearschrift  scheint  (der 
Kürze  der  Worte  wegen)  eine  Silbenschrift  ge- 
wesen zu  sein ,  vielleicht  auf  dein  Übergang 
zur  Lautschrift.  Der  Beginn  des  Satzes  ist 
durch  ein  liegendes  Kreuz  (x)  bezeichnet,  sehr 
selten  durch  ein  stehendes  (+).  Durch  diese 
Bezeichnung  ist  es  kenntlich  gemacht,  daß  die 
Lesung  der  Zeilen  manchesmal  in  einer  ver- 
schlungenen Linie,  andere  Male  geradezu  bou- 
stiophedisch  ausgeführt  werden  muß.  Die  Zahl- 
zeichen sind  bekannt,  das  System  war  de- 
kadisch, also  auch  nicht  orientalisch,  nicht 
assyrisch-sexagesimal.  Eins  wurde  mit  einem 
geraden  oder  gekrümmten  stehenden  Strich 
|  )  ],  Zehn  mit  einem  liegenden  ( — ■)  bezeichnet. 
Hundert  hatte  das  Zeichen  •,  Tausend  eine 
rhombische  Figur  Q.  Vielleicht  bedeutet  das 
Zeichen  V   ein  Viertel. 

Die  „kretischen  Täfelchen"  sind  bisher  noch 
nicht  gelesen.  Man  darf  aber  annehmen ,  daß 
sie  in  einem  pelasgischen  Idiom  abgefaßt 
sind.  Leider  sind  uns  vom  „Pelasgischen" 
nur  sehr,  sehr  bescheidene  Sprachreste  erhalten 
geblieben1).     Diese  wären  etwaa): 

ababa  (thrak.),  Mutter.    Capit.  Maximini  duo. 

'  Ibbü,  (panuon.),  Vater.    Anonym.  Belae.  o2. 

aesar  (etrusk.),  Gott.  Suet»  Oct.  97  (nach 
Hesych.  algol). 

ttlu,  (pelasg.  in  Karien),  Pferd.  Steph. 
Byz.  (Alauen). 

Ahßccxog,  Berg  in  Karien. 

'^(iviöög,  Fluß  und  Hafen   in  Kreta.     Odyss. 

ava^VQideg,  weite  und  lauge  Hosen  der 
Skythen3)  (Ilerod.).  Braccae  der  Goten  (Ovid.). 


:)  Vgl.  dazu  das  „pelasgische"  Glossar,  das  in 
N.  Densusianus  „Dacia  preistorica"  enthalten  ist. 
Bukarest,  1913,  S.  1070  bis  1110. 

2)  Die  zahlreichen  dakischen  Pflanzennamen ,  fer- 
ner die  topographischen  Benennungen  (Berge,  Flüsse, 
Ortschaften)  aus  dem  Thrakergebiet  sind  hier  nicht 
aufgenommen,  auch  die  Eigennamen  nicht,  alles  zu- 
sammen einige  Hundert.  Ein  großer  Teil  davon  findet 
sich  bei  mir  in  der  „Herkunft  der  Rumänen"  und  in 
der  Kulturhist.  Paläontol.  d.  rumän.  Sprache. 

3)  Die  Skythen  werden  von  Steph.  Byr.  i-lhot, 
Hi),-'y,iui   genannt. 


Aplu  (etrusk.),  Apollo.  Die  dakische  Stadt 
Aplum  =  Apulum. 

agyillog  (thrak.),  Maus.     Herakl.  Fr.  42. 

clpyc'i,'  und  agyog  (pelasg.),  Acker.  Hom. 
II.  II,  681. 

tXQifioi  (skith.),  eins.     Herod. 

"Aq£,os,  Stadt  und  Fluß  in  Thrakien.     Ptol. 

aö-fv  (skyth),  eine  Art  Brot.     Herod. 

ßafajv  (phryg-),  König.  Hesych.  (Dece-bal.). 

ßsÖv  (phryg.),  Wasser.  Didym.  Clem. 
Alex.     Strom.  V. 

ßsSv  (makedon.),  Luft.  Neantes  Cyz.  Fr.  27. 

ßexxog  (phryg.),  Brot.     Herod.  II,  2. 

Bäx%og  (thrak.),  Dionysos. 

ßävÖa  (pelasg.  in  Karien),  sieben.  Steph. 
Byz. 

banus  (alan.),  König.  Z.  B.  Sangi  banus. 
Dasselbe  ist  in  Boiorix  enthalten. 

ßarrog  (libysch),  König.     Her  od  et. 

Bato,  Batto  (thrak.  uud  pannon.),  Namen. 

z/ta  (pelasg.),  Tag  (in  Kreta).  Macr. 
Sat.  I,   15, 

däßa,  Öäva,  öißa  (dakisch)  =  Dorf.  Diva 
in  Siebenbürgen,  vgl.  die  vielen  dakischen 
Ortschaften  auf  -dava.  Die  Daker  selbst  hießen 
auch  Dai  und  Davi  (Strob.  Plant.)  Terent 
H  o  r  a  t. 

' E^upTiaiog  (skyth.)  =  ' loa!  bSol  (Herod.) 
=  sacrae  viae. 

yayvlr)  (in  Bithyn.,  Thrak.,  Lydien),  Gold- 
amsel. 

gurgula  (in  Pannon.),  Goldamsel. 

yikag  (bei  den  kleinasiat.  Karern),  König. 
Steph.  Byz. 

Eister  (getisch),    die  Donau.     Jörn.  Get.  12. 

A'ajuaoa,  Stadt  auf  Kreta.  Steph.  Byz. 
(Kamaresvasen). 

Kävvaßig  (skyth.,  thrak.),  Hanf.     Herod. 

Lar  pl.  Lares   (etrusk.),   Herr.     (Liv.  2,  9). 

M&,  Mä,  rä  (1yd.)  =  Rhea ,  Mater  Terra. 
Steph.  Byz. 

oto'o  (skyth.),  Mann)  öio'p  Tiara  (Herod.),  die 

natu  (skyth).  töten  j  männertötenden  Ama- 
zonen. 

TJanaiog  (skyth.),  der  oberste  Gott  (Herod.). 

Tläga,  TiaQOv,  tioqo  (thrak.),  Bach,  Fluß 
(Suida). 

niktov  (thrak.)  Schild  (Suida). 

TIixsqiov (phryg.), Butter.  Arist.  Hyponxm. 6. 

niaxösvra  (pannon.),  eine  Art  Pfannkuchen 
(Suida). 

IKq  (phryg.),  Feuer  (Ed.  Didot  I,  302). 

ra  (?  raiu)  (pelasg.),  König. 

rix  (pelasg.),  König. 


öayaQig  (skyth.)  Kriegsbeil  (Herod.,  Strab.). 

sagum  (dak.,  skyth.),  Wollmautel.  Pollio, 
XXX. 

Exv&ai  bedeutet  (nach  Liv.  28,  2)  Schild- 
träger; auch  die  Perser  benannten  sie  (nach 
Herod.)  Eäxoi  (griech.  =  Schild). 

strava  (dakisch),  Leichenmahl  (Jörn.  c.  49). 

faba  (1yd.),  Felsen.     Steph.  Byz. 

TaTiai,  Ort  im  südwestlichen  Dakien  (Dio 
Cass.). 

Tabae,  ein  Paß  in  Dakien  (Jörn.). 

TeMan«icta(skyth.)  =  MeotischeSee.  Plin.  6,7. 
Meotiu  (Skythae)   Temarinda  (vocant). 

fteovg  (pelasg.),  die  Götter,  Herod.;  get. 
d(o(g),  £(o(g),  £«A;  dor.  dtog;  lakon.  6idg. 

Zsvg  (pelasg.),  der  oberste  Gott;  eolisch 
zlsvg.  SSsvg. 

^Oflßgog  (thrak.),  wilder  Ochse,  Hesych.; 
lat.  urus. 

Das  wären  etwa  die  Vokabeln  (aus  N.  Den- 
susianus  Glossar),  die  man  aus  den  alten  Autoren 
als   „pelasgisch"   nachweisen  kann. 

N.  Densusianu  hat  daneben  aber  auch 
Vokabeln  aufgenommen,  die  (aus  Jakobitz  und 
Seiler)  sich  als  griechisch  erweisen.  Im  Buch- 
staben A  allein  sind  es  57;  doch  sind  ihrer  48 
dem  klassischen  Griechisch  fremd '). 

Es  ist  ganz  sicher,  daß  in  die  griechische 
Sprache  vom  Norden  her  (von  Thrakien  und 
vom  Pontus)  allmählich  viel  Sprachgut  ein- 
gewandert ist,  das  durch  seine  indogermanische 
Verwandtschaft  der  Einverleibung  keine  Schwie- 
rigkeit bot.  Auch  die  griechische  Theogonie 
stammt  zum  größten  Teil  vom  Norden.  Man 
denke  nur  an  den  Dionysos-  und  Herakles- 
kult, ferner  an  Hermes.  Orpheus,  die  Mä- 
naden  und  Korybanten  stammen  von  Thrakien. 
Die  Herakliden,  die  Dorier  haben  nördliche 
Sprach-  uud  Kulturbereicherungen  mitgebracht, 
nicht  zum  wenigsten  die  Makedonier  Alexanders 
des  Großen. 

Diese  Andeutungen  können  genügen. 


1)  Aapas, 

Albion, 

Aphi, 

Aaru,  Ann/, 

Albocola, 

Apo, 

ababa, 

Albula, 

Apiiliuit, 

Ababus, 

Album, 

araesa , 

,Abbä, 

Albus, 

arborria, 

Abbat , 

alpus, 

'AQytittois 

AbovXu, 

Altanus 

Arinx, 

Alter, 

Äktttvai, 

"Aqaa, 

ach,  aeha, 

alutatium, 

''AoGBI'K 

aesar, 

alutia. 

''AoCof, 

Aeter  nitatem, 

Aliäum, 

AffttQäxaX, 

aiEToq, 

anti,  ankh, 

'Aaaoü&, 

t'cX«, 

Anxurus, 

ÜG-/V, 

Alba, 

Ana, 

'AaiXba 

'AXßuxof, 

Apa  miliar  i, 

ulli<, 

älbeum, 

Aphas, 

Austravia. 

Zur  Aushilfe    ist  es  vielleicht  erlaubt,   auch 

das  Altil  lyrische  heranzuziehen  ' ).  Die  Illyrier 
(Albauesen)  haben  sich  in  ihrem  Kern  ziem- 
lich unbeeinflußt  von  anderen  Völkern  erhalten: 
in  Sprache,  in  Sitten  iiml  Gewohnheiten  und 
auch  rassenhaft2).  Ks  sind  uns  sehr  viele  alte 
illyrische  Personen-,  Völker-,  Orts-  und  Länder- 
namen erhalten.  Auch  ein  i II y riscbes  Glossar 
läßt  sich  noch  herstellen,  das  namentlich  Haus- 
tier- und  Pflanzennamen  enthält.  Vielleicht 
kauu  man  damit  etwas  anfangen,  zumal  da  ein 
ansehnlicher  Teil  der  Täfelchen  kurze  Auf- 
zeichnungen über  Abgaben  (Steuerleistungen, 
Lieferungen)  u.  dgl.  zu   enthalten   scheint. 

In  meinen  „Sprachlichen  und  ding- 
lichen Parallelen  im  alteu  Thrakergebiet" 
[Anthropos  1913,  Bd.  VIII3)]  habe  ich  gezeigt, 
daß  sich  in  diesem  großen  Ländergebiet  (in 
Sprache,  in  Sitteu  und  Gewohnheiten)  doch  noch 
manches  Gemeinsame   nachweisen  läßt. 

Da  einstweilen  mit  der  Lesung  der  Täfelchen 
uicht  weiter  vorwärts  zu  kommen  ist  —  übrigens 
stehen  ja  die  von  A.  Evans  versprochenen  zwei 
Bände  der  „Scripta  Minoa"  noch  aus  — ,  so 
habe  ich  die  eteokretischen  Inschriften 
einer  Prüfung  unterzogen.  Dr.  Hazzidakis 
hatte  die  große  Liebenswürdigkeit  für  mich 
drei  Inschriften  abzuklatschen  und  die  eine 
obendrein  auch  zu  photographieren.  Alle  drei 
sind,  wie  Dr.  Hazzidakis  mitteilt,  schon  ander- 
weitig publiziert  worden,  sind  mir  aber  hier 
unerreichbar  geblieben.  Sie  stammen  aus  den 
Ruinen  der  alten  eteokretischen  Stadt  Jl^aiödg. 
Nr.  1  (auch  photographiert)  ist  sicherlich  die 
älteste;  die  Buchstaben  sind  von  altgriechiscber 
Form  und  sind  in  den  Zeilen  bald  rechts,  bald 
links  gewendet,  so  daß  sie  offenbar  boustrophe- 
disch  gelesen  werden  mußten.  Die  beiden  an- 
deren sind  in  dem  jüngeren  griechischen  Al- 
phabet gehalten.  In  der  Inschrift  Nr.  3  lese 
ich  *): 

.    .    .  HzJH.JEJ  .    . 
.    .    .  SinEIPAPI  . 


IPOYKJEZ 


')  Die  einzige  „thrakische"  Sprachprobe,  die  uns 
erhalten  ist ,  enthält  die  bekannte  Grabinschrift  von 
der  Insel  Lemnos,  die  in  die  Zeit  um  550  v.  Chi-,  ver- 
legt wird.  Ihre  Lesung  ist  von  verschiedenen  Seiten 
(Dr.  Wilser-Heidelberg,  N.  Densusianu,  Breal)  ver- 
sucht, aber  nicht  endgültig  festgestellt  worden. 

'-)  Vgl.  meine  Arbeit  „Wer  sind  die  Albanesen"? 
Korrespondenzbl.,  Hamburg   1914. 

3)  Vgl.  auch  Korrespondenzbl.,  Hamburg,  Januar, 
1914. 

4)  Die  verstümmelten  Buchstaben  und  (einstweilen) 


Es  scheint  also  von  irgend  einer  Göttin  und 
von  dem  Weihgeschenk  eines  Hierokles  die 
Rede  zu  sein. 

Wenn  nun  auch  der  Einfluß  der  griechischen 
Kultur  und  Sprache  auf  die  Eteokreter  in  An- 
schlag zu  bringen  ist,  so  darf  doch  auch  aus 
dieser  Inschrift  geschlossen  werden,  daß  die 
Kreter  keine  Orientalen  (Semiten)  waren,  son- 
dern zu  den  „arischen"  (indogermanischen) 
Völkern  gehört  haben.  Auch  Conway  (teste 
Beloch,  S.  75)  betont,  daß  ihre  Sprache  nicht 
semitisch    ist    und    indogermanisch  sein  könnte. 

Gerade  so  wie  in  Kreta,  ebenso  kommt  in 
Thrakien,  in  Mykenä  und  in  Karien  die  Doppel- 
axt (kußQog),  als  kultisches  Symbol,  vor.  Schon 
bei  den  alten  Pelasgern  steht  die  Zeus  Ver- 
ehrung |  Jupiter  Lapis1)]  an  der  Spitze.  Zeus 
war  (der  Sage  nach)  auf  Kreta  geboren  und 
auch  dort  begraben.  Er  war  also  —  vor  seiner 
Vergöttlichung:  —  sicherlich  ein  einheimischer 
großer  Heerkönig  gewesen.  Ein  weiterer  Be- 
weis des  hohen  Ansehens,  in  dem  die  kre- 
tische Kultur  stand,  ist  es,  daß  der  König 
Minos  und  sein  Bruder  Rhadamantus  als  Richter 
in  der  Unterwelt  bestellt  waren. 

Die  Seemacht  Kretas  erstreckte  sich  ehemals 
weit  in  das  umliegende  Meer  hinaus.  Noch  zur 
Zeit  des  Theseus  waren  ihm  die  Athener  tribut- 
pflichtig. 

In  Ägypten  wurden  die  Kreter  Pulsat  oder 
Keftin,  von  den  Juden  Keretim  oder  Kreti 
genannt. 

Nach  den  Funden  in  Kreta  und  in  Mykenä 
scheint  es  nun  erwiesen,  daß  auch  der  Kultus 
der  Aphrodite  nicht  erst  von  der  babylonisch- 
cyprischen  Aschtoret-Astarte  herstammt,  sondern 
seinen  Ursprung  im  Reiche  des  Minos  hatte 2). 

Ein  Aufenthalt  in  Kreta  könnte  vielleicht 
raschere  Klarheit  schaffen.  Leider  gestatten  es 
meine  Verhältnisse  nicht,  die  kretischen 
Täf  eichen  an  der  Quelle  zu  studieren.  Wie 
leicht  habe  ich  manches  in  Delphi  und  in 
Olympia  begriffen,  was  mir  am  heimischen 
Studiertisch  nicht  einleuchten  wollte3).  Auch 
in  dem  Archäologischen  Museum  in  Sofia  habe 
ich  mehr  von  den  alten  Thrakern  kennen  ge- 
lernt, als  aus  Büchern. 


x)  In  manchen  Gegenden  Rumäniens  schwören  die 
Bauern  heute  noch   mit  einem  Stein  in  der  Hand. 

-)  Vgl.  dazu  die  nackte  Göttin  mit  der  Taube. 
Auch  Beloch  sagt,  daß  auf  Kreta  babylonische  Ein- 
flüsse  fast  ganz  fehlen  (S.  105). 

i    \uch  Beloch    tritt   für    den    Augenschein    „an 
Ort    und   Stelle"   ein  (S.  105  u.  106,  Anm.  3). 


Nach  der  „Griechischen  Epigraphik" 
von  Dr.   Wilh.  Larfeld    (München    1914)    sind 

bisher    (S.  19S)     nur    zwei    Bilinguen    bekannt 
geworden: 

1.  eine  punische  Votivstele  vom  Kap 
Lilybäum  mit  zwei  kurzen  Weihinschriften  des 
Hannon  (Adonbaals  Sohn)  in  phönikisch- 
raykenischen  Charakteren   und 

2.  eine  assyrisch-hettitische  oder  viel- 
leicht assyrisch-mykenische  Bilingue. 

S.  199.  Doch  sind  die  mykenischen  Zeichen 
in  derart  verschwommenen  und  flüchtigen  Linien 
eingeritzt,  daß  bei  der  Vielgestaltigkeit  der 
Buchstabenvarianten  die  punische  Lesung  mehr 
in  sie  hineininterpretiert  werden  muß,  als  sie 
aus  ihnen  herausgelesen  werden   kann. 

Der  vorliegende  Aufsatz  war  schon  vor  zwei 
Jahren  dem  „Anthropos"  (S.  A.  Gabriel-Möd- 
ling  bei  Wien)  eingereicht  und  gedruckt  worden, 
ist  aber  der  Kriegszeit  wegen  dort  nicht  er- 
schienen. Er  wird  nun  im  Korrespondenzblatt 
veröffentlicht.  Inzwischen  ist  von  Ed.  Meyer, 
„Reich  und  Kultur  der  Chetitei"  er- 
schienen, wodurch  viel  neues  Licht  auch  auf  die 
alte   kretische   Kultur  fällt. 


Von  größter  Wichtigkeit  ist  aber  die  Nach- 
richt dw  Neuen  Freien  Presse  (Wien),  daß 
es  dem  dortigen  Prof.  Friedrich  Hrozny  ge 
hingen  ist,  die  chetitischen  Hieroglyphen  zu 
entziffern  und  die  Schrift  zu  lesen.  Nach  Prof. 
Hrozny  (an  den  ich  mich  sofort  brieflich  ge- 
wendet) ist  die  ehetitische  Sprache  zweifel- 
los indogermanisch. 

Nach  Ed.  Meyer  sollen  ehemals  die  Be- 
wohner von  Kauuos  (in  Karien)  aus  Kreta 
eingewandert  sein;  auch  die  Lykier  sollten  von 
Kreta  stammen,  obwohl  das  Lykische  dem 
Eteokretischen  nicht  ähnelt.  Im  kretisch-myke- 
nischeu  Kulturkreis  finden  sich  Parallelen  zu 
den  chetitischen  Dämonen  (menschlicher  Leib 
mit  Stierkopf).  Ob  sie  dort  von  den  Chetitern 
entlehnt  sind  oder  aber  zu  dem  alten  Kulturgut 
der  kretischen  Bevölkerung  gehören,  wird  wohl 
bald   entschieden    werden. 

Prof.  Hrozny  kann  mir  seine  Arbeit  wäh- 
rend der  Kriegszeit  leider  nicht  znschicken, 
nachher  aber  wird  es  geschehen  und  ich  werde 
dann  in  der  angenehmen  Lage  sein,  den  Lesern 
des  Korrespondenzblattes  Näheres  mitzuteilen. 
Hoffentlich  fällt  nun  auch  auf  die  niiuoische 
Kultur  klärendes  Licht. 


Eine  Ergänzung  der  Mustertafel1). 

(Von   Bärthold- Halberstad t.) 


Die  regelrechten  Muster  der  Spiral-Mäander- 
kultur, die  im  Harzgau  zur  Anwendung  kamen, 
dürften  nun  vollständig  vorliegen;  die  ganze 
Schönheit  der  Verzierungen  kommt  nun  zur  An- 
schauuno-. 

Fig.  1  zeigt  die  Weiterführung  des  laufenden 
Hundes  zum  vollen  Spiralbande.  Sie  ist  neben 
dem  gewöhnlichen  laufenden  Hunde  (Fig.  2)  in 
Gatersleben  zwischen  Halberstadt  und  Aschers- 
leben gefunden.  Beide  Verzierungen  in  ganz 
ähnlicher  Ausführung  ebenfalls,  nur  umgekehrt, 
auf  Flasche  und  Napf  verteilt,  sind  auch  im 
eigentlichen  Harzgau  ans  Licht  gekommen.  Von 
der  Doppelspirale  ans  (Mustertafel  8)  war  ein 
Band  nicht  zu  zeichnen. 

Auch  die  Zuversicht,  die  ich  damals  aus- 
sprach, hat  sich  erfüllt,  ja  war  schon  erfüllt:  das 
Mäanderband  ist  nachzuweisen.     Auf  Anregung 

')  Korrespondeuzblatt  1914,  Nr.  5. 


des  Sanitätsrates  Friederich  in  Wernigerode 
üeß  der  damalige  Graf  1859  einen  Hügel  von 
18  m  Durchmesser  in  Minsleben  abtragen.  Ein 
großes  Grab  enthielt  er  nicht,  nur  einige  eisen- 
zeitliche Bestattungen,  aber  auf  dem  Grunde 
war  der  Nachlaß  einer  Siedelung  der  Spiral- 
Mäanderkultur.  Die  Leute  waren  in  Ruhe  fort- 
gezogen, sie  hatten  alles  Brauchbare  mitgenommen, 
während  au  anderen  Orten  über  hundert  tadel- 
lose Werkzeuge  zurückgelassen  sind,  dafür  waren 
die  Scherben  größer  und  mehr  zusammenpassend 
als  sonst.  Die  Funde  sind  in  das  Museum  zu 
Wernigerode  gekommen  und  von  Friederich 
1868  vortrefflich  abgebildet.  Seine  „Beiträge 
zur  Altertumskunde"  sind  jedoch  nicht  mehr 
im  Buchhandel  und  daher  nur  wenig  bekannt. 
Zwei  Seherben  von  dort  zeigen  das  richtige 
Mäanderband  (Fig.  ■'!).  Die  Verbindungslinie, 
die  durch  Punkte  angedeutet  ist,  blieb  auf  den 
Scherben  nicht  erhalten,  ist  aber  unzweifelhaft. 

2 


So  gibt,  es  wirklich  bereits  in  dieser  Kultur 
die  beiden  ausgezeichneten  Verzierungen,  das 
Spiralband  und  das  Mäanderband,  die  dann  erst 
wieder  in  der  späteren  Bronzezeit  und  der 
spateren  Eisenzeit  gefunden  wurden.  Die  beiden 
vollendetsten  Ornamente  linden  sich  aber  sehen: 
viel  häufiger  sind  einzeln  oder  paarweis  stehende 
Mäanderzüge   und   der    laufende   Hund. 

In    dem   Beriebt    über  seine  Ausgrabung    in 
Lissdorf  betont  Schuohhard  (Prähist.  Zeitschr. 


Fig.  1. 


Fig. 


1914),  daß  die  Verschiedenheiten  der  Spiral- 
Mäanderkeramik  und  der  Hinkelsteinkeramik  in 
Form  and  Verzierung  mit  Verschiedenheit  in 
Gebräuchen  zusammengehen;  einerseits  hockende 
Skelette  mit  ausländischem  Muschelschmuck  und 
Elfenbeinnägeln,  andererseits  gestreckte  Skelette 
mit  einheimischen  Muscheln  und  Schnecken- 
häusern, was  auf  eine  andere  Kultur,  einen 
anderen  Volksstamm  hinweist.  Die  Ableitung 
der  einen  aus  der  anderen  bleibt  indes  immer- 
hin möglich,  denn  die  Umwandlung  der  Gefäße 
kann   eingetreten   sein,  als  die  Verbindung  nach 


dem  Süden  aufgehört  hatte  und  Freude  an  Neuem 
aufkam.  Fig.  4  wird  als  Übergangsform  zu 
beurteilen  sein. 

Es  ist  der  häufige  paarweise  Mäanderzue, 
auf  den  der  Ausdruck  von  Hoernes  „gebrochene 
Spirale"  so  gut  paßt,  da  er  ganz  das  Seitenstück 
zu  der  paarweis  stehenden  Spirale  ist;  die  Aus- 
führung aber  ist  ganz  die  vom  Hinkelstein  und 
Ozaslau.  Die  beiden  vorhandenen  Scherben  sind 
ebenfalls  von  Minsleben,  und  außer  ihnen  laireu 


Fig.  3. 


<*<<<<    <<<< 


^><<<  <  A  <<  <  <a 

A 

A 
A 

A 

A 
A 

A 
A 

A 
A 
A 
A 

A  <   <    <d    A  < 

A 

A 

v^               A 

Fig.  4. 


dort  noch  andere  mit  denselben  dreieckigen 
Eindrücken  auch  in  den  breiten  Bändern  des 
Hinkelsteinstils  bis  zu  neun  Reihen,  und  zwischen 
je  zwei  Reihen  mit  größeren  Dreiecken  eine  mit 
kleinen.  Eine  Spirale  aus  dreieckigen  Ein- 
drücken hat  Grössler  von  Gross  Oerner  be- 
kannt gemacht  (Jahresschr.  für  die  sächsisch- 
thüringschen  Länder  1908).  In  Böhmen  kann 
Jira  Übergänge  nachweisen  (Mannus  1911). 
Das  mühselige,  sorgfältige  Nebeneinander- 
stellen kleiner  Eindrücke  ist  gewiß  himmelweit 
verschieden    von     dem    flotten    Hinwerfen    eines 


11 


Spiralbandes  in  einem  Zuge,  aber  es  ist  ver- 
ständlieh, daß  anf  kunstsinnige  Lente  die  schönen 
norddeutschen  Muster  aus  zierlichen  Kreuzen, 
Halbkreisen  und  Furchenstich,  wie  sie  Sohueh- 
hardt  in  den  Amtlichen  Berichten  aus  den  König  1. 
Kunstsammlungen  Juni  1914  bekannt  gab,  Ein- 


druck machten,  und  um  das  Muster  hervor- 
zuheben, verwendeten  sie  ja  schon  Einstiche  wie 
hier  in  Fig.  1 — 3.  Am  meisten  bezeugen  die 
gleichen  eigenartigen  Werkzeuge,  daß  die  ver- 
schiedenartigen Tongefäße  doch  einer  Kultur 
angehören. 


Mitteilungen  aus  den  Lokalvereinen. 


Bonner  Anthropologische  Gesellschaft. 

Iu  der  Sitzung  am  23.  November  berichtete  Herr 
Prof.  Max  Verworn  über  „Fränkische  Grabfunde 
aus  dem  westlichen  Kriegsgebiet"  unter  Vor- 
lage der  Fundgegenstände. 

Im  Anfang  Mai  1914  teilte  ein  früherer  Mitarbeiter 
aus  dem  Laboratorium  des  Vortragenden ,  Herr  Dr. 
Rehorn,  welcher  sich  als  Militärarzt  an  der  Front 
in  Lothringen  befindet,  dem  letzteren  mit,  daß  man 
in  einem  Waldlager  in  der  Gegend  von  Vilcey  bei 
den  Ausschachtungsarbeiten  für  einen  Unterstand  auf 
Gräber  mit  Skeletten  und  Beigaben  gestoßen  sei,  die  i 
aber  durch  die  Arbeiten  leider  zerstört  worden  seien. 
Ein  einziges  Grab  konnte  Herr  Dr.  Rehorn  noch 
wenigstens  zum  Teil  vor  der  Vernichtung  schützen  und 
selbst  fertig  ausgraben.  Die  darin  gefundenen  Gegen- 
stände schickte  er  dein  Vortragenden  zur  Untersuchung 
mit.  Beim  weiteren  Fortschreiten  der  Ausschachtungs- 
arbeiten zeigte  sich  sehr  bald,  daß  in  jener  Gegend  ein 
ganzes  Gräberfeld  vorhanden  war  und  es  war  dann 
besonders  den  Bemühungen  des  Herrn  Privatdozenten 
Dr.  Wassermeyer,  der  als  Stabsarzt  im  Felde  steht, 
zu  danken,  daß  einige  Gräber  vor  der  Zerstörung  be- 
wahrt blieben.  Herr  Dr.  Wassermeyer  hat  eigen- 
händig die  noch  intakten  Gräber ,  auf  die  man  stieß, 
mit  großer  Vorsicht  und  Sorgfalt  ausgegraben  und  die 
gefundenen  Objekte  nebst  einem  eingehenden  Fund- 
bericht dem  Vortragenden  übersandt. 

Es  handelt  sich  um  Skelettgräber,  die  sämtlioh 
von  Osten  nach  Westen  so  orientiert  sind,  daß  der 
Kopf  nach  Westen .  die  Füße  nach  Osten  gerichtet 
sind.  Die  Skelette  liegen  gestreckt  in  den  Gräbern, 
die  von  rechteckigen  Steinpackungen  aus  kleineren, 
unbearbeiteten  Steinen  umgrenzt  und  zum  Teil  mit 
roten  flachen  Ziegelplatten  römischen  Ur- 
sprungs belegt  sind.  Eins  der  Gräber  war  mit 
großen  Steinplatten  bedeckt.  Leider  sind  die  Skelette 
schlecht  erhalten.  Zwei  Schädel  konnte  der  Vor- 
tragende indessen  aus  den  übersandten  Knochen  fast 
vollständig  wieder  zusammensetzen.  Beide  zeigen 
eine  schöne  Form  und  sind  ausgesprochene  hypsi- 
prosope  Dolichocephali.  Der  eine  dieser  beiden  Schädel 
ist  interessant  durch  eine  schwere  Hiebwunde  auf  dem 
linken  Scheitelbein ,  die  nicht  geheilt  ist ,  also  ver- 
mutlich den  Tod  im  Gefolge  gehabt  hat.  Im  übrigen 
bieten  die  Schädel  nichts  Bemerkenswertes. 

Unter  den  Beigaben  sind  die  wichtigsten  die 
eisernen  und  die  keramischen.  In  dem  von  Herrn.  Dr. 
Rehorn  ausgegrabenen  Grabe,  dem  der  Schädel  mit 
der  Hiebwunde  zugehörte ,  fand  sich  ein  typischer 
Skrammasax,  an  dessen  Griffende  sich  noch  Reste 
eines    Holzsriffs   erkennen   lassen ,    sowie   eine    eiserne 


Gürtelschnalle,  die  ursprünglich  mit  Silber  tau- 
schiert war,  leider  aber  so  verrostet  ist,  daß  die  Form 
der  Silberverzierung  nicht  mehr  zu  erkennen  ist.  Im 
Rost  hat  sich  dagegen  eine  Spur  des  groben  Gewand- 
gewebes erhalten.  In  den  von  Herrn  Stabsarzt  Dr. 
Wasser mey er  ausgegrabenen  Gräbern  fanden  sich 
kleinere  Eisenmesser  von  der  gleichen  Form  wie 
der  Skrammasax,  ferner  eine  zweite  Gürtelschnalle  von 
rundlicher  Scheibenform  sowie  ein  nadeiförmiges 
Instrument  aus  Bronze  und  ein  kleines  Bruch- 
stück eines  mit  groben  Kerben  verzierten  Knochen- 
beschlages. Die  Gefäße  sind  sämtlich  auf  der 
Töpferscheibe  gedreht  und  ohne  Henkel.  Das  Material, 
aus  dem  sie  bestehen,  ist  zum  Teil  ein  roter,  fein  ge- 
schlämmter Ton ,  der  aber  nicht  stark  gebrannt  ist, 
zum  Teil  ein  feiner ,  grauer  Ton ,  der  beim  Brennen 
im  Schmauehfeuer  äußerlich  geschwärzt  ist.  Bis  auf 
einen  gröberen  Topf  einfachster  Form  sind  die  Gefäße 
stark  profiliert.  Ein  kleineres  Gefäß  ist  mit  Punzen- 
eindrücken um  die  mittlere  Zone  verziert.  Die  Gefäße 
haben  den  typischen  Charakter  der  merowingischeu 
Keramik. 

Nach  den  Beigaben   ergibt  sich  als  Datierung  des 
Gräberfeldes  etwa  das  Ö.  Jahrhundert  nach  Christus. 


Die  Sitzung  der  Bonner  anthropologischen  Gesell- 
schaft vom  14.  Dezember  1915  brachte  nach  längerer 
Unterbrechung  wieder  eine  Fortsetzung  der  Serien- 
vorträge des  Vorstandes  über  die  steinzeitlichen 
Perioden.  Herr  Prof.  Verworn  entwarf  unter  De- 
monstration zahlreicher  Gegenstände  seiner  Sammlung 
und  einer  Serie  von  Lichtbildern  eine  Skizze  von  der 
„Kultur  der  Renntierzeit". 

Wie  die  Kultur  des  älteren  Paläolithikums  ist 
auch  diejenige  der  Renntierzeit  oder  des  jüngeren 
Paläolithikums  eine  Jägerkultur.  Dem  entspricht  auch 
die  gleiche  Weise  der  Wohnungsanlagen,  die  wie  wäh- 
rend des  voraufgehenden  Acheuleen  und  Mousterien  ge- 
wöhnlich unter  überhängenden  Felsdächern  (Abri)  sich 
befinden,  aber  wohl  auch  im  offenen  Lande  unter  zelt- 
ähnlichen Hütten.  Wenigstens  scheinen  einige]  Wand- 
zeichnungen in  den  Höhlen  in  diesem  Sinne  gedeutet 
werden  zu  müssen.  Die  Geräte  bestehen  noch  immer 
zum  größten  Teil  aus  lediglich  durch  direkten  oder 
indirekten  Schlag  hergestellten  Feuersteinwerkzeugen. 
Daneben  treten  aber  auch  andere  Steinmaterialien  für 
bestimmte  Zwecke  auf,  so  z.  B.  Kalksteine  mit  Vertie- 
fungen als  Lampen,  Geröllsteine  aus  kristallinischen  Ge- 
steinen als  Werksteine  zum  Klopfen  und  Reiben  und^als 
seltenere  Erscheinungen  schön  ausgehöhlte  Farbnäpfe 
aus    Granit,    üiorit    usw.      Von    den    vorherrschenden 


12 


\\  i-:  I  dei    iltevei     Paläolithikums    sind    die 

mandelförmigen  Werkzeuge  (Coup  de  poing- Formen) 
zum  Schlagen,  Schallen ,  Schneiden,  Bohren  usw.  im 
jüngeren  Paläolithikum  vollständig  verschwunden; 
e  typischen  breiten  Schaberformen  nach  Art 
iler  sogenannten  Moustiereohaber.  Das  Ausklingen 
er  Typen  erfolgt,  schon  im  ausgehenden  Ministerien 
vom  Niveau  des  Abri  Audi.  Dafür  treten  neue  Feuer- 
steinwerkzeugtypen hervor,  die  im  ganzen  einen  zier- 
licheren, oft  sogar  äußerst  kunstvollen  Eindruck  machen. 
Unter  den  zahllosen  Schaberformen  herrschen  jetzt  die 
aus  schlanken  und  schmalen  Feuersteinspänen  her- 
gestellten Stirnschaber,  Gradschaber.  Hohlschuber, 
Spitzsohaber  vor.  Auch  feine  Messer,  oft  von  winzigen 
Dimensionen  werden  aus  schmalen  Spänen  durch 
Bearbeitung  der  einen  Längsseite  hergestellt  (Lames 
ä  dos  abbattu),  ferner  sägeförmige  Werkzeuge, 
l!"hrer  usw.  Einen  neuen  sehr  charakteristischen  Werk- 
zeugtypus  stellen  die  dicken  nucleusförmigen  Schaber 
(Grattoir  tarte)  vor,  die  durch  das  ganze  jüngere 
Paläolithikum  hindurchgehen. 

Als  neues  Werkzeugmaterial ,  das  im  älteren 
Paläolithikum  nur  an  passiven  Geräten  in  der  Form 
von  unbearbeiteten  Unterlagen  für  die  Steinbearbeitung 
sein  erstes  bescheidenes  Auftreten  zeigt,  kommt  jetzt 
der  Knochen  für  die  Herstellung  der  verschiedensten 
und  kunstvollsten  Geräte  in  allgemeinen  Gebrauch. 
Pfeilspitzen,  Pfriemen,  Glättinstrumente,  Nähnadeln 
mit  Öhr,  zierliche  Harpunen,  Pfeilstrecker  (sogenannte 
„Kommandostäbe"),  aber  auch  Tier-  und  Menschen- 
bilder, und  viele  andere  Gegenstände  werden  in  ge- 
schicktester Weise  aus  Knochen,  Mammutelfenbein 
oder  Renntierhorn  geschnitzt  und  die  Knochentechnik 
stellt  sich  der  Feuersteintechnik  als  eine  in  mancher 
Beziehung  überlegene  und  kunstvollere  Technik  an 
die  Seite,  ja  der  Knochen  liefert  geradezu  das  Haupt- 
material für  die  zahlreichen,  kleinen,  in  Liniengravie- 
rung, Flachrelief  oder  Rundplastik  hergestellten  Kunst- 
werke, die  der  Kultur  der  Renntierzeit  durch  ihren 
frappierenden  Naturalismus  ein  so  charakteristisches 
Gepräge  geben.  Aber  der  Knochen  ist  nicht  das 
einzige  Material  dieser  Kunstwerke.  Mehr ,  als  man 
bisher  glaubte,  ist  auch  weicheres  Steinmaterial,  wie 
Kalkstein  und  Schiefer,  für  die  Darstellung  solcher 
physioplastischer  Tierbilder  benutzt  worden.  Das 
haben  die  zahlreichen  Funde  gezeigt,  die  in  den  letzten 
Jahren  noch  bei  dem  genaueren  Durchsuchen  der  alten 
ausgeschachteten  Schuttmassen  an  den  klassischen 
Fundstellen  des  Vezere  -  Tals  gemacht  worden  sind. 
Diese  Kleinkunst  auf  weicheren  Steinen  von  allen 
Größen  schließt  sich  auf  das  engste  der  bekannten 
Wandkuust  an  den  Wänden  der  Höhlen  wie  in  Com- 
barelles ,  La  Mouhe ,  Font  de  Gaume ,  Cap  Blanc, 
Altamira  usw.  an.  Der  einzige  Unterschied  liegt  in 
der  Größe  der  Darstellungen.  An  der  Wandkunst  ist 
aber  auch  die  Malerei  im  allgemeinen  besser  erhalten 
als  auf  den  kleinen  Steinen ,  auf  denen  die  Farben 
meistens  durch  Wasser  mehr  abgewaschen  sind.  Die 
Verwendung  von  Farben,  die,  wie  die  neueren  Funde 
Peyronys  in  La  Ferrassie  gezeigt  haben,  bereits  im 
Mousterien  nachweisbar  ist  (vielleicht  ursprünglich 
zur  Körperbemalung),  nimmt  in  der  Renntierzeit  einen 
sehr  großen  Umfang  au  und  man  findet  kaum  einen 
Abri,  in  dessen  Schichten  nicht  reichliches  Farben- 
material seine  sehr  intensiven  Spuren  hinterlassen  hätte. 

Sehr  mannigfaltig  und  reich  entwickelt  ist  in  der 

Renntierzeit  der  Körperschmuck.    Vor  allen  Dingen 

Kein  und  Schnecken,  Zähne  von  Jagdtieren,  Tier- 


knochen, durchbohrte  Steine,  Versteinerungen,  Knochen- 
schnitzereien usw.  sind  als  Anhänger  oder  zu  ganzen 
Hals-,  Arm-  und  Hüftketten  vereinigt  benutzt  worden. 
Die  sehr  interessante  Frage,  wieweit  einzelne  von  diesen 
Anhängern,  die  später  die  Bedeutung. von  apotro- 
päischen  Amuletten  gewonnen  haben  und  zum  Teil 
beute  noch  besitzen,  wie  etwa  die  Canidenzähne  oder 
i  \  praeaschalen  oder  Belemniten ,  im  jüngeren  Paläo- 
lithikum schon  als  Amulette  gegolten  haben,  läßt  sich 
zurzeit  noch  nicht  mit  völliger  Sicherheit  entscheiden, 
scheint  aber  doch  wohl  bejaht  werden  zu  müssen. 
Hier  wäre  eine  spezielle  eingehende  Untersuchung  sehr 
wichtig. 

Daß  die  Jäger  der 'Renntierzeit  bereits  ein  Zahlen- 
system und  Zahlen  Symbole  in  der  Form  von  Kerb- 
marken  besaßen ,  erscheint  jetzt  als  sicher.  Es  sind 
eine  ganze  Menge  von  Kerbknochen  und  Kerbsteinen 
gefunden  worden,  auf  denen  die  Kerben  nicht  zu  orna- 
mentalen Zwecken  oder  als  Vorrichtungen  zum  Ver- 
hindern des  Gleitens  in  der  Hand  oder  im  Schaft  an- 
gebracht sein  können ,  sondern  bei  denen  es  keinem 
Zweifel  unterliegen  kann,  daß  sie  als  Gedächtnismarken 
zum  Zählen  eingeschnitten  wurden  (vgl.  Korrespondenz- 
blatt, XLII.  Jahrg.,  Juli  1911,  Sitzungsber.  d.  Anthropol. 
Vereins  zu  Göttiugen). 

Schließlich  kann  heute  auch  die  Frage  ritueller 
Begräbnisse  in  der  Renntierzeit  in  bejahendem 
Siune  beantwortet  werden.  Besonders  die  sehr  ge- 
nauen Untersuchungen  und  interessanten  Funde  von 
Riviere  (1872)  und  in  neuerer  Zeit  von  Verneau, 
Boule,  Cartailhac,  Villeneuve,  die  mit  Unter- 
stützung des  Fürsten  von  Monaco  (1895  bis  1902)  in 
den  roten  Höhlen  („Baousses  Rousses")  von  Mentone 
gemacht  wurden  sind,  haben  keinen  Zweifel  mehr 
darüber  gelassen ,  daß  bereits  in  den  älteren  Ab- 
schnitten der  Renntierzeit  der  Mensch  seine  Toten  in 
ausgeschachteten  Gräbern  am  Ort  seiner  Wohnstätte 
mit  rotem  Farbmaterial  eingepudert  und  mit  seinem 
Muschelschmuck  behängt  beisetzte  und  zum  Teil  auch 
durch  übergelegte  Steine  schützte.  Aber  auch  an 
anderen  Orten  sind  deutliche  Spuren  solcher  ritueller 
Begräbnisse  beobachtet  worden,  wie  erst  kürzlich  an 
dem  bekannten  Skelettfunde  von  Obercassel  bei  Bonn. 
Wieweit  aus  diesen  Tatsachen  auf  religiöse  Vor- 
stellungen irgendwelcher  Art  bei  den  Jägern  des 
Paläolithikums  geschlossen  werden  darf,  das  ist  eine 
Frage,  an  die  man  nur  mit  allergrößter  Kritik  heran- 
treten sollte,  obwohl  man  mehrfach  geglaubt  hat,  sie 
ohne  weiteres  mit  Ja  beantworten  zu  dürfen. 

Im  Anschluß  an  die  allgemeine  Charakteristik  der 
gesamten  Kultur  der  Renntierperiode  gab  der  Vor- 
tragende zum  Schluß  einen  Überblick  über  die  chrono- 
logische Aufeinanderfolge  der  einzelnen  Stufen  der- 
selben und  ihre  speziellen  Kulturtypen. 

An  das  ausgebende  Mousterien,  das  in  dem  Niveau 
des  Abri  Audi  in  Les  Eyzies  seinen  typischen  Aus- 
druck findet,  schließen  sich  Ubergangskulturen  wie 
die  von  Chatelperron  an,  die  zum  älteren  Aurignacien 
überleiten.  Die  charakteristischen  Werkzeugtypen  des 
unteren  Aurignacien  sind  unter  den  Feuerstein- 
werkzeugen die  aus  langen',  und  großen  Spänen  her- 
gestellten Schaberformen  mit  ringsumlaufender  Rand- 
bearbeitung und  mit  leichten  Einbuchtungen  an  den 
Längsseiten,  unter  den  Knochen  Werkzeugen  J  die 
Knochenspitzen  mit  gespaltener  Basis  (pointes  ä  base 
fendue).  Diese  untere  Stufe  des  Aurignacien  ist  ver- 
treten in  Cro  Magnon,  (Jorge  d'Enfer,  Laussei.  Im 
oberen    Aurignacien    erscheinen    zuerst    die    ver- 


13 


sehiedenen  Formen  der  Stichel  (burius)  und  ferner 
Pfeilspitzen  mit  Schaftzunge  ähnlich  manchen  neo- 
lithischen  Formen.  Dem  Aurignacien  folgt  das  be- 
sonders lokal  bei  Solutre  (in  der  Nähe  von  Lyon)  und 
bei  Laugerie  haute  im  Vezeretal  entwickelte  Solu- 
treen, das  sich  auch  wieder  in  zwei  Niveaus  gliedern 
laßt.  Im  unteren  Solutreen.  das  nur  an  wenigen 
Stellen  entwickelt  ist,  tritt  als  charakteristisches  Feuer- 
steinwerkzeug die  Weidenblattspitze  auf,  die  aus  einem 
gleichmäßig  abgeschlagenen  Feuersteinspan  durch 
Hächenhafte  Bearbeitung  der  Rückenfläche  und  Zu- 
spitzung beider  Enden  hergestellt  ist,  während  die 
glatte  Sprungfläche  des  Spans  unbearbeitet  geblieben 
ist.  Dieser  Typus  entwickelt  sich  dann  in  dem 
oberen  Solutreen,  wie  es  in  schönster  Ausbildung 
in  Solutre  bei  Lyon  und  in  Laugerie  haute  bei  Les 
Eyzies  auftritt ,  zu  der  typischen ,  auf  beiden  Flächen 
gleichmäßig  bearbeiteten  Lorbeerblattspitze ,  zu  der 
sich  nun  auch  die  Kerbpfeilspitze  (pointe  ä  cran)  als 
Leiti'ossil  gesellt.  An  das  Solutreen  schließt  sich  als 
letzte  Stufe  des  jüngeren  Paläolithikums  das  Magda- 
lenien  an,  das  durch  besondere  Zierlichkeit  der  Werk- 


zeuge ausgezeichnet  ist.  Im  unteren  Magdale nien 
sind  unter  den  Knochenarbeiten  die  Flachrelief- 
Schnitzereien  besonders  beachtenswert ,  die  in  den 
großen  Relief  Skulpturen  vom  (Jap  Blaue  bei  Laussei 
ihr  gewaltiges  Analogon  haben.  Zu  dieser  unteren 
Stufe  gehört  auch ,  wie  der  flache ,  aus  Knochen  ge- 
schnitzte stilisierte  Pferdekopf  zeigt,  der  Fund  von 
Obercassel  bei  Bonn.  Für  das  obere  Magdalenien, 
wie  es  in  der  Grotte  von  Les  Eyzies  auftritt ,  ist 
charakteristisch  die  Fülle  von  kleinen  Messern,  Schabern 
und  Bohrern  aus  Spänen  von  winzigen  Dimensionen, 
sowie  die  doppelseitig  mit  Widerhaken  versehenen 
Knochenharpunen  von  großer  Zierlichkeit. 

Damit  hat  das  eigentliche  Paläolithikum  sein  Ende 
erreicht  und  es  folgen  ihm  die  den  Übergang  zum 
Neolithikum  oder,  wenn  man  will,  bereits  den  Anfang 
der  neolithischeu  Kultur  vorstellenden  Stufen  des 
Azilien,  Tourassien  und  Tardenoisien,  von  welchen 
letzteren  beiden  es  vorläufig  zweifelhaft  bleiben  muß, 
ob  sie  überhaupt  als  selbständige  und  allgemein  ver- 
breitete Kulturstufen  oder  als  lokale  Entwickelungen 
anderer  zu  betrachten  sind. 


Literaturbesprechungen. 


M.  Hoernes:  Urgeschichte  der  bildenden 
Kunst  in  Europa  von  den  Anfängen 
bis  um  500  v.  Chr.  2.  Aufl.  Wien  1915. 
Kunstverlag  Anton  Schroll  &  Co. 

Im  Jahre  1898  erschien  die  1.  Auflage  dieses 
für  Urgeschichte  grundlegenden  Werkes  im  Ver- 
lage von  A.  Holzhausen  zu  Wien.  Es  waren 
709  Seiten  und  203  Abbildungen  nebst  36  Farben- 
tafeln. 

Die  neue  Auflage  enthält  661  Seiten  (Text) 
und   1330  Abbildungen  im  Text. 

Das  „Minus"  erklärt  sich  dadurch,  daß  zahl- 
reiche Partien  des  Textes  in  Kleindruck  her- 
gestellt sind. 

Ist  auch  der  G  i  undgedanke  des  Werkes  in 
2.Auflage  derselbe  geblieben,  den  M.  Hoernes 
in  der  1.  Auflage,  Vorwort  S.  V,  also  formu- 
liert hat: 

„ein  lokalgeschichtliches  Ziel,  sofern  wir 
uns  auf  europäische  Denkmäler  beschränken, 
und  ein  anthropologisches,  indem  wir  jenen 
Denkmälern  tiefere  Einblicke  abzugewinnen 
suchen,  als  man  bisher  uetan  hat", 

so  hat  sich  doch  seit  17  Jahren  die  Ausdehnung 
der  vorgeschichtlichen  Forschung  stark  geändert. 
Im  Südwesten  unseres  Erdteiles  kommen  die 
epochemachenden  Entdeckungen  in  den  Höhlen 
der  Dordosj'ne  und  Aurienacs  dazu,  die  den  Ver- 


fasser von  einer  „quartären  Kunst"  sprechen 
lassen,  während  in  Deutschland,  Böhmen,  Mähren- 
L^ngarn,  Siebenbürgen  usw.  die  Ausbeute  der 
neolithischeu  Gräber  und  Wohngruben  wesent- 
lich neu  hinzukommt. 

Blieb  auch  die  alte  Einteilung  in  einen 
theoretischen  Teil,  der  die  Kunst  im  all- 
gemeinen, dann  Kunstrichtungen,  Körper, 
schmuck,  Ornamentik,  Bildkunst  und  ihre 
Entwickelungsf ormen  behandelt,  und  in  den 
zweiten,  praktischen  Teil,  der  die  einzelnen 
Zonen  in  der  Kunstentwickelung  aus  der  Vor- 
geschichte Europas  im  einzelnen  schildert,  so 
ziemlich  die  gleiche,  so  haben  doch  seither  alle 
einschlägigen  Kulturkreise,  auch  die  Metall- 
zeit, wesentliche  Bereicherung  nach  Umfang 
und  Wertschätzung  gewonnen  und  nehmen  des- 
halb auch   mehr  Raum  als  bisher  ein. 

Dankbar  wird  jeder  Urgeschiehtsforscher  die 
Zusammenstellung  der  Ergebnisse  der  Quartär- 
kunst (S.  116  bis  191)  begrüßen  und  besonders 
die  skeptische  Behandlung  der  Frage  nach 
„Sinn  und  Zweck"  dieser  Bildwerke  (S.  184 
bis   191). 

Ebenso  erfreulich  ist  die  ausführliche  Behand- 
lung der  neolithischeu  Bauernkunst  in  Mittel- 
europa. Für  die  Ornamentik  der  (iefäße  unter- 
scheidet hier  der  Verfasser  (S.  249  bis  269) 
folgende  „Familien" : 


14 


I. 

1.  Felderf ü llemler  Stil  =  Umlaufsstil. 

a)  Ältere  Winkelband-  (Hinkelstein-), 

b)  Stickband-       =  jüngere  Winkelband-, 

c)  Furchenstich-  =  Rössener  Keramik. 

2.  a)  Ältere     Spiral-  und  Mäanderdekoration, 
b)  Jüngere       „  „  „ 

IL 

Felderteilende   Stilart  =  Rahmenstil. 

1.  Im  Norden: 

a)  Schnurkeramik, 

b)  Kugelamphorenkeramik, 

c)  Megalith-Ornamentik. 

2.  Im  Süden: 

a)  Glockenbeeher- 

b)  Mondsee- 

c)  Ägäisehe  Keramik. 

Zahlreiche  und  klare  Abbildungen  unter- 
stützen die  Beschreibungen.  In  der  Polemik 
ist  der  Verfasser"  kurz  und  sachlich.  Auf  S.  249 
liis  384  wird  diese  immerhin  wichtige,  aber  doch 
vielfach  überschätzte  Bauernkunst  im  einzelnen 
behandelt  (vgl.  unten). 

Der  nächste  Teil  (S.  355  bis  434)  beschäftigt 
sich  mit  dem  tonangenden  ägäischen  Kultur- 
kreis, besonders  mit  Mykenae,  und  der  Bronze- 
zeit von  Italien,  Mittel-,  Nord-  und  Osteuropa, 
die  dort  ihre  Entstehung  hatte.  Die  Bronzezeit- 
keramik Norddeutschlands  ist  hier  (S.  402  bis 
416)  nur  mit  einigen  Bemerkungen  „abgetan". 
Die  Resultate  vonKossinna  und  aus  „Mannus" 
fehlen  hier. 

Die  Eisenzeit  behandelt  der  siebente  und 
letzte  Teil  (S.  435  bis  580).  Vom  Herrentum 
Etruriens  ausgehend  wird  der  hallstättische  Kultur- 
kreis kurz  gezeichnet  und  dessen  Metallkunst. 
Geometrische  Figuren,  Tierfiguren,  Menschen- 
gestalten, Szenen  u.  a.  in  Ton,  Stein,  Metall 
finden  hier  eine  ausführliche  und  sachgemäße 
„Würdigung". 


Der  Entdecker  des  ausgedehnten  llallstatt- 
( '  i  äberfeldes  von  Santa  Lucia  am  Isonzostrande 
(vgl.  „Archiv  f.  Anthropologie",  Bd.  XXHI) 
schöpft  hier  ersichtlich  aus  dem  Vollen.  Die 
Bewertung  der  Venetischen  Toreutik  (S.  542 
bis  558),  die  weithin  ausstrahlte  bis  Hallstatt 
und  Watsch,  ist  überhaupt  von  kunsthistori- 
scher Bedeutung  universeller  Art. 

Die  zweite  Eisenzeit  —  La-Tene-Periode  — 
und  die  dritte  —  Völkerwanderungszeit  —  finden 
zum  Schluß  eine  kurze  schlagende  Charakteristik. 

Nachträge  und  Nachweisungen  kunst- 
historischer Art  sind  an  den  Schluß  des  Werkes 
gesetzt.  Herauszuheben  ist  hier  der  Abschnitt 
über  „Die  Überschätzung  der  paläolithisehen 
Kunst"  (S.  581  bis  590).  Hoernes  hätte  unter 
Beziehung  auf  das  Urteil  van  Genneps  (vgl. 
S.  106,  Anmerk.)  auch  die  Überschätzung  der  neo- 
lithischen  Verzierungen  auf  Gefäßen  ausdrücklich 
hervorheben  können;  doch  ist  dies  aus  Schonung 
für  gewisse  „exaltierte"  Forschungskreise  leider 
unterblieben.  —  Verzeichnisse  der  Abbil- 
dungen, Verfassernamen  und  Fundorte  machen 
das  inhaltsreiche  Werk  praktisch  für  den  Hand- 
gebrauch des  Forschers. 

Zu  ganz  besonderem  Verdienste  muß  es  dem 
bekannten  Kunstverlage  Anton  Schroll  &  Co. 
angerechnet  werden,  daß  er  zu  Wien  ein  mit 
solch'  hohen  Kosten,  besonders  für  die  trefflichen 
Abbildungen  hergestelltes  Werk  mitten  im 
zweiten  Kriegsjahre  erscheinen  ließ,  allerdings 
mit  Unterstützung  der  „Kaiserl.  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Wien". 

Hat  der  Verfasser  auch  Neigung,  zugunsten 

gewisser  Heimatzonen  (Österreich  und  Ungarn) 

den  Gegenstand  zu  behandeln,  und  legt  er  auch 

|  auf   die   Annahme   von    religiösen   Motiven    bei 

:  seinen  Erklärungen   ein   allzuhohes  Gewicht,  so 

'  wird    doch    kein    Unparteiischer    leugnen,    daß 

M.  Hoernes  mit  dieser  zweiten  Ausgabe  ein  der 

Forschung   unentbehrliches  Handbuch 

geschaffen  hat.  Dr.  C.  Mehlis. 


Reklamationen  nnd  sonstige  Mitteilungen 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  K.  Hagen,  Hamburg  13,  Binderstraße  14,  zn  senden. 


Ausgegeben  am  II.  April  1916. 


Korrespondenz -Blatt 


der 


Deutschen  Gesellschaft 


für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben   von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der  Gesellschaft 
Hamburg. 


Druck  und  Verlag  von  Friedr.  Vieweg  &  Sohn  in  Braunschweig. 


April/Juni  191«». 


XLVH.  Jahrgang.  .Jährlich   12  Nummern.  —  Preis  jährlich   4  Hark. 

Xl'.   -I/O.  Bezug  durch  alle   Buchhandlungen  und  Postanstalten. 

Ankündigungsgebühr    30  Pfg.  pro    zweispaltige    Petitzeile    oder   deren    Kaum.   —    Beilagen    nach    besonderem    Übereinkommen. 
Sendungen    druckfertiger    Manuskripte    und    direkt    reproduktionsfähiger    Illustrations-Vorlagen    sind    an    den    Herausgeber, 
Prof.  Dr.  G.  Thilenius,  Generalsekretär  der  Gesellschaft  in  Hamburg   13.   Binderstraße  14,  zu  richten. 


Inhalt:  Nachruf,  tiustav  Schwalbe  t-  —  Jahresbericht  der  Cdlner  Anthropologischen  Gesellschaft.  —  Sitzung 
der  Anthropologischen  Sektion  der  Naturhistorisohen  Gesellschaft  Nürnberg.  —  Bärtbold,  Ein  Gebiet  der 
Vorgeschichte,  das  der  Orient  beleuchtet.  — -  Literaturbesprechungen. 


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Verlag1  von  Friedr.  Vieweg"  &  Sohn  in  Braun  seh  weig-.  | 


Dr.  Richard  Andree 

Votive  und  Weihegaben 

des  katholischen  Volkes  in  Süddeutschland 


Ein  Beitrag  zur  VolKsRunde 

Mit  38  Abbild,  im  Text.   140  Abbild,  auf  32  Tafeln   u.  2  Farbendrucktafeln.    XVIII,  191  Seiten  gr.  4" 

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Inhalt'   Einleitung'  —  Das  Volk  und  die  Heiligen,  —  WallfabrtSkapeUei)  und  heilige  Qui  "t.i.  ■•  ■,    - 

1  D  patrone    der    Haustiere.   —    Der    hi  nhard.   —   Leonhardirit 

Kirchen.  —  Hufeisenopfer.' —  Wachsopfer.  —  Verhreitu                                                     inen  Opi 
i.  —    Leonhardsklütze    und   Wih'dinger.    —    PI                                         —   Einzi 
uen.  —  Opferkrötep  und  Stacl                     -  Tönerne  Ropt'urnen  und  Opferi 
Tiere.  —  Tierbilderopfer.  —  Hämmer,  and  Ackergerät.  —  Häuser-,  Kleide, 
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Von  Kr.  Richard  Andree  erschien  ferner  bei  uns:  -J4/L 

Die   Flutsagen.     Ethnographisch  betrachtet.     Mit  einer  Tafel.     XI,   162  S.    8°.     Geh.  .H> 

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Verlag  von  Friedr.  Vieweg  (EL  Sohn    in    Braunschweig 


SAMMLUNG  VIEWEG 

Tagesfragen  aus  den  Gebieten  der  Naturwissenschaften  und  der  Technik 


Erschienen  sind: 


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Heft  8. 
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Heft  11. 
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Heft  14. 

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Mit  3  Textfiguren  und  10  Kurventafeln.  .IL  I 

Dr.  Siegfried  Valentiner-Clausthal:  Hie  Grundlagen  der  Quantentheorie  in  elementarer 
Darstellung.     Mit  8  Abbildungen.  .IL  2,60. 

Dr.  Siegfried  Valentiner-Clausthal:  Anwendung  der  Quantenhypothese  in  der  kinetischen 
Theorie  der  festen  Körper  und  der  Gase.     In  elementarer  Darstellung.     Mit  4  Abbild.     Jt  2,60. 

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«u  d  nd  51  Abbildungen.  Jt  3,60. 

ppen  beim  er- Berlin:   Stoffweehselfernien  te.  ./(   2,80. 

•g:    Die  Entstehung  der  Kontinente   und  Ozeane.     Mit  20  Ab- 

t\l*   Jxj  Jt   3,20. 

ttgart:    Die  Härtung  der  Fette.    Mit  4  Abbildungen.     Jt,  3, — . 

.t-'ii    ':    Grundlagen   und   Anwendungen   der  statistischen  Mechanik. 

Jt   2,80. 

-inen   Physiologie  des  Hungers.    Mit  39  Abbild.     M  3, — . 

.]•■   Farben  der  Mineralien,   insbesondere   der  Edelsteine      Mit 

Jt  3,—. 
[«gart:  Neuere  Gerbemethoden  und  Gerbetheorien.  Jt  4, — . 
(Schweden):     Die    Sulfitahlauge   und    ihre   Verarbeitung   auf 

Jbi,~: 

Moderne  Transformatorejrf ragen.  Mit  10  Abbildungen.  Ji 
Die    technischen  Grundlagen  der  Elektromedizin.    >1  it  77  Ab- 

he:    i  te   Maschinen  mit   Wicklungen  aus  Aluminium, 

ngen.  .IL,  6, — 

vettere  Hefte  in  Vorbereitung. 


Korrespondenz -Blatt 

der 

Deutschen  Gesellschaft 

für 

Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschaft 
Hamburg. 


Druck   und  Verlag   von   Friedr.  Vieweg   &  Sohn   in    Braunschweig. 

XLVII.  Jahrg.  Nr.  4/6.  Jähpiieh  12  Nummern.  April/Juni  1916. 

Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw.  tragen  die  wiasenBchaf tl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren ;  b.  S.  16  des  Jahrg.  1894 

Inhalt:  Gustav  Schwalbet-  —  Jahresbericht  der  Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft.  —  Sitzung  der 
Anthropologischen  Sektion  der  Naturhistorischen  Gesellschaft  Nürnberg.  —  Bärthold,  Ein  Gebiet 
der  Vorgeschichte,  das  der  Orient  beleuchtet.  —  Literaturbesprechungen. 


Gustav  Schwalbe 

Geb.  1.  August  1844,  gest.  23.  April  1916. 

Zweimal  seit  Kant  hat  die  Anthropologie  den  Weg  langsamen  Fortschreitens,  das 
nur  zu  oft  fast  langweiliger  Stillstand  war,  verlassen;  zweimal  im  letzten  Jahrhundert 
gab  es  für  die  Lehre  vom  Menschen  sprungweises  Vorwärtsstiirmen  und  beide  Male  war 
es  an  fossile  Schädeldächer  geknüpft.  185t)  begann  mit  dem  Bekanntwerden  der  mensch- 
lichen Überreste  aus  dem  Neandertal  die  bisher  überwiegend  philosophisch  gerichtete 
Anthropologie  eine  wirkliche  Naturwissenschaft  zu  werden  und  diu  Stellung  des  Menschen 
in  der  Natur  wurde  mit  einem  Male  Gegenstand  zahlreicher  Bücher,  Untersuchungen  und 
Streitschriften.  40  Jahre  später  aber,  1899,  eröffneten  Gustav  Schwalbes  glänzende 
Untersuchungen  über  Pithecanthropus  erectus  nicht  nur  eine  neue  Zeitschrift,  sondern 
auch  eine  völlig  neue  Aera  anthropologischer  Arbeit.  Die  da  zum  ersten  Male  ange- 
wandten Methoden  führten  schon  nach  zwei  Jahren  in  der  Schrift  über  den  Neandertal- 
schädel  zu  überraschenden,  bis  dahin  kaum  geahnten  Ergebnissen  und  sind  seither 
Gemeingut  unserer  Wissenschaft  geworden. 

So  würde  Schwalbes  Name  dauernd  in  der  Geschichte  der  Anthropologie  fort- 
leben, auch  wenn  er  nichts  anderes  geschrieben  und  geleistet  hätte.  Ebenso  aber  hat 
er  sich  durch  die  Begründung  der  „Zeitschrift  für  Morphologie  und  Anthropologie"  ein 
unvergängliches  Verdienst  erworben. 

Der  I.  Band  dieser  Zeitschrift  ist  1899  erschienen,  der  XVIII.  war  als  Festschrift 
zu  Schwalbes  siebzigstem  Geburtstag,   1.  August  1914,  noch  vor  dem  XVII.  iu  unseren 


16 


Händen  ninl  das  Schlußheft  des  XIX.  ist  am  18.  März  1916  ausgegeben,  wenige  Wochen 
che  der  Tod  auch  diesem  Zweige  seiner  reichen  Tätigkeit  ein  jähes  Ende  gesetzt  hat. 
Schon  vor  dieser  Zeitschrift  hat  Schwalbe  aber  die  Herausgabe  von  acht  Bänden 
„Morphologische  Arbeiten"  geleitet,  so  daß  wir  ihm  im  ganzen  für  '27  große  und  glänzend 
ausgestattete  Bände  verpflichtet  sind  mit  einer  fast  erdrückenden  Fülle  von  wertvollen 
Beiträgen.      Auch  dadurch  hat  er  sich  ein  unvergängliches  Denkmal  geschaffen. 

Seh walbes  Verdienste  als  Anatom  und  als  Direktor  des  anatomischen  Instituts  der 
Universität  Straßburg  sind  an  anderer  Stelle  bereits  geschildert  und  gehören  zum  Teil 
überhaupt  nicht,  in  den  Rahmen  dieses  Blattes;  hier  habe  ich  nur  seiner  anthropologischen 
Arbeit  zu  gedenken.  Soweit  meine  Kenntnis  reicht,  beginnt  diese  1889  mit  einer  Ab- 
handlung über  die  Ohrmuschel  als  rudimentäres  Organ  (im  Archiv  für  Anatomie  und 
Physiologie).  Ein  wirkliches  Programm  enthält  dann  seine  Straßburger  Rektorrede  von 
1893  „Über  einige  Probleme  der  physischen  Anthropologie".  Hier  spricht  er  von  der 
Anthropologie  als  „jüngsten  Tochter  der  Anatomie",  erörtert  ihre  wichtigsten  Aufgaben 
und  behandelt  kurz  aber  mit  vollendeter  Klarheit  eine  Reihe  von  Problemen,  die  er  in 
späteren  Jahren  dann  eingehender  untersuchte,  so  die  anatomischen  Grundlagen  der 
Hautfarbe,  .die  Frage  nach  der  Einheit  des  Menschengeschlechtes  und  die  Abstammung 
der  amerikanischen  Indianer.  Das  Jahr  1897  bringt  dann  als  S.-A.  aus  einem  Handbuch 
der  Anatomie   des  Menschen   die  80  Seiten    umfassende   Studie    über    „Das  äußere  Ohr". 

Eine  neue  Periode  in  Seh  walbes  Tätigkeit  beginnt  mit  dem  Jahre  1899.  Da 
beschenkt  er  uns  als  Einführung  in  seine  neu  erscheinende  „Zeitschrift  für  Morphologie 
und  Anthropologie"  mit  einer  ausführlichen  Untersuchung  „Über  Ziele  und  Wege  einer 
vergleichenden  physischen  Anthropologie"  und  dann  im  unmittelbaren  Anschluß  an  diese 
Einführung  mit  seinen  groß  angelegten  und  bahnbrechenden  „Studien  über  Pithec- 
anthropus  erectus,  Dubois"  (Bd.  I,  S.  16 — 240).  Das  Jahr  1901  bringt  uns  dann  als  un- 
mittelbare Fortführung  dieser  Arbeit  zwei  Schriften  über  den  Neandertalschädel,  die  eine 
in  den  „Bonner  Jahrbüchern",  Heft  101! ,  die  andere  in  den  „Verh.  der  anat.  Ges."  auf 
der  15.  Versammlung  in  Bonn.  Daneben  linden  wir  im  III.  Band  seiner  Zeitschrift  eine 
Abhandlung  über  die  Fontaneila  metopica,  ein  Thema,  auf  das  er  zwei  Jahre  später  unter 
dem  Titel  „Fontanella  metopica  und  supranasales  Feld"  im  „Anat.  Anzeiger"  XX III 
noch  einmal  zurückkommt.  Im  Jahre  1902  beleuchtet  er  dann  in  den  „Beiträgen  zur 
Anthropologie  von  Elsaß-Lothringen"  den  Schädel  von  Egisheim;  1903  behandelt  er  in 
seiner  Zeitschrift  (Bd.  VI)  das  bis  dahin  so  unklar  gewesene  Problem  der  geteilten 
Scheitelbeine  und  1904  im  VII.  Bande  „Das  Gehirnrelief  am  Schädel  der  Säugetiere". 
Dasselbe  Jahr  bringt  eine  bei  Friedr.  Vieweg  &  Sohn  in  Heftform  erschienene  erweiterte 
.Ausgabe  eines  auf  dem  Naturforschertage  in  Cassel  gehaltenen  Vortrages  über  „Die  Vor- 
geschichte des  Menschen",  ferner  in  seiner  Zeitschrift  (VII,  S.  203 — 222)  eine  Unter- 
suchung über  „Das  Gehirnrelief  des  Schädels  bei  Säugetieren",  in  den  Mitteilungen  der 
Wiener  anthropologischen  Gesellschaft  (Bd.  XXXIV,  S.  331 — 352)  eine  überaus  anregende 
Arbeit  über  „Die  Hautfarbe  des  Menschen"  und  in  der  Straßburger  Medizinischen  Zeitung 
eine  Abhandlung  „Zur  Stellung  des  Menschen  im  zoologischen  System". 

1905  ist  in  der  Straßburger  Medizinischen  Zeitung  die  Untersuchung  „Über  Ballen, 
Linien  und  Leisten  der  Hand"  erschienen,  durch  die  viele  spätere  Arbeiten  angeregt 
sind,  unter  denen  ich  die  von  Schlaginhauf en  besonders  hervorheben  möchte.  Sonst 
sind  es  Abstammungsfragen,  die  Schwalbe  um  diese  Zeit  wieder  vorwiegend  beschäftigen. 


17 


Im  88.  Bd.  des  Globus,  Heft  10,  linden  wir  unter  dem  Titel  „Zur  Frage  der  Abstammung 
des  Menschen"  eine  in  der  Form  überaus  milde,  in  der  Sache  aber  höchst  energische 
Zurückweisung  der  Kollmannschen  Ansichten  über  die  Pygmäen  als  Stammeltern  der 
heutigen  Menschenrassen.  Dieselben  Gedanken  werden  auch  in  einer  Abhandlung  in  der 
Münchener  Medizinischen  Wochenschrift  (Nr.  28  von  1905)  unter  dem  Titel  ausgeführt 
„Die  Pygmäen  und  ihre  Beziehungen  zur  Vorgeschichte  des  Menschen". 

Auf  der  vollen  Höhe  seiner  anthropologischen  Arbeit  sehen  wir  Schwalbe  1900 
in  dem  Gustav  Retzius  gewidmeten  Souderbande  zur  Zeitschrift  für  Morphologie  und 
Anatomie. 

Den  ersten  Teil  dieses  Bandes  bildet  eine  Zusammenfassung  „Zur  Frage  der  Ab- 
stammung des  Menschen",  eine  geradezu  musterhafte  Arbeit  mit  souveräner  Beherrschung 
des  Stoffes.  Die  beiden  anderen  Teile  sind  zwei  Schädelbruchstücken  gewidmet,  der 
dritte  dem  von  Cannstatt,  nach  dem  Quatrefages  und  Hamy  den  paläolithischen 
Menschen  als  „Race  Canstattienne"  bezeichneten,  obwohl  er  sicher  mit  der  Neandertal- 
gruppe  nicht  das  mindeste  zu  tun  hat.  Besonders  interessant  ist  aber  der  zweite  Teil 
des  Bandes,  der  sich  mit  dem  Schädeldach  von  Brüx  beschäftigt.  Dieses  war  1873  von 
mir  selbst  veröffentlicht,  seither  aber  nicht  weiter  beobachtet  worden.  Schwalbes  neue 
Untersuchung  aus  dem  Jahre  1906  zeigt  so  recht  den  großen  Fortschritt,  den  die  Anthro- 
pologie in  diesen  33  Jahren  gemacht  hat,  freilich  auch  den  begreiflichen  Unterschied  in 
der  Betrachtungsweise  eines  19  jährigen  Studenten  von  der  eines  52jährigen  Meisters 
der  Anatomie.  Schwalbe  wird  gleichwohl  meiner  Arbeit  vollkommen  gerecht,  indem 
er  anerkennt,  wie  sehr  ich  damals  unter  der  Suggestion  von  R.  Virchows  Auffassung 
von  dem  Neandertaler  als  einem  pathologischen  Spezimen  befangen  gewesen  war.  Ich 
darf  hierzu  wohl  noch  beifügen,  daß  auch  mein  damaliger  Lehrer  Langer  sich  dieser 
Suggestion  nicht  hatte  entziehen  können  und  was  an  dem  Brüxer  Schädeldach  unge- 
wöhnlich erschien,  von  vornherein  für  pathologisch  erklärte. 

1906  und  1907  folgen  im  Anschluß  an  die  oben  erwähnte  Arbeit  von  1904  weitere 
Untersuchungen  über  die  Beeinflussung  der  Schädelform  durch  das  Gehirn,  so  im 
Deutschen  Archiv  für  klinische  Medizin  eine  Studie  über  „Die  Beziehungen  zwischen 
Iunen-  und  Außenform  des  Schädels",  im  Korrespondenz -Blatt  der  Deutschen  Gesell- 
schaft für  Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte,  37.  Bd. ,  S.  91 — 99  ein  Vortrag 
(vor  der  Görlitzer  Jahresversammlung)  „Über  alte  und  neue  Phrenologie"  und  1907  im 
X.  Bande  seiner  Zeitschrift  für  Morphologie  und  Anthropologie  die  weitausgreifende 
Untersuchung  über  „Das  Gehirnrelief  der  Schläfengegend  des  menschlichen  Schädels". 

Aus  Anlaß  der  Feier  von  Darwins  hundertstem  Geburtstag  erschien  1910  in  der 
Zeitschrift  für  Morphologie  und  Anthropologie  Schwalbes  große  Abhandlung  über 
Darwins  „Abstammung  des  Menschen".  Im  selben  Jahre  hatte  der  Globus  im  98.  Bande 
eine  ausführliche  kritische  Besprechung  von  P.  Schmidts  „Stellung  der  Pygmäenvölker". 
1911  brachte  in  der  Zeitschrift  für  Morphologie  und  Anthropologie,  Bd.  XIII,  eine 
Untersuchung  über  „Das  Cuboides  seeundarium"  und  ebenda  eine  sehr  ausführliche  Studie 
über  „Die  Südamerikanischen  Primaten"  mit  einer  vernichtenden  Kritik  von  Ameghinos 
phantastischen  Anschauungen  über  den   „Diprothomo". 

Volle  Meisterschaft  zeigt  sich  auch  in  der  Besprechung  von  Boules  Werk  über 
den  fossilen  Menschen  von  La  Chapelle-aux-Saints  (Zeitschrift  für  Morphologie  und  Anthro- 
pologie XVI,   1914,  S.  527 — 610),  ein  an  sich  wichtiges  Buch,    das  zu  beurteilen  natur- 


18 


gemäß  niemand  berufener  sein  konnte  als  Schwalbe.  Derselbe  Band  enthält  auch  eine 
begeistert  anerkennende  Besprechung  von  0.  Abels  „Grundzüge  der  Paläobiologie  der 
Wirbeltiere",  die  ja  in  der  Tat  in  der  Bibliothek  keines  Anthropologen  fehlen  sollten. 

Der  XVII.  Band  bringt  eine  „Untersuchung  über  die  Bedeutung  der  äußeren  Para- 
siten für  die  Phylogenie  der  Säugetiere  und  des  Mensehen"  mit  dem  Nachweise,  daß 
..verwandte  Formen  von  Parasiten  auch  verwandten  Formen  von  Wirtstieren  entsprechen 
müssen",  analog  der  durch  die  Präzipitationsreaktion  nachgewiesenen  Blutsverwandtschaft. 
Und  noch  der  letzte  (XIX.)  Band  seiner  Zeitschrift  bringt  S.  149  bis  254  eine  Unter- 
suchung über  den  fossilen  Affen  Oreopithecus  Bambolii  und  als  würdigen  Abschluß 
seiner  anthropologischen  Wirksamkeit,  S.  545  bis  ti68,  die  „Beiträge  zur  Kenntnis  des 
Ohres  der  Primaten",  eine  weitausgreifende  Studie,  die  für  das  Verständnis  des  mensch- 
liehen Ohres  von  der  denkbar  größten  Bedeutung  ist  und  so  in  zugleich  großartiger  uud 
rührender  Weise  den  Kreis  seiner  Studien  über  das  äußere  Ohr  sehließt,  der  1889  mit 
seiner  ersten  anthropologischen  Arbeit  über  „Die  Ohrmuschel  als  rudimentäres  Organ" 
seinen   Anfang  genommen   hatte. 

So  war  Schwalbes  anthropologische  Tätigkeit  intensiv  und  extensiv  gleich  hervor- 
ragend, vollkommen  als  ob  sie  sein  ganzes  Leben  allein  ausgefüllt  und  nicht  nur  bloß 
neben  seinem  eigentlichen  Berufe  einhergegangen  wäre.  Nur  ungewöhnliche  Arbeitskraft 
und  eiserner  Fleiß  lassen  eine  solche  Doppeltätigkeit  verstehen.  Persönlich  habe  ich 
stets  auch  seine  große  Beleseuheit  bewundert,  und  „belesen"  war  er  nicht  nur  im 
<rewöhulichen  Sinne  des  Wortes,  sondern  mit  einer  absoluten  Beherrschung  der  ganzen, 
für  den  großen  Kreis  seiner  Arbeiten  in  Frage  kommenden  Literatur. 

Ebensosehr  aber  als  seine  wissenschaftliche  Arbeit  haben  alle,  die  ihm  näher 
gestanden,  auch  die  abgeklärte  Milde  seines  Wesens  geschätzt  und  geliebt.  Strenge  war 
er  nur  gegen  sich  selbst;  nachsichtig  gegen  die  anderen.  Zwei  Dinge  freilich  konnten 
auch  ihn  unwirsch  und  ungeduldig  machen,  zügellose  Phantasie  und  vordringlicher 
Dilettantismus.  Beide  gingen  ihm  auf  die  Nerven  und  im  vertrauten  Gespräch  wie  in 
persönlichen  Briefen  pflegte  er  aus  seiner  Geringschätzung  mancher  „Kollegen"  kein 
Hehl  zu  machen.  Bei  unserem  letzten  Zusammensein  Hei  manches  harte  Wort  über 
solche  Dilettanten,  die  bei  aller  Tüchtigkeit  in  ihrem  eigentlichen  Berufe  doch  der 
Meinung  seien,  man  könnte  so  nebenher  „an  Sonntag  Nachmittagen"  auch  Anthropologie 
treiben,  ohne  jedwede  Kenntnis  von  Literatur  und  Material.  Gewiß,  sagte  er  damals,  ist 
die  Anthropologie  ursprünglich  von  Außenseitern  und  von  Dilettanten  gemacht  worden, 
wie  schließlich  jede  andere  Wissenschaft  auch;  aber  das  ist  jetzt  anders  geworden;  jetzt 
ist,  dank  der  Arbeit  eben  jener  Außenseiter,  die  Anthropologie  eine  Wissenschaft 
geworden  uud  fürwahr  zu  gut  für  bloß  dilettantische  Betätigung.  Etwas  wie  heiliger 
Zorn  sprühte  damals  ans  den  sonst  so  milden  hellen  Augen,  die  sich  nun  für  immer 
geschlossen  haben. 

Uns  aber,  die  zurückbleiben,  wird  er  immer  ein  leuchtendes  Vorbild  sein;  nie 
werden  wir  seine  wissenschaftliehe  Arbeit  vergessen,  nie  seinen  durchdringenden  Scharf- 
blick, nie  auch  seine  persönliche  Güte.  v.  Luschan. 


19 


Jahresbericht  der  Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft. 


In  der  Mitgliederversammlung  am  20.  Oktober 
1914  war  beschlossen,  im  Kriege  die  Arbeit 
nicht  ruhen  zu  lassen.  In  Vertretung  der  itn 
Felde  stehenden  Vorstandsmitglieder  Dr.  Prof  e 
und  Dr.  Zilkens  übernahmen  in  der  Folge  in 
Vertretung  die  Geschäfte  des  Schriftführers: 
l'rof.  Dr.  Czaplewski,  die  des  Schatzmeisters: 
Ingenieur  Bätonnier. 

Den  ersten  Vortrag,  am  9.  Dezember  1914, 
übernahm  Prof.  Dr.  Czaplewski.  Er  gab  ein 
ausführliches  Referat  über  die  Vorträge  der 
Herren  Geheimräte  Verworn,  Bonnet  und 
Steinmanu:  „Die  diluvialen  Skelettfunde  bei 
Oberkassel 2)  (Siebengebirge)".  Herr  Geheimrat 
Prof.  Dr.  Verworn  hatte  dazu  liebenswürdiger- 
weise Originallichtbilder  dem  Vortragenden  zur 
Verfügung  gestellt.  — 

Am  Mittwoch,  den  10.  März  1915,  sprach  in 
der  Mitgliederversammlung  der  Gesellschaft  der 
Vorsitzende  derselben,  Rektor  Rademacher, 
über  „Die  prähistorische  Besiedelung  des  hoch- 
wasserfreien Geländes  von  der  Marienburg  bis 
Fühlingen"  (Urgeschichte  der  Stadt  Cöln).  Er 
führte  ungefähr  folgendes  aus: 

„Cöln  schickt  sich  an,  der  Erinnerung  an 
seine  römische  Zeit  durch  die  Errichtung  des 
Römerbrunnens  sichtbaren  Ausdruck  zu  ver- 
leihen. Wenn  auch  mit  der  Erhebung  der  An- 
siedlung ,  der  Ubischen  Stadt ,  zur  römischen 
Militärkolonie  die  eigentliche  stadteölnische  Ge- 
schichte anhebt,  so  liegt  die  Besiedlung  des 
hochwasserfreien  Geländes,  der  sogenannten  Alte- 
burger Erhebungen,  doch  noch  sehr  viel  weiter 
zurück.  Als  im  1.  Jahrhundert  v.  Chr.  die  Ubier 
auf  das  linke  Rheinufer  verpflanzt  wurden,  ward 
ihnen  als  Mittelpunkt  ein  befestigter  Ort  ge- 
geben, „Oppidum  Ubiorum".  Dies  ist  das  später 
durch  Agrippina  zur  Stadt  erhobene  Colonia. 
Demgemäß  hat  in  diesem  Gebiete  hier  schon 
eine  Ansiedlung  bestanden,  da  die  Ubier  noch 
nicht  verpflanzt  waren.  Und  in  der  Tat,  es 
stellt  sich  immer  mehr  heraus,  daß  viele  Jahr- 
tausende hindurch  schon  Ansiedlungen  auf  dem 
ganzen  Bereiche  dieses  hochwasserfreien  Ge- 
bietes gewesen  sind.    Die  ältesten  Spuren  reichen 


a)  Eine  eingehende  Publikation  über  den  Fund  wird 
von  den  genannten  Herren  vorbereitet.  Es  handelt  sich 
um  zwei  pietätvoll  in  einem  Grabe  bestattete  Indivi- 
duen, Mauu  und  Frau,  deren  Skelette  1914  bei  Stein- 
brucharbeiten  zum  Vorschein  gekommen  waren.  Der 
Fund  gehört  an  das  Ende  des  Magdalenien. 


in  die  Übergangsperioden  von  der  älteren  zur 
jüngeren  Steinzeit,  dem  Tardenoisien.  Charakte- 
ristische Funde  wurden  in  der  letzten  Zeit  in 
der  Nähe  von  Longerich  gemacht,  während  An- 
deutungen dieser  sehr  frühen  Bewohnungen 
schon  vor  einigen  Jahren  an  der  Marienburg 
zutage  gekommen  waren.  Eine  reiche  Kultur- 
schicht mit  zahllosen  Abfällen,  Scherben,  Kohle 
und  typischen  Geräten,  läßt  es  ganz  außer  Frage, 
daß  eine  tatsächliche  Besiedlung  bestanden  hat. 
Auch  ein  Schädeldach  fand  sich  hier,  an  dem 
viele  sehr  alte  diluviale  Merkmale  sich  vorfinden. 
Die  jüngere  Steinzeit  hat  reichere  Besiedlung 
auf  dem  hochwasserfreien  Gebiete  gesehen.  Zahl- 
reiche Steingeräte,  auch  Einzelfunde  im  ganzen 
Stadtgebiete    geben    davon    Kunde,    dann    aber 


Fig.  1. 


Bronzezeitlicher  Grabfund  von  Cöln-Nippes  1914. 
Nadel,  Schwert,  Absatzaxt. 

Grabfunde  (Zonenbecher),  die  an  das  Ende  der 
Periode  (gegen  2000  v.  Chr.)  zu  setzen  sind. 
Die  Bronzezeit  lieferte  fast  aus  allen  Perioden 
Beweise  der  Besiedlung.  Von  der  Marienburg 
stammt  ein  Flachbeil  (gegen  2000  v.  Chr.),  an- 
dere Bronzeäxte  fanden  sich  in  Cöln  selbst  und 
Longerieh.  In  die  mittlere  Bronzezeit  führt  ein 
Fund  aus  Nippes  (Schwert,  Absatzaxt  und  Nadel). 
Die  Longericher  Gegend  war  demnach  auch, 
wie  dies  keramische  Funde  andeuten,  wieder 
besiedelt.  Die  Bronzezeit  dauert  bei  uns  von 
etwa  2000  bis  1200  v.  Chr.  Die  erste  Eisenzeit 
(1200  bis  500  v.  Chr.)  sah  für  den  Niederrhein 
zum  ersten  Male  eine  sehr  ausgedehnte  Bevölke- 
rung. Zu  Tausenden  sind  die  Grabhügel  aus 
der  Zeit  erhalten.    Damals  war  das  Stadtgebiet 


20 


Cöln  ;in  mehreren  Stellen  besiedoll.  Eine  Nieder- 
lassung mit  Grabfeld  befand  sich  an  der  Marien- 
burg, eine  zweite  wieder  in  der  Longerich- 
Fühlinger  Gegend.  Alle  Phasen  der  Periode 
lassen  sieh  auf  diesem  Grabfelde  nachweisen. 
Mit  dem  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  beginnt  für  den 
Niederrhein  die  germanische  Zeit.  Gegen  500 
erfolgte  die  Einwanderung  der  germanischen 
Stämme.  Auch  ihre  Siedlungsreste  lassen  sich 
auf  dem  Cölner  Gebiete  wenigstens  für  das 
2.  Jahrhundert  v.  Chr.  nachweisen.  Gewiß  sind 
sie  noch  sehr  zahlreich  in  der  Erde  verborgen, 
da  die  germanischen  Gräber  der  ganzen  Periode 
von  500  an  bis  zur  fränkischen  Zeit  als  ein- 
fache Brandgruben  ohne  Hügelbestattung  nicht 
leicht  aufgefunden  werden  können.  Germanische 
Dörfer  haben  demgemäß  auf  dem  hochwasser- 
freieu  Gebiete   bestanden  schon  von  500  v.  Chr. 

Kii;.  2. 


Von  dem  eisenzeitlichen  Grabfeld  Cöln-Marienburg. 

Fig.  3. 


Glockenbecher  von  Fühlingen. 

an.  Sie  lassen  sich  bis  jetzt  nachweisen  aus 
dem  1.  Jahrhundert  v.  Chr.  und  dem  2.  bis 
3.  Jahrhundert  n.  Chr.  Damals  befand  sich  be- 
reits au  der  Marienburg  ein  weites  germanisches 
Dorf.  Die  Besiedlungsreste  des  germanischen 
Platzes,  der  dann  später  als  „Oppiduni  Ubiorum" 
und  als  „Colonia  Claudia  Augusta  Agripinensis" 
weiterlebte,  sind  natürlich  durch  die  zahlreichen 
Neubauten  im  Stadtgebiete  längst  verschwunden." 

In  der  Mitgliederversammlung  am  21.  April 
1 9 1 5  berichtete  nach  Erledigung  der  geschäftlichen 
Mitteilungen  der  Vorsitzende  der  Gesellschaft, 
Rektor  Rademacher,  über  „einen  neuen 
diluvialen  Fund  aus  der  Cölner  Gegend". 

Während  diluviale  Werkzeuge  aus  den  Rhein- 
landen früher  nur  vom  Martinsberg  von  Andernach, 
vom  Buchenloch  bei  Gerolstein,,  sowie  durch  die 
Ausgrabungen  der  Gesellschaft  aus  der  Kart- 
steinhöhle bei  Eiserf  ey  bekannt  waren ,  konnte 
der  Vorsitzende   jüngst    eine    abgerollte    Feuer- 


steinklinge  der  jüngeren  Zeit  des  Diluviums 
(Aurignacien)  aus  Fühlingen  vorzeigen.  Jetzt 
hat  nun  ein  durch  die  Gesellschaft  interessierter 
einfacher  Bauer  bei  Birringhoven  im  Siegkreis 
in  der  Kiesschicht  einen  diluvialen  Feuerstein- 
faustkeil gefunden  und  als  solchen  richtig  er- 
kannt. Derselbe  gehört  in  die  Periode  des  ab- 
sterbenden Faustkeiles,  Mousterien  (Zeitalter  des 
Neandertalmenschen).  Leider  war  die  Fund- 
stelle für  eine  wissenschaftliche  Untersuchung 
bereits  zerstört.  — 

Darauf  hielt  Prof.  Czaplewski  seinen  an- 
gekündigten Vortrag  über  den  „diluvialen 
Meuschenfund  von  Chancelade  mit  Rück- 
blicken und  Ausblicken  auf  die  diluvia- 
len Menschenrassen".  Durch  die  neuereu 
Fuude  des  Homo  Mousterieusis  und  Homo 
Aurignaceusis,  namentlich  aber  durch  die  so  be- 
deutsamen neuen  diluvialen  Funde  aus  dem 
Magdalenien  bei  Oberkassel,  werde  es,  wie  der 
Redner  ausführte,  notwendig,  auch  auf  ältere 
Funde  zurückzugreifen,  die  neben  den  hervor- 
stechenden Funden  der  Neandertalrasse  zunächst 
weniger  Aufmerksamkeit  gefunden  hätten.  Unter 
diesen  scheine  von  besonderer  Bedeutung  ein 
Fund  vou  Chaucelade,  welchen  der  Vortragende 
eingehend  nach  der  leider  schwer  zugänglichen 
Arbeit  Testuts  schilderte. 

Zum  Vergleich  wurden  die  Neandertalrasse, 
Homo  Mousteriensis,  Homo  Aurignaceusis,  sowie 
die  Cromaguon-  und  Grimaldirasse  besprochen. 
Für  die  Vergleiche  der  l'nterkief  erbildung 
wurden  die  Funde  von  Mauer,  der  Homo  Mouste- 
riensis, Homo  Aurignaceusis,  sowie  die  Cro- 
magnon-  und  Grimaldirasse  herangezogen. 

Bei  dem  Funde  von  Chancelade ,  welcher 
übrigens  schon  aus  dem  Jahre  1888  stammt, 
handelt  es  sich  um  einen  Menschen  mit  schön 
gebildetem,  gut  entwickeltem  Schädel  von  über- 
normaler Kapazität,  ohne  neandertaloide  Merk- 
male. Derselbe  weist  manche  Ähnlichkeiten  mit 
dem  Homo  Aurignacensis  und  den  Funden  von 
Cromagnon,  sowie  namentlich  von  Oberkassel 
auf.  Er  zeigt  aber  auch  wieder  deutliche  Ab- 
weichungen. Vortragender  betonte  dabei  die 
Bedeutung  der  Norma  verticalis  und  namentlich 
der  Norma  occipitalis,  d.  h.  der  Ansicht  von 
oben  und  von  hinten  gegenüber  der  im  allge- 
meinen bevorzugten  Norma  lateralis,  d.h.  der 
Seitenansicht,  für  die  Zwecke  der  Vergleichung. 
Sehr  interessant  ist  namentlich  auch  die  Uuter- 
kieferbildung  mit  stark  vorspringendem  Kinn 
mit  gewulstetem  auskragenden  Rande  des  unteren 
äußeren  Randes  der  Kinnlade.  Der  l'nterkiefer 
erinnert  dadurch  au  Cromagnon  und  zeigt  ge- 
wisse   Beziehungen    zum    Homo    Aurignaceusis 


21 


und  der  Grimaldirasse,  namentlich  oben  zu  den 
Funden  von  Oberkassel. 

Der  Vortragende  warnte  vor  irreführenden 
Verallgemeinerungen  aus  Einzelfunden.  Es  sei 
notwendig,  nicht  gleich  immer  verallgemeinern 
zu  wollen ,  sondern  gewissenhaft  alle  Funde  zu 
sammeln,  sorgfältig  zu  beschreiben,  um  dadurch 
allmählich  zu  immer  festeren  Grundlagen  zu 
kommen.  — 

Am  17.  Mai  l'J  15  wiederholte  der  Vor- 
sitzende der  Gesellschaft,  Rektor  Rademacher, 
im  großen  Gürzenichsaale  seinen  Vortrag  vom 
10.  März  1915.  Er  sprach  nochmals  über  „Aus 
Cölns  Vorzeit.  Vier  Jahrtausende  der  Besied- 
lung des  stadtcölnischen  Gebietes".  — 

Am  Sonntag,  den  5.  Juni,  folgte  die  Gesell- 
schaft der  Einladung  ihres  Mitgliedes  Herrn 
Sanitätsrat  Dr.  Dormageu  zur  Besichtigung 
der  Stiftung  „Dr.  Dormagen"  in  Cöln-Merheim. 
Unter  der  liebenswürdigen  Führung  des  Herrn 
Sanitätsrats  Dr.  Dormagen  und  des  Oberarztes 
der  Stiftung,  Herrn  Dr.  Landwehr,  der  zur- 
zeit auf  Urlaub  aus  dem  Felde  weilte,  wurde 
auf  einem  Rundgange  die  ganze  Anstalt  be- 
sichtigt. Besonderes  Interesse  erweckten  die 
Werkstätten  im  Betriebe,  die  sauberen  Schlaf- 
säle und  luftigen  Unterkunftsräume  der  Stif- 
tung. Wohltuend  berührte  die  liebenswürdige 
Art ,  womit  der  Lehrer  der  Stiftung ,  Herr 
Thome,  mit  den  Kindern  umzugehen  wußte. 
Mit  Bewunderung  sahen  die  zahlreich  erschie- 
nenen Mitglieder,  wie  das  Krüppelheim  mit 
großem  Erfolge  bestrebt  ist,  die  armen  Krüppel, 
die  Stiefkinder  des  Lebens,  zu  brauchbaren,  auf 
sich  selbst  gestellten  und  zufriedenen  Mitgliedern 
der  menschlichen  Gesellschaft  zu  erziehen. 

Nachdem  der  Vorsitzende  der  Gesellschaft, 
Rektor  Rademacher,  dem  unermüdlichen  För- 
derer des  Krüppelheims ,  Herrn  Sanitätsrat  Dr. 
Dormagen  und  dem  Oberarzt  Herrn  Dr.  Land- 
wehr, Herrn  Thome  und  den  Schwestern  den 
warmen  Dank  der  Gesellschaft  für  die  hoch- 
interessante Führung  ausgesprochen  hatte,  folgte 
nach  einer  kurzen  Wanderung  die  Besichtigung 
des  Aussfrabunirsfeldes  in  Füllungen,  welches  ! 
für  die  Geschichte  der  Stadt  Cöln  so  wichtige 
Funde  ergeben  hat.  Herr  Sp  ringensgut, 
welcher  die  Funde  daselbst  im  Auftrage  der 
Gesellschaft  verfolgt  hatte,  berichtete  an  Ort 
und  Stelle  unter  Vorlage  von  Photographien 
und  Karte  über  die  Funde. 

Auf  der  ehemals  Oppeuheimscheu  Rennbahn 
zu  Fühlingen  wurde  bei  Baggerarbeiten  ein 
Gräberfeld  entdeckt.  Eine  systematische  Aus- 
grabung war  leider  uicht  möglich,  da  die  Grab- 
hügel eingeebnet  waren.    Die  Urnen  kamen  bei 


I  den  Baggerarbeiten  zum  Vorschein;  viele  wur- 
den dabei  beschädigt,  doch  gelang  es,  eine 
größere  Zahl  zu  retten.  Wie  auf  der  rechten 
Rheinseite  zwischen  Sieg  und  Wupper  standen 
:  die  (sämtlich  mit  einem  Deckel  zugedeckten) 
Urnen  in  verschiedener  Tiefe  auf  gewachsenem 
Boden,  umgeben  von  einer  Aschenschicht.  Der 
Inhalt  bestand  aus  Knochen,  Asche  und  Sand. 
Bronzereste  fanden  sich  nur  zweimal,  darunter 
eine  gut  patinierte  Bronzeuadel  mit  großem  Kopf. 
Beigefäße  waren  sehr  häutig.  Die  im  ganzen  etwa 
175  Gräber  (über  deren  Wichtigkeit  Rektor 
Rademacher  bereits  in  mehreren  Vorträgen  be- 
richtet hat)  stammen  aus  der  Steinzeit,  Hallstatt- 
zeit, La  Tene-  und  Römerzeit.  Das  einzige 
„römische"  Grab,  eine  aus  zwölf  großen  Tuffstein- 
platten gebildete  Steinkiste  von  1,5  zu  1  m  auf 
dem  höchsten  Punkte  des  Plateaus  enthielt  ein 
leider  ganz  zerfallenes  Kinderskelett.  Außer 
den  Gräbern  konnten  noch  verschiedene  An- 
Siedlungen  festgestellt  werden,  eine  aus  dem 
Tardenoisien  (Übergang  vom  Diluvium  zum 
Alluvium),  eine  aus  der  jüngeren  Steiuzeit 
(Zonenbecherscherben),  zwei  aus  der  Bronze- 
zeit (Scherben  körbchenartiger  Gefäße),  eine 
aus  der  Ilallstattzeit,  zwei  aus  der  La  Tenezeit 
(charakteristische  Scherben  und  Eisenfibel),  so- 
wie mehr  als  40  Ansiedlungen  aus  der  römi- 
schen Zeit  und  römisch-fränkischen  Zeit  (hierbei 
die  einzige  dort  gefundene  römische  Bronze- 
münze des  Valens,  etwa  370  n.  Chr.).  Aus  der 
karolingischen  Zeit,  etwa  1000  n.  Chr.,  fanden 
sich  auch  Kulturreste  (Scherben  mit  Relief- 
bändern von  Amphoren).  Das  Grab  mit  dem 
goldenen  Sarge  des  Heidenkönigs,  der  nach  der 
Sage  hier  begraben  sein  soll,  wurde  freilich 
uicht  gefunden,  doch  kann  das  Prähistorische 
Museum  und  die  Cölner  Anthropologische  Ge- 
sellschaft mit  der  Ausbeute  sehr  zufrieden  sein, 
welche  für  das  „stadteölnische  Gebiet"  so  wich- 
tige Aufschlüsse  gegeben  hat.  — 

Die  Cölnische  Anthropologische  Gesellschaft 
hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  die  vorgeschicht- 
liche Vergangenheit  der  Stadt  Cöln  ihren  Mit- 
gliedern zu  vermitteln,  und  zwar  durch  Vor- 
träge und  Wanderungen  zu  den  vorgeschicht- 
lich bedeutsamen  Stätten  des  Stadtgebietes.  Den 
Beschluß  dieser  Veranstaltungen  bildete  eine  am 
4.  Juli  1915  stattgefundene  Wanderung  durch 
das  rechtsrheinische  Cölner  Gebiet.  Gerade 
dieser  Teil  des  Stadtgebietes  zeichnet  sich  durch 
eine  Fülle  wichtiger  Fundplätze  aus. 

Eine  stattliche  Anzahl  Damen  und  Herren 
nahmen  an  der  Wanderung  teil.  Zunächst  ging 
es  nach  Dünnwald  in  die  dortigen  Wälder  zu 
den  dort  liegenden  Grabstätten.    Der  Vorsitzende 


22 


der  Gesellschaft,  Rektor  R  ad  e  mache]-,  begrüßte 
auf  einer  solchen  die  Teilnehmer,  spracb  von 
der  Geschichte  der  Erforschung  der  nieder- 
rheinischen  Grabhügel  im  allgemeinen,  wies 
nach,  daLi  ihre  Errichtung  in  die  erste  Eisenzeit 
(1200  bis  500  v.  Chr.)  zu  setzen  ist,  da  nicht 
Germanen  die  Grabhügel  errichtet,  wie  so  lange 
angenommen  wurde,  sondern  eine  vorgermani- 
sche Bevölkerung  hier  am  Niederrhein  gesessen 
habe.  Redner  schilderte  die  Kultur  dieser  Zeit 
und  zeigte,  wie  etwa  im  5.  Jahrhundert  v.  Chr. 
die  Germanen  aus  Westfalen  den  Niederrhein 
besetzt  haben.  Anlage  und  Einrichtung  der 
Grabhügel  konnte  an  Ort  und  Stelle  gezeigt 
werden.  Die  Leichen  wurden  verbrannt,  die 
Reste  pietätvoll  nach  gewissen  Grundsätzen  in 
Urnen  geborgen,  diese  mit  einem  Deckel  ver- 
schlossen, oft  ein  kleines  Beigefäß  hinzugefügt, 
das  Ganze  dann  auf  den  Boden  gestellt  und  ein 
kleiner  oder  größerer  Hügel  darüber  errichtet. 
Von  Dünnwald  ging  die  Wanderung  nach 
Delbrück.  East  in  ununterbrochenem  Zuge  setzen 
sich,  allerdings  vereinzelt,  die  Grabhügel  von 
Dünnwald  bis  zum  Bahnhof  Delbrück  fort  und 
leiten  so  zu  dem  größten  Grabfeld  nicht  nur 
deB  Stadtgebietes,  sondern  des  ganzen  Bezirkes 
/wischen  Sieg  und  Wupper,  der  sogenannten 
„Iddelsfelder  Hardt"  über.  Der  Vorsitzende 
berichtete  dann  über  die  Funde  von  dieser  über 
1200  Grabhügel  zählenden  Stätte,  die  dann,  so 
viel  als  es  die  Hitze  erlaubte,  in  Augenschein  ge- 
nommen ward.  Der  ganze  Platz  ist  mit  Tannen 
bestanden.  Hügel  wölbt  sich  hier  an  Hügel,  von 
den  kleinsten ,  unscheinbaren  bis  zu  mächtigen 
Erhöhungen;  auch  Langgräber  kommen  vor. 
Weitere  Grabfelder  in  Königsforst  wurden  noch 
besucht;  eines  gleich  an  der  Landstraße  ist  seit 
einigen  Jahren  abgebaggert.  Im  „Waldhotel" 
fand  bei  verdientem  Trunk  die  Wanderung 
ihren  Schluß.  — 

Über  die  Vermehrung  der  Sammlungen  und 
die  weitere  Ausgestaltung  des  Cölner  Prähisto- 
rischen Museums  berichtete  am  Mittwoch,  den 
28.  Juli  1915,  in  der  Mouatsversammluug  der 
Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft  der  Vor- 
sitzende, Rektor  Rademacher,  im  Museum 
selbst. 

Großen  Zuwachs  hat  das  Museum  in  der 
letzten  Zeit  zu  verzeichnen,  sowohl  durch  den 
Ankauf  umfangreicher  Sammlungen,  wie  durch 
Zuwendungen.  Die  Darstellung  des  Entwicke- 
lungsganges  der  Kultur  des  Menschen  er- 
folgte durch  Vermehrung  von  einschlägigen 
Funden,  sowie  besonders  durch  die  Einrichtung 
einer  Abteilung  „diluviale  Kunst",  welch  letz- 
tere   das    interessanteste    Problem     der     ganzen 


diluvialen  Menschenforschung  bildet.  Skulptur 
Gravur,  Zeichneu  und  Malerei  lassen  sich  an 
dem  vorhandenen  Material  nunmehr  übersehen 
und  geben  Einsicht  in  die  Psyche  des  Menschen. 
Aus  dem  Knochenmaterial  der  Kartsteinhöhle 
konnten  zwei  vollständige  riesige  Schädel  des 
Höhlenbären  zusammengesetzt  werden.  An  wich- 
tigen größeren  Ankäufen  sind  zu  verzeichnen 
zunächst  der  Erwerb  einer  umfangreichen  Samm- 
lung „Steingeräte  der  Sahara",  die  von  einem 
deutschen  Forscher  kurz  vor  dem  Kriege  ge- 
sammelt waren.  Dieselbe  gibt  ein  anschauliches 
Bild  der  kulturellen  Zusammenhänge  nordafri- 
kanischer und  europäischer  Kultur,  sowohl  wäh- 
rend wie  nach  dem  Diluvium. 

Die  Steiutechnik  der  nordgermanischen  jün- 
geren Steinzeit,  auch  aus  der  Kjökkenmöddinger- 
Stufe  (Küchenabfallhaufen),  brachte  der  Ankauf 
einer  großen  Sammlung  zu  einem  gewissen  Ab- 
schluß. Reiche  Serien  prachtvoller  Beile  und 
Dolche  sind  darunter,  auch  geschlossene  Grab- 
funde mit  zum  Teil  wertvollem  Inhalt  au  Gefäßen, 
Steinbeileu  und  Bronzen  (Schwertern). 

Die  erste  Eisenzeit  unserer  niederrheinischen 
Heimat  (1200  bis  500  v.  Chr.)  vermehrte  sich 
ebenfalls  durch  Grabfunde  aus  diesem  Gebiete, 
aus  denen  besonders  einige  von  Scheuerbusch 
bei  Wahn  (Geschenke  der  Direktion  der  Dynamit- 
fabrik) hervorzuheben  sind.  Sie  stammen  aus 
dem  12.  bis  10.  Jahrhundert  v.  Chr.  Die  zweite 
Eisenzeit  für  den  Niederrhein,  die  germani- 
sche Zeit,  konnte  sich  durch  Ausgrabungen, 
Aukäufe  und  Schenkungeu  zum  ersten  Male  gut 
entwickeln;  daneben  fand  aber  auch  die  ent- 
sprechende keltische  Kultur  weitere  Berück- 
sichtigung. Die  germanische  Kultur  der 
römischen  Kaiserzeit  fand  weitere  Auf- 
klärung durch  die  umfangreichen  Ausgrabungen 
in  Opladen.  Den  Abschluß  der  nordgermani- 
schen Kultur  (Wickingerzeit)  zeigeu  die 
reichen  Brouzefunde  aus  Wickingergräbern  des 
6.  Jahrhunderts  n.  Chr.  von  der  ostpreußischen 
Grenze  (Fibeln,  Hals-  und  Armringe,  Brust- 
schmuck). 

Neben  der  Beschaffung  dieses  Urkunden- 
materials,  das  zu  entziffern  der  vorgeschicht- 
lichen Forschung  in  immer  größerem  Maße  ge- 
lingt, hat  das  Museum  sein  besonderes  Augenmerk 
darauf  gerichtet,  die  Kulturen  der  verschiedenen 
Epochen  selbst  durch  Bilder  und  Modelle  zu 
veranschaulichen  (Grab-  und  Hausbauteu  der 
verschiedenen  Zeiten).  Insbesondere  soll  durch 
sogenannte  Ent wickeluugsreihen  die  Arbeit 
des  menschlichen  Geistes  bei  der  Vervollkomm- 
nung eines  Werkzeuges  oder  Schmuckgegen- 
standes    dargestellt    werden.       Kein    Objekt    ist 


23 


hierfür  anschaulicher  als  die  Axt.  Die  Zu- 
sammenstellung von  mehr  als  30  Äxten  aus 
sämtlichen  gesclüchtlicheu  und  vorgeschichtlichen 
Perioden  gibt  die  Entwicklung  von  dein  dilu- 
vialen Faustkeil  bis  zur  modernen  Axt  wieder. 
In  entsprechender  Weise  ist  noch  die  Entwicke- 
lung  des  Dolches  und  der  Fibel  (Gewandspange, 
Brosche)  zur  Darstellung  gebracht  worden. 

Der  neue  Führer,  in  welchem  alle  Neuerwer- 
bungen und  Umordnungen  berücksichtigt  sind, 
ist  in  3.  Auflage  erschienen.  — 

Sonnabend,  den  25.  September  1915,  ver- 
einigte die  Cöluer  Anthropologische  Gesellschaft 
eine  stattliche  Anzahl  Mitglieder  mit  ihren 
Damen  und  Gästen  zu  einem  Besuche  der  vor- 
geschichtlichen Grabhügel  des  Vor- 
gebirges in  der  Umgegend  von  Brühl  und 
Kierberg.  Vom  schönsten  Wetter  begünstigt, 
ging  die  Wanderung  vom  Bahnhof  Kierberg  zu 
dem  nahe  gelegenen  Hochwald,  der  eine  Anzahl 
von  etwa  40  Grabhügeln  umfaßt,  die  meist  aus 
der  ersten  Eisenzeit  ( 1 200  bis  500  v.  Chr.),  einzelne 
jedoch  aus  der  jüngeren  Steinzeit,  und  zwar  aus 
dem  Ende  dieser  Periode  stammen.  Auf  einem 
der  bedeutenderen  Hügel  begrüßte  der  Vor- 
sitzende der  Gesellschaft,  Rektor  Rademacher, 
die  Erschienenen  und  besonders  die  Bonner  Gäste, 
Herrn  Geheimrat  Verworn,  der  mit  mehreren 
anderen  Professoren  der  Bonner  Universität  als 
Vertreter  der  Bonner  Anthropologischen  Gesell- 
schaft an  der  Wanderung  teilnahm.  Kirchen- 
maler  T holen  berichtete  über  die  Gräber,  die 
Zeit  ihrer  Entstehung  und  gab  eingehende  Bei- 
träge zur  Kultur  der  einzelnen  durch  die  Grab- 
hügel vertreteneu  Perioden.  Nach  einer  ge- 
meinsamen Wanderung  durch  den  herbstlich 
prangenden  Wald  wurde  die  Braunkohlengrube 
„Gruhlwerk"  besucht.  Der  Direktor  des  Werkes 
führte  zunächst  der  Gesellschaft  die  Art  und 
Weise  des  Tagebaues  vor,  wobei  an  Ort  und 
Stelle  die  Entwickelung  dieser  bedeutsamen 
Flöze  und  die  Gewinnung  ihrer  Schätze  iu 
Augenschein  genommen  werden  konnte.  Daran 
schloß  sich  ein  Rundgang  durch  die  Brikett- 
werke, deren  mächtige  Ausdehnung  und  zweck- 
mäßige Einrichtung  die  Bewunderung  aller  Teil- 
nehmer hervorrief.  Zum  Schluß  vereinigte  die 
Direktion  der  Grube  die  Gesellschaft  zu  einem 
gastfreien  Imbiß  in  den  Räumen  des  Bahnhofs 
Kierberg.  — 

Wiederholt  haben  in  letzter  Zeit  die  Tages- 
blätter Artikel  über  den  Aberglauben  in  diesem 
Kriege  und  über  Amulette  gebracht,  deshalb 
war  es  sehr  zeitgemäß,  daß  die  Collier  Anthro- 
pologische Gesellschaft  dieses  Thema  zu  einem 


Vortrage  für  Mittwoch,  den  20.  Oktober   11)15, 
wählte. 

Sanitätsrat  Dr.  Dormagen  zeigte  dabei  an 
Hand  seiner  Sammlung,  daß  der  Aberglaube  im 
Kriege  und  die  Vorstellung  von  Schutzkraft 
der  Amulette  immer  und  überall  bestanden 
haben. 

„Unser  prähistorisches  Museum,  dessen  Be- 
such nicht  warm  genug  empfohlen  werden  kann, 
enthält  bereits  aus  prähistorischer  Zeit  Amu- 
lette aus  Ton,  Beiu,  Stein  und  Bronze  einfach- 
ster Art,  bestehend  aus  runden  Scheiben  u.  dgl. 

In  Ägypten  aber,  das  schon  vor  Tausenden 
von  Jahren  eine  hohe  Kultur  besessen ,  finden 
sie  sich  in  mannigfacher  Gestalt,  als  Nachbil- 
dungen vou  Gottheiten,  heiligen  Tieren:  Katzen, 
Sperber,  Schakal,  vor  allem  aber  in  Gestalt  des 
berühmten  heiligen  Scarabäus. 

Die  Römer  verfertigten  Amulette  aus  Bronze 
für  Seefahrer,  erotische  und  solche  gegen  den 
sogenannten  bösen  Blick.  Die  Araber  uud  Perser 
nanuten  ihre  Amulette  „Talismane".  Diese 
brauchen  nicht  getragen  zu  werden ;  sie  köunen 
auch  am  Hause  befestigt  sein;  der  Talisman 
kanu  aber  nur  abwehren,   nicht  Gutes  wirken. 

Von  diesen  Völkern  kam  der  Gebrauch  der 
Amulette  auch  in  die  christliche  Kirche.  Wenn 
nun  auch  das  Tragen  derselben  von  verschie- 
denen Synoden  bei  Strafe  verboten  wurde,  so 
konnte  es  doch  nicht  verhindert  werdeu.  Des- 
halb sorgte  die  Kirche  dafür,  daß  dieser  heid- 
nische Überrest  sich  in  christliche  Formen 
hüllte:  Anhänger  iu  Kreuzform  und  Figuren  von 
Heiligen;  in  byzantinischer  Zeit  mit  dem  hei- 
ligen Georg  und  St.  Michael. 

Im  Mittelalter,  wo  der  Aberglaube  reichlich 
blühte  (man  denke  an  die  Wahrsagungen  der 
Astrologie,  die  Alchemie,  den  Teufelsspuk,  die 
Geistererscheinungen ,  an  die  Ordalien  oder 
Gottesurteile,  an  die  Hexenprozesse),  wurden, 
zumal  gegen  Krankheiten,  unzählige  Arten  von 
Amuletten  in  verbis,  in  herbis  et  in  lapidibus  ge- 
tragen. So  zeigte  der  Vortragende  denn  zahl- 
reiche sogenannte  Hexenbriefe ,  Kräuter  und 
Halbedelsteine,  die  als  Amulette  gedient  hatten. 
Bei  der  Herstellung  der  Amulette  wurden  viel- 
fach die  ekelhaftesten  Sachen,  wie  verbrannte 
Kröten,  Regenwürmer,  Menscheumoos  und  wider- 
liche Kräuter  verwandt;  dieses  rührt  von  der 
Vorstellung  her,  daß  das,  was  dem  Menschen 
widerlich  ist,  auch  auf  die  Dämonen  und  bösen 
Geister,  gegen  welche  mau  sich  schützen  wollte, 
abschreckend  wirke. 

Aber  auch  jetzt  noch  werden  Amulette,  zu- 
mal in  diesem  Kriege,  getragen.  Bei  Wertheim 
in    Berlin    ist    die    Alraunwurzel,    die    einst  als 


24 


Alrauimiännehen  eine  große  Rolle  spielte,  noch 
beute  zu  haben.  Das  bei  vielen  Völkern  vor- 
kommende Svastikakreuz  liegl  bei  unseren  Juwe- 
lieren im  Schaufenster  aus.  Das  vierblätterige 
Kleeblatt  wird  den  Soldaten  von  ihren  Bräuten 
verehrt  In  verschiedenen  Drogengeschäften 
sind   Zahnhalsbänder   für   Kinder  feil. 

So  finden  wir  denn  überhaupt  den  Aber- 
glauben namentlich  im  Kriege  zu  alleu  Zeiten, 
so  bei  den  Griechen,  besonders  bei  den  Kömern, 
die  aus  dem  Fluge  der  Vögel,  dem  Fressen  der 
Hühner  Glück  oder  Unglück  weissagten.  Im 
30jährigen  Kriege  war  das  Fest-,  Stichfest-  oder 
Gefrorenmachen  weit  verbreitet.  Es  wurden 
hierzu  besonders  Sprüche  oder  Zeremonien  vor- 
genommen oder  bestimmte  Zaubermittel,  be- 
sonders die  Alraunwurzel  oder  Allermanns- 
harnisch  oder  das  sogenannte  Not-St.  Georgs- 
siegeshemd,  das  von  reinen  Jungfrauen  unter 
bestimmten  Zeremonien  in  heiliger  Stunde  ge- 
sponnen wurde,  angewandt,  wie  auch  in  Wallen- 
steins  Lager  und  im  Freischütz  sehr  eingehend 
geschildert  wird. 

Ferner  spielen  Tiere  eine  große  Rolle  im 
Kriege.  Bei  den  alten  Germauen  galt  das  Pferd 
als  glückbringend.  Heute  bezeichnet  mau  das 
Glückschweinchen,  den  Maikäfer  und  den 
Marienkäfer  als  glückbringend,  dagegen  den 
Hasen,  die  Biene,  den  Raben  und  die  Dohle 
als  unglückbringend.  Weit  verbreitet  war  auch 
der  Wund-  und  Blutstillungszauber,  wofür  es 
Tausende  von  Rezepten  gibt,  nicht  allein  von 
Schäfern  oder  alten  schieläugigen  Weibern 
(Hexen) ,  sondern  auch  von  wissenschaftlich 
hochgebildeten  Ärzten. 

Damit  vergleiche  man  die  heutigen  Vor- 
sichtsmaßregeln bei  Volksseuchen  und  die  Be- 
handlung der  Wunden,  der  Kopf-,  Bauch-  und 
Geleukschüsse,  die  früher,  noch  1870,  fast  alle 
tödlich  waren,  mit  ihren  ans  Wunderbare  gren- 
zenden Erfolgen.  — 

Am  Donnerstag,  den  18.  November  1915, 
hielt  die  Cölner  Anthropologische  Gesellschaft 
ihre  Mitgliederversammlung  im  Museum  für 
Volkshygiene  ab. 

Das  Thema  des  Abends  war:  „Höhlen  und 
Höhlenfunde  im  Neandertale",  Referenten 
Herr  Kirchenmaler  Tholen  und  Herr  Prof. 
Dr.  Czaplewski. 

Zuerst  berichtete  Herr  Kirchenmaler  Tho'len 
auf  Grund  genauerer  Studien  au  Ort  und  Stelle 
über  das  Neandertal  und  seinen  jetzigen  Zu- 
stand. Nach  kurzen  Bemerkungen  über  die  Be- 
deutung der  Auffindung  des  fossilen  Menschen- 
skeletts im  Neandertale  suchte  der  Vortragende 
ein   Bild  von  dem  ursprünglichen  Zustande  des 


Tales,  zum  Teil  nach  Angaben  von  noch  leben- 
den Zeugen  der  damaligen  Zeit,  zu  entwerfen. 
Man  hat  sich  das  Neandertal  als  eine  etwa  2  km 
lange,  60  bis  70  m  tiefe,  von  der  Dussel  durch- 
strömte Schlucht  zu  denken,  in  der  sich  eine 
Anzahl  verschieden  großer  natürlicher  Höhlen 
öffneten.  Heute  ist  das  Tal  durch  Steinbruch- 
betrieb vollständig  zerstört.  Nach  kurzen  Aus- 
führungen über  die  Bedeutung  der  Höhleu  für 
den  diluvialen  Menschen  überhaupt,  schilderte 
Redner  eingehend  die  Auffindung  des  Skeletts 
in  einer  kleinen ,  vorhin  gar  nicht  beachteten 
Höhle,  darauf  den  besonders  über  die  auf- 
fallende Form  des  Schädels  einsetzenden  Streit 
der  deutschen  und  ausländischen  Gelehrten,  der 
erst  sein  Ende  fand,  als  an  anderen  Orten  fos- 
sile Menschenschädel  mit  gleichen  Formen  ge- 
funden wurden.  Redner  machte  es  sodann 
wahrscheinlich,  daß  der  Neandertalmann  in  der 
Höhle  pietätvoll  beigesetzt  sei,  die  Skeletteile 
also  nicht  von  einem  zufällig  durch  Wasserfluten 
angeschwemmten  Toten  herrühren,  wie  bisher 
meistens  angenommen  wurde.  Die  Auffindung 
eines  zweiten  Skeletts  spricht  noch  mehr  für 
diese  Annahme.  Zum  Schluß  faßte  Redner  das 
Hauptresultat  seiner  Untersuchungen  in  folgen- 
dem Satze  zusammen:  Das  Neandertal  war  durch 
seine  günstige  Lage  am  Rande  der  Rheinebene, 
sowie  durch  eiue  Anzahl  von  großen  offenen 
Höhlen  als  Wohustätte  für  den  diluvialen  Men- 
schen sehr  geeignet,  und  da  dortselbst  zwei 
diluviale  Menschenskelette  gefunden  sind,  die 
höchstwahrscheinlich  von  Bestattungen  herrühren, 
so  dürfen  wir  unbedingt  das  Neandertal  iu  die 
Reihe  der  diluvialen  Wohnstationen  aufnehmen 

Eine  wirksame  Ergänzung  zu  dem  Vortrage 
des  Herrn  Tholen  brachte  der  zweite  Redner 
des  Abends,  Herr  Prof.  Dr.  Czaplewski,  in- 
dem er  aus  zwei,  den  Mitgliedern  der  Gesell- 
schaft unbekannten  älteren  Publikationen  den 
früheren  ursprünglichen  Zustand  des  Neander- 
tales  vor  seiner  Zerstörung  durch  den 
Steinbruchbetrieb  schilderte.  Die  erste 
Schrift  vom  Jahre  1835,  „Wanderung  zur  Ne- 
anderhöhle",  ist  von  Hofrat  Dr.  J.  H.  Bon- 
gard. Die  ganze  Gegend  des  Neandertales  mit 
seinen  Höhlen  wird  eingehend  geschildert  und 
konnte,  da  auch  gute  Abbildungen  in  dem  kleinen 
Werke  vorhanden  sind,  vom  Vortragenden  im 
Lichtbilde    zur  Erläuterung    vorgeführt  werden. 

Die  zweite  Schrift  aus  dem  Jahre  1852  ist 
ein  ausführlicher  Zeitungsartikel  der  „Kölnischen 
Zeitung"  von  dem  bekannten  Bonner  Geologen 
Noeggerath,  dessen  Einsicht  der  Vortragende 
der  Liberalität  der  „Kölnischen  Zeitung"  ver- 
dankt.    Noeggerath    knüpft   an   aus  dem  Ne- 


25 


andertale  stammende  ausgestellte  Marmorproben 
an  und  schildert  dann  einen  Besuch  des  Neander- 
tales.  Noch  (1852)  ist  viel  erhalten,  so  auch 
die  Höhlen ;  aber  schon  ist  eine  Eisenindustrie 
emporgeblüht,  nachdem  der  Schienenstrang  die 
Gegend  erschlossen.  Der  Besuch  des  schönen 
Tales  ist  dadurch  erleichtert,  aber  auch  eine 
Steinbruchindustrie  hat  sich  am  Ausgang  des 
Tales  niedergelassen  und  beginnt  dasselbe  anzu- 
schneiden. 

Der  Vortragende  schilderte  dann  nach  den 
Augaben  von  Fuhlrott,  Lyell  u.a.  die  fort- 
schreitende Zerstörung  des  Tales,  die  heute  eine 
fast  vollständige  genannt  werden  kann. 

liedner  hebt  die  Zerstörung  des  Neauder- 
tales  als  warnendes  Beispiel  hervor,  welche  un- 
ersetzliche Werte  nicht  nur  durch  den  Krieg, 
sondern  —  falls  nicht  Obacht  gegeben  wird  — 
auch  als  Opfer  der  Arbeit  des  Friedens  zer- 
stört werden. 

Für  Düsseldorf,  Elberfeld  und  die  nähere 
und  weitere  Umgebung  der  Rheinlande  ist  damit 
eine  der  schönsten  Gegenden  zerstört.  Für  die 
Anthropologie,  für  Deutschland  und  die 
Menschheit  bedeutet  dieser  Verlust  mehr, 
denn  mit  dem  romantischen  Neandertal  ist  un- 
zweifelhaft eine  der  allerwichtigsten  Familien- 
Urkunden  der  Menschheit,  welche  bis  dahin  alle 
Zeiten  überdauert  hatte,  als  sie  ans  Licht  kam 
in  letzter  Stunde,  aus  Unachtsamkeit  verloren 
gegangen. 

Der  Neandertalfund  selbst  ist  ganz  unvoll- 
ständig, seine  Zusammengehörigkeit  zweifelhaft, 
der  Fundbericht  höchst  lückenhaft.  Weitere 
zahlreiche  Funde  (meist  Tierknochen)  aus  dem 
Neandertale  sind  gemacht,  aber  zerstreut,  wer 
weiß  wohin.  Prof.  Dr.  Czaplewski  bittet  daher 
um  gütige  Nachrichten  über  solche  Funde  und 
ihren  Verbleib,  sowie  über  das  Neandertal  in 
seinem  früheren  Zustande.  Auch  regt  er  an, 
noch  vorhandene  Schriften,  welche  heute  zum 
Teil  nur  noch  durch  Zufall  zu  erhalten  sind, 
der  Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft  bzw. 
dem  Prähistorischen  Museum  im  Bayenturm 
überweisen  zu  wollen,  ehe  sie  der  Vernichtung 
preisgegeben   werden. 

Es  ist  im  höchsten  Maße  bedauerlich ,  daß 
man  das  Neandertal  mit  seinen  Schönheiten  und 
Reizen ,  seinen  so  wichtigen  Grotten  hat  unter- 
gehen lassen.  Das  Bergische  Land  hatte  in  dem 
Neandertale  mit  seinen  Höhlen  sozusagen  ein 
deutsches  Vezeretal  vor  den  Toren  seiner  Städte, 
zu  dessen  Ausgrabung  Bongard  sowohl  wie 
Noeggerath   direkt  auffordern. 

Man  hat  über  den  Schädelrest  die  tief- 
sinnigsten,  zum  Teil  vollkommen  falschen  Ab- 


handlungen geschrieben  und  dabei  untätig  zu- 
gesehen, ohne  sie  genauestens  zu  durchforschen, 
wie  die  wichtigsten  Fundstellen  unaufhalt- 
sam zerstört  wurden.  — 

In  der  Mitgliederversammlung  der  Cölner 
Anthropologischen  Gesellschaft  am  Mittwoch, 
den  15.  Dezember  1915,  die  im  Vortragssaale 
des  Museums  für  Volkshygiene  stattfand,  sprach 
der  Vorsitzende  der  Gesellschaft,  Rektor  Rade- 
tnacher,  zunächst  über  die  rheinischen  Grab- 
hügel, deren  Herkunft  und  Zeitstellung  sich 
durch  die  Arbeiten  und  Sammlungen  des  Cölner 
Prähistorischen  Museums  ergeben  haben. 

Die  Grabhügel  gehören  der  ersten  Eisenzeit 
an  (1200  bis  500  v.  Chr.).  Gegen  Ende  dieser 
Periode  erfolgte  am  Niederrhein,  besonders  im 
Sieg-Wuppergebiet,  die  Einwanderung  der  Ger- 


G'öttervase  vom  Fliegenberge  bei  Troisdorf. 

manen,  die  seitdem  beständig  nach  Süden  dräng- 
ten und  etwa  um  das  Jahr  100  v.  Chr.  den  Main 
erreichten. 

Die  Germanen  hatten  die  Hügelbestattung 
nicht  mehr,  sondern  setzten  ihre  Toten  in  soge- 
nannten Urnenfeldern  bei.  Die  germanischen 
Flachgräber  sind  am  Fliegenberge  bei  Trois- 
dorf, im  Kreise  Mülheim  und  auf  dem  Vor- 
gebirge festgestellt  worden.  Sie  gehören  dem 
3.  Jahrhundert  v.  Chr.  an.  Germanische  Gräber 
ans  dem  1.  Jahrhundert  v.  Chr.  fanden  sich  bei 
Cöln  (Fühlingen  und  Fliegenberg)  und  Mayen. 
Zahlreicher  sind  in  unserem  Gebiete  die  ger- 
manischen Fundstellen  des  1.,  2.  und  3.  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  Die  erste  derartige  Nieder- 
lassung wurde  am  Fliegenberge  bei  Troisdorf 
entdeckt  und  untersucht.  Außer  Gräbern  fanden 
sich  hier  Wohnanlagen  (mehrfach  mit  rundem 
Grundriß).  Von  hier  stammt  auch  die  berühmte 
Göttervase  des  Cölner  Prähistorischen  Museums, 
ein  Tongefäß  mit  sechs  Götterbildnissen  auf 
der  Bauchwand.    Weitere  Gräber  dieser  Periode 

4 


2ü 


befinden  sich  bei  Niederpleiß,  in  Scheuerbusch 
bei  Wahn,  im  Kreise  Mülheim,  besonders  jedoch 
auf  dem  Rosentalsberg  bei  Opladen. 

Über  dieses  Grabfeld  berichtete  Herr 
Springensgut  etwa  folgendes:  „Während  bei 
Eröffnung  des  Prähistorischen  Museums  im 
Bayenturm  im  Jahre  1906  germanische  Grab- 
fnnde  aus  der  Cölner  Umgebung  fehlten,  sind 
dort  jetzt  solche  von  sieben  Grabfeldern  vor- 
handen (linksrheinisch  von  Trippeisdorf  am 
Vorgebirge  und  Fühlingen,  rechtsrheinisch  von 
Niederpleis,  Fliegenberg,  Wahn,  Mülheim  und 
Rheindorf  bei  Opladen).  Das  letzte  Grabfeld 
ergab    zahlreiche    Funde    vom  Eude   des    1.  bis 

4.  Jahrhunderts  ii.  Chr.:  Fußurnen,  Buckelurnen, 
Kumpen,  Terra  sigil lata -Schalen,  Gewand- 
Bpangen  aus  Eisen,  Bronze  und  Silber,  auch 
.in aillierte;  außerdem  in  Männergräbem  Schild- 
buckel, Schildbeschläge;  in  Frauengräbern  Näh- 
nadeln,  Haarnadeln  und  Kämme;  in  Kiuder- 
gräbern  Spielzeug,  nämlich  Tonpuppe  und 
bronzene  Rassel.  "  Ferner  fanden  sich  Beschlag- 
stücke und  Nägel  aus  Eisen  und  Bronze,  Messer, 
Wetzsteine,  eiserne  Scheren,  Teile  von  Bronzesieb 
und  Kasserolen,  Schmuckperlen  aus  Glas  und 
Ton  und  sonstiges.  Das  Ergebnis  der  Unter- 
suchung der  245  Gräber  ist  kurz  folgendes : 
1.  Die  Gräber  sind  Flachgräber,  keine  Hügel- 
gräber, und  liegen  in  zeitlich  zusammengehörigen 
Gruppen.  2.  Zum  Verbrennen  der  Toten  wurde 
meist  Eichenholz  verwendet.  3.  Die  Beigaben 
wurden  oft  absichtlich  zerbrochen.  4.  Die  Me- 
tallbearbeitung stand  in  hoher  Blüte,  was  die 
zierlichen,  mit  Silberfiligran  verzierten  Eiseu- 
fibeln  beweisen,  die  geschmiedet  wurden, 
während    die    Brouzefibelu    gegossen    wurden. 

5.  Die  germanische  Metallarbeit  und  Töpferei 
ist  durch  die  römische  Kultur  nicht  wesentlich 
beeinflußt. 

An  Stelle  des  großen  germanischen  Gräber- 
feldes auf  der  Rheindorfer  Hardt  oder  Rosen- 
talsberg kuüpft  sich  eine  Sage,  nach  welcher 
der  tote  Heidenkönig  iu  einem  goldenen  Sarge 
auf  einem  mit  vier  weißen  Ochsen  bespannten 
Wagen  in  den  Wald  gefahren  und  dort  mit 
reichen  Schätzen  beigesetzt  worden  sei.  Am 
Rande  des  Grabfeldes  ist  die  Stelle  einer  wahr- 
scheinlich germanischen  Hütte  gefunden  worden, 
welche  vielleicht  dem  Wächter  des  Grabfeldes 
als   Wohnung  diente." 

Zum  Schluß  legte  Rektor  Rademacher 
eine  Anzahl  geschäfteter  Steinbeile  vor.  Die 
Schäftungen  sind  genaue  Nachbildungen  erhal- 
tener Originale  aus  Pfahlbauten,  Gräbern  und 
Mooren  und  sind  aus  Eschenholz,  und  zwar  aus 
esonders    astreichen  Stücken  hergestellt.     Ver- 


suche ergaben ,  daß  andere  Hölzer  bei  der  Be- 
nutzung  sofort  zersplitterten. 

Eines  der  Beile,  eine  große  Zimmeraxt  mit 
geschwungenem  Stiel,  eignete  sich  vorzüglich 
zur  Arbeit.  Ein  mäßiger  Buchenstamm  wurde 
mit  derselben  in  13  Minuten  durchgehauen, 
8  Minuten  erforderte  dieselbe  Arbeit  mit  einer 
modernen  Eisenaxt.  Diese  Beile  erklären  die 
Kulturhöhe  des  Steinzeitalters. 

Herr  Regierungsbaliführer  E.  Rademacher 
hat  die  Schäftungen  für  das  Prähistorische  Mu- 
seum hergestellt.  — 

In  der  Mitgliederversammlung  der  Cölner 
Anthropologischen  Gesellschaft  am  Mittwoch, 
den  12.  Januar  1916,  sprach  Herr  Architekt 
Eberlein  über  die  „Typen  des  deutschen 
Hauses".  Redner  hatte  im  Laufe  der  Jahre  in 
den  verschiedensten  Gegenden  Deutschlands  und 
angrenzenden  Ländern  viele  Studien  und  Auf- 
nahmen gemacht,  welche  er  in  Lichtbildern  vor- 
führte. Hauptsächlich  waren  es  die  Typen 
der  Westgermanen,  welche  eingehend  er- 
läutert wurden,  und  zwar:  1.  das  fränkische 
Hans,  2.  das  friesisch  -  niedersächsische 
Haus,  3.  das  suevische  Haus.  Die  ältesten 
Beispiele,  welche  wir  über  das  deutsche  Haus 
besitzen,  sind  Hausurnen,  Funde  teils  aus 
vorgeschichtlicher  und  teils  aus  geschichtlicher 
Zeit.  Eine  Anzahl  steinerner  Hausurneu  aus 
Elsaß  und  Lothringen,  welche  aus  der  Zeit 
zwischeu  250  bis  300  n.  Chr.  stammen,  wurden 
einleitend  gezeigt;  desgleichen  primitive  Ur- 
sprungstypen und  Hünenbetten.  Hierauf 
wurde  auf  das  fränkische  Haus  einge- 
gangen, welches  mit  dem  suevischen  und  dem 
friesisch  -  nieder6ächsischen  als  Ursprungsmotiv 
den  Zeltbau  aufweist.  Gemeinsam  ist  diesen 
drei  Typen  der  Fachwerkbau  mit  steilen  Dächern 
und  einem  dreiteiligen  Grundplan.  Nur  das 
friesische  Haus  weist  eine  Kombination  mit 
einem  älteren  nordischen  Typus  auf.  In  seinen 
Ursprungsformen  hat  sich  das  fränkische  Raus 
in  Holland  südlich  der  Vechte  und  am  Nieder- 
rhein nördlich  Krefeld  am  besten  erhalten,  wäh- 
rend das  rheinfränkische  eine  weitere  Entwicke- 
lung  zeigt.  Die  400  jährige  Kolonisation  der 
Römer  am  linken  Rheinufer  hat  sich  bei  dem 
fränkischen  Hause  eigentlich  nur  auf  die  Anord- 
nung der  Wirtschaftsgebäude  erstreckt,  während 
das  eigentliche  Haus  echt  deutsch  blieb.  Bei- 
spiele: Die  Cölner  Höfe  rings  um  Cöln  und  die 
vielen  Hofhäuser  im  alten  Ubierlande.  Eine 
Mittelstellung  zwischen  friesischen  und  nieder- 
fränkischen  nimmt  das  westfälische  Haus  ein. 
Beim  friesischen  Hause  wurde  betont,  daß 
es  das  größte  und  anspruchsvollste    ist,    dessen 


27 


Größe  schon  Tacitus  erwähnt,  indem  er  sagt, 
daß  der  Friesen  Häuser  sehr  groß  seien  und 
Bergen  glichen  (Hauberge).  Diese  großen 
Friesenhäuser  werden  schon  bezeugt  —  wie 
Strabo  anführt  —  durch  Pytheas  aus  Massilia, 
im  Jahre  330  v.  Chr.,  als  der  erste  Lichtstrahl 
der  Geschichte  auf  Deutschland  fiel.  Als  Grund 
der  Errichtung  solcher  großen  Häuser  gibt 
Pytheas  au :  „Viel  Regen  und  selten  Sonnen- 
schein nötigen  die  Bewohner  jener  Gegenden, 
große  Gebäude  zu  errichten,  um  ihr  Getreide 
im  Trockenen  ausdreschen  zu  können." 

Anschließend  an  das  fränkische  und  frie- 
sische Haus  wurde  noch  ein  zweiteiliger  Typus 
erläutert,  der  vielfach  irrtümlich  zu  dem  frän- 
kischen gezählt  wird.  Der  Redner  wies  an  Hand 
von  Beispielen  nach,  daß  es  sich  hierbei  um  einen 
selbständigen,  älteren,  einräumigen  Typus 
handelt,  der  seinen  Ursprung  teils  in  der  Gruben- 
wohnung, teils  im  Pfahlbau  hat  und  in  eine 
ferne  Vorzeit  hinaufragt.  Gemeinsam  ist  diesem 
Typus:  1.  zweigeteilter  Grundplan;  2.  Block- 
holzbau ;  3.  flache  Dächer;  4.  Vorlauben;  5.  gleiche 
Benennungen  für  kleinere  oder  größere  Teile 
des  Hauses,  sofern  nicht  fremde  Einflüsse  mehr 
oder  weniger  von  diesen  Merkmalen  verwischt 
haben.  Die  Verbreitung  dieser  Häuser  ist  haupt- 
sächlich im  östlicheu  Deutschland,  in  Böhmen, 
Polen,  Vorarlberg,  südlichen  Bayern,  in  Teilen 
von  Österreich,  in  verschiedenen  Tälern  der 
Schweiz,  aber  auch  iu  Schweden  und  Norwegen. 
Zum  Schluß  wurde  noch  der  dritte  Typus  der 
Westgermanen  erläutert:  „der  suevische",  der 
bisher  keine  genügende  Würdigung  fand,  denn 
er  wurde  immer  als  Spielart  anderer  Typen 
bezeichnet.  Während  gerade  der  suevische  Typus 
mit  der  verbreitetste  ist  und  germanische  Kul- 
tur nach  Ländern  brachte,  wo  früher  nur  süd- 
ländische Kultur  herrschte,  wie  z.  B.  iu  Südtirol 
und  der  Po-Ebene  mit  der  Provinz  Venedig.  Die 
suevischeu  Longobarden  brachten  ihre  heimische 
nordische  Kultur  und  Kunstweise  mit.  Viele 
Kunstformen  in  Venetien  und  der  Lombardei 
bezeugen  dieses.  Wenn  auch  die  äußeren  Formen 
der  Fassadengestaltung  in  Venedig  die  klassische 
Kultur  aufweisen,  so  sind  aber  die  Grundplan- 
formen des  Hallenbaues  mit  der  Sala  echt  deutsch. 

Vergleichsbeispiele  von  Haustypen  der  Nord- 
und  Südsueven  aus  Deutschland  mit  solchen 
aus  Venedig  haben  die  Übereinstimmung  dar- 
getan und  zeigen,  zu  welcher  Großartigkeit  der 
Entwickeluug  der  aus  einfachen  Formen  hervor- 
gegangene suevische  Typus  fähig  ist 2).  — 

')  Demnächst  wird  Herr  Architekt  Eberlein  eine 
ausführliche  Publikation  mit  Abbildungen  über  dieses 
Thema  erscheinen   lassen. 


In  der  Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft 
(Verein  zur  Förderung  des  städtischen  Prä- 
historischen Museums)  sprach  am  Mittwoch,  den 
16.  Februar  1916,  Prof.  Dr.  Czaplewski  „Über 
altperuanische  Vasen".  Au  der  Hand  einer 
Reihe  von  Lichtbildern  nach  Seier,  Reiss  und 
Stübel  u.  a.  zeigte  der  Vortragende  zunächst 
den  großen  Formenreichtum  der  altperuanischen, 
fast  durchweg  aus  Gräberfunden  stammenden 
Tongefäße.  Dieselben  stellen  männliche  und 
weibliche  Figuren,  Götzen,  vierfüßige  Tiere, 
Vögel,  Fische,  Krabben  und  audere  niedere 
Tiere,  sowie  mancherlei  Früchte  dar.  Auch 
finden  sich  Gruppendarstellungen  und  Allegorien. 
Die  Gefäße  sind  teils  einfarbig  aus  rötlichem 
oder  schwarzem  Ton,  oder  weißgelblich,  rot 
oder  braun  bemalt.  Oft  finden  sich  darauf 
größere  feine,  au  altattische  Vasen  gemahnende 
Malereien.  Es  kommen  Becher,  Krüge,  Flaschen, 
Schalen,  Töpfe  verschiedenster  Form  vor,  die 
Figurendarstellungen  meist  au  Trinkkrügen  und 
an  Flaschen.  Letztere  haben  zum  Teil  einen 
soliden  Henkel  oder  sind  Bügelflaschen  höchst 
auffallender  Art,  bei  welchen  auf  den  hohlen 
Bügel  in  der  Mitte  oben  eine  Ausgußröhre  auf- 
gesetzt ist.  Die  Mehrzahl  der  Tongefäßfuude 
soll  aus  Gräbern  der  Chimus  stammen,  eines 
Küstenstammes,  welcher  von  den  Inkas  unter- 
worfen wurde,  deren  Herrschaft  auch  nur  auf 
150  Jahre  geschätzt  wird. 

Den  Anlaß  zu  diesem  Vortrage  gaben  38  Vasen 
aus  altpertianischen  Gräberfunden,  welche  Herr 
Hauptmann  Carl  Hesse  (ein  Sohn  des  Berg- 
werksdirektors Hermann  Hesse  in  Brühl),  1911 
an  die  Deutsche  Gesandtschaft  in  Santiago  de 
Chile  kommandiert,  von  eiuer  Reise  nach  Peru 
mitgebracht  hatte.  Nachdem  er  leider  1914  im 
Osten  gefallen,  glaubte  die  Familie  in  seinem 
Sinne  zu  handeln,  wenn  sie  diese  Schätze  zur 
Bearbeitung  zur  Verfügung  stellte.  Es  sind 
zwei  Tonkrüge,  drei  Tonflaschen  mit  solidem 
Henkel,  im  übrigen  die  geschilderten  Bügel- 
flaschen, fast  durchweg  Menschen-  und  Tier- 
figuren darstellend.  Besonders  merkwürdig  sind 
zwei  derselben:  auf  der  einen,  roten,  ist  ein 
Medizinmann  mit  fletschenden  Zähneu,  mit  einer 
doppelköpfigen  Giftschlange  umgürtet,  darge- 
stellt, dessen  Hände  von  den  Scheeren  einer 
Krabbe  gepackt  sind.  Die  audere,  schwarze, 
zeigt  mehrere  äußerst  kunstvoll  angeordnete, 
ineinander  verbissene  Tierköpfe  (Puma)  in 
scharfen  Linien,  etwas  stilisiert,  herausmodelliert, 
ein  ganz  hervorragendes  Kunstwerk.  Ferner 
wurden  ebendaher  eine  tönerne  Trompete  mit 
markantem  Götzenkopf  und  eine  tönerne  Puppe 
(mit  Vergleichsbildern),  sowie  eine  durchbohrte 


28 


Steinkugel  vorgeführt.  An  der  Hand  einer 
größeren  Zahl  farVjiger  Lichtbilder  schilderte 
der  Vortragende  die  Gräber  selbst  nach  den 
Ausgrabungen  in  Aneon  (bei  Lima)  durch  Reiss 
und  Stübel,  welche  dort  1875  systematisch  ein 
ganzes  Totenfeld  aufdeckten  und  mustergültig 
beschrieben.    Es  handelte  sich  zum  größten  Teile 

Fig.  5. 


[hei  altperuanische  BiigelÜaschen  mit  hohlem  Bügelhenkel. 
Fig.  6. 


Altperuanische  Bügelrlasehe  „der  Medizinmann"  mit  Krabbe 
(Krabben-Dämon?) 


Fig.  7. 


Altperuanische  Bügclrlasehe  mit  stilisierten  Tierköpfen  (Puma). 

um  Hockergräber,  bei  denen  die  Hocker  zum 
Teil  in  reich  ausgestatteten  Mumienballen,  welche 
teilweise  sogar  falsche  Köpfe  tragen  und  sitzende 
Indianer  nachahmen,  nebst  vielen  Beigaben  bei- 
gesetzt sind.  Das  Gräberfeld  ist  später  von 
Charles  Wiener  nochmals  ausgegraben  wordeu, 
welcher  noch  weitere  reiche  Schätze  (auch  Gold- 
funde)   aufdeckte.      An    anderen    Stellen   Perus 


rinden  sich  auch  große  Grabhügel  mit  Massen 
von  Gräbern  neben-  und  übereinander,  zum 
Teil  sogar  Grabpyramiden,  in  denen  der 
Fürst  und  seine  Umgegend  beigesetzt  sind.  Im 
Gebirrje  daire^en  sind  die  Bestattungen  zum  Teil 
in  Höhlen  oder  in  nebeneinander  in  schwer  zu- 
gängliche Felswände  ein<>ehauenen  Löchern.  Die 
Mehrzahl  der  Gräber  ist  jetzt  jedoch  von  Schatz- 
gräbern in  wüstester  Weise  geplündert.  Au 
vergleichenden  Bildern  zeigte  der  Vortragende 
sodann  ähnliche  Formen  von  Tongefäßen,  welche 
Schliemanu  im  alten  Ilion  ausgegraben,  näm- 
lich Heukeinaschen  mit  solidem  Henkel  in  ver- 
schiedenen Tierformeu,  sowie  die  gewaltigen,  in 
den  Boden  eingegrabenen  Toukrüge  (Pithoi), 
während  in  Ancon  in  den  Boden  gegrabene 
alte  riesige  Tonkrüge  zur  Chibchabereitung 
(aus  gegorenem  Mais)  gefunden  wurden.  Da- 
gegen fehlen  in  Ilion,  anscheinend  auch  sonst, 
die  für  Peru  so  charakteristischen  Bügelflaschen. 

Der  Vortragende  schloß  mit  einem  warmen 
Dank  an  die  Familie  Hesse  für  die  Über- 
lassung des  kostbaren  Materials  und  mit  dem 
Wunsche,  daß  es  gelingen  möchte,  die  wert- 
volle Sammlung  der  Stadt  Cöln  zu  erhalten. 
Es  folgte  die  Besichtigung  der  Originale,  welche 
allseitige  Bewunderung  infolge  ihrer  zum  Teil 
hervorragenden  Formengebung  und  guten  Er- 
haltung hervorriefen.  — 

Montag,  den  20.  März  1916,  behandelte  im 
großen  Gürzeuichsaale  der  Vorsitzende  der 
Cölner  Anthropologischen  Gesellschaft,  Rektor 
C  a  r  1  R  a  d  e  m  a  c  h  e  r ,  die  Entwickelungsgeschichte 
des  Heidedorfes  „Altenrath"  auf  der  Wahner 
Heide.  Nach  verschiedeneu  Richtungen  bean- 
sprucht dieses  Dorf  besondere  Beachtung,  so- 
wohl von  seiten  der  Prähistoriker,  wie  der 
Freunde  der  Volkskunde  und  der  Naturfreunde. 

Altenrath  liegt  auf  der  sogenannten  Heide- 
terrasse, die  au  den  höchsten  Stellen  60  bis 
70  m  über  dem  Bheintal  aufragt.  Wieder  50 
bis  60  m  höher  als  diese  Terrasse  erhebt  sich, 
zwischen  Sieg  und  Agger,  eine  zweite  Hoch- 
fläche als  Hochterrasse.  Dieser  Hochterasse  ist 
die  Heideterrasse  vorgelagert.  Während  frucht- 
barer Löß  das  Hochplateau  deckt,  lagert  in  der 
Mittelterrasse  diluvialer  Sand  auf  mächtigen 
Tonschichten.  Hierauf  beruht  auch  der  Heide- 
und  Moorcharakter  des  Gebietes  mit  den  frucht- 
baren Höhen  der  Hochterrasse.  In  der  Vorzeit 
war  diese  von  Urwald  bedeckt,  der  erst  nach 
der  Besitzergreifung  des  Gebietes  durch  die 
Franken  allmählich   versehwand. 

Der  Redner  verbreitete  sich  dann  auf  Grund 
langjähriger  eigener  Forschungen  über  die  vor- 
zeitliche   Besiedelung    der   Heideterrasse,   deren 


29 


erste  Spuren  in  die  Übergangszeit  von  der 
älteren  zur  jüngeren  Steinzeit  zurückreichen. 
Damals,  wie  auch  bei  allen  nachfolgenden  l>e- 
setzungen,  erfolgte  dieselbe  vom  Rheintal  aus; 
das  Randgebirge  an  der  Agger  weist  am  Fliegen- 
berge Spuren  dieser  uralten  Bevölkerung  auf  in 
Gestalt  kleiner,  geometrisch  geformter  Steiu- 
geräte.  Von  der  vollausgebildeten  jüngeren 
Steinzeit  drang,  wiederum  vom  Rheintal,  ein 
Zweig  der  von  Norden  sich  ausbreitenden  Pfahl- 
baukultur in  unser  Gebiet.  Im  Scheuerbusch 
sind  Ilausanlagen  dieser  Kultur  beobachtet 
worden,  desgleichen  auf  den  Höhen  der  Ileide- 
terrasse  selbst.  Eine  größere  Siedelung  ent- 
stand jedoch  am  Abhänge  des  Ziehenberges  an 
der  Agger  auf  seineu  Abflachungen  nach  der 
Heide  zu.  Daselbst  bestand  eine  Dorfanlage 
auf  dem  Gebiete  des  jetzigen  Dorfes  Altenrath. 
Nach  den  Funden  ist  dieselbe  dem  Ende  der 
Periode,  also  der  Zeit  von  2000  v.  Chr.,  zuzu- 
sprechen. Diese  Siedelung  erstreckte  sich  weit 
in  die  Heide  hinein  bis  zum  jetzigen  Boxhohn. 
Bedeutender  noch  war  die  Besiedelung  der 
Heideterrasse  in  dem  Zeitraum  von  1200  bis 
500  v.  Chr.  Aus  dieser  Zeit  stammen  Tausende 
der  Grabhügel  auf  allen  Teilen  der  Terrasse, 
besonders  auf  dem  westlichen  Randgebirge  und 
der  Heide  selbst.  Über  die  Anlage  dieser  Grab- 
hügel, ihren  Inhalt,  die  ethnologische  Zusammen- 
gehörigkeit der  Bewohner  verbreitete  sich  der 
Redner  eingehend  in  Wort  und  Bild.  Das  jetzige 
Dorf  Altenrath  bildete  auch  damals  wieder  eine 
Siedelung,  nur  lag  der  Schwerpunkt  des  Dorfes 
noch  mehr  auf  der  Heide  südlich  des  jetzigen 
Dorfes.  Nach  den  erhaltenen  Grabhügeln  be- 
rechnet sich  die  Anzahl  der  Bewohner  der  ganzen 
Terrasse  auf  etwa  400  bis  500,  die  sich  auf 
mehrere  Dorfanlagen  verteilen.  Von  letzteren 
war  Altenrath  die  größte  (etwa  30  bis  40 
Häuser).  Im  5.  Jahrhundert  weicht  diese  Be- 
völkerung vor  den  Germanen  zurück,  die  nun 
die  Terrasse  in  Besitz  nehmen.  Eine  neue 
Siedelung  entsteht,  dieses  Mal  wieder  am  Fliegen- 
berg, zu  der  sich  dann  im  3.  Jahrhundert  nach 
Christo  einzelne  andere  (Altenrath  und  Scheuer- 
busch) gesellen.  Im  4.  Jahrhundert  geht  die 
Bevölkerung  des  Sieg- Wuppergebietes  in  den 
Franken  auf.  Die  Franken  verlegen  den  Schwer- 
punkt auf  die  Güter,  die  sie  in  den  Rand- 
gebieten einrichten.  Diese  Güter  bilden  den 
Ursprung  der  noch  heute  bestehenden  adeligen 
Sitze  des  Gebietes.  Das  Dorf  Fliegenberg  wird 
verlassen,  in  Lohmar  eine  fränkische  Dorfanlage 
begründet,  während    das    Gebiet  von  Altenrath 


von  neuem  gerodet  und  durch  Kolonisten  be- 
setzt wird.  Die  Erinnerung  an  die  alte  Siede- 
lung hat  dem  Orte  damals  den  Namen  „Alten- 
rath", d.  h.  „Alte  Rodung",  verschafft.  Im 
8.  Jahrhundert  erfolgt  die  vollständige  Christiani- 
sierung, die  Gründung  der  Kirchen  und  die 
Einrichtung  von  Kirchspielen.  Die  fräukische 
Honschaft  Altenrath  wird  mit  der  Hon- 
schaft Rösrath  mit  den  um  diese  Zeit  ein- 
gerichteten Höfen  der  Ilochterrasse  (spätere 
Freiheit  Scheiderhöhe)  zu  dem  Kirchspiel  Alten- 
rath vereinigt. 

Bis  1361  war  das  Kirchspiel  Altenrath 
ein  Teil  der  Herrschaft  Löwenberg,  dann 
kam  es  zur  Grafschaft  Berg.  Bei  dieser  ist 
es  geblieben,  bis  1815  das  Großherzogtum  Berg 
preußisch  wurde.  Die  Reformation,  besonders 
der  jülich-clevische  Erbfolgekrieg,  trugen 
ihre  Wellen  auch  bis  in  die  Stille  des  Heide- 
dorfes „Altenrath  upper  Heide",  wie  es  da- 
mals hieß,  hinein.  Auch  die  Schweden  suchten 
1632  dasselbe  heim.  In  diesem  Jahre  erfolgte 
dann  die  Übersiedelung  eines  Teiles  der  Sieg- 
burger Töpferzunft  nach  Altenrath,  die 
hier  eine  Zeitlang  weiter  arbeitete,  bis  dieser 
Zweig  des  Kunsthandwerkes  auch  hier  nach 
und  nach  einschlief.  Die  geringe  Ergiebigkeit 
des  Bodens  zwang  die  Bewohner  jedoch  andere 
Beschäftigungen  neben  dem  Ackerbau  zu  über- 
nehmen;  so  ward  es  ein  Webeidorf.  Dies  blieb 
es  bis  zum  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts.  In 
den  70  er  Jahren  verschwanden  die  Webstühle, 
die  aufblühende  Iudustrie  der  Nachbarorte  gab 
den  Leuten  Verdienst. 

Gerade  die  Zeit  bis  zum  Ende  der  Weberei 
schilderte  der  Redner,  wies  nach,  wie  vieles  von 
den  Sitten,  Bräuchen  und  Liedern  sich  in  dem 
Dorfe  erhalten,  wie  das  Leben  auf  der  Heide 
sich  abspielte,  bis  die  Schießplatzverwaltung 
immer  größere  Stücke  des  Gemeindebesitzes 
ankaufte  zur  Vergrößerung  des  Schießplatzes. 
Der  letzte  Ankauf  erfolgte  1914;  dadurch  wurde 
auch  ein  großer  Teil  des  Dorfes  selber  an- 
gekauft, der  nun  leer  steht;  die  Grenze  des 
Schießplatzes  reicht  jetzt  bis  zur  Kirche.  Es 
ist  zu  erwarten,  daß  auch  die  Tage  des  Restes 
des  Dorfes  gezählt  sind;  dann  wird  die  ganze 
Heideterrasse  wieder  ein  Ganzes  bilden  ohne 
jede  Siedelung.  Die  Schönheiten  des  Dorfes, 
die  Anlage  der  Wohnstätten,  Heide  und  Wald 
führte  der  Redner  in  zahlreichen  Bildern  vor 
Augen,  ebenso  die  alten  Herrensitze  Sülz  und 
Schönroth,  die  mit  Altenrath  eng  verbunden 
waren. 


.111 


Sitzung  der  Anthropologischen 
Sektion  der  Naturhistorischen  Gesellschaft  Nürnberg. 


Die  Sitzung  der  Anthropologischen  Sek- 
tion der  Naturhistorischen  Gesellschaft  Nürn- 
berg vom  15.  März  d.  J.  brachte  einen  Vortrat;' 
\Y.  Hehlen s,  welcher  die  „Bedeutung  der 
Muschel  in  der  Vorgeschichte"  nach  dem  Werke 
von  Geh.  Rat  Pfeiffer-Weimar:  „Die  Stein- 
zeitliche  Muscheltechuik",  und  nach  eigenen 
Studien  behandelte.  Er  beschrieb  und  zeigte 
vor  die  in  Europa  seit  der  mittleren  Altsteinzeit 
verwendeten,  vielfach  aus  fremden  Meeren, 
selbst  aus  der  Südsee  stammenden  Seemuscheln, 
welche  als  Schmuck  und  zu  Werkzeugen  Ver- 
wendung fanden.  Die  jüngere  Steinzeit  legte 
besonderen  Wert  auf  solchen  Schmuck  und  es 
ist  anzunehmen,  daß  das  Material  dazu  auf  dem 
Wege  des  Handels  beigebracht  wurde. 

Ein  zweiter  Vortrag  von  Kustos  Hörmann 
hatte  „Deutsches  Micoquien"  zum  Gegenstand. 
Nach  einleitenden  Bemerkungen  über  die  Funde 
von  La  Micoque  betonte  er,  daß  deutsche  Forscher 
unter  heimischen  Paläolithfunden  schon  öfter 
Micoqueähnlichkeit  festgestellt  haben.  Aber  dar- 
auf, daß  dem  von  La  Micoque  und  einigen 
anderen  Orten  der  Dordogne  bekannten  Formen- 
kreis auf  deutschem  Boden  eine  größere  Rolle 
zukommt,  als  man  sie  vom  französischen  bisher 
annimmt,  hat  noch  niemand  hingewiesen.  Das 
ist  aber  auch  uur  möglich,  wenn  der  Nachweis 
erbracht  ist,  daß  das  Micoquien  in  Deutschland 
wirklich  vorhanden  ist.  Ein  zufälliger  Aufent- 
halt O.  Hausers  in  Nürnberg,  des  langjährigen 
Bearbeiters  der  berühmteu  Station  bei  Les  Eyzies, 
führte  diese  Möglichkeit  herbei.  Der  Vortragende 
hatte  Dr.  Hauser  angesichts  einer  kleinen 
Mieoquesammlung  von  seiner  seit  längerem  ge- 
hegten Vermutung,  daß  die  Funde  vom  Kosten 
bei  Lichtenfels  dem  Micoquien  angehören,  und 
daß  es  auch  am  Hohlen  Fels,  in  der  Klausen- 
nische im  Altmühltal  und  sonst  in  Deutschland 
vertreten  sei,  erzählt  und  von  den  Folgerungen 
gesprochen,  welche  au  eiue  derartige  Verbrei- 
tung der  Micoqueindustrie  in  Deutschland  sich 
knüpfen  müßten.  Tatsächlich  konnte  denn  auch 
Dr.  Hauser,  als  er  die  Hohle  -  Fels  -  Sacheu  in 
der  Nürnberger  Sammlung  daraufhin  durchsah 
und  in  Lichtenfels  die  Dr.  lioßbach-Sammlung 
vom  Kosten  besichtigt  hatte,  die  Gleichartigkeit 
des  deutscheu  und  französischen  Formenkreises 
feststellen.  Es  trifft  sich  glücklich,  daß  gegen- 
wärtig eiue  abschließende  Veröffentlichung 
Ilausers   über    seine   länger   als   eiu   Jahrzehnt 


währenden  Grabungen  in  La  Micoque  im  Druck 
ist.  Die  Ergebnisse  dieser  bisher  umfangreich- 
sten wissenschaftlichen  Tätigkeit  des  Spatens 
an  einer  und  derselben  paläolithischen  Station 
werden  der  deutschen  Wissenschaft  voraussicht- 
lich ein  hochwillkommenes  Rüstzeug  für  die  in 
dieser  Richtung  einsetzende  Forschung  an  die 
Hand  geben. 

Wie  Haus  er  schon  in  seiner  Veröffentlichung 

I  über  Micoque  von  1907  hervorgehoben,  Prof. 
Obermaier  jedoch  bestritten  hat,  nun  aber 
neuerdings  von  Häuser  vertreten  wird,  handelt 
es  sich  bei  La  Micoque  um  nur  ein  Niveau, 
nur  eine  Ansiedelungsperiode.  Diese,  ihm 
zufolge  unumstößliche  Tatsache,  stempelt  das 
Micoquien  zu  einer  der  merkwürdigsten  Kultur- 
epochen —  er  legt  sie  zeitlich  auf  die  dritte 
Zwischeneiszeit  fest  —  und  läßt  die  Trag- 
weite der  Hypothese  ihres  Vorherrschens  im 
diluvialen  Mitteldeutschland  erkennen. 

Das  Micoquieu  galt  bisher  nirgends  als 
selbständige  Kulturepoche,  sondern  nur  als 
Unterstufe  einer  solchen,  und  der  Meinungen, 
welcher  Epoche  es  anzugliedern  sei,  waren  in 
letzter  Zeit  verschiedene.  So,  wie  es  in  unserer 
Nürnberger  Major  Dr.  Neischl- Sammlung  ver- 
treten ist,  schließt  es  Formen  eiu,  welche  eben- 
sowohl an  Acheuleeu,  als  an  Mousterien, 
an  Aurignacien,  selbst  an  Solutreen  er- 
innern, und  diesen  Charakter  trägt  nach  Dr. 
Haus  er    die  Industrie  von   La  Micoque   durch- 

i  gehends.  Die  gleiche  Mischung  zeigt  auch  die 
Dr.  Roßbach-Saminlung  vom  Kosten,  und 
wenn  dies  wirklich  mit  einer  einheitlichen  Kul- 
turepoche vereinbar  ist,  dann  kann  man  ohne 
weiteres  überall  auf  Micoquien  schließen,  wo 
bisher  schon  ein  Mit-  und  Nebeneinander  alt- 
und  mittelpaläolithischer  Formen  die'  chrono- 
logische Einreibung  erschwert  und  strittig  ge- 
macht oder  zur  Vieldeutigkeit  Aulaß  gegeben 
hat,  Taubach-Ehringsdorf  zum  Beispiel.  Bei  der 
Gegenüberstellung  von  Micoquegeräten  und 
solchen  anderer  Herkunft  ist  die  Patina  bzw. 
die  Farbe  des  Gesteines  einer  gerechten  Würdi- 
gung sehr  hinderlich;  man  würde  gut  tun, 
wenigstens  fürs  erste,  bis  das  Auge  geschult 
ist,  nicht  die  Originale,  sondern  uur  Gipsabgüsse 
miteinander  zu  vergleichen. 

Die  Wiederkehr  alter  Formen  von  Stein- 
geräten  in  jüngeren  Epochen  ist  nichts  Seltenes, 
es    sei    nur    an    das    Campignien    erinnert,    und 


31 


wenn  wir  den  Formenschatz  der  Neolithik  wirk- 
lich kennen  würden,  wäre  die  Erscheinung  - 
von  Dauertypeu  ganz  abgesehen  —  vielleicht 
noch  häutiger  zu  konstatieren.  In  der  nietall- 
zeitlichen  Prähistorie  ist  es  Brauch,  eiueu  Fund 
nach  dem  jüngsten  Gegenstand  zu  datieren. 
Die  I'aläolithik  läßt  der  persönlichen  Auffassung 
freien  Spielraum;  wo  die  sonstigen  Hilfsmittel, 
Schichtung  und  Fauna,  nicht  für  sich  allein 
durchschlagend  sind,  stelleu  sich  dann  die  be- 
dauerlichen Widersprüche  ein  nicht  nur  zwischen 
den  verschiedenen  Forschern,  sondern  desselbigeu 
Forschers  zu  verschiedener  Zeit  mit  sich  selbst. 
Das  Micoquien  ist  deshalb  bald  ein  Anhängsel 
des  Acheuleeu,  bald  geht  es  mit  oder  folgt  dem 
Mousterien;  die  den  jüngeren  Epochen  gleichen- 
den Bestände  bleiben  unerklärt  oder  unbeachtet. 
Das  Nachleben  alter  Formen  läßt  sich  verstehen, 
sie  gleichen  ja  auch  nur  annähernd  den  alten, 
echten,  namengehenden.  Es  können  auch  un- 
mittelbar nachfolgende  ihre  Schatten  voraus- 
werfen; aber  auch  die  über-  und  übernächsten? 
je  älter  das  Micoquien  eingeschätzt  wird,  desto 
mehr.  Erschiene  da  nicht  das  Micoquien  wie  ein 
steinzeitlicher  Mutterschoß,  iu  dem  die  Stufen 
embryonal  sich  bilden,  um  irgendwo  und  irgend- 


wann selbständig  zu  erscheinen?  Eine  große 
Zahl  von  Fragen  wird  an  die  neue  Auffassung 
über  das  Micoquien  anknüpfen.  Es  wird  das 
große  Verdienst  O.  Ilausers  sein,  wenn  seine 
umfangreichen  Micoqueforschuugen  eine  feste 
Basis  für  die  Weiterarbeit  schaffen. 

Hierauf  ergriff  O.  Häuser  das  Wort;  er 
hob  die  grundlegende  Bedeutung  der  neuge- 
wonnenen Richtlinie  hervor  und  betonte  die 
schon  längst  empfundene  Notwendigkeit 
einer  allgemeinen  deutschen  Systematik. 
Er  ist  der  Ansicht,  es  werde  nicht  schwer  sein, 
auf  rein  deutscher  Grundlage  ein  lückenloses 
genetisches  Bild  der  Geschichte  des  diluvialen 
Menschen  in  Deutschland  aufzustellen.  Eine 
bedeutsamere  Aufgabe,  als  gerade  die  voraus- 
setzungslose Forschung  nach  Stratigraphie  und 
Fauna  an  heute  noch  ungeklärten  Altsteinzeit- 
siedelungen, ist  kaum  denkbar.  Solche  Arbeiten 
müssen  grundlegend  werden  für  die  deut- 
sche Paläolithf orschung  und  liefern  sicher 
auch  wertvolles  Material  zur  rassen  -  anthropo- 
logischen Lösung  der  großen  Aufgabe. 


Nürnberg,   11.  April   1916. 


K.  Hörmann. 


Ein  Gebiet  der  Vorgeschichte,  das  der  Orient  beleuchtet. 

Von  Bärthold,  Halberstadt. 


Die  Frage,  ob  die  ganze  Kultur  des  nörd- 
lichen Europas  aus  dem  Morgenlande  kam  oder 
nur  Anregungen,  ist  wohl  geklärt,  die  Gegen- 
sätze einigen  sich  auf  einer  mittleren  Linie. 
Bei  diesen  Erörterungen  kam  das  (Meinet  kaum 
zur  Sprache,  in  dem  die  Vorgeschichte  doch 
erst  zum  Abschluß  kommt,  nämlich  die  Gesell- 
schaftsordnung mit  Sitte  und  Brauch,  die 
Kultur  im  engeren   Sinne. 

Daß  es  in  der  jüngeren  Steinzeit  bereits 
große  „Kulturgemeinschaften"  gab,  ist  offenbar, 
wenn  man  darunter  versteht,  daß  dieselben 
Kulturerzeugnisse  über  weite  Gebiete  verbreitet 
waren;  die  kugeligen  Gefäße  vom  Rhein  bis 
Bosnien,  die  Glockenbecher  von  Spanien  bis 
Ungarn. 

Wenn  solche  Ausbreitung  durch  Übertragung 
von  Volk    zu   Volk  geschehen   wäre,    ließe   sich 


recht  wenig  von  diesem  Kulturbesitz  auf  den 
Kulturstand  schließen.  Das  zeigt  sich  heute 
so  deutlich.  Jetzt  ist  der  Kulturbesitz  des  Abend- 
landes im  Morgenlande,  ja  in  der  ganzen  Welt 
verbreitet.  Nicht  nur  die  Waffen  und  Werk- 
zeuge, auch  Eisenbahnen,  Telegraph,  Telephon 
und  elektrisches  Licht  sind  überall  hingedruno-en 
nicht  aber  die  abendländische  Kultur,  die  ge- 
sellschaftlichen Ordnungen  und  Anschauungen. 
Der  bereicherte  Kulturbesitz  veränderte  in  China 
und  dem  Morgenlande  nicht  den  Kulturstand. 
Mit  Hoernes  und  Schumacher  wird  all- 
mählich anerkannt  werden,  daß  nicht  nur  die 
nördliche,  sondern  auch  die  anderen  steinzeit- 
lichen  Kulturen  sich  nicht  ohne  ihre  Träger  aus- 
breiteten, da  sie  ja  nebeneinander  bestanden, 
aber  auch  wenn  der  Kulturbesitz  eigenstes  Werk 
eines  Volkes  ist,   und   den  Geschmack   und  die 


32 


Kunstfertigkeil  ersehen  Läßt,  kann  ilocb  die 
Meinung  sich  behaupten,  daß  es  ein  Barbaren- 
volk war,  wie  von  den  Nordländern  immer  noch 

igt  wird,  ungeachtet  ihres  bewundernswerten 
Kunstsinns.  Die  Werke  der  Hände  gewähren 
eben  keinen  Einblick  in  die  Lebensformen,  sie 
können  fortschreiten,  während  diese  unverändert 
bleiben,  und  wiederum  kann  die  Gesellschaft 
sich  weiter  ausgestalten,  die  Geräte  aber  die- 
selben bleiben. 

Aus  der  lebendigen  Gegenwart  hat  Dr. 
Fischer  in  Bukarest  dafür  ein  Beispiel  und 
damit  die  Berichtigung  einer  noch  verbreiteten 
Annahme  beigebracht,  da  er  im  Märzheft  des 
Korrespondenzblattes  von  1914  mitteilte,  daß 
in  Rumänien  noch  der  einfache  Mühlstein  der 
Steinzeit  und  daneben  ein  Holzpflug  in  Gebrauch 
ist,  sogar  ohne  Räder,  nur  mit  Gleitschiene.  Da 
wird  ganz  unwahrscheinlich,  daß  es  einen  Stein- 
pflug  gegeben  habe. 

Während  der  Steinzeit  in  Deutschland  wurde 
der  Kulturstand  im  Morgenlande  durch  Haruu- 
rabis  Gesetz  und  viele  Schriftstücke  festgelegt. 
Dort  standen  bereits  Städte  und  die  Volks- 
gemeinschaft war  schon  stark  gegliedert;  es  gab 
Handwerker,  Gärtner,  Hirten,  Krieger,  Bau- 
meister, Ätzte,  Richter.  Diese  Kultur  ist  unserer 
Steinzeit  weit  voraus,  aber  die  Randgebiete  dort 
lassen   Übereinstimmungen   erkennen. 

In  Palästina  wohnten  die  Kanaaniter  und  an 
der  Küste  die  Philister  auch  schon  in  Städten, 
aber  im  Gebirge  Juda  waren  Häuptlingschaften 
der  Amoriter  und  Hethiter  eingedrungen  und 
zwischen  diese  schoben  sich  noch  zwei  ebräische 
Häuptlinge  mit  ihren  Leuten  und  ihren  Herden. 
Ebenso  setzten  sich  im  Harzgau  Leute  aus  dem 
nördlichen  Gebiet  auf  Hügeln  an  Waldgebirgen 
fest,  dabei  nahe  bei  den  Einwohnern  des  Landes, 
so  daß  sie  als  deren  Gäste  erscheinen,  etwa  wie 
sich  nach  Kauf f mann,  S.  237  über  2000  Jahre 
später  Germanen  bei  Galliern  einquartierten. 

Wenn  sieb  herausstellt,  daß  die  Hethiter  indo- 
germanische Sprache  hatten,  wie  Dr.  Fischer 
ankündigte,  so  ist  ja  alle  Wahrscheinlichkeit  für 
weitgehende  Übereinstimmungen  gegeben;  sie 
erweisen  sich  aber  auch  selbst.  Die  eindringen- 
den „Urgermanen"  bildeten  ebenfalls  Häuptling- 
schaften, wie  auch  die  Einheimischen,  die  Leute 
der  Spiralkultur,  für  die  es  durch  die  Auf deckung 
des  Herrensitzes  bei  Plaidt  durch  Lehne r  offen- 
bar ist;  von  den  Einwanderern  beweisen  es  die 
Kieseustuben  und  großen  Grabkammem. 

In  seiner  letzten  Schrift  „Kunst  und  Mecha- 
nik" hat  Ernst  Mach  den  .Aufbau  einer  Riesen- 
stube anschaulich  und  begreiflich  gemacht.  Aber 
wenn  auch  die  gewaltigen  Decksteine  mit  Hebeln 


und  Tauen  auf  schiefer  Ebene  aus  Baumstämmen 
auf  einen  Holzbau  geschoben  und  gezogen 
wurden,  wo  sie  von  den  Tragsteinen  unterfangen 
werden  konnten,  so  mußten  doch  zu  so  mühe- 
vollem Werk  viele  Hände  durch  einen  beherr- 
schenden WTillen  zusammengefaßt  und  gelenkt 
werden.  Noch  gewisser  macht  dies  die  merk- 
würdige Tatsache,  daß  die  großen  Platten  zu 
den  Steinkammern  öfter  aus  den  vier  Himmels- 
gegenden herbeigeschafft  wurden;  wo  verschie- 
dene Felsarten  anstehen,  ist  es  seit  1825  an 
verschiedenen  Orten  Thüringens  von  sachkun- 
digen Leuten  festgestellt  worden  (Jahresschrift. 
Halle  1902,  S.  139,  155,  219).  Da  ist  ja  vor 
Augen,  daß  zu  dem  Bau  ein  größerer  Bezirk  an- 
gespannt wurde.  Ein  weiterer  Beweis  liegt  in 
den  Amazoneuäxten  und  den  verzierten  Hämmern, 
die  nach  ihrer  Seltenheit  Auszeichnung  einzelner 
Personen  waren,  außerdem  haben  auch  die 
Fürstengräber  der  früheren  Bronzezeit  eine  rück- 
wirkende Kraft,  denn  die  sogenannte  Bernburger 
Kultur  geht  über  in  die  Bronzezeit. 

Im  Morgenlande  waren  die  Häuptlingschaften 
nicht,  mehr  erweiterte  Familien;  sie  waren  so 
groß  geworden,  daß  die  Söhne  sich  darin  teilen 
konnten.  Die  drei  Amoritenhänptlinge  Aner, 
Eskol  und  Mamre,  mit  denen  Abraham  sich  ver- 
bündete, waren  Brüder,  und  ebenso  hatte  sich 
Abraham  mit  seinen  beiden  Brüdern  nach  des 
Vaters  Tode  in  die  Häuptlingschaft  geteilt,  und 
auch  dann  waren  die  Stämme  nicht  unbedeutend. 
da  Abraham  mit  31S  seiner  Leute  ausziehen 
konnte,  seine  Neffen  zu  befreien.  Auch  hier  ist 
der  Nachlaß  auf  den  ersten  Siedelungen  nicht 
gering.  Auf  dem  Gertling  am  Hug  und  ebenso 
bei  Rhoden  am  Fallstein  sind  über  300  Stein- 
werkzeuge gefunden,  und  daraus  wird  mehr  auf 
die  Kopfzahl  als  auf  die  Dauer  der  Besiedelung 
zu  schließen  sein;  denn  es  sind  wenig  verbrauchte 
Sachen  darunter.  An  den  Stellen,  wo  weniger 
gefunden   ist,  kann   mehr   verschleppt  sein. 

Wie  die  Verfassung,  so  ist  die  Bestattungs- 
weise dieselbe  im  Morgenlande  und  hier:  un- 
vergängliche Gräber  wurden  für  die  Toten  be- 
reitet,   natürliche    oder    künstliche    Felsengrüfte. 

Die  Gefolgschaft  der  Häuptlinge  bildete  eine 
Gemeinde,  die  in  wichtigen  Fragen  Stimme  und 
Entscheidung  hatte.  Dies  tritt  deutlieh  hervor 
bei  der  ausführlicher  mitgeteilten  Verhandlung 
Abrahams  mit  den  Hethitern,  da  er  für  seine 
Frau  nicht  nnr  die  Benutzung,  sondern  das  Eigen- 
tum einer  Felsengruft  begehrte.  Die  Verhandlung 
geschah  vor  der  Volksgemeinde,  diese  bewilligte 
und  bezeugte  den    Verkauf  (1.  Mose  23). 

Bedeutungsvoll  für  den  Kulturstand  ist.  ja 
die  Stellung  der  Fiau,  und  da  ist  es  bezeichnend, 


33 


daß  damals  auch  bei  den  Semiten  der  Vater  die 
Tochter  nicht  gab,  wem  er  wollte,  sondern  sie 
fragte,  ob  sie  die  Werbung  annehmen  wollte 
(1.  Mose  24,  58).  Damit  stimmt  das  Gesdz 
Ilamurabis  überein,  da  es  für  die  Entlassene 
und  die  Witwe  anordnet:  „den  Mann  ihres  Herzens 
kann  sie  heiraten".  Diese  Ausdrucksweise  be- 
tont so  deutlich  das  Recht  der  Frau  nach  ihrem 
Herzen  zu  wählen  (§  137,  156,  172).  Sie  erhielt 
auch  eine  Mitgift  vom  Vater  und  ein  Braut- 
geschenk von  dem  Manne,  die  nicht  unbedeutend 
waren,  denn  die  Bestimmungen  über  Rückfall 
und  Etbgang  derselben  sind  recht  ausführlich. 
Die  Frauen  betätigten  sich  auch  freier  als  spätere 
Sitten  dort  gestatteten.  Die  Töchter  der  Häupt- 
linge beteiligten  sich  an  der  Führung  der  Herden, 
auch  wenn  sie  Brüder  hatten,  wie  das  von  Rahel 
bemerkt  wird. 

Die  geschichtliche  Zuverlässigkeit  der  hier 
angeführten  beiläufigen  Erwähnungen  der  Bibel 
ist  in  eigener  Weise  bemerkbar  bei  der  Ehe 
Abrahams  mit  seiner  Stiefschwester  und  Jakobs 
Ehe  mit  zwei  Schwestern,  beides  ist  im  Mosai- 
schen Gesetz  schwer  verboten  als  ein  Frevel. 
Niemand  würde  dies  von  den  gepriesenen  Ahn- 
herren gedichtet  haben. 

Die  Beherrschung  des  Stoffes  war  in  unserer 
Steinzeit  so  groß,  daß  sie  der  äg3'ptischen  nicht 
nachsteht,  wenn  sie  sich  auch  nicht  in  so  ge- 
waltigen Bauwerken  betätigte.  Sie  vermochten 
große  Findlinge  zu  spalten,  Platten  von  2  m 
Länge  aus  anstehendem  Gestein  zu  brechen, 
einen  Falz  in  die  Tragsteine  zu  hauen,  um  die 
Deckplatten     hineinzufügen,     auch     Lasten     von 


500  Ztr.  zu  bewegen  und  so  hoch  zu  bringen, 
wie   sie  wollten  l). 

In  der  Fornibeherrsehung  zeigt  sich  ganz 
hervorragender  Geschmack  und  Kunstfertigkeit 
an  den  bewundernswerten  Dolchen  aus  Feuer- 
stein, den  kunstvollen  Hämmern  und  verzierten 
Amazonenäxten ;  da  kann  unmöglich  von  barba- 
rischem Geschmack  und  barbarischer  Ausführung 
geredet  werden.  Die  Männer  scheinen  noch  mehr 
Freude  an  Kunstübung  gehabt  zu  haben  als  die 
Frauen,  jedenfalls  waren  ihre  Arbeiten  in  hartem 
Gestein  viel  mühevoller  und  langwieriger  als  die 
in  Ton. 

In  diesen  schwierigen  Formen  erweist  sich 
neben  Stoffbeherrschung  auch  beachtenswerte 
Selbstbeherrschung,  die  sich  in  der  willigen 
Bindung  an  Sitte  und  Brauch  zeigt,  und  diese 
ist  für  den  Kulturstand,  die  Sittlichkeit,  bedeut- 
samer als  die  Kunstfertigkeit.  An  das  Übliche, 
Gebräuchliche  band  man  sich  in  der  Formen- 
gebung  genau  und  sorgfältig,  so  daß  dieselbe 
Gestaltung  und  Verzierung  wie  in  Dänemark 
sich  am  Harz  wiederholt.  Eigenwillige  Formen 
kommen  gar  nicht  vor;  was  zuerst  so  erscheint, 
findet  sich  doch  anderwärts  ebenso.  Verzichtete 
man  bei  diesen  Formen  auf  das  eigene  Belieben, 
so  wird  mau  es  auch  in  den  Verkehrsformen 
getan  haben. 

In  dem  allen  liegt  Berechtigung  genug,  den 
Kulturstand  unserer  germanischeu  Vorzeit  dem 
des  Morgenlandes  gleichzustellen. 

J)  Der  erhaltene  Deckstein  der  Rieseustube  bei 
Drosa  in  Anhalt  ist  über  4  m  lang,  über  3  m  breit  und 
75  cm  dick ,  so  daß  er  mit  9  cbm  Gestein  weit  über 
500  Ztr.  wiegt. 


Literaturbesprechungen. 


G.  Behrens:     Bronzezeit    Süddentschlands. 
Mit    24  Tafeln     und     50  Textabbildungen. 
Kataloge  des  Rom. -Germ.  Zentralmuseums 
Nr.  6.     Mainz  1916.     Preis  A  JL 
Mitten    in    der  Kriegszeit  konnte   das  Röm.- 
Germ.    Zentralmuseum    einen    neuen,     umfang- 
reichen Katalog  erscheinen   lassen,  dessen  Inhalt 
der    Bronzezeit    Süddeutsehlands    gewidmet    ist. 
Unter    Süddeutschland     versteht    der    Verfasser 
außer   den  süddeutschen  Staaten  auch  noch   die 
südliche   Rheinprovinz   (mit    Fürstentum   Birken- 
leid),   Hessen -Nassau    (mit  Kreis  Wetzlar)   und 
Südthüringen.      Auch    der    Begriff    „Bronzezeit" 


wird  in  möglichst  großer  Ausdehnung  gefaßt, 
indem  die  neolithisch-bronzezeitliehen  Übergangs- 
stnfen  ebenso  in  den  Kreis  der  Betrachtung  ge- 
zogen sind  wie  die  Frühhallstattzeit.  Danach 
ergab  sich  für  den  Verfasser  von  selbst  eine 
Einteilung  des  Stoffes  in  drei  Gruppen:  in  die 
früheste  Bronzezeit  (Rein  eck  es  Stufe  A),  die 
Hügelgräberzeit  (Stufe  B  bis  D)  und  die  späteste 
Bronzezeit  (Hallstattstufe  A),  innerhalb  deren 
eine  Gliederung  nach  geographischen  Gesichts- 
punkten vorgenommen  ist.  Die  Depotfunde 
sind  in  einem  eigenen  Abschnitt  vereinigt. 
Zusammenfassungen  am  Schluß  der  Hauptkapitel 

5 


34 


sorgen  dafür,  daß  die  Übersieh!  über  dun  großen 
Stoff,  der  natürlich  nur  in  einer  Auswahl  geboten 
werden  konnte,  gewahrt  bleibt. 

Wie  seine  Vorgänger,  so  wird  sicher  auch 
dieser  Katalog  des  Röm.-Gevm.  Zentralmuseums 
regem  Interesse  begegnen.  Wir  danken  dem 
Verfasser,  daß  er  unsere  Wissenschaft  mit  einem 
so  wertvollen  Nachschlagewerk  bereichert  hat. 
Die  gute  Ausstattung  und  der  niedrig  gehaltene 
Preis  werden  dem  Buch  in  den  weitesten  Kreisen 
Eingang  verschaffen.  Dies  wie  auch  der  täglich 
neu  hinzukommende  Stoff  dürfte  in  nicht  allzn- 
ferner  Zeit  eine  Neuauflage  des  Werkes  not- 
wendig machen,  für  die  schon  jetzt  einige 
Wünsche    und    Anregungen    vorgebracht    seien. 

Die  große  Bedeutung,  die  neuerdings  die 
Wohnstättenfunde  für  die  Sicdelungsgeschiehte 
erlangt  haben,  läßt  es  angezeigt  erscheinen,  diese 
Funde  künftighin  auszuscheiden  und  in  einem 
besonderen  Kapitel  zusammenzustellen.  Hand 
in  Hand  damit  könnte  ein  weiterer  Ausbau  der 
Illustrationen  erfolgen,  die  jetzt  schon  mit  großer 
Sorgfalt  behandelt  und  in  erfreulich  reicher 
Anzahl   beigegeben    sind.      Auch    ein    paar   Un- 


stimmigkeiten  wären  auszumerzen,  so  z.  B.  die 
Datierung  der  Tasse  von  Lerchenhaid  bei  Strau- 
bing (S.68,  Nr.  17),  die  ebenso  gewiß  der  gleichen 
Gruppe  angehört  wie  der  Krug  von  St.  Wolfgang 
(S.  69,  Nr.  22a)  und  die  Keramik  vom  Höglberg 
(S.  64,  Nr.  11)  und  aus  der  Gausrabsehen  Kies- 
grube bei  Kelheim  (S.  64,  Nr.  12).  Ein  Blick 
auf  Tafel  VI  (auf  der  statt  „Schwaben"  „Ober- 
pfalz" zu  lesen  ist)  dürfte  hiervon  überzeugen. 
In  die  Hügelgräberzeit  ist  auch  das  Beil  vom 
Stoffersberg  bei  Landsberg  (S.  64,  Nr.  6)  zu 
rücken.  Ob  der  Depotfund  von  Steinrab  (S.  59) 
nicht  doch  der  spätesten  Bronzezeit  anzugliedern 
ist,  wäre  noch  in  Erwägung  zu  ziehen.  Der  auf 
S.  227,  Nr.  549  erwähnte  Schwertgriff  von  Cab- 
lingen  ist  hier  zu  streichen.  Das  Stück  ist  mit 
dem  auf  S.  119,  Nr.  184  angeführten  identisch. 
Daß  sich  einige  unrichtige  Schreibungen  von 
Ortsnamen  in  den  Text  eingeschlichen  haben 
(z.  B.  S.  I,  Nr.  2  Kott  statt  Roth;  S.  102,  Nr.  132 
Siebichenhausen  statt  Sibichhausen)  ist  bei  der 
auf  diesem  Gebiete  selbst  an  zuständigen  Stellen 
vielfach  herrschenden  Unsicherheit  leicht  er- 
klärlich. Friedrich  Wagner. 


Um  Zusendung  von  Manuskripten,  auch 
kleineren  Mitteilungen,  bittet 

Die  Redaktion. 


Reklamationen  und  sonstige  Mitteilungen 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  K.  Hagen,  Hamburg  13,  BiuderstraCe  14,  zu  senden. 


Ausgegeben  um  :'.  August  1916 


Verlag  von   Friedr.  Vieweg  &  Sohn  in  Braunschweig 


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Korrespondenz -Blatt 


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Deutschen  Gesellschaft 


für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der  Gesellschaft 
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Sendungen    druckfertiger    Manuskripte    und    direkt,    reproduktionsfähiger    Ulustiations-Vorlagen    sind    an    den    Herausgeber, 

Prot.  Dr.  G.   Thilenius,  Generalsekretär  der  Gesellschaft  in  Hamburg  13,   Binderstraße   14,  zu  richten. 

Inhalt:  Johannes  Ranke  f.  —  Die  Vorgeschichte  Bulgariens.  Von  Univ. -Prof.  Dr.  F.  Birkn  er -München.  —  Meso- 
Hthische  Stationen  vom  Donnersberge  und  aus  der  Vorderpfalz.  Von  Dr.  C.  Melius.  —  Ein  Nephrithammer- 
fragment  in  Bad  Dürkbeim.  Von  Dr.  0.  Mehlis.  —  Ausgrabungen  in  Gr.  Piaton.  Von  Dr.  Rechenbach.  — 
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Korrespondenz -Blatt 

der 

Deutschen  Gesellschaft 

für 


Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der   Gesellschuft 
Hamburg. 


Druck   und  Verlag   von   Friedr.  Vieweg   &  Sohn   in    Braunschweig. 

XLVII.  Jahrg.    Nr.  7/9.  Jährlieh  12  Nummern.  Juli /Sept.  1916. 

Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw.  tragen  die  wissenschaftl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren ;  b.  S.  16  des  Jahrg.  1894. 

Inhalt:  Johannes  Ranke  f.  —  Die  Vorgeschichte  Bulgariens.  Von  Univ.-Prof.  Dr.  F.  Birkner-München.  — 
Mesolithische  Stationen  vom  Donnersberge  und  aus  der  Vorderpfalz.  Von  Dr.  C.  Melius.  —  Ein 
Nephrithammerfragment  in  Bad  Dürkheim.  Von  Dr.  C.  Mehlis.  —  Ausgrabungen  in  Gr.  Piaton. 
Von  Dr.  Rechenbach.  —  Literaturbesprechungen. 


Johannes  Ranke  f 

Geheimer  Hofrat  Professor  Dr.  med.  et  phil.  Johannes  Ranke,  der  Altmeister 
der  Anthropologie,  ist  am  26.  Juli  1916  in  Solin  bei  München  aus  dem  Leben  geschieden. 
In  der  Geschichte  der  anthropologischen  Forschung  und  der  Anthropologischen  Gesell- 
schaft wird  der  Name  Rankes  einen  hervorragenden  Platz  einnehmen. 

Geboren  am  23.  August  1836  zu  Thurnau  in  Oberfranken  als  Sohn  des  protestan- 
tischen Dekans  nachmaligen  o.  ö.  Professors  in  Erlangen  und  Oberkonsistorialrats  Dr. 
Friedrich  Heinrich  Ranke  und  seiner  Ehefrau  Selma,  Tochter  des  Kgl.  Geheimrates 
Professors  Dr.  G.  H.  von  Schubert,  absolvierte  er  das  Gymnasium  zu  Ansbach  und 
studierte  dann  au  den  Universitäten  München,  Tübingen,  Berliu  und  Paris.  Durch  den 
Verkehr  mit  seinem  Großvater  Schubert,  dem  geistreichen  Naturphilosophen,  war  in 
ihm  schon  in  früher  Jugend  die  Liebe  zur  Natur  geweckt  worden,  was  ihn  veranlaßte, 
auf  der  Universität  neben  den  medizinischen  Fächern  sich  auch  den  naturwissenschaft- 
lichen Studien  eingehend  zu  widmen.  Er  hatte  das  Glück,  bei  hervorragenden  Lehrern 
zn  hören,  mit  denen  er  zum  Teil  in  freundschaftlichen  Verkehr  trat.  Vor  allem  der 
allen  unbewiesenen  Hypothesen  abholde  v.  Liebig  übte  einen  entscheidenden  Einfluß 
auf  Rankes  ganze  wissenschaftliche  Denkweise,  er  führte  ihn  aus  dem  Banne  der  Natur- 
philosophie des  Elternhauses  zur  nüchternen  Methodik  des  Naturforschers,  der  er  bis  zu 
seinem  Tode  treu  blieb.  Schon  während  seiner  Universitätsstudien  wurde  Ranke  mit 
Rudolf  Virchow  bekannt,  und  diese  Bekanntschaft  mit  dem  Forscher  der  strengsten 
naturwissenschaftlichen  Kritik  hat  sich  zu  einer  treuen  Freundschaft  ausgestaltet,  welche 
von  großem  Einfluß  auf  die  ganze  wissenschaftliche  Tätigkeit  Rankes  war.  Im  Jahre 
1861  promovierte  er  in  der  medizinischen  Fakultät  in  München  und  habilitierte  sich  1863 


36 


daselbst  für  Physiologie.  Schon  im  Wintersemester  1863,64  hielt  er  seine  erste  Vor- 
lesung über  Anthropologie,  die  er  seit  dieser  Zeit  ununterbrochen  gehalten  hat.  Bis  zum 
Jahre  1867  war  er  als  Assistent  am  Anatomisch -physiologischen  Institut  zuerst  unter 
v.  Bischoff.  dann  unter  v.  Voit  tätig.  1866  verheiratete  er  sich  kurz  vor  dem  Kriege, 
den  er  als  Bataillonsarzt  auf  Kriegsdauer  mitmachte,  mit  Anna  Bever,  der  Tochter 
des  Ministerialdirektors  v.  Bever,  die  ihm  in  Leid  und  Freud  der  akademischen  Lauf- 
bahn bis  zu  seinem  Lebensende  treu  zur  Seite  stand.  1869  starb  J.  Beraz,  der  Nach- 
folger seines  Großvaters  Schubert,  und  Ranke  erhielt  die  dadurch  freigewordene  außer- 
ordentliche Professur  für  allgemeine  Naturgeschichte  an  der  Universität  München.  1882 
ernannte  ihn  die  philosophische  Fakultät,  II.  Sektion,  zum  Ehrendoktor  und  1886  wurde 
er  auf  die  neugegründete  ordentliche  Professur  für  Anthropologie  in  München  berufen. 
Nicht  zuletzt  seiner  erfolgreichen,  wissenschaftlichen  Tätigkeit  ist  es  zu  danken,  daß  an 
der  Münchener  Universität  in  der  philosophischen  Fakultät  für  Anthropologie  ein  ordent- 
licher Lehrstuhl  errichtet  wurde.  Die  durch  ihn  1885  gegründete  prähistorische  Ab- 
teilung der  paläontologischen  Sammlung  wurde  1889  ein  selbständiges  Konservatorium 
und  Ranke  wurde  Vorstand  derselben.  In  der  Kgl.  Bayer.  Akademie  der  Wissen- 
schaften, welche  Ranke  1893  zum  außerordentlichen  und  1902  zum  ordentlichen  Mit- 
glied« wählte,  war  er  besonders  in  der  Kommission  für  Erforschung  der  Urgeschichte 
Bayerns,  seit  1901  als  dereu  Vorsitzender,  tätig,  und  noch  wenige  Jahre  vor  seinem  Tode 
veranlaßt*  er  im  Kriegsjahre  1914  die  Gründung  der  Akademischen  Kommission  für 
Höhlenforschung  in  Bayern,  deren  Aufgabe  es  ist,  systematisch  in  den  Höhlen  Bayerns 
nach  Spuren  des  vorgeschichtlichen  Menschen  zu  suchen. 

Seine  erfolgreiche  wissenschaftliche  Tätigkeit  blieb  auch  sonst  nicht  ohne  An- 
erkennung; er  wurde  Ehrenvorsitzender  der  Münchener  und  Deutschen  Anthropologischen 
Gesellschaft;  eine  große  Reihe  von  wissenschaftlichen  Vereinen  hat  ihn  zum  Ehrenmit- 
gliede  ernannt;  Orden  und  Titel  wurden  ihm  zuteil. 

Es  kann  hier  nur  versucht  werden,  in  großen  Zügen  Rankes  wissenschaftliche 
Bedeutung   zu   würdigen. 

Die  auf  breiter  Grundlage  aufgebauten  naturwissenschaftlichen  Studien,  in  Ver- 
bindung mit  den  Arbeiten  auf  medizinischem,  vor  allem  anatomischem  und  physio- 
logischem Gebiete,  haben  den  Grundstein  gelegt  zu  den  späteren  anthropologischen 
Forschungen  und  Arbeitern  Dieser  Epoche  verdankt  die  Wissenschaft  eine  Reihe  von 
Abhandlungen  über  das  Blut,  die  Nervenphysiologie  und  die  Ernährung  des  Menschen 
und  das  zusammenfassende  WTerk:  „Grundzüge  der  Physiologie  des  Menschen.  Mit  Rück- 
sicht auf  die  Gesundheitspflege  für  das  praktische  Bedürfnis  der  Arzte  und  Studierenden 
zum  Selbststudium  bearbeitet.  Leipzig  1869",  das  vier  Auflagen  erlebte  und  ins  Un- 
garische übersetzt  wurde. 

Als  auf  Anregung  der  Anthropologischen  Sektion  der  Naturforscherversammlung 
in  Innsbruck  im  Jahre  1869  ein  Aufruf  zur  Gründung  von  Anthropologischen  Gesell- 
schaften an  alle  deutschen  Forscher  erging,  hat  sich  Ranke,  der  ja  schon  seit  1863 
Vorlesungen  über  Anthropologie  hielt,  mit  Begeisterung  dieser  Bewegung  angeschlossen 
und  beteiligte  sich  an  der  Gründung  der  Münchener  Anthropologischen  Gesellschaft  am 
18.  März  1870.  Dadurch,  daß  sich  die  Münchener  Gesellschaft  mit  einer  Anzahl  anderer 
anthropologischer  Gesellschaften  am  1.  April  des  gleichen  Jahres  in  Mainz  zur  Deutschen 
Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte  zusammenschloß,  kann 
Ranke  auch  als  Gründungsmitglied  dieser  betrachtet  weiden.  Von  Anfang  an  hat  sich 
J.  Ranke  eifrig  an  den  Arbeiten  der  Münchener  Gesellschaft  beteiligt.  Während  er  im 
Jahre  1873  in  der  Gesellschaft  noch  über  ein  mehr  physiologisches  Thema,  über  Nerven- 
kraft, sprach,  beteiligte  er  sich  seit  dem  Jahre  1876  mit  anthropologischen  Vorträgen 
in  den  beiden  Gesellschaften.  Wenn  bei  der  Generalversammlung  der  Deutschen  Anthropo- 
logischen Gesellschaft  1875  in  München  J.  Rankes  Name  nicht  in  den  Vordergrund 
tritt,  so  dürfjn  wir  trotzdem  annehmen,  daß  er  regen  Anteil  an  den  Vorbereitungs- 
arbeiten, vor  allem  an  dem  Zustandekommen  der  Ausstellung  vorgeschichtlicher  Gegenstände 


37 


aus  Bayern  genommen  hatte.  Die  Kongreßtage  1875  reiften  in  der  Münchener  Gesell- 
schaft den  Entschluß,  eine  eigene  wissenschaftliche  Zeitschrift  zur  Veröffentlichung  der 
Arbeiten  der  Gesellschaft  unter  dem  Titel  „Beiträge  zur  Anthropologie  und  Urgeschichte 
Bayerns"  herauszugeben,  deren  Schriftleitung  J.  Ranke  anvertraut  wurde,  zuerst  in  Ver- 
bindung mit  Prof.  N.  Rüdinger,  dann  allein,  zuletzt  unter  Mitwirkung  des  Verfassers 
dieses  Nachrufes.  19  Bände  konnten  seit  dem  Jahre  1877  erscheinen  mit  einer  reichen 
Fülle  wichtiger  Beiträge,  nicht  zum  mindesten  aus  der  Feder  Rankes  selbst.  Seit  1875 
bis  1908  hat  Ranke  alle  allgemeinen  Versammlungen  mitgemaoht.  Im  Jahre  1877  auf 
der  Versammlung  in  Konstanz  wurde  er  dem  damaligen  Generalsekretär  Prof.  J.  Koll- 
mann zur  Unterstützung  beigegeben,  ihm  oblag  die  Sehriftleitung  des  Berichtes.  Als 
dann  Kollmann  nach  Hasel  berufen  worden  war,  übernahm  er  die  Stelle  des  General- 
sekretärs und  erstattete  als  solcher  auf  dem  Kongresse  in  Kiel  1878  zum  ersten  Male 
den  wissenschaftlichen  Jahresbericht.  Er  verstand  es,  während  seiner  Tätigkeit  als 
Generalsekretär  bis  zur  allgemeinen  Versammlung  in  Frankfurt  a.  M.  im  Jahre  1908, 
also  volle  30  Jahre,  diese  Jahresberichte  zu  einer  übersieht  über  die  wichtigsten  Ergeb- 
nisse der  anthropologischen  Forschung  zu  gestalten,  die  Spreu  vom  Weizen  zu  sondern 
und  in  vornehmer  Kritik  den  Wert  der  Neuerscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Anthropo- 
logie zur  Darstellung  zu  bringen.  Diese  Berichte  spiegeln  an  manchen  Stellen  seine 
Anschauung  wieder,  so  daß  ein  künftiger  Biograph  Rankes  in  diesem  Jahresberichte 
manchen  wertvollen  Beitrag  zur  Charakterisierung  von  Rankes  Anschauungen  linden 
wird.  Neben  diesen  Berichten  hat  es  Ranke  aber  nie  unterlassen,  auf  den  Kongressen 
auch  noch  über  seine  und  seiner  Schüler  wissenschaftliche  Arbeiten  zu  referieren.  Ein 
wesentliches  Verdienst  an  dem  Zustandekommen  der  Verständigung  über  ein  gemeinsames 
kraniometrisches  Verfahren,  das  auf  den  Konferenzen  in  München,  21.  September  1877, 
und  in  Berlin,  9.  August  1880,  vorberaten  und  in  Frankfurt  a.  M.  1882  beschlossen  worden 
war,  ist  Ranke  zuzuschreiben.  67  Forscher  des  In-  und  Auslandes  hatten  sich  bis  zum 
Januar  1883  dieser  „Frankfurter  craniometrischen  Verständigung"  angeschlossen.  Im 
Jahre  1886  war  es  dann  gelungen,  60  Forscher  aus  ganz  Europa  dafür  zu  gewinnen, 
daß  sie  die  „Internationale  Vereinigung  über  Gruppeneinteilung  und  Bezeichnung  der 
Schädelindices",  welche  eine  Erweiterung  der  Frankfurter  Verständigung  darstellt,  an- 
nahmen. Damit  war  ein  wichtiger  Schritt  vorwärts  getan  zur  einheitlichen  Verarbeitung 
des  in  den   europäischen  Museen  vorhandenen  Materials  an  Rassenschädeln. 

Als  Generalsekretär  hatte  er  die  Schriftleitung  des  Korrespondenzblattes  und  des 
Archivs  für  Anthropologie,  in  welcher  er  seit,  1903  von  G.  Thilenius  unterstützt  wurde. 

Es  würde  zu  weit  fühlen,  alle  die  Kommissionen  aufzuführen,  welche  innerhalb 
der  Deutschen  Anthropologischen  Gesellschaft  in  Tätigkeit  traten,  um  Fragen,  deren 
Lösung  einzelnen  nicht  möglich  war,  durch  Zusammenarbeit  vieler  der  Lösung  näher  zu 
bringen.  An  allen  diesen  Kommissionen  hat  Ranke  eifrig  mitgearbeitet  und  meist  die 
Durchführung  als  Generalsekretär  geleitet. 

Wie  Ranke  in  der  Deutschen  Anthropologischen  Gesellschaft  ein  Menschenalter 
lang  die  Seele  aller  Bestrebungen  war,  bis  er  die  Generalsekretärstelle  in  Frankfurt  a.  M. 
im  Jahre  1908  niederlegte  und  als  Anerkennung  seiner  hervorragenden  Verdienste  um 
die  Gesellschaft  zum  Ehrenvorsitzenden  ernannt  wurde,  so  hat  ihm  auch  die  Anthropo- 
logische Gesellschaft  in  München  sehr  viel  zu  danken,  zuerst  als  1.  Schriftführer,  dann 
seit  1888  als  1.  Vorsitzender.  Auch  hier  wurde  ihm  im  Jahre  1910  durch  die  Wahl  zum 
Ehrenvorsitzenden  der  Dank  der  Gesellschaft  äußerlich   zum  Ausdruck  gebracht. 

Die  wissenschaftlichen  Arbeiten  Rankes  beschäftigten  sich  in  erster  Linie  mit  der 
Erforschung  der  anthropologischen  und  prähistorischen  Verhältnisse  Bayerns.  Ranke 
sammelte  und  bearbeitete  die  in  den  Ossnarien  aufbewahrten  Schädel  und  lieferte  wichtige 
Beiträge  zur  Geschichte  der  Schädeltypen  in  Bayern.  [Beiträge  zur  physischen  Anthropo- 
logie der  Bayern.  München  1883  (siehe  auch  verschiedene  Bände  der  Beiträge  zur 
Anthropologie  und  Urgeschichte  Bayerns);  Frühmittelalterliche  Schädel  und  Gebeine  aus 
Lindau.     Sitzber.  d.  math.-phys.  Kl.  d.  Kgl.  Bayer.  Akad.  d.  Wiss.  XXVII,   1897,  Heft  1.] 


38 


Abgesehen  von  der  Verteilung  der  Schädelformen  konnte  er  feststellen,  daß  trotz  aller 
Völkerverschiebungen ,  welche  während  der  Völkerwanderurjgsperiode  auf  bayerischem 
Boden  stattgefunden  haben,  sich  jetzt  nach  anderthalb  Jahrtausenden  in  wesentlichen 
Zügen  das  gleiche  Bild  der  kraniologischen  Verhältnisse  wieder  findet,  welches  vor  der 
Völkerwanderung  bestanden  hat.  Im  Nordwesten  haben  die  Dolicho-  und  Mesokephalen 
ihre  alten  Sitze  bewahrt  und  ebenso  im  Süden  des  Landes  die  Brachykephalen.  Ranke 
liai  deshalb  den  Satz  aufgestellt,  daß  im  großen  und  ganzen  die  Kopfform  an  der  geo- 
graphischen  Provinz  haftet,  daß  die  Schädelform  „bodenständig"  ist.  (Zur  Rassenf  rage. 
Fiühlingl,  1908.)  Die  scheinbaren  Tierähnlichkeiten  im  menschlichen  Körper  betrachtete 
er  nicht  als  Beweise  für  die  Abstammung  des  Menschen  von  tierischen  Entwickelungs- 
stadien,  sondern  suchte  sie  aus  dem  „allgemein  anerkannten  Satze"  zu  erklären,  „daß  in 
gesetzmäßiger,  d.  h.  logischer  Weise  die  gesamte  animale  Welt  in  körperlicher  Beziehung 
zu  einer  idealen  Einheit  zusammengeschlossen  ist,  an  deren  Spitze  der  Mensch  steht". 
In  diesem  Sinne  ist  nach  ihm  das  Tierreich  der  zergliederte  Mensch,  und  der  Mensch 
das  Paradigma  des  gesamten  Tierreiches.  Da  der  menschliche  Körper  in  allen  seinen 
Bauverhältnissen  durch  das  Gehirn  beeinflußt  ist,  darf  man  nach  Ranke  den  Menschen 
als  spezifisches  „Gehirnwesen"  bezeichnen,  die  Tiere  dagegen  als  „Darmwesen".  Die 
Rassenunterschiede  innerhalb  des  Menschengeschlechts  sind  in  erster  Linie  aus  der 
Ontogenie  zu  erklären,  erst  wenn  diese  Methode  versagt,  kann  man  auf  die  hypothetische 
Phylogenie  zurückgreifen.  „Das  was  uns  bei  den  Erwachsenen  als  individuelle  und 
rassenhafte  Verschiedenheit  entgegentritt,  ist  nichts  anderes  als  ein  Stehenbleiben  oder 
ein  weiteres  Fortschreiten  auf  der  Bahn  der  Ausgestaltung,  welche  das  Wachstumsgesetz 
für  jeden  Menschenschädel  verlangt."  Der  Ausgangspunkt  ist  aber  nicht  die  niedere 
Tierform,  sondern  die  Form  des  extrem-menschlichen  Typus.  Was  für  den  Schädel  gilt, 
ist  auch  für  die  übrigen  Körpereigentümlichkeiten  anzunehmen.  (Über  die  individuellen 
Variationen  im  Schädelbau  des  Menschen.  Korr.-Bl.  d.  Deutschen  Anthropol.  Ges.  1897, 
Nr.  11/12;  Beiträge  zur  physischen  Anthropologie  der  Bayern.  II.  Über  einige  gesetz- 
mäßige Beziehungen  zwischen  Schädelgrund,  Gehirn-  und  Gesichtsschädel.  München  1892.) 
Diese  Anschauung  Rankes  kommt  in  der  Preisaufgabe  zum  Ausdruck,  welche  er  im 
Jahre  1892  in  der  philosophischen  Fakultät,  2.  Sektion,  stellte;  sie  lautet:  „Durch  neuere 
Untersuchungen  ist  festgestellt  worden,  daß  einige  sogenannte  individuelle  oder  rassen- 
hafte Eigenschaften  des  Menschen  sich  entwickelungsgeschichtlich  als  Hemmungs-  oder 
Exzeßbildung  erklären.  Es  wird  nun  die  Aufgabe  gestellt,  wenn  möglich,  weitere  Be- 
weise für  diese  neu  gewonnene  wissenschaftliche  Anschauung  beizubringen." 

Seine  Untersuchungen  an  bayerischen  Schädeln  und  an  stark  deformierten  Peruaner- 
schädeln (Über  altperuanische  Schädel  von  Ancon  und  Pachacamäc.  Abhandlungen  d. 
Kgl.  Bayer.  Akad.  d.  Wiss.,  II.  Kl.,  Bd.  XX  und  XXIII)  führten  ihn  zu  der  Erkenntnis, 
daß  die  Schädel,  abgesehen  von  ihrer  durch  die  Bodenständigkeit  bedingten  Form,  auch 
noch  durch  äußere  und  innere  Faktoren  beeinflußt  werden.  Starke  Brachykephalie  kann 
■/..  B.  eine  Folge  der  Lage  des  Kopfes  bei  der  Pflege  der  Neugeborenen  und  Kinder 
sein,  außerdem  hat  aber  auch  die  Natur  im  allgemeinen  die  Tendenz,  durch  Verringerung 
der  Kauwerkzeuge  und  durch  gesteigertes  Wachstum  des  Gehirns  den  Schädel  breiter 
und  runder,  also  brachykephaler  zu  gestalten.  Ranke  bekämpft  deshalb  die  „lediglich 
auf  Unkenntnis  des  wahren  Sachverhaltes  begründete  Lehre  anthropologischer  Dilettanten 
von  der  angeblichen  physischen  und  geistigen  Herrenform  der  Dolichokephalie"  (Zur 
Rassenfrage.  Frühling  I,  1908).  Ranke  war  ein  Gegner  der  „modernen"  Rassen- 
theoretiker, „an  deren  Spitze  der  Franzose  Gobineau  und  der  Engländer  Chamberlain 
stehen",  deren  Lehren  ein  Ausdruck  sind  „für  die  in  neuerer  Zeit  in  erschreckender 
Weise  angewachsenen  völkertrennenden  Instinkte".  Schon  in  dem  Vorwort  zu  der  ersten 
Auflage  seines  Werkes  „Der  Mensch"  schreibt  er:  „Ebenso  absichtlich  wurden,  den  bis- 
herigen Traditionen  der  exakten  Anthropologie  in  Deutschland  entsprechend,  alle  Über- 
griffe von  dem  Boden  der  Naturbeobachtung  auf  jenen  der  Politik,  Philosophie  und 
Religion  vermieden.     Es    verbietet   dies    schon    die  Würde    der  Wissenschaft,   deren   Er- 


39 


gebnisse  und  Fragen,  uni  wertvoll  und  interessant  zu  sein,  keiner  „pikanten"  Seitenblicke 
nach  fremden  Gebieten  bedürfen.  Dazu  kommt  aber  noch  eine  weitere  Erwägung.  Man 
hat  bisher  nur  zu  häufig,  namentlich  in  populär -wissenschaftlichen  Werken,  den  augen- 
blicklichen Standpunkt  der  naturwissenschaftlichen,  ewig  wechselnden  Hypothese  mit  den 
ebenso  schwankenden  politisch-philosophischen  Tagesrneinungen  verquickt;  so  mußte  not- 
wendig in  dem  der  exakten  Naturforschung  fernstehenden  Publikum  die  verhängnisvolle 
Meinung  erweckt  werden,  als  gäbe  es  naturwissenschaftliche  Dogmen,  welche  den  höchsten 
Idealen  des  Menschengeistes  feindselig  gegenüberstehen."  Die  in  diesen  Worten  aus- 
gedrückte Stellungnahme  gegen  das  Hineinzerren  der  anthropologischen  Forschung  in  das 
politische  Gebiet  hat  er  bis  zu  seinem  Lebensende  trotz  mannigfacher  Angriffe  vertreten. 
In  der  vor  kurzem  erschienenen  Besprechung  von  „F.  Hertz,  Rasse  und  Kultur",  schreibt 
er:  „Es  wird  in  schroffem  Gegensatz  zu  den  Tatsachen  der  Anthropologie  "die  Lehre 
gepredigt,  daß  innerhalb  der  Menschheit,  ja  innerhalb  der  Nationen,  unüberbrückbare 
Abgründe  liegen  und  Rassengegensätze  walten,  die  jeder  Versöhnung  widerstreben«.  So 
wurde  Feindschaft  zwischen  den  Nationen  und  Völkern  gesät,  und  wir  sehen  die  Folgen 
in  dem  schrecklichen  uns  aufgedrungenen  Kriege,  in  dem  angeblichen  instinktiven  Rassen- 
haß zwischen  den  "germanischen«  Deutschen  und  den  »keltischen-  Engländern,  deren 
enge  Blutsverwandtschaft  und  gemeinsame  kulturelle  Arbeit  dem  Friedensjahrhundert 
seit  der  gemeinsamen  Niederringung  der  Napoleonischen  Übermacht  die  Signatur  auf- 
gedrückt hat.  Ein  ähnlich  offenkundiger  Unsinn  ist  es,  wenn  man  in  unserem  Volke 
einen  Gegensatz  zwischen  den  »minderbegabten«  Kurzköpfen  und  den  »höher  veranlagten« 
Langköpfen  zu  konstruieren  versucht  hat.  Die  herrlichen  Erfolge  unserer  Heere  gegen 
eine  Welt  von  Feinden,  wobei  in  treuester  Waffenbrüderschaft  alle  Stämme  und  alle 
Einzelneu,  mögen  sie  kurz-  oder  langköpfig  sein,  zusammenstehen,  werden  auch  mit  diesem 
lächerlichen  Vorurteil  aufräumen,  das  in  keiner  Weise  tatsächlich  begründet  ist  oder  sich 
begründen  lassen  kann."    (Arch.  f.  Anthropol.,  N.  F.  XV,   1916,  S.  73.) 

Wenn  Ranke  es  vermied,  in  die  Darstellungen  der  Forschungsergebnisse  Hypo- 
thesen aufzunehmen,  so  bedeutet  das  nicht,  daß  er  ein  Gegner  jeder  Hypothese  war, 
aber  er  war  mit  Johanues  Müller  der  Anschauung,  daß  die  Hypothese  nur  in  das 
Laboratorium  des  Forschers  gehört.  Es  ist  für  denjenigen,  welcher  Rankes  An- 
schauungsweise kannte,  leicht  erklärlich,  daß  er  auf  dem  Lindauer  Kongreß  in  einer  für 
ihn  ungewöhnlichen  Schärfe  gegen  die  geistreiche  Abstammungstheorie  von  H.  Klaatsch 
als  „phantasievolles  Gemälde"  protestierte. 

Mit  besonderer  Freude  und  mit  Erfolg  leitete  er  die  Untersuchungen  der  Skelett- 
reste  der  Kaisergräber  im  Dome  zu  Speyer,  der  Fürstengräber  in  der  Alexanderkirche  in 
Zweibrückeu  und  der  Grüfte  im  Dome  zu  Worms. 

Auf  dem  Gebiete  der  prähistorischen  Forschung  hat  Rauke  die  ersten  Phasen  der 
Entwickelung  dieser  Fächer  mitgemacht;  er  war  erfolgreich  mittätig,  durch  die  natur- 
wissenschaftlich-paläontologische Forsehungsweise  der  Wissenschaft  vom  Spaten  unsere 
Kenntnis  vom  vorgeschichtlichen  Menschen ,  von  seinen  körperlichen  und  kulturellen 
Eigentümlichkeiten  zu  fördern.  Er  hielt  es  zwar  von  Anfang  an  als  letztes  Ziel  der 
anthropologisch  -  urgeschichtlichen  Forschung,  die  Resultate  der  Spatenforschung  an 
die  durch  schriftliche  Dokumente  beglaubigte  Geschichte,  das  Hauptarbeitsgebiet  der 
klassischen  Archäologie,  anzugliedern,  war  aber  bis  zuletzt  der  Anschauung,  daß  die 
prähistorische  Wissenschaft  besser  durch  naturwissenschaftlich  geschulte  Forscher  ge- 
fördert werde,  als  durch  solche,  welche  nur  nach  archäologischen  Forschungsmethoden 
arbeiteten. 

Durch  seine  „Anleitung  an  der  Hand  klassischer  Beispiele  zu  anthropologisch- 
vorgeschichtlichen  Beobachtungen  im  Gebiete  der  deutschen  und  österreichischen  Alpen" 
(Wien  1881)  hat.  er  zahlreiche  Vereine  und  Private  zur  Mitarbeit  an  der  Erforschung 
der  Vorgeschichte  angeregt;  er  hat  auch  selbst  aktiv  an  der  vorgeschichtlichen  Forschung 

o  o  ö    '  CT  3 

in  Bayern  sich  beteiligt  (Die  natürlichen  Höhlen  in  Bayern.  Beiträge,  Bd.  II;  Die  Felsen- 
wohnungen der  jüngeren  Steinzeit  in   der  Fränkischen  Schweiz  und  die  vorgeschichtliche 


40 


Steinzeit  im  rechtsrheinischen  Bayern.  Beiträge,  Bd.  III;  Feuerböcke  und  Bratspieße  aus 
prähistorischer  Zeit  in  Bayern.  Korr.-Bl.  1906).  Ohlensehlagers  Prähistorische  Karte 
Bayerns  hat  Hanke  tatkräftig  gefördert.  Die  anthropologisch-prähistorische  Sammlung 
des  Staates  in  München,  deren  Leiter  er  seit  Gründung  bis  zu  seinem  Tode  war,  ver- 
dankt ihm  nicht  nur  ihre  Entstehung,  er  war  bis  in  die  letzten  Tage  seines  Lebens 
bestrebt,  sie  zu  vermehren  und  auszugestalten.  Wesentliche  Förderung  verdankt  die 
Erforschung  des  vorgeschichtlichen  Bayerns  seiner  Tätigkeit  als  Mitglied  und  Vorsitzender 
der  Akademischen  Kommission  für  Erforschung  der  Vorgeschichte  Bayerns.  Au  der 
Untersuchung  der  Höhlenwohnungen  Bayerns  hat  er  schon  in  den  70er  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  mitgewirkt,  und  noch  während  des  Krieges  die  Gründung  der 
Akademischen  Kommission  für  Höhlenforschung  veranlaßt,  deren  Aufgabe  es  ist,  die 
Höhlen  Bayerns  systematisch  nach  Resten  des  vorgeschichtlichen  Menschen  zu  durchsuchen. 

Alle  seine  wissenschaftlichen  Ergebnisse,  sowie  die  Resultate  der  anthropologisch- 
prähistorischen  Forschung  hat  J.  Rauke  in  dem  Werke  „Der  Mensch",  das  1886  zum 
ersten  Male  erschien,  bis  1912  drei  Auflagen  erlebte  und  in  fremde  Spracheu  übersetzt 
wurde,  einem  großen  Kreise  von  Gebildeten  in  anschaulicher  Form  und  Sprache  zu- 
gänglich gemacht.  Das  Werk  hat  ihn  in  Laienkreisen  berühmt  gemacht,  was  aber  die 
Fachwelt  darüber  denkt,  hat  R.  Virchow  auf  dem  Kongresse  in  Stettin  in  folgende 
Worte  gefaßt:  „Aber  Herr  Johannes  Ranke  hat  noch  etwas  anderes  gemacht.  Er  hat 
a;emaeht,  was  bisher  in  der  Vollständigkeit  überhaupt  nicht  gemacht  war.  Er  hat  eine 
große  Anthropologie  ueschriebeu  ....  Das  will  ich  aber  sagen,  daß  die  Deutsche  An- 
thropologische Gesellschaft  glücklich  ist,  ein  solches  Buch  zu  besitzen  und  stolz  darauf, 
daß  es  in  Deutschland  gemacht  worden  ist,  und  besonders  stolz  darauf,  daß  ihr  General- 
sekretär es  war."  Die  dritte  Auflage,  welche  Rauke  1912  vollendete,  stellt  nicht  eine 
einfache  Wiederholung  der  zweiten  Auflage  dar,  sie  wird  vielmehr  vollständig  den 
reichen  Ergebnissen  der  anthropologischen  Forschungen  auf  allen  Gebieten  gerecht,  sie 
bringt  den  gegenwärtigen  Stand  unserer  Kenntnis  vom  Mensehen  in  objektiver,  hypo- 
thesenfreier Weise  zur  Darstellung. 

Über  50  Jahre  war  es  dem  Verstorbenen  gegönnt,  in  Wort  und  Schrift  im  Dienste 
der  Wissenschaft  tätig  zu  sein.  Tauseude  von  Hörern  und  Schülern  führte  er  ein  in 
die  Geheimnisse  der  Anthropologie;  sie  denken  alle  mit  Vergnügen  an  die  Stunden,  da 
sie  seinen  wohlgeformten,  anschaulichen  Vorträgen  lauschen  durften;  Tausende  und  Aber- 
tausende haben  aus  seiuen  Schriften  ihr  Wissen  bereichert  und  verehren  in  ihm  den 
bedeutenden  Forscher  und  Lehrer.  Alle  diejenigen  aber,  welche  mit  ihm,  sei  es  als 
Kollegen  an  der  Universität,  in  der  Akademie  der  Wissenschaften  oder  in  den  sonstigen 
Vereinigungen,  deren  Mitglied  er  war,  sei  es  als  Schüler,  die  unter  ihm  den  Doktorgrad 
erwarben,  sei  es  als  Teilnehmer  an  den  Versammlungen  der  Münchener  und  Deutschen 
Anthropologischen  Gesellschaften,  näher  in  Verbindung  traten,  haben  Ranke  auch  als 
Menschen  schätzen  und  hochachten  gelernt.  Sie  werden  ihm,  dem  hervorragenden  Ge- 
lehrten, dem  liebenswürdigen,  stets  wohlwollenden  Mensehen  und  Lehrer,  ein  dauerndes 
Andenken  bewahren;  sein  Geist  wird  in  seinen  Schülern  weiter  wirken  zum  Vorteil  der 
anthropologischen  Wissenschaft.  F.  Birkner. 


II 


Die  Vorgeschichte  Bulgariens. 

Von  Univ.-Prof.  Dr.  F.  Birkner-Miinehen. 

Mit  einer  Kartenskizze. 


Die  Erforschung  der  Vorgeschichte  Bulgariens 
wurde  erst  in  neuerer  Zeit  in  ausgedehnterem 
Maße  in  Angriff  genommen.  Wohl  haben  ge- 
legentlieh Reisende  auf  die  zahlreichen  Hügel 
in  der  europäischen  Türkei  hingewiesen,  welche 
längs  der  Verkehrsstraßen  vorhanden  sind,  und 
es  wurden  auch  bei  den  Straßen-  und  Bahn- 
bauten im  vorigen  Jahrhundert  gelegentlich  der 
eine  oder  andere  dieser  Hügel  umgegraben,  ohne 
daß  aber  deren  Bedeutung  für  die  Vorgeschichte 
dadurch  vollständig  klargestellt  worden  wäre. 
Als  die  Wiener  Anthropologische  Gesellschaft 
als  eine  ihrer  ersten  Arbeiten  die  kartographische 
Festlegung  der  Tumuli  in  Österreich -Ungarn 
und  den  angrenzenden  Ländern  beschloß,  haben 
F.  v.  Hochstetter  und  F.  Kanitz  es  über- 
nommen, die  Eintragung  der  in  der  Türkei  vor- 
kommenden Tumuli  zu  besorgen.  Die  im  Jahre 
1870  bekannten  Hügel  in  Bulgarien  und  Thrazien 
schätzte  v.  Hochstetter  auf  5-  bis  600,  welche 
nach  ihm  „nie  im  Gebirge,  sondern  ausschließ- 
lich in  waldlosen  Ebenen  oder  auf  niederen 
Plateaus  angetroffen  werden,  d.  h.  in  den  frucht- 
barsten, am  leichtesten  zugänglichen  Gegenden, 
die  schon  in  den  allerältesten  Zeiten  der  Wohn- 
platz zahlreicher  Volksstämme  gewesen  sein 
müssen"  :). 

Über  die  Bedeutung  dieser  Hügel  und  deren 
Alter  herrschte  damals  noch  keine  Klarheit. 
Hochstetter  nennt  sie  direkt  Grabhügel.  Das, 
was  man  bis  dahin  von  den  gelegentlichen  Aus- 
grabungen wußte,  schien  dieser  Ansicht  recht- 
zugeben. Es  wurden  z.  B.  bei  Papasli  an  der 
Eisenbahnstrecke  zwischen  Adrianopel  und  Philip- 
popel nach  dem  Berichte  des  Ingenieurs  E.  Zeller 
in  einem  Hügel  unter  einer  Anzahl  von  Knochen 
drei  Urnen  (mit  vier  Buckeln  am  Umfang  und 
zwei  kleineren  Löchern  am  oberen  Rande)  ge- 
funden: in  einer  Urne  befanden  sich  zwei  tür- 
kische Kupfermünzen  aus  dem  14.  bzw.  15.  Jahr- 
hundert: in  einem  anderen  Hügel  wurde  eine 
große  Masse  von  Knochen  (Schädel  im  Zentrum 


1)  F.  v.  Hochstetter,  Über  das  Vorkommen  alter 
Grabhügel  in  der  europäischen  Türkei.  Mitt.  d.  Wien, 
Anthrop.  Ges.  I,  S.  93  bis  101,  1870.  —  Weitere  An- 
gaben über  das  Vorhandensein  von  Tumuli  geben  A.  Boue, 
Aufzählung  von  Tumuli  oder  alten  Grabhügeln  in  der 
europäischen  Türkei,  ebenda  S.  156  u.  157  ;  M.  E.  Weiser, 
Thracieu    und    seine    Tumuli,    ebenda   II,    S.  147,    1871. 


des  Tumulus  liegend),  eine  große  Vase  und 
ein  dem  Handschar  ähnliches,  gänzlich  durch 
Rost  zerfressenes  Schwert  zutage  gefördert1). 
Weitere  Ausgrabungen  nahm  Dr.  M.  E.  Weiser 
vor2).  Der  eine  Hügel  (Nr.  2)  barg  ein  ans 
flachen  Ziegeln  hergestelltes,  innen  mit  Ziegel- 
mehl glatt  gestrichenes,  von  einer  mächtigen 
Steinplatte  bedecktes  Grab  mit  Skelettknochen, 
eiserne  Nägel,  Perlen  ('?),  Glasresten;  ein  an- 
derer Hügel  (Nr.  4)  enthielt  ebenfalls  ein  aus 
Ziegeln  hergestelltes  Grab  mit  Gefäßresten, 
einige  Stücke  Glas,  eine  Münze  mit  griechischer 
Inschrift.  Wir  haben  es  somit  wohl  sicher  mit 
Gräbern  zu  tun,  deren  Zeit  aber  nach  den  An- 
gaben Weisers  sich  nicht  bestimmen  läßt;  viel- 
leicht könnten  die  von  Weiser  der  Gesellschaft 
übersandten  Abbildungen  weitere  Anhaltspunkte 
liefern.  Nach  Angaben  eines  Lehrers  von 
Kezanlyk  soll  in  einem  Hügel  bei  Philippopel 
in  einem  gemauerten  Grabe  ein  Skelett  in 
sitzender  Stellung  gefunden  worden  sein,  dessen 
Haupt  mit  einem  Goldreifen  geschmückt  war. 
Außerdom  sollen  noch  weitere  goldene  Wert- 
gegenstände und  zwei  große  Urnen,  die  eine 
mit  etwas  Öl,  in  demselben  enthalten  gewesen 
sein;  an  der  Decke  sei  eine  herabhängende 
Lampe  befestigt  gewesen  (S.  227/28).  Vielleicht 
handelt  es  sich  in  diesem  Falle,  wenn  die  An- 
gaben richtig  sind,  um  einen  höheren  orthodoxen 
Priester,  der  wie  die  Patriarchen  von  Kon- 
stantinopel in  sitzender  Stellung  begraben  wurde. 

Aus  Grabhügeln  bei  Trojan  und  Gabrovo 
beschreibt  B.  Filow3)  Funde  aus  dem  5.  bis 
3.  Jahrhundert  v.  Chr.;  es  handelt  sich  ins- 
besonders  um  Fibeln,  welche  sehr  denen  ans  der 
Früh-Latenekultur  West-  und  Zentraleuropas 
ähneln. 

Ein  Teil  der  Hügel,  vor  allem  Südbulgariens, 
scheint  demnach  tatsächlich  Gräber  zu  enthalten, 
welche  aus  verschiedenen  Zeiten  stammen  wür- 
den.    Über  den  Zweck  der  Hügel  gibt  es  aber 


1)  F.  v.  Hochstetter,  Über  die  Ausgrahung  einiger 
Tumuli  bei  Papasli  in  der  europäischen  Türkei.  Mitt. 
d.  Wien.  Anthropol.  Ges.  II,  S.  49— 50,   1871. 

2)  M.  E.  Weiser,  Thracien  und  seine  Tumuli. 
Ebenda  II,  S.  137— 153,  185—203,  225—228,   1871. 

3)  B.  Filow,  Deux  tumuli  thraces  dans  le  Balkan. 
Izvestija  na  bulgarkoto  etc.  Bull.  Soc.  Arch.  bulgare  I, 
S.  155—158,  1910. 

6 


42 


noch  andere  Ansichten1).  Es  scheint,  daß  die 
Türken  die  Gewohnheit  hatten,  die  Zelte  der 
Kommandanten  auf  Hügeln  zu  errichten,  wie 
dies  nach  Kanitz  bei  den  zwei  Hügeln  (Tepe) 
bei  Yidin  der  Fall  gewesen  ist.  Ob  der  eine 
oder  andere  von  den  hohen  Hügeln  zu  diesem 
Zwecke  errichtet  wurde  oder  ob  stets  schon 
vorhandene  benutzt  wurden,  ist  bis  jetzt  noch 
nicht  festgestellt.  Als  Begräbnisstätten  sind 
wohl  eine  Anzahl  als  Dolmen  bezeichneter 
Steinbauten  zu  betrachten,  über  deren  Vor- 
kommen in  Südbulgarien  wir  durch  die  Ge- 
brüder Skorpil  und  St.  Bontschew  Kenntnis 
erhalten.  Die  Skorpil2)  berichten  über  Dolmen 
von  der  Sakar  Planina  und  ihrer  Umgebung 
nördlich  von  Adrianopel  zwischen  der  Maritza 
und  der  Tundza;  Bontschew3)  entdeckte  einige 
im  östlichen  Teile  des  Bezirkes  von  Haskovo 
(Südbulgarien). 

Außer  Grabstätten  stellt  eine  Anzahl  der 
bulgarischen  Hügel,  vor  allem  die  Flachhügel, 
wie  Untersuchungen  in  jüngster  Zeit  zeigten, 
auch  Reste  von  prähistorischen  Ansiedelungen 
dar.  Man  hat  in  solchen  Hügeln  wie  in  den 
zahlreich  vorhandenen  Höhlen  und  Grotten 
die  Reste  alter  Wohnstätten  gefunden. 
Der  Donau  entlang,  zwischen  Timok  und  Vid, 
untersuchte  F.  Tschilingh  irow  im  Über- 
schwemmungsgebiete Siedelungen,  deren  Lage 
die  Vermutung  nahelegt,  daß  es  sich  hier  um 
eine  Art  von  Pfahlbausiedelungen  handle. 
Die  östlichsten  paläolithischen  Reste  der 
Menschen  in  Österreich -Ungarn  sind  nach 
J.  Szombathy4)  im  Valea  cremene  (Feuer- 
steintal), einem  Seitentälchen  des  Bodzaer  Passes, 
gefunden  worden.  Von  dieser  Fundstelle  hat 
J.  Teutsch  in  Kronstadt  Klingen,  Schaber  und 
Stichel  aus  Feuerstein  an  die  Wiener  Anthro- 
pologische Gesellschaft  eingesandt,  welche  an  der 
angegebenen  Stelle,  etwa  1  m  unter  der  Boden- 
oberfläche, zusammen  mit  kleinen  Holzkohlen- 
teilchen gefunden  worden  sind,  leider  fehlteu 
Reste  von  Tieren,  die  für  eine  absolut   sichere 


*)  F.  Kanitz,  Tutnuli  in  Nord-  und  Südbulgarien. 
Mitt.  d.  "Wien.  Anthrop.  Ges.  VI,  S.  201—204,  1876,  und 
Donau -Bulgarien  und  der  Balkan.  1.  Bd.,  S.  275 — 276. 
Leipzig  1875. 

2)  Gebr.  Skorpil,  Painetnici  iz  Bulgarsko  (Denk- 
mäler Bulgariens),  1.  Bd.,  1.  Heft.  Thrakien,  Sofia  1888. 
Ausführliches  Referat  mit  Abbildungen  von  Woldrioh 
in  Mitt.  d.  Wien.  Anthropol.  Ges.  XVIII,  3.  285— 288, 
1888. 

3)  St.  Bontschew,  Dolmen  im  südlichen  Bulgarien. 
Korr.-Bl.  d.  Deutsch.   Anthrop.  Gea    1896,  S.  35— 36. 

4)  J.  Szombathy,  Paläolithische  Fuude  aus  Sieben- 
bürgen. Mitt.  d.  Wien.  Anthrop.  Ges.,  Sitzber.  XL, 
S.  LlO],   1910. 


Altersbestimmung  von  Wichtigkeit  wären.  Nach 
Szombathy  ist  ein  Schluß  auf  eine  der  jüngeren 
Schichten  des  Paläolithikums  gerechtfertigt.  Die 
nächsten  paläolithischen  Fundstellen  sind  die 
Höhlen  im  Bükkgebirge  und  bei  Budapest  in 
Ungarn,  sowie  die  bei  Krapina  in  Kroatien. 
Die  aus  Höhlen  in  Serbien  gemeldeten  Fuude  •) 
gestatten  keinen  sicheren  Schluß  auf  das  Vor- 
handensein des  diluvialen  Menschen.  Da,  wie 
es  scheint,  die  Schichten  schon  gestört  waren 
oder  bei  den  Ausgrabungen  nicht  genügend 
auseinandergehalten  worden  sind,  haben  die 
Reste  des  Höhlenbären,  die  mit  den  Gegen- 
ständen gefunden  worden  sind,  keinen  Wert 
für  die  Altersbestimmung.  Immerhin  ist  es 
nicht  ausgeschlossen,  daß  doch  paläolithische 
Schichten  in  den  serbischen  Höhlen  vorhanden 
sind.  Aus  den  anderen  Balkanländern  fehlen 
bis  jetzt  ebenfalls  Spuren  des  paläolithischen 
Menschen,  mit  Ausnahme  Bulgariens.  Hier  haben 
die  Untersuchungen  des  letzten  Jahrzehnts  sichere 
Anhaltspunkte  für  die  Anwesenheit  des  Eis- 
zeitmenschen ergeben. 

InderMalkata  Pe  seh  tera(„Kleinen  Höhle") 
bei  Samovodeni,  nordwestlich  von  Tirnova,  deren 
4  m  breiter  Eingang  nach  Süden  liegt  und  die 
sich  etwa  92  m  nach  innen  erstreckt,  wurden  in 
den  Jahren  1898,  1905  und  1909  Ausgrabungen 
veranstaltet,  über  die  R.  Poppow2)  das  Folgende 
berichtet:  Die  Grotte  euthält  drei  Schichten. 
Die  unterste,  diluviale  Schicht  von  1  m  Mächtig- 
keit besteht  aus  gelbem  und  rotem  Ton 
und  ist  reich  an  Knochen  des  Höhlenbären. 
Außerdem  wurden  noch  festgestellt  Reste  der 
Höhlenhyäne,  des  Pferdes,  des  Urrindes.  Mit 
diesen  diluvialen  Tierresten  zusammen  fanden 
sich  in  etwa  1,45  in  Tiefe  zwei  Feuerstein- 
messerchen;  das  eine  ist  6  cm  lang,  1,6  cm  breit 
und  0,6  cm  dick,  das  andere  hat  eine  Länge  von 
5,9  cm,  eine  Breite  von  2  cm  und  eine  Dicke 
von  0,65  cm.  Wenn  auch  die  Fundumstände 
eine  genaue  Altersbestimmung  nicht  irestatten, 
so  darf  doch  als  sicher  angenommen  werden, 
daß  es  sich  um  Spuren  des  paläolithischen  Men- 
schen  handelt. 

Nachdem  schon  Koitschew  im  Jahre  1909 
in  der  Höhle   Morovitza    bei  Glozane   (Bezirk 


a)  F.  Kanitz,  Die  prähistorischen  Funde  in  Serbien 
bis  1889.  Mitt.  d.  Wien  Anthropol.  Ges.  XIX,  S.  150—153, 
1889.     Ebenda,  Sitzber.  XVI,  S.  [65]— [66],  1886. 

2)  R.  Poppow,  Razkopki  v  „Malkata  Pesehtera" 
pri  Tirnovo  prez  1909.  Izvcstija  na  bulgarkoto  etc.  II, 
1911  (Bull.Soc.  Arch.  bulgare  II,  S.  248—256,  1911).  — 
O.  Menghin,  Spuren  des  Paläolithikums  in  den  nörd- 
lichen Balkanländern.  Wien.  Prähist.  Zeitschr.  II, 
S.  121—132. 


43 


Teteven)  Grabungen  veranstaltet  hatte,  hat  im 
Jahre  1912  11.  Poppow1)  ebenfalls  an  einigen 
Stellen  gegraben.  Die  Höhle  öffnet  sich  nach 
Norden  und  erstreckt  sich  bei  16  m  Breite  des 
Eingangs  etwa  250  m  ins  Innere.  4  m  vom  Ein- 
gange entfernt  fand  Poppow  eine  4m  tiefe 
Schicht,  deren  oberer  Teil  bis  zu  1,50  m  Tiefe 
Knochen.  Scherben  usw.   aus    vorgeschichtlicher 


tief  kam  eine  Feuersteinklinge  von  6,1  cm  Lange, 
2,4  cm  Breite  und  0,4  cm  Dicke  zutage ,  welche 
an  beiden  Randern  kräftige  Steilretnsehen  auf- 
weist. An  einer  anderen  Stelle  fand  sich  eine 
16,65cm  lange,  2,7cm  breite  und  lern  dicke 
Knochenspitze,  deren  hinteres  Ende  abgebrochen 
ist.  Auch  diese  Stücke  stammen  den  Fund- 
umständen nach  aus  paläolithischer  Zeit.  Poppow 


1. 


Höhle   „Malkata   Peschtera"   (Kleine   Höhle)    bei 
Samovodeni. 

2.  Höhle   „Morovitza"   bei  Glozane. 

3.  Höhlen    „Malkata     Podlisza"      und      „Goljama 

Podlisza"   bei   Beljakovez. 

4.  Höhlen   „Pod-Grado"    bei  Madara. 

5.  Hohle   „Toplia"   bei  Gojema-Zelezna. 

6.  Ausiedlung   „Unio  alha". 

7.  „  bei   „Kutovo". 

8.  ..  „     „Naklata" 

9.  ..  ..     „Lom"  •  (Pfahlbauten?) 
10.            „             „     „Cibar"         I 


in    Bulgarien. 

11.  Ansiedlung  bei   „Kozludui"  1 

12.  „     „Ostrovo"    l  (Pfahlbauten?) 

13.  ..  „    „Magura"     J 

14.  ..  ..     ..Sultan". 

15.  Hügel   „Denew"   bei   Salmonovo. 

16.  ..        ..Kodja  Dermen"   bei  Schumen. 

17.  „        bei  Trojan. 

18.  .,         „     Gabvovo. 

19.  ..        von   Sveti-Kyrillovo  bei  Stara  Zagora. 

20.  .,  „     Ratschew  bei  Jambol. 

21.  „  „     Deve-Bargan  bei  Tirnovo-Seimen. 

22.  „  „     Kadine-most  bei   Küstendil. 


Zeit  enthielt;  der  untere  Teil  von  1,5  bis  4  m 
bestand  ans  rotgelbem  Ton  mit  Pesten  von 
diluvialen  Tieren.  Im  Inneren  der  Höhle  reicht 
der    diluviale    Ton    bis    zur    Oberfläche.      2,8  m 


x)  R.  Poppow.  Razkopki  v  peschtera  Morovitsa. 
Izvestija  III,  S.  262.  Bull.  Soc.  Arch.  bulgare  III,  S.  262, 
1912 — 1913.  —  O.  Menghin,  Spuivn  des  Paläolithikums 
in  den  nördlichen  Balkanländern.  Wien.  Prähist.  Zeit  sehr. 
n,  S.  128—132. 


zählt  sie  der  Solutrestufe  zu,  wahrscheinlicher 
handelt  es  sich  aber  um  Artefakte  der  Aurignac- 
stufe.  Es  erscheint  jedoch  gewagt,  auf  Grund 
von  einzelnen  Fund^regenständen  eine  genauere 
Altersbestimmung  vorzunehmen. 

Schon  die  bisherigen  Untersuchungen  der 
beiden  Höhlen  lassen  den  Schluß  zu,  daß  der 
diluviale  Mensch  auch  in  den  Balkanländern  ge- 
lebt hat.    Da  aber  nur  eine  teilweise  Ausgrabung 


44 


vorliegt,  so  läßt  eine  eingehende,  auf  den 
ganzen  Flächenranm  der  Höhlen  ausge- 
dehnte wissenschaftliche  I  titersuchung 
hoffen,  daß  noch  mehr  paläolithisches 
Material  zutage  gefördert  wird,  das  auch 
eine  genauere  Zeitbestimmung  zuläßt. 

Die  beiden  Höhlen  halten  außerdem  bestimm- 
bare jüngere  Funde  aus  der  vorgeschicht- 
lichen Zeil  geliefert.  Nach  Poppow  folgt  in 
der  Malkata  Peschtera  auf  die  diluviale  Schicht 
eine  etwa  40  cm  mächtige  Schicht  mit  neolithi- 
schen  Fundgegenständen  neben  Resten  vom 
Edelhirsch,  Reh,  Schaf,  Kind,  Schwein  und 
Hund.  Die  obersten  Schichten  enthalten  Funde, 
welche  bis  in  die  ersten  Jahrhunderte  unserer 
Zeitrechnung,  also  bis  in  die  römische  Kaiser- 
zeit reichen.  Unter  den  jüngeren  Funden  aus 
der  Höhle  Morovitza  sind  besonders  bemalte 
und  inkrustierte  Gefäße,  eine  Knochennadel  mit 
einem  Reh-  oder  Hirschkuhkopf  und  eine 
Kupfernadel  zu  erwähnen. 

R.  Poppow  hat  noch  weitere  Höhlen  in  der 
Umgebung  von  Tirnova  ausgegraben;  in  der 
Prähistorischen  Zeitschrift l)  berichtet  er  aus- 
führlich über  die  Ergebnisse  in  der  33  in  tiefen, 
am  Eingange  5  m  breiten  Höhle  „Malkata 
Podlisza"  bei  dem  Dorfe  Beljakovez,  welche 
eine  Verbindung  besitzt  mit  der  Höhle  „Gol- 
jama  Podlisza".  Diese  zeigt  die  gleichen 
Schichten   und  Kulturreste  wie  erstere. 

Die  unterste  Schicht  L  von  30  cm  aus  gelb- 
lichrotem Tone  enthält  nur  unbestimmbare  fos- 
sile Tierknochenreste;  in  der  entsprechenden 
Schicht  in  der  Goljamahöhle  fanden  sich  Reste 
von  diluvialen  Tieren;  Kulturreste  fehlen  in 
beiden  aber  vollständig.  In  den  aus  mit  Kies-  und 
Holzkohlenlagen  vermischtem  Ton  bestehenden 
etwa  50  cm  mächtigen  Schichten  H — J  fanden 
sieh  zahlreiche  Reste  von  Haus-  und  Jagdtieren, 
Feuersteingeräte  und  Scherben  von  Gefäßen. 
In  Schicht  J  kam  in  der  Tiefe  von  80  cm  ein 
gauzes  Menschenskelett  zum  Vorschein.  Das  in 
dieser  Schicht  gefundene  Kulturmaterial  bestand 
ans  vier  Feuersteiuklingen  von  4,9  bis  7,4  cm 
Länge,  Resten  von  Gefäßen,  zum  Teil  mit.  Henkeln, 
zum  Teil  mit  Warzen  und  Doppelwarzen,  Spinn- 
wirtel  und  einer  6,1  cm  langen  kupfernen  Nadel. 
Die  geringe  Zahl  von  Feuersteinwerkzeugen 
führt  Poppow  darauf  zurück,  daß  die  geologi- 
schen Schichten  in  der  Umgebung  vou  Tirnova 
der  unteren  Kreide,  dem  ßaremien,  angehören, 


J)  R.  Poppow,  Die  Ausgrabungen  in  der  Höhle 
„Malkata  Podlis/.a"  beim  Dorfe  Beljakovez,  nnweit  der 
Stadt  Tirnova  (Nordbulgarien).  Priihist.  Zeitachr.  V, 
8.  449—460,   1913. 


in  welcher  Feuerstein  fehlt.  Ein  Gefäß,  das  er 
allbildet,  hat  konische  Form. 

Die  Schichten  // — C,  von  30  bis  8'2  cm,  ent- 
hielten Gefäßreste,  einige  Fragmente  von  eisernen 
Messern,  Lanzen,  Nägeln  usw.,  welche  au  die 
Kulturreste  aus  Wohnplätzen  der  römischen 
Zeit  erinnern  („Madara",  „Woiwoda"  u.  a.). 
Da  in  der  Goljama  Podlisza  eine  Münze  der 
Faustina  gefunden  wurde,  sind  die  beiden 
Höhlen  offenbar  noch  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr. 
bewohnt  gewesen.  Das  in  Schicht  /  gefundene 
Skelett  scheint  nicht  ueolithisch  zu  sein,  son- 
dern aus  der  Zeit  der  Ablagerung  der  Schichten 
C — H,  also  der  römischen  Zeit  anzugehören. 

Bei  dem  Dorfe  Madara,  östlich  von  Schumen, 
konnte  R.  Poppow1)  reiche  Wohnstättenfunde 
bergen.  Die  Gegend  nördlich  vom  Dorfe  ist 
für  die  archäologische  Forschung  von  hohem 
Interesse.  Es  finden  sich  dort  Hügel,  Menhire, 
die  Fundamente  römischer  Festungen  und  Reste 
der  ältesten  Hauptstadt  Bulgariens,  Pliska.  An 
einem  Felsen  befinden  sich  neben  dem  Basrelief 
eines  thrakischen  Reiters  eine  30  m  tiefe,  70  m 
breite  natürliche  Grotte,  „Pod-Grado",  und 
mehrere  künstliche  Höhlen.  Die  Terrasse  um 
die  Quellen,  welche  in  der  Nähe  entspringen, 
enthielt  nach  den  Ausgrabungen  in  den  Jahren 
1902,  1903  und  1909  Kulturreste  der  jüngeren 
Steinzeit  und  der  römisch -byzantinischen  Zeit. 
Auf  grauen  Mergel  folgt  eine  1,50  m  mächtige, 
aus  Ton,  Sand,  Kies  und  Gerollen  bestehende 
Schichtenreihe  mit  den  neolitlüschen  Kultur- 
resien;  nach  einer  25  cm  dicken  sterilen  Schicht 
schließt  das  Profil  mit  einer  25  cm  mächtigen 
schwarzen  Dammerde  ab,  in  der  sich  römisch- 
byzantinische Fragmente  von  gut  gebrannten 
Gefäßen,  Bronze-  und  Kupfermünzen  aus  dem 
3.  bis  6.  Jahrhundert,  Werkzeuge  aus  Eisen  usw  . 
fanden. 

Die  Tierreste  der  neolithischen  Schicht  ge- 
hörten dem  Hunde,  Fuchs,  Wolf,  Bär,  Schwein, 
Dachs,  Hirsch,  Reh,  Pferd,  Wildrind,  Schaf, 
Biber  an,  welche  teils  ausgestorben  (Rind,  Biber), 
teils  nach  dem  Balkan  ausgewandert  sind  (Hirsch, 
Reh,  Bär).  Auch  einige  Menschenknochen  fanden 
sich  zusammen  mit  den  Tierresten. 

Von  den  neolithischen  Kulturresten  sind  die 
folgenden  hervorzuheben.  Es  fanden  sich  Pfeil- 
spitzen, Schaber,  Kratzer,  Messer  und  Schlag- 
steine aus  Feuerstein,  der  in  der  Umgebung  nicht 
vorkommt     und     vielleicht     aus     „Kriva-Rjaka" 


J)  K.  Poppow,  Beiträge  zur  Vorgeschichte  Bulga- 
riens. I.  Der  prähistorische  Wohnplatz  „Pod-Grado"  bei 
dem  Dorfe  Madara.  nnweit  der  Stadt  Schumen  (Nordost- 
Bulgarien).     Prähist.  Zeitschr.  IV,  S.  88— 108,   1912. 


45 


stammt.  Die  zahlreichen  Abfälle  deuten  darauf 
hin,  daß  die  Feuersteinwerkzeuge  an  Ort  und 
Stelle  hergestellt  worden  sind.  Aus  anderem 
Gesteinsmaterial  waren  geschliffene  und  zum  Teil 
durchbohrte  Steinbeile,  Hämmer  und  Meißel  her- 
gestellt, ferner  fanden  sich  Fragmente  von 
Mühlsteinen  sowie  Schlag-  und  Reibsteinen  aus 
Sandstein  und  Konglomerat.  Aus  Geweih  und 
Knochen  bestanden  Hämmer,  Pfriemen,  An- 
hänger. Einige  Würfelbeine  und  Zehenglieder 
von  Hirsch,  Rind  und  Schaf,  welche  vielleicht 
zum  Teil  zum  Spielen  dienten,  zeigten  ein  oder 
zwei  geglättete  Flächen;  Perlen  aus  Hörn  und 
Knochen ,  durchbohrte  Zähne  von  Hund  und 
Dachs  stellen  Schmuckgegenstände  dar.  Die 
Gefäßreste  stammen  von  rohen  Gefäßen,  welche 
in  seltenen  Fällen  als  Verzierung  grobe  Ein- 
schnitte und  Buckel  besaßen. 

Es  dürfte  die  Anschauung  Poppows  richtig 
sein,  daß  alle  diese  Kulturreste  nicht  auf  pri- 
märer Lagerstätte  lageu,  sondern  von  der  höher 
gelegenen  Höhle  Pod-Grada  herabgeschwemmt 
worden  sind.  Ob  die  künstlichen  Grotten  neben 
den  natürlichen  aus  der  jüngeren  Steinzeit 
stammen,  möchte  ich  noch  dahingestellt  sein 
lassen;  vielleicht  sind  sie  während  der  römisch- 
byzantinischen  Zeit  hergestellt  worden. 

Die  Funde  aus  der  Höhle  Toplia  bei  Go- 
lema-Zelezua,  welche  G.  Bontschew1)  für  dilu- 
vial hielt,  sind  nach  Poppo  w  jünger;  sie  gehören 
wohl  auch  der  jüngeren  Steinzeit  an. 

Die  gleichen  Kulturreste  wie  in  den  Holden 
fand  A.  T s  c h i  1  i  n g h i  i  o  w  2)  in  Ansiedelungen 
im  Überschwemmungsgebiete  der  Donau, 
zwischen  Timok  und  Vid.  Den  Fundum- 
stäuden  nach  könnte  es  sich  bei  den  Siedelungen 
von  Naklata  bei  Vidbol,  von  Lora,  von 
Cibar-Varoche,  Kozludui,  Ostrovo  und 
Magura  um  eine  Art  von  „Pfahlbauansiede- 
lungen" handeln.  Der  größte  Teil  der  Kultur- 
reste gehört  der  jüngeren  Steinzeit  an  und 
scheint  sich  vollständig  den  Funden  in  den 
Höhlen  auf  der  Nordseite  des  Balkangebirges 
anzuschließen,  außerdem  fanden  sich  aber  auch 
Scherben,  welche  der  römischen  Zeit  angehören 
dürften. 


x)  G.  Bontschew,  Peschterata  pri  s  Golema- 
Zelezna.  Trudovo  na  bulgarkoto  pripodoizpitatelno 
druzestvo  I,  S.  80,  1900;  R.  Poppow,  Izvestija  na 
bulgarkoto  etc.  Bull.  Soc.  Arch.  bulgare  III,  S.  272, 
1912—1913. 

2)  A.  Tschilinghirow,  Stations  prehistoriques  sur 
le  bord  du  Danube,  depuis  Timok  jusqu'ä  Vite.  Izvestija 
na  bulgarkoto  II.  Bull.  Soc.  Arch.  bulgare  II,  S.  147— 174, 
1911. 


In  Naklata  bei  Vidbol  kam  eine  mensch- 
liche Figur  mit  Ornamenten  zum  Vorschein,  die 
zu  den  Funden  in  den  Hügeln  Bulgariens  über- 
leitet. 

Wie  eingangs  erwähnt,  bestehen  die  bisher 
untersuchten  Hügel  Bulgariens  größtenteils 
aus  den  Resten  vorgeschichtlicher  Ansiedelungen. 
Es  liegen  bis  jetzt  Mitteilungen  über  Unter- 
suchungen der  Hügel  von  Ratschew  bei  Jambol, 
von  Deve-Bargau  bei  Tirnovo-Seimen,  von  Sveti- 
Kyrillovo  bei  Stara  Zagora  und  von  Kadine- 
most  bei  Küstendil  in  Südbulgarien,  von  Deuevv 
bei  Salmanovo,  von  Kodja-Dermen  bei  Schumen 
und  Sultan   bei   Popopo    in  Nordbulgarieu    vor. 

Die  Grabungen  R.  Poppows  ])  in  den  Hügeln 
von  Denew,  welche  auf  Kosten  des  bulgarischen 
Nationalmuseums  in  Sofia  erfolgten,  haben  eine 
sehr  reiche  Ausbeute  ergeben.  Vor  allem  fanden 
sich  die  Reste  von  Wandbewurf,  es  handelt  sich 
also  um  Hütten  aus  Flechtwerk,  das  mit  Lehm 
beworfen  worden  war.  Die  Form  der  Hütten  ließ 
sich  nicht  feststellen,  wahrscheinlich  waren  sie 
viereckig  wie  die  primitiven  Hüttenmodelle  aus 
Ton,  welche  in  dem  Hügel  gefunden  worden 
sind.  Die  Feuersteinwerkzeuge  ähneln  voll- 
ständig denen  in  den  Höhleu,  auch  die  Steiu- 
hämmer  zeigen  die  gleichen  Formen.  Die 
Pfriemen,  Nadeln  und  Anhänger  aus  Knochen 
sind  zahlreicher  und  überwiegen  stark  gegen 
die  Steinbeilfassuugen  und  sonstigen  Werkzeuge 
aus  Hörn.  Neben  den  durchbohrten  Muscheln 
(Cardium)  fanden  sich  auch  als  künstlicher 
Schmuck  Ringe  aus  Spondylusschalen.  Von  be- 
sonderem Interesse  sind  die  keramischen  Pro- 
dukte. Die  Gefäße  sind  zum  Ted  poliert  ohne 
Ornamente,  zum  Teil  besitzen  sie  gravierte  Or- 
namente mit  Einlagen  (inkrustierte  Gefäße)  oder 
gemalte  und  plastische  Ornamente.  Auf  manchen 
Gefäßen  sind  die  Ornamente  mit  Graphit  aus- 
geführt, bei  anderen  ist  auf  dem  Graphitgrunde 
das  Ornament  ausgespart.  Kombination  von 
Gravierung  und  Bemalung  ist  häufig.  Bei  den 
inkrustierten  Gefäßen  ist  nach  Poppow  die 
Technik  eiue  verschiedene,  entweder  wird  das 
eingeschnittene  Ornament  mit  einer  weißen  Ton- 
masse  ausgefüllt  oder  es  war  das  Ornament 
erhaben  ausgeführt  und  die  so  entstehenden 
vertieften  Zwischenräume  mit  weißer  Masse  aus- 
gefüllt worden.  Hinsichtlich  der  Form  sind  be- 
sonders zylindrische  inkrustierte  Gefäße  hervor- 
zuheben mit  konischem  Boden  und  meist  einem 
kleinen     hohlen    Fuße;    es    gehören    zu    diesen 

:)  R.  Poppow,  Predistoritseheskata  Deneva  mogila 
pri  s  Salmanovo.  Der  vorgeschichtliche  Hügel  von 
Denew  beim  Dorfe  Salmonovo.  Izvestija  na  bulgarkoto 
IV.     Bull.  Soc.  Arch.  bulgare   IV,  S.  148—225,   1914. 


46 


Gefäßen  Deckel  mit  ähnlichen  Verzierungen. 
Als  Unikum  ist  ein  vierkantiges  Gefäß  mit  zwei 
Öffnungen  am  Boden  zu  erwähnen.  Besonders 
wichtig  sind  die  Reste  von  Menschen-  und  Tier- 
figuren aus  Ton,  sogenannte  „Tonidole".  Auch 
Stempel  aus  Ton,  die  für  Bulgarien  zum  eisten 
Male  festgestellt  sind,  verdienen  erwähnt  zu 
werden.  Möglicherweise  winden  sie  zur  Körper- 
bemalung  verwendet.  Au  Metallgegenständen 
kam  nur  eine  Kupfernadel  zum  Vorschein.  Außer 
den  Resten  von  Haus-  und  Jagdtieren  (Hirsch, 
Reh,  Rind,  Schaf,  Hase,  Biber,  Hund,  Fuchs, 
Wolf,  Luchs,  Marder,  Dachs,  Schwein,  Bär) 
kamen  in  der  oberen  Schicht  auch  menschliche 
Skelette  zum  Vorschein,  die  wohl  jünger  sind 
als  die  Siedelungsreste  in  der  Basis  des  Hügels. 

In  dem  Hügel  „Kodja-Dermen",  nord- 
westlich von  Schumeu,  fand  R.  Poppow1)  ein 
ganz  ähnliches  Kulturinventar:  Werkzeuge  aus 
Knochen,  Hörn,  Feuerstein  und  anderen  Ge- 
steinsarten;  Schmucksachen  aus  Knochen  (Astra- 
galus),  Muscheln  "(Cardium)  und  Früchte  (Litho- 
spermum  oftieinale).  Der  zum  Bemalen  der 
Gefäße  nötige  Graphit  fand  sich  in  einigen 
konischen  Stücken.  Die  Gefäßreste  waren  teils 
von  ganz  ähnlich  bemalten  Gefäßen  wie  im 
Hügel  von  Denew ,  teils  waren  sie  von  rohen 
Gefäßen.  Sehr  zahlreich  fanden  sich  die  Menschen- 
und  Tierfiguren  aus  Ton  und  Knochen.  Die 
Tierreste  setzen  sich  zusammen  aus  den  Knochen 
von  Hund,  Fuchs,  Wildkatze,  Dachs,  Reh,  Hirsch, 
Rind  (und  zwar  Wildrind  und  zahmes  Rind), 
Schaf,  Schwein,  Hase,  Vögel,  Belemniten  (Belem- 
nites  pistilliformis)  mit  künstlich  zugespitzten 
Enden  und  Schalen  von  Cardium,  Unio,  Denta- 
liuui,  die  offenbar  für  Schmuckzwecke  auf- 
gesammelt worden  sind.  Auch  Getreidereste 
(Triticum  vulgare)  fanden  sich  zum  Teil  in 
reichlicher  Menge.  Menschliche  Reste  kamen 
zerstreut  vor:  ein  Schädel,  ein  Oberschenkel, 
ein  Oberarm,  ein  Schienbein.  Vielleicht  handelt 
es  sich  hier  um  einen  Beweis  von  Kannibalismus. 

In  einem  12  m  hohen  Hügel  mitten  im  Dorfe 
Sveti-Ky rillovo 2)  bei  Stara-Zagora  nahm 
Gawril  .1.  Kazarow  einige  Versuchsgrabungen 
vor;  er  konnte  bis  zu  4,5  m  Tiefe  mehrere 
Schichten  feststellen.  Oben  eine  Schicht  von 
1  m    Tiefe    mit    Funden     aus     römischer     und 


*)  R.  Poppow,  Beiträge  zur  Vorgeschichte  Bulgariens 
II.  Idole  und  Tierßguren.  gefunden  in  dem  Hügel  „Kodja- 
Dermen"  bei  Sehumen  (Bulgarien).  Prähist.  Zeitschr. 
I\  ,  S.  103— 113,  1912.  Izvestija  na  bulgarkoto  II.  Bull. 
Soc,  Arch.  bulgare  II,  S.  70 — 80,  1911.  Revue  de  la 
Soctete  litteraire  bulgare  XXI,  S.  503— 562,  1909. 

a)  Gawril  J.  Kazarow,  Vorgeschichtliche  Funde 
aus  Sveti-Kyrillovo.    Präh.  Zeitschr.  VI,  1914,  S.  67—88. 


byzantinischer  Zeit,  darunter  eine  1,8  m  mächtige 
Erdschicht  mit  prähistorischen  Gefaßtesten,  es 
folgte  dann  eine  verbrannte  Schicht  (0,2  m)  mit 
Scherben  und  verkohlten  Getreide-  und  Hütten- 
resten. Unter  einer  weiteren  1,2  m  tiefen  sandigen 
Schicht  lag  eine  zweite  0,30  m  mächtige  ver- 
brannte Schicht  mit  verkohltem  Getreide.  In 
diesen  Schichten  fanden  sich  Reste  von  mono- 
chromen und  bemalten  Gefäßen,  „Tonidole", 
Webstuhlgewichte,  Wirtel  und  Löffel  aus  Ton, 
eine  Muschelschale,  Werkzeuge  aus  Feuerstein 
und  geschliffene  Steinbeile,  Pfriemen  aus  Kno- 
chen, Nadeln   und   Dolchklingen   aus   Kupfer. 

Menschen-  und  Tierfiguren  aus  Knochen, 
ähnlich  denen  von  Denew  und  Kodja-Dermen, 
beschreibt  A.  Tschiliughiro w  auch  aus  der 
prähistorischen  Station  Sultan  (Bez.  Popopo) 
in  Nordbulgarien l)  und  aus  dem  Hügel  Rat- 
sche w  bei  Jambol  in  Südbulgarien 2).  Wenn 
er  diese  Idole  der  Eisenzeit  am  Anfang  des 
1.  Jahrtausend  zuschreibt,  so  dürfte  dies  wohl 
eine  irrtümliche  Auffassung  sein.  Tonidole 
fanden  sich  auch  bei  Kadine-most  (Bez.  Küsten- 
dil)    nach    den  Mitteilungen    von  J.  Iwanow3). 

Aus  einem  nicht  wissenschaftlich  erforschten 
Hügel  Deve-Bargan  bei  Tiruovo- Seimen,  am 
Ufer  der  Maritza,  sind^  spätneolithische  und 
römisch-byzantinische  Funde  bekannt. 

Die  vorgeschichtlichen  Forschungen  in  Bul- 
garien, soweit  sie  in  der  mir  zugänglichen 
Literatur  veröffentlicht  sind,  haben  für  die  Vor- 
geschichte Bulgariens  wichtige  Ergebnisse  ge- 
liefert. 

Fürs  erste  sind  sichere  Spuren  des  paläoli- 
thischen  Menschen  nachgewiesen  worden. 

Hinsichtlich  der  jüngeren  Steinzeit  schei- 
nen zwei  nach  den  Kulturresten  verschiedene 
Stufen  vorhanden  gewesen  zu  sein.  Die  Reste 
aus  der  jüngeren  Steinzeit,  welche  in  den  Höhlen 
und  vielleicht  auch  in  den  „Pfahlbauansiede- 
lungen" im  Überschwemmungsgebiete  der  Donau 
zwischen  Timok  und  Vid  zutage  treten,  zeigen 
einfachere  Formen,  sie  stellen  vielleicht  eine 
ältere  Stufe  dar  gegen  die  Funde  aus  den 
Hügeln;  diese  Stufe  schließt  sich  mit  ihrer  be- 
malten Keramik  und  den  Menschen-  und  Tier- 
figuren  der  in   Bosnien,  Serbien,  Siebenbürgen, 


J)  A.  Tsch  il  in  gh  iro  w  ,  Pigurines  en  os  de  la 
Station  prehistorique  de  Soultan  (arr.  de  Popopo).  Iz- 
vestija na  bulgarkoto  etc.  I.  Bull.  Soc.  Arch.  bulgare  I. 
S.  105—110,   1910. 

2)  Derselbe,  Figurines  en  os  du  tumulus  Ratchew 
pres  de  Jambol.  Izvestija  na  bulgarkoto  II.  Bull.  Soc. 
Arch.  bulgare  II,  S.  81— 88,   1911. 

3)  J.  Iwanow,  Rapport  sur  les  fouilles  de  Kadine- 
most,  arrondissemeut  de  Küstendil.  Izvestija  na  bulgar- 
koto etc.  I.     Bull.  Arch.  bulgare  I,  S.  192,   1910. 


47 


Rumänien  und  in  der  Ukraine  festgestellten 
spätueolithischen  Kultur  an,  welche  bis  nach 
Thessalien  vorgedrungen  zu  sein  scheint  und  etwa 
dem  3.  Jahrtausend  v.  Chr.  angehört.  Wir  können 
somit  in  Bulgarien  ein  „Höhlenneolithikum"  und 
ein    „Hügelneolithikum"   unterscheiden. 

Eigentümlich  ist  es,  daß  Funde  aus  der 
Bronzezeit  sowohl  in  den  Hügeln  mit  Wohn- 
resten als  auch  in  den  Höhlen  und  Grotten  zu 
fehlen  scheinen.  Das  macht  den  Eindruck,  als 
ob  im  2.  Jahrtausend  v.  Chr.,  während  der 
kretisch-mykenischen  Periode,  keine  Verbindung 
mit  dem  kulturreichen  Süden  der  Halbinsel  vor- 
handen gewesen  sei.  Das  scheint  aber  nicht 
der  Fall  gewesen  zu  sein.  H.  Schmidt  er- 
wähnt z.  B.  den  Fund  eines  Bronzeschwertes, 
das  aus  Kalaglare  bei  Panagjuriste  (Bezirk 
Philippopel)  stammt;  es  scheinen  somit  wenig- 
stens für  Südbulgarien  Beziehungen  zur  Bronze- 
zeit Griechenlands  vorhanden  gewesen  zu  sein. 
Auch  verschiedene  Gefäßformen  im  National- 
museum zu  Sofia  weisen  auf  Kulturbeziehungen 
zum  Süden  der  Halbinsel  hin. 

Im  Nationalmuseum  zu  Sofia  fehlen  Funde 
aus  den  vorgeschichtlichen  Metallzeiteu  nicht 
vollständig-,  die  aber,  soviel  ich  sehe,  noch  nicht 
veröffentlicht  sind  und  der  wissenschaftlichen 
Bearbeitung  bedürfen.  Verhältnismäßig  zahl- 
reiche Streithämmer  aus  Kupfer  und  Bronze 
erinnern  an  ähnliche  Formen  in  Ungarn,  des- 
gleichen   stimmt    eine    Anzahl    von    Tülläxten, 


welche  der  Hallstattzeit  zuzurechnen  sind,  mit 
solchen  aus  Ungarn  überein.  Die  Spiralfibeln 
der  Hallstattzeit  gleichen  denen  aus  dem  Hall- 
stattkreis Österreich-Ungarns  und  Bayerns.  Es 
scheint  somit  ein  Verkehr  donauabwärts  statt- 
gefunden zu  haben.  Andere  Funde  wie  durch- 
brochene Anhänger,  ßogentibeln,  Armringe  und 
apiralig  gewundeue  Drähte  aus  Bronze  weisen 
auf  Beziehungen  zum  Osten  der  Balkanhalbiusel, 
nach  Bosnien  hin,  wie  ein  Vergleich  mit  den 
Funden    von   Donja  Dolina   an    der   Save   zeigt. 

Aus  der  Latenezeit  sind  bis  jetzt,  soviel 
ich  sehe,  nur  die  Funde  aus  den  Grabhügeln 
bei  Trojan  und  Gabrovo  bekannt,  dagegen  sind 
die  Funde  aus  der  Rom  er  zeit  in  Bulgarien 
äußerst  zahlreich. 

Die  Erforschung  des  vorgeschichtlichen  Bul- 
gariens steht  erst  am  Anfang,  noch  harren  zahl- 
reiche Probleme  der  Lösung.  Es  wird  nach 
der,  wie  wir  hoffen,  siegreichen  Beendigung  des 
jetzigen  Krieges  eine  dankbare  Aufgabe  für 
das  bulgarische  Nationalmuseum  in  Sofia  und 
die  archäologischen  Vereine  sein,  die  sich  in 
verschiedeneu  Teilen  Bulgariens  gebildet  haben, 
durch  systematische  Untersuchungen  Licht  in 
das  Dnnkel  der  Vorgeschichte  des  nördlichen 
Teiles  der  Balkanhalbinsel  zu  bringen.  Wir 
hier  in  Deutschland  verfolgen  mit  hohem  Inter- 
esse die  Arbeiten  der  bulgarischen  Forscher  und 
sind  gern  bereit,  unsere  Kräfte  zur  Lösung  der 
interessanten  Fragen  zur  Verfügung  zu  stellen. 


Mesolithische  Stationen 
vom  Donnersberge  und  aus  der  Vorderpfalz. 


Von  Dr.  C.  Mehlis. 


Die  Rheinpfalz  ist  bekanntlich,  ebenso  wie 
Elsaß  und  Rheiuhessen,  sehr  reich  an  Stein- 
werkzeugen der  neolithischen  Periode  (3.  bis 
2.  Jahrtausend  v.  Chr.).  Selten  sind  Fundstücke 
aus  älteren  Perioden  der  Vorzeit.  Dr.  Sprater 
hat  im  Jahre  1915  einen  menschlichen  numerus 
des  Homo  sapiens  aus  Kiesgruben  am  Rhein 
als  zur  Familie  des  Neandertalers  gehörig  be- 
stimmt (Pfälzisches  Museum  1915,  S.  82  u.  83). 
Ein  geschlagener  Steinkeil  von  der  Eyersheimer 
Mühle  unterhalb  Bad  Dürkheim  gehört  gleich- 
falls, wie  mehrere  andere  Artefakte  aus  Stein 
und  Hirschhorn  (Eyersheimer  Mühle,  Herschberg, 
Speyer,  Mutterstadt,  Altrip),  in  eine  vorueo- 
lithische  Zeit  (vgl.  Sprater:  Die  Urgeschichte 
der  Pfalz,  S.  10  u.  11).     Aus  dem  Museum  zu 


Bad  Dürkheim  gehören  hierher  zwei  „Grat- 
beile" aus  Halbopal,  messerähnlich  gestaltet. 
1.  Länge  12  cm,  gr.  Breite  2,3  cm,  Fundort: 
Nieder kircheu,  J.  N.  1650;  2.  Länge  11cm, 
gr.  Breite  3  cm,  Fundort:  Kallstadt,  J.  N.  4861. 
Das  „Gratbeil"  von  Calbe  i.  d.  Altmark  (vgl. 
Zeitschr.  f.  Ethnologie,  39.  Jahrg.,  1907,  S.  202, 
Fig.  2)  zeigt  genau  dieselbe  Form  und  Technik  auf. 
Allein  es  sind  dies  Streufunde,  die  gegen- 
über geschlossenen  Funden  weniger  Beweis- 
kraft haben.  Dagegen  sind  am  Donners- 
berge und  bei  Neustadt  a.  d.  IL  neuerdings 
Fundstellen  aus  der  Campignyieuzeit  erschlossen 
wordeu,  die  nach  M.  Hoernes  um  6000  v.  Chr. 
anzusetzen  ist  (Urgeschichte  der  bildenden  Kunst 
in  Europa,  2.  Aufl.,  S.  72  und  113). 


48 


Auf  dem  Donnersberge1)  (nions  Jovis)  sind 
auffallend  große  -  -  bis  30cm  Länge  —  und 
roh  bearbeitete  Werkzeuge  aus  dem  Urgestein 
des  Berges,  Thonporphyr,  an  verschiedenen  Stellen 
der  Hochebene,  die  las  zu  680m  ansteigt,  auf- 
gefunden worden.  Auch  große  Gerolle  ans  dem 
Rotliegenden  gehören  in  diesen  Kreis  mensch- 
licher, primitiv  geschlagener  Artefakte,  l'uter 
diesen  sind  mehrere  gestielt  und  zugespitzt,  so 
daß  sie  nach  Dr.  Wilser  wahrscheinlich  als 
Pflugscharen  einstmals  Verwendung  fanden 
(vgl.  Mehlis:  Eine  mesolithische  Station  vom 
Donnersberg,  1916,  S.  5,  Fig.  1).  - 

Ähnlicher,  nur  nicht  gleicher  Art  sind  mehrere 
Werkzeuge  und  Geräte,  die  neuerdings  auf  den 

Fig. l. 


und  schmale  Hacke,  während  das  sechste  einen 
Nuoleus  oder  ein  Kernstück  vorstellt,  aus  dessen 
Randzonen  3  bis  4  Messer  oder  Schaber  heraus- 
hlagen  Bind.  Zwei  von  diesen  rohen  Werk- 
zeugen sind  gestielt,  die  Säge  und  ein  Schaber, 
wie  viele  der  Donnersberger  „Megalithen". 
Besondere  Erwähnung  verdient,  daß  dieser 
Schaher  solchen  von  der  Campigny- Station  zu 
Calbe  a.  d.  Milde  iu  der  Altmark  iu  Vorder- 
und  Rückseite,  sowie  in  dem  Typus  der  Rand- 
retouche  völlig  gleicht  (vgl.  Zeit  sehr.  f.  Ethno- 
logie,  39.  Jahrg.,  S.  213,  Fig.  22;  vgl.  hier  Figur 
1  u.  2).  Auch  ein  weiterer  Campigny-Schaber 
von  Stendal  in  der  Altmark  zeigt  zwar  nicht 
die  amygdalische  (mandelförmige)  Form  des 
Neustädter  Gerätes  auf,  wohl  aber  dieselbe 
Bearbeitung  in  der  Formgebung  der  Kanten 
und  der  Retouchen  (vgl.  Zeitschr.  f.  Ethnologie, 
47.  Jahrg.   1915,   S.405,   Abi).  1  a),    obwohl    das 

Fier.  2. 


Schaber  von  Neustadt  a.  d.  Hart. 

Gewannen  „Mandelring",  „Vogelgesang"  und 
„Bohl"  zwischen  Neustadt  a.  d.  Hart,  Haardt  und 
Mußbach  in  weinrebenreicher  Landschaft  bei 
geologischen  Arbeiten  vom  Verfasser  ausgelesen 
wurden.  Auch  diese  Artefakte  bestehen  aus 
bodenständigem  Gestein,  drei  aus  Hornstein  und 
Muschelkalk,  zwei  aus  Tonporphyr,  der  am 
Nollen  (490  m)  lagerhaft  ist,  eins  aus  Förster 
Basalt.  Von  diesen  sechs  bearbeiteten  Stücken 
ist  eines  eine  Säge  der  Urzeit,  drei  sind 
Schaber  oder  Kratzer  (grattoir),  eins  eine  lauge 


J)  Der  mächtige  Ringwall,  der  das  Plateau  um- 
zieht, entstammt  der  La-Tcne-Periode  (2.  bis  1.  Jahr- 
hundert v.  Chr.). 


Schaber  von   Calbe. 

Material  verschieden  ist  —  dort  Muschelkalk, 
hier  Silex  aus  dem  Diluvium.  Diese  Analogie 
kann  wohl  kaum  anf  einen  Zufall  zurück- 
gehen ,  sondern  wohl  auf  die  Schulung  von 
zwei  Paar  Händen,  die  iu  derselben  Kultur- 
periode am  Mittelrhein  und  an  der  unteren 
Elbe  gelebt  haben,  d.  h.  synchron  und  syn- 
kulturell    sind. 

Da  auf  dem  „Bohl"  schon  früher  sich  zahl- 
reiche „bemalte  Kiesel"  gefunden  hatten,  die 
denen  aus  der  Südwest -französischen  Station 
Mas  d'Azil  gleichen  (vgl.  „Globus"  1906, 
Bd.  89,  S.  170— 177),  so  sind  hier  zwei  Zeitalter 
aus  dem  Übergänge  von  der  Paläolithikum- 
zeit  zur  geschliffenen  Periode  vertreten:   1.  das 


49 


Campignyieu,  2.  das  Azilien  oder  Asylien 1). 
Beide  Perioden,  die  hier  wohl  zusammenfallen, 
entsprechen  der  der  nordischen  Kjökkeninöd- 
dinger,  d.  h.  der  dänischen  Muschelabfallhaufen, 
die  von  gleich  rohen  und  schmucklosen  Werk- 
zeugen untermischt  sich  zeigen  (Abb.  vgl.  bei 
Hoernes:  Kultur  der  Urzeit,  I.,  S.  93).  Auch 
die  Ansiedelung  im  Magiemose  =  großes 
Moor  auf  Seeland  gehört  hierher  (vgl.  Hoernes: 
a.  a.  O.  I.,  S.  90  u.  91).  — 

Mit  diesen  nordischen  Formen  der  Stufe 
der  Kjökkenmöddiuger  zeigen  die  Funde  am 
Donnersberg  und  aus  der  Vorderpfalz  in- 
sofern   Übereinstimmung,    als    die    Technik    der 


1)   Die   richtige    Lautform   ist   von  Azil   abzuleiten, 
also  Azilien. 


Geräte  auf  gleich  niederer  Eutwickelung  steht 
und  nur  der  Bedürfnisfrage  entgegenkommt. 
Die  glänzenden  Zeiten  des  Aurignacieu,  Solu- 
treen  und  Magdalenien,  die  überhaupt  am  Rhein 
nur  schwach  entwickelt  waren  (vgl.  Hoernes: 
a.  a.  0.  I.,  S.  23 — 34),  sind  für  immer  versunken. 
Azilien  und  l'ampignyien  bieten  nur  schwachen 
Ersatz  dafür.  Auf  den  Hochflächen  des  Don- 
nersberges  ward  höchstens  in  roher  Form 
Hirse  gepflanzt  und  geerntet.  Am  Speyer- 
bach  wurde  gefischt  und  gejagt.  Höhere 
Kultur  sollten  erst  neue  Einwanderer  aus  dem 
Süden  Europas  bringen,  welche  von  dort  die 
Körnerfrüchte  und  Haustiere,  Töpferei  und 
Weberei  einführten. 

Neustadt  a.  d.  Hart,  im  September   19 IG. 


Ein  Nephrithammerfragment  in  Bad  Dürkheim. 


Von  Dr.  C.  M  e  h  1  i  s. 


Bei  Neuordnung  der  Sammlung  des  Alter- 
tumsvereines zu  Bad  Dürkheim  (Bad  Dürk- 
heim a.  d.  Hart)  fiel  dem  Verf.  unter  den  Stein- 
artefakten ,  von  denen  etwa  400  Objekte  aus 
Dürkheim  und  Umgebung  entstammen,  ein 
Nephritstück  auf  (vgl.  Abbildung). 

Es  ist  mit  Nr.  111  bezeichnet  und  als  Fundort 
der  „Feuerberg"  bei  Dürkheim  angegeben.  Das 
Stück  —  ein  Fragment!  —  hat  eine  Länge  von 
5,5  cm,  eine  von  0,1  bis  2,5  cm  ansteigende  Breite, 
eine  Höhe  von  1,7  bis  2,7  cm.  Die  Oberfläche 
ist  glatt  geschliffen  (a  —  b  —  e  —  /'),  nur  an 
einer  Stelle  (a  —  h),  die  1,7  cm  laug,  bis  0,5  cm 
breit  ist  und  sichelförmige  Gestalt  hat,  sind 
Querriefen  sichtbar.  Möglicherweise  deuten 
diese  auf  eine  ursprüngliche  Geröllnatur  des 
Gesteines  hin,  die  ja  bei  internen  Stücken 
gewöhnlich  ist  (Bodenseegegend,  Zentralalpen, 
Schweden  usw.).  Nach  unten  spitzt  sich  das 
Stück  in  eine  scharfe  Kante  aus,  die  auf  vier 
Seiten  von  mehr  oder  weniger  zackigen  und 
eckigen  Bruchflächen  begrenzt  wird.  Auf  der 
einen  dieser  Seitenflächen,  und  zwar  auf  einer 
Langseite  (bei  c  —  /' — e),  ist  eine  Lochuug  ein- 
gebohrt, dereu  Tiefe  2,1  cm,  deren  obere  Sehne 
2,9  cm  beträgt.  Da  jedoch  auch  die  Seiten- 
kanten c  — ■  /',  nicht  nur  die  Oberkante  e  — /', 
im  Bogen  läuft,  so  scheint  keine  zylindrische 
Bohrung,  sondern  eine  trichterförmige  statt- 
gefunden zu  halien.  Durchbohrungen  bei 
einheimischen  Nephritoidwerkzeugen  ge- 
hören bei  uns  in  Deutschland  zu  den  größten 
Seltenheiten,    was    sich    aus    der   Härte    und    der 


Zähigkeit  der  betreffenden  Mineralien  erklärt. 
In  meiner  Sammlung  ist  nur  ein  Nephrit- 
werkzeug durchbohrt,  und  dies  ist  exotischen 
Ursprungs,  wahrscheinlich  aus  Neuseeland 
(vgl.  H.Fischer,  a.a.O.,  S.  240,  Zeile  13  v.  o.). 
Die  Farbe  des  Gesteins  ist  matt  apfelgrün. 
Die  Masse  ist  homogen  gestaltet,  und  bei 
Untersuchung  durch  die  Lupe  sind  mineralische 


Beimengungen  nicht  sichtbar.  Bestimmt  mau 
den  oberen  Radius,  so  hat  derselbe  einen 
Durchmesser  von  2,5  cm,  was  auf  die  Makro- 
lithik  des  Werkzeuges  hindeutet.  —  Nach 
Untersuchung  des  Stückes  durch  Herrn  Prof. 
Dr.  Nachreiner  zu  Neustadt  a.  d.  H.  beträgt 
das  spezifische  Gewicht  2,62;  Härtegrad 
=  7  bis  8. 

Erstere  Zahl  stimmt  auffallend  mit  dem 
Neuseeländischen  Tangiwai-Mineral  überein,  das 
bei   H.Fischer:    „Nephrit    und    Jadeit"    nach 

7 


50 


Ferd.  von  Hochstetter  S.  242  kurz  beschrieben 
ist  Nephrit  selbst  hat  ein  etwas  höheres  spe- 
zifisches Gewicht,  von  2,96  an  beginnend  (vgl. 
a.a.O.,  S.  :»49 — 351).  Vergleichen  wir  die  bei 
11.  Fischer  auf  Tafel  I  und  II  angegebenen 
Farben  des  Nephrites,  Jadeites  und  Chloro- 
melanites,  so  kommt  die  Farbe  uuseres  Stückes 
am  nächsten  Nr.  2  =  dem  chinesischen  Nephrit, 
und  Nr.  12  =  Neuseeländer  Nephrit:  „licht 
apfelgrün,  etwa  wie  Chrysopras".  Damit  soll 
jedoch  keineswegs  der  exotische  Ursprung 
des  Hammerfragmentes  behauptet  sein,  zumal 
da  Fischer  in  der  „Erläuterung"  zu  Tafel  I 
ausdrücklich  bei  Nr.  2  drei  europäische  Vor- 
kommen, Tyrol,  Schweden  und  Schottland 
anführt.  Warum  soll  auch  Turkestan  oder 
Zentral-China  allein  das  Privileg  haben,  in  seinen 
Gebirgen  mattgrünen  Nephrit  zu  besitzen ?  — 
Der  5  km  östlich  von  Bad  Dürkheim  ge- 
legene,  jetzt  von  lieben  bedeckte  „Feuerberg" 


ist  eine  diluviale  Hochfläche  von  rund  130  m 
Meereshcihc  am  rechten,  südlichen  Hochufer  des 
„Bruches"  und  der  Isenach.  Auf  seiner  Fläche 
sind  von  jeher  zahlreiche  Altertümer  bei  Ro- 
dungen gefunden  worden.  Diese  reichen  von 
der  Ncolithik  an  bis  zur  Spätrömerzeit  (vgl. 
Mehlis:  „Studien  zur  ältesten  Geschichte  der 
Rheinlande",  .S.Abt.,  S.  43  und  sub  Eilerstadt, 
S.45;  8.  Abt.,  S.  27  sub  Feuerberg  und  S.  28  sub 
Eilerstadt;  außerdem  Korrespondenzblatt  für 
Anthropologie  1875,  S.  22 ;  1877,  S.  31). 
Dieser  seltsame  Einzelfund  gehört  wahr- 
scheinlich zu  einer  spä tueolithischen  Siedelung, 
die  schon  den  Übergang  zur  frühen  Metallzeit 
gebildet  hat.  Aus  dem  nahen  „Bruch"  stammt 
ein  flaches  Kupf erbeil  von  der  bekannten 
Pfahlbauform    (Museum    in  Bad  Dürkheim).   — 

Auffallend     ist     außer     dem     Mineral     die 
trichterförmige    Gestaltung    der    Durchbohrung. 

Neustadt  a.  d.  Hart,    Mitte  September    1916. 


Ausgrabungen  in  Gr.-Platon. 

Von  Dr.  Rechenbach,  Oberstabsarzt. 


Anfang  Januar  1916  wurden  bei  dem  Gute 
Gr.-Platon,  etwa  26  km  südlich  Mitau,  auf  einem 
Gelände  dicht  am  Flüßchen  Piatone  zur  Sand- 
gewinnung Spreugungen  vorgenommen  (s.  letztes 
Bild  in  der  Anlage  zu  den  Ausgrabungen  der 
Fliegerabteilung  37).  Durch  die  hierbei  heraus- 
beförderten Meuscheuknochen,  eisernen  und 
Bronzegegeustände,  welche  teilweise  noch  in  dem 
angerissenen  festen  Erdreich  steckten,  aufmerk- 
sam gemacht,  gruben  Angehörige  der  Formation 
dort  nach  und  stießen  sehr  bald  auf  weitere 
Gegenstände  gleicher  Art. 

Infolge  mehrfach  wiederholter  Sprengungen 
sowie  durch  vielfache  Grabungen  wurden  immer 
mehr  ähnliche  Funde  zutage  befördert,  darunter 
auch  größere  Skeletteile,  so  daß  eine  Friedhofs- 
anlage aus  vorgeschichtlicher  Zeit  hier  vermutet 
wurde.  Eine  diesbezügliche  Meldung  Ende  Mai 
an  das  A.-O.-K.  Ost  erreichte,  daß  die  Zivil- 
verwaltung für  Kurland  bzw.  die  Verwaltung 
des  Provinzialmuseums  in  Mitau  mit  der  wei- 
tereu Erforschung  des  Gräberfeldes  betraut 
wurde;  diese  übertrug  dann  mir  in  liebens- 
würdigstem Entgegenkommen  diese  Aufgabe. 

Mein  erster  Besuch  in  Gr.-Platon  anfangs 
Juli  galt  einer  Besichtigung  des  in  Frage 
stehenden  Geländes  sowie  der  gemachten  Funde 
und  einer  Besprechung  mit  der  Formation  über 
die  gelegene  Zeit  der  Ausführung  weiterer  Gra- 
buntjen. 


Die  Besichtigung  des  Fundplatzes  ließ  zwar 
mit  größter  Wahrscheinlichkeit  eine  vorgeschicht- 
liche Siedelung  vermuten ,  zugleich  setzte  sie 
aber  auch  die  Aussicht  auf  eine  größere  Aus- 
beute sehr  herab.  Denn  in  weiter  Ausdehnung 
war  das  Gelände  durch  die  vielfach  vorgenom- 
menen Sprengungen  und  durch  die  Abfuhr  von 
Saud  umgestürzt  und  (s.  Skizze  1)  durchwühlt, 
durch  die  allerorts  wahllos  angeschlossenen  Nach- 
grabungen war  die  Einheitlichkeit  des  Bildes 
noch  mehr  gestört.  Man  konnte  infolgedessen 
wohl  noch  mit  Gelegenheitsfunden  rechnen,  die 
Hoffnung  aber,  das  einheitliche  Bild  einer  Siede- 
lung oder  Grabanlage  aufzudecken,  mußte  außer- 
ordentlich gering  erscheinen.  Auch  von  den 
bisher  gemachten  Funden  war  nur  noch  wenig- 
vorhanden,  meist  waren  die  gefundenen  und 
als  wertvoll  erachteten  Gegenstände  als  An- 
denken nach  Hause  geschickt,  das  übrige  achtlos 
beiseite  geworfen  oder  verlegt.  Gegenstände, 
wie  sie  die  dem  A.-O.-K.  vorgelegten  photo- 
graphischen  Aufnahmen  zeigten,  fanden  sich  nicht 
mehr  vor,  angeblich  waren  sie  von  dem  Finder, 
einem  Unteroffizier,  nach  Magdeburg  an  das 
Museum  geschickt.  Das  in  der  gleichen  Anlage 
photographisch  wiedergegeben e  menschliche  Ske- 
lett erwies  sich  bei  näherer  Betrachtung  als 
zusammengesetzt  aus  Skeletteilen  verschiedener 
Individuen,  und  leider  waren  auch  die  so  wichti- 
gen ausgegrabenen  Schädel  nicht  mehr  zur  Stelle. 


51 


Trotz  alledem  wollte  ich  eine  genauere  Fest- 
legung der  Ansiedelung  nicht  unversucht  lassen, 
zumal  mir  von  Seiten  der  in  Gr.-Platon  liegenden 
Formation  möglichste  Unterstützung  in  Aussicht 
gestellt  wurde. 

Da  mir  zu  diesem  Zwecke  nur  ein  kurzer 
Urlaub  —  5  Tage  —  gegeben  werden  konnte 
und  die  verfügbaren  Arbeitskräfte  sehr  gering 
waren,  so  mußte  ich  mich  auf  die  notwendigsten 
Untersuchungen  beschränken.  Sie  wurden  vom 
5.  bis   10.  Juli   1916  vorgenommen. 

Lokalität  des  Fundortes.  Das  in  Frage 
kommende  Gelände  lag  auf  der  rechten  Seite 
des  Flüßchens  Platoue,  gegenüber  dem  Schloß- 


ein Fuhrweg ,  welcher  der  Abfuhr  des  Sandes 
gedient  hatte.  An  das  bearbeitete  Gelände 
schloß  sich  nach  Norden  und  Nordosten  zu  eiu 
größeres  Brachfeld  an,  ebenfalls  zum  Fluß  stark 
abfallend  und  au  diesem  mit  russischen  Schützen- 
stellungen durchsetzt.  Nach  Westen  und  Süd- 
westen wurde  das  Gelände  durch  einen  Fuhr- 
weg von  dem  nächsten  Acker  abgegrenzt,  und 
uach  Süden  und  Südosten  zu  erstreckten  sich 
Wiesen,  teils  bis  zum  lettischen  Friedhof,  teils 
bis  zum  Fluß.     (Skizze  1.) 

In  Frage  kam  nun ,  die  Umgrenzung  der 
früheren  Siedelung  bzw.  Grabaulage  nach  Mög- 
lichkeit   festzustellen.      Bei    der    Begehung    des 


Skizze  1. 


Sci'Uossparfc 


schraffiert*  flUe  Grabimge 


park,  etwa  300  m  vou  dem  noch  jetzt  in  Ge- 
brauch stehenden  lettischen  Friedhof  entfernt. 
Die  Piatone  zieht  sich  in  Windungen  um 
den  Schloßpark  herum ,  gerade  au  der  rechten 
Seite  meist  von  ziemlich  steil  abfallenden  Ab- 
hängen begleitet;  an  so  einen  Abhang  grenzte 
der  Fundort,  bis  vor  Kriegsausbruch  ein  be- 
ackertes Feld  oder  Weide.  Ein  größerer  Teil 
des  Abhanges  wurde  noch  durch  alte  russische 
Schützenstelluugen  eingenommen ,  in  der  Mitte 
des  jetzigen  Brachfeldes  fand  sich  eine  etwa 
50  m  lange  und  35  m  breite  unregelmäßig  ab- 
gebaute Mulde,  teilweise  erfüllt  von  eingestürzten 
Rasenstücken  und  Lehmmassen,  die  Stelle  der 
früheren    Sprengungen;    in    diese    Mulde    führt 


Geländes  fanden  sich  schon  verschiedene  Gegen- 
stände frei  in  dem  umgeworfenen  Sand  oder  in 
der  Nähe  der  russischen  Schützenstellungen,  wie 
Überreste  der  verschiedensten  Skeletteile,  ver- 
schiedene von  den  Findern  achtlos  weggeworfene 
Lanzenspitzen,  sowie  kleinste  Überreste  von 
Bronzeketten  und  eine  Bronzenadel.  Eine  nähere 
Erkundigung  bei  der  Formation,  besonders  bei 
den  Unteroffizieren  und  Mannschaften,  welche 
Nachgrabungen  angestellt  hatten,  ergab  dann 
das  folgende  Bild  und  Ergebnis  der  bisher  an- 
gestellten Forschungen. 

Nach  jeder  Sprengung  oder  Sandabfuhr 
wurde  das  Terrain  nach  herausgeschleuderten 
Fundstücken  von  den  interessierten  Leuten  (Unter- 


52 


Offizieren  und  Mannschaften)  abgesucht;  an  tlen 
Sprengrändern  wurde  teilweise  nachgegraben  und 
naehgeschürft,  besonders  wenn  sieh  eine  Brand- 
oder Verwesungsschicht  zeigte,  in  dieser  sollen 
dann  die  meisten  Funde  gemacht  worden  sein. 
Von  einem  Unteroffizier  sind  dann  auch  mehrere 
planmäßige  Nachgrabungen  angestellt  worden, 
und  /.war  nach  Osten,  nach  dem  Abhänge  zu. 
liier  sollen  siel)  dann  Grabanlagen,  12  bis  16 
an  der  Zahl  in  einer  Reihe,  vorgefunden  haben, 
welche  meist  nur  einzelne  nicht  vergangene 
Knochenteile  und  fast  stets  Eisenwaffen  und 
Bronzesachen  enthielten.  Stets  lagen  die  Funde 
auf  dem  anstehenden  Lehm,  etwa  a  2  bis  3  4  in 
unter  der  Erdoberfläche,  meist  fand  sieh  eine 
Verwesungsschicht  von  ungleichmäßiger  Aus- 
dehnung; ein  vollständig  erhaltenes  Skelett 
wurde  niemals  aufgedeckt,  nur  zweimal  ein  gut 
erhaltener  Schädel.  Teilweise  konnte  man  noch 
aus   der  Lage   der  Kuochenteile   zueinander  die 


Schützenstellungen  gemacht  worden,  doch  meist 
nur  Knochenstücke  und  Scherben.  Auf  Grund 
dieser  Angaben  ließ  sich  das  jetzt  etwas  ver- 
änderte Terrain  einigermaßen  verwerten.  Es 
fanden  sich  2  m  vom  Abhang  entfernt  noch  die 
deutlichen  Grabungen  der  angeblich  12  bis 
16  Reiheugräber,  an  diese  schlössen  sich  nach 
Nordosten  zu  die  russischen  Schützenstände  am 
Abhänge  an,  welche  teilweise  nochmals  nach 
Funden  durchwühlt  waren;  vor  letzterem  und 
bis  ziemlich  nördlich  und  westlich  an  das  eigent- 
liche Spreng-  und  Saudabfuhrterrain  waren  noch 
die  mehr  oder  minder  tiefen ,  teilweise  wieder 
zugeworfenen  Versuehsgräben  zu  sehen,  welche 
ebenfalls  der  Auffindung  von  Gegenständen 
dienen  sollten  (s.  Skizze   1). 

Bei  den  nun  selbst  angestellten  Grabungen 
ergab  sich  meistens  folgendes  Bild:  Nach  Ent- 
fernung der  Humuserde  stieß  man  auf  einen 
gelbrötlichen  Sand,  welcher  sich  in  verschieden 


5k  iz-ze  J. 


Querschnitt 
durch  einen    Versuclisorabeii. 

Humusschicht    ca.  30  cm.  hoch 

Sa-ndachfcht      ZO-M-0  cm. 

Fundscb  ichf . 

ans  teilender    Lehm- 


ursprüngliche  Lagerung  der  Leiche  erkennen, 
doch  habe  keine  Einheitlichkeit  bestanden,  sehr 
oft  hätten  bei  der  einen  Leiche  die  Schädelreste 
nach  Nordosten,  bei  der  benachbarten  dagegen 
nach  Südwesten  gelegen;  au  der  Schulter  fanden 
sich  meist  zwei  Lauzenspitzen,  eine  Hacke  und 
ein  Sichelmesser,  in  der  Gegend  der  Brust 
Bronzenadeln  und  zuweilen  ein  eisernes  Schwert 
oder  Messer.  Diese  oben  erwähnten  12  bis 
16  Reihengräber  lagen  durchschnittlich  in  1  m 
Entfernung  voneinander,  so  daß  die  Lage  der 
nächsten  Bestattung  von  vornherein  schon  hätte 
festgestellt  werden  köunen.  An  anderen  Stellen 
hätten  sich  solche  regelmäßigen  Grabanlagen 
nicht  gefunden,  meist  nur  wenige  Einzelfunde, 
oft  in  einer  Verwesungsschicht  und  zuweilen  in 
verschiedener  Höhe  und  Lage  zueinander;  manch- 
mal hätten  sich  auch  Überreste  von  Tongefäßen  in 
Scherben,  sowie  einzelne  Brandkohle  oder  direkt 
Brandherde  gezeigt.  Einzelfunde  seien  auch  in 
der  herausgeworfenen  Erde   bei   den   russischen 


dicker  Lage  (20  bis  40  cm  hoch)  bis  zum  an- 
stehenden (s.  Skizze  2)  Boden,  stets  fester  Lehm, 
fortsetzte;  zuweilen  war  der  Sand  etwas  kiesig. 
Der  anstehende  Lehm  bildete  strichweise  nicht 
eine  ebene  Fläche,  sondern  zeigte  eine  unregel- 
mäßige wellige  Ausdehnung,  so  daß  man  manch- 
mal schon  nach  40  cm  von  der  Oberfläche  ent- 
fernt, auf  diesen  Lehm  stieß  (s.  Skizze  2).  Meist 
an  der  Grenze  zwischen  Sand  und  Lehm  fand 
sich  nun  zuweilen  eiue  graue  oder  bräunlich 
gefärbte  Schicht  von  durchschnittlich  3,  manch- 
mal 10  cm  Stärke,  welche  vielfach  unregelmäßig 
höher  oder  tiefer  ging,  zuweilen  sich  verlor  und 
zuweilen  stärker  zutage  trat;  manchmal  ließ  sich 
diese  Zone  wie  ein  schmales  unregelmäßiges 
Band  genau  verfolgen,  hatte  eine  Flächenausdeh- 
nung von  zuweilen  35  bis  40  cm  und  eiue  Höhe 
von  2  bis  8  cm;  strichweise  fanden  sich  nur 
Spuren.  War  diese  Zone  von  grauer  oder  grau- 
schwarzer Farbe,  so  ließen  sich  in  dieser  Schicht 
einzelne  Überbleibsel  von  Kohle  und  Asche  fest- 


53 


stellen;  zeigte  die  Zone  mehr  bräunliche  Färbung, 
so  fehlten  meist  Kohlenteilchen.  Im  Verlaufe 
dieser  angegebenen  Schicht  wurden  die  meisten 
Gegenstände  gefunden,  sei  es,  daß  sie  direkt  in 
dieser  Schicht  lagen,  sei  es  in  nächster  Nähe 
seitwärts  oder,  was  am  häufigsten  vorkam,  dar- 
unter, direkt  auf  dem  Lehm.  An  zwei  ver- 
schiedenen Stelleu  fanden  sich  große  Brand- 
herde  mit  verkohlten  Holzstücken;    über    diese 


5K/"zze  SL 


sprach  aber  nicht  den  Erwartungen.  Nur  in 
den  beiden  ersten  Versuchsgräben  fanden  sich 
meist  im  Verlauf  einer  schmalen  Braudschicht, 
etwa  40  cm  tief,  ein  flaches,  25  cm  langes,  8  cm 
breites,  nicht  angekohltes,  aber  halb  ver- 
modertes Holz  (s.  Tafel  IV,  Einzelfund,  und 
Tafel  V)  und  vielleicht  '  2  m  davon  eine  Bronze- 
Fibula  erhalten.  Es  handelt  sich  hierbei  um 
eine   Hufeisen-Fibula    mit    bandartig    aufge- 


Neue  6 

schraffiert  Pi.i)  Stöc 
seLbstangelegle  i)  Hufe 
5tichgrä.ben.  3)eiser 


wird  unten  berichtet  werden.  Ich  gehe  nun  zu 
den  einzelnen  Grabungen  bezw.  Funden  über. 
Die  meiste  Aussicht  auf  Erfolg  schien  eine 
Nachgrabung  parallel  zu  den  sogenannten  Reihen- 
gräbern zu  haben,  nach  dem  Abhänge  zu.  Hier 
war  noch  freies,  nicht  duichwühltes  Terrain  bis 
zu  3  m  Breite.  Es  wurden  deshalb  in  diesem 
Gelände  parallel  und  senkrecht  zu  den  schon 
ausgeworfenen  Gräben  mehrere  (etwa  vier  parallel 
und  sechs  senkrecht)  Versuchsgräben  gezogen, 
welche  sämtlich  bis  auf  den  anstehenden  Lehm 
und    darüber   hinaus    gingen.     Der   Erfolg    ent- 


rollten Enden,  Längsdurchmesser  6,2  cm,  Quer- 
durchmesser 5V2cm,  ohne  Verzierungen,  glatt 
viereckig  (s.  Katalog  der  Ausstellung  zum  X. 
archäologischen  Kongreß  in  Riga  1896,  Tafel  XIX, 
Fig.  8 ,  und  Ausgrabungen  auf  dem  Landgute 
Zeemalden  durch  Karl  Boy,  Tafel  V,  Fig.  4). 
Weiter  links  davon,  aber  bedeutend  höher  liegend, 
also  ziemlich  flach  unter  der  Erde,  ein  eiserner 
Kelt  von  26,5  cm  Länge  mit  schmaler  Schneide 
und  runder  Tülle  (s.  Katalog  der  Ausstellung 
Riga  1896,  Tafel  XXII,  Fig.  1).  Knocheuüber- 
reste  fanden  sich  hier  überhaupt  nicht,  sondern 


54 


nur  einige  Überbleibsel  von  Kohle  und  Asche. 
(Nach  unbestimmten  Angaben  soll  vor  Jahren 
hier  am  Abhänge  entlang-  ein  Fahrweg  gegangen 
sein;  vielleicht  erklärt  dies  du  ich  zufällige  frühere 
Umgrabungen  das  Fehlen  weiterer  Fundgegen- 
stände  und  die  jetzige  Lage  der  noch  vor- 
handenen.) In  den  übrigen  Stichgräben  fand 
sich  wohl  hier  und  da  eine  geringe  Braudschicht 
mit  einigen  kleinen  Kohlenteilchen  und  auch 
eiuige  Überreste  von  Scherben ,  aber  keine 
Knochenstücke  oder  sonstigen  Gegenstände,  in 
den  dem  Abhänge  zunächst  liegenden  Stich- 
gräben fand  sich  überhaupt  nichts.    (Skizze  III.) 

Weitere  Grabungen  wurden  zwischen  dem  Ab- 
hange  in  nächster  Nähe  der  russischen  Schützen- 
stellungen (s.  Skizze  III  B)  und  dem  Spreng- 
terrain vorgenommen;  bei  weiterem  Ausbau 
dieser  Grabungen  kam  man  aber  schon  in  frühere 
Versuchsgräben  hinein,  so  daß  die  Resultate 
unvollständig  waren.  Verhältnismäßig  unberührt 
war  au  dieser  Stelle  folgende  Grabanlawe.  Auf 
dem  Lehm  aufliegend  fanden  sich  nebeneinander 
liegend  zwei  gut  erhaltene  eiserne  Lauzenspitzen 
von  25  cm  Länge  (s.  Tafel  V)  mit  Holzresten 
des  Schaftes;  rechts  von  diesen,  Teil  eines  Schädel- 
daches, daran  anschließend  obere  Hälfte  des 
linken  Oberarmes,  einige  Halswirbel,  die  zwei 
ersten  Rippen,  in  Fortsetzung  dieser  in  Richtung 
von  Osten  nach  Westen  liegenden  Teile  fanden 
sich  ein  gut  erhaltener  linker  Oberschenkel  und 
Unterschenkel  und  einzelne  Fußwurzelknochen; 
das  untere  Ende  des  Schienbeines  umfaßte  noch 
ein  eiserner  Sporn,  Querdurchmesser  7cm  (s. 
Tafel  IV,  Fundplatz  C  3)  sonstige  Spuren  fehlten. 

Es  wurden  nun  einige  Versuchsgräben  auf 
der  anderen  Seite  des  Sprengterrains  zwischen 
diesem  und  dem  Fahrwege  angelegt.  (Skizze  3C.) 
Nach  verschiedeneu  ergebnislosen  Versuchen  im 
Anschluß  an  alte  Nachgrabungen  stieß  man  auf 
eine  größere  Verwesungsschicht  dicht  oberhalb  des 
anstehenden  Lehms,  welche  unregelmäßig  in 
Höhe  und  Ausdehnung,  anscheinend  drei  ver- 
schiedenen, aber  doch  direkt  ineiuander  über- 
gehenden Grabanlagen  angehörte.  Es  fand  sich 
am  meisten  rechts  Grabanlage  I. 

1.  Etwas  abseits  eine  Bronzespirale  in  eiu- 
faeher  Windung,  3'2cm  Durchmesser,  einen 
kleinen  Knochen  enthaltend,  der  aber  sehr  rasch 
zerfiel.     (Kinderarmring  ?) 

2.  Ein  mit  Eisenrost  und  Grünspan  über- 
zogener Gegenstand  aus  einzelneu  kleinsten 
Brouzeriugen  bestehend  (s.  Tafel  III,  Fund- 
platz I  und  Kasten  I)  die  anscheinend  aufgereiht 
sind  (vielleicht  auf  Draht). 

3.  Überreste  eines  eisernen  Sporens? 


4.  Zwei  eiserne  Sichelmesser,  Holzgriff  etwas 
erhalten. 

5.  Ein  eingedrücktes  Schädeldach  auf  der 
Hälfte  eines  Unterkiefers  aufliegend;  daran  an- 
schließend Reste  von  Halswirbeln,  meistens  alles 
grünlich  überzogen,  Wirbel  und  Unterkiefer  von 
Resten  einer  Bronzekette  bedeckt. 

6.  Eine  eiserne  Hacke  und  darunter 

7.  ein    Scherbenstück    ohne    Besonderheiten. 
Alle  Knochen,  besonders  Schädelbein,  waren 

sehr  weich ;    anscheinende  Lage   der  Bestattung 
von  Nordwest  zu  Südost. 

Links  daran  anstoßend,  vielleicht  40  cm  ent- 
fernt, Grabanlage  II  (s.  Tafel  III,  Fundplatz  II, 
Kasten  II)  Schädelreste  nicht  vorhanden ,  im 
übrigen 

1.  Schlüsselbein,  erste  Rippe,  Reste  von 
Wirbeln  und  Unterkiefer. 

2.  Letzterer  mit  umschlungener  und  zusammen- 
gebackener Ringkette  aus  Bronze,  aus  einzelnen 
kleinen  Bronzeringehen  bestehend. 

3.  Zwei  Fingerringe  mit  dem  Fingerknochen 
darin ,  beide  aus  Bronze.  Der  eine  von  sieben 
Spiralen,  die  einzelne  Spirale  in  der  Mitte  ver- 
tieft, Durchmesser  2  cm;  der  andere  Durchmesser 
1 '  j  i'iD ,  aus  sechs  Windungen  bestehend,  die 
einzelne  Windung  mit  Eiukerbungen. 

4.  Teile  eines  Lederbesatzes?  V2  cm  breit  mit 
halbkugeligen  hohlen  Bronzeknöpfchen. 

5.  Eine  größere  Anzahl  kleinerer  Tonperlen 
(durchlöchert)  und  eine  Bronze-  oder  Silberperle. 
Zwei  Touperleu  fanden  sich  noch  an  einer  feinen 
Schnur  aufgereiht. 

6.  Teile  einer  Ringkette  mit  röhrenförmigem 
Anhängsel,  ebenfalls  aus  kleinsten  Brouzespiralen 
bestehend. 

7.  Anhängsel  oder  Beschlag  aus  Silberblech 
ohne  Ösen  in  der  Form  einer  halben  Scheibe, 
an  den  Rändern  mit  strichförmigen  Erhebungen, 
desgleichen  durch  solche  in  zwei  Felder  geteilt, 
die  je  einen  größeren  Augenpunkt  zeigen. 

Die  Ringketten  (2.  und  6.)  sowie  die  Ton- 
perlen  und  das  Silberblech  lagen  mit  den  Knochen- 
überresten zusammen  und  gehörten  wahrscheinlich 
zu  einem  oder  mehreren  Schmuckgegenständen; 
Gewebereste  ließen  sich  nicht  mehr  sicher  nach- 
weisen. 

Am  meisten  links,  aber  vielleicht  etwas  weniger 
tief  uuter  der  Eidoberfläche  lau-  Grabstätte  III 
(s.  Tafel  III,  Fundplatz  III  und  Kasten  III), 
welche  sich  hauptsächlich  durch  eine  größere 
Partie  grober  Tonseherben  kennzeichnete;  letz- 
tere schienen  zusammen  ein  größeres  Gefäß 
oder  Platte  gebildet  zu  haben,  denn  sie  lagen 
dicht  beieinander.  Die  Scherben  bestehen  ans 
grobkörnigem,  erdigem  Ton  mit  einzelnen  Quarz- 


55 


einschlüssen  ;  die  Farbe  ist  schwärzlich  (gebrannt), 
grau  bis  rötlich ;  die  Innenfläche  ist  geglättet, 
im  übrigen  sind  es  sehr  roh  geformte  und  ge- 
braunte Scherben.  Diese  lagen  etwas  höher  als 
die  übrigen  Gegenstände,  an  denen  sich  vor- 
fanden (s.  Katalog  Riga  1896,  Tafel  XIII,  Fig.  16): 

a)  Zwei  Bronzenadelu.  Die  erste  eine  ein- 
fache Ringnadel  mit  Öse  und  noch  darin  be- 
findlichem kleinen  Ring,  12'/2  cm  lang,  die 
zweite  eine  Kreuznadel  mit  drei  runden,  ab- 
gesetzten Knöpfen  und  an  Stelle  des  vierten, 
am  Schaft  eine  Öse  für  Anhängsel;  diese  Nadel 
ist  14  cm  lang.  Dicht  bei  diesen  Nadeln  lag 
der  Rest  einer  etwas  verschlungenen  Kette  mit 
einer  ziemlich  5  cm  langen  Ringspirale. 

b)  Ein  Anhängsel,  aus  einem  halbmond- 
förmigen Kettenträger  bestehend,  der  selbst 
wieder  an  drei  Ösen  von  drei  kleinen  Bronze- 
ketten gehalten  wurde,  diese  drei  Ketten  laufen 
ebenfalls  in  einer  Öse  zusammen. 

c)  Ein  Sichelmesser  mit  daneben  liegender 
Pfeilspitze. 

d)  Eine  Hacke  aus  Eisen. 

Auch  diese  zwei  Grabanlagen  hatten  die 
Richtung  Nordwest  zu  Südost.  Im  Verlaufe 
der  weiteren  Grabungen  kam  man  wieder  in 
schon  durchgewühltes  Geläude.  Das  gleiche  war 
der  Fall  bei  eiuer  Bestattuugsanlage,  welche  3  m 
nordwestlich  zu  den  drei  oben  beschriebenen, 
also  nach  dem  Wege  zu,  der  den  Acker  von 
dem  Sandterrain  trennt,  lag.  Im  weiteren  Ver- 
folg einer  alten  Nachgrabung  fand  sich  dicht 
beieinander  auf  dem  anstehenden  Lehm  auf- 
liegend: 

1.  Ein  massiver  Armring,  welcher  die  von 
ihm  umschlossenen  Teile  der  Unterarmknochen 
vor  Verwesung  geschützt  hatte;  es  handelt  sich 
hierbei  um  die  oberen  Enden  der  rechten  Unter- 
armknochen, welche  mit  Erde  und  Sand  um- 
geben, fest  in  dem  Armringe  steckten.  Da  die 
Öffnung  des  Armringes  selbst  aber  für  einen 
Oberarm  zu  eng  ist,  so  muß  man  wohl  an- 
nehmen, daß  der  Ring  nach  der  Bestattung  vom 
Handgelenk  nach  oben,  dem  Ellenbogengelenk 
zu,  verrutscht  ist  und  so  die  oberen  Teile  später 
umschloß  und  schützte;  eigenartigerweise  fand 
sich  aber  in  der  vom  Armring  umschlossenen 
Sanderde  noch  das  knöcherne  Endglied  des 
kleinen  Fingers.  Der  Armring  selbst  zeigte 
einen  Durchmesser  von  9  cm,  eiue  Höhe  von 
5l/2cm;  die  Weite  der  Öffnung  beträgt  eben- 
falls 5y2cm;  die  Hauptmasse  des  Ringes  bildet 
ein  D'jCin  hoher  hohler  Grat.  Dieser  zeigt  die 
einzigen  Verzierungen,  nämlich  auf  seinen  beiden 
Flächen  strichförmige  Reihen  von  vier  Augen- 
punkten, welche  seukrecht  zur  Höhe  des  Grates 


verlaufen  und  2y2cm  voneinander  entfernt  sind, 
so  daß  auf  jeder  Seite  anscheinend  acht  dieser 
Verzierungen  vorhanden  waren.  Die  beiden 
Händer  des  Armringes  sind  scharf  und  etwas 
unregelmäßig  ausgebrochen ;  der  Armring  ist 
nicht  ganz  geschlossen,  sondern  zeigt  einen  sehr 
schmalen  Spalt,  so  daß  sich  die  Enden  berühren, 
wahrscheinlich  zum  besseren  Überstreifen  des 
Ringes  (s.  Tafel  III,  Fundplatz  IV,  und  Katalog 
der  "Ausstellung  Riga  1896,  Tafel  XX,  Fig.  1). 
Dicht  bei  diesem  Armringe  lagen  zwei  große 
Kreuznadeln,  die  eine  16,  die  andere  17  cm  lang 
mit   Kreisornamenteu    auf   jedem    Blatt    und   in 


der  Mitte,  ein  silberner  Beschlag  fehlt  (s.  Katalog 
Riga  1896,  Tafel  XIII,  Fig.  19).  Die  eiue  Nadel 
trug  an  einer  Öse  einen  halbmondförmigen  Ketten- 
träger (s.  Katalog  Riga  1896,  Tafel  XIV,  Fig.  1). 
Im  übrigen  fanden  sich  in  einer  leichten  Ver- 
wesungsschicht nur  Überreste  von  vermorschten 
Knochen. 

Verhältnismäßig  unberührt  durch  Grabungen 
war  das  südlich  hiervon  etwa  4  m  entfernt 
liegende  Gelände  (s.  Skizze  HIE).  Es  fanden 
sich  hier  nebeneinander  verschiedene  Bestattungs- 
anlagen, welche  meist  aber  nur  eine  Verwesungs- 
schicht mit  wenigen  Knochen,  aber  ohne  Bei- 
gaben, aufwiesen  ;  die  Knochen,  Teile  des  Schädels, 
Wirbel  und  Extremitäten,  waren  fast  alle  sehr 
morsch    und    zerfielen    sofort.      Bemerkenswert 


56 


sind  drei  Bestattungen,  von  denen  zwei  hinter- 
einander, die  dritte  neben  der  größeren  lag. 

Bestattung  I  (s.  Tafel  I,  Fundplatz  A). 
Koj>f  nach  Süden,  Schädel  zusammengedrückt, 
am  Kopf  einzelne  Halswirbel,  neben  diesen  je 
eine  Bronzenadel  mit  einzelnen  Überresten  von 
Ketten  und  Spiralen,  an  der  linken  Schulter 
ein  Sichelmesser  und  eine  Pfeilspitze.  Die  Nadeln 
sind  Dreiecknadeln  von  11cm  Länge;  die  beiden 
Knöpfe  sind  gut  abgesetzt.  Die  Nadeln  waren 
wohl  früher  durch  Kettengehänge  miteinander 
verbunden.  Die  noch  vorhandenen  Bronze- 
spiralen enthalten  Stoffreste. 


I    -,._,.   liU- 


-  -  r-r 


In  Verlängerung  dieser  Leiche  nach  Süd- 
osten zu,  aber  mit  dem  Schädel  nach  Südwesten 
zu  liegend,  faud  sich  die  reichhaltigste  Bestattung 
(s.  photographische  Aufnahme). 

Bestattung  II  (s.  Tafel  I  und  II,  Fund- 
platz B).  Auf  dem  anstehenden  Lehm ,  der 
etwas  unregelmäßige  Oberfläche  zeigte,  lag  eine 
graubraune  Verwesungsschicht  von  2  bis  5  cm 
Höhe,  in  welcher  die  Funde  eingebettet  waren. 

1.  Am  meisten  nach  Süden  zu  lagen  zwei 
große  Armspiralen  aus  Bronze;    zwischen  ihnen 

2.  zwei  Bronzenadeln  mit  dreifachem,  langem 
Kettenurehänwe.     Mit  diesen   zusammen  eine  An- 


zahl kleiner  Ketten  und  Spiralen.    Darüber  nach 
dem  Schädel  zu 

3.  ein  Bronze-Hohlring  mit  haftenden  Gewebe- 
resten, neben  diesen 

4.  eine  Perle  von  Bernstein,  Durchmesser 
ziemlich  1  cm  durchlöchert.  Mit  dieser  zusammen 
lagen  Überreste  oberer  Rippen  und  nördlich 
hiervon  fand  sich  der  Teil  eines  Schädeldaches, 
ziemlich   morsch.     Seitlich   lagen 

6.  und  7.  rechts  eine  Eisenhacke  und  ein 
Sichelmesser  aus  Eisen,  dicht  beieinander; 

8.  links  in  Verlängerung  des  Ilohlringes 
nach   unten  eine  Pfeilspitze  (oder  Pfriem). 

Die  beiden  Bronze  -  Armspiralen  sind  von 
gleicher  Größe  und  Ausführung;  beide  enthielten 
noch  die  oberen  Zweidrittel  der  dazugehörigen 
LTnterarmknochen.  Die  Armringe  selbst  bestehen 
aus  neun  Windungen,  von  denen  die  beiden 
ersten  Spiralen,  und  zwar  beider  Enden,  strich- 
förniige  Verzierungen  zeigen;  sie  gehen  nach 
1 '  2  Windungen  mit  einem  gewissen  Absatz 
in  die  etwas  breiteren,  mittleren  Spiralen 
über;  diese  sind  glatt  (s.  Katalog  Riga  1896, 
Tafel  XVI,  Fig.  6).  An  einzelnen  Spiralen 
kleben  noch  äußerlich  Stoffreste.  Die  beiden 
Brouzenadeln  sind  Kreuznadeln  mit  sjut  ab- 
gesetzten Knöpfen,  Länge  15  bis  16cm.  Der 
rautenförmige  Mittelbezirk  des  Nadelkopfes  war 
mit  einem  Silberblech  belegt;  das  erhaltene 
Sillierblech  weist  in  der  Mitte  einen  Augen- 
punkt und  am  Rande  strichförmige  Erhebungen 
auf.  An  Stelle  des  unteren  Knopfes  befindet 
sich  am  Schaft  eine  ziemlich  starke  Öse;  von 
dieser  geht  eine  aus  sechs  Doppelriugen  be- 
stehende Kette  aus,  in  deren  letztem  Ringe  sich 
die  Enden  der  drei  langen  Ketten  des  Gehänges 
vereinigen.  Die  oberste  Kette  ist  etwa  40  cm 
lang,  hat  etwas  stärkere  Ringe  als  die  beiden 
unteren,  welche   50  bzw.  60  cm  lang  sind. 

Mit  diesem  Schmuckgehänge  lag  noch  eine 
Reihe  von  kleineren  Ketten  und  Anhängern,  teils 
aus  Kettchen,  teils  aus  röhrenförmigen  Bronze- 
spiralen bestehend,  zusammen;  die  röhrenförmigen 
Bronzespiralen  enthielten  teilweise  noch  schnur- 
artige Gewebereste.  Wahrscheinlich  handelt  es 
sich  bei  ihnen  auch  um  Schmuckgegenstände, 
Besatz  von  Geweben  oder  dergleichen. 

Der  Bronze-Hohlring  ähnelt  in  auffallender 
Weise  dem  im  Katalog  der  Ausstellung  zum 
X.  archäologischen  Kongreß  in  Riga  1896  auf 
Tafel  XIV,  Fig.  13  wiedergegebenen  ringför- 
migen Trinkhornbeschlag  aus  Bronze.  Er  be- 
steht aus  Bronzeblech ,  das  an  der  Oberfläche 
glatt  und  abgerundet,  innen  rinnenförmig,  Reste 
von  Leder  oder  irgend  einer  anderen  festeren 
Substanz  enthält.     Nach  meiner  Ansicht  dürfte 


57 


es  sich  vielleicht  um  den  oberen  Teil  eines 
Pfeilköchers  handeln,  obwohl  die  in  seiner  Ver- 
längerung liegende  Pfeilspitze  nicht  als  Beweis 
angeführt  werden  soll.  Der  Durchmesser  der 
Öffnung  des  Hohlringes  beträgt  6  cm.  Die  er- 
wähnte Pfeilspitze  ist  10  cm  lang  und  am  uuteren 
Teile  noch  mit  Holzresten  bekleidet.  Die  vor- 
gefundene Eisenhacke  ist  verhältnismäßig  kurz, 
13  cm  laug,  ohne  Besonderheiten.  Das  bei  ihr 
liegende  Sichelmesser  ist  auch  ein  kleineres 
Exemplar,  17  cm  laug;  der  in  den  Holzgriff  ein- 
gelassen gewesene  Eisenschaft  war  noch  von 
Holzresten   umgeben. 

Weitere  Beigabeu,  Knochenreste  oder  son- 
stiger Anhalt  fanden  sich  nicht  bei  dieser  reichen 
Bestattung.  Rechts  von  ihr  und  ziemlich  parallel, 
nur  etwa  1/a  m  entfernt,  fanden  sich  aber  noch 
einige  Gegenstände,  die  aber  wohl  einer  be- 
sonderen Grabanlage  zuzuteilen  sind  (s.  Tafel  II, 
Fundplatz  C). 

1.  Ein  kleiner  Bronze-Spiralring,  aus  41  2  Win- 
dungen bestehend,  Durchmesser  der  Öffnung 
4cm.  Die  erste  Spirale  zeigt  parallele  Striche- 
Inner.  Der  Armring  umfaßte  zwei  sehr  morsche 
und  schmale  Röhrenknochen  (Teile),  von  denen 
der  eine  nicht  zu  erhalten  war. 

2.  Eine  10  cm  lange  Ringnadel  aus  Bronze 
mit  Öse  und  Resten  einer  kleinen  Bronzekette. 

3.  Teil   eines   anscheinend   geraden   Messers. 

4.  Ein  kleines  Scherbenstück  aus  rotem  Ton. 
Knochenreste  waren  nicht  mehr  festzustellen, 

dagegen  fanden  sich  etwa  3/* m  davon  ver- 
morschte Teile  eines  Schädels.  Überhaupt  fanden 
sich  verhältnismäßig  oft  Überreste  von  Schädeln, 
manchmal  von  verschiedenen  Individuen  nahe 
zusammenliegend,  ohne  Beigaben,  s.  o. 

Etwas  Interesse  bietet  noch  eine  Bestattung, 
welche  in  diesem  Gelände  angeschnitten  wurde, 
aber  auch  kein  vollständiges  Bild  ergibt,  da 
Skeletteile  sich  nur  sehr  spärlich  vorfanden.  Im 
Verlaufe  einer  Verwesnngsschicht  fand  sich: 

1.  Ein  Spiral- Armring  aus  Bronze,  welcher 
in  Erde  umschlossen  noch  Teile  der  Unlerarni- 
knochen,  sowie  drei  Handwurzelknoehen  (große 
und  kleine  Vielecksbeine)  euthielt;  an  einzelnen 
Windungen  hafteten  noch  Gewebereste  fest. 
Der  Riner  umfaßt  11  Windungen,  von  denen  an 
jedem  Ende  die  beiden  ersten  ziemlich  schmal 
sind,  flache  Einkerbungen  zeigen  und  mit  einem 
Absatz  in  die  viel  breiteren  Mittelwindungen 
übergehen;  diese  zeigen  ein  rautenförmiges  Muster 
(Stricheluug). 

2.  (S.  Tafel  IV,  Fundplatz  9.)  Eine  Ring- 
nadel aus  Bronze  von  13  cm  Länge  mit  Öse  und 
kleinem  Kettchen. 


3.  (Dazu  Kästcheu  mit  den  Resten  gezeichnet 
Fundplatz  D  und  Überreste  eines  Schädeldaches.) 
Reste  vou  Gewebestoff  (scheinbar  mit  Haaren 
oder  Fellresteu  zusammengebacken)  mit  bron- 
zenen Spiralen  oder  Ketten  durchsetzt.  Das 
Ganze  lag  einer  morschen  Schädeldecke  auf. 
Vielleicht  handelt  es  sich  um  eine  Kappe  aus 
Spiralen,  wie  sie  im  Katalog  der  Ausstellung 
Riga   1S96,  Tafel  XI,  gezeichnet  ist. 

4.  (S.  Tafel  V.)  Zwei  Lanzenspitzen,  dicht 
beieinander  liegend,  beide  noch  mit  Holzresten 
des  Lanzenschaftes.  Die  eine  Lanzenspitze  ist 
32  cm  lang,  das  Blatt  selbst  17  cm  hing  und 
außerordentlich    breit,    5cm  breit;    die    andere 


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Lanzenspitze   ist   26  cm  lang    und    hat   ein  Blatt 
von  15  cm  Länge  und  31  2cm  Breite. 

Im  Anschluß  hieran  können  die  eisernen 
Gegenstände,  besonders  Waffen,  Erwähnung 
finden,  welche  sich  fast  bei  jeder  Bestattung 
fanden  und  zwar  in  reichlicher  Anzahl. 

Zu  einer  vollständigen  Bestattung  schienen 
zu  gehören : 

2  Lanzenspitzen,  dicht  beieinander  gelegt, 

1   Pfeilspitze, 

1    oder  mehrere  Hacken   und 

1   oder  2  Sichelmesser. 

8 


58 


Nur  einmal  fand  sieb  ein  Ilohlkelt,  der  oben 
beschrieben   ist. 

Die  Lanzenspitzen  zeigen  fast  alle  eine  eiserne 
Tülle,    in    welcher    der  Holzschaft    steckte;    nur 


einmal  bei  der  breiten  und  besonders  laugen 
Lauzenspitze  umgab  der  Holzschaft  den  Dorn 
der  Lanze. 

Die  Pfeilspitzeu  waren  ebenfalls  mit  dem 
Dorn  im  Schaft  befestigt.  Die  eigentliche  Spitze 
scheint  eine  Länge  von  5  bis  9  cm  gehabt  zu 
haben. 

Drei  Beile  zeigen  den  Typus  des  Sehmal- 
beiles, zwei  sind  groß  und  kräftig  (18  und  16  cm 
lang),  die  Schneide  6  bzw.  4V2cm  breit,  bei 
ihnen  ist  der  Stiel  in  einem  großen  Schaftloch 
befestigt  gewesen.  Das  dritte  ist  klein  (Miuiatur- 
Schmalbeil),  12  cm  lang,  Sehneide  3  cm  und  muß 
eine  andere  Befestigung  des  Stieles  gehabt 
haben. 

Die  Beilhacken  sind  von  verschiedener  Größe 
(12  bis  20cm  lang,  Schneide  meist  abgerundet 
und  5  bis  7  cm  breit),  sie  haben  fast  alle  ein 
großes  Schaftloch ,  in  welchem  der  Stiel  be- 
festigt war,  nur  eine  Hacke  hat  mit  dem  spitzen 
Ende  in  dem  Schaftloch  des  hölzernen  Stieles 
gesteckt. 

Die  Messer  zeigten  fast  sämtlich  (auch  die 
vorgefundenen  Reste)  den  Typus  des  Sichel- 
messers, nur  eins  weist  die  gerade  Form  mit 
11  cm  langer  Schneide  auf. 


Sonstige  Gegenstände  aus  Eisen  waren  nicht 
festzustellen. 

Zu  erwähnen  wären  nun  noch  die  bei  der 
ersten  Besichtigung  auf  dem  Gelände  gefundenen, 
frei  umherliegenden  Gegenstände,  sowie  die 
Funde,  welche  durch  Angehörige  der  Formation 
gemacht  wurden,  wie  sie  inden  photographischen 
Aufnahmen  noch  vorliegen.  Es  sind  vorhanden 
(s.  Tafel  IV,  Einzelfunde): 

1.  Kinder-Armring  aus  Bronze,  unvollständig, 
noch  vier  Windungen  vorhanden,  Durchmesser 
3,2  cm. 

2.  Fingerring  aus  Bronzespiralen,  Weite  2,5  cm, 
4  Windungen. 

3.  Fingerring,  massiv,  offen,  Breite   1  cm. 

4.  Rest  eines  Halsringes  aus  Bronze,  dieser 
Teil  anscheinend  mit  Haken  (s.  Katalog  der 
Ausstellung  Riga  1896,  Tafel  XV,  Fig.  6). 

5.  Eine  15  cm  lange  Ringnadel  mit  Kettchen. 
Von  den  Funden  der  photographischen  Auf- 
nahmen interessieren  vielleicht  besonders: 

1.  Eine  Kreuznadel  ans  vier  Blättern,  durch 
eine  Kette  mit  einer  Ringnadel  verbunden;  an 
der  Kreuznadel  noch  ein  Kettengehänge  (siehe 
Katalog  der  Ausstellung  Riga  1896,  Tafel  XIII, 
Fig.  14). 

2.  Eine  Kreuznadel  wie  1.  mit  Kettenträger 
und   lauger,  daran  hängender  Kette. 

3.  Wahrscheinlich  Teil  einer  Armbrust  Fibula, 
anscheinend  der  Bügel  (s.  Bericht  über  Aus- 
grabungen auf  dem  Kronsgute  Zeemalden  von 
Karl  Boy,  Grab  11,  Nr.  1,  und  Katalog  der 
Ausstellung  Riga  1896,  Tafel  VI,  Fig.  3)? 

Nachzutragen  sind  noch  zwei  Fundstelleu, 
welche  durch  große  Brandschiehten  auffielen. 
Die  eine  befand  sich  dicht  bei  den  russischen 
Schützenstellungen,  etwa  D/a™  parallel  zu  ihnen. 
Sie  begann  dicht  unter  der  Humuserde  und 
ging  in  die  Sandschicht  über;  neben  reichlichen 
Kohleteilchen  und  Ascheresten  fanden  sich  viel- 
fach Tonscherben  aus  grobkörnigem,  mit  Quarz- 
teilchen vermischtem  Lehm.  Besonders  mächtig 
war  die  zweite  Brandschicht  direkt  am  Abhang 
selbst  (also  unter  den  russischen  Schützen- 
stellungen). Hier  war  die  Brandschicht  weit 
ausgedehnt,  umfaßte  viel  Holzkohle  und  große 
Stücke  gebrannten  Holzes  neben  vielfachen  Ton- 
scherben ;  es  fanden  sich  auch  Überreste  mensch- 
licher Knochen,  darunter  auch  ein  gut  erhaltener 
Unterkiefer,  der  aber  oberflächlich  in  der  aus 
der  Schützenstellung  herausgeworfenen  Saud- 
aufhäufung lag,  wie  auch  Überreste  von  Schädel- 
decken usw.  Nach  Aussagen  von  Angehörigen 
der  Formation  sollen  auch  hier  sich  einzelne 
Bronzegegenstände  vorgefunden  haben.  Nähere 
Nachgrabungen  waren  erfolglos,  wie  auch  weiter- 


59 


hin  auf  dem  anschließenden  nach  Westen  zu 
sich  erstreckenden  Brachfelde  durch  Stichgräben 
nichts  mehr  festgestellt  werden  konnte.  Die 
Sandschicht  war  hier  meist  sehr  flach,  man  stieß 
unter  der  Humusschicht  fast  stets  gleich  auf 
den  hoch  anstehenden  Lehm. 

Zusammenfassung. 

Überblickt  man  die  durch  die  Ausgrabungen 
gehobenen  Funde  und  die  Art  der  festgestellten 
Beisetzung,  so  kommt  man  zu  dem  Schluß,  daß 
sich  der  Begräbnisplatz  bei  dem  Gute  Gr.-Platon 
als  ein  Skelettgräberfeld  der  sogenannten  zweiten 
baltischen  Eisenzeit  und  zwar  wahrscheinlich  des 
X.  Jahrhunderts  erweist.  Hierfür  spricht  nicht 
allein  die  für  diese  Zeit  besonders  charak- 
teristische Hufeisentibel,  sondern  auch  alle 
übrigen  gefundenen  Gegenstände,  besonders  die 
aus  Bronze  (Kreuznadel,  Ringnadel,  Armband- 
spiralen), sie  alle  weisen  in  die  jüngere  Periode 
der  Eisenzeit.  In  seinen  Formen  und  Funden 
reiht  sich  das  Skelettgräberfeld  von  Gr.-Platon 
den  schon  aufgedeckten  Gräberfeldern  von  Meso- 
then,  Zeemalden,  Alt-Rhaden  an,  und  da  diese 
Fundstätten  des  Kreises  Baaske  in  nächster  Nähe 
von  Gr.-Platon  liegen,  so  ist  auch  anzunehmen,  daß 
das  VoJ-k ,  welches  hier  seine  Toten  beisetzte, 
desselben  Stammes  war,  mit  Wahrscheinlichkeit 
lettischen  Stammes.  Das  Gräberfeld  von  Gr.- 
Platon  stellt  einen  verhältnismäßig  reichhaltigen 
Fuudplatz  dar;  wäre  nicht  durch  die  vielfachen 
Sprengungen  und  die  ohne  jede  Sachkenntnis 
wahllos  nur  zur  Gewinnung  von  Erinnerungs- 
gegenständen  vorgenommenen  Nachgrabungen 
das  einheitliche  Bild  der  Anlage  so  stark  be- 
einträchtigt, so  konnte  Gr.  Piaton  mit  au  erster 
Stelle  unter  den  Fundorten  dieser  Zeit  stehen. 
Aber  auch  so  haben  sich  die  fünftägigen  Nach- 


grabungen als  erfolgreich  erwiesen;  neben  der 
eigentlichen  Feststellung  der  Gräberanlage  selbst 
brachten  sie  einzelne  Funde,  welche  in  ihrer 
Art  (Armbandspiralen,  massiver  Armring,  Bronze- 


nadelu,  Schmalbeile)  bisher  nicht  allzuhäufig  in 
gleichen  Grabanlagen  gefunden   wurden. 

Weitere  Nachgrabungen  an  Ort  und  Stelle 
mögen  wohl  noch  zur  Hebung  von  Gelegenheits- 
funden  führen,  ein  größeres  Ergebnis  ist  jedoch 
wohl  kaum  zu  erwarten. 

Sämtliche  Fandstücke  sind  dem  Museum  in 
Mitau  überwiesen. 


Literaturbesprechungen. 


Ed.  Hahn:  Von  der  Hacke  zum  Pflug.  [Wissen- 
schaft und  Bildung.  Einzeldarstellungen  aus 
allen  Gebieten  des  Wissens.  Bd.  127.]  Leipzig, 
Quelle  &  Meyer,  1M14. 

Das  Büchlein  erschien  wenige  Wochen  vor  Aus- 
bruch des  Krieges;  so  ist  es  wie  vieles  andere  zunächst 
liegen  geblieben,  um  hoffentlich  nach  dem  Kriege 
um  so  eifriger  gelesen  zu  werden.  Die  Anschauungen 
des  Verfassers,  die  er  in  dem  Buche  niedergelegt  — 
man  achte  auf  den  Abschnitt  „Ausblick"  — ,  verdienen 
es,  von  den  weitesten  Kreisen,  für  die  es  bestimmt  ist, 
durchdacht  und  angenommen  zu  werden.  Die  National- 
ökonomen  haben    sie    längst    ihren    Vorlesungen    und 


Ausführungen  zugrunde  gelegt;  die  Geographen  und 
einige  Ethnologen  wollen  sie  noch  nicht  anerkennen; 
einigen  sind  die  Ha  huschen  Theorien  und  Hypothesen 
vom  Wagen,  Hacke,  PHug,  Rind,  Milch,  Eriiudung  der 
Arbeit  usw.  zu  „geistreich",  um  wahr  zu  sein.  Sie 
fußen,  wie  z.B.  der  Aufsatz  von  John  Loewenthal 
(Zeitschr.  f.  Ethn.  1916,  I,  S  11)  zeigt,  auf  anderen 
Lehren  oder  glauben,  welche  an  ihre  Stelle  setzen  zu 
können,  die  „psychologisch  einfacher  und  ethnologisch 
weniger  beanstandbar"  sind.  Mit  sehr  zweifelhaftem 
Erfolg;  denn  die  skizzenhaften,  mit  vielen  Literatur- 
zitaten  dort  vorgetragenen  Ausführungen  ,  die  den 
Hahnscheu  Anschauungen  widersprechen    sollen,  darf 


60 


man  ruhig  beiseite  legen.  Darin  scheint  mir,  „sind 
in  Sachen  des  Boden-  und  Ackerbaues  nunmehr  alle 
Hauptfragen"  [S.  11 — 17,  auf  6  Seiten!]  doch  nicht 
geklärt.  Solange  Loewenthal  sich  seine  eingehendere 
Behandlung  vorbehält,  wollen  wir  Kthnologen  froh 
sein,  daß  wir  Hahn  und  seine  Bücher  haben. 

Allgemein  verständlich,  flott  und  nicht  so  ver- 
zwickt wie  seine  Hauptwerke  gesehrieben  sind,  gibt 
Hahn  in  seinem  neuesten  Büchlein  einen  leicht  ein- 
gehenden Abriß  der  Wirtschaftsgeschichte  desMenschen, 
ihrer  wirtschaftlichen  Anfänge,  der  Anlange  des  Land- 
baues, der  Entstellung  des  Pflugbaues,  der  Viehzucht  usw., 
und  hämmert  so  denen  —  sonderbarerweise  gibt  es 
noch  solche  — ,  welche  die  Listsche  Dreistuf eutheorie 
noch  immer  als  die  wichtige  anerkennen,  wonach  der 
Mensch  erst  Jäger,  dann  Hirt,  dann  Ackerbauer  ge- 
wor  den  ist,  die  Haltlosigkeit  dieser  Ansichten  ein. 
Die  Ergebnisse  seiner  langjährigen,  tiefgründigen 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  geschichtlichen  und 
geographischen  Wirtschaftskunde  werden  hier  in  an- 
genehmer Kürze  zusammengefaßt,  so  daß  jeder  sich 
leicht  mit  den  Theorien  des  Verfassers  bekannt  machen 
und  befreunden  kann,  die  ein  wichtiges  Gebiet  in  der 
Ethnologie  so  umgestalteten,  daß  man  von  einer  Neu- 
gründung sprechen  darf.  Das  Büchlein  ist  Wilhelm 
Wundt  gewidmet,  der  in  seinen  völkerpsychologischen 
Werken  die  Hahnschen  Anschauungen  als  gefesteten 
wissenschaftlichen  Besitz  aufgenommen  hat. 

P.  Hambruch- Hamburg. 

Die  Märchen  der  Weltliteratur.     Herausgegeben 
von    Friedrich    von    der    Leyen    und    Paul 
Zaunert.     Jena,  Eugen  Diederichs  Verlag. 
Im    Vorwort   zu   seinem  Büchlein    „Das   Märchen. 
Ein  Versuch"  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1911)  schreibt 
von    der  Leyen:    „Das    Märchen  ist   ein   unentbehr- 
licher   Helfer,    der   tief  in   die   Dichtung   und   in    das 
geistige,    religiöse    und   sittliche  Werden  der  Mensch- 
heit   hineinleuchtet."     Diese  Bedeutung   des  Märchens 
ist  in  den  letzten  15  Jahren  immer  mehr  von  den  be- 
ruf enen  Forschern  in  der  Kulturgeschichte  des  Mensehen 
erkannt  worden.    War  die  Märchenforschung  bis  dahin 
mehr  oder  minder   ein  Sonderarbeitsgebiet  der  Philo- 
logen   und   der  Historiker,   so   beteiligte   sich  seitdem    J 
auch  der  Ethnologe  eifrig  daran,  einmal  neue  Märchen-   ■ 
Stoffe  herbeizubringen,  dann,  um  ihnen  die  ethnischen,   j 
volkskundlichen  Grundlagen   zu  verschaffen,    ohne  die   i 
die    Mäichenforschung  in  der  Luft  hängen  bleibt.     Es 
braucht    nicht    besonders   hervorgehoben   zu    werden, 
welche  Verdienste  sich  um  diese  „Grundlagen"  —   von 
den  vielen  seien  nur  wenige  genannt  —  z.B.  Andrew 
Lang,     Frazer,    Andree,     Ehrenreich    u.  a.,    er-   | 
warben.  Sie  begründeten  die  anthropologisch-ethnische   ' 
Erklärungsweise    der    Märchen     und    taten    dar,    daß 


Märchen  und  Sagen  überall  einheimische  Niederschläge 
ältester  Kulturreste  sind.  Ihre  Anschauungen  sind 
willig  und  völlig  von  den  Ethnologen  aufgenommen, 
denen  gerade  die  vergleichende  Märchenforschung  zu 
einem  hauptsächlichen  Werkzeug  wird ,  um  bei  der 
Würdigung  des  Entstehens,  Werdens  und  Vergehens 
der  verschiedenen  Kulturen  auf  der  Erde  und  bei  den 
einzelnen  Völkern,  diesen  ihre  Stellung  in  der  Menschen- 
familie anzuweisen.  —  Die  Märchenliteratur  ist  in  den 
letzten  40  Jahren  unheimlich  angewachsen;  ein  Ein- 
zelner wird  sie  knapp  übersehen,  noch  weniger  be- 
herrschen können,  so  daß  nur  ein  sich  Beschränkungen 
auflegendes  Studium  ihrer  Sonderfragen,  sie  fördern 
kann.  Die  Literatur  gibt  darüber  hinreichende  Aus- 
weise. Doch  wird  man  sich  freuen,  hin  und  wieder, 
Einzel-  und  Sammelwerken  zu  begegnen,  welche  die 
vielen  Sonderfragen  zusammenfassen  und  ihre  Ergeb- 
nisse vor  allem  durch  unbeeinflußte,  nicht  bearbeitete 
Belege  und  Beweisstücke  aus  dem  Märchenschatz  der 
Völker  festigen.  Dahin  gehört  auch  die  Jenaer  Samm- 
lung, in  der  bisher  folgende  Bändchen  zu  einem 
billigen  Preise  (3  ,/fe)  veröffentlicht  wurden:  Zaunert: 
Musäus,  Volksmärchen  der  Deutschen,  2  Bde.;  von 
der  Leyen:  Kinder-  und  Hausmärchen  von  Grimm, 
2  Bde.;  Zaunert:  Deutsche  Märchen  seit  Grimm; 
Wisser:  Plattdeutsche  Volksmärchen;  Löwis  of 
Menar:  Russische  Volksmärchen;  Wilhelm:  Chine- 
sische Volksmärchen;  Ströbe:  Nordische  Märchen. 
1.  Dänemark,  Schweden.  2.  Norwegen,  2  Bde.;  Les- 
kien: Balkan-Märchen.  —  Die  Sammlung  ist  auf 
ungefähr  25  Bände  berechnet. 

In  erster  Linie  wendet  sich  die  Sammlung  an  die 
große  deutsche  Lesewelt,  aber  auch  der  Ethnologe 
wird  sie  mit  großer  Freude  in  die  Hand  nehmen, 
spiegeln  doch  diese  Märchen  in  schönster  Weise  den 
Kulturzustand,  ihr  Auf  und  Ab,  der  Völker  wieder, 
die  sie  erzählen.  Jeder  Band  bildet  ein  abgeschlossenes 
Ganzes;  eine  Einleitung  geht  den  eigentlichen  Märchen 
vorauf;  darin  werden  die  besonderen,  namentlich  volks- 
kundlichen Eigentümlichkeiten  der  Märchenarten  des 
betreffenden  Volksstammes  geschildert,  während  im 
Anhang-  Quellennachweise  und  Anmerkungen  für  jedes 
einzelne  Märchen  literarisch,  kritisch  und  erklärend 
wertvolle  Zusätze  enthalten.  Ethnologisch  besonders 
wertvoll  sind  die  Chinesischen  Volksmärchen,  die  nicht 
nach  gedruckten  Quellen,  sondern  nach  mündlicher 
Überlieferung  veröffentlicht  werden.  Auch  die  anderen 
Bände  enthalten  viel  neues  bisher  noch  nicht  ge- 
drucktes Material,  das  dem  Märchenforscher  und 
Volkskundler  recht  zu  statten  kommt.  Die  Ausstat- 
tung ist  vortrefflich;  jeder  Märchenband  hat  einen 
besonderen  Buchschmuck  erhalten,  dessen  Motive  der 
Volkskunst  des  jeweiligen  Landes  entlehnt  sind. 
P.  Hambruch-Hamburg. 


Reklamationen  and  sonstige  Mitteilungen 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  E.  Hagen,  Hamburg  13,  Binderstraße  14,  zu  senden. 


Ausgegeben  am  i~<.  November  1916. 


Sammlung  Vieweo 


Tooeslraoen  aus  den  Geliieien  der 
NaturwissenschaSten  u.  der  Technik 


Die  „Sammlung  Vieweg" 

hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  Wissens-  und  Forschungsgebiete,  Theorien,  chemisch- 
technische  Verfahren  usw..  die  im  Stadium  der  Entwicklung  stehen,  durch  zusammen- 
fassende Behandlung  unter  Beifügung  der  wichtigsten  Literaturangaben  weiteren  Kreisen 
bekanntzumachen  und  ihren  augenblicklichen  Entwicklungsstand  zu  beleuchten.  Sie 
will  dadurch  die  Orientierung  erleichtern  und  die  Richtung  zu  zeigen  suchen,  welche 
die  weitere  Forschung  einzuschlagen  hat. 

Als  Herausgeber   der  einzelnen  Gebiete,  auf  welche  sich   die  Sammlung   Vieweg 
zunächst  erstreckt,  sind  tätig  und  zwar  für: 

Physik  (theoretische  und  praktische,  und  mathematische   Probleme):    Herr  Professor  Dr.  Karl  Scheel, 

Kosmische  Physik  (Astrophysik,  Meteorologie  und  wissenschaftliche  Luftfahrt  —  Aerologie  —  Geo- 
physik): Herr  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Professor  Dr.  med.  et  phil.  R.  Assmann, 

Chemie  (Allgemeine,  Organische  und  Anorganische  Chemie,  Physikalische  Chemie,  Elektrochemie, 
Techn.  Chemie,  Chemie  in  ihrer  Anwendung  auf  Künste  und  Gewerbe,  Photochemie,  Metallurgie, 
Bergbau):  Herr  Professor  Dr.  B.  Neumann, 

Technik  (Elektro-,  Maschinen-,  Schiffbautechnik,  Flugtechnik,  Motoren,  Brückenbau):  Herr  Professor 
Dr.-Ing.  h.  c.  Fritz  Emde. 

Biologie  (Allgemeine  Biologie  der  Tiere  und  Pflanzen,  Biophysik,  Biochemie,  Immuuitätsforschung, 
Pharmakodynamik,  Chemotherapie):  Herr  Professor  Dr.  phil.  et  med.  Carl  Oppenheimer. 

Erschienen  sind: 

Heft    1.     Dr.  Robert  Pohl  und  Dr.  P.  Pringsheim-Berliu:  Die  lichtelektrischen  Erscheinungen.    Mit 
36  Abbildungen.  Jt  3, — . 

Heft    2.     Dr.  C.  Freiherr  von  Girsewald-Berlin-Haleusee:  Peroxyde  und  Persalze.  M  2,40. 

Heft    3.     Diplomingenieur  Paul  Bejeuhr- Charlottenburg:   Der  B 1  e  r  i  o  t  -  Flugapparat   und   seine   Be- 
nutzung durch  Pegoud  vom  Standpunkte  des  Ingenieurs.     Mit  26  Abbildungen.         M,  2, — . 

Heft   4.     Dr.  Stanislaw  Loria-Krakau:  Die  Lichtbrechung  in  (. äsen  als  physikalisches  und  chemisches 
Problem.     Mit  3  Abbildungen  und  1  Tafel.  J,  3,—. 

Heft    5.     Professor  Dr.  A.  Gockel -Freiburg   in    der    Schweiz:    Die   Radioaktivität    von    Boden   und 
Quellen.    Mit  10  Abbildungen.  „H,  3,—. 

Heft    6.     Ingenieur  D.  Sidersky-Paris:  Brennereifragen:  Kontinuierliche  Gärung  der  Rübensäfte.  — 
Kontinuierliche  Destillation  und  Rektifikation.     Mit  24  Abbildungen.  Jk  1,60. 

Heft    7.     Hofrat  Professor  Dr.  Ed.  Donath  und  Dr.  A.  Gröger-Brünn:   Die  flüssigen  Brennstoffe,  ihre 
Bedeutung  und  Beschaffung.     Mit  einer  Abbildung.  Jt,  2, — . 

Heft   8.    Geh.  Reg.-Rat,   Professor  Dr.  Max  B.  Weinstein-Berlin:    Kräfte   und  Spannungen. 

Gravitation»-  und  Strahlenfeld.  ,tO  2, — . 

H.  9/10.     Geh.  Reg.-Rat,  Professor  Dr.  0.  Lummer-Breslau:  Verflüssigung  der  Kohle  und  Hersti 

der  Sonnentemperatur.    Mit  50  Abbildungen.  Jk  5,—. 

Fortsetzung  siehe  auf  der  4.  Seite  des  Umschlages. 


Sammlung  Vieweg 


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Tagesfraoen  ans  den  Gebieten  der 
Naturwissenschaften  u.  der  Technik 


Heft  11.     IH\  K.  l'i    .vbyllok- Berlin:  Polhöhen-Sohwankungen.    Mit  8  Abbildungen.  .fc  1,60. 

Heft  12.    Professor  Dr.  Albert  Oppel-IIalle  a.  S.:   Gewebekulturen.     Mit  32 Abbildungen.       Jt  3,— . 

Heft  13.     Dr.  Wilhelm  Foerster-Berlin:   Kalenderwesen  und  Kalenderreform.  Jt  1,60. 

Holt  14.     Dr.  0.  Zoth-Graz:  Über  die  Natur  der  Mischfarben  auf  Grund  der  Undulationshypothese. 
Mit  3  Textfiguren  und  10  Kurventafeln.  Jt 

Heft  15.    Dr.  Siegfried  Valentiner-Clausthal:   Die  Grundlagen  der  Quantentheorie  in  elementarer 
tellung.     Mit  8  Abbildungen.  Jt  2,60. 

Heft  16.     Dr,  Siegfried  Valentiner-Clausthal:  Anwendung  der  Quautenhypothese  in  der  kinetischen 
Theorie  der  festen  Körper  und  der  Gase.    In  elementarer  Darstellung.    Mit  4  Abbild.    .&  2,60. 

Heft  17.     Dr.  Hans  Witte-Wolffe'nb'üttel:  Raum  und  Zeit  im  Lichte  der  neueren  Physik.    Mit  17  Ab- 
bildungen. Jt  2,80. 

Ileitis.     Dr.  Erich  Hupka-Tsingtau:    Die    Interferenz   der   Röntgenstrahlen.      Mit   33  Abbildungen 
und  einer  Doppeltafel  in  Lichtdruck.  Jt  2,60. 

Heft  19.     Prof.   Dr.  Robert  Kremann-Graz:   Die   elektrolytische   Darstellung   von  Legierungen   aus 
wässerigen  Lösungen.    Mit  20  Abbildungen.  Jt  2,40. 

Heft20.     Dr.  Erik  Liebreich-Berlin:  Rost  und  Rostschutz.     Mit  22  Abbildungen.  Jt  3,20. 

Heft 21.     Prof.  Dr.  Bruno  Glatzel-Berlin:   Elektrische  Methoden  der  Momentphotographie.    Mit  dem 
Bild  des  Verfassers  und  51  Abbildungen.  .IL,  3,60. 

Heft  22.     Prof.  Dr.  med., et  phil.  Carl  Oppeuheimer-Berlin:   Stoffwechselfermente.  Jt  2,80. 

Heft23.     Dr.  A.  Wegener-Marburg:    Die  Entstehung  der  Kontinente  und  Ozeane.  Mit  20  Abb.  ^23,20. 

Heft  24.     Dr.  W.  Fahr ion- Feuerbach-Stuttgart :  Die  Härtung  der  Fette.     Mit  4  Abbildungen.  Jt  3,—. 

Heft  25.     Prof.  Dr.  A.  Wassmuth-Graz:   Grundlagen  und  Anwendungen  der  statistischen  Mechanik. 
Mit  4  Abbildungen.  Jt  2,80. 

Heft 26.     Dr.  A.  Lipsehütz-Bern:    Zur  allgemeinen  Physiologie  des  Hungers.     Mit  39  Abbildungen. 

Jt  3, — . 

Heft27.    Prof.  Dr.  C.  Doelter-Wien:   Die  Farben  der  Mineralien,  insbesondere  der  Edelsteine.     Mit 

2  Abbildungen.  Jt  3, — . 

Heft28.     Dr.  W.  Fahrion  -Feuerbach-Stuttgart:    Neuere  Gerbemethoden  und  Gerbetheorieu.    Jt  4, — . 

Heft  29.     Dr.  Erik  Hägglund-Bergvik   (Schweden):    Die   Sulfitablauge    und    ihre  Verarbeitung   auf 

Alkohol.     Mit  6  Abbildungen.  Jt  2,—. 

Heft  30.     Dr.  techn.  M.  Vi  dmar- Laibach:     Moderne    Transformatoreufragen.      Mit    10  Abbildungen. 

Jt  2,80. 
Heft 31.     Dr.  Heinrich  Faßbender-Berlin:   Die  technischen  Grundlagen  der  Elektromedizin.     Mit 

77  Abbildungen  und  einer  Kurve.  Jt  3,20. 

Heft 32/33.    Prof.  Rudolf  Richter-Karlsruhe:  Elektrische  Maschinen  mit  Wicklungen  aus  Aluminium, 
Zink  und  Eisen.     Mit  51  Abbildungen.  Jt.  6, — . 

Heft34.     Obering.   Carl  Beckmann-Berlin-  Lankwitz:    Haus-   und   Geschäfts -Telephonanlagen.     Mit 

78  Abbildungen.  Jt  3,—. 

Heft  :;ö.     Dr.  Aloys  Müller-Bonn:   Theorie  der  Gezeitenkräfte.     Mit  17  Abbildungen.  Jt  2,80. 

ii.     fr..).   Dr.   W.  Kummer-Zürich:    Die  Wahl   der  Stromart   für  größere  elektrische   Bahnen. 
,  Abbildungen.  Jt  2,80. 


Zahlreiche  weitere  tiefte  in  Vorbereitung. 


Korrespondenz- Blatt 

der 

Deutschen  Gesellschaft 

für 

Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr.  Georg  Thilenius 

Generalsekretär  der  Gesellschaft 
Hamburg. 


Druck  und  Verlag  von   Friedr.  Vieweg  &  Sohn   in   Braunachweig. 


XLVIL  Jahrg.    Nl'.  10/12.  Jährlich  12  Nummern. 


Okt./Dez.  1916. 


Für  alle  Artikel,  Berichte,  Rezensionen  usw.  tragen  die  wissenachaftl.  Verantwortung  lediglich  die  Herren  Autoren;  a.  S.  16  des  Jahrg.  1894. 

Inhalt:  Archäologie  nnd  Iudogermanenproblem.  Von  Sigmund  Feist.  —  Zur  Frage  der  willkürlichen 
Beeinflussung  der  kindlichen  Schädelform.  Von  Prof.  A.  J.  P.  v.  d.  Broek.  —  Neue  Paläolithfunde 
in  Norddeutschland.  Von  E.  Werth.  —  Hausers  Micoquien.  Von  E.  Werth.  —  Der  Urtypus  der 
Schmalhacke.  Von  Dr.  C.  Mehlis.  —  Von  den  Steingeräten  der  Völkerschaften  in  Sachsen-Thüringen. 
Von  Bärthold. 


Archäologie  und  Indogermanenproblem. 


Von  Si  um  und  Feist. 


Seit  einigen  Jahren  kann  man  kaum  eine 
Schrift  prähistorischen  Inhalts  lesen,  ohne  als- 
bald auf  Stellen  zu  stoßen,  in  denen  Namen 
wie  Indogermanen,  Nordindogermanen,  Siidindo- 
germanen,  Arier,  Illyrier,  Germanen,  Kelten,  ja 
selbst  solche  von  Teilstämmen,  wie  Semnonen, 
Veneter,  Helvetiur,  mit  archäologischen  Funden 
und  Aufstellungen  in  Zusammenhang  gebracht 
werden.  Man  braucht  gar  nicht  einmal  Arbeiten 
von  Kossinna,  Wilke  und  anderen  Anhängern 
dieser  Schule  in  die  Hand  zu  nehmen,  die  mit 
den  genanuten  sprachlichen  und  geschichtlichen 
Begriffen  geradezu  Mißbrauch  treiben,  um  sich 
an  einer  unzulässigen  Verquickung  archäolo- 
gischer und  sprachlicher  Tatsachen  zu  stoßen. 
Selbst  ein  so  durchaus  wissenschaftliches  Werk 
wie  das  Reallexikon  der  germanischen  Altertums- 
kunde, dessen  dritter  Band  soeben  fertig  ge- 
worden ist,  hält  sich  nicht  frei  von  diesen  Ver- 
stößen. So  findet  sich  in  dem  von  dem  jüngst 
verstorbenen  A.  Schliz  behandelten  Artikel: 
„Ilassefragen"  zunächst  die  ganz  zutreffende 
Ansicht  ausgesprochen,  daß  der  Begriff  „Staat- 
sich auf  die  politische,  der  des  „Volkes"  auf 
die  Sitten  und  Sprachwissenschaft,  der  der 
„Rasse"  auf  bestimmte  körperliche  und  geistige 


Eigenschaften  bezieht,  welche  ihre  Träger  von 
der  übrigen  Menschheit  unterscheiden.  Im 
Deutschen  Reiche  z.  B.  wohne  ein  Volk  mit 
indogermanischer  Sprache  wie  in  einer  Reihe 
von  Staaten  Europas  und  Asiens,  seine  Rasse- 
zufrehöriffkeit  wäre  erst  zu  untersuchen.  Die 
Zugehörigkeit  zum  indogermanischen  Sprach- 
kreis habe  zunächst  mit  der  Rasse,  der  ein 
Volk  angehört,  oder  den  Rassen,  die  innerhalb 
eines  Volkes  vertreten  sind ,  nichts  zu  tun. 
Daß  verschiedene  Rassen  zur  Bildung  der  indo- 
germanischen Völker  beigetragen  haben,  lehre 
ihre  oberflächliche  anthropologische  Betrachtung. 
Jede  einzelne  Völkergruppe  besitze  bestimmte 
geistige  Eigenschaften,  die  sie  von  anderen 
Gruppen  unterscheide.  Es  frage  sich  nur,  ob 
dieser  Unterschied  in  der  Zusammensetzung 
der  verschiedenen  Rassenbestandteile  begründet 
ist,  aus  denen  sie  hestehen.  (Damit  verwirft 
Schliz  also  wieder  die  vorher  ausgesprochene 
Ansicht,  daß  eine  Rasse  bestimmte  geistige 
Eigenschaften  besitze.)  Im  weiteren  Verlauf 
seiner  Darlegungen  untersucht  A.  Schliz  nun 
die  Rasseubestandteile,  aus  denen  sich  die  ein- 
zelnen europäischen  Völker  zusammensetzen, 
speziell    die    nordische    Rasse     und     ihre     ver- 


G2 


schiedenen  Komponenten.  Da  hören  wir  nun, 
daß  die  Rasse  der  Bandkeramik  aus  dem  gleichen 
Stammeselement  wie  die  Megalithrasse  (Nord- 
landrasse  mit  Tiefstichkeramik)  zusammengesetzt 
sei.  und  daß  kein  Grand  gegen  die  Annahme 
vorhanden  sei,  daß  alle  diese  Stämme  eiue  ge- 
meinsame Ursprache,  die  indogermanische,  ge- 
sprochen haben  sollen.  „Xordindogermauen" 
seien  die  Angehörigen  der  Megalithrasse  im 
Nord«  es ten.  „Westindogermanen"  diejenigen 
der  Grenelle-  und  alpinen  Rasse,  Südindoger- 
nianen  die  Völker  der  Bandkeramik  im  Süd- 
osten. Außer  Betracht  müßten  Nichtindoger- 
maneii  bleiben  wie  Iberer  oder  Finnen,  die 
außereuropäischen  Zentren  entstammen,  oder 
die  Ligurer  und  Etrusker,  deren  Zugehörigkeit 
zu  einem  europäischen  Urstamm  nicht  zu  er- 
weisen sei. 

Mau  erkennt  auf  den  ersten  Blick,  daß  hier, 
eutgegen  dem  anfangs  ausgesprochenen  Prinzip, 
sprachliche  und  anthropologische  Tatsachen  ver- 
mengt worden  sind.  Ein  paar  Seiten  weiter 
aber  wendet  sich  A.  Schliz  von  der  Sicherheit, 
mit  der  er  die  neolithischen  Kulturkreise  auf 
einzelne  (der  heutigen  Sprachwissenschaft 
übrigens  unbekannte)  Unterabteilungen  des  indo- 
germanischen Urvolkes  zu  verteilen  weiß,  wieder 
ab,  wenn  er  bei  der  Betrachtung  der  Hügel- 
gräber der  alten  Bronzezeit  in  Bayern  und  der 
schwäbischen  Alp  meint,  das  darin  sich  findende 
Rassengemisch  sei  zweifellos  indogermanisch 
gewesen  —  woher  weiß  das  Schliz  übrigens?  — , 
nichts  aber  berechtige  uns,  diese  Misch- 
bevölkerung Kelten  oder  Germanen  zu  neunen. 
Gegen  Kossinnas  inzwischen  übrigens  wieder 
aufgegebenes  Lieblingskind,  die  Karpodaken, 
verhält  sich  Schliz  ebenfalls  recht  kritisch, 
weiß  aber  andererseits,  daß  Südiudogermauen 
aus  Illyrien  zur  llallstattzeit  Süddeutschland  in 
Besitz  genommen  haben  und  bis  nach  Schlesien 
vorgedrungen  sind. 

Ich  bin  mit  Absicht  auf  den  jüngst  er- 
schienenen Artikel  von  A.  Schliz  so  ausführlich 
eingegangen,  um  an  diesem  Beispiel  zu  zeigen, 
welch  heillose  Verwirrung  entstehen  kann,  wenn 
in  anthropologischen  oder  archäologischen  Dar- 
legungen kritiklose  uud  unbewiesene  Aufstel- 
lungen über  die  Zugehörigkeit  uns  übrigens 
oft  nur  dem  Namen  nach  bekannter  vor- 
geschichtlicher und  frühgeschichtlicher  Sprach- 
kreise zu  bestimmten  Rassen  oder  prähistorischen 
Kulturgruppen  gegeben  werden.  Der  Haupt- 
fehler liegt  meines  Erachtens  darin,  daß  viele 
Prähistoriker,  die  mit  sprachlichen  und  histori- 
schen Begriffen  arbeiten,  sich  über  die  in  diesen 
Namen     enthaltene    Realität     nicht    klar    genug 


sind.  Es  sei  mir  daher  gestattet,  hier  einige 
dieser  Begriffe  auf  ihren  Inhalt  hin  zu  prüfen. 
Was  besagt  uns  der  Name  „Indogermanen  ", 
mit  dem  die  Archäologen  aller  Schattierungen 
so  gern  operieren?  Wir  müssen  uns  zunächst 
vor  Augen  haken,  daß  der  Begriff  „indoger- 
manisches Stammvolk"  nur  eine  Abstraktion 
aus  sprachlichen  Rückschlüssen  ist.  Wir  kennen 
eiue  Anzahl  indogermanischer  Sprachen  zum 
Teil  ans  älterer,  zum  Teil  aus  jüngerer  Zeit. 
Während  das  ludische  und  Griechische  uns  seit 
dem  Beginn  des  letzten  Jahrtausends  v.  Chr. 
bekannt  sind,  treten  das  Lateinische  oder  Per- 
sische erst  viel  später  in  unseren  Gesichtskreis. 
Alle  anderen  indogermanischen  Sprachen  sind 
überhaupt  erst  aus  der  Zeit  nach  Christi  Geburt 
überliefert.  Rückschließend  aus  den  genannten 
indogermanischen  Sprachen  gewinnen  wir  die 
gemeinsame  Stammsprache,  das  Indogermanische, 
über  dessen  Lautgestalt  v,or  40  Jahren  noch 
andere  Ansichten  herrschten  wie  jetzt,  und  es 
ist  möglich,  daß  die  Forschung  in  künftigen 
Tagen  wieder  zu  Ergebnissen  gelangen  wird. 
die  von  den  heutigen  abweichen.  Indes  ist  ja 
kein  Zweifel  möglich,  daß  die  gemeinsame 
Stammutter,  die  indogermanische  Ursprache, 
einmal  vorbanden  gewesen  sein  muß.  Ob  das 
aber  im  Jahre  2000  oder  2500  oder  gar  3000 
v.  Chr.  gewesen  ist,  darüber  hat  die  Forschung 
bis  jetzt  nichts  Sicheres  ermittelt.  Unbestreitbar 
ist,  daß  die  indogermanische  Stammsprache  auch 
einen  Träger  besessen  haben  muß,  der  sich 
ihrer  bedient  hat.  Wir  neunen  ihn  das  indo- 
germanische Stammvolk,  oder  kurz  die  „Indo- 
germanen". Vou  diesem  Urvolk  ist  uns  keinerlei 
geschichtliche  Kunde  erhalten.  Keine  Quelle 
sagt  uns,  wie  sie  sich  genannt  haben,  wo  sie 
gewohnt  haben,  wie  ihre  Ausbreitung  über 
Asien  und  Europa  erfolgt  ist,  und  wann  das 
Stamm  volk  sein  Geschick  erfüllt  und  vom 
Schauplatz  verschwunden  ist.  Was  wir  über 
die  Kultur  der  Indogermanen  zu  wissen  glauben, 
ist  mittels  Rückschlüssen  aus  dem  für  die  Ur- 
sprache ermittelten  Wortschatz  gewonnen  worden 
uud  eigentlich  nicht  viel  mehr,  als  wir  bei 
einem  Volk  der  Außenzone  der  alten  Welt  iu 
jener  frühen  Zeit  ohnehin  voraussetzen  können. 
Ferner  ist  nicht  zu  vergessen,  daß,  wie  die  An- 
sichten über  das  Aussehen  der  Stammsprache 
im  Laufe  der  Zeit  wechselten,  so  auch  die  Vor- 
stellungen, die  man  sich  von  ihrem  Wortvorrat 
gemacht  hat.  nicht  zu  allen  Zeiten  die  gleichen 
gewiesen  sind.  Eine  schärfere  Handhabung  der 
aufgestellten  Lautgesetze  ließ  manche  Ety- 
mologie älterer  Zeit  als  verfehlt  erscheinen, 
während     andererseits     neuer     Sprachstoff     aus 


63 


wieder  aufgefundenen  indogermanischen  Sprachen 
(Tochavisch,  Nordarisch,  Sogdisch  usw.)  oder 
aus  der  schärferen  Sichtung  des  Wortvorrats 
bereits  früher  bekannter  Sprachen  hinzugekommen 
ist.  Im  einzelnen  kann  ich  auf  diese  Dinge  an 
dieser  Stelle  nicht  näher  eingehen;  ich  ver- 
weise für  den  Leser,  der  sieh  darüber  ein- 
gehender zu  unterrichten  wünscht,  auf  meine 
vor  zwei  Jahren  erschienene  Studie  „Indo- 
germanen  und  Germanen",  Halle,  Max  Niemeyer 
oder  auf  mein  umfänglicheres  Werk  „Kultur, 
Ausbreitung  und  Herkunft  der  Indogermanen", 
Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung,   1913. 

IlalteD  wir  also  fest,  daß  der  Begriff  „Indo- 
germanen"  keinen  derart  realen  Inhalt  hat  wie 
die  Begriffe  Griechen,  Römer,  Germanen,  Gal- 
lier usw.,  Völker,  über  die  wir  uns  aus  vor- 
handenen geschichtlichen  Quellen  mehr  oder 
minder  eingehend  unterrichten  könuen.  Während 
ferner  bei  den  historischen  indogermanischen 
Völkern  die  Wohnsitze  bekannt  sind  und  wir 
auch  über  ihre  äußere  Erscheinung  einiger- 
maßen informiert  sind,  wisseu  wir  bei  dem 
indogermanischen  Stamm volk  weder,  wo  es  ge- 
wohnt hat,  noch  wie  es  ausgesehen  hat.  Alle 
Versuche,  den  Ausstrahlungspunkt  der  indo- 
germanischen Sprachbewegung,  die  sogenannte 
„Urheimat"  genauer  zu  umgrenzen,  müssen  als 
gescheitert  betrachtet  werden.  Meiner  Über- 
zeugung nach  ist  sie  weit  eher  in  Zentralasien 
als  in  Nordeuropa  zu  suchen.  Zu  welcher 
Kasse  aber  das  Urvolk  gehört  hat,  nnd  ob  es 
überhaupt  eine  einheitliche  Rasse  besessen  hat, 
ist  vollkommen  dunkel.  Alles,  was  wir  sagen 
können  ist,  daß  die  Indogermanen,  weil  ihre 
Heimat  in  einem  nördlich  gelegenen  Lande  zu 
suchen  ist,  vermutlich  zu  dem  dort  über- 
wiegenden hellfarbigen  Typus  gehört  haben. 
Die  älteste  Überlieferung  übrigens,  die  wir 
über  das  Aussehen  eines  indogermanischen 
Volkes  haben,  ist  eine  Notiz  auf  einer  Sieges- 
säule Tiglatpilesers  IV  von  Assyrien  aus 
dem  8.  Jahrh.  v.  Chr.,  die  von  den  „dunklen" 
Medern  spricht.  Offenbar  also  sahen  die  Vor- 
fahren der  Bewohner  Irans  schon  ebenso  aus 
wie  die  heutigen  Perser. 

Aus  den  bisherigen  Darlegungen  ergibt 
sich,  daß  unsere  Vorstellungen  von  dem  Kultur- 
besitz, der  äußeren  Erscheinung  und  den  Ur- 
sitzen  der  Indogermanen  nur  äußerst  vage  sind. 
Wie  kommt  es  nun,  daß  trotzdem  ein  bestimmter 
Forscherkreis  so  bestimmte  Angaben  über  alle 
diese  Punkte  zu  machen  weiß?  Die  Antwort 
auf  diese  Frage  lautet:  Man  hat  sich,  gestützt 
auf  einige  unbestimmte  Andeutungen  bei  klas- 
sischen   Schriftstellern,    eine    aprioristische   und 


dogmatische  Vorstellung  von  der  äußeren  Er- 
scheinung eines  „Ariers"  gemacht,  über  die 
man  jede  Diskussion  ablehnt.  Das  tun  nicht 
nur  z.B.  Kossinna1)  und  seine  Anhänger, 
sondern  auch  Sprachforscher  von  Namen,  wie 
Hoops,  Hirt,  Streitberg  usw.,  die  unentwegt 
an  der  Überzeugung  von  dem  nordischen  Typus 
des  Urvolks  festhalten.  Darauf  gestützt  wird 
dessen  Kultur  als  identisch  mit  der  der  nor- 
dischen Steinzeit  aufgefaßt  und  dargestellt. 
Dieses  Verfahren  führt  konsequent  fortgesetzt 
zu  recht  erheiternden  Folgerungen.  So  be- 
suchte ich  vor  einigen  Jahren  die  prähistorische 
Abteilung  eines  Proviuzialmnsenms,  die  von 
einem  sympathischen,  leider  allzu  früh  auf  tra- 
gische Weise  hinweggerafften  jüngeren  Gelehrten 
aus  der  Kossinnaschen  Schule  geleitet  wurde. 
Er  rubrizierte  alles  Ernstes  in  seiner  Abteilung 
die  frühesten  Funde  der  jüngeren  Steinzeit 
unter  dem  Kennzeichen  „indogermanische  Zeit". 
Andere  Denkmäler  figurierten  als  germanische, 
ostgermanische,  westgermanische,  karpoda- 
kische  usw.  Natürlich  werden  bei  dem  urteils- 
losen Publikum  durch  ein  solches  Verfahren 
ganz  irrige  Vorstellungen  wachgerufen.  Der 
informierte  Gelehrte  weiß  freilich,  daß  es  nicht 
einmal  bei  historisch  beglaubigten  Völkern  mög- 
lich ist,  ihre  Hinterlassenschaft  mit  Sicherheit 
festzustellen,  sowie  uns  die  Inschriften  im  Stich 
lassen.  Ihnen  allein  verdanken  wir  es,  daß  wir 
z.  B.  die  etruskischen  Nekropolen  ethnographisch 
festlegen  können.  Aber  ist  es  bis  jetzt  ge- 
lungen, etwa  die  älteste  Hinterlassenschaft  der 
Italiker,  der  prähistorischen  Griechen,  der 
Thraker,  Ulyrier  usw.  unzweifelhaft  festzustellen? 
Man  bezeichnet  die  Funde  wohl  als  griechisch, 
thrakisch,  illyrisch  usw.,  weil  sie  auf  dem  später 
von  den  genannten  Völkern  eingenommenen 
Boden  gefunden  wurden.  Aber  damit  ist  über 
die  ursprüngliche  Zugehörigkeit  eines  solchen 
Fundes  zu  einem  bestimmten  Volk  eigentlich 
noch  nichts  gesagt.  Wie  haben  wir  uns  die 
Verhältnisse  in  prähistorischer  Zeit  denn  eigent- 
lich vorzustellen?  Wenn  wir,  um  den  Gegen- 
stand an  einem  konkreten  Beispiel  zu  er- 
läutern, von  einer  keltischen  Herrschaft  über 
Mitteleuropa  um  die  Mitte  des  letzten  Jahr- 
tausends v.  Chr.  sprechen ,  so  können  wir  sie 
durch  Ortsnamen  und  durch  die  verhältnismäßig 


a)  In  einem  Aufsatz:  Über  den  Ursprung  der  TJr- 
finnen  und  der  Urindogermanen  und  ihre  Ausbreitung 
nach  dem  Osten  Mannus,  Band  1,  8  20:  Diese  vier 
Dinge,  d.h.  indogermanische  Ursprache,  indogermani- 
sches Urvolk,  kleinerer  Urraum  als  Urheimat  und 
nordischer  Typus  der  Indogermanen,  sind  heute  für 
mich  indiskutabel. 


(34 


einheitliche  Hinterlassenschaft  in  Gräbern  i"1 
stimmter  Gebiete  wohl  nachweisen.  Aber  diese 
Vorherrschaft  des  keltischen  Elements  besagt 
doch  nicht,  daß  nun  alle  vorangegangeneu  Be- 
völkerungsschichten spurlos  verschwunden  sind. 
Wir  halten  uns  <las  Verhältnis  der  Kelten  zu 
den  von  ihnen  unterworfenen  Stämmen  nicht 
anders  ZU  denken  als  das  der  Germanen  ZU  den 
unterworfenen  Romanen  oder  der  Türken  zu 
den  Völkerschaften  des  von  ihnen  noch  bis  vor 
kurzem  beherrschten  Gebietes  in  Europa.  Es 
handelt  sich  bei  allen  diesen  Herrschervölkern 
nur  um  eine  dünne  Oberschicht,  unter  der 
das  autochthone  Element  fortlebt  und  zumeist 
auch  seine  eigene  Sprache  behält.  So  hat  sich 
z.  B.  trotz  der  Kelten-  und  Römerherrschaft 
nach  dem  Zeugnis  des  Li v ins  das  liätische  in 
den  Alpen  bis  in  das  erste  christliche  Jahr- 
hundert erhalten.  |!|  Noch  die  klassische  Zeit 
Griechenlands  hatte  die  Lebhafte  Erinnerung  an 
die  anderssprachigen  Pelasger  und  Karer  in- 
mitten der  Hellenen  erhalten.  Welches  Sprachen- 
gewirr herrschte  nicht  im  alten  Perserreich, 
ganz  ebenso  wie  das  heutige  Rußland  eine 
bunte  Musterkarte  von  Sprachen  in  sich  schließt. 
Wenn  also  aus  prähistorischer  Zeit  ein  Volks- 
name aus  irgend  einer  Gegend  überliefert  ist, 
so  ist  damit  noch  lange  nicht  gesagt,  daß  das 
unter  ihm  zu  verstehende  Element  das  einzig 
vorhandene  in  einer  bestimmten  Gegend  ge- 
wesen ist.  Es  ist  also  durchaus  verfehlt,  Gräber, 
die  sieh  auf  griechischem,  illyrischem,  thraki- 
schem  usw.  Sprachgebiet  finden,  nun  einfach 
als  solche  der  betreffenden  Sprachgemeinschaft 
zu  betrachten  und  von  thrakischer  Bandkeramik, 
vom  geometrischen  Stil  der  ältesten  Griechen, 
von  der  Bandkeramik  der  Illyrier  u.  dgl.  m. 
zu  sprechen.  Sobald  uns  die  Inschriften  auf 
prähistorischen  Funden  fehlen,  können  wir  nicht 
mit  Bestimmtheit  sagen,  welches  die  Sprache 
des  Kulturkreises  war,  aus  dessen  Bezirk  die 
Funde  herrühren.  Die  prähistorischen  Kultur- 
kreise sind  für  uus  so  lange  anonym,  als  wir 
keine  historische  Kunde  aus  den  betreffenden 
Gegenden  besitzen,  und  selbst  wenn  das  der 
Fall  ist,  können  wir  sie  nicht  einem  bestimmten 
Sprachkreise  zuschreiben,  wenn  sich  nicht  mit 
ihnen  \ zusammen  sprachliche  Denkmäler  finden. 
Wollten  wir  das  indogermanische  Urvolk 
aber  durchaus  archäologisch  erfassen,  so  müßte 
die^.  einzig  zulässige  Methode  folgende  sein: 
Rückwärts  schließend,  zunächst  zu  ermitteln, 
welches  die  kulturelle  Hinterlassenschaft  der 
indogermanischen  Stämme  in  ihren  ältesten 
Sitzen  ist,  an  der  Pfand  der  Funde  den  Weg 
ihrer  Wanderungen   verfolgen    und    den    Punkt 


ermitteln,  wo  die  Richtungen  der  Wanderzüge 
konzentrisch  zusammenlaufen.  Dort  könnte  man 
dann  mit  einiger  Sicherheit  den  Ausgangspunkt 
der  indogermanischen  Sprach-  und  Kultur- 
bewegung annehmen,  und  die  kulturelle  Hinter- 
lassenschaft des  TJrvolks,  vielleicht  auch  seinen 
Rassentypus  aus  etwaigen  Skelettfunden  er- 
mitteln. Aber  von  diesem  Ziel  sind  wir  noch 
unendlich  weit  entfernt,  und  es  ist  mehr  wie 
fraglich,  ob  es  der  archäologischen  Forschung 
jemals  gelingen  wird,  es  zu  erreichen.  Denn 
selbst  in  viel  jüngeren  Perioden  ist  es  außer- 
ordentlich schwer,  Völker  archäologisch  zu 
erfassen.  Was  weiß  man  z.  B.  über  die  Hinter- 
lassenschaft der  Goteu  an  der  Ostsee  und  am 
Schwarzen  Meer  zu  sagen?  Und  doch  kann 
mau  die  Richtung  ihrer  Wanderung  und  die 
Zeit  ihres  Aufenthalts  in  den  genannten  Gegenden 
mit  einiger  Sicherheit  angeben.  Wäre  mau  im- 
stande, ein  alemannisches,  fränkisches  oder 
bayerisches  Grab  nach  der  Hinterlassenschaft 
zu  unterscheiden,  wenn  es  nicht  auf  dem  von 
den  genannten  Stämmen  eingenommenen  Boden 
gefunden  würde? 

Aber  wenn  es  selbst  gelungen  wäre,  die 
archäologische  Hinterlassenschaft  des  indoger- 
manischen Urvolks  unter  Befolgung  einer  exakten, 
rückwärts  schreitenden  und  wissenschaftlich 
einwandfreien  Methode,  wie  sie  die  Sprach- 
wissenschaft von  Anfang  an  befolgt  hat,  zu 
ermitteln,  so  müßten  wir  uns  dennoch  darüber 
klar  sein,  daß  wir  damit  nur  einen  ganz  kleinen 
Ausschnitt  aus  dem  kulturellen  Leben  des  TJr- 
volks gewonnen  hätten,  da  nur  das  wenigste 
seines  materiellen  Kulturbesitzes  in  die  Gräber 
gekommen  seiu  wird,  und  sein  Geistesleben 
aus  den  Funden  überhaupt  nicht  wieder  er- 
mittelt werden  kann.  Damit  und  mit  der  Fest- 
stellung des  Rassentypus  wäre  es  eiue  mißliche 
Sache,  wenn  das  indogermanische  Urvolk,  was 
wahrscheinlich  ist,  nicht  Bestattung,  sondern 
Leichenverbrennung  und-aussetzung  geübt  hätte. 

Um  das  Gesagte  an  einem  Beispiel  zu  er- 
läutern, wollen  wir  uns  denken,  daß  das 
Lateinische  bereits  in  vorgeschichtlicher  Zeit 
ausgestorben  und  keine  Kunde  von  dem  Land 
und  Volk  der  Römer  überliefert  sei.  Wir 
wären  dann  in  die  Notwendigkeit  versetzt,  die 
lateinische  Sprache  und  die  römische  Kultur 
aus  dem  gemeinsamen  Wortschatz  der  romani- 
schen Sprachen  zu  erschließen.  Würden  wir 
überhaupt  ein  klares  Bild  von  dem  Aussehen 
des  Lateinischen,  seinem  Wortvorrat,  seinen 
Flexionsformen  und  seiner  Syntax  erhalten? 
Wieviel  von  alledem  ist  nicht  spurlos  in  allen 
romanischen  Sprachen  untergegangen?  Von  dem 


65 


hohen  Stand  der  römischen  Kultur  bekämen 
wir  überhaupt  keine  Vorstellung,  da  die  Völker 
romanischer  Sprache  von  dem  selbst  in  der 
Provinz  noch  sehr  ansehnlichen  Stand  der 
Lebensführung  nach  den  Stürmen  der  Völker- 
wanderung in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  tief 
herabgesunken  sind  und  erst  in  unseren  Tagen 
wieder  die  einstige  Höhe  erklommen  haben. 
Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  die  Verhältnisse 
bei  einem  einst  und  irgendwo  einmal  bestandenen 
Imperium  indogermanicum  ähnlich  lagen  und 
daß  die  Sprachen  und  Kulturen  der  Völker 
indogermanischer  Zunge  nur  ein  mattes  Abbild 
des  einstigen  Glanzes  geben,  zumal  hier  der 
zeitliche  Abstand  weit  größer  als  zwischen  Rom 
und  dem  ersten  Auftreten  der  Romanen  ist. 
Aber  ebensogut  kann  man  annehmen,  daß  das 
Urvolk  keinen  höhereu  Kulturstand  als  viele 
seiner  späteren  Nachkommen  besessen  hat  und 
Asien  sowie  Europa  in  der  Art  von  Hunnen, 
Awaren,  Mongolen,  Türken  usw.  mit  wilden 
Horden  überschwemmt  und  die  Vorbewohner 
unterworfen  hat.  Eine  sichere  Entscheidung 
über  fliese  Fragen  hat  sich  bis  jetzt  und  wird 
sich  wohl  nie  treffen  lassen. 

Aus  dem  bis  jetzt  Ausgeführten  ergibt  sich 
somit,  daß  wir  nicht  in  der  Lage  sind,  den  Be- 
griff „Indogermanen"  mit  einem  auf  einiger- 
maßen sicherer  und  dauernder  Basis  stehenden 
realen  Inhalt  auszuführen.  Es  muß  dabei 
bleiben,  daß  er  nur  eine  Abstraktion  aus 
sprachlichen  Tatsachen  darstellt.  Nieht  viel 
besser  steht  es  um  die  Versuche,  Unterabtei- 
lungen des  indogermanischen  Urvolks  aufzu- 
stellen. Die  vor  50  Jahren  versuchte  Eintei- 
lung in  Nord-  und  Südindogermanen  ist  von  der 
Sprachwissenschaft  wieder  aufgegeben  worden, 
da  sie  sich  als  nicht  haltbar  erwies.  Sie  führt 
nur  in  Schriften  prähistorischen  Inhalts  ein 
kümmerliches  Nachleben.  Die  Sprachwissen- 
schaft pflegt  die  indogermanische  Stammsprache 
in  die  Gruppen  der  Kentum-  und  Satemsprachen 
einzuteilen,  d.h.  Sprachen,  in  denen  die  indo- 
germanischen Palatallaute  als  solche  erhalte]] 
und  in  Sprachen,  in  denen  sie  iu  Zischlaute 
gewandelt  sind  (man  vergleiche  lat.  centum 
„100"  mit  altiud.  satam).  Zu  den  Satem- 
sprachen gehören  das  Arische  (Indo-iranische), 
das  Slawische,  Baltische,  Thrakische,  Phrygische, 
Annenische  und  Albanische;  zu  den  Kentum- 
sprachen  die  übrigen.  Somit  ergab  sich  in 
großen  Zügen  eine  ostwestliche  Gliederung 
der  indogermanischen  Dialekte,  die  lange  un- 
bestrittene Geltung  hatte.  Nun  aber  wurde 
vor  einigen  Jahren  eine  bisher  unbekannte 
indogermanische    Sprache,    die    etwa    bis    zum 


Jahre  1000  n.  Chr.  in  Zentralasien  gelebt  hatte, 
in  Turkestan  wieder  entdeckt:  das  Tocharische. 
Dieses  stellt  sich  auffälligerweise  in  die  Gruppe 
der  sonst  nur  in  Europa  vertretenen  Keutum- 
sprachen,  wirft  demnach  die  ost-westliche  Gliede- 
rung auch  wieder  über  den  Haufen.  Die  Sprach- 
forscher stehen  also  aufs  neue  vor  der  Frage, 
ob  es  möglich  ist,  in  der  Lagerung  der  Dialekte 
des  Indogermanischen  deutliche  Schichtungen 
abheben  zu  können  oder  nicht.  Jedenfalls  tut 
man  gut  daran,  sich  hier  abwartend  zu  ver- 
halten. 

Wenn  uns  das  indogermanische  Urvolk  nicht 
aus  historischen  Quellen  bekannt  ist,  so  haben 
wir  dagegen  Kunde  von  zahlreichen  indo- 
germanischen Völkern  seit  dem  Beginn  des 
1.  Jahrtausends  v.  Chr.,  die  uns  somit  in  mehr 
oder  minder  großem  Umfang  gegenständlich 
werden:  die  Inder,  Perser,  Griechen,  Römer, 
Gallier,  Germanen  usw.  Es  ist  nun  vielfach 
der  Versuch  gemacht  worden,  diese  historischen 
indooermanischen  Völker  iu  die  indogermanische 
Urzeit  zurückzuverlegen  und  anzunehmen,  daß 
das  LTrvolk  gleichfalls  schon  in  diese  Teil- 
stämme zerfallen  ist.  Hier  liegt  eine  doppelte 
Ungenauigkeit  zugrunde.  Zunächst  wissen  wir 
nicht,  wie  viele  von  den  Stämmen  des  Ur- 
volks  spurlos  und  ohne  Kunde  von  ihrem  ein- 
stigen Dasein  für  uns  zu  hinterlassen,  vom  Erd- 
boden verschwunden  sind;  zweitens  können  wir 
nicht  sagen,  ob  die  Verbände,  die  in  geschicht- 
licher Zeit  auftreten,  auch  in  vorgeschichtlicher 
Zeit  vorhanden  waren  oder  ob  nicht  andere 
Gruppierungen  vorlagen.  Man  denke  nur  daran, 
wie  schnell  sich  bei  den  Germanen  die  Stämme, 
die  zu  Cäsars  und  Tacitus'  Zeiten  uns  genannt 
werden,  in  die  aus  den  Zeiten  der  Völker- 
wanderung uns  bekannten  größeren  Verbände 
der  Sachsen,  Franken,  Schwaben,  Bayern  auf- 
gelöst haben,  ohne  daß  es  uns  möglich  wäre, 
die  Zusammensetzung  und  sogar  teilweise  die 
Herkunft  dieser  größeren  Verbände  nach- 
weisen zu  können.  Wenn  schon  in  historischer 
Zeit  und  in  einem  verhältnismäßig  kurzen  Zeit- 
raum so  tiefgreifende  Umwandlungen  bei  Völ- 
kern stattfinden  können,  wie  will  man  da  für 
die  fernen  prähistorischen  Zeiten  mit  Sicherheit 
ermitteln,  ob  die  geschichtlich  beglaubigten 
Völker  indogermanischer  Sprache  auch  schon 
in  prähistorischer  Zeit  ihr  Sonderdasein  geführt 
haben?  Sehen  wir  doch  vielfach,  daß  ein  indo- 
germanisches Volk  sich  über  das  andere  lagert, 
dessen  Sprache  vollkommen  verdrängt  und  durch 
die  eigene  ersetzt.  So  hat  das  Lateinische  das 
Gallische  und  Illyrische,  das  Griechische  das 
Thrakische  und  Mazedonische,  das  Deutsche  in 

9 


66 


historischer  Zeit  zahlreiche  slawische  Dialekte 
und  das  Preußische  aufgesogen.  Es  spiell  sich 
also  auf  größeren  Gebieten  der  gleiche  Vor- 
ab, den  wir  in  engeren  Grenzen  beob- 
achten, wenn  das  Lateinische  die  anderen  itali- 
nischen  Dialekte,  die  griechische  Gemeinsprache 

(Koine)     'las    Ionische,    Attische,    Dorisehe    usw. 

verdrängt  hat.  Auch  zahlreiche  Schwankungen 
in  der  Ausdehnung  eines  Sprachgebietes  lassen 
sieh  beobachten.  So,  wenn  .las  Slawische  nach 
der  Völkerwanderungszeil  V>is  zur  Elbe  vor- 
gedrungen ist,  um  vom  späteren  Mittelaller  an 
wieder  vom  Deutschen  über  die  Oder  und 
weiter  zurückgedrängt  zu   werden. 

Die  gleichen  Verhältnisse  linn,  die  wir  in 
geschichtlicher  Zeit  beobachten,  müssen  wir 
auch  für  die  vorgeschichtliche  Periode  für 
möglich  ansehen.  Freilich  kann  uns  für  diese 
Vorgänge  keine  Kunde  überliefert  sein.  Aber 
durch  die  Entdeckung  bisher  unbekannter  indo- 
germanischer Sprachen  in  Zentralasien  (Tocha- 
risch,  Sogdisch,  Nordarisch),  die  sich  bis  tief 
in  die  Mongolei  hinein  im  frühen  Mittelalter 
ausgedehnt  haben,  um  später  von  den  Türk- 
sprachen verdrängt  zu  werden  und  spurlos  von 
der  Erde  zu  verschwinden ,  haben  wir  gelernt, 
wie  sehr  sich  die  sprachlichen  Verhältnisse  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  verschieben  können. 
Deshalb  müssen  wir  mit  Rückschlüssen  aus  der 
geschichtlichen  Zeit  auf  die  Lagerung  und  Zahl 
der  Dialekte  der  indogermanischen  Stamm- 
sprache sehr  zurückhaltend  sein,  um  nicht  den 
Boden   unter  den  Füßen  zu  verlieren. 

Die  gleiche  Zurückhaltung  ist  geboten,  wenn 
man  mit  Teilstämmen,  die  uns  aus  historischer 
Zeit  bekannt  sind,  operieren  will.  Wohl  können 
wir  mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  annehmen, 
daß  ein  Grab,  das  auf  sächsischem,  fränkischem 
oder  bayerischem  Gebiet  aus  der  Zeit  nach  der 
Völkerwanderung  aufgefunden  wird,  in  der  Tat 
einen  Angehörigen  dieser  Stämme  enthält.  Bei 
Gräbern,  die  aus  der  Latenezeit  stammen  und 
Beigaben  enthalten,  die  dem  keltischen  Kultur- 
kreis entstammen,  dürfen  wir  den  Bestatteten 
wohl  unbedenklich  als  Kelten  ansprechen,  ob- 
wohl natürlich  keine  Schwierigkeit  besteht,  daß 
sich  auch  Augehörige  von  Stämmen  mit  anderen 
Sprachen  das  keltische  Kulturgut  angeeignet 
haben  können.  Aber  sobald  wTir  weiter  zurück 
in  die  Hallstatt-,  Bronze-  oder  gar  Steinzeit 
kommen,  verlieren  wir  jeden  Anhaltspunkt,  um 
die  Angehörigen  eines  bestimmten  Kulturkreises 
ethnographisch  festzustellen.  Freilich  kann  man 
sa'_ren,  ob  ein  Skelett  einem  Angehörigen  der 
doliehokephalen  nordischen  Rasse  oder  der 
mesokerihalen    Grenelle-Rasse  zuzusprechen  ist; 


aber  wie  die  Angehörigen  dieser  Rassen  oder 
anderer  prähistorischer  Kulturen  sprachlich  ein- 
zuordnen sind,  wird  uns  auf  immer  ein  Rätsel 
bleiben.  Gewiß  wäre  es  recht  verlockend,  die 
sogenannte  Lausitzer  Kultur,  die  sich  von  Ober- 
italien über  Mähren  und  Ungarn  bis  nach 
Schlesien  ausdehnte,  mit  Kossinna  den  Illyriern 
zuzuweisen,  durch  die  er  seine  früheren  Karpo- 
daken  ersetzt  hat.  Aber  es  bleibt  zu  bedenken, 
daß  wir  von  Illyriern  erst  seit  der  Mitte  des 
letzten  vorchristlichen  Jahrtausends  wissen1), 
während  die  Lausitzer  Kultur  in  die  ältere 
Bronzezeit  gesetzt  wird,  also  mindestens  :">00  Jahre 
älter  als  das  historische  Vorkommen  des  Namens 
der  Illyrier  ist.  Für  eine  einstige  weitere  Aus- 
dehnung der  Illyrier  spricht  ja  allerdings  die 
auffällige  Übereinstimmung  zwischen  dem  Namen 
der  Veneter  an  der  Nordküste  der  Adria  und 
dem  deutschen  Namen  für  die  Slawen  =Wenden. 
Es  scheint  also,  als  ob  auch  einmal  Veneter 
östlich  von  den  Germanen  gewohnt  hätten. 
Freilich  finden  sich  auch  Veneter  bei  Cäsar  in 
der  Bretagne,  wo  sie  unzweifelhaft  eine  Völker- 
schaft mit  keltischer  Sprache  sind.  Somit 
bleibt  der  Name  der  Veneter  eines  der  vielen 
Rätsel,  die  uns  die  Namen  prähistorischer 
Völker  oder  auch  solcher  aus  historischer  Zeit 
aufgeben,  wenn  sie  an  ganz  verschiedenen 
Stellen  auftreten:  Iberer  kennen  wir  z.  B.  im 
Kaukasus  und  in  Spanien,  Marser  in  Latium 
und  auf  dem  rechten  Ufer  des  Niederrheins; 
den  Völkernamen  der  Russen,  der  den  nor- 
dischen Warägern  von  den  Finnen  gegeben 
wurde  und  erst  später  auf  das  heute  so  ge- 
nannte Volk  überging,  treffen  wir  in  der  Form 
Ros  oder  Rüs  bei  byzantinischen  und  arabischen 
Schriftstellern  des  10.  Jahrhunderts  für  einen 
skythischen  Volksstamm  im  Südosten  Rußlands. 
Diese  Beispiele  ließen  sich  noch  vermehren. 
Die  Namen  besagen  in  der  Regel  recht  wenig 
über  das  Volk,  das  die  Alten  unter  ihnen  ver- 
standen, wenn  nicht  genauere  geschichtliche 
Quellen  uns  über  die  Lebensgewohnheiten  und 
die  Sprache  des  betreffenden  Volkes  zur  Ver- 
fügung stehen.  Zudem  haftet  ein  Name  häufig 
an  eitler  bestimmten  Gegend  und  geht  dann 
leicht,  wenu  die  Bevölkerung  wechselt,  auf  das 
neue  Element  über,  das  die  Stelle  des  älteren 
eingenommen  hat.  Mau  denke  z.  B.  an  die 
eben  besprochenen  Wenden  oder  an  das,  was 
wir  heute  unter  Preußen  verstehen  und  was 
der  Name  vor  500  Jahren  bedeutete. 


J)  Vgl.  Herodot  I,  S.  196;  IV,  S.49;  IX,  S.  43, 
wo  übrigens  nichts  über  die  Vergangenheit,  die  Sprache 
und  die   Ausdehnung  der  Illyrier  zu  rinden   ist. 


67 


Aus  allen  diesen  Gründen  erscheint  es  gauz 
aussichtslos,  Namen  von  erst  in  historischer 
Zeit  auftretenden  Völkern  in  die  prähistorische 
Zeit  zurückzuverlegen  und  z.B.  mit  Schuch- 
hardt  die  etwa  aus  der  Zeit  um  800  v.  Chr. 
stammenden,  bei  Eberswalde  in  der  Mark  auf- 
gefundenen Goldgefäße  als  Hausschatz  eines 
Fürsten  der  Semnonen  zu  bezeichnen.  Mißlich 
ist  es  auch,  mit  Dr.  Viollier  die  iu  Gräbern 
der  Schweiz  seit  der  Mitte  des  letzten  Jahr- 
tausends v.  Chr.  vertretene  Lateuekultur  dem 
Stamm  der  Helvetier  zuzuschreiben,  obwohl  uns 
Caesar  berichtet,  daß  diese  Völkerschaft  erst 
vor  kurzem  unter  dem  Druck  der  Germanen 
den  Rhein  zu  überschreiten  begonnen  habe.  Wie 
wollen  wir  wissen,  ob  dieser  Übertritt  auch  schon 
in  so  früher  Zeit  bereits  stattgefunden  hat  und 
ob  es  überhaupt  in  jener  weiter  zurückliegenden 
Zeit  schon  Helvetier  im  späteren  Sinn  gegeben 
hat?  Sind  etwa  die  Schweizer  um  1000  n.Chr. 
noch  Helvetier  gewesen  ?  Ob  die  erst  bei 
Tacitus  genannten  Semnonen  schon  1000  Jahre 
früher  da  gewohnt  haben,  wer  will  das  also 
mit  Sicherheit  behaupten?  Und  wenn  auch 
die  Semnonen  bereits  in  jener  Zeit  in  Branden- 
burg ansässig  gewesen  wären,  hätten  wir  immer 
noch  kein  Recht,  sie  als  Germauen  zu  bezeichnen, 
denn  wir  wissen  durchaus  nicht,  welche  Sprache 
damals  in  der  Mark  Brandenburg  vorherrschend 
war,  und  ob  es  um  800  v.  Chr.  überhaupt 
schon  Germanen  in  dem  uns  geläufigen  sprach- 
lichen Sinn  gab. 

Meiner  Ansicht  nach,  die  ich.  in  der  oben 
genannten  Studie  „Indogermanen  und  Ger- 
manen" entwickelt  habe,  ist  das  aber  nicht 
mit  Sicherheit  anzunehmen.  Aus  sprachlichen 
Gründen,  zumal  aus  dem  Phänomen  der  Laut- 
verschiebung und  mit  Rücksicht  auf  den  er- 
heblichen Bruchteil  nicht  indogermanischer  Her- 
kunft des  germanischeu  Wortschatzes  habe  ich 
an  der  genannten  Stelle  ausgeführt, ,  daß  die 
Germanen  vor  dem  Beginn  der  keltischen  Herr- 
schaft über  Mitteleuropa  von  einem  indoger- 
inanisierten  mitteleuropäischen  Volke  die  indo- 
germanische Mundart  übernommen  haben,  die 
wir  als  germanisch  zu  bezeichnen  gewohnt  sind. 
Die  Prägermanen ,  worunter  ich  die  Germanen 
vor  der  Übernahme  der  indogermanischen 
Mundart  verstehe ,  besaßeu  eine  der  ureuro- 
päischen Sprachen,  von  denen  uns  keine  Reste, 
ja  nicht  einmal  die  Kunde  von  ihrem  ein- 
stigen Vorhandensein  überliefert  ist.  Wir 
müssen  sie  aus  ihren  Nachwirkungen  in  der 
germanischen  Sprache  (Lautverschiebung,  Wort- 
schatz, Wortbetonung)  erschließen,  ebenso  wie 
wir    eine    vorindoffermanisebe    Kultur    aus    den 


Spuren  des  bei  den  Germanen  (ebenso  wie  bei 
den  Iberern  und  Basken)  nachzuweisenden 
Mutterrechts  entnehmen.  Die  Versuchung  liegt 
nahe,  das  indogermanische  Volk,  das  den  Ger- 
manen seine  Sprache  vermittelte,  in  den  Trägern 
der  bis  in  die  heutigen  Provinzen  Schlesien 
und  Posen  nachgewiesenen  Lausitzer  Kultur 
(Illyrier  nach  Kossinna)  zu  finden.  Indes  ver- 
meidet man  besser  diese  noch  sehr  uusichere 
archäologische  Kombination  und  bescheidet  sich 
mit  einem  vorläufigen  noii  liquet.  An  und  für 
sich  kann  die  Annahme,  daß  die  Prägermanen 
ihre  Sprache  gegen  eine  indogermanische  Mund- 
art aufgegeben  haben,  nicht  auffällig  erscheinen, 
da  wir  denselben  Hergang  des  Sprachenwechsels 
auch  in  historischer  Zeit  beobachten,  wenn  die 
hochdeutsche  Schriftsprache  das  Niederdeutsche 
teilweise  ganz  verdrängt  hat  und  weiterhin  zu 
verdrängen  den  Anschein  hat,  ebenso  wie  das 
Friesische  dem  Plattdeutschen  weicht.  Wir 
können  in  der  Mark  Brandenburg  z.  B.  inner- 
halb eines  Zeitraumes  von  nicht  viel  mehr  als 
1000  Jahren  einen  mehrfachen  Sprachen  Wechsel 
feststellen:  Germanisch  bis  etwa  500  n.  Chr., 
Slawisch  von  500  bis  etwa  1300,  Niederdeutsch 
von  1400  bis  1600,  von  da  ab  überwiegend 
Hochdeutsch. 

Um  nun  wieder  auf  den  Ausgangspunkt 
zurückzukommen,  wie  will  mau  bei  einem  derart 
schnellen  Sprachenwechsel  in  historischer  Zeit 
für  eine  prähistorische  Epoche  von  nahezu 
1000  Jahren  annehmen,  daß  die  Bevölkerung 
stets  germanisch  geblieben  sei,  wenn  man  mit 
Schuchbardt  die  Semnonen  rund  1000  Jahre 
zurück  verlegt?  Mau  sieht,  in  welche  Schwierig- 
keiten man  gerät,  wenn  man  archäologische 
Ergebnisse  ohne  weiteres  mit  sprachlichen  Ver- 
hältnissen einer  viel  späteren  Zeit  zu  kom- 
binieren versucht.  Ist  es  nicht  viel  richtiger 
und  im  Interesse  der  Wissenschaft  förderlicher, 
wenn  wir  uns  damit  begnügen,  die  prähistorischen 
Kulturen  in  ethnographischer  und  sprachlicher 
Hinsicht  so  lange  als  anonym  anzusehen,  als 
wir  keine  historische  Kunde  von  ihren  Trägern 
besitzen?  Ist  dieses  Verfahren  aber  in  Mittel- 
und  Nordeuropa  schon  für  die  Zeit  vor  der 
Mitte  des  letzten  vorchristlichen  Jahrtausends 
das  richtigere,  um  wieviel  mehr  muß  es  Gel- 
tung haben  für  jene  noch  fernere  Vorzeit,  in 
der  das  einheitliche  indogermanische  Stamm- 
volk angesetzt  wird.  Es  muß  nach  den  vor- 
stehenden Ausführungen  für  eine  nach  strengen 
Methoden  arbeitende  Wissenschaft,  wie  es  die 
prähistorische  ja  auch  sein  will,  als  ganz  aus- 
sichtslos erscheinen,  das  Indogermanenproblem 
archäologisch    zu    erfassen.      Was    bisher    von 


68 


•_mh  issen  Prähistorikern  über  das  indogermanische 
Stammvolk,  über  seine  körperlichen  uud  geistigen 
Eigenschaften,  über  seinen  Kulturbesitz  und 
seine  religiösen  .Anschauungen  vorgebracht 
worden  ist,  unterscheidet  sieh  in  nichts  von  den 
Mythen,  mit  denen  die  alten  Völker  ihren  Ur- 
sprung aufzuhellen  versuchten.  Unsere  be- 
hauptete Abstammung  von  den  Ariern  kann 
ruhig  in  eine  Linie  uestellt  werden  mit  der  von 
den  römischen  Großen  im  2.  Jahrhundert  v.Chr. 


aufgenommenen  Fabel  von  ihrer  Herkunft  von 
flüchtigen  Trojanern.  Dieser  Mythus  hatte  merk- 
würdigerweise ein  langes  Nachleben,  da  er  von 
den  Frauken  übernommen  wurde,  die  nun  ihrer- 
seits ihren  Ursprung  auf  die  Trojaner  zurück- 
führten. Hoffen  wir,  daß  der  Mythus  von  den 
Ariern,  wie  er  gegenwärtig  im  Schwange  ist, 
bald  wieder  einer  vernünftigeren  und  wissen- 
schaftlicheren Auffassung  von  der  Vergangen- 
heit der  europaischen  Völker  Platz  machen   wird. 


Zur  Frage  der  willkürlichen  Beeinflussung  der  kindlichen 

Schädelform. 

Von  Prof.  A.  J.  P.  v.  d.  Broek,  Utrecht. 


Im  36.  Bande  dieser  Zeitschrift  veröffent- 
lichte Walcher  einen  Aufsatz  „über  die  Ent- 
stehung von  Brachy-  und  Dolichokephalie 
durch  willkürliche  Beeinflussung  des  kiudlichen 
Schädels".  Ausgehend  von  der  bekannten  Tat- 
sache, daß  der  kindliche  Schädel,  auch  der  nor- 
male, deformierbar  ist,  hat  er  neugeborene 
Kinder  sozusagen  in  ihrer  Lagerung  auf  dem 
Kopfkissen  fixiert  und  dadurch  nicht  unerheb- 
liche Veränderungen  in  der  Schädelform  er- 
zeugt; Brachykephalie  bei  Rückenlagerung,  bei 
Seitenlageruug  dagegen  Dolichokephalie. 

Die  Resultate  sind,  nach  Walchers  Meinung 
auch  für  die  Anthropologie  nicht  ohne  Bedeu- 
tung, denn  er  kommt  zum  Schlüsse,  daß  beim 
Zustandekommen  der  Kopfform  „eine  gewisse 
Heredität  mitspielt",  daß  sie  „aber  in  der 
Hauptsache  auch  in  der  mit  der  Zeit  erworbenen 
Eigenschaft  besteht,  lieber  auf  der  Seite  oder 
lieber  auf  dem  Rücken  zu  liegen,  oder  in  der 
Sitte  von  gewissen  Volksstämmen,  z.B.  der 
schwäbisch  -  alemannischen  Bevölkerung,  ihre 
Kinder  im  weichen  Wickelkissen  auf  den 
Kucken  zu  legen,  oder  der  Engländer,  die 
Seitenlage  auf  hartem  Kopfpolster  zu  bevor- 
zugen (1.  c.  S.  44)".  Walcher  endet  seinen 
Aufsatz  mit  der  Bemerkung,  „daß  ein  großes 
weites  Feld  noch  unerforscht  vor  uns  liegt, 
aber  ich  hoffe  damit  den  ersten  Spatenstich 
getan  zu  haben,  und  bitte  die  Kollegen,  das 
gleiche  Feld  auch  in  Angriff  zu  nehmen,  das, 
neben  reichen  Früchten  auf  geburtshilflich- 
pädiatrischem  Gebiete,  für  die  Anthropologie 
ungeahnte  (manchem  vielleicht  unwillkommene) 
Ernten  verspricht"  (1.  c.  S.  45). 

Der  genannte  Forscher  hat  seine  Beobach- 
tungen und  Experimente  fortgesetzt,  und  zwar 
hauptsächlich    an   eineiigen   Zwillingen    und     be- 


richtet über  seine  Ergebnisse  nochmals  in  der 
Münch.  med.  Woehenschr.  (1911).  Er  faßt 
seine  Resultate  jetzt  positiver  und  kommt  zum 
Ergebnisse  „daß  der  im  ersten  Lebensjahre 
durch  äußere  Einflüsse  erworbene  Index  sich 
für  das  gauze  Leben  zu  erhalten  scheint"  (1.  c. 
S.  136),  und  daß  es  wohl  kaum  anzunehmen  ist, 
daß  für  die  Zukunft  der  Typus  des  (durch  die 
Lagerung  deformierten)  Schädels  sich  noch  einmal 
so  verändern  könnte,  daß  er  den  Schädeln  der 
übrigen  Familie  gleichkäme;  damit  wäre  aber 
nachgewiesen,  daß  es  unstatthaft  ist,  von  dolicho- 
kephalen  und  brachykephalen  Rassen  zusprechen. 
Mögen  andere  Maße  des  Schädels  Rassenkenn- 
zeichen sein,  der  Läugenbreitenindex  ist  es 
nicht!" 

Der  Aufforderung  Walchers,  junge  Kinder 
während  längerer  Zeit  zu  beobachten,  bin  ich  in 
gewissem  Sinne  nachgekommen. 

Eine  reiche  Ernte  kann  ich  zwar  nicht 
bieten,  jedoch  nur  ein  einziges  Hähnchen;  und 
dann  sogar  nur  eines,  das  gewissermaßen  frei 
in  der  Natur  aufgewachsen  ist  uud  nicht  vom 
Experimentalfelde  stammt.  Doch  kann  es  viel- 
leicht in  Zusammenhang  mit  der  von  Walcher 
ventilierten  Frage  einigen  Wert  haben. 

Es  betrifft  nämlich  die  Beobachtung  meiner 
eigenen,  jetzt  drei  Jahre  alten,  Zwillinge. 

Am  9.  Oktober  1913  wurden  wir  erfreut 
mit  der  Geburt  zweieiiger  Zwillinge;  ein  Junge 
und  ein  Mädchen.  Beide,  ä  terme  geborene, 
normale,  obwohl  bei  der  Geburt  nicht  sehr 
schwere  Kinder  sind  vollständig  gesund;  sie 
haben,  was  hervorzuheben  ist,  keine  einzige  Er- 
scheinung von  Rachitis  gehabt.  Der  Zahn- 
durchbruch begann  etwas  spät,  verlief  jedoch 
vollkommen  normal;  die  Kinder  standen  mit 
10  Monaten   und   liefen   mit    11  Monaten. 


69 


Am  zweiteu  Geburtstage  war  die  große 
Fontanelle  geschlossen.  Das  Gewicht  war  mit 
zwei  Monaten  gleich  dem  Gewichte  normaler 
Kinder  und  ist  es  seither  geblieben.  Von  der 
Geburt  sei  folgendes  erwähnt.  Das  Mädchen 
wurde  zuerst  geboren  in  erster  Kopflage;  der 
Junge  eine  halbe  Stunde  später,  ebenfalls  in 
Kopflage,  letzterer  eigentlich  ohne  Geburts- 
mechauismus. 

Das  sofort  ins  Auge  springende  Merkmal 
war  die  sehr  verschiedene  Kopfform.  Das 
Mädchen  war  ausgesprochen  brachykephal,  der 
Junge  dagegen  stark  dolichokephal.  Am  zweiten 
Tage  bestimmte  ich  den  Kopfindex  und  fand 
für  das  Mädchen  82,2,  für  den  Jungen  nur  72,4. 

Die  Kinder  kamen  in  gleich  gestaltete 
Wiegen;  die  Kopfkissen  waren  einander  gleich. 
Diese  waren  mit  Kapok  (Früchteduneu)  gefüllt 
und  konnten  weder  als  sehr  weich,  noch  als 
hart  bezeichnet  werden,  der  Kopf  erzeugte  im 
Kissen   einen  deutlichen  Eindruck. 

Vom  ersten  Tage  an  war  es  vollkommen 
klar,  daß  der  Junge  immer  Seitenlage,  das 
M'tdehen  immer  Rückenlage  annahm.  Anfangs 
war  es  vielleicht  die  Schwere  des  langen  ei- 
förmigen Kopfes,  welche  die  Seitenlage  verur- 
sachte; später  hat  er  immer  selbständig  diese 
Lage  eingenommen  und  er  tut  es  auch  heute 
noch  immer.  Dasselbe  gilt  für  die  Rückenlage 
des  Mädchens.  Wiederholt  habe  ich  es  ver- 
sucht, eine  andere  Lage  zu  erzielen  (allerdings 
ohne  exzessiv  weiche  oder  harte  Kissen),  es  ist 
mir  immer  mißlungen.  Ich  habe  sie  selbst- 
verständlich tagtäglich  beobachtet.  Ich  denke, 
daß  sie  zu  denjenigen  Kindern  gehören,  von 
denen  Walcher  sagt,  daß  sie  „eine  unbesieg- 
bare Neigung  zeigen,  auch  bei  imbequemer 
Unterlage  und  trotz  aller  Listen  stets  den  Kopf 
auf  die  Seite  bzw.  auf  den  Hinterkopf  zu  legen" 
(1.  c.  S.  135).  Von  ihren  Wiegen  bzw.  Bettchen 
war  ihre  Lage  wenigstens  unabhängig;  die 
Seiten  der  Wiegen  waren  undurchsichtig;  die 
Bettchen  dagegen  haben  Drahtgitterwände. 

Nun  war  ich,  in  Zusammenhang  mit  Wal- 
chers  Aufsätzen,  sehr  neugierig,  wie  sich  die 
Kopfmdices  beider  Kinder  verhalten  würden 
und  habe  ich  diese  an  bestimmten  Zeiten  auf- 
genommen mit  dem  folgenden  Resultate. 

In  einem  Alter  von  vier  Monaten  bestimmte 
ich  den  Kopfindex  des  Jungen  auf  71,  des 
Mädchens  auf  86,3.  Hier  konnte  also  bestimmt 
au  einen  Einfluß  der  Lagerung  auf  die  Kopf- 
form gedacht  werden,  die  Erscheinung  stimmte 
mit  den  Angaben  von  Walcher  und  kam, 
wenigstens  für  den  Jungen,  nicht  mit  den  An- 
gaben   von    Tschepourko vsky   überein,    nach 


dein  der  Kopfindex  vom  ersten  Monat  an  regel- 
mäßig zunimmt.     (Großrussen). 

Später  jedoch  änderte  sich  das  Bild.  Ob- 
wohl, wie  gesagt,  der  Junge  die  seitliche  Kopf- 
lage hartnäckig  innehielt,  stieg  der  Kopfindex 
nichtsdestoweniger  allmählich  an. 

Im  Alter  von  einem  Jahre  ist  der  Kopfindex 
bei  ihm  75  (Länge  148,  Breite  112);  bei  dem 
Mädchen  ist  er  83  (Länge  143,  Breite  119).  Es 
ist  nicht  denkbar,  daß  diese  große  Veränderung 
in  der  Kopfform  einzig  von  der  Entwickelung 
der  Kaumuskulatur  abhänuitr  ist,  auch  die  Form 
des  Schädels  muß  sich  geändert  haben. 

Später  hat  sich  die  Kopfform  nicht  mehr 
so  stark  geändert,  denn  jetzt,  im  Alter  von 
drei  Jahren  ist  der  Längen -Breiteniudex  des 
Kopfes  beim  Jungen  77,1  (Länge  166,  Breite 
128),  beim  Mädchen  beträgt  er  82,4  (Länge 
168,  Breite   138). 

Zusammenfassend  fiuden  wir  somit:  bei  einem 
Kiude  mit  konstanter  Seitenlage  des  Kopfes  auf 
einem  nicht  sehr  weichen  Kissen  nach  einer 
geringen  Zunahme  der  Dolichokephalie  in  den 
ersten  Monaten  eine  allmähliche  Zunahme  des 
Kopfindexes  bis  zum  dritten  Lebensjahre;  und 
bei  einem  brachykephal  geborenen  Kiude,  in 
Rückenlage  auf  einem  ähnlichen  Kissen  liegend, 
eine  allmähliche,  obwohl  geringere  Abnahme 
des   Kopfindexes. 

Beide  Erscheinungen  widersprechen  den  Er- 
wartungen, welche  man  auf  Grund  der  Ausein- 
andersetzungen Walchers  haben  konnte,  und 
zeigen,  daß  das  erbliche  Moment  doch  an- 
scheinend eine  bedeutendere  Rolle  spielt,  als  es 
Walcher  sich  vorstellt. 

Bei  den  beschriebenen  Kindern  war  es  nicht 
die  Lagerung,  welche  die  Kopfform  bestimmte, 
sondern  die  Kopfform,  welche  anfänglich  die 
Lagerung  bestimmte,  eine  Lagerung,  welche 
dann  später  gewohnheitsmäßig  oder  der  Bequem- 
lichkeit halber  innegehalten  wurde. 

Diese  Beobachtung  hat  mich  dann  auch  zur 
Frage  geführt,  ob  Walcher  bei  seinen  anthro- 
pologischen Auseinandersetzungen  nicht  Ursache 
und  Wirkung  verwechselt  hat  und  dadurch  zu 
solchen,  für  die  messende  Anthropologie  so 
„wehmütigen"  Auffassungen  gekommen  ist. 

Erstens  muß  bemerkt  werden,  daß  Walcher 
nicht  das  Recht  hat  zu  sagen,  „daß  der  im 
ersten  Lebensjahre  durch  äußere  Einflüsse  er- 
worbene Index  sich  für  das  gauze  Leben  zu 
erhalten  scheint",  denn  es  ist  bekannt,  daß  durch 
das  Längenwachstum  des  Kopfes  der  Längen- 
Breiteuindex  zwischen  dem  6.  und  20.  Lebens- 
jahre bis  zu  o1  .,  Einheiten  abnimmt.  Jedoch  ab- 
gesehen davon,   daß  die  bedingenden  Momente 


70 


für  die  Form  des  erwachsenen  Kopfes  nicht  nur 
in  den  äußeren  Einflüssen  im  ersten  Lebensjahre 
Liegen,  dringt  sich  doch  unmittelbar  die  Frage 
auf,  ob  Völker,  bei  denen  die  Köpfe  zurDolicho- 
kephalie  neigen,  eben  nicht  ihre  Kinder  auf  der 
Seite  werden  liegen  lassen,  weil  diese  Lagerung 
von  den  Kindern  selbständig  eingenommen  wird. 
Sind  die  deutschen  Wickelkissen  und  die  eng- 
lischen harten  Kissen  nicht  viel  eher  eine  Folge 
der   Kopfform   als   deren    Ursache? 

Und    was    für  Kulturvölker    womöglich  gilt, 
wird   in   nicht  gerinfjerem  Maße   für  die  Natur- 


völker, und  diese  sind  im  allgemeinen  viel 
mein  als  Rassentypen  zu  betrachten,  Geltung 
haben.  Walcher  mag  recht  haben,  daß  liier 
noch  ein  großes  Gebiet  offen  liegt,  er  hat  aber 
noch  nicht  gezeigt,  daß  man  das  Recht  hat.  der 
Dolicho-  und  Brachykephalie  jede  anthropolo- 
gische Bedeutung  abzusprechen.  Hoffentlich 
wird  bei  künftigen  anthropologischen  bzw.  eth- 
nologischen l'ntersuchimgen  auch  bei  Natur- 
völkern der  Kinderlage  und  der  Schädelform 
wahrend  des  Wachstumes  größere  Aufmerksam- 
keit geschenkt  werden. 


Neue  Paläolithfunde  in  Norddeutschland. 

Von   E.  Werth. 


Die  durch  ihre  Wechsellagerung  mit  echten 
Glazialablageruugen  für  die  Urohronologie  des 
Menschen  hochwichtigen,  Paläolithe  führenden 
Elster-Pleiße Schotter  von  Markkle eberg  legten 
die  Vermutung  nahe,  daß  auch  an  anderen  Stellen 
in  den  gleichaltrigen,  während  der  vorletzten 
Eiszeit  in  umfangreichem  Konnex  miteinander 
uestaudenen  „altdiluvialen  fluvioglazialen" 
Schottern  im  Elster-Pleiße-  und  Muldetal  Spuren 
des  paläolithisehen  Mensehen  nachweisbar  sein 
würden.  Vorläufige  daraufhin  gerichtete,  flüchtige 
Untersuchungen  einer  gauzen  Reihe  von  Auf- 
schlüssen der  fraglichen  Schotterstufe  ermög- 
lichten in  der  Tat  schon  jetzt  den  Nachweis  einer 
weiteren  Verbreitung  des  Menschen  in  dem 
bezeichneten  Gebiete  im  Vorlande  des  Eises 
der  vorletzten  diluvialen  Glazialperiode  (Riß- 
Eiszeit).  Einen  schönen  Hochschaber  (Kiel- 
schaber), wie  solche  auch  in  Markkleeberg 
gefunden  worden  sind,  fand  ich  in  der  Schotter- 
grube  westlich  von  Cröbern,  die  uns  so  klar 
über  die  Lagerungsverhältnisse  des  Decklößes  zu 
den  Schottern  und  dem  Geschiebelehm  Aufschluß 
gibt  (vgl.  E.Werth,  Das  Diluvium  von  Leipzig 
und  die  Paläolithfundstätte  von  Markkleeberg. 
Zeitschr.  d.  D.  geol.  Ges.  67,  26  ff.,  1915).  Diese 
d1  -  Schotter  der  Sächsischen  geologischen  Landes- 
aufnahme sind  bis  Altenburg  aufwärts  zu  ver- 
folgen, wo  ich  reichlich  Feuersteine  führenden 
und  daher  sicher  hierher  zu  rechnenden  Kiesen 
eine  Mo u stierspitze  entnehmen  konnte.  Von 
der  Gegend  von  Grimma  aus  haben  die  dr 
Schotter  des  Mulde tales  über  Otterwisch,  Rohr- 
bach usw.  eine  Verbindung  mit  denen  des 
Pleißetales,  ziehen  sich  andererseits  aber  auch 
im  heutigen  Muldetale  abwärts  bis  Würzen 
und  weiterhin.  Hier,  wenig  oberhalb  Würzen, 
fand  ich  in  den  zugehörigen  Schotteraufschliissen 


eiue  große,  roh  geschlagene  Klinge  mit  zwei 
sorgfältig  retuschierten  Schaberkerben  (en- 
coche).  Schließlich  lieferte  mir  noch  der  Ge- 
schiebelehm, in  den  die  Markkleeberger  Schotter 
nach  der  Plateauhöhe  (östlich)  zu  übergehen,  in 
der  Grube  hinter  der  Schule  in  Markkleeberg  eiue 
Spitze  vom  Typus  La  Micoque.  So  weni_r 
diese  paar  Funde  auch  an  sich  bedeuten  mögen, 
so  zeigen  sie  doch,  daß  der  paläolithische  Mensch 
der  vorletzten  Eiszeit  auch  in  Deutschland  eine 
viel  allgemeinere  Verbreitung  gehabt  hat,  als 
bisher  angenommen  wurde. 

Daß  auch  während  der  letzten  Eiszeit  der 
Mensch  bei  uns  nicht  gefehlt  hat,  glaube  ich 
aus  einer  kleinen  Serie  von  Instrumenten  des 
Aurignac -Typus  (Blattspitzen,  Klinneuschaber, 
Klingenkratzer,  Rundschaber  und  Hochschaber) 
schließen  zu  dürfen,  die  ich  in  der  Gemarkung 
Dahlem  bei  Berlin  zum  Teil  bei  Gelegenheit 
größerer  Erdarbeiten  aufgefunden  habe.  Es 
handelt  sich  hier  um  Geschiebesande  und  -lehme 
des  letzten  Inlandeises  mit  reichlichen  nordischen 
Gesteinseinschlüssen,  Feuersteinen  und  vom 
Gletscher  geschliffenen  und  gekritzten  Ge- 
schieben, auf  dem  Grenzgebiete  zwischen  dem 
östlichen,  lehmigen  und  dem  westlichen,  sandigen 
Teile  der  Teltow  -  Grundmoränenfiäche.  Die 
Artefakte  befinden  sich  hier  natürlich  nicht  auf 
primärer  Lagerstätte,  sondern  haben  einen  mehr 
oder  weniger  langen  Transport  im  Gletscher- 
schutt durchgemacht .  was  teilweise  auch  aus 
der  Abrollung  der  Stücke  hervorgeht.  Wir 
finden  sonst  die  Instrumente  des  Aurignacieu 
vornehmlich  in  dem  mit  den  Gletscherablage- 
rungen der  letzten  Eiszeit  gleichaltrigen  (jün- 
geren) Löß.  Wir  können  sie  mithin  in  dem 
vom  letzten  Eise  bedeckt  geweseneu  Gebiete 
(Norddeutsches    Glazialseengebiet)    nicht    anders 


71 


als  im  Gletscherschutte  selbst  begraben  erwarten. 
Die  Aurignactypen  im  jüngsten  Geschiebeglazial 
Norddeutschlands  zeigen  aber,  daß  der  Aurignac- 
mensch  bei  uns  gelebt  hat,  und  geben  uns  die 
Überzeugung,  daß  systeniatischeNachf  orschungen 
nach  seinen  Kultur-  und  Knochenresten  im  jün- 
geren Löß  Norddeutschlands,  wo  er  in  Sachsen 
z.B.  bis  10m  Mächtigkeit  erreicht,  nicht  ohne 
Erfolg  bleiben  werden. 

Das  alte  Märchen  von  dem  Fehlen  des  paläo- 
lithischen  Mensehen  in  dem  nordeuropäischen 
Inlandeisgebiete    dürfte    endgültig    überwunden 


sein.  Und  damit  dürften-  gerade  solche  Ge- 
biete wie  Norddeutschland,  wo  die  Gletscher- 
ablagerungen  die  einzig  mögliche  Grundlage 
für  die  chronologische  Fixierung  der  Kultui- 
und  Skelettreste  des  diluvialen  Menschen  ge- 
währen, endlich  mehr  Beachtung  erfahren  und 
eine  bevorzugte  Forschungsstätte  auf  dem  wich- 
tigen Gebiete  der  ältesten  Urgeschichte  der 
Menschheit  werden.  Es  wäre  wünschenswert, 
daß  sich  dieser  Einsicht  auch  öffentliche  Mittel 
und  staatliche  Stellen  nicht  länger  verschließen 
möchten. 


Hausers  Micoquien. 


Von  E.  Werth. 


La  Micoque  bei  Les  Eyzies  in  der  Dor- 
dogne  war  Hausers  erste  Ausgrabungsstation 
in  Frankreich.  Zu  ihr  ist  er  im  Laufe  langer 
Jahre  immer  wieder  zurückgekehrt,  weil  ihm 
diese  Station  mit  den  eigenartigen  typologischen 
Verhältnissen  ein  Rätsel  zu  bergen  schien.  Und 
bald  erkannte  er,  daß  sich  in  La  Micoque  ein 
in  der  üblichen  Typologie  des  Paläolithikums 
bisher  noch  nicht  vorhandener  Formenkreis 
offenbart.  Schon  1907  hat  Hauser  in  Köln 
über  die  merkwürdigen  Typen  von  La  Micoque 
Bericht  erstattet.  In  dem  heute  vorliegenden 
Buche  „Über  eine  neue  Chronologie  des  mitt- 
leren Paläolithikums  im  Vezeretal,  speziell  mit 
Bezug  auf  meine  Ausgrabungen  auf  La  Micoque" 
(Leipzig  1916)  gelangt  er  nun  auf  Grund  mehr 
als  zehnjähriger  Grabungen  und  Sonderstudien 
zur  Aufstellung  eines  „Micoquien". 

Es  ist  Hausers  großes  Verdieust,  unbeirrt 
von  den  landläufigen  Vorstellungen  über  die 
typologische  Gliederung  des  Paläolithikums,  aus 
den  Ergebnissen  der  bisher  umfangreichsten 
an  einer  paläolithischen  Station  geleisteten 
wissenschaftlichen  Ausgrabungstätigkeit  den 
Schluß  gezogen  zu  haben ,  zu  dem  allein  ihn 
das  in  seinem  Umfange  fast  unübersehbare 
Fundmaterial  zwang.  Die  Station  von  La  Mi- 
coque liefert  bekanntlich  Formen,  die  an  die 
Typen  des  Acheuleen  erinnern  neben  solchen, 
die  denen  des  Mousterieu  oder  solchen  des 
Aurignacien  ähnlich  sehen.  So  wurde  das  Mico- 
quien bald  als  Acheuleen,  bald  als  Mousterieu, 
bald  als  oberes  Mousterieu  behandelt,  je  nach- 
dem diese  oder  jene  Stücke  als  atypisch  oder 
„banal"  für  die  Beurteilung  des  Formenkreises 
außer  acht  gelassen  wurden.  Die  erstmalige 
volle  Berücksichtigung  sämtlicher  Formen  und 
Werkzeugtypen  durch  Dr.  Hauser  machte  eine 


Einreihung  der  Gesanitiudustrie  von  La  Mi- 
coque in  das  Mortilletsche  System  unmög- 
lich und  führte  zur  Aufstellung  des  neuen 
Micoquien. 

Der  durch  Textfiguren,  Profile,  Pläne  und 
prächtige  Farbendrucktafeln  in  hervorragender 
Weise  dem  Verständnisse  näher  gerückte  Text 
des  Werkes  bringt  im  einleitenden  Kapitel  einen 
Überblick  über  die  Geologie,  Paläoklimatologie 
und  Paläontologie  des  Vezcretales,  der  mit  einer 
sehr  bemerkenswerten  Fauuenliste  der  archäo- 
logischen Epochen  schließt,  die  für  weiter- 
gehende chronologische  Parallel isierun gen  von 
allergrößter  Bedeutung  ist.  Der  nun  folgende, 
zehn  Seiten  umfassende  Abschnitt  über  quartäre 
Siedelungsveihältuisse  in  der  Dordogne  ist  reich 
an  interessanten  Ausblicken  lind  wichtigen  An- 
regungen auf  einem  bisher  noch  kaum  beach- 
teten Forschungsgebiete.  Ausführlich  werden 
sodann  die  Geschichte  und  die  Technik  der 
Ausgrabungen  auf  La  Micoque  behandelt.  Die 
aus  reicher  Erfahrung  eingegebene  sorgfältige 
Hausersche  Ausgrabungsmethode  kann  als  vor- 
bildlich für  die  Praxis  des  Diluvialforschers 
gelten.  Au  ihrer  Hand  lernen  wir  in  der  vor- 
liegenden Studie  das  komplizierte  Profil  von 
La  Micoque  bis  in  alle  Einzelheiten  kennen. 

Das  bemerkenswerteste  Resultat  dieser  minu- 
ziösen Profilaufnahme  ist  die  Feststellung  eines 
absolut  homogenen  Charakters  von  Artefakt 
und  Fauna  durch  alle  Schichten  hindurch.  Vor 
allem  kommt  die  Micoquekeilspitze  in  absolut 
gleicher  Formentwickelung  in  hohen  und  tiefen 
Horizonten  vor.  Dies  ist  für  Hauser  das 
ausschlaggebende  Moment  für  die  neue  Chrono- 
logie von  La  Micoque  gewesen. 

Unter  den  Fossileinschlüssen  der  über  6  m 
mächtigen  Schichtenfolge  von  La  Micoque  sind 


72 


durch  ihr  summarisches  Übergewicht  vor  allein 
die  Reste  eines  Pferdes  bemerkenswert.  Nach 
Studer  gehört  das  Pferd  von  La  Micoque 
einer  großen  Form  an,  die  im  Durchschnitt  die 
Art  von  Solutre  an  Schwere  übertrifft.  Im 
ganzen  fand  sich  bis  jetzt  in  La  Micoque 
folgende  Fauna:  Equus  caballus,  Bison  priscus, 
Elephas  antiquus,  Cervus  elaphus,  Ursus  spe- 
laeus,  Rhinoceros  Merckii,  Hippopotamus  major. 
Es  ist  also  eine  auf  eine  Interglazialperiode 
weisende  Tiergemeinschaft.  Zur  chronologi- 
schen Fixierung  der  Industrie  von  La  Micoque 
ist  jedoch  diese  Feststellung  allein  nicht  aus- 
reichend. Es  bedarf  dazu  einer  Einzelprüfung 
des  Kulturinventars. 

„Das  Gesamtbild  der  Industrie  von  La  Mi- 
coque zeigt  zweifellos  einen  merkwürdig  ge- 
mischten Charakter."  Wir  haben  da  zunächst 
verschiedene  Formen  von  „Faustkeilen" ;  vor 
allem  die  elegant  gearbeitete  „Micoque -Keil- 
spitze". Es  ist  aber  gleich  zu  bemerken,  daß 
diese  Micoquespitze  nicht  etwa  als  Leitform  für 
das  Micoquien  gelten  kann,  denn  sie  fehlt  an 
anderen  Micoquienstationen  und  wird  durch 
Faustkeile  anderer  Formen  und  Ausführung 
vertreten.  Ferner  rinden  wir  in  La  Micoque 
Disknsformeu,  Moustierspitzen,  Bohrer,  Kratzer, 
Schaber  oder  Schäler  in  Rechteck-  und  Dreieck- 
form, mit  konvexer  oder  konkaver  Arbeitskante, 
Kielschaber  und  eine  mannigfache Kleinindustrie. 
Die  Feststellung  dieses  gemischten  Werkzeug- 
charakters bei  voller  archäologischer  Einheitlich- 
keit aller  Horizonte  von  La  Micoque  ist  von 
allergrößter  Tragweite.  Die  Tatsache,  daß  in 
einer  einheitlichen  paläolithischen  Ablagerung 
Instrumente,  die  au  das  Acheuleen  erinnern, 
mit  solchen,  die  man  für  sich  allein  dem 
Mousterien  oder  gar  dem  Aurignacien  zuweisen 
würde,  regellos  vergesellschaftet  auftreten,  ist 
geeignet,  das  französische,  rein  typologische 
System  des  Paläolithikums  ernstlich  zu  er- 
schüttern und  endlich  den  Wunsch  nach  einer 
gesicherteren     chronologischen     Grundlage     für 


die    Diluvialarchäologie    laut   werden    zu    lassen. 
Daß    selbst     gewisse    Formen    von    La  Micoque 
von    bekannten    Forschern    für    „Archäolithen"' 
oder  „Eolithen"  gehalten  wurden,   ist  sehr  be- 
merkenswert. 

Ilauser  fand  in  La  Micoque  neben  60  Proz. 
Sondert}  pen  '25  Proz.  aurignacieiiähnliche,  10 Proz. 
nioiisterienälmliche  und  5 Proz.  acheuleenähuliche 
Stücke.  Nach  ihm  haben  bei  sämtlichen  Instru- 
menten des  Micoqueformenkreises  die  Schneide- 
rlächeu  zwei  übereinanderliegende  Reihen  von 
Retuschierungen,  wie  solche  sonst  erst  aus  dem 
Aurignacien  bekannt  waren.  Der  in  der  Be- 
avbeitungsweise  hervortretende  Aurignac- Cha- 
rakter zahlreicher  Instrumente  von  La  Micoque 
führt  neben  der  iuterglazialen  Begleitfauua  dazu, 
die  eigenartige  Kultur  zwischen  das  bisherige 
Alt-  und  Jungpaläolithikum  und  geologisch  in 
die  letzte  Interglazialperiode  einzureihen.  Diese 
von  Hauser  in  der  beigefügten  diluvialchrono- 
logischen Tabelle  klar  dargelegte  Fixierung 
macht  seine  Ausführungen  gegen  dieWiegers- 
sche  Auffassung  des  Micoquien  als  warmes 
Mousterien  der  letzten  Interglazialperiode  nicht 
recht  verständlich.  Der  Schwerpunkt  zwischen 
den  Auffassungen  von  Wiegers  und  Häuser 
liegt  doch  darin ,  daß  ersterer  das  klassische 
Mousterien  der  Micoquekultur  zeitlich  folgen 
läßt,  während  dasselbe  bei  Hauser,  sich  dem 
Acheuleen  anschließend,  vorhergeht. 

In  einer  Fußnote  am  Schluß  der  markanten 
Arbeit  wird  kurz  einer  Reihe  von  deutscheu 
und  schweizerischen  Fundstätten  gedacht,  deren 
Artefakte  nach  Hauser  seinem  neuen  Micoquien 
zuzuweisen  sind.  Möge  das  Buch,  dessen  ge- 
diegener Inhalt,  wie  gesagt,  unter  anderem  dem 
französischen  Paläolithschema  einen  schweren 
Stoß  versetzt,  auch  fernerhin  zu  Forschungen 
über  den  Eiszeitmenschen  in  Deutschland  an- 
regen, in  dem  Laude ,  in  dem  die  eiszeitlichen 
Gletscherablageruugen  allein  eine  sichere  chrono- 
logische Fixierung  seiner  Kultur-  und  Knochen- 
reste  ermöglichen. 


Der  Urtypus  der  Schmalhacke. 

Von  Dr.  C.  Mehlis,  Prof.  a.  D.  u.  Konservator  i.  E. 
Mit  zwei  Abbildungen. 


Unter  „Schuhleistenkeil",  Lochaxt, 
Schmalhacke,  Bodenhacke  werden  in  der 
prähistorischen  Archäologie  und  in  der  Ethno- 
logie geschliffene,  schmale,  dicknackige  bis  dünn- 
nackige  Steinhacken    verstanden,    deren    untere 


Laufbahn  in  gerader  oder  etwas  nach  oben, 
vorn  und  hinten  aufgebogener  Linie  verläuft 
und  deren  Kamm  eine  elliptische,  nach  oben 
ausgebogene  Linie  aufweist  (vgl.  Fig.  2:  eine 
Schmalhacke    aus    der    nördlichen    Vorderpfalz, 


73 


Lauge  13,4  cm,  Breite  2,5  cm,  Höhe  3,5  cm; 
vgl.  Mehlis,  Die  sogenannten  Schuhleistenkeile 
der  neolithischen  Zeit,  im  Zentralblatt  für  An- 
thropologie 1901,  3.  Heft,  S.-A.,  S.  3,  Nr.  11  u. 
S.  4  bis  5). 

Wie  der  Verfasser  in  der  eben  angeführten 
Spezialuntersuchung,  sowie  in  einer  im  Jahre 
1888  veröffentlichten  Arbeit  —  „Hacke  und  Beil 
am  Mittelrhein  zur  Steinzeit",  aus  „Mitteilungen 
der  Polliehia",  S.-A.,  S.5  bis  10  —  nachgewiesen 
hat,  dienten  diese  Schmalhacken  nicht  zur  Holz- 
bearbeitung, wie  Ingenieur  Thomas  annahm 
(vgl.  Mehlis,  Die  Schuhleistenkeile,  S.-A.,  S.  1), 
wozu  sie  wegen  der  zu  stumpfen  Angriffsfläche 
nicht  geeignet  sind  (vgl.  a.  a.  O.  S.  5),  sondern, 
wie  jetzt  die  meisten  Archäologen  nach  dem 
Vorgange  des  Verfassers  annehmen  '),  zur  Be- 
arbeitung des  Bodens  —  als  Bodenhacke.    Auf 


baues,  und  zwar  auf  Lößboden  in  Verbindung 
zu   setzen  '). 

Allein  diese  zweckvollendeten  Artefakte 
springen  nicht  wie  Pallas  Athene  „fix  und  fertig" 
aus  dem  Haupte  des  Kroniden;  sie  müssen  eine 
Vorgeschichte,  eine  Genesis  durchgemacht 
haben,  ein  Gedanke,  dem  meines  Wissens  bisher 
noch  niemand  näher  getreten  ist. 

Ein  Zufallsfuud,  den  der  Verfasser  Ende 
September  1916  zu  Neustadt  a.  d.  H.  machte, 
führte  auf  diese  Spur. 

Unmittelbar  nordwestlich  von  Neustadt  a.d.II. 
liegt  in  etwa  220m  Seehöhe  die  isolierte  Muschel- 
kalkinsel,  „Vogelgesang"  oder  „Vogelsang"  ge- 
nannt. Hier  fand  der  Verfasser  schon  vor  einem 
halben  Menschenalter  aus  lagerhaftem  Hörn  stein 
geschlagene  rohe  Messerchen  und  Pfeilspitzen 
auf  von  unbekanntem  Alter  2),  ferner  drei  band- 


Fig.  1. 


d  r 

Paläolithische  Schmalhacke  vom  „Vogelgesang"  bei  Neustadt  a.  d.  Hart. 


den  Samoainseln  diente  ein  ähnliches  Werkzeug 
zu  diesem  Zwecke  (vgl.  Mehlis,  Der  Grabfund 
von  Kirchheim  a.  d.  Eck,  S.  18  bis  19,  mit  Ab- 
bildung des  Originals,  Fig.  1). 

Vergesellschaftet  finden  sich  diese  ge- 
schliffenen Bodenhacken  nach  der  in  meiner 
„Ligurerf  rage"3)  gegebenen  Übersicht  von  den 
Höhlen  Liguriens  an  durch  die  Dauphine,  das 
Elsaß,  die  Pfalz,  Rheinhessen  bis  zum  Taunus 
und  weiter  rheinab  mit  den  Funden  der  Band- 
keramik. 

Zweifellos  sind  diese  Bodenbearbeitungs- 
werkzeuge mit  dem  Betriebe  eines  rohen  Hack- 


*)  Auch  Hermann  Hirt  und  Schötensack 
schließen  sich  meiner  Ansicht  an;  vgl.  Hirt,  Die  Indo- 
germanen,  Bd.  1,  S.  350  und  Verhandl.  der  Berl.  anthr. 
Gesellsch.  1897,  S.  493. 

*)  2.  Abteilung,  S.-A.,  S.  28. 


keramische  Werkzeuge,  das  Hinterteil  einer 
Schmalhacke,  eine  Breithacke  und  einen  Meißel. 
Beim  Durchschreiten  des  dortigen  „Kübelweges" 
stieß  der  Verfasser  mitten  im  Wege  auf  ein 
sonderbares  Artefakt  (vgl.  Fig.  1).  Die  Farbe 
ist  grauweiß.    Das  Gestein  besteht  aus  festem, 


x)  Den  Löß  als  Bodenart  führt  wiederholt  A.  Seh  Hz 
au;  vgl.  Die  Sammlungen  des  hist.  Museums  zu  Heil- 
bronn, S.  23   und  sonst  mehrfach. 

2)  Über  diese  Muschelkalkinsel  vgl.  Laubmann 
in  den  Jahresberichten  der  Polliehia,  25.  bis  27.  Jahrgang, 
S.  83 bis  84;  C.  W.  von  Gümbel:  Geologie  von  Bayern, 
2.  Bd.,  S.  1015  u.  1040.  —  Die  oben  erwähnten  Horn- 
steinartef akte  bildeten  insofern  ein  Stratum,  als 
sie  in  der  Nähe  der  dortigen  Hornsteinbank  lagen,  die 
den  höchsten  Teil  des  Kammes  am  „Vogelgesang"  vor 
ihrer  Zerstörung  —  um  1900  —  gebildet  hat  und  weiter 
höher  eine  Reihe  von  römischen  Pfeilspitzen  fest- 
gestellt wurde.  Der  von  Neustadt  nach  Haardt  früher 
über  die  Höhe  führende  alte  Weg  ist  ein  Bömerweg; 
unmittelbar  nach  Osten  stand  eine  römische  Spectila. 

10 


74 


dichtem  kristallinischen  Muschelkalk,  den  eine 
weiße    Verwitterungsrinde    bis    auf    einige 

verletzte  Stellen  umzieht  und  der  an  manchen 
Len  in  Hornstein  übergeht. 

i je     11,3  ein 

Größte  Höhe     ......      4,6 

Breite     3—4,1   „ 

Da  nun  an  der  Schneide  ein  Defekt  vorhanden 
ist,  so  mag  die  ursprüngliche  Länge  12  bis  13cm 
betragen  haben.  Das  Stück  ist  nicht  geschliffen, 
wohl  aber  sorgfältig  behauen,  so  daß  weder 
an  der  Unterseite,  noch  an  den  Seitenflächen 
eine  größere  Unebenheit  störend  vortritt.  Die 
zur  Schneide  auf  S  cm  Länge  abfallende  Vorder- 
Säche  verbreitert  sich  von  der  hohen  „Schulter" 
an  bis  zu  3  cm  nach  vorn,  während  nach  rück- 
wärts zum  „Haupte"  zu  nur  eine  abgerundete 
Kante  besteht.    Die  beiden  Seitenwangen  fallen 


Erdscholle  oder  des  Gesteines  geeignet  und 
„gemacht".  Das  Haupt  ist  hier  —  c  bis  e,  ,wie 
dort  cbist',  abgeschrägt,  damit  die  aus  Holz  und 
Bast  bestehende  Bindung1)  besseren  Halt  tindeu 
konnte. 

Was  die  Dimensionen  des  Neustadter 
Stückes  anbelangt,  so  stimmen  sie  in  der  Länge 
mit  den  vom  Verfasser  —  Schuhleistenkeile  der 
neolithisehen  Zeit,  S.  3  —  untersuchten  neoli- 
thischen  Schmalhacken  Nr.  11,  12,  lo,  14  über- 
ein; iu  der  Breite  mit  7,  8,  11,  16,  17;  in  der 
Höhe  mit  9.  Die  Maße  bei  der  Neustadter  Boden- 
hacke korrespondieren  also  im  allgemeinen  mit 
denen  der  neolithisehen  Werkzeuge,  jedoch  ein 
völlig  identisches  Artefakt  ist  unter  letzteren  nicht. 

Auch  diese  Tatsache  bringt  mit  der  Be- 
hauung, der  rohen  Ausführung  zum  Ausdruck, 
daß  wir  in  der  Neustadter  Schmalhacke  den 


Fig.  2. 


Neolithische  Pchmalhacke  aus  der  Vorderpfalz. 


fast  senkrecht  nach  unten  zu  ab.  Die  Laufbahn, 
welche  die  Basis  bildet,  ist  nach  hinten  zu  auf 
2,5  cm  Länge  abgeschrägt,  nach  vorn  zu  horizontal 
gestaltet,  mit  Spuren  von  Abnutzung,  die  bis  f 
reichen.  Nahe  der  Schneide  —  bei  d  —  sind 
7  scharfe  Kerben  sichtbar;  nach  meiner  Ansieht 
Spuren  der  Bearbeitung,  die  mit  einem  scharfen, 
piekelartigen  „Faustkeil"  erfolgt  sein  muß.  Die 
Formgebung  war  eine  bewußte,  sonst  hätte 
der  Lapicida  sich  wohl  „verhauen".  Er  wußte, 
worum  es  sich  bei  dem  arte  factum  instrumentum 
handelte,  um  ein  Werkzeug,  das  zum  Aufreißen 
eines  harten  und  widerspenstigen  Urbodcns 
dienen   sollte. 

Deshalb  entsprechen  auch  die  Umrisse  und 
Flächen  in  technischer  Bewertung  hier  genau 
der  neolithisehen  Bodenhacke  dort.  Man 
vergleiche  unbefangen  Fig.  1  mit  Fig.  2,  und 
man  wird  zu  demselben  Ergebnis  gelangen. 

liier  wie  dort  die  Arbeitsflächen  a  bis  b  und 
a  bis  c;  jene  zum  Eindrücken  in  den  Boden,  die 
an  der  Stirn  —  bei  c  —  ihren  die  Kraft  retar- 
dierenden Widerstand  und  Gegendruck  fand, 
diese   zum  Aufgreifen   und   zur  Entfernung  der 


Urtypus  der  späteren  geschliffenen  und  tech- 
nisch verfeinerten  Bodenhacke  der  Baud- 
keramiker,  d.  h.  der  ligurischen  Steinzeitbevölke- 
rung der  Rhone-  und  Rheinlandsebaften  vor 
uns  haben.  Als  geeiguetste  Zeit  und  bester 
Kulturabschnitt  bietet  sich  für  diesen  Urtypus 
das  Campignyen  dar  2). 

Daß  sowohl  am  Donuersberg,  wie  gleich 
unterhalb  obiger  Fundstelle  von  Neustadt  a.  d. 
Hart  zwei  Camp  igny  Stationen  vorhanden 
sind,  hat  der  Verfasser  erst  jüngst  an  dieser 
Stelle 3)  nachgewiesen.  Der  obige  Befund  ver- 
tieft noch  diesen  primitiven  Kulturkreis. 


*)  Vgl.  das  Samoaexemplnr:  Grabfund  von  Kirch- 
heim a.  d.  Eck,  S.  78;  hier  Holzfassung  und  Kokosschnur- 
umwickelung. 

2)  Vgl.  Literatur  bei  Mehlis,  Eine  neolithische 
Station  (Campignyen)  vom  Donnersberg,  1916,  S.-A., 
S.  5;  dazu  kommt  noch  A.  Schliz,  a.  a.  O.,  8.20.  Die 
Campigny-  Menschen  kannten  bereits  Getreide  (Hirse) 
und  dessen  Verwendung. 

3)  Vgl.  Korrespondenzblatt  tl.  D.  Gesell,  f.  Anthro- 
pologie, Ethnologie  und  Urgeschichte  1916,  Nr.  7  bis  9; 
Mcsolithische  Stationen  vom  Donnersberg  und  aus  der 
Vorderpfalz. 


75 


Und  wenn  der  Verfasser  x)  früher  den  Nach- 
weis erbrachte,  daß  die  Zone  der  Band- 
keramik  in  Mitteleuropa  mit  der  Ausbreitung 
der  Ligurer,  den  Angehörigen  der  Rasse  des 
homo  mediterraneus2),  vom  Rande  der  Pyrenäen 


J)  Vgl.  Die  Ligurerfrage,  II,  S.  28. 

2)  A.  Schulten,  Nurnantia  I,  kam  in  letzter  Zeit 
unabhängig  von  des  Verfassers  „Ligurerfrage"  zum 
selben  Resultat. 


bis  zum  mons  Cetius  und  der  Wien  =  Vienna, 
zusammenfällt,  deren  Hauptinstrument  für  ihren 
rohen  Hackbau  die  Schmalhacke  oder  Barock, 
genannt  der  Schuhleistenkeil,  war,  so  liegt  der 
Schluß  nahe,  daß  die  nachweisbar  älteste  Aus- 
strahlung dieser  Urbevölkerung  der  Mittelmeer- 
länder, die  in  der  Campigny  kult  m  Oberitaliens, 
Nordfrankreichs,  West-  und  Ndrddeutschlands, 
vorliegt,  den  Urligurern  angehört  und  somit 
auch  der  „Urtypus  der  Schmalhacke". 


Von  den  Steingeräten 
der  Völkerschaften  in  Sachsen -Thüringen. 


Von  Bär thold -Halberstadt. 

Mit  13  Abbildungen. 


Die  steinzeitlichen  Gefäße  mit  ihren  Ver- 
zierungen sind  in  vieljährigem  Forscheu  immer 
feiner  unterschieden  und  in  ihrer  Verbreitung 
festgestellt,  zuletzt  von  Schumacher  „Stand 
und  Aufgaben  der  neolithischen  Forschung", 
Bonn  1916,  mit  der  Mahnung,  nun  auch  die 
Werkzeuge  mehr  zu  berücksichtigen.  Bisher 
ist  auch  nur  der  „Schuhleistenkeil"  der  süd- 
licheren, das  Beil  aus  Wiedaer  Schiefer  der 
nördlicheren  Völkerschaft  und  der  vielkantige 
Hammer  den  Leuten  mit  den  Amphoren  als 
eigentümlich  zuerkannt,  nud  doch  vollendet  sich 
in  den  Waffen  und  Werkzeugen  die  durch- 
greifende Verschiedenheit  der  Kulturen.  Es 
wdrd  daher  allmählich  festzustellen  sein,  was 
ausschließlicher  Besitz  der  einzelnen  Völker- 
schaften war,  und  was  sie  gemeinsam  mit  anderen 
gebrauchten. 

Durch  ihre  Größe  und  höchst  geschmack- 
volle Form  zieht  in  Sachsen  -  Thüringen  eine 
sehr  langirestreckte  Axt  die  Blicke  auf  sich 
(Fig.  2).  Es  ist  eine  Axt,  denn  Schneide  und 
Schaftloch  haben  die  gleiche  Richtung,  während 
bei  der  Hacke  die  Richtungen  beider  sich 
kreuzen.  —  Aus  Spuren  der  Verschniirung  an 
der  Axt  im  Leubiuger  Fürstengrabe  schloß 
Höfer,  daß  sie  zwischen  Wangen  durch  einen 
Pflock  befestigt  hackenförmig  geschattet  war. 
Das  würde  indes  für  den  ursprünglichen  Ge- 
brauch nichts  entscheiden,  denn  in  der  Bronze- 
zeit war  sie  offenbar  ein  Fundstiick;  die  Meister 
dieser  Form  hatten  wohl  schon  geraume  Zeit 
den  eingewanderten  Germauen  das  Land  völlig 
überlassen. 

Wie  bei  den  gleichgeformten  Meißeln,  den 
Schuhleistenkeilen,  wird  die  Schneide  von  einer 
stark    gewölbten    und    einer    ganz   flachen   Seite 


I  gebildet,    so    daß    sie    eigenartig    gebogen    ist. 

I  Bei  der  ersten  Beschreibung  der  Gräber  vom 
Hinkelstein  (Archiv  f.  Anthropol.  1868)  meinte 
Lindenschmit,  die  flache  Seite  sei  durch 
stärkeren  Gebrauch  abgeschliffen.  Die  Absicht- 
lichkeit der  Form  wurde  bezweifelt,  weil  die 
Zweckmäßigkeit  nicht  ersichtlich   war. 

Besonders  elegant  sieht  die  Axt  aus,  wenn 
die  flache  Seite  verschmälert  ist  und  damit  die 
beiden  durchlochten  Seiten  etwas  gewölbt  sind. 
In  der  Regel  besteht  sie  aus  Diabas,  Diorit 
oder  schwarzem  Kieselschiefer,  also  zähem  und 
hartem    Gestein ,   das    auch    schöne   Politur   an- 

[  nimmt.  Sie  ist  wie  der  Schuhleistenkeil  ein 
Werk  der  südlicheren  Völkerschaft  —  Krause 
und  Schötensack  vermerkten  ihr  Fehlen  schon 
in  der  Altmark  —  und  sie  beweist  auch  den- 
selben starken  Sinn  für  Maß  und  Form  wie 
diese  ganze  Kultur.  Unter  16  Stück  der  großen 
Form  haben  3  eine  Länge  von  29  cm,  9  die 
Länge  von  31  bis  33  cm  und  4  andere  sind 
schätzungsweise  ebensolang.  Das  ist  sicherlich 
nicht  Zufall,  sondern  Absicht,  zumal  die  Schwan- 
kungen von  Verkürzung  durch  Nachschleifen 
kommen  können  oder  davon,  daß  jeder  das  Maß 
von  sieh  selbst  nahm,  denn  es  ist,  wie  Kauff- 
mann  bemerkt,  die  Länge  des  Oberarms,  aber 
auch  —  und  das  ist  ein  bequemeres  Maß  — 
die  innere  Länge  des  Unterarms  mit  der  Faust, 
und  es  ist  das  bis  zur  Annahme  des  Meters  so 
weit  verbreitete  Maß  „der  Fuß",  32,5  cm.  Die 
größte  bekannte  Axt  in  der  Sammlung  Schröder 
in  Hainichen  mißt  42  cm,  das  ist  die  äußere 
Länge  des  Unterarms  mit  dem  Daumen  bei 
einem  Mann  von  etwa  1,75  xn;  die  kleinsten 
haben  nur  reichlich  Fingerlänge,  so  daß  die 
größte    Axt    gerade    viermal    so    lang    wie    die 


76 


kleinste  ist.  Ahnlich  Fig.  3,  denn  auch  die 
hochgewölbten  Meißel  steigen  in  der  Länge  von 
6  bis  40  cm. 

Diese  Äxte  zeigen  meist  keine  Gebrauchs- 
spuren, ihre  glänzende  Glätte  ist  vortrefflich 
erhalten,  nur  im  Schalt  loch  sind  sie  nicht  selten 
gebrochen,  und  dann  ist.  ein  neues  Loch  gebohrt 
oder  doch  angefangen.  Manche  haben  frische 
Bruchstellen  und  Scharten,  sie  sind  von  den 
ersten    Findern    zerschlagen,   auch   vom   Pfluge 


Werkzeuge   der    südlicheren  Völkerschaft    mit    Spiral-Mäander 
und  Stiebband  - 1  iefäßen. 

Abgebildet  ist  jedesmal  das  größte  Stück  aus  dem  Harz- 
gan oder  aus  Gatersleben  im  Nachbargau ,  nur  Abb.  2  ist  — 
dank  freundlicher  Mitteilung  —  von  Gügleben,  S. -Meiningen ; 
hier  eingeschaltet,  weil  ihre  Größe  mit  Abb.  8  übe]  einstimmt 
(42  cm),  und  4a  weil  aus  zweifelfreiem  Gesamtfunde. 

1.  Doppelaxt  von  Gatersleben  Yg.  2.  Größte  hochgewölbte 
Axt  Sammlung  Seh r iid er-Hainichen  %.  zugleich  die  kleinste 
Axt  von  Gatersleben  in  y2  natürlicher  Größe.  3.  Hochgewölbter 
Meißel  von  Gatersleben  VB;  in  Vs  Größe,  z.B.  S.  Franke- 
Rohrsheim.  4.  Flachgewölbter  Meißel  S.  Franke  %.  4a  Faust- 
messer von  Wolmirstedt  1/a.  5.  Flachgewölbte  Harke  von 
Gatersleben  i/o. 

beschädigt.  Es  ist  öfter  noch  zu  bemerken, 
daß  sie  aus  dem  Gesteiu  herausgesägt  sind  eben 
in   der  gewollten  Länge. 

Die  Doppelaxt  (Fig.  1)  schließt  sich  eng  an, 
ist  aber  hackenförmig  geschattet,  das  Bohrloch 
gi  lit  durch  die  Mitte  der  gewölbten  und  der 
flachen  Seite;  von  da  an  senkt  sich  die  ge- 
wölbte Seite  ganz  allmählich  zur  Schneide.  Auch 
bei  gleicher  Größe  wie  die  Axt  —  32  cm  und 
darüber  —  ist  sie  niedriger  und  schmaler;  die 
Wand    isl    daher    schwach    und    die    Schneiden 


sind  dünn  ausgezogen.  An  ernstlichen  Gebrauch 
ist  nicht  zu  denken,  sie  muß  wohl  ein  'Sinnbild 
gewesen  sein  wie  bei  anderen  Völkern. 

Auch  eine  der  Doppelaxt  entsprechende 
ETanimeraxt  ist  gefunden,  aber  ganz  selten;  ein- 
zelne wurden  nur  geformt,  weil  eine  Schneide 
abgebrochen  war. 

Neben  den  hochgewölbten  Formen  waren 
auch  flachgewölbte  Meißel  in  Gebrauch,  die 
ebenfalls  eine  Länge  von  32  cm  erreichten 
(Fig.  4) ,  vielleicht  auf  das  Nachschleifen  be- 
rechnet. Die  übliche  Größe  ist  rund  15  cm  bei 
einer  Breite  von  6,5  cm  an  der  Schneide;  sie 
sind  ebenfalls  schön  geformt  und  geglättet. 
Viel  zahlreicher  sind  die  kleinen,  die  den  Schabern 
aus  Feuerstein  entsprechen.  An  einer  Fund- 
stelle, der  Gatersleber  Warte  zwischen  Halber- 
stadt und  Ascherslebeu,  sind  über  70  gefunden, 
fast  der  fünfte  Teil  aller  Fundstücke,  zusammen 
mit  den  nicht  gewölbten  Schabern  beinahe  die 
Hälfte. 

Einige  solcher  Breitmeißel  sind  durchlocht 
und  also  zu  Hacken  geformt  (Fig.  5).  So  konnten 
sie  gut  zur  Garteuarbeit  dienen,  aber  für  so 
allgemeinen  Gebrauch  sind  sie  viel  zu  selten: 
es  wird  der  hölzerne  Grabstock  angewendet  sein. 

Um  lange  Schnitte,  z.  B.  in  Leder  und  Stoff, 
zu  führen,  war,  wie  die  Gräber  am  Hinkelstein 
zeigten,  ein  Werkzeug  mit  gerader,  nicht  ge- 
wölbter Schneide  im  Gehrauch  (Fig.  4a);  doch 
auch  mit  spitzem  Nacken  und  gerundeter 
Schneide  wie  die  Jadeitbeile.  Bei  Wolmirstedt, 
Bezirk  Magdeburg,  war  es  zweimal  mit  je  zwei 
hochgewölbten  Meißeln  und  einer  Axt  in  der 
Erde  geborgen.  Mit  abgerundeten  Kanten  paßt 
diese  Form  vortrefflich  in  die  Faust  und  be- 
durfte keiner  Schaffung ;  sie  scheint  aber  auch 
allein  von  allen  Werkzeugen  dieser  Kultur  ge- 
eignet, in  Holzkeule  eingefügt,  als  Waffe  zu 
dienen  —  wie  Schumacher,  Fig.  11  — ,  doch 
ist  sie  nicht  zahlreich. 

Die  vielen  Waffen  und  Werkzeuge  der  nörd- 
lichen Völkerschaft  aus  kunstvoll  bearbeitetem 
Feuerstein  sind  längst  als  ihr  eigentümlich  er- 
kannt, auch  die  nicht  so  weit  verbreiteten, 
gleichfalls  bewundernswert  geformten  Äxte  und. 
Hammeräxte.  Aber  südlich  von  Magdeburg 
nach  Thüringen  hin  werden  nur  eben  noch  so 
viel  Dolche  und  Speerspitzen,  Doppeläxte, 
Hämmer  und  Beile  gefunden,  um  die  Herkunft 
der  Eiuwranderer  zu  bezeugen.  Die  ausgezeichnet 
gearbeitete  Hammeraxt  (Fig.  7)  ist  hier  wie  in 
Jütland  in  Einzelgräbern  gefunden,  in  Kloster 
Groningen  auch  wie  dort  mit  schön  geschliffenem 
Feuersteinbeil  und  Fenersteinspan,  der  in  diesem 


77 


Grabe  ganz  außergewöhnlich  groß  war,  21,5  cm 
lang.  Nur  die  großen  Bernsteinscheiben ,  im 
Kopenhagener  Führer  unter  Nr.  30,  fehlen 
bis  jetzt. 

Mitgebracht  ist  auch  die  linsenförmige  Stein- 
scheibe (Fig.  11),  da  ihre  Heimat  durch  die 
große  Riesenstube  auf  Sylt  und  Gräber  in  Jüt- 
land  erwiesen  ist.  Obschon  sie  nicht  hantig  ist, 
scheint  sie  noch  hier  augefertigt  zu  sein,  denn 
einige  schöne  Exemplare  bestehen  aus  schwarzem 
Kieselschiefer,  der  im  Norden  nicht  vorkommen 
soll.  Bisweilen  ist  die  Schneide  ringsum  stark 
abgenutzt  —  z.  B.  in  Rossen  und  dem  Grabe 
auf  Sylt  (Altert,  h.  Vorzeit  5)  — ,  was  mehr 
auf  den  Gebrauch  als  Werkzeug  denn  als  Waffe 
deutet. 

In  dem  neuen  Gebiet  vereinfachten  die 
„Urgermanen"  die  Gefäße  zum  Bernburger  Stil, 
die  kleinen  Beile  wurden  ans  Wiedaer  Schiefer, 
der  im  Harz  ansteht,  gefertigt,  die  mittleren 
(Fig.  10)  behielten  die  Form  des  Rechtecks, 
wurden  indes  in  anderem  Gestein  stärker  ge- 
macht. Die  großen  Äxte  bekamen  eine  ganz 
andere  Gestalt;  sie  siud  lang  uud  schlank,  zu- 
weilen gleich  hoch  und  breit  (Fig.  8).  Wenn 
die  Kanten,  was  oft  der  Fall  ist,  abgerundet 
sind,  sehen  sie  den  hochgewölbten  Äxten  so 
ähnlich,  daß  au  eine  Beeinflussung  zu  denken 
ist.  Sie  sind  noch  länger  und  schwerer;  die 
oben  erwähnte  Länge  von  42  cm  ist  hier  öfter 
gemessen,  bei  Wolmirstedt  wurden  unter  einem 
großen  Stein  drei  Stück  von  45,  37  und  34  cm 
gefunden  und  bei  Burgscheidungen  sogar  die 
riesige  Größe  von  49  cm,  die  auch  die  größesten 
nordischen  Fenersteinbeile  noch  überbietet. 

Diese  walzenförmige  Axt  ist  nicht  so 
vollkommen  und  nicht  so  genau  nach  gleichem 
Muster  gearbeitet  wie  die  hochgewölbte;  ver- 
tiefte Stelleu  siud  geblieben,  die  Stellung  des 
Schaftloches  schwankt,  das  Bahnende  ist  gerade 
abgeschnitten  oder  gerundet,  auch  schräg  wie 
bei  der  folgenden  Form,  doch  wird  ihre  Eigen- 
art dadurch  nicht  verwischt.  Nachschleifen  ver- 
kürzte und  veränderte  insofern,  als  dann  die 
Schneide  nicht  mehr  so  allmählich  erreicht  wird, 
sondern  scharf  keilförmig  ist. 

Eine  Axtform  von  größerer  Breite,  die  rund 
1  3  der  Länge  beträgt,  fällt  dadurch  auf,  daß 
die  Breitseiten  nur  flüchtig  geglättet  sind,  ebenso 
das  Bahnende  und  dieses  ist  —  das  kennzeichnet 
die  Form  — immer  schräg.  Voß  und  Stimming 
beschrieben  sie  schon  von  Brandenburg  und 
bemerkten ,  daß  sie  nach  Süden  verbreitet  sei. 
Gleichwohl  kann  sie  nicht  den  südlicheren  Völker- 
schaften zugeschrieben  werden ,  sie  weicht  zu 
weit    von    der    symmetrischen    Gestaltung    und 


sorgfältigen  Bearbeitung  in  dieser  Kultur  ab. 
Es  ist  zunächst  eine  natürliche  Form,  veranlaßt 
durch  Geschiebestücke  schieferiger  Gesteine, 
denen  nur  eine  Schneide  uuzuschleifen  und  ein 
Loch  zu  bohren  war;  aber  im  Gebiet  der  Bern- 
burger  Gefäße  erreicht  diese  Axt  eine  Länge 
von  34cm  bei  7cm  Stärke,  ist  auch  öfter  all- 
seitig gut  geschliffen,  so  daß  sie  ein  schief- 
seitiges  Dreieck  darstellt.  Es  siud  sehr  wuch- 
tige Keile,  die  wohl  Baumstämme  spalten  konnten. 


Waffen   und   Werkzeuge  der  nördlichen  Völkerschaft 

mit  Bernburger  Gefäßen. 
6."  Doppelaxt  von  Gatersleben  V8.  7.  Hammeraxt  von 
Kloster  Groningen  S.  Klamroth  und  Rhoden  am  Fallstein  V8. 
8.  Walzenförmige  Axt  S.  Klamroth  1/g ,  gleich  groß  von 
Gatersleben.  9.  Schiefdreieckige  Axt  S.  Ahlf  eld-Groß- 
Quenstedt  Yg.  10.  Rechteckiges  Beil  vom  Bocksberg  bei 
Derenburg  Y8.  11.  Linsenförmige  Scheibe  von  Nienhagen  Y8. 
12.  Dolch  von  Rhoden  '/8,  auch  S.  Franke.  13.  Messer  von 
Crottorf  V8 .  auch  Groningen,  Bocksberg,  S. Ahlfeld, 
S.  Franke. 

Bei  dem  schrägen  Bahnende  wirkte  der  Schlag 
des  Holzschlegels  auf  eine  Kaute,  nicht  auf 
die  Mitte,  die  durch  das  große  Schaftloch  ge- 
schwächt ist. 

Ganz  neu  scheint  hier  dem  Besitzstande  ein 
spitzes  Steiumesser  eingefügt  zu  sein,  wohl  als 
Ersatz  desFeuersteindolches.  Nur  wenige  Stücke 
von  mäßiger  Größe  sind  noch  gut  erhalten, 
aber  in  den  Siedelungen  auf  dem  Gertling  bei 
Groß-Queustedt  und  dem  Bocksberge  bei  Deren- 
burg   haben    sorgfältige    Sammler    Bruchstücke 


78 


in  größerer  Zahl  aufgehoben,  deren  Rücken  bis 
zu  1  cm  stark  ist,  so  daß  sie  den  schweren 
Eisenmessern  späterer  Zeiten  gleichkommen. 
Außerdem  gehören  dem  nördlichen  Gebiete  kurze 
gewichtige  Axthämmer  an,  so  hoch  und  noch 
höher  wie  breit,  gleich  geeignet  zu  Hieb  und 
Wurf.  Das  „Faustmesser",  wie  sich  vielleicht 
bezeichnender  als  „Keil"  sagen  läßt  (Fig.  4a), 
ist  wohl  von  beiden  Völkerschaften  gebraucht, 
im  nördlichen  Kreise  nur  etwas  kräftiger  ge- 
formt, ebenso  die  flachen  Schaber,  die  vier- 
kantigen Meißel  und  Feuersteinspäne.  Nur  zu 
diesen  und  vielleicht  auch  kleinen  Keilen  reichte 
der  einheimische  Feuerstein. 

Der  Besitz  der  Urgermanen  war  also  reich- 
haltiger namentlich  an  Waffen,  die  im  Nachlaß 
der  südlichen  Völkerschaft  geradezu  fehlen.  Die 
Lust  am  Betätigen  der  Kraft,  die  sich  im  Auf- 
bau von  Gräbern  ans  Felsblöcken  von  mehreren 
hundert  Zentnern  ausspricht,  erweist  sich  auch 
in  der  Wucht  der  Werkzeuge  und  Waffen. 


Zu  diesen  beiden  Kulturen  gesellt  sieh  be- 
sonders oft  in  Thüringen  noch  der  kunstvoll 
geschliffene  vielkantige  Hammer,  der  mit  dem 
kleiuen  Feuersteinbeil  die  Amphoren  begleitet. 
Andere  Waffen  und  Werkzeuge  dieses  Volks- 
stammes sind  noch  nicht  nachgewiesen,  auch 
größere  Siedelungen  ergaben  davon  nichts 
(Schlesiens  Vorzeit  1916),  außer  dem  dortigen 
Serpentinhammer.  Doch  könnte  Grössler  ans 
Amphorengräbern  bei  Burgscheidungen  vier 
Steinbeile  bekannt  machen,  die  eigenartig  genug 
siud,  mn  sie  dieser  Kultur  als  eigentümlich  zu- 
zuerkennen. Vierkantig  geschliffen  sehwellen 
sie  auffallend  stark  von  beiden  Enden  zur  Mitte 
an,  bei  einer  Länge  von  14  cm  und  halb  so 
breiter  Schneide  in  der  Mitte  3,5  cm  dick,  am 
Bahnende  aber  nur  1,5  cm,  so  daß  die  Seitenflächen 
dem  Durchschnitt  einer  Linse  nahekommen. 


Es  bleibt  bemerkenswert,  daß  bei  diesem 
Volksstamm,  dessen  Amphoren  und  Becher  meist 
geschmackvoll  geformt  und  verziert  sind,  dessen 
vielkantiger  Hammer  ein  Meisterwerk  ist,  wieder- 
holt ungemein  dickwandige  Schädel  mit  sehr 
starken  Augenbrauenwülsten  und  fliehender 
Stirn  beobachtet  sind.  In  den  Mitteilungen  aus 
dem  Prov.- Museum  Halle  1894,  S.  18  und  20, 
beschrieb  Direktor  Schmidt  zwei  solche  Schädel 
aus  Hügelgräbern  bei  Querfurt  und  v.  Wein- 
zierl  in  den  Mitteilungen  der  Anthropologischen 
Gesellschaft  in  Wien  1894  aus  einem  Grabe 
mit  Amphora  und  Becher  bei  Lobositz  einen 
Schädel,  der  dem  vom  Neandertal  sehr  nahe 
kommt.  Hierher  kann  auch  das  „Urvolkgrab" 
in  Mecklenburg  mit  gleichem  Schädel  gehören 
(Beltz,  S.  108),  da  Kugelamphoren  dort  nicht 
fehlen.  In  den  meisten  beschriebenen  Gräbern 
waren  die  Gebeine  bereits  aufgelöst;  so  ist 
nicht  zu  beurteilen,  wie  häufig  diese  anffalleude 
Schädelform  war. 

Die  Mischung  des  Nachlasses  zeigt  sich  recht 
deutlich  an  der  hier  schon  oft  genannten  Warte 
hei  Gatersleben.  Dort  wurden  von  Pastor 
Theune  durch  26  Jahre  für  mich  gesammelt 
aus  der  südlicheren  Kultur:  3  Doppeläxte  und 
eine  kleine  Hammeraxt ,  7  hochgewölbte  Äxte, 
67  hochgewölbte  Meißel,  darunter  12  von  der 
zierlichen  Zwergform,  14  Breitmeißel  (Fig.  4), 
73  flachgewölbte  Schaber,  2  Hacken  (Fig.  5); 
von  der  nördlichen  Kultur:  5  walzenförmige 
Äxte,  7  mit  schräger  Bahn,  12  rechteckige 
Beile  (Fig.  10),  3  kleine  spitzovale  Hammeräxte 
und  6  Hammerbeile  zum  Anbinden.  Wohl  beiden 
gemeinsam:  11  Faustmesser  (Fig.  4a),  104  flache 
Schaber,  12  vierkantige  Meißel;  dann  noch 
4  vielkantige  Hämmer.  Auf  dem  Tie  bei 
Gatersleben  sind  neben  Gefäßen  und  Werk- 
zeugen der  südlicheren  Kultur  2  Amphoren, 
1  Becher  und  Feuersteinbeile  gefunden. 


Reklamationen  und  sonstige  Mitteilungen 
sind  an  die  Adresse  des  Herrn  Professor  Dr.  K.  Hagen,  Hamburg  13,  Binderstraße  14,  zu  senden. 


Ausgegeben  am   In.  Januar  1917 


- 


GN  Deutsche  Gesellschaft  für 

2  Anthropologie,   Ethnologie  und 

D485  Urgeschichte 
Jg. 4.6-  Korrespondenz-Blatt 

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