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Full text of "Kosmos"

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Kosmos, 


Zeilſchriſſ 
für 


einheitliche Wleltanfehauung auf Grund der Entwicklungslehre 


in Verbindung 


— — 


mit 85 3 
Charles Darwin und Ernst Häckel 


| | ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Dare 
herausgegeben 
| Dr. Olla Caspari prof. 


(Heidelberg) 


Dr. Eruſt Krauſe 


(Carus Sterne) 
(Berlin). 


J. Hahrgang, 1877. 


Leipzig, 
* Ernſt Günther's Verlag 
(Karl Alberts.) 


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Die „ im Bunde mit er Ratunforehing, von Otto N f 


Darwins Werk: „Ueber die Wirkungen der Kreuzungen 0 Sept | im 


i Pflanzenreich“ z. von Dr. Heri Mülll e 
Kleinere Mittheilungen Ä - N 5 = 5 
Zur kritieiſtiſchen a affaſſong S. 68 — Die Steppe 55 Uesergangegtien . in 

der Erdgeſchichte (S. 74). — Größeſchwankungen nordamerikaniſcher Sänger, mit 
den Breitegraden (S. 77). — Märtyrer der Darwin' ſchen ae (S. 780. 
Schutzmittel der Blüthen gegen unberufene Gäſte (S. 80). 


| Vrofpekt. 5 


1 . 


ür die Naturkunde, welche, gegenüber den ſogenannten humanitären 
Wiſſenſchaften, noch bis vor Kurzem nur ein geduldetes Daſein, ein 
Ne der großen Menge faſt verborgenes Leben geführt hat, brach mit dem 
reformatoriſchen Auftreten der Schule, die ſich unter dem Banner 
Darwin's ſchaart, ein neuer Tag an, ſofern erſt jetzt jene harmoniſche Gliederung 
der Theile des Kosmos, welche Humboldt und ſo viele Denker vergangener 
Zeiten geahnt und bewundert haben, ihrem urſächlichen Zuſammenhange nach 
verſtändlich wurde. Unerſchütterlich hat ſich ſeitdem die Ueberzeugung befeſtigt, daß 
man auch in der Natur das Seiende nur als ein Gewordenes auffaſſen dürfe, um 
* zu einer einheitlichen, widerſpruchsloſen Weltanſchauung zu gelangen. 
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. ER zu ſtehen ſchien, ne oh ſeiner Sr 1 ner: zu werden, als 0 * 
. Theil des Ganzen, mitten in die Natur hineinverſetzt und feiner Aus- 
7 f nahmeſtellung enthoben wurde. Damit zog die neue einheitliche Weltanſchauung ſogleich 


2 auch alle jene humanitären Wiſſenſchaften in ihre Kreiſe, und es begann eine nie erhörte 
85 IB Wechſelwirkung zwiſchen den ſubjectiven und objectiven Wiſſenſchaften; denn das 
Vorrecht der ſubjectiven, willkürlichen Weltbetrachtung wird zwar nicht aufgehoben, 

aber nothwendig eingeſchränkt, ſobald ſich der Menſch als Theil der Natur erkennt is 
1 und fühlt. Die Wiſſenſchaften, welche ſich mit dem Menſchen beſchäftigen, von der "un 

. Anthropologie, Ethnologie und Völker-Pſychologie an, bis zur Sprach— 

Beil: forſchung, Cultur— und Staaten-Geſchichte, National-Oekonomie, 

Rechts-, Geſchichts- und Religions-Philoſophie, Moral und Diätetik 

eentpuppten ſich ſo gut als Naturwiſſenſchaften, wie die Disciplinen, die ſich mit 4 


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: 


2 Proſpekt. 


der Erdgeſchichte, Mineralogie, Biologie und mit der praktiſchen Men— 
ſchen-Erziehung, Pflanzen- und Thier-Züchtung befaſſen. 
Das Ergebniß dieſer allſeitigen Begegnung iſt eine fortgeſetzte, ermuthigende 


Feſtigung des in den Abſtammungs- und Entwicklungslehren gegebenen Einheits⸗ 


prinzips geweſen, aber die Literatur, welche dieſes Contakt-Verhältniß erzeugte, iſt 
nicht nur in ihrem ſelbſtſtändigen Theile kaum mehr überſehbar, ſondern ſie 
zerſplittert ſich auch in die zahlloſen Fachblätter aller in Mitgenuß gezogenen 
Wiſſenſchaften, ja ſelbſt in die Tageszeitungen hinein. So erhebt ſich immer 
mächtiger bei allen, welche dieſe Zielgemeinſamkeit für ein befruchtendes und weſent⸗ 
liches Moment der fortſchreitenden geiſtigen Entwicklung halten, das Bedürfniß 
nach Sammlung und Concentration. 

Dieſem offenbaren Bedürfniſſe kann nur eine Zeitſchrift dienen, welche in 
einer allen Intereſſenten verſtändlichen Form das Zerſtreute ſammelt, und auf 
demſelben Gebiete, auf welchem das Bündniß der Wiſſenſchaften zu Stande kam, 
zugleich ein Forum für den Verkehr und Austauſch derſelben eröffnet, zum 
Zwecke einer gegenſeitigen Unterſtützung und Förderung. Allen dieſen Bedürfniſſen 
will unſere Zeitſchrift Rechnung tragen und zwar theils durch Original-Arbeiten, 
theils durch Referate aus ſämmtlichen einſchlägigen Gebieten, und dabei die 
Aufgabe im Auge behalten, bisher noch Unverbundenes mit einander in Berührung 
zu bringen, die überall noch vorhandenen Lücken aufzudecken, nicht zu vertuſchen, 
ſondern zu ihrer Ausfüllung anzuſpornen, Mittel und Wege dazu anzuzeigen, 
Widerſprüche und Gegenſätze auf ihre wahre Natur zurückzuführen und dem hem— 
menden, verwirrenden und entwicklungsſchädlichen Dogmatismus überall ſoweit 
entgegenzutreten, als mit dem Recht des Einzelnen auf eine freie Ueberzeugung 
vereinbar iſt. 

Daß dieſe Aufgabe, welche nichts Anderes iſt, als die Ermittlung der 


Wahrheit, ohne Reibung der Geiſter nicht zu erfüllen iſt, wird Niemandem 


zweifelhaft erſcheinen. Schroffer als jemals ſtehen die beiden Lager ſich gegenüber, 
von denen das eine ſtarr feſthält an den Ueberlieferungen der Vorzeit, wie ſie in 
geheiligten Schriften der Völker, in uralten Sagen aus der Kindheitsperiode der 
Menſchheit niedergelegt wurden. Mit den Anhängern dieſer in ſchriftloſen Zeiten 
fußenden Weltanſchauungen werden wir nur ſoweit zu rechnen haben, als ſie der 
Forſchung Schranken ziehen wollen, ihre Mythen ſelbſt können wir na- 
türlich nur im Sinne der Entwicklungslehre würdigen. Weniger werden wir den 
Kampf ſcheuen dürfen auf dem inneren Gebiete der Naturwiſſenſchaft, und in dieſer 
Beziehung wird die Zeitſchrift einen kritiſchen und polemiſchen Charakter 


nach innen wie nach außen entfalten, denn auch die geiſtigen Errungenſchaften 


beſitzt nur, wer ſie vertheidigen kann, und auch die Wiſſenſchaft entwickelt ſich am 
ſchnellſten im ſelbſtbewußten Kampfe ums Daſein. Aber ſo viel als es möglich 


—— 
2 


Proſpekt. 3 


iſt, werden wir es vermeiden, den Boden des Sachlichen zu verlaſſen und überall 
mehr aufbauend als niederreißend zu wirken ſuchen. 

Mit dieſer Zeitſchrift wenden wir uns jedoch nicht blos an die gelehrte Welt. 
Der Darwinismus hat nicht nur einen Bund aller Wiſſenſchaften, ſondern auch 
einen in dieſer Ausdehnung vorher noch nie dageweſenen Verkehr zwiſchen den 
ſchaffenden Fachgelehrten und dem Aufklärung erwartenden gebildeten Publikum zu 
Wege gebracht. Die Aufgabe, dieſen Bund zu hegen und zu pflegen, wird die 
Zeitſchrift dadurch zu erfüllen ſuchen, daß ſie alle Fragen in allgemein verſtänd— 
licher Sprache behandelt, um zugleich durch faßliche Darſtellung das Intereſſe des 
Laien zu feſſeln. Ihre Mitwirkung in den näher bezeichneten Richtungen haben 
uns bisher zugeſagt: 

Dr. F. Brüggemann (London), Dr. B. Carneri (Wildhaus), Prof. Dr. Th. 
Eimer (Tübingen), Dr. W. O. Focke (Bremen), Prof. Dr. S. Günther (Ansbach), 
Friedrich v. Hellwald (Cannſtatt), J. H. v. Kirchmann (Berlin), Dr. Arn. Lang 
(Bern), Prof. Dr. Fr. Müller (Wien), Dr. Fritz Müller (Rio Janeiro), Dr. Herm. 
Müller (Lippſtadt), Prof. Dr. Ludw. Noire (Mainz), Dr. Ludw. Overzier (Köln), 
Prof. Dr. L. Pfaundler (Innsbruck), Dr. Carl du Prel (Straßburg), Prof. Dr. 
W. Preyer (Jena), Prof. Dr. Osec. Schmidt (Straßburg), Prof. Dr. Fritz Schultze 


(Dresden), Dr. Martin Schultze (Küſtrin), Prof. Dr. Franz Eilhard Schulze 


(Graz), Dr. G. Seidlitz (Dorpat), Prof. Dr. Ed. Strasburger (Jena), Dr. H. 


Vaihinger (Straßburg), Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. David Wein⸗ 


land, (Eßlingen), Prof. Dr. Paul v. Zech (Stuttgart), u. A. 
Im Vertrauen auf die Unterſtützung ſo hervorragender Fachmänner haben 
ſich die Vorgenannten zur Uebernahme der Redactionsgeſchäfte entſchloſſen. Die: 
ſelben wenden ſich nun an Alle, die für den geiſtigen Fortſchritt der e 
heit eintreten, mit der Aufforderung, ſich, ſei es als Leſer und Heede f 
es als Mitarbeiter, unſeren Beſtrebungen anzuſchließen. 


Die Philofophie im Bunde mit der Naturforschung. 


Von 


8 iſt wohl eines der erfreulichſten 
= Erzeugniſſe der gegenwärtigen 
Bewegungen der heutigen wiſſen— 
ſchaftlichen Epoche, daß die Philo— 
1 % von neuem ſich der Naturforſchung 
nähern konnte, und die Forſcher, welche 
ihre Blicke den Erſcheinungen des Ma⸗ 
krokosmus und Mikrokosmus zugewandt 
haben, das dringende Bedürfniß fühlen, 
ihre Studien nicht mehr zu unternehmen 
ohne alle Rückſicht auf diejenige Wiſſenſchaft, 
die ſich zum Ziele geſetzt hat, die Grund— 
principien alles Wiſſens und die funda— 
mentalen Hülfsmittel alles Denkens und 
Forſchens überhaupt zu prüfen und zu 
unterſuchen. Im Hinblick auf dieſe neue 
Wiedervereinigung von Philoſophie und 
Naturforſchung iſt es indeſſen von hoher 
Wichtigkeit, genauer zuzuſehen: von welcher 
Art das geſchloſſene Bündniß ſein muß und 
vor welchen Fehlern gewarnt werden muß, 
wenn nicht ein neuer Bruch ſtattfinden 
ſoll, der alsdann beide zu einander gehörige 
Wiſſenſchaften ohne allen Zweifel neuen 
Abwegen entgegenführen würde. — 

Es iſt leicht zu überſehen, daß jeder 
Naturforſcher, der es verſucht, aus einem 
größeren Umfange von mühſam conſtatirten 


Otto Caspari. 


Thatſachen ein erklärendes Facit zu ziehen, 
ſich unwillkürlich genöthigt findet, Anlehne— 
punkte zu ſuchen in irgend einer allgemei- 
neren Weltanſchauung, die uns aufgenöthigt 
wird durch unſere innere menſchliche Geiſtes— 
organiſation. Die Philosophen find feit 
Jahrtauſenden bemüht, auf Grund der— 
ſelben, d. h. logiſch und erkenntnißtheoretiſch, 
die Grundzüge zu entwickeln, die ſich dem 
menſchlichen Denken aufdrängen, wenn es 
bemüht iſt, das Gemälde des Kosmos 
möglichſt klar und unbeeinträchtigt durch 
Fehler in der richtigen Licht- und Schatten⸗ 
vertheilung, d. h. möglichſt rein von allen 
Widerſprüchen vor ſich aufzurollen. In 
dieſem Sinne gleichen die Philoſophen dem 
Künſtler, der ſich getrieben fühlt, ſeine 
inneren Anſchauungen ſo zu geſtalten, daß 
ſie deutlich den Eindruck des Vollendeten 
hervorrufen. Allein nicht allen Künſtlern 
und nicht allen Zeiten war es gegeben, 
hierin das Richtige zu treffen, und wie es 
vielfach wechſelnde Kunſtſchulen gab, die ſich 
in ihren Ausführungen in geſchmackloſer 
Weiſe bald dieſem, bald jenem Style über- 
ließen, ſo auch bei den Philoſophen; ſie 


wurden oft genug völlig irre geleitet und 
conſtruirten trotz aller vermeintlichen Kitd- 


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Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit de 


ſichtnahme auf Logik und Erkenntnißlehre 
alsdann falſche Syſteme, und nicht ſelten 
war es ſogar der Fall, daß gerade das 
unrichtigſte dieſer Syſteme ſich eine 
gewiſſe Herrſchaft unter den Zeitgenoſſen 
eroberte. 
entziehen, gelingt unter den Mitforſchern 
oft nur den weit über die Zeit Hinaus— 
blickenden. 
Herrſchaft, eines beſtimmten philoſophiſchen 
Syſtems mit ſeinen einſeitigen Dogmen hat 
beinahe zu allen Zeiten die Specialforſchung 
aller Zweige, ſomit auch die Naturforſchung 
weſentlich gelitten. Es verhält ſich hiermit 
im Kleinen kaum anders wie mit der Kirche 
im Großen. Wie dieſe auf alle Wifjens- 
zweige mit der Summe ihrer metaphyſiſchen 
Dogmen eine oft ſchwer überwindliche Herr— 
ſchaft ausübt, der ſich nur freimüthige und 
unbefangene Geiſter zu entziehen willen, 
jo auch mit der Philoſophie; herr— 
ſchende Syſteme, die den Zeitgeiſt charak— 
teriſiren, üben bewußt oder unbewußt ihre 
Macht nach allen Seiten hin aus und die— 
ſelbe äußert ſich jedesmal auch in der 
allerprägnanteſten Weiſe im Gebiete der 
Naturforſchung. — Will der Spezialforſcher 
irgend eines Wiſſenszweiges, ſomit auch der 
Naturforſcher, aus einem Umfange von ex— 
perimentell gewonnenen Thatſachen ſichere 
Schlüſſe ziehen, um ſich hiermit in das 
Gebiet der Naturphiloſophie zu er— 
heben, ſo iſt es vor allem daher wichtig, 


daß er nicht einer durch den Zeitgeiſt 
ſachen im Gebiete der Mechanik entwickelt 
haben. 


eingegebenen Sympathie nach irgend einer 
Richtung hin, welche augenblicklich die herr— 


ſchende iſt, Folge giebt, ſondern er iſt ver— 
pflichtet, ſich möglichſt ſelbſtſtändig und durch 


vorbereitende Studien geleitet, dem Kampf 
der philoſophiſchen Partheien gegenüber zu 
ſtellen. 


Einer ſolchen Herrſchaft fih zu | 


Unter dem Druck einer ſolchen 


ſich hieran 


Studium ſeiner Fachwiſſenſchaft dem Special— 
forſcher, insbeſondere dem Naturforſcher, die 
Hand bieten will, ſieht ſich hiermit der 
Verpflichtung unterzogen, ihn über die gegen- 
wärtige Situation feiner Wiſſenſchaft auf- 
zuklären, um zugleich die Intereſſen zu be 
rückſichtigen, an welche eben jener Forſcher 
durch das Weſen ſeines Fachs gebunden iſt. 
Sehen wir zunächſt zu, um dem Natur⸗ 
forſcher hinſichtlich einer ſolchen Aufklärung 
entgegen zu kommen: an welche Intereſſen 
ihn die Grundverhältniſſe feines Special⸗ 
ſtudiums zunächſt binden, und wovon 
er nicht ablaſſen darf, will er 
nicht in ſein eigenes Fleiſch ſchneiden. 
Alle Naturforſchung richtet ſich bei dem 
Sammeln einer Reihe von Thatſachen auf 
die Erforſchung urſächlicher Kräfte, wie 
ſie die unumſtößlichen empiriſchen Daten an 
die Hand geben. So iſt es denn von vorn— 
herein ein beſtimmter Kreis von That- 
ſachen, die ihn nöthigen, eine logiſch— 
empiriſche Auffaſſung über das Daſein 
der Kräfte zu entwickeln, die er beim Weiter- 
forſchen in Einklang mit einer philoſophiſchen 
Geſammtanſchauung zu bringen hat. Die 
Unterſuchung aller empiriſchen Forſcher iſt 
gebunden und hingewieſen auf das Studium 
des Spiels der Kräfte, d. h. auf die Ein- 
ſicht in das Grundverhältuiß von 
Kraft und Widerſtand, ſomit auf die 
anſchließenden mathematiſchen 
Grundprincipien, wie ſie ſich mit der Zeit 
empiriſch an der Hand unumſtößlicher That— | 


Es ift ein grobes Vorurtheil, das ſich | 
bei Philoſophen aus der älteren Schule, | 
namentlich auch bei Theologen, die in | 
ſcholaſtiſchen Anſichten ſich philojophiih ger 
bildet haben, ſehr häufig vorfindet, nämlich | 


Der Philoſoph aber, der neben dem | die Anſicht: daß die empiriſchen Geſetze ö 


r Naturforſchung. 5 


6 Caspari, Die Philoſophie im 


und Principien der Mechanik nothwendig 
hinleiten müßten zu jener Weltanſchauung, 
die man den Materialismus nennt. Nach 
dieſer allerdings in ſich unklaren Anſchauung 
wird das Weltall zu einer todten, völlig 
geiftlofen Maſchine gemacht, ja mehr als 
das, dieſe heute glücklicherweiſe überwundene 
kindliche Betrachtung macht im Grunde 
den Kosmos zu einem todten Klotz, 
den die Kräfte, welche nicht das Weſen 
der Materie, ſondern nur die Prädicate 
derſelben ſind, vor ſich herwälzen, wie der 
deus ex machina feine Welt. — Alle 
Extreme berühren ſich, und in der That 
iſt es dem geübten Denker unſchwierig den 
Nachweis zu führen, daß der ſog. Materia- 
lismus in den Myſticismus verfällt. Der 
myſtiſche Spiritualismus kann, wie wir 
im Folgenden noch ſehen werden, die natür— 
liche Mechanik der Welt, d. h. die wechſel— 
ſeitige und thatſächliche Reibung ihrer 
Factoren und Kräfte und die ſich 
daran knüpfende Erſcheinung der Form von 
Körperlichkeit und Maſſe, mit einem Worte 
das Daſein und die Thatſache der Materie 
nicht begreifen und erklären. Dem 
Materialismus ergeht es umgekehrt, er 
nimmt die Stoffe und Körper, findet ihr 
Weſen aber nicht in den mechaniſch wirken— 
den Kräften, die, indem ſie ſich reiben und 
berühren, ſich gegeneinander verkörpern, 
ſondern im ſog. Stoff ſelbſt, der, wenn 
man alle Kräfte abſcheidet, im Grunde 
doch nicht eine Subſtanz und ein Körper 
an ſich, ſondern nur ein Nichts wäre. 
So auch machen es die Myſtiker: Dieſe 
wiſſen recht wohl, daß der liebe Herrgott 
nichts iſt ohne die Welt und den Kosmos, 
— aber ſie verſuchen ſich, um das Ueber— 
weſen und die Allmacht Gottes zu retten, 
doch für einen kleinen Augenblick, Gott an 
ſich, abſolut, d. h. ohne den Kosmos zu 


Bunde mit der Naturforſchung. 


denken. In denſelben Fehler nun ver— 
fallen die Materialiſten. Auch dieſe wiſſen 
recht wohl aus Erfahrung, daß der Stoff 
nichts iſt ohne die Summe der Kräfte, 
in welche ſich derſelbe auflöſt, aber um 
das fälſchlich behauptete abſolute Weſen 
deſſen zu retten, was fie unter Stoff ver— 
ſtehen, verſuchen ſie dennoch für einen kleinen, 
dem unklaren Myſticismus hingegebenen 
Augenblick, den Stoff als das an ſich 
(folglich auch ohne Kräfte) Beſt eh ende 
und unzerſtörliche Abſolute hinzuſtellen. 
Damit meinen ſie, das Weſen des Stoffes 
erſt klar zu erfaſſen, während doch unſchwer 
zu erkennen iſt, daß durch den myſtiſchen 
Eingriff eben dieſer Vorſtellungsweiſe die 
ſtoffliche Unzerſtörlichkeit (ohne die voraus— 
geſetzten Kräfte) zu einem Phantom zerrinnt. 
Beſeitigen wir dieſen Phantasmus und 
ſtellen wir die Stoffe niemals geſondert 
und ohne Kräfte vor, ſo zeigt ſich alsdann 
ſehr bald, daß vielmehr die Kräfte das 
Dauernde und Bleibende, ſomit das 


Weſen der Dinge ſind, während die ſog. 


Stoffe als Maſſe, Ausdehnung, Wägbarkeit 
und Körperlichkeit unter Umſtänden bedeutend 
wechſeln können, um ſich zu verflüchtigen 
und zu reduziren, bis zum Unwägbaren und 
ſtofflich Minimalen. 

Zur Erklärung ſchwierig aufzulöſender 
phyſikaliſcher Phänomene haben mathematiſch 
ſcharfſinnige Phyſiker ſich dieſer Stoff— 
Minimalität gegenüber ſogar nicht geſcheut, 
eine Art tiefer Durchdringung und Ver— 
ſchmelzbarkeit der Krafttheilchen untereinander 
anzunehmen, welche dem an der abſoluten 
Stofflichkeit der Atome und Theilchen feſt— 
haltenden Beobachter unmöglich erſcheinen 
müßte, da er ſich gewöhnt hat, die Stoff— 
Atome wie kleine, ſtets getrennte, abſolut 
harte und undurchdringliche Billardkugeln 
zu betrachten. Von dieſer letzteren groben 


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Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


Vorſtellung muß daher der tiefer forſchende 
Phyſiker völlig ablaſſen. Bedenken wir 
nun aber weiter, daß alle die uns gegen— 
überſtehenden Körperbilder zunächſt nur 
Eindrücke unſeres Bewußtſeins ſind, 
und daß wir hiermit nur Vorſtellungen 
unſeres menſchlichen Denkens vor uns 
haben, die ſich in den Augen eines Be— 
wohners vom Sirius vielleicht, was die 
Jog. ſtoffartige Körperlichkeit anbelangt, 
ganz anders ausnehmen und ſpiegeln 


ſog. Körperlichkeit (das Stoffliche) nur eine 
ganz relative, wechſelnde Eigenſchaft der 
Dinge ſind, um ſo annehmbarer finden. 
Um das beſſer noch einzuſehen, laſſe man 
eine Hypotheſe gelten. Denken wir uns 


jenen Bewohner des Sirius mit ſolchen 


Sinnen begabt, daß nur Aetheratome und 
deren Wellenbewegungen ſich in ſeinem Be— 
wußtſein ſpiegeln, die Bewegungen ponderabler 


Theilchen hingegen keinen taſtbaren Eindruck 
die ſogenannten Grundverhältniſſe von 
Durchdringlichkeit, Ausdehnung, Wägbarkeit, 
Maſſivität, ſowie von Stofflichkeit ſich auf- 
heben zu einer ap Relativität, 8 
was wir als wägbar und unwägbar, als N ichtspunk 


hervorrufen, ſo muß ſich offenbar für dieſen 
Siriusbewohner die Anſchauung aller 


irdiſchen Dinge derartig ändern, daß 


die Relativität alles desjenigen an den Körpern, 


taſtbar oder unfühlbar, als durchdringlich 


und undurchdringlich, als maſſiv und ſtofflich ie en Mate⸗ ; 
| rioltsmus, elle den ſog. Stoff ats 58 | 


durchſichtig, bezeichnen, ganz von ſelbſt ein- 


leuchtet. Denn eine Gasflamme erſchiene 
einem ſolchen Weſen vielleicht als völlig | 
ſchichte des Materialismus“, die hierüber 


maſſiv, während feine feinfühlenden aether- 
artigen Sinne die undurchdringlichſten Felſen 


wie Luft und Aether durchbohrten. Derartige | 
Vorſtellungen find als Hypotheſen nicht 


überflüſſig, dieſelben gleichen vielmehr den 
Experimenten, durch welche der Phyſiker, 


indem er beſtimmte Gebilde in die ver- 


ſchiedenſten Lagen zu bringen verſucht, nur 
anſtellt, um das Weſen der Dinge richtig 
zu erkennen. Auch in der Philoſophie er— 


heben wir uns durch derartige Hypotheſen 
in ein höheres philoſophiſches Gebiet, und 
treten hiermit derjenigen modernen philo— 
ſophiſchen Lehre näher, welche man ſeit Kant, 
von dem dieſelbe vornehmlich begründet wurde, 
den Kriticismus nennt. Von der Höhe 
dieſer tief eingreifenden Lehre herab aber 
geſtaltet ſich alles, was da iſt und wirkt, zu 
bloßen wechſelnden Phänonemen im Be— 
wußtſein; alle Dinge ſind hiernach im Grunde 


nur Complexe von relativen Spiegelbildern 
würden, ſo werden wir den Satz, daß die 


(Phänomenen), die in ihrer Strahlung von 
andern irgend wie aufgefangen, zugleich als 


ſolche jedesmal um jo mehr modificirt werden, 
als die auffangenden Atome oder die auf— 


faſſenden Weſen ſelbſt mit ihren Kräften rück— 
ſtrahlend ſind. Wie ſehr aber unter dem 
Einfluſſe aller dieſer wechſelſeitigen phänome— 


nalen Spiegelungen der Kräfte, und unter 
der Durchkreuzung von zugeſtrahlten und 
ſich untereinander wieder verändernden Ein— 


drücken, an den Dingen, Atomen und Weſen, 


Anſichſeiendes, denſelben ſomit für abſolut 
hält, unbarmherzig zerriſſen, und ſeine „Ge— 


Auskunft giebt, wird allen denen zu em— 
pfehlen ſein, welche für das ſog. Abſolute, 
nachdem der ſog. liebe Herrgott durch die 
Wiſſenſchaft aus dieſer Poſition vertrieben 
wurde, immer wieder einen neuen Inhalt 
zur Unterſtellung derſelben ſuchen. Hatte 


man den lieben Herrgott als das ſog. Ab- 


ſolute aus der Welt ausgetrieben, ſo wollten 
die Materialiſten an ſeiner Stelle den ſog. 


8 Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


Stoff einlogiren; dies konnte wegen der 
völligen Relativität aller Erſcheinungen 
überhaupt, ſowie auch des Stoffphänomens 
freilich nicht gelingen. Die Naturphiloſophie 
des Materialismus und die naive Anſchau— 
ung des Demokrit und ſeiner modernen An— 
hänger, nach welcher man mit Büchner, 
Moleſchott und Anderen den Kosmos für 
ein Gefäß von leerem Raum anſchaut, in 
welchem ſich die Atome wie Billardkugeln 
herumtummeln, ſieht der Philoſoph heute 
als eine ſonderbare Hypotheſe an, die Wahres 
mit noch mehr Unwahrem gemiſcht enthält, 
nach genauem Ermeſſen ein kindliches Hirnge— 
ſpinſt mit dem man ſich im glücklichſten Falle 
ein Weltbild ausmalt, das in der beſten 
Form vorgebracht, mindeſtens von der Wahr— 
heit ebenſoweit entfernt iſt, wie die ptole— 
mäiſche Weltanſchauung von dem wahren 
aſtronomiſchen Sachverhalt der Bewegung 
zwiſchen Sonne und Erde. 

Vielleicht iſt es nun aber ſehr tröſtlich 
für alle diejenigen Forſcher, welche ſich dem 
kindlichen Dogmatismus der materialiſti— 
ſchen Lehre nur ungern entziehen, ſchon im 
Voraus zu erfahren, daß die Naturphilo— 
ſophie aller derjenigen Lehren, welche dem 
Materialismus extrem gegenüberſtehen, nicht 
nur in die gleichen Fehler verfällt, ſon— 
dern das Bild über das Naturleben außer- 
dem ſogar völlig verwirrt. Ehe wir da— 
rauf eingehen, Folgendes: Man darf bei 
obigem Abweis des Materialismus nicht 
vergeſſen, daß die Kraft- und Stofflehre 
richtig gewendet dem empiriſchen Forſcher, 
der am Experimentirtiſch ſteht und im Sec— 
tionsſaal wie im Laboratorium arbeitet, doch 
in mancher Hinſicht auch viel Nützliches 
leiſtet. Der Phyſiker, der ſich die com— 
plicirteſten Schwingungserſcheinungen zu— 
rechtzulegen und zu deuten hat, ſieht ſich 
bei der erſten Hypotheſe, die er macht, bereits 


gezwungen, kleine mechaniſch gegeneinander⸗ 
wirkende Theilchen als Molecule und Atome 
anzunehmen, die bis zum gewiſſen Grade 
zweifelsohne conſtant erſcheinen und als 
ſtoffliche Kraftträger angeſehen werden müſ— 
ſen. Will er reſervirt und vorſichtig ur— 


theilen, ſo muß er freilich bekennen, daß 


der Grad, das Maß und die Dauer der 
Conſtanz und das Stoffliche dieſer Träger 
nicht für alle Conſtellationen berechenbar 
und alſo relativ und problematiſch iſt. 
Aber abgeſehen von dieſem Problem, das 
ſich zugleich herleitet aus der Unvollzählig⸗ 
keit der experimentalen Fälle, über welche 
menſchliche Empirie hinſichtlich der In— 
duction durch die Begrenztheit der Mittel 
nicht hinauskommt, bietet die Annahme ſol— 
cher ſtofflichen ſubſtanziellen Träger doch 
wenigſtens einen vorläufigen hypothetiſchen 
Anhaltepunkt. Mit ihm gelingt es ein 
annäherndes Bild eines Vorgangs zu ent— 
wickeln, der zu fein iſt, um von unſeren 
Sinnen erkannt und geſehen zu werden. 
Der Forſcher iſt mit Hülfe der von ihm 
angenommenen kleinen Billardkugeln (Mo- 
lecule), mögen dieſe nun in der That gerade 
ſo exiſtiren wie man ſie vorzuſtellen verſucht 
oder nicht, doch im Stande, den chemiſch— 
phyſikaliſchen Vorgang wenigſtens per ana- 
logiam ſeinem Verſtändniß näher zu bringen. 
Was er im Groben unter dem Eindruck 
ſeiner Sinne beobachtet, überträgt er ver— 
mittelſt einer Aehnlichkeitsregel bis in ein 
hintermikroskopiſches Gebiet. Den Grad 
der Berechtigung und das Maß für dieſe 
Analogie zu ſuchen, iſt zunächſt nicht mehr 
Sache des Phyſikers, ſondern des kritiſchen 
Philoſophen. Wie dem auch ſei, wir müſſen 
zugeſtehen, daß der Naturforſcher zur Ver⸗ 
deutlichung bis zu einem gewiſſen Grade ein 
Recht hat, ſo zu verfahren. 5 
unter dieſer Beſchränkung die materialiſti— 


So können 


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N 
Be 


ſchen Phantaſien nützlich werden, und es 
konnte ſich die richtig gewendete Kraft— 
Stofflehre hie und da fruchtbar erweiſen. 
Faßt man z. B. die Kraftcentra, in welche 
ſich die Stofftheilchen auflöſen, etwa mit 
Leibniz und Lotze zugleich ſo, daß man 
ihnen auch Leben, endlich auch auf gewiſſen 
Stufen Seelenleben und Geiſt zuſprechen 
darf, ſo läßt ſich die ſo zu entwickelnde Art 
einer tieferen Naturphiloſophie (Hermann 
Lotze hat uns in ſeinem Mikrokosmus hierzu 
ein ſchönes Vorbild gegeben) in Einklang 
ſetzen mit den Ergebniſſen der experimentellen 
Forſchung. Und dies um ſo eher, je mehr 
der Forſcher zugleich bemüht iſt, die von 
ihm entwickelte Atomtheorie in richtiger Weiſe 
mit den ſelbſtevidenten Prineipien der em— 
piriſchen Mechauik zu verſchmelzen. Was 
in gewiſſer Weiſe Lotze und Fechner in 
Deutſchland verſuchten, unternahm bekannt— 
lich in England Herbert Spencer, und 
wir würden ungerecht ſein, wenn wir unſere 
Leſer auf die hochentwickelte Naturphiloſo— 
phie aller dieſer Forſcher nicht ausdrücklich 
hinwieſen. 


wiſſen Feſtſtellungen aus in ihrer Meta— 
phyſik doch noch zurückleiten auf die ato— 
miſtiſche Grundlehre des Demokrit. Was 
aber zur Anlehnung an die atomiſtiſche 
Vielheitslehre zwang, war die mathema— 
tiſche Anſchaulichkeit und das Thatſäch— 
liche. Die Thatſache von Kraft und Wider— 


ſtand nöthigte von der Vielheit beſtimmter 
Kraftträger (Atome) auszugehen, man war 


darauf hingewieſen ſich an die mathemathiſchen 
Grundregeln der Mechanik anzulehnen. Die 
Grundprincipien der Mechanik konnte man 
in der That naturphiloſophiſch nicht auf- 
geben, auf ſie leitete eben jede Kraftlehre 
zurück. Hier lag der eiſerne Beſtand aller 


Alle Lehren der genannten her- 
vorragenden Naturphiloſophen, ſo verfeinert 
fie find, im Grunde lafjen fie ſich von ge | 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


| 


und jeder Naturlehre. Wie weit auch der 
Naturforſcher beſtrebt war, ſich über ſein 
engeres Gebiet zu erheben, um ſeine ge— 
wonnenen Reſultate mit einer allgemeineren 
Weltanſchauung, wie ſie in großen genialen 
Zügen Philoſophen zu bieten wagten, in 
Zuſammenhang zu bringen; ſein höher— 
ſtrebender Flug konnte nicht weiter reichen 
als die Thatſachen das zuließen, und die 
klare Deutung derſelben vor der Vernunft 
zwang hier ſtets bei den Grundprincipien 
der mechaniſchen Kraftlehre ſtehen zu bleiben. 

Machen wir uns in kurzen Worten 
zugleich klar, was dieſe Principien zunächſt 
forderten. Der Begriff der Kraft ſetzt eine 
Relation voraus zu einer anderen fremden 
Gegenkraft, die man den Widerſtand nennt. 
Eine Kraft ohne allen und jeden Wider— 
ſtand wäre eine kraftloſe Kraft, ſomit 
ein undenkbares Unding. Wer von Kraft 
redet, muß daher ihren mechaniſchen Wider— 
ſtand gleichzeitig miteinbegreifen oder er 
widerſpricht ſich. Daher ſah jeder philoſo— 
phiſche Forſcher, der ſich an der Naturlehre 
gebildet und Mechanik getrieben hatte, ein, 
daß man ſtets eine urſprüngliche Mehr— 


heit discreter Kraftträger (Kraftcentra, Kraft- 
atome (Democrit) oder Monaden (Leib: 
niz), Realen (Herbart), Dynamiden | 


(Redtenbacher) u. ſ. w.) zu ſetzen hatte. 


| Völlig gleich und einander abſolut identiſch 
konnten Kraft und Widerſtand alſo nicht ſein; 


denn wären beide nicht einander bis zum ge— 
wiſſen Grade ausſchließend, ſo könnten ſie 
nicht gegeneinander mechaniſch wirkſam 
gegenübertreten. So hatte man urſprünglich 
discrete Theile, man ſah einen Zuſammen— 
hang (Nexus) von vielfachen Factoren, 
innerhalb deſſen dieſelben als mechaniſche 
Kräfte ſpielten, um einander Widerſtand zu 
leiſten und ſich unter demſelben gegeneinander 
gleichſam zu verkörpern. Mochte dieſe wechſel— 


ſeitige Verkörperung auch nur ein relatives 
wechſelndes Phänomen au ihnen ſein, immer— 
hin war dieſelbe eine Thatſache, die auf eine 
beſtimmte Erklärung zurückwies. Wollte 
man nicht alle empiriſchen Grundregeln der 
Mechanik verletzen, wollte man nicht gegen alle 
Thatſachen einen Unſinn behaupten, ſo mußte 
man ſich daher bis zum gewiſſen Grade 
an die cauſal-mechaniſche Naturlehre, welche 
die poſitiven Thatſachen lehrte, anlehnen. 
Ueber die Thatſachen hinaus durfte man 
nicht philoſophiren, ihre Logik konnte man 
nicht umgehen; ſich in philoſophiſchen An— 
ſchauungen zu ergehen, um ſich hiervon völlig 
abzuwenden, war bewußte oder unbewußte 
Phantaſterei und in dieſem Sinne Myſti— 
cismus. 

Aber es gab eine Zeit, wo die Völker 
bereits über Welt und Natur philoſophirten, 
ohne daß ſie ſchon ſo viele empiriſche Er— 
keuntniſſe geſammelt hatten, um hinreichend 
die Thatſachen zu durchdringen. Es gab 
eine Zeit, wo man die Logik der Thatſachen 
noch nicht zu würdigen verſtand und die 
Philoſophen mit Verſtößen über dieſelbe 
hinwegeilten. In dieſer Zeit ſchuf man 
ſich mit Rückſicht auf noch ganz kindliche 
Anſchauungen ein Weltbild, mit welchem 
man zunächſt nur beſtrebt war, alle Er- 
ſcheinungen aus einem einzigen Urquell, 
der Erklärungsbequemlichkeit und der Einfach— 
heit halber, abzuleiten. 

Schon die Prieſter der Vorzeit hatten 
über Natur und Schöpfung nachgedacht; 
ſie hatten ſich viel mit den Elementen von 
Wärme, Licht und Feuer beſchäftigt, der 
Seher und Prieſter zündete und ſchuf durch 
Reibung das geheiligte Opferfeuer. In 
kindlicher Naivetät, ausgerüſtet mit dem 
Drange, raſch alles um ſich her zu erklären, 
am ihnen alsbald die Vorſtellung, daß 
alles, was da iſt und wirkt, aus Licht und 


\ 5 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. | 


Feuer herſtamme. 


Die Geſtirne ſchienen 
brennende Feuer zu ſein, die auf der 
Erde Leben und Wachsthum hervorriefen, 
— da ſchien es denn nahe zu liegen, alles 
was da iſt, aus der einen Feuerkraft 
herzuleiten, die Dinge und Weſen ſchienen 
nur Metamorphoſen des Feuers zu ſein. 
Die Prieſter bedachten noch nicht, 
daß das Feuer keine omnipotente Grund- 
kraft ſein konnte; denn es fand ja (um in 
dieſer kindlichen Weiſe zu reden) ſeinen 
gleichzeitigen Widerſtand am Elemente 
des Waſſers, welches eben dieſem Elemente 
Einhalt gebot. Dennoch war einigen der 
früheſten Naturphiloſophen, die noch durch 
vorhiſtoriſche Anſchauungen der Prieſterwelt 
geleitet waren, auch das Waſſer nur ge— 
bildet durch Metamorphoſe des Feuers. 
Vom Geſichtspunkte der Mechanik betrachtet 
hatte man daher im Grunde den ſog. Wider- 
ſtand, d. i. die relativ fremde Gegenkraft, 
verſucht, aus der Kraft heraus herzuleiten. 
Aus naiver Bequemlichkeit und Unbehülf— 
lichkeit hatte man alle Elemente unter einen 
Hut bringen wollen, man war beſtrebt 
geweſen, einen einzigen Rahmen für alle 
Erſcheinungen zu finden. Indeſſen hier 
lag ein Fehler vor gegen die Logik der 
Thatſachen. Man hatte nicht beachtet, daß 
die Urkraft urſprünglich bereits auf ihren 
mechaniſchen Widerſtand hinwies, der ſich 
aus der erſteren nicht künſtlich heraus- 
ſpinnen ließ. In der That, wollen wir 
ein ſinnliches Beiſpiel gebrauchen, ſo dürfen 
wir darauf verweiſen, daß die früheſten 
Naturphiloſophen dies Weſen der Kraft 
anſchauten wie die Spinne, welche alles 
Uebrige, ſomit auch die mechaniſchen Wider- 
ſtände, ähnlich wie die Faſern des Netzwerkes 
erſt peu-à-peu aus ſich herausſpann. So 
aber ſpann freilich dieſe wunderſame Spinne 
offenbar uranfänglich in der undenkbaren 


Leere (d. h. ohne Kraftwiderſtände), und es 
fehlte chr von vornherein jeder Befeſtigungs— 
punkt für ihr geſponnenes Netzwerk, ja ſie 
ſelbſt entbehrte hiermit, vom Geſichtspunkte 
der mechaniſchen Kraftlehre betrachtet, jeder 
haltbaren Unterlage. 

So war ſchon ſehr früh in der Natur- 
philoſophie ein kindlicher und falſcher 
Kraftbegriff zur Geltung gekommen, 
der myſtiſch concipirt war und in der Natur— 
lehre heilloſe Verwirrung angeſtiftet hat, 
die Jahrtauſende hindurch fortwirkte und 
in ihren unabſehbaren Folgen heute noch 
keineswegs in der Wiſſenſchaft überwun— 
den iſt. 

Das Charakteriſtiſche dieſer Naturlehre 
alſo war ſtets dies: daß man einen Kraft— 
begriff aufnahm, der alle Widerſtände 
gleichſam übermechaniſch und myſtiſch 
aus ſich herauszog. Dieſe concipirte 
Urkraft (mechaniſch betrachtet eine ganz 
widerſtandsloſe, kraftloſe Kraft) wurde von 
Philoſophen dieſer Richtung zur ſchöpferiſchen 
Urpotenz gemacht, 
Kräfte ſetzte, 


die alle Elemente und 
dieſe Kräfte aber gleichſam 


innerlich gleichzeitig hiermit durchbohrte und 


durchdrang. Da dieſe Urkraft aber an ſich 


omnipotent und abſolut war, fo konnte fie 


alle Setzungen ebenſo raſch wieder aufheben 


und negiren. 
Schöpfer die Welt und Alles was da lebt 
und webt, incluſive den Teufel und ſeine 


Heerſchaaren, aus ſich heraus ſchuf, ſo ſollte 


auch dieſe Urkraft ſchöpferiſch ſein. So 


war dieſe Wunderkraft eine myſtiſche vis 
formativa, die über alle ſog. Widerftände | 
(die ihr doch als Gegenkräfte mechaniſch 


urſprünglich gegenübertreten mußten, um 


fie von vornherein einzuſchränken) ſich my⸗ 


ſtiſch hinaushob. Bei ihrer Omnipotenz 
geſchah es eben, daß ſie alle Widerſtände 
künſtlich übergriff und ſie gleichſam 


Wie der abſolut gedachte 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 11 


über⸗mechaniſirte, wenn man ſich dieſes 
Ausdruckes bedienen darf. Es ſtand im 
Grunde dieſe vis formativa ihren Wider— 
ſtänden hiermit ebenſo gegenüber, wie der 
Bildhauer dem todten paſſiven Marmor— 
block. Wie der Bildhauer nur den rein 
paſſiven Marmor bearbeitet als ein deus 
ex machina, um ſich deſſelben künſtlich 
zu bedienen, ihn völlig zu zerſtückeln und 
völlig rückſtandslos ſeiner Idee einzuverleiben, 
ſomit endlich auch den letzten Reſt von 
paſſiver Widerſtandskraft an ihm aufzuheben, 
ſo auch dieſe Art von myſtiſcher Kraft. 
Sie wirkt, ſchafft und bedient ſich ihrer 
Widerſtände, zehrt ſie ſchließlich rückſtands— 
los auf und ſtrebt ſchließlich im Leeren. 
So tritt dieſe Urkraft anfänglich zwar ſchein— 
bar omnipotent auf, im Grunde aber iſt 
fie doch nur eine völlig widerſtandsloſe, 
kraftloſe Kraft. 

Wir haben alſo unter dieſer Conceptions⸗ 
form eine ſog. „Kraft an ſich“ vor uns, 
eine, Art von deus ex machina, Nicht 
genug kann der Naturphiloſoph gewarnt 
werden, dieſe Art von Pſeudokraftbe— 
griff zu adoptiren, um mit ſeiner Hülfe 
weiter reichende Erklärungen vorzunehmen. 
Um deswillen iſt es daher doppelt wichtig, th 


recht genau alle die Verkleidungen und 42 


Ausdrucksformen anzuſehen, in welchen uns 
die zumeiſt mit der Grundlehre der Me— 
chanik und der Logik der Thatſachen unkun⸗ 
digen Philoſophen dieſen Pſeudokraftbegriff 
vorführen. 

Die Geſchichte der Philoſophie weiß 
in dieſer Hinſicht von den allerſonderbarſten 
Wandlungen zu erzählen. 
liche Herkunft dieſes hypermechaniſchen Kraft- 
begriffs und deus ex machina ſtammt 
ohne Zweifel, wie wir oben anführten, von 
den früheſten Prieſtern, die in dieſer Form 
die Götter oder auch eine ganze Reihe von 


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Die urſprüng⸗ 


12 


Gottheiten myſtiſch über das All erhoben 
und perſonicifirten. Später, als die Philo— 
ſophen dieſe kindlichen Anthropomorphismen 
abſtreiften, ließen ſie hiermit im Grunde 
doch nur das äußere Kleid fallen, genau 
genommen blieb das Weſen dieſes Pſeudobe⸗ 
griffs beſtehen. Wurde unter der ſchöpfe— 
riſchen Urkraft ſpäter keine mythiſche Perſon 
mehr gedacht, die über oder hinter den 
Couliſſen des Univerſums lebt, um wie 
ein Regiſſeur das Theater des Weltalls zu 
leiten, ſo war die neue Einführung einer 
kosmiſchen Urkraft, die aus ſich heraus 
das ganze Univerſum erzeugte und wieder 
in ſich verſchlang, doch nur im Grunde 
ebendieſelbe in den Kosmos hinein verſetzte 
hypermechaniſche vis formativa. Mochte 
Heraklit hiermit das kosmiſche Feuer, 
Thales das Waſſer, Anaximenes die 
Luft oder Anaxagoras den vors 
meinen, es war in dieſen Formen immer 
der nämliche myſtiſche deus ex machina. 
Ja, ſelbſt die großen Heroen der Philoſophie, 
Plato und Ariſtoteles ſtreiften an dieſer 
Urkraft nur das Gewand ab, ohne das 
Weſen der Sache hiermit zu verändern. 
Die platoniſche Weltſeele und der ariſtoteliſche 
unbewegliche Beweger ſind nur andere 
Ausdrücke für dieſe myſtiſche vis forma- 
tiva und für Handhabung eines falſchen 
Kraftbegriffs. Die Kraft wurde hier ohne 
Rückſicht auf die Grundregeln der Me— 
chanik concipirt, es mangelte ihr der voll- 
gültige Grad von Beziehung auf den 
ihr relativ äquivalenten, ebenbürtigen, und 
urſprünglich ihr gegenübergeſetzten Wider— 
ſtand. So beſaß dieſe Urkraft von vorn- 
herein ein hypermechaniſches Uebergewicht, 
durch welches ſie den ihr untergeordneten 
(paſſiven) Widerſtand ſehr bald aufzehrte, 
um ſich ſchließlich als widerſtandsloſe Kraft 
zu enthüllen. Während des ganzen Mittel- 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


alters haben die ſcholaſtiſchen Naturphiloſo⸗ 
phen dieſem unklaren Kraftbegriff gehuldigt 
und ihre naturphiloſophiſchen Syſteme darauf 
errichtet. Erſt mit der Zeit der Aufklärung 
haben die Bacon, Hobbes und ihre Schüler 
vom Gebiete der Naturforſchung laut ihre 
Stimmen hiergegen erhoben. Die Philoſo— 
phie hat leider wenig die Einwände dieſer 
Forſcher beachtet, ſelbſt ein jo klarer mathe 
mathiſcher Kopf wie Descartes baute über 
die reale mechaniſche Körperwelt eine darüber— 
geſtülpte, höhere, geiſtige auf, in welcher 
nur noch der hypermechaniſche myſtiſche 
Kraftbegriff ſeine unklaren Funktionen aus⸗ 
übt. An den deus ex machina der Descar- 
tes'ſchen Gottesſubſtanz lehnte ſich bekannt⸗ 
lich Spinoza an, und wiederum gründete 
ſich der weitgehende Pantheismus dieſes 
geiſtvollen Denkers eben nur auf die Con- 
ception jenes völlig untauglichen, hyperme— 
chaniſchen Kraftbegriffs, deſſen Pſeudofunk— 
tionen wir oben genauer ſchilderten. 
Trotz der inzwiſchen anfgeblühten experimen⸗ 
tellen Wiſſenſchaft haben die Philoſophen 
mit Zähigkeit an dem Pſeudokraftbegriff in 
der Naturphiloſophie feſtgehalten, und ſo 
feſt gewurzelt war die Scholaſtik nach dieſer 
Seite, daß ſelbſt Kant in theologiſch-philo⸗ 
ſophiſchen Anwandlungen dem Dualismus 
Rechnung trug, ſodaß nach ihm der perſönliche 
überirdiſche Weltſchöpfer (als deus ex 
machina), ebenſo wie der abjolute (intelli- 
gibele) Freiheitsbegriff auf der einen Seite 
Glauben finden ſollten, während er recht wohl 
bekennt, daß die Logik der empiriſchen That⸗ 
ſachen ſich andererſeits auf's unzweideutigſte 
fortwährend hiergegen empören. Als nach 
Kant in unſerem Vaterlande die poetiſche Zeit 
der Romantik heraufgedämmert war, hatte ſich 
der Geiſt von neuem hinreichend mit ſchola— 
ſtiſcher Myſtik geſättigt. Ein nachſcholaſti⸗ 


ſches Zeitalter ſollte in Deutſchland erblühen, 


nd die Philoſophen, die zumeiſt Theologen 
und Philologen waren, griffen während 
dieſer wunderſamen Geiſtesepoche der Roman— 
tik mit Vorliebe auf Plato, Ariſtoteles 
und den Neuplatonismus zurück. Durch dieſe 
Anlehnung concipirte man von neuem kritik— 
los den antiken Pſeudobegriff der Kraft, 
und nun mußte ſich folgerichtig eine Natur— 
philoſophie entwickeln, 
. Ergebniſſen der inzwiſchen reifer gewordenen 
> Naturwiſſenſchaft nicht mehr vertrug. 
Als dies von klar denkenden Naturforſchern 


Naturwiſſenſchaft principiell von jener 
1 Art von Naturphiloſophie, die man mit 
RRgReecht die ſcholaſtiſche nennt. 


wollen gegen die Reihe von tieferen An— 
5 ſtößen, welche die philoſophiſchen Geiſtes— 
= heroen der romantischen Zeit, vornehmlich 
Fichte, Schelling, Hegel, Schleier— 
= macher u. ſ. w., auf die Entwicklung einer 
Reihe von wichtigen Disciplinen geäußert 
haben, weit entfernt davon, zu überſehen, 
wie durch das Nachdenken jener philoſophiſch 
geſchulten theologiſchen Kräfte“) namentlich 
die tieferen Geiſteswiſſenſchaften, wie Er— 
kenntnißtheorie und Ethik recht wohl 


0 Daß Männer eben jener Geiſtesepoche, 
wie namentlich Herbart, Hegel und Fichte, 
ihre große philoſophiſche Bedeutung haben, 
und die Anſtöße, welche jene Forſcher insbe— 
ſondere der ſog. Erkenntnißlehre methodologiſch 
Bl ertheilten, unberechenbar und nicht zu unter- 
ſchätzen find, hat, abgeſehen von oben Ge— 
ſagtem, wohl keiner mehr behauptet, wie der 
Verfaſſer dieſes Artikels. Vergl. hierüber 
Caspari, Die Grundprobleme der Erkennt— 
nißthatigteit Berlin 1876 bei Theobald 
Grieben, Bibliothek für Wiſſenſchaft und Li— 
teratur. In genanntem Werke verſucht der 
Verfaſſer die Grundfehler oben genannter 
Autoren neben ihren Verdienſten zu be— 
leuchten. — 


gefördert, 


tiefer begriffen wurde, trennte ſich die 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 13 


befruchtet wurden — das müſſen wir in- 
deſſen als hiſtoriſches Reſultat jener Epoche 
feſthalten: die Naturwiſſenſchaft (d. h. die 
Naturphiloſophie) wurde von ihnen nicht 
wohl aber in die allergrößte 
Verwirrung geſetzt. Der Hauptgrund 


hierbei lag in der Wendung bezüglich des 
Kraftbegriffs, und daran ſich anſchließend 
die ſich mit den 


an der falſchen Conception des philoſophiſchen 
Grundprincips. Die auf ihren Wider— 
ſtand nothwendig bezogene und von letz— 
terem bedingte Kraft macht evident 
deutlich, daß der Kraftbegriff ein ſog. Re— 
lationsbegriff iſt, die oben genannten 
Philoſophen hingegen machten zur Grund— 


f lage aller ihrer Weltconſtructionen das ſog. 
Weit entfernt davon, ungerecht ſein zu | 


Abſolute. Die Anlehnung des mit Rück— 
ſicht auf die Thatſachen richtig gedachten 
Kraftbegriffs (als Relationsbegriff) an den 
Hintergrund eines über 
hinausliegenden (ſomit transcendenten) 
Abſoluten, ruft eben dieſe Verwirrung und 
myſtiſche Unklarheit hervor; denn leicht iſt 
zu erkennen, daß ein über alle Kräfte 
(Relationen) hinausliegendes (trams- 


cendentes) ſog. Abſolute keine Kraft, 
leerer deus ex 88 
machina ift, ein modernes asylum igno- 1 
rantiae, mit dem man die von empiriſcher 


wohl aber ein in ſich 


Seite klar aufgebaute Naturlehre über den 
Haufen wirft, und an die Stelle des in 
ſich klar gegliederten Kosmos jenes über— 
natürliche, unlogiſche Wiſchiwaſchi ſetzt, über 
welches noch heute philoſophiſch halb ge— 
ſchulte Philologen, Theologen und mit den 
Anforderungen einer klaren Naturlehre nicht 
genau bekannte philoſophiſche Dilettanten 
nicht hinauskommen. So geſchah es, daß 


die Naturlehre der Fichte-Schelling-Hegel 


nothwendig verworfen werden mußte; denn 
das abſolute Welt-Ich Fichte's, das ab- 
ſolute Subjekt-Objekt und die abſolute 


alle Kräfte 


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14 


Indifferenz Schelling's, ſowie die abſolute 
Idee Hegel's ſind nichts anderes als Con— 
ceptionen, die darauf hinführen: die anti— 
quirte ariſtoteliſche über-mechaniſche abſolute 
vis formativa (den deus ex machiua) 
durch eine fein verdeckte Hinterthür in die 
Betrachtung des Kosmos wieder aufzu— 
nehmen. Hiervon macht ſelbſt die ſonder— 
bare Conception Herbart's über die „ab— 
ſolute“ Poſition ſeines Seinsbegriffs (als 
ein. Sein ex machina) und die abſolute 
Setzung ſeiner abſoluten „Realen“ (als 
dii ex machina) nicht die geringſte Aus— 
nahme. Die Setzung und Beifügung des 
Wörtchens „abſolut“ iſt hier entſcheidend. 

Was man im modernen, praktiſchen 
Staats- und Rechtsleben der Individuen 
längſt erkannt und eingeſehen hat, nämlich 
die Unbrauchbarkeit des Abſoluten, 
das auf theoretiſchem Gebiete völlig klar zu 
machen, iſt leider noch heute eine ſchwierige 
Aufgabe der Wiſſenſchaft. Aber dieſe Ar- 
beit, zu der ſich recht viele wiſſenſchaftliche 
Köpfe mit uns vereinigen mögen, iſt viel— 
leicht ebenſo ſehr auch hier gewinnbringend 
und ſegensreich. Wie unter der Form des 
Abſoluten im Grunde nur der Mittel- 
punkt des Syſtems wahrhaft lebt, 
während die übrigen Glieder einem todten 
Cadaver gleichen, ſodaß im praktiſchen, ge— 
ſellſchaftlichen Leben hierdurch tauſend Uebel 
und Conflicte hervorgerufen werden, ſo auch 
im Gebiete der theoretiſchen Wiſſenſchaft. 
Was dort die unerträglichen Conflicte, ſind 
hier die Summe der Widerſprüche und 
Unklarheiten, die durch die Conception des 
Pſeudobegriffs des Abſoluten in allen 
Wiſſenſchaftsgebieten, jo auch in der Natur- 
lehre, erzeugt werden. Je mehr die Ein— 
ſicht hierüber im Gebiete der Naturforſchung 
höher ſtieg, je mehr ſträubten ſich die 
Scholaſtiker unter den modernen Philoſophen 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


dieſer Evidenz ſich zu unterziehen. Moderne 
Philologen und Theologen, mit Philoſophen 
im Bunde, ſuchten im Gegentheil alle Mittel 
und Wege, um dieſer Conſequenz zu ent— 
gehen. Wie eine geſcheuchte Heerde flüch— 
teten die modernen Scholaſtiker und ſuchten 
nach Syſtemen und Formeln, um ſich den 
Conſequenzen rationaler Klarheit zu ent— 
winden. Man wurde eingeſchüchtert durch 
die mächtigen Fortſchritte der em— 
piriſchen Wiſſenſchaften, welche ſen— 
timentalen Gemüthern zu dem Glauben 
Veranlaſſung gaben, daß ſie dazu dienen 
konnten, dem materialiſtiſchen Democritismus 
in die Hände zu arbeiten; man wurde ein— 
geſchüchtert ferner durch die unlogiſchen, ober 
flächlichen Doktrinen der Büchner-Mole— 
ſchott, die wir oben bereits abwieſen, weil 
ſich die Annahmen derſelben, daß der ſog. 
Stoff (als Ausgedehntes, Wägbares und 
Taſtbares) etwas Abſolutes ſei, von ſelbſt 
widerlegten. Denn die Anſichten über Stoff 
und Materie kommen nach den Ausführungen 
aller conſequenten Anhänger dieſer Lehre 
eben nur zu Stande mit Hülfe der Kraft— 
lehre. Wenn daher der Stoff nicht ohne 
Kraft gedacht werden kann, ſo iſt er auch 
nichts mehr an ſich und ſomit auch niemals 
etwas Abſolutes, ſondern etwas völlig Re— 
latives und in ſich phänomenal Flüſſiges 
wie viele andere Erſcheinungen. Indem 
man aber, wie erſichtlich iſt, ſich genöthigt 
findet, ſich abzuwenden von jenem craſſen 
Materialismus, der den Stoff als das Ab— 
ſolute (ſomit als das alles erklärende Grund— 
weſen) des Alls betrachtet: was zwingt uns, 
um dieſer Scylla zu entgehen, nun in die Cha- 
rybdis zu ſtürzen, nämlich in jene Lehre, 
welche die Kraft ſelbſt wieder hinaus— 
hebt aus der Sphäre der mechaniſchen 
Relation in das Gebiet des über-mecha— 
niſchen Abſoluten, um ſo den Begriff 


einer abſoluten, einer widerſtands— 
loſen, ſomit kraftloſen myſtiſchen Pſeudo— 
kraft zu bilden? 

Wenn die vom extremen Materialismus 
geängſtigten Philoſophen, und ſogar viele 
Naturforſcher, ſich neuerdings wieder einem 
Schopenhauer oder gar einem Hartmann 
zugewandt haben, um mit ihnen als Grund— 
princip den ſog. abſoluten Ur- Willen 
oder das abſolut Unbewußte anzuerkennen, 
ſo liefert dieſe Zurückwendung nur Zeugniß 


worum es ſich 
ſtets einen völlig klaren Kraftbegriff zum 
operiren nöthig hat) handelt. 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


davon, daß ſie nicht erfaßt hatten, 
in der Naturlehre (die 


Der philo⸗ 


als Abſolutes und an ſich Selbſtverſtänd— 
liches hinſtellen darf wie die craſſen Ma— 
terialiſten, doch immerhin die Thatſache 
der gegenſeitigen Verkörperung der Kräfte 
als Erſcheinung zu erklären. 

Nach den conſequenten Annahmen der 
Materialiſten iſt der Stoff das Weſen 
des Kosmos. Kraft, Geiſt und Bewußtſein 
hingegen find nur zufällige, “) im Grunde 
unerklärbare Erſcheinungen. Umgekehrt 
verhält es ſich mit allen jenen ſpiritualiſtiſch— 
ſcholaſtiſchen Lehren, welche Kraft, Geiſt und 
Bewußtſein zum über⸗-mechaniſchen Abſoluten 
machen. Nach den Ausführungen dieſer 
Philoſophen wird die Thatſache von Kraft 
und Widerſtand nicht erklärt und der Wider— 


) Vom conjequenten Standpunkte der ab— 
ſoluten Stofflehre iſt die Folgerung Du Bois— 
Reymond's daher ganz richtig, daß man 
der Erſcheinung des Geiſtes und Bewußtſeins 
rathlos mit einem ignorabimus gegenüber— 
ſteht. Dieſes testimonium paupertatis gilt 
eben für den eraſſen Materialismus und mit 
Hinblick auf dieſes Zugeſtändniß iſt er philo— 
ſophiſch gerichtet. | 


ſophiſche Naturforſcher aber hat, wenn man 
das Materiale und Körperliche auch nicht | 


ſtand zum Pſeudowiderſtande degradirt, 
ſomit eine Pſeudomechanik des Kosmos 
geſchaffen. Angeſichts dieſer Pſeudomechanik 
iſt es alsdann unmöglich, die Grundfac— 
toren der phyſikaliſchen Erſcheinungen: die 
gegenſeitigen Verkörperungen der Kräfte und 
die ſich daran anlehnenden Thatſachen des 
relativ undurchdringlichen Widerſtehens, die 
Reibung und die cauſale Aufeinauder— 
wirkung der Kräfte im materialen Sinne zu 
begreifen. Blieb dort die Thatſache des 
Geiſtes unerklärt, ſo hier die Thatſache der 
Materie in ihren Erſcheinungen. Um aus 
dieſem Dilemma herauszukommen, iſt die 
Naturphiloſophie gezwungen, ſich über jenen 
Materialismus ebenſoſehr wie über den 
charakteriſirten Spiritualismus hinauszu— 
ſetzen. Eine neue Naturlehre hat Platz zu 
greifen, eine Naturlehre, innerhalb deren uns 
die Thatſachen zwingen, das Weſen des 
Kosmos nicht unter der Herrſchaft irgend 
eines Abſolutums zu denken, (ſei darunter 
jener abſolute Pſeudoſtoff der Materialiſten, 
oder die abſolute Pſeudokraft der ſpiritug⸗ 
liſtiſchen Idealiſten vorgeſtellt). Dieſen Irr— 
lehren gegenüber ſei hervorgehoben, daß wir 
den Kosmos nach ſeiner natürlichen Couſtruc⸗ 
tion nur als ein Conſtitutionalismus zu 12 
denken haben. Hinter der cauſal-mechaniſchen n 
Conſtitution der Kräfte (welche alle | 
Erſcheinungen ſowohl die des Stoffs wie 
des Geiſtes erzeugt) und deren Arbeit, kaun 
keine myſtiſch übergreifende, ſie wieder 
aufhebende abſolute Pſeudokraft irgend— 
wie gedacht werden. Nur in dieſer An- | 
ſchauung, die wir mit Hinblick auf die Pſeu⸗ 
dokraftlehre der ſpiritualiſtiſchen Myſtiker 
(die neuerdings als Hartmanianer wieder 
hervortreten und in der Annahme einer 
ſog. abſoluten Urkraft verharren) die 
Lehre des Krafteonſtitutionalismus oder die 
cauſal-mechaniſche Grundanſchauung nennen, 


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kann die klare Naturphiloſophie ſich zukünftig 
fortbilden. Nur in Anerkennung dieſer 
cauſal-mechaniſchen Grundanſchauung 
kann, geeint durch die Logik der Thatſachen, 
Philoſophie und Naturforſchung zuſammen⸗ 
gehen, jeder Rückfall aber in die oben ſcharf 
gekennzeichnete Pſeudoſtofflehre oder in die 
übermechaniſche Pſeudokraftlehre würde von 
neuem einen Bruch zwiſchen Philoſophie 
und Naturforſchung herbeiführen müſſen. 
Alle diejenigen Philoſophen der Gegenwart 
aber, welche mit der beſchriebenen Pſeudo— 
kraftlehre liebäugeln, oder aus veligtös-fen- 
timentalen und theologiſchen Herzensbedürf— 
niſſen auf ein hyper-mechaniſches Trans- 
cendentes als Grundprincip in dieſer Hin— 
ſicht recurriren und feſtzuhalten verſuchen, 
haben im Grunde das Tuch zwiſchen Philo— 
ſophie und Naturforſchung zerſchnitten. 
Wie ſchon eingangs dies Artikels erwähnt, 
giebt es keinen wahren Naturforſcher, der 
nicht, wenn auch oft nur aphoriſtiſch, ſein 
philoſophiſches Glaubensbekenntniß vorträgt. 
Um ſo wichtiger daher iſt es, daß er ſich 
aufklärt über diejenigen Weltanſchauungen 
und Syſteme in der Philoſophie, die klar 
genug ſind, um einladend zu erſcheinen, die 


Reſultate der experimentellen Forſchung mit 
ihnen zu verknüpfen. — Nach den Ver- 
irrungen der neuſcholaſtiſchen Richtung, zu 
der bekanntlich neuerdings auch E. von 
Hartmann, der Philoſoph des Unbewuß⸗ 


. a d i ismus d 
ten, gehört, haben ſich die Philoſophen ge em ehemaligen Senſualismus Seele un 


ſammelt und ſind, geführt von Albert Lange 
und Anderen, muthig auf Kant's Kritik der 


— — 2 — — 


Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 


reinen Vernunft zurückgegangen. An die 
feſtſtehenden Reſultate dieſes epochemachenden 
Werkes verſuchen die modernen philoſo— 
phiſchen Forſcher anzuknüpfen, und im Bunde 
mit den Naturwiſſenſchaften begründet ſich 
gegenwärtig mehr und mehr, wenn uns 
der Blick in die Zukunft nicht trügt, gegen- 
über dem ehemals ſtreng feſtgehaltenen 
Apriorismus und Nativismus, deſſen aprio- 
riſtiſches Grundprincip ein Abſolutes, Ueber— 
mechaniſches, Transcendentes (Undenkbares) 
war, ein kritiſcher Empirismus, “) der 
ſich anlehnt an die folgerichtig gedachte 
cauſal-mechaniſche Kraftlehre. Von dieſer 
rationalen Grundlage aus ſucht der Philo— 
ſoph einzudringen in den Zuſammenhang 
der Dinge — in den Kosmos. Lehren 
ihn die Empirie und die Thatſachen den 
Kosmos als ein Syſtem von Kräften und 
deren Relationen auffaſſen, ſo zwingen 
ihn weitere Folgerungen einer in ſich klaren 
mathematiſchen Kraftlehre, dieſes Syſtem 
nicht beherrſcht zu denken von irgend einem 
Abſolutum (als myſtiſche Pſeudokraft), ſon⸗ 
dern eben dieſes Kraftſyſtem ſieht er ſich 
vielmehr genöthigt anzuſchauen als einen Con— 
ſtitutionalismus auf einander bezogener Glie— 
der, geeint durch die Verfaſſung der Natur- 
geſetze. 


) Das iſt, wohlverſtanden, kein vorfant'- 
ſcher dogmatiſcher Empirismus, der ähnlich 


Geiſt zur tabula rasa machte, um ſo alles 


von außen und nichts aus dem Innern ab— 


zuleiten. 


N 


ſchaftliche Zoologie Bd. XXVII 
Se habe ich unter dem Titel „Über 
= die Bedeutung der Ge— 
ſchmack- und Geruchſtoffe“ 
eine Erörterung der chemiſchen Seite der 
Vererbungsfrage gegeben, nachdem ich ſchon 
vorher in meinen „Zoologiſchen Briefen“ 
der phyſikaliſchen Seite einige Betrachtungen 
gewidmet hatte. Ich will es im Folgenden 
verſuchen, dieſer Frage einige neue Anhalts— 
punkte abzugewinnen und das dort Geſagte 
zu ergänzen. 

Meine früheren Auseinanderſetzungen 
gingen dahin: Das Fundament der Ver— 
erbung beſteht darin, daß durch große 
Reihen von Generationen hindurch das Keim— 
protoplasma eines Thieres eine ſich ſtets 
gleichbleibende ſpezifiſche Beſchaffenheit allen 
Anfechtungen von außen zum Trotz bewahre. 
Ich ſagte: Bei der jedesmaligen Ontogeneſe 
ſcheide ſich das verfügbare Keimprotoplasma 
in zwei Gruppen, die ontogenetiſche, 
aus welcher das jeweilige Individuum auf- 
gebaut wird, und die phylogenetiſche, 


1 


A 


Phyſiologiſche Briefe 
Prof. Dr. Guſtav Jäger. 


J. Ueber Vererbung. 


bilden. Dieſe Reſervirung des phylogene⸗ 


tiſchen Materials bezeichnete ich als Conti— 


nuität des Keimprotoplasmas. Ich fand den 
Grund ſeiner Beharrung in unverändertem 
Zuſtand, während das ontogenetiſche Ma— 
terial der Gewebsdifferenzirung unter— 
worfen wird und ſeine embryonalen Eigen— 
ſchaften verliert, darin, daß das phylogene— 
tiſche Material von dem ontsgenetiſchen 
eingekapſelt und ſo vor der Einwirkung 
der in den umgehenden Medien vorhandenen 
Differenzirungsurſachen geſchützt werde. Auf 
Grund dieſes Schutzes bewahre das einge- 
kapſelte Keimprotoplasma 1) ſeine embry⸗ 
onale Beſchaffenheit, 2) ſeine Spezifität. 3 
Im folgenden möchte ich mich nun mit 
den Vererbungserſcheinungen an dem onto— 
genetiſchen Protoplasma-Material befaſſen 
und unterſuchen, worin ſeine Spezifität in che— 
miſcher Richtung beſteht, und wieſo es kommt, 
daß auch das ontogenetiſche Protoplasma 
bei den Wachsthums- und Anpaſſungsvor⸗ 
gängen während der Ontogeneſe ſeine Spe— 
zifität trotz fortwährender Berührung mit 


andern ſpezifiſchen Protoplasmaſtoffen und 
welche reſervirt werde, um zur Zeit der Produkten hartnäckig bewahrt. Bei dieſer 
Geſchlechtsreife die Fortpflanzungsſtoffe zu Unterſuchung werden wir dann auch einen 


18 Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


intereſſanten Einblick in die Thatſache ge— 
winnen, daß die verſchiedenen Organismen 
in ſtets ſich gleichbleibenden, auf vererbten 
Qualitäten ihres Protoplasmas beruhenden 
biologiſchen Beziehungen zu einander ſtehen, 
und daß die Träger dieſer Beziehungen 
gerade die ſpezifiſchen Protoplasmabeſtand⸗ 
theile, ſpeziell die von mir als ſolche 
bezeichneten Geſchmack- und Geruchſtoffe 
ſind. 

Der Auseinanderſetzung ſende ich die 
Bemerkung voraus, daß ich bei einem Thiere 
ſtets zweierlei Funktionen bezw. Qualitä⸗ 
ten unterſcheide: 1) Die elementaren, 
d. h. die, welche jedem Protoplasmaſtück 
oder, kurz, jeder einzelnen Zelle zukommen; 
2) die ſociologiſchen, die bei den Mul- 
ticellulaten damit gegeben ſind, daß ihr Leib 
ein nach dem Prinzip der Arbeitstheilung 
organiſirter Staat aus different gewordenen 
Protoplasmaſtücken iſt. Allerdings werde 
ich ſehr häufig genöthigt ſein, aus den ſo— 
ciologiſchen Eigenſchaften auf elementare 
zu ſchließen und damit iſt die Gefahr 
zu Fehlſchlüſſen ſtets vorhanden. Ich 
lege deßhalb auch meinen Erörterungen 
nur den Werth einer anregenden Orien— 
tirung bei. 

Der intereſſanteſte Vorgang bei der 
ontogenetiſchen Seite der Vererbung iſt die 
Thatſache, welche die Phyſiologie kurzweg 
als Aſſimilation bezeichnet, ohne bis 
jetzt dieſen merkwürdigen Vorgang näher 
analyſirt und noch weniger ſeine Bedeutung 
für die Vererbungsfrage genügend gewür⸗ 
digt zu haben. Eine Hauptfrage iſt ja 


doch: Wie kommt es, daß das Fleiſch des 
fiſchfreſſenden Vogels ſich nicht in Fiſchfleiſch, 
das des wurmfreſſenden Fiſches nicht in 
Wurmfleiſch, das des diatomeenfreſſenden 
Protiſten ſich nicht in Diatomeenprotoplasma 
verwandelt? 


Die erſte Frage iſt die: An welchem 
chemiſchen Beſtandtheil der Nahrung iſt die 
Aſſimilationsarbeit zu vollziehen? Die 
Antwort iſt natürlich zunächſt die: An dem 
ſpezifiſchen Beſtandtheile der Nahrung. 
Wir haben lediglich keine Andeutung dafür, 
daß die in der Nahrung enthaltenen Salze 
und Kohlenhydrate Gegenſtand der betref— 
fenden Aſſimilation ſind und auch für die 
Fette iſt die Veränderung geringfügig. 

Ich habe in meiner eingangs erwähnten 
Abhandlung die Frage offen gelaſſen, welche 
der bekannten Protoplasmabeſtandtheile der 
Träger bezw. Erzeuger der ſpezifiſchen Ge— 
ſchmack- und Geruchſtoffe ſei. Jetzt, nach 
näherer Ueberlegung ſtehe ich keinen Augen— 
blick an, zu behaupten, daß es die Albu⸗ 
minate entweder ganz allein oder höchſtens 
neben ihnen noch die Lecithi n-Verbindun⸗ 
gen ſind. 


In den Lehrbüchern der Zoochemie 


wird angegeben, daß die Albuminate 
geſchmack- und geruchlos ſind, daß ſie 
aber bei Zerſetzung durch Säuren oder 
Alkalien die ſpezifiſchen Fäcalgerüche 
ihrer Träger entwickeln. Dieſe Thatſache 
muß nun einerſeits für uns der Ausgangs- 
punkt weiterer Unterſuchungen ſein, und ich 
bin ſehr erfreut darüber, daß mein College 
Dr. O. Schmidt, Profeſſor der Chemie an 
der Thierarzneiſchule in Stuttgart, mir zuge— 
ſagt hat, einſchlägige Verſuche in Verbindung 
mit mir zu machen, da die vorliegenden 
Angaben uns durchaus noch keine ſichere 
Baſis geben. Andererſeits muß aber, ge 
rade um ſolchen Verſuchen ihr. Ziel zu 
ſtecken und die Wichtigkeit derſelben ins 
Licht zu ſetzen, ein Räſonnement an dieſe 


Thatſache angeknüpft, d. h. eine Hypotheſe 


aufgeſtellt werden, deren Erhärtung oder 
Verwerfung oder Richtigſtellung das Ziel 
der empiriſchen Forſchung fein fol. 


Dieſe Hypotheſe formulire ich jo: 

Die Albuminate, welche wir in den ver— 
ſchiedenen Thieren antreffen, find nicht völ— 
lig einander gleich, ſondern beſtehen aus 
einem, wahrſcheinlich bei allen Albumina⸗ 
ten gleichen Kern, mit welchem Atom- 
gruppen verbunden ſind, die bei ihrer Los— 
löſung aus dem Eiweißmolekül als die 
ſpezifiſchen Geſchmack- und Geruchſtoffe ent— 
weichen und dann durch andere zwar ähn⸗ 
liche, aber doch verſchiedene Atomgruppen 
erſetzt werden können. 

Der Prozeß der Aſſimilation beſtünde 
ſomit darin: 1) Daß bei der Verdauung 
die Albuminate ihrer Spezifität ent— 
kleidet werden, indem ſich ihr Molekül 
in zwei Atomgruppen hydrolytiſch ſpaltet; 
die eine bei allen Albuminaten gleiche Atom— 
gruppe wäre das Eiweißpepton, die 
andere Atomgruppe wären die ſpezifiſchen 
Geruch- und Geſchmackſtoffe. 2) Während 
die letzteren ausgeſtoßen werden und unter 
den Fäcalſtoffen ſich, wenn auch vielleicht 
in etwas veränderter Form, als Fäcalgeruch 
(und Geſchmack) finden müſſen, tritt das 
Pepton in das lebendige Protoplasma ein, 
trifft dort auf die ſpezifiſchen Geſchmack— 
und Geruchſtoffe des Nahrungsnehmers, 
die bei den Krafterzeugungsvorgängen die 
begleitende Eiweißzerſetzung gebildet haben, 
und tritt mit ihnen unter Waſſerabgabe 
zuſammen, um wieder Eiweiß zu bilden, 
aber das ſpezifiſche des Nahrungs- 
nehmers. 

Der Phyſiologe Hermann nennt die 
Albuminate die Anhydrite des Pep— 
tons und hat ſomit die Anſchauung, als 
handle es ſich bei der Verdauung und 
Aſſimilation nur um Ein- oder Austritt 
von Waſſermolekülen, während meine 
Auſchauung dahin geht, daß es ſich außer 
dem Eintritt und Austritt von Waſſermo— 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 19 


lekülen auch noch um die der ſpezifiſchen 
Geſchmack- und Geruchſtoffe, d. h. flüchti— 
ger Fettſäuren oder deren Aether und 
ſonſtiger Abkömmlinge handelt. 

Die Aufgabe des experimentellen Che— 
mikers iſt nun, zu prüfen, ob bei der Pep⸗ 
tonbildung aus einem möglichſt rein dar— 
geſtellten Albuminat der ſpezifiſche Geruch 
des Thieres, von welchem das Albuminat 
ſtammt, oder wenigſtens ein verwandter 
ſpezifiſcher Geruch auftritt, und ob die Pep⸗ 
tone, welche man aus den Albuminaten 
verſchiedener Thiere bereitet, wirklich gleich 
ſind, oder ob in ihnen doch noch eine ſpe⸗ 
zifiſche Atomgruppe ſteckt. Das iſt die 
Aufgabe, welche Hr. Prof. Dr. O. Schmidt 
und ich uns geſtellt haben. 

Iſt dieſe Anſicht von Verdauung und Aſſi⸗ 
milation richtig, ſo beſteht die Zähigkeit der 
Vererbung bei der Ontogenefe darin, 1) daß 
alles fremdartige Albuminat nicht als ſolches. 
in das Protoplasma des Nahrungsnehmers 
aufgenommen, ſondern zuvor ent] pezifi⸗ 
zirt und dann aſſimilirt wird; 2) darin, 
daß das eigene Albuminat des Nahrungs- 
nehmers bei den Umwandlungen, die mit 


ihm während der Ontogeneſe zweifellos 6 
ftatt finden (bei der Bildung von Globu⸗ 


lin, Fibrin, Caſein, Haemoglobin, Nuclein 


t.), ſeine Spezifität bewahrt, d. h. daß 


hierbei ſeine ſpezifiſchen Atomgruppen nicht 
abgeſchieden werden, ſondern daß die ein⸗ 
ſchlägigen Aus- und Eintritte anderer 
Atomgruppen an anderen Punkten der Mo⸗ 
lekularſtruktur ſtattfinden. 

Damit erweitert ſich unſere Vorſtellung 
von dem Bau des Eiweißmoleküls dahin, 
daß daſſelbe jedenfalls zweierlei Punkte 
beſitzt: 

1) Punkte, an welchen die ſpezifiſchen 
Atomgruppen angefügt ſind, d. h. die⸗ 
jenigen, welche bei der Verdauung abge⸗ 


a 


Ei 


20 


Verwandte erſetzt und bei allen denjenigen 
Veränderungen, welche das Protoplasma 
erleiden, ohne abzuſterben, nicht tangirt, ſon— 


dern feſtgehalten werden, worauf die Zähig- 


keit der Vererbung beruht. Ich möchte 
dieſe Punkte des Kerns des Eiweißmole— 


küls die Aſſimilations- und Ver⸗ 


erbungspunkte nennen. 

2) Punkte, an welchen bei der Synto— 
ninbildung das Säureradikal, bei der Ca— 
ſeinbildung das Kali, bei der Hämoglobin— 
bildung das Hämatin, bei der Nucleinbildung 
das Lecithin dem Peptonkern ſich anfügen. 
Da dieſe chemiſchen Vorgänge die ontoge— 
netiſche (elementare) Anpaſſung 
begleiten, ſo nenne ich dieſe Punkte die 
Anpaſſungspunkte. 

Vergleicht man dieſe beiderlei Punkte des 
Molekularbaues, ſo findet man als characte— 


riſtiſch Folgendes: Die erſteren halten ihre 


Atomgruppen mit viel größerer Feſtigkeit zu— 
rück als die letzteren, und Veränderungen an 
den Anpaſſungspunkten rauben, trotz der Ver⸗ 
ſchiedenheit der an ihnen aus- und eintre— 
tenden Atomgruppen dem Molekül ſeinen 


ſchieden, bei der Aſſimilation durch andere 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


Charakter als Albuminat, und namentlich 


ſeine Fähigkeit, eine lebendige Membran zu 
bilden, nicht. Dagegen ſind Verände— 


rungen an den Vererbungspunkten mit ein- 


ſchneidenden Folgen verbunden, indem 


mit Ablöſung der betreffendenden Atom 
gruppen das Eiweißmolekül ſeine Fähigkeit, 


eine lebendige Membran zu bilden, ver— 
liert und ſein Atomgewicht bedeutend redu— 
zirt wird, kurz, der Charakter des Albumi⸗ 
nats verloren geht und erſt wieder herge— 
ſtellt wird, wenn eine verwandte Atom— 
gruppe eintritt. ö 

Damit haben wir eine ganz beſtimmte, 
an die Anſchauungen der theoretiſchen Che— 
mie möglichſt eng ſich anſchließende Vor⸗ 


ftellung von den merkwürdigen, wie es 
ſcheint ſich widerſprechenden Eigenſchaften 
des Albuminats, nämlich der Vererbungs— 
fähigkeit und der Anpaſſungsfäh— 
igkeit, d. h. daß es gewiſſe Qualitäten 
mit außerordentlicher Zähigkeit feſthält, an— 
dere Qualitäten leicht ändert. 

Verknüpfen wir mit dem Geſagten noch 
eine Vorſtellung über das, was bei 
der von der Descendenztheorie geforderten 
Trans mutation an dem Eiweißmokül 
vor ſich gehen muß. Wenn die Grundan— 
ſchauung, von der ich ausgehe, richtig iſt, 
daß die Spezifität des Eiweißmoleküls in 
dem Beſitz der eigenartigen, bei ihrer Be— 
freiung ſchmeckenden und riechenden Atom— 
gruppen liegt, die an den Aſſimilations— 
und Vererbungspunkten des Molekülkerns 


hängen, fo handelt es ſich bei der Trans— 


mutation um einen ähnlichen Vorgang wie 
bei der Aſſimilation, d. h. um einen Wech— 


ſel der an den Aſſimilations- und Berer- 


bungspunkten hängenden ſpezifiſchen Atom— 
gruppen. Wenn wir deshalb die Transmu— 
tation nach Darwins Vorſchlag Anpaſ⸗ 
ſung nennen, ſo müſſen wir, wie das auch 
ſchon andere gethan haben, ganz genau 
zwiſchen der ontogenetiſchen Anpaſ⸗ 
fung und der phylogenetiſchen An— 
paſſung, wie man dann die Transmu— 
tation zu nennen hätte, unterſcheiden. Auf 
der anderen Seite iſt aber klar, daß für 
das Verſtändniß der die wiſſenſchaftlichen 
Zoologen ſo tief intereſſirenden Vererbungs— 
und Transmutationserſcheinungen ein mög— 


lichſt genaues Studium der Molefularvor- 
gänge bei der Verdauung und der Aſſi⸗ 


milation grundlegend ſein muß, und des— 


halb erlaube ich mir den Vorgang noch 


nach einer anderen Seite hin zu beſprechen. 
Oben ſagte ich, die Zähigkeit des onto- 
genetiſchen Theils der Vererbung beruhe 


\ 


* 


) 


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! 
1 


f 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 21 


darauf, daß bei der Ernährung das frem⸗ | ſich ſelbſt nicht. Die eine Seite der Les 
de Albuminat nicht als ſolches in das Pro- benserſcheinungen, die von den Albuminaten 
| ausgehen, iſt mithin zu verſtehen als die 
ſich alſo nicht mit ihm miſchen kön 


toplasma des Nahrungnehmers eintreten, 


ne, daß es vorher entſpezifizirt d. h. pep— 
toniſirt werde und erſt dann eintreten 
könne. Es erheben ſich nun zwei Fragen: 
1) Warum kann es nicht als ſolches ein— 
treten; 2) wodurch wird es peptoniſirt? 
Die erſte Frage iſt durch Traube's 


glänzende und kapitale Verſuche über künſt⸗ 


liche Zellbildung beantwortet und dadurch 
zugleich die höchſt merkwürdige domini— 
rende Stellung erklärt worden, welche 


die Albuminate unter allen organiſchen Ver- 


bindungen einnehmen und die wir uns 
etwas näher beſehen müſſen, weil ſie für 
das Verſtändniß aller Lebenserſcheinungen, 


mithin auch für das der Vererbung von 


größter Wichtigkeit ſind. 

Traube hat uns gelehrt, daß ein 
membranbildender Stoff auch dann, 
wenn er in Löſung ſich befindet, durch 
ſeine eigene Membran nicht dif— 
fundiren kann, was er ſo deutet: 

Wenn ein Stoff eine Membran for- 
mirt, ſo lagern ſich ſeine Moleküle ſo, daß 
die zwiſchen ihnen bleibenden Lücken kleiner 
ſind als die Moleküle ſelbſt, was auch 
augenſcheinlich eine phyſikaliſche Nothwendig— 
keit iſt. 

Die eigenthümliche beherrſchende Stel— 
lung, welche die Albuminate unter allen 
übrigen 
einnehmen, beruht zunächſt darauf, daß 
ſie das größte Molekül beſitzen. 

Kraft dieſer Eigenſchaft können Eiweiß— 
membranen allen übrigen chemiſchen 
Verbindungen, ſofern dieſe überhaupt in 


dem umſpülenden Medium löslich ſind und 


das Eiweißmolekül nicht gänzlich zerſtören, 


den endosmotiſchen Eintritt geſtatten, nur 


membran den niederatomigen oxydablen 
Kohlenhydraten und Fetten ſouverain gegen⸗ 


ſtimmten 


membranbildenden Verbindungen 


Verbindungen umwandeln. 
die Albuminate 


Herrſchaft des größten Moleküls 
über alle kleineren und der phyſikaliſchen 
Unmöglichkeit der Autophagie eines 
Membranbildners. 

Eine zweite Seite iſt, daß nur die 


Albuminate im Stande ſind, eine lebendige 


Membran zu bilden, d. h. eine Membran, 
die nach dem Princip einer voltaiſchen Säule, 
d. h. aus zwei in elektromotoriſchem Span— 
nungsverhältniß ſtehenden, zu ellektriſch— 
dipolaren und Peripolaren Molekülen ſich 
gruppirenden Beſtandtheilen aufgebaut iſt, 
wodurch fie in den Beſitz einer auslöſen— 
den Kraft gelangt, mit der ſie allen 
in fie eintretenden Stoffen, die leicht oxydir— 
bar ſind, den Anſtoß zur Zerſetzung geben 
kann. 


Die dritte Seite iſt die Fähigkeit 


der Albuminate zur Aufſpeicherung und 
Ozoniſirung des Sauerſtoffs. Im Beſitze 
des Ozons, der zur Auslöſung nöthi— 
gen elektriſchen Kraft und des größten 
Moleküls, tritt die lebendige Albuminat⸗ 


über; fie läßt fie durch ihre großen Lücken, 
herein (das Fett allerdings nur unter be— 
Vorausſetzungen) und mordet 
ſie, ſo daß ſie ihm nichts anhaben können. 
Dazu kommt nun noch, daß die lebendige 
Eiweißmembran hydrolytiſche Fermente ab— 
ſondert, die auf die unlöslichen Kohlenhydrate 
per Diſtanz wirken und ſie in diffuſible 
Dadurch ſind 
vor Veränderungen, die 
von dieſen Stoffen, mit denen fie fort- 
während in Berührung kommen, ausgehen 
könnten, in hohem Grade ſicher geſtellt. 

Wenden wir uns jetzt noch einmal zu 


N. 


22 


dem Prozeß der Eiweiß verdauung, 
um ihn von einer andern Seite zu be— 
trachten, bei der ſich die merkwürdige Rolle 
der Geſchmack- und Geruchſtoffe als Träger 
des Nahrungsinſtinktes, als auf ele— 
mentaren Verhältniſſen beruhend, ergeben 
wird. Ich muß aber hier eine Be— 
merkung vorausſenden. 


Unſer Einblick in die Beziehungen zweier 
ſpezifiſch verſchiedenen Albuminate bei den 
Ernährungsvorgängen wird dadurch ſo ſehr 
getrübt und erſchwert, daß wir dieſe Vor— 
gänge immer nur bei den höchſten, einen 
äußerſt complizirten Zellſtaat bildenden 
Organismen ſtudiren. Wir haben uns 
deshalb daran gewöhnt, bei dem Wort 
„Verdauung“ an die ganze Maſchinerie von 
Darmdrüſen, Verdauungsfäften, 
niſche Verdauungsarbeit ꝛc. zu denken und 


vergeſſen ganz, daß ein Protiſt, der nichts 


anderes iſt als eine lebendige Eiweißmembran, 
ebenſogut eine andere, 
Eiweißmembran d. h. eine Diatomee oder 
ein Geißel- oder Flimmerinfuſorium frißt und 
verdaut, daß alſo die Verdauungsfähigkeit 
eine elementare Eigenſchaft des Proto— 
plasmas d. h. wahrſcheinlich jeder leben— 
digen Eiweißmembran iſt. 


Wir finden es völlig begreiflich und 
eigentlich gar nicht des Beſprechens werth, 
daß die Katze die Maus frißt und ver— 
daut, und belächeln die Frage, warum 
frißt nicht umgekehrt die Maus die Katze? 


Es iſt zu augenſcheinlich, daß der Proto- 
plasmaſtaat, den wir „Katze“ nennen, dem 


Protoplasmaſtaat „Maus“ ſo ſehr über— 


legen iſt wie ein Großſtaat einem Klein- 
allein neben dieſem ſociologi-⸗ 


ſtaat; 
ſchen Mißverhältniß iſt denn doch noch 
zu unterſuchen, ob die Katze über die Maus 


auch noch eine elementare d. h. in der ſpe⸗ 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


mecha- 


ebenfalls lebendige 


zifiſchen Qualität ihres Protoplasmas lie— 
gende Ueberlegenheit beſitzt. 

Dieſe Frage wird uns nicht nur durch 
das Verhältniß nahe gelegt, in welchem 
die Protiſten und Unicellulaten zu  ein- 
ander ſtehen, ſondern auch durch die bio— 
logiſchen Beziehungen und durch die Rolle, 
welche hierbei gerade die ſpezifiſchen 
Stoffe d. h. die ſchmeckenden und riechen— 
den ſpielen. Wir wiſſen daß ein Thier für's 
erſte nur ſolche Gegenſtände frißt, 
die riechen und ſchmecken (die Aus— 
nahme, daß die körnerfreſſenden Vögel auch 
Quarzkörner verſchlucken, ſtößt dieſe Regel 
nicht um), und fürs zweite nur ſolche Gegen— 
ſtände, welche einen beſtimmten d. h. ſpe— 
zifiſchen Geſchmack und Geruch beſitzen, der 
wiederum eine ganz beſtimmte Qualität, 
nämlich die des Angenehmen haben 
muß; eine Qualität, welche nichts dem 
ſchmeckenden und riechenden Stoff abſolut 
Zukommendes, ſondern nur der Aus— 
druck für ein Gegenſeitigkeits ver— 
hältniß iſt. 

Die Kehrſeite zu der Thatſache, daß 
ein Thier nur frißt, was gut ſchmeckt und 
gut riecht, iſt die bisher faſt gar nicht er— 
örterte, aber ebenſo feſtſtehende Thatſache, 
daß die Geſchmack- und Geruchſtoffe, die 
ein Raubthier produzirt, auf ſein Beute— 
thier den gerade entgegengeſetzten 
Eindruck machen: ſie wirken auf daſſelbe un— 
angenehm, abſtoßend, ekelerregend. 
Wenn die Biologen ſagen: Das Thier 
flieht ſeinen Feind inſtinktmäßig, 
ſo ſage ich beſtimmter: es flieht ihn, 
weil er „ſtinkt“. Daraus ergiebt ſich 
nun, daß die ſpezifiſchen Geſchmack- und 
Geruchſtoffe in ganz beſtimmte Beziehungen 
treten, wenn zwei verſchiedene auf einander 
treffen: Die einen wirken als Ekelſtoff, 
die andern entgegengeſetzt als Lüſtern⸗ 


188 


RT 


heitsſtoff. Damit iſt jedoch nur die 
eine Beziehungsart zwiſchen den ſpezifiſchen 
Stoffen gekennzeichnet, die zweite Beziehungs— 
art iſt die der Indifferenz d. h. die 
Stoffe wirken gar nicht auf ihre Erzeuger, 
ſind alſo befreundete oder Freund— 
ſchaftsſtoffe. 

Suchen wir dieſe Beziehungsart in die 
chemiſche Sprache zu überſetzen, ſo können 
wir etwa ſo ſagen: Wenn zwei verſchiedene 
Albuminate auf einander treffen, ſo hängt 
das Ergebniß (abgeſehen von der Lebens— 
frage) davon ab, wie ſich die ſpezifiſchen 
Atomgruppen zu einander verhalten; ſind 
ſie gleich, ſo wirken ſie gar nicht auf ein— 
ander ſchemiſcher Horror gegen Auto— 
phagie, Freundſchaftsverhältniß); ſind ſie 
verſchieden, ſo iſt die mächtigere Atomgruppe 
der Ekelſtoff, die ſchwächere der Lüſtern— 


heitsſtoff; die erſtere verdrängt zunächſt 


die letztere (Verdauung und Pepton— 


bildung) und ſetzt ſich an ſeine Stelle 


(Aſſimilation), ähnlich, aber uicht ſo 
direkt wie eine ſchwächere Säure durch eine | 


ſtärkere verdrängt wird. 

Dabei muß aber bemerkt werden, daß 
es durchaus nicht gleichgültig iſt, ob die 
beiden in Kampf tretenden Albuminate todt 
oder lebendig ſind. 


mechaniſche Kraft. 


Greifen wir aus 


dieſer Caſuiſtik einige Verhältniſſe heraus: 


1) Beide Albuminate find todt. In 
dieſem Fall wird nichts geſchehen, was uns 
für unſere Frage intereſſirt. 


2) Das eine iſt todt, das andere 


lebendig. 


Hier ſind wieder zwei Fälle 


zu unterſcheiden: a) Iſt der Träger des Lü 
weil es durch Erſtickung getödtet wird und 


ſternheitsſtoffes todt, der Ekelſtoffträger 
lebendig, ſo wird der erſtere natürlich ohne 
weiteres verdaut und reſorbirt; b) iſt der 
Ekelſtoffträger todt und der Lüſternheits— 
ſtoffträger lebendig, ſo kann dreierlei ein— 
treten: der erſtere kann, wenn der Efelftoff, 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 23 


der ja auch ſchon jetzt frei im Albuminat 
liegt und auch bei der Peptonbildung ab— 
geſchieden wird, den Lüſternheitsſtoffträger 
noch im Tode überwältigen, in dieſem Falle 
nennen wir den Ekelſtoffträger ein Gift. 
Die zweite Möglichkeit iſt, daß der Lüſtern— 
heitsſtoff nicht kräftig genug iſt, um den 
Ekelſtoff auch im todten Zuſtande auszu⸗ 
treiben, dann läge das Verhältniß der 
Unverdaulichkeit vor; der dritte 
Fall iſt, daß die Verdauung doch gelingt, 
weil bei dem Lüſternheitsträger der Faktor 
des Lebendigſeins gegenüber dem todten 
Ekelſtoffträger zur Geltung kommt und 
zwar durch elektrolytiſche Austreibung und 
Zerſtörung des Ekelſtoffes. 

3) Sind beide Albuminate lebendig, 
ſo handelt es ſich um einen Albuminat— 
kampf, der mit zweierlei Waffen, nämlich 
mit chemiſchen und phyſikaliſchen geführt wird. 


Es wird nicht blos Ekelſtoff gegen Lüſtern- 


heitsſtoff ins Feld geführt, ſondern auch elek— 
trolytiſche Kraft gegen elektrolytiſche Kraft, 
und mechaniſche Kraft (Contraktilität) gegen 
Das Reſultat iſt wie 
bei jedem Kampf, daß der ſchwächere 
Theil unterliegt und in dieſem Falle 


wird er auch noch gefreſſen. Alſo hier 


entſcheidet die chemiſche Differenz nicht immer 
unbedingt direkt, ſondern auch indirekt da- 
durch, daß ſie die Grundlage phyſikaliſcher 
Differenzen iſt. Wenn z. B. das hochamöboide 
Protoplasma eines Protiſten eine Diatomee 
oder ein Infuſorium umfließt und einkapſelt, 
ſo nützt letzterem auch eine allenfallſige 
chemiſche Ueberlegenheit ſchließlich nichts, 


jetzt eine ſeiner Waffen d. h. feine phyſika— 
liſche, verloren hat. 

Hier ſoll eine, wie mir ſcheint, unter 
obigen Geſichtspunkt fallende Beobachtung 
angeführt werden. 


£ 
7 {a 9 u 
W ER n ur 


24 Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


Die Ophthalmologen haben wiederholt 
die Bindehaut eines lebenden Kaninchens 
auf das Auge eines lebenden Menſchen 
transplantirt. Sie wächſt an, bleibt leben— 
dig und wird zum Schluß doch regel— 
mäßig verzehrt. Es wäre nun von 
höchſtem Intereſſe für die Theorie der all— 
gemeinen Zoologie, zu wiſſen, wie die Sache 
zu erklären iſt und zu dieſem Zweck kom— 
parative Transplantationsverſuche, nament— 
lich zwiſchen Raubthieren und ihren Beute— 


thieren übers Kreuz zu machen, um zu 


ſehen, ob es ſich hier um den Fall einer 
elementaren Ueberlegenheit des einen 
Albuminats über das andere, alſo um den 
Fall, den ich oben unter Nr. 3 beſprochen 
habe, handelt. Jedenfalls begründet das 
Gegenſtück zu obigem Transplantationser— 
gebniß, die erfolgreiche und dauerhafte Trans— 
plantation, wenn man den aufs oder ein- 


zuheilenden Theil dem gleichen Thiere oder 


wenigſtens der gleichen Thierart entnimmt, 
den Verdacht, daß nicht etwa eine mit der 
Operation nothwendig verbundene Schä— 
digung der Lebensenergie die Reſorption 
der aufgepflanzten Kaninchenbindehaut ver— 
ſchuldet, ſondern wahrſcheinlich die ange— 
borene chemiſche Differenz zwiſchen Meuſchen— 
eiweiß und Kanincheneiweiß. 

Sollte dieſe meine Auffaſſung ſich be— 
ſtätigen, was ja durch Experimente ge— 
ſchehen kann, ſo wäre das ein nicht zu 
unterſchätzender Fortſchritt zu Gunſten einer 
mechaniſchen Anſchauung der Lebenser— 
ſcheinungen und zunächſt ein Verſtändniß 
der Vererbung. Denn wir hätten jetzt eine 
völlige Erklärung des Nahrungsin— 
ſtinktes, alſo einer der merkwürdigſten der 
ererbten Eigenſchaften. Das unendlich 
komplizirte biologiſche Getriebe, das von 
den ſpezifiſchen Nahrungsinſtinkten ausgeht, 
würde ſich in das merkwürdig einfache und 


dem chemiſchen Verſtändniß ſehr nahe ge— 
rückte Geſetz auflöſen, daß das ſtärkere 
Albuminat ſtets Jagd auf das 
ſchwächere macht, letzteres das erſte 
ſtets flieht und daß gleichſtarke Albu— 
minate ſich indifferent gegen einander 
verhalten. 

Wir müſſen nun aber die vorgelegte 
Anſchauung in einem Punkte noch etwas 
genauer präciſiren. Die Phyſiologie lehrt 
uns, daß zur Eiweißverdauung ein be 
ſtimmtes Ferment, das Pepfſin gehört, 
daß dieſes von gewiſſen Drüſen des Darm— 
ſchlauches abgeſondert wird und daß dieſes 
durchaus nicht identiſch mit den ſpezifiſchen 
Geſchmack- und Geruchſtoffen iſt. 

Dadurch erweitert ſich unſere Vor— 
ſtellung von dem Eiweißmolekül dahin, daß 
es außer ſeinem Peptonkern und den rie— 
chenden und ſchmeckenden Atomgruppen noch 
eine dritte Atomgruppe beſitzt, die bei ihrer 
Loslöſung aus dem Molekül als eiweiß— 
zerlegendes Ferment (Pepſin) wirkt. 

Iſt nun meine Lehre vou der Spezi— 
fität der Albuminate und dem elementaren 
Albuminatkampfe richtig, jo muß die Fähig⸗ 
keit der Pepſinbildung eine elementare 
Eigenſchaft aller Protoplasma— 
arten ſein und nicht eine ſpezifiſche ge— 
wiſſer Drüſenprotoplasmen. In der That 
hat man auch bereits in den Muskeln 
Pepſin nachweiſen können, und die Angabe 
der Phyſiologie, daß alle Albuminate die 
Rolle von Fermenten ſpielen können, wäre 
dahin zu erweitern, daß jedes Albuminat 
pepſigen iſt. 

Jetzt würde ſich der oben beſprochene 
Kampf zweier ungleich ſtarken Albuminate 
ſo ausnehmen: SP 

Das ſchwache Albuminat erregt durch 
die bei ſeiner Zerſetzung frei werdenden 
Lüſternheitsſtoffe das ſtärkere zu ver— 


Zunahme eines 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


mehrter phyſiologiſcher Thätigkeit (Be— 
ſchleunigungs reiz). Die Folge dieſer 
Thätigkeit im ſtärkeren Protoplasma iſt 
eine Zerſetzung eines Bruchtheils ſeiner 
Eiweißmoleküle (Albuminatabnutzung). Hier— 
bei ſpaltet ſich das Albuminat in dreierlei 
Atomgruppen, die Ekelſtoffe, das 
pepſinartige Ferment und einen 
Kern (Peptonkern), der durch weitere Zer— 
ſetzung die bekannten Amidoſäuren, Amide 


und verwandte Stoffe der rückſchreitenden 
Metamorphoſe liefert, die den Körper ver— 


laſſen. 

Der Ekelſtoff wirkt zuerſt als Läh⸗ 
mungsreiz auf das ſchwächere Protoplas— 
ma und erſt, wenn das geſchehen iſt, thut 
das Pepſin ſeine Schuldigkeit als eiweiß— 
zerſetzendes Ferment und verwandelt das 
ſchwächere Albuminat in Pepton, wobei 
es entſpezialiſirt wird. Bei der Aſſimila— 
tion bemächtigt ſich dann der freigewordene 
Ekelſtoff direkt oder auf Umwegen des 
gebildeten Peptons. Hier iſt nun die 
Thatſache beizufügen, daß niemals alles 
Pepton zur Aſſimilation gelangt, denn die 
wachſenden Thieres an 
Albuminatgewicht bleibt ſtets weit hinter 
der Maſſe des in der Nahrung aufge— 
nommenen Albuminates zurück. Es ergiebt 
ſich die Nothwendigkeit dieſer Thatſache auch 
einfach aus folgendem: 

Wenn meine Anſchauung richtig iſt, daß 
die Aſſimilation gleichbedeutend iſt mit einer 


Syntheſe von Pepton und den Ekelſtoffen, 


ſo können letztere nur ſo viel Pepton ſättigen, 
als ſie geſättigt hatten, ſo lange ſie im 


Eiweißmolekül des Nahrungsnehmers ſich 
befanden. Sonach könnte die Menge des 
durch Aſſimilation gewonnenen Eiweißes 
nie mehr betragen, als die zur Verdauungs- 
arbeit nöthige Albuminatabnutzung des ſtär⸗ 
keren Albuminates betrug; ja nicht einmal 
jo viel, weil bei der flüchtigen und diffu- 
ſibeln Natur der Efelftoffe jedenfalls ſtets 
ein Theil verloren geht. 

Dem ſteht die Thatſache entgegen, daß 
das Ergebniß der Aſſimilation wenigſtens 
in der Wachsthumsperiode eine Maſſezu— 
nahme iſt. Hieraus erhellt, daß es außer 
der Freimachung der Efelftoffe bei der Al— 
buminatzerſetzung noch eine Quelle für ihre 
Neubildung geben muß. So wie die Sache 
liegt, können wir nur vermuthen, daß dieſe 
Quelle die Lüſternheitsſtoffe des 
ſchwächeren Albuminats ſind, die bei der 
Peptonbildung freigemacht wurden. 

Somit würde dann in letzter Juſtanz 
es ſich auch noch um eine der Eiweißaſſi— 
milation vorausgehende Aſſimilation der 
ſpezifiſchen Schmeck- und Riechſtoffe handeln, 
ein Vorgang, der jedenfalls chemiſch nicht 
undenkbar iſt, allein bei unſerer Unkenntniß 
von der Natur der ſpezifiſchen Geſchmack— 
und Geruchſtoffe uns vorläufig ein Räthſel 
bleibt. 

Es erübrigt jetzt noch die nähere Prä— 
ziſirung eines zweiten Ausſpruchs, den ich 
über die ſpezifiſchen Geſchmack- und Ge— 
ruchſtoffe gethan habe, daß ſie nämlich auch 
die Träger des Fortpflanzungs in- 
ſtinktes ſeien. Ich will jedoch dieſe Erör— 
terung für einen folgenden Brief aufſparen. 


Die Urkunden der Atammesgelchichte. 


Von 


Ernſt Haeckel. 


or auf Die 10 0 
. der Wiſſenſchaft, und vor allen 

der Naturgeſchichte ausübt, hat 
auf keinem derſelben raſcher gewirkt und reichere 
Früchte hervorgerufen, als auf dem Gebiete der 
organiſchen Morphologie, der Formenlehre 
der Thiere und Pflanzen. Hier ſind zu— 
nächſt in Folge der neu begründeten Ab- 
ſtammungslehre verſchiedene wichtige Zweige 
der Forſchung, welche bis dahin mehr oder 
minder getrennt neben einander liefen, in 
die innigſte Verbindung und Wechſelwir— 
kung getreten. Innere und äußere Form— 
betrachtung, vergleichende Anatomie und 
Syſtematik, Embryologie und Paläontologie 
haben ſich in dem erklärenden Lichte der 
Deſcendenz-Theorie als innig verbundene 
Wiſſenſchaftsfächer erkannt, welche auf ver— 
ſchiedenen Wegen nach einem und demſelben 
Ziele hinſtreben, nach dem Verſtändniß der 
organiſchen Formen durch die Erkenntniß 
ihrer hiſtoriſchen Entſtehung. Daraus aber 
hat ſich eine neue Wiſſenſchaft entwickelt, 
welche unmittelbar die Erkenntniß dieſer 
urſprünglichen Entſtehung im genealogi— 


ſchen Zuſammenhange der blutsverwandten 
Thiere und Pflanzen anſtrebt, und welche 
in dem Stammbaum derſelben das 
wahre „natürliche Syſtem“ der Formen 
zu entdecken trachtet; dieſe neue Wiſſen— 
ſchaft iſt die Stam mesgeſchichte oder 
Phylogenie. 

Jede neue Wiſſenſchaft hat zunächſt mit 
der Mißgunſt und Eiferſucht ihrer älteren 
Schweſtern zu kämpfen, welche von ihr 
eine Beeinträchtigung ihrer älteren, wohl— 
erworbenen Rechte fürchten, und zwar um 
ſo mehr, je höher die Aufgaben ſind, welche 
ſich der neue Ankömmling ſtellt, je weiter 
der Wirkungskreis, den er für ſich zu 
gewinnen ſtrebt. Da gilt es denn, die junge 
Kraft im harten Kampfe um's Daſein zu 
bewähren und gleich der jungen Keim— 
pflanze im dichtbeſäten Felde, Bodenraum, 
Licht und Luft den neidiſchen Schweſtern 
abzuringen. So hat eine der jüngſten und 
hoffnungsvollſten Wiſſenſchaften, die ver— 
gleichende Sprachforſchung, erſt in heißem 
Kampfe mit den älteren Disciplinen der 
Philologie ſich ihre Geltung erringen müſ— 
ſen. Und ſo iſt auch der Stammesgeſchichte, 
deren Ziele und Wege denen der ver— 
gleichenden Sprachforſchung nahe verwandt 


ſind, jener nothwendige Kampf um's Da- 
ſein nicht erſpart geblieben. 

Als wir vor zehn Jahren in der „ge— 
nerellen Morphologie“ den erſten Verſuch 
wagten, Begriff und Aufgabe der Stam— 
mesgeſchichte feſtzuſtellen, Ziele und Wege 
der Phylogenie abzuſtecken, da begegnete 
dieſer Verſuch faſt überall nur Mißtrauen 
und Achſelzucken, vielfach Hohn und An— 
feindung. Wie will dieſe anſpruchsvolle 
Stammesgeſchichte die Geheimniſſe der or— 
ganiſchen Schöpfung enthüllen? Wie will 
ſie die Abſtammung der zahlloſen Thier— 
und Pflanzen-Geſtalten von einfachſten ge— 
meinſamen Stammformen nachweiſen? Wie 
will ſie den hypothetiſchen Stammbaum 
der Organismen begründen? Und welche 
Urkunden ſtehen ihr bei dieſer praehiſtori— 
ſchen Geſchichtsforſchung zu Gebote? Solche 
und ähnliche Zweifel an der Möglichkeit, 
geſchweige denn am Erfolge der phylogene— 
tiſchen Forſchung wurden überall laut, und 
wer nicht näher mit dem Gebiete der or— 
ganiſchen Morphologie und mit dem un— 
geheuren Metall-Vorrath ihres noch unge— 
prägten Wiſſensſchatzes vertraut war, der 
konnte unſer Beginnen gleich von vornhe— 
rein für hoffnungslos und verfehlt er— 
klären. 

Und wie liegt die Sache heute, nach— 
dem kaum zehn Jahre verfloſſen ſind? 
Nun, wir dürfen wohl mit den Erfolgen 
dieſes erſten Decenniums der Phylogenie 
recht zufrieden ſein und uns das Gefühl 
des entſcheidenden Sieges über unſere Geg— 
ner wohl gönnen! Nicht allein iſt die 
Stammesgeſchichte allgemein in der „Na— 
turgeſchichte“, in der Biologie zu ſelbſtſtän— 
diger Geltung und Anerkennung gelangt, 
nicht allein bilden phylogenetiſche Vorſtel— 
lungen und Grundſätze bereits einen weſent— 
lichen Beſtandtheil der beſten Lehr- und 


m T— 
Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 27 | 


Handbücher, ſondern auch zahlreiche werth— 
volle Special-Forſchungen über einzelne Auf— 
gaben der Phylogenie ſind bereits begonnen 
und haben theilweiſe ſchon die glänzendſten 
Reſultate zu Tage gefördert. Ja, wir er— 
leben ſchon heute den Triumph, daß viele 
unſerer Gegner ſich völlig bekehrt haben 
und den ſchwierigen, von uns zuerſt betrete— 
nen, von ihnen für ungangbar erklärten 
Pfad nunmehr ſelbſt verfolgen. Die tüch— 
tigſten Zoologen und Botaniker aber haben 
die phylogenetiſche Methode einſtimmig an— 
genommen und durch Anwendung derſelben 
bereits Erfolge erlangt, deren ſie ohne die— 
ſelbe nimmermehr theilhaftig geworden wä— 
ren. Ja ſogar die „berüchtigten“ Stamm⸗ 
bäume, deren ſich die phylogenetiſche Spe— 
cialforſchung mit großem Nutzen als des 
einfachſten, klarſten und überſichtlichſten 
Ausdrucks ihrer heuriſtiſchen Hypotheſen 


bedient, find zu unerwartet raſcher Aner- 


kennung gelangt und werden allgemein in 
der Morphologie verwerthet. Zwar fehlt es 
auch heute noch nicht an Stimmen, welche 
alle dieſe phylogenetiſchen Beſtrebungen für 
leere Spielereien halten, und noch kürzlich 
konnten wir aus dem Munde angeſehener 
Phyſiologen hören, daß unſere „Stamm— 
bäume etwa jo viel werth find, wie in 
den Augen der hiſtoriſchen Kritik die Stamm— 
bäume homeriſcher Helden.“ Allein dieſe 
und ähnliche wegwerfende Aeußerungen be— 
weiſen nur, daß die betreffenden Phyſiolo— 
gen mit dem gegenwärtigen Zuſtande der 
Morphologie völlig unbekannt ſind, und 
von deren Inhalt und Bedeutung gar keine 
Vorſtellung haben. Auch iſt zwiſchen den 
Zeilen der ſtille Kummer zu leſen, daß 
die Phyſiologie in ihrer heutigen einſeitigen 
Richtung die Abſtammungslehre nicht zu ge— 
brauchen verſteht, während die Morphologie 
mittelſt derſelben die größten Reſultate er— 


A 


zielt hat. So wenig aber ſolche Ignoranten— 
Urtheile die Bedeutung der vergleichenden 
Anatomie ſchmälern, die ſeit 70 Jahren, oder 
der Syſtematik, die ſeit 140 Jahren feſte 
Wurzel gefaßt und Tauſende fleißiger Arbei— 
ter beſchäftigt hat, ſo wenig wird dadurch 
der Werth der Phylogenie beeinträchtigt, 
welche zugleich das jüngſte und das hoff— 
nungsvollſte Kind der wiſſenſchaftlichen Mor— 
phologie iſt. 

Immerhin iſt auch heute noch die 
Werthſchätzung der Stammesgeſchichte, ſo— 
wohl in den engeren Kreiſen der morpho— 
logiſchen Fachgenoſſen, als auch in den 
weiteren Kreiſen der gebildeten Laien ſehr 
verſchieden, und namentlich gehen die An— 
ſichten darüber weit auseinander, welchen 
Werth die empiriſchen Urkunden der Phy- 
logenie, und welche Sicherheit demgemäß 
die darauf gegründeten Hypotheſen und 
Stammbäume beſitzen. Daher erſcheint es 
wohl angemeſſen, an dieſem Orte einen 
prüfenden Blick auf die Urkunden der 
Stammesgeſchichte zu werfen und zu 
fragen, wie weit wir uns beim Ausbau 
unſerer phylogenetiſchen Hypotheſen auf 
„handgreifliche Thatſachen“ ſtützen können. 
Zwar haben wir unſere Anſichten über 
Werth und Bedeutung der verſchiedenen 
„Schöpfungs-Urkunden“ ſchon in unſerer 
„natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (VI. 
Auflge., 15. Vortrag) und „Anthropogenie“ 
(UI. Auflge., 15. Vortrag) ausgeſprochen. 
Allein gerade in neueſter Zeit gehen die 
Anſichten anderer Naturforſcher darüber 
noch ſehr auseinander und iſt es daher 
nicht überflüſſig, die einſeitige Ueberſchätz— 
ung oder Unterſchätzung der wichtigſten Ur— 
kunden auf ihren wahren Werth zurückzu⸗ 
führen. 

Im Grunde genommen, giebt es eigent— 
lich kein Gebiet der „Naturgeſchichte“, wel— 


28 Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 


ches uns nicht mehr oder minder werth- 
volle Urkunden für unſere Stammesge— 
ſchichte lieferte. Nicht allein alle Zweige der 
Morphologie, ſondern auch verſchiedene 
Zweige der Phyſiologie — z. B. die Cho⸗ 
rologie, die Lehre von der geographiſchen 
und topographiſchen Verbreitung der Or— 
ganismen — liefern uns Thatſachen, welche 
wir mittelbar oder unmittelbar für die 
Phylogenie verwerthen können. Aber vor 
allen anderen Wiſſenſchafts-Zweigen treten 
doch drei als die vornehmſten und wichtig— 
ſten Stammesurkunden in den Vordergrund: 
Die vergleichende Anatomie, Onto— 
genie, und Paläontologie. 

Als die zuverläſſigſte und nächſtliegende 
aller Schöpfungs-Urkunden gilt noch heute 
vielfach die Paläontologie, die Ver— 
ſteinerungslehre. Denn die „Verſteine— 
rungen oder Petrefacten“ von Thieren und 
Pflanzen, die wir in den Sedimentgeſteinen, 
d. h. in den aus dem Waſſer abgelagerten 
Schichten unſerer Erdrinde vorfinden, ſind 
ja wirklich die verſteinerten Reſte oder Ab- 
drücke von jenen längſt ausgeſtorbenen 
Organismen, die vor Hunderttauſenden 
und vor vielen Millionen von Jahren 
unſeren Erdball bevölkerten. Unter dieſen 
müſſen ſich alſo, der Entwicklungslehre 
entſprechend, theils die wirklichen Vorfahren 
der heute noch lebenden Thier- und Pflanzen⸗ 
Arten, theils nähere oder entferntere Ver— 
wandte jener ausgeſtorbenen Vorfahren be— 
funden haben. Daher ſetzen denn auch viele 
Naturforſcher, und namentlich ſolche, welche 
gern möglichſt ſicher und exact gehen wollen, 
aber auch ſolche, welche der Paläontologie 
ferner ſtehen, auf ſie die größten Hoffnungen 
und betrachten fie als die einzige zuver— 
läſſige Urkunde der Stammesgeſchichte. 

Wie höchſt bedeutungsvoll und wichtig 
die Verſteinerungen als die wirklichen „Denk— 


ER A, 


ab Schritt für 


geſchichte vieler 


münzen der Schöpfung“ ſind, das iſt heute 
allgemein anerkannt. Sie allein belehren 
uns unmittelbar über das Auftreten und 
den hiſtoriſchen Formenwechſel der ver— 
ſchiedenen Thier- und Pflanzen-Klaſſen in 
der langen Reihenfolge der Schöpfungs— 
Perioden, die ſich auf Millionen von Jahren 
beziffern. Sie allein zeigen uns handgreif— 
lich, welchen Reichthum verſchiedener Arten 
die einzelnen Gruppen des Thier- und 
Pflanzenreichs in den verſchiedenen Ab— 
ſchnitten der Erdgeſchichte enthalten. Sie 
allein ſetzen uns in den Stand, uns ein 
allgemeines Bild von der charakteriſtiſchen 
Phyſiogonomie der Thier- und Pflanzen— 
Bevölkerung in den verſchiedenen Geſchichts— 
Epochen unſeres Planeten zu entwerfen. End- 
lich werden wir auch allein durch die Ver— 
ſteinerungen darüber belehrt, wie die ſpecielle 
Stammesgeſchichte einzelner Arten und Gat— 
tungen, der detaillirte Stammbaum der 


Species und Genera, Stufe für Stufe und 
- Zweig für Zweig zu verfolgen iſt. So find 
wir z. B. neuerdings durch überraſchende | 


paläontologiſche Entdeckungen in den Stand 


Pferdes bis zu tapirartigen Vorfahren hin— 
Schritt 
Ebenſo können wir auch die Ahnen Reihe 
unſres Rindes und unſres Schweines mit 


zu erkennen. 


geſetzt worden, den Stammbaum unſeres | 


Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 29 


überſchätzt wird. Denn ſo werthvoll 
und unerſetzlich dieſe nächſte und ſicherſte 
aller Schöpfungs-Urkunden einerſeits an ſich 
auch iſt, ſo ſehr verliert ſie andrerſeits an 
Werth durch ihre außerordentliche Unvoll— 
ſtändigkeit. Dieſe beruht theils auf 
der Beſchaffenheit der Organismen, theils 
auf derjenigen der Geſteine, in denen ſie 
uns ihre verſteinerten Reſte und Abdrücke 
hinterlaſſen, theils auf der Natur des Ver— 
ſteinerungs-Proceſſes ſelbſt. Die große 
Mehrzahl aller organiſchen Formen iſt fo 
weich und zart, oder lebt unter ſolchen 
Verhältniſſen, daß fie nur ſelten oder nie 
eine brauchbare Verſteinerung hinterlaſſen 
kann. Ueber zahlreiche Claſſen von Thieren 
und Pflanzen, über die weichen Keime 
und Jugendzuſtände aller Organismen 
erfahren wir daher durch die Palä— 
ontologie Nichts oder faſt Nichts. Aber 
auch die harten und feſten Theile, welche 
allein der Verſteinerung fähig ſind, die 
Skelettheile, ſind in den verſchiedenen Thier⸗ 
gruppen von ſehr verſchiedenem Werthe. 
Daher ſind uns z. B. die Verſteinerungen 
der Wirbelthiere, Weichthiere und Stern- 
thiere ſehr werthvoll, während die ver— 
ſteinerten Ueberbleibſel und Abdrücke der 


meiſten Inſecten, Würmer und Pflanzen- 


I 
| 


thiere (die Korallen ausgenommen) von 


mehr oder minder Sicherheit eine Strecke ſehr geringer Bedeutung find. 


weit ſpeciell verfolgen. 


kalkſchaligen Mollusken, 


Auch die Stammes 


namentlichen der Ammoniten, iſt ſo bis zu 


einem befriedigenden Grade der Sicherheit 


im Einzelnen erkannt worden. 


Aber ſolche glänzende und handgreifliche 


phylogenetiſche Reſultate der Paläontologie 


| 
| 
| 


find leider nur ſehr feltene Ausnahmen, 


phylogenetiſche Urkunden— 


und im Allgemeinen können wir ſagen, daß 
der 


Zu dieſen großen Mängeln der palä⸗ 
ontologiſcen Stammes-Urkunde kommt 
ferner noch der Umſtand, daß alle älteren 
Sedimentgeſteine, alle vor der ſiluriſchen 
und cambriſchen Zeit abgelagerten Forma⸗ 
tionen, ganz oder größtentheils durch den 
Einfluß des glühendflüſſigen Erdinnern in 
einen kryſtalliniſchen Zuſtand verſetzt oder 
„metamorphoſirt“ ſind, ſo daß ſie nur ſehr 
wenige (oder gar keine) erkennbaren Ver⸗ 


Werth der Paläontologie weit ſteinerungen mehr enthalten. Daher dürfen 


PP, 
5 


30 Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 


wir von allen Ablagerungen der lauren— 
tiſchen Periode, jener ungeheuer langen 
Geſchichts-Periode, in der die organiſche 
Welt ſich zu entwickeln begann und bis 
zur Sonderung der größeren Hauptgruppen 
des Thier- und Pflanzen-Reichs vorſchritt, 
überhaupt keinen Aufſchluß von den Ver— 
ſteinerungen erwarten, und ſolche lauren— 
tiſchen Petrefacten, wie das bedeutungsvolle 
und vielbeſprochene Eozoon, find leider nur 
ſeltene Ausnahmen. Uebrigens finden ſich 
auch in vielen anderen Formationen, welche 
zahlreiche Petrefacten enthalten, die letzteren 
in fo ſchlechtem und unkenntlichem Erhaltungs- 
Zuſtande, daß ſie für unſere Stammes— 
geſchichte ohne Werth ſind. 

Dieſe und andere Verhältniſſe, welche 
in der Natur der Organismen und des 
Verſteinerungs-Proceſſes, ſowie in den Be— 
dingungen der Geſteinbildung ſelbſt begründet 
find, drücken die Bedeutung der paläonto— 
logiſchen Schöpfungs-Urkunde außerordent— 
lich herab und nöthigen uns zu der Ueber— 
zeugung, daß wir über die große Mehr— 
zahl der Thier- und Pflanzen-Arten, die 
auf unſerem Erdball gelebt haben, niemals 


etwas durch die Verſteinerungen erfahren 
werden. Freilich iſt bis jetzt kaum der größere 


Theil von Europa und Nord-Amerika ge— 
nauer in Bezug auf ſeine Petrefacten un— 
terſucht; die übrigen Erdtheile ſind größ— 
tentheils noch unerforſcht, und wir dürfen 
erwarten, daß deren genauere paläontolo— 
giſche Unterſuchung uns noch mit ſehr vie— 
len und wichtigen foſſilen Reſten bekannt 
machen wird. Aber in keinem Falle werden 
dieſelben je im Stande ſein, alle jene be— 
dauerlichen Lücken auszufüllen und die 
ganze Stammesgeſchichte auf ununterbrochene 
Reihen von Verſteinerungen unerſchütterlich 
feſt zu begründen. Dazu bedürfen wir 
ganz anderer und überzeugenderer Stammes⸗ 


Urkunden, und dieſe finden wir theils in 
der vergleichenden Anatomie, theils in der 
Ontogenie. 

Die vergleichende Anatomie 
der Thiere und Pflanzen erkennt im in— 
nern Bau derſelben gewiſſe charakteriſtiſche 
Verhältniſſe, namentlich in der relativen 
Lagerung und Anordnung der Organ-Sy— 
ſteme, welche allen Angehörigen einer na— 
türlichen Hauptgruppe, eines „Typus“, ge— 
meinſam ſind, trotz der größten äußeren 
Formverſchiedenheit. Die Zahl dieſer Haupt— 
gruppen oder „Typen“ iſt im Thierreich wie 
im Pflanzenreich nur ſehr gering; hier wer— 
den gewöhnlich nur drei bis vier, dort ſechs 
bis acht Typen unterſchieden. Nur innerhalb 
jedes Typus gilt eine ſtrengere morphologiſche 
Vergleichung aller Körpertheile als zuläſſig; 
nur innerhalb jedes Typus ſpricht man 
von wahrer „Formverwandtſchaft“. Dieſe 
innere und weſentliche Gemeinſamkeit des 
Körperbaues, welche in merkwürdigem 
Gegenſatze zur Mannigfaltigkeit der äuße— 
ren Geſtaltung ſteht, erklärte die ältere ver— 
gleichende Anatomie durch die myſtiſche An— 
nahme einer „Einheit des Bauplanes“ oder 
des Schöpfungsplanes. Seit der Reform 
der Abſtammungslehre hingegen erklären 
wir dieſelbe ganz einfach und naturgemäß 
durch die gemeinſame Abſtammung von 
einer Stammform. Dieſe Stammform 
übertrug alle weſentlichen Characterzüge 
ihres inneren Körperbaues durch Verer— 
bung mehr oder minder getreu auf ſämmt— 
liche Nachkommen, während dieſe durch 
fortgeſetzte Anpaſſung die mannigfaltig- 


ſten Verſchiedenheiten in der äußeren Ge— 


ſtalt und in den unweſentlichen Structur— 
Verhältniſſen erwarben. Jeder „Typus“ 


wird dadurch zu einem „Stamm oder 


Phylum“. Die typiſche Formverwandt— 


ſchaft wird zur realen (durch Vererbung 


bedingten) Blutsverwandtſchaft. Der ver- 
gleichenden Anatomie aber fällt die Auf— 
gabe zu, die wahre Formverwandtſchaft 
von der ſcheinbaren zu unterſcheiden, und 
nachzuweiſen, wieviel von der Aehnlichkeit 
verwandter Formen durch Vererbung von 
gemeinſamen Stammformen, wieviel durch 
Anpaſſung an gleiche Lebens- Bedingungen 
zu erklären iſt. Die morphologiſche Ver— 
gleichung ſondert ſich dadurch ſtrenger in 
Homologie und Analogie. Homolog ſind 
ähnliche Organe, welche aus einer und der— 
ſelben gemeinſamen Stammform durch Um— 
bildung zu verſchiedenen Functionen entſtanden 
ſind; analog ſind ähnliche Organe, wel 
che aus verſchiedenen Stammformen durch 
Anpaſſung an gleiche Funktionen entſtanden 
ſind. Homolog ſind die Bruſtfloſſen der 
Fiſche, die Flügel der Vögel, die Vorder— 
beine der Säugethiere und die Arme des 
Menſchen; 


der Fiſche, der Krebſe und der Floſſen— 
ſchnecken, oder die Vorderbeine der Säuge— 
thiere und Inſecten. 

Nun wiſſen wir ſchon lange, daß in— 
nerhalb jedes Typus oder Phylum (3. B. 
innerhalb des Wirbelthier-Stammes) lange 
Stufen⸗Reihen von niederen zu höheren, 
von unvollkommenen zu vollkommenen, von 
einfachen zu zuſammengeſetzten Formen 
hinführen. Welche lange Reihe fortſchrei— 
tender Entwickelung aller Organe, z. B. 
vom niederſten bis zum höchſten Wirbel— 
thiere, vom Amphioxus bis zum Menſchen! 
Dieſe Stufenreihen find aber nicht einfach, 
leiterförmig, ſondern verzweigt, baumför— 
mig, indem von den einfachen gemeinſamen 
Urformen aus ſich die fortſchreitende Ver— 
vollkommnung nach verſchiedenen Richtun— 
gen hin in verſchiedener Weiſe vollzieht. 
Dieſe baumförmige Anordnung der 


Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 


analog ſind die Flügel der 
Vögel und der Inſecten, oder die Floſſen 


verwandten Formen, welche das Syſtem 
der Thier- und Planzen-Gruppen unter 
der ordnenden Hand der vergleichenden 
Anatomie gewinnt, deutet nun die Ent- 
wicklungslehre in realer Weiſe als den 
Stammbaum derſelben. Freilich iſt die— 
ſer Stammbaum, der das natürliche 
Syſtem der Organismen darſtellt, nie— 
mals mit abſoluter Sicherheit, ſondern im— 
mer nur annähernd feſtzuſtellen; das liegt 
jedoch in der Natur der Sache und vermin— 
dert den Werth deſſelben nicht. 

Darüber gehen nun aber die Anſichten 
der verſchiedenen Morphologen auch noch 
heutzutage ſehr weit auseinander, welchen 
Werth die vergleichende Anatomie für den 
Aufbau des natürlichen Syſtems beſitzt 
und wie weit ſie berechtigt iſt, daſſelbe 
wirklich als hypothetiſchen Stammbaum zu 
geſtalten. Einige ſchreiben ihr hier die 
höchſte, andere die geringſte Bedeutung zu, 
und noch andere, in der Mitte ſtehend, 
wollen ihr einen mittleren Grad von Glaub— 
würdigkeit beimeſſen. Das liegt weſent— 
lich in der verſchiedenen Begabung und 
Faſſungskraft der betreffenden Morpholo- 
gen. Beſchränkte Köpfe und kurzſichtige Bes 
obachter, die ſich immer nur an die nächſt— 
liegenden und greifbaren Thatſachen halten, 
ſind nicht im Stande größere Maſſen von 
verwandten Form-Erſcheinungen fo zu über- 
blicken, wie es die vergleichende Anatomie 
erfordert; ſie können auch nicht das We— 
ſentliche vom Unweſentlichen, das Bedeu— 
tende vom Zufälligen unterſcheiden. Solche 
enge und kleine Geiſter (die dabei vortreff— 
liche Special-Arbeiter und Handlanger der 
Wiſſenſchaft ſein können), werden die Be— 
deutung der vergleichenden Anatomie niemals 
würdigen und ihr die phylogenetiſche Bedeu— 
tung mehr oder minder abſprechen. Hingegen 
wird dieſe voll und ganz gewürdigt werden 


8 


32 


von philoſophiſchen Köpfen und von groß 
angelegten Naturen, welche jenes ganze un— 
geheure Erſcheinungs-Gebiet zu überſehen 
und dabei das Weſentliche vom Zufälligen 
zu ſcheiden im Stande ſind. Dieſe werden 
die vergleichende Anatomie für die wichtig— 
ſte von allen Urkunden der Stammesge— 
ſchichte halten und ihr beim Aufbau des 
natürlichen Syſtems die erſte Stelle an— 
weiſen. 

Aber auch dieſe Schöpfungs-Urkunde, 
ſo werthvoll ſie unſtreitig iſt, hat ihre 
Mängel, und dieſe ſind wieder zunächſt in 
der Un vollſtändigkeit des Materials 
begründet; dann aber auch in der Schwie— 
rigkeit, überall klar Homologie und Analo— 
gie zu unterſcheiden. Sehr viele wichtige 
Verbindungs⸗Glieder zwiſchen heutigen Le— 
bensformen ſind längſt ausgeſtorben und 
wir müſſen die beſtehende Lücke durch Ver- 
muthungen ausfüllen. Sehr viele anatomi— 
ſche Form-Verhältniſſe ſind ſo verwickelt, 
daß ſie überhaupt ſehr ſchwer phylogene— 
tiſch zu erklären ſind. So ſehr wir daher 
auch die Bedeutung der vergleichenden Ana— 
tomie als wichtigſter Stammes-Urkunde 
würdigen, und ſo ſehr wir ſelbſt der An— 
ſicht ſind, daß dieſelbe kaum überſchätzt 
werden kann, ſo ſehr müſſen wir doch an— 
dererſeits vor einer ganz ausſchließlichen 
und einſeitigen Verwendung derſelben war— 
nen. Und wenn neuerdings behauptet wor— 
den iſt, daß der vergleichenden Anatomie 
in phylogenetiſchen Fragen überall das 
erſte Wort und die entſcheidende Stimme 
zukomme, ſo können wir dieſe Anſicht nicht 
theilen. Vielmehr ſind wir der Anſicht, daß 
in vielen — und gerade in vielen der wich— 
tigſten — Fragen von noch höherer Be— 
deutung und von entſcheidendem Werthe die 
dritte unſerer drei Haupt-Urkunden iſt, die 
Ontogenie. 


Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 


Die Ontogenie oder Keimesge— 
ſchichte, wie wir kurz die „individuelle 
Entwicklungsgeſchichte“ nennen, wird in 
ihrem Werthe als Schöpfungs-Urkunde 
heute ſehr oft in ähnlichem Maße unter— 
ſchätzt, wie die Paläontologie überſchätzt 
wird. Ja wir erleben ſogar das ſonderbare 
Schauſpiel, daß viele „Embryologen“, viele 
Special-Forſcher, welche das Studium der 
Keimesgeſchichte zu ihrer Hauptaufgabe ge— 
macht haben, derſelben jeden phylogeneti— 
ſchen Werth abſprechen. Und doch wird 
derjenige, welcher dieſe Wiſſenſchaft mit 
Verſtändniß betreibt, und welcher ſich 
nicht mit der unterhaltenden Beobachtung 
der ontogenetiſchen Thatſachen begnügt, 
ſondern nach ihren phylogenetiſchen Urſa— 
chen fragt, ſicher zu der Ueberzeugung ge— 
langen, daß die Ontogenie zu den wichtig— 
ſten und bedeutungsvollſten Urkunden der 


Stammesgeſchichte gehört. Aber freilich iſt 


hier ebenſo, wie bei der vergleichenden Ana- 
tomie, unerläßlich, die empiriſchen For— 
ſchungen mit philoſophiſchem Geiſte zu be⸗ 
treiben und inmitten der bunten Erſchei— 
nungs⸗Welt nach den gemeinſamen Grund⸗ 
zügen der mannigfaltigen Entwickelungs— 
formen zu ſuchen. Hier wie dort iſt es vor 
Allem erforderlich, das Weſentliche vom 
Unweſentlichen, das Bedeutende vom Zu— 
fälligen ſcharf und klar zu trennen. 

Die phylogenetiſche Bedeutung der On— 
togenie — der Werth der Keimesgeſchichte 
als Stammesurkunde — iſt zunächſt darin 
begründet, daß jeder Organismus bei ſei— 
ner Entwickelung aus dem Ei eine Reihe 
von Formen durchläuft, welche in ähnlicher 
Reihenfolge ſeine Vorfahren im langen 
Verlaufe der Erdgeſchichte durchlaufen ha— 


ben. Die Keimesgeſchichte geſtaltet ſich da— 


her zum Miniaturbilde oder zum Auszuge 
der Stammesgeſchichte. Dieſe Vorſtellung 


3 


— — nennen —ͤ—⸗ — — 


Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 33 


bildet den Inhalt unſeres bio genetiſchen 
Grundgeſetzes, welches wir als das 
wahre „Grundgeſetz der organiſchen Ent— 
wicklung“ an die Spitze der Entwicklungs— 
geſchichte ſtellen müſſen und welches wir 
als das höchſte Erklärungs-Princip für de— 
ren Verſtändniß für unentbehrlich halten. 
Jeder Fortſchritt in der Stammesgeſchichte, 
den unſere Vorfahren durch Anpaſſung 
an neue Lebensbedingungen bewirkten, und 
der eine neue Ahnenform in's Daſein rief, 
wird durch Vererbung in der entſpre— 
chenden Keimesgeſchichte noch heute wieder— 
holt; und wie noch heute jedes organiſche 
Individuum aus einer einfachen Eizelle ſei— 
nen Urſprung nimmt, ſo iſt auch die ge— 
meinſame Stammform aller Arten eines 
Stammes urſprünglich eine einfache Zelle 
geweſen. 

Nun iſt freilich nur in ſeltenen Fällen, 
nur bei wenigen niederen Organismen, die 
Wiederholung (oder Recapitulation) der 


Stammesgeſchichte, die wir in der Keimes- 


geſchichte mit Augen ſehen, ganz vollſtändig. 
In der großen Mehrzahl der Fälle iſt 
dieſe Wiederholung ſtark abgekürzt, oft 
auch abgeändert und ſehr häufig ganz ver— 
unſtaltet. Das liegt daran, daß die jugend— 
lichen Keime ſelbſt von Anbeginn der Ent— 
wicklung an dem umgeſtaltenden Einfluſſe 
der äußeren Exiſtenz-Bedingungen unterlie— 
gen und dieſen ſich anpaſſen. Durch dieſe 
„embryonalen Anpaſſungen“ werden ganz 
neue Bildungs⸗Elemente in den individuel- 
len Entwicklungs-Lauf eingeführt, welche 
den urſprünglichen Entwicklungsgang mehr 
oder weniger abändern. Insbeſondere fin— 
det ſehr häufig — um ſo mehr, je höher 
ſich der Organismus entwickelt — eine 
Abkürz ung der urſprünglichen Wieder— 
holung ſtatt, indem einzelne oder viele Ent- 


wicklungsſtufen ausfallen; anderemale frei- 


lich können auch umgekehrt ganz neue Ge— 
ſtaltungen in die ererbte Geſtalten-Kette 
eingeſchaltet werden. Wir können alle dieſe 
ſpäteren Abänderungen des urſprünglichen, 
palingenetiſchen Entwicklungsganges 
mit einem Worte kurz als „Fälſchungen“, 
als cenogenetiſche Modificationen des— 
ſelben bezeichnen. 

Demnach zerfallen alle Erſcheinungen, 
welche wir im Laufe der individuellen Ent- 
wicklung der Thiere und Pflanzen, von 
der Eizelle an bis zur vollendeten Aus— 
bildung der Geſtalt, wahrnehmen, in zwei 
große Gruppen, in palingenetiſche (oder 
auszugsgeſchichtliche) und incenogenetiſche 
(oder fälſchungsgeſchichtliche) Thatſachen. Nur 
die ontogenetiſchen Thatſachen der Palin— 
genie oder der „Auszugsgeſchichte“ ſind 
unmittelbar als Urkunden der Stammes— 
geſchichte zu verwerthen und auf entſprechende 


— 


Vorgänge in der Phylogenie zu beziehen. 


Hingegen haben die ontogenetiſchen Er— 
ſcheinungen der Ceno genie oder der 
„Fälſchungsgeſchichte“ nicht nur keine ſolche 
phylogenetiſche Bedeutung, ſondern ſind ge— 
rade umgekehrt Irrlichter, deren falſchem 
Scheine zu folgen wir uns wohl hüten 
müſſen. Das biogenetiſche Grundgeſetz müſ— 
ſen wir daher jetzt ſchärfer mit folgenden 
Worten formuliren: „Die Keimesge— 
ſchichte iſt ein Auszug der Stam— 
mesgeſchichte; um ſo vollſtändi— 
ger, je mehr durch Vererbung die 
Auszugsentwicklung beibehalten 
wird, um ſo weniger vollſtändig, 
je mehr durch Anpaſſung die 
Fälſchungsentwicklung eingeführt 
wird.“ Wie das fo formulirte Grund— 
geſetz der organiſchen Entwicklung ſeine 
Verwendung findet, und wie wir mit ſei— 
ner Hülfe aus den unmittelbar zu beob— 
achtenden Erſcheinungen der Keimesgeſchichte 


TEE u 


RER, 

Filet 
ar 
3 


1 
nn 


. 


Häckel, Urkunden der 


die wichtigſten Schlüſſe auf die hypotheti— 
ſchen Vorgänge der Stammesgeſchichte zie— 
hen können, das haben wir uns bemüht an 
dem Beiſpiele des Menſchen in unſerer 
„Anthropogenie“ nachzuweiſen. 

Wenn wir nun auch demgemäß die 
Ontogenie oder die Keimesgeſchichte für die 
wichtigſte und unentbehrlichſte von allen 
Urkunden der Stammesgeſchichte halten, ſo 
wollen wir damit doch keineswegs den ho— 
hen Werth ſchmälern, welchen auch die an— 
deren Urkunden und vor allen die ver— 
gleichende Anatomie beſitzen. Ohne die 
Hülfe der letzteren würden wir die Er— 
ſcheinungen der Keimesgeſchichte nicht ent— 
fernt ſo klar zu verſtehen und ſo ſicher zu 
verwerthen im Stande ſein, wie es that— 
ſächlich der Fall iſt. Vergleichende 
Anatomie und Ontogenie ergän— 
zen ſich gegenſeitig in der glücklichſten 
Weiſe und füllen ihre Lücken wechſelſeitig 
aus. Wenn daher neuerdings einige Mor— 
phologen ausſchließlich die vergleichende 
Anatomie und andere die vergleichende 
Keimesgeſchichte als einzige ſichere Urkun— 
de der Stammesgeſchichte betrachten, ſo 
müſſen wir beide Standpunkte für gleich 
einſeitig und mangelhaft halten. Nur durch 
volle und gleichmäßige Berückſichtigung bei— 
der Haupturkunden werden wir in den 
Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte der 
Organismen zu erkennen. Freilich ſetzt das 
aber voraus, daß man mit den reichen 
empiriſchen Schätzen beider Wiſſenſchaf— 
ten gleichmäßig vertraut iſt, und das iſt 
eben bei jenen einſeitigen Naturforſchern nicht 
der Fall. 

Soviel ſteht gegenwärtig unzweifelhaft 
feſt, daß uns für den Ausbau der Stam— 
mesgeſchichte ein äußerſt reichhaltiger Schatz 
von empiriſchen Urkunden, von ſicheren Er- 
fahrungs-Kenntniſſen zu Gebote ſteht, der 


Stammesgeſchichte. 


nur gehoben und verwerthet zu werden 
braucht, um in ſeiner vollen Bedeutung 
erkannt zu werden. Nicht darum handelt 
es ſich, neue und unbekannte Quellen für 
die Stammesgeſchichte der Organismen — 
und alſo auch des Menſchen — zu ent- 
decken, ſondern darum, die vorhandenen 
Quellen zu verſtehen und auszubeuten. 
Reichere und bedeutungsvollere Quellen als 
die vergleichende Anatomie und Ontogenie 
werden niemals entdeckt werden, und mit 
ihrer Hülfe allein ſchon find wir im Stan— 
de, die neue Wiſſenſchaft der Phylogenie 
zu begründen, ſelbſt wenn wir ganz auf 
die weniger bedeutenden Quellen verzichten, 
welche uns aus der Palaeontologie, aus 
der Chorologie und anderen Hülfswiſſen⸗ 
ſchaften fließen. Wenn aber Manche — 
und darunter ſelbſt einzelne namhafte Na⸗ 
turforſcher — meinen, daß die ganze 
Stammesgeſchichte ein Luftſchloß und die 
Stammbäume leere Phantaſie-Spiele ſeien, 
ſo bekunden ſie damit nur ihre Unkenntniß 
jener reichen empiriſchen Erkenntniß-Quel⸗ 
len. 

Ziele und Wege der Phylogenie 
ſind dieſelben, wie die der Geologie. 
Und wie ſich die „hypothetiſche“ Ent— 
wickelungsgeſchichte der Erde auf Grund 
ihrer empiriſchen Urkunden zu einem eben 
jo feſten als glänzenden wiſſenſchaftlichen 
Hypotheſen-Bau geſtaltet hat, fo wird das— 
ſelbe auch ihrer jüngeren Schweſter, der 
Stammesgeſchichte der Organismen gelingen. 
So wenig als die letztere, ſo wenig kann 
und wird ſich auch jemals die erſtere zu 
einer wirklich „exacten“ Naturwiſſenſchaft 
geſtalten. Denn die hiſtoriſchen Vorgänge, 
deren Zuſammenhang beide Wiſſenſchaften 
zu ergründen ſtreben, haben ſich viele 
Millionen von Jahren hindurch vollzogen 
und ſind unſerer unmittelbaren Beobachtung 


Kr fe, naunden der Siammesgesißte > 95 1 


Er entrückt. Daher find. ſowohl die 
| gie als die erden der Natur 


Henker heute 1 5 anerkannt und für 
die Entwickelungsgeſchichte des Erdballs be⸗ 
nutzt wird, ſo vollzieht ſich auch täglich 


s die Anerkennung des unſchätzbaren 


Werthes, welchen unſere morphologiſchen 
Urkunden für die Stammesgeſchichte der 1 
Organismen beſitzen. 


aum ein andrer Gegenſtand des 
„T emenſchlichen Sinnens iſt beſſer 
I dazu geeignet, den Werth einer 
einheitlichen Weltanſchauung 
und die Fortſchritte der letzten 
Jahre! in derſelben lebendig vor unſer Auge 
zu führen, als eine Betrachtung der wiſſen— 
ſchaftlichen Behandlung obengenannter Grund— 
probleme vor einigen hundert Jahren. Ich 
meine nicht die rein theologiſche Behandlung 
dieſes Gegenſtandes, denn der Buchſtaben— 
glaube hat für derlei ſchwierige Fragen zu allen 
Zeiten mit gleicher Leichtigkeit die Antwort ge— 
funden, ich denke vielmehr an das redliche 


Ueberlieferung, Verſtand und Befund mit ein— 
ander in Harmonie zu bringen. In dieſer Bes 
ziehung ſcheint mir ein Buch von Abraham 
Milius, welches unter dem Titel: de 
origine animalium et migratione popu- 
lorum, d. i. Merckwür diger Diskurß 
von dem Urſprung der Thier und 
Außzug der Völcker im Jahre 1670 
zu Salzburg und zwar mit hoher Appro- 
bation des dortigen Erzbiſchofs erſchienen 
iſt, eine eingehende Betrachtung zu ver— 
dienen, einmal, weil es, wie kein andres 


Se 


Bemühen und geiſtige Ringen ehrlicher Leute, 


Achöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 


Von 


Carus Sterne. 


Buch, zeigt, zu welchem Flickwerk die Welt⸗ 
anſchauung herabſinkt, wenn Vernunft und 
Ueberlieferung einander Complimente und 
Zugeſtändniſſe machen, beſonders aber, weil 
es den mächtigen Eindruck ſpiegelt, welchen 
die Entdeckung Amerika's und Auſtraliens 
mit ihrem Reichthum unbekannter Thiere 
und Pflanzen auf die herkömmliche Welt— 
anſchauung übte, die ſelbſt durch die Ent— 
deckungen des Kopernikus und Kepler 
nicht aus ihrem mehrtauſendjährigen Schlum—⸗ 
mer geſchreckt worden war. 

Ich bemerke, daß das urſprünglich in 
lateiniſcher Sprache geſchriebene Buch mir 
nur in der deutſchen Ueberſetzung des öſter— 
reichiſchen Kreisphyſikus Chriſtoph Bitter— 
kraut, die grade vierhundert Druckſeiten 
umfaßt, zugänglich war, wobei in Anbe— 
tracht des damaligen, überaus freien, ja 
willkürlichen Ueberſetzer-Verfahrens vielleicht 
mancher Widerſpruch des Textes auf den 
Collaborator geworfen werden darf. Ueber 
Stand und Leben des Autors, ſowie über 
das Erſcheinungsjahr des Originals habe 
ich leider nichts in Erfahrung bringen kön⸗ 
nen. Zunächſt überraſcht es uns ebenſo 
unvermuthet als angenehm, in einem von 


der kirchlichen Behörde gebilligten Buche 
des ſiebenzehnten Jahrhunderts einer viel 
freieren Bibelauslegung zu begegnen, als 
ſie heute in denſelben Kreiſen für erlaubt 
gelten würde. Der Verfaſſer beginnt viel— 
verſprechend mit einer Lobrede auf die 
menſchliche Vernunft, die ſich weder treiben, 
noch anfeſſeln laſſe, ſondern unbeirrt ihrem 
Ziele „das Verborgene herfür und an den 
Tag zu bringen, das Unbekannte zu er— 
forſchen“ nachgehe. Von denen, welche ſich 
„dieſes ſo köſtlichen, ihnen ertheilten, ja 
gleichſam angeerbten Vorzugs über alle 
andere Thier“ nicht bedienen, wird ge— 
ſagt, ſie ſchlöſſen „ſich freiwillig ein, in die 
Enge der Unfähigkeit und Unwiſſenheit der 
groben unvernünftigen Thiere, von welchen 
ſie wenig oder gar nichts unterſchieden ſein.“ 
Unter den Gegenſtänden, deren Erforſchung 
der menſchlichen Vernunft nahe liegen, wird 
als eine der vornehmſten bezeichnet: „Wie 
nemblichen, auf was Weiß und Manier, 
ſowohl die Menſchen als auch alle 
andern Thier, anfänglich entſprungen und 
hernach in die ganze Welt, auch alle dero— 


Auffenthalt darinnen zu nehmen, kommen 
ſeyen?“ 
faſſer an einer andern Stelle, dergleichen 
Fragen etwas fürwitzig, wie wohlen ſie 
nicht gar ohne Grund zu ſeyn ſcheinen.“ 
In obigen Worten fällt als für ſeine Zeit 
unerhört auf, daß der Verfaſſer von „Men- 
ſchen und andern Thieren“ redet, alſo den 


REG, * 5 


5 zwiſchen beiden ein ſcharfer Unterſchied ge 
= macht. 

* Wir ſind leicht geneigt anzunehmen, 
% daß die Anſchauung eines Linné, Cuvier 


we 
= 


Carus Sterne, Schöpfungsgefchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 


ſelben Theil, ſolche zu bewohnen und ihren 


„Es ſeynd aber,“ ſagt der Ver- 


Menſchen zu den Thieren rechnet, denn 
grade hinſichtlich der Schöpfungsfrage wurde | 


und A gaſſiz, nach welcher der Schöpfer 
jedes lebende Weſen, Pflanze wie Thier 


37 


und Menſch mit eigenen Händen gebildet 
habe, die urſprüngliche Lehre der Kirche 
geweſen wäre. Dieſe Anſicht wäre aber 
vollkommen falſch. Die chriſtliche Kirche 
hat ſeit dem Beginne der Dogmatik den 
Vorzug, unmittelbar aus den Händen des 
Schöpfers hervorgegangen zu ſein, aus— 
ſchließlich dem Menſchen vorbehalten, und 
die Annahme eines ähnlichen Urſprungs der 
Pflanzen und Thiere im Gegentheil als 
falſch und der Bibel widerſprechend bezeich— 
net. Der heilige Ambroſius und Baſi— 
lius der Große kamen in ihren, dem 
Sechstagewerk (Hexasmeron) gewidmeten 
Betrachtungen bereits zu dem Schluſſe, die 
Bibel⸗Worte: „Es laſſe die Erde aufgehen 
Gras und Kraut“ und „es errege ſich das 
Meer, und die Erde bringe hervor leben— 
dige Thiere aller Art,“ habe man ſo zu 
verſtehen, Waſſer und Erde ſeien ſeitdem 


und Pflanzen aller Art zu erzeugen, und 
dieſe Kraft dauere ſeitdem fort, ſo daß 
noch jetzt immerfort neue Pflanzen und 
Thiere ohne Eltern entftehen könnten. Ja 
man ging jo weit, zu jagen, daß die Schöpf⸗ 
ung am ſechſten Tage noch lange nicht voll— 
zählig geweſen ſei, und daß insbeſondere 
die Juſekten und alle kleineren Thiere, welche 
aus dem „Schweiße, der Ausdünſtung und 
der Fäulniß“ entſtehen, erſt viel ſpäter hin— 
zugekommen ſeien. Cornelius a Lapide 
rechnete ſogar die Mäuſe zu dieſen Epigonen 
der Schöpfung. 

Bei dieſer äußerlichen Uebereinſtimmung 
der chriſtlichen mit den heidniſchen Philo- 
ſophen kann es uns nicht verwundern, in 
dem erwähnten Buche Beweiſen dieſer fort⸗ 
dauernden Schöpfung zu begegnen; es wird 
uns gelehrt, wie man aus mit Mai Thau 
befruchteten Raſen Aale ziehen könne, um 
ſeine Teiche zu beſetzen; wie man aus 


mit der Fähigkeit begabt geweſen, Thiere | 


38 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 


Krebsſcheeren Skorpione ziehen könne, der aus 
verweſenden Körpern entſtehenden Inſekten— 
ſchwärme nicht zu gedenken. 
war vollkommen mit dieſer Auffaſſung ein⸗ 
verſtanden, ja ihre Parteinahme für die 
Selbſtzeugungshypotheſe ging ſo weit, daß 
fie, als der engliſche Prieſter Jean Tur 
berville Needham 1743 die Ent⸗ 
wicklung der ſogenannten Weizenälchen be— 


obachtete, nichts dagegen hatte, daß dieſer 


die Bibel dahin deutete, auch Adam ſei in 


ähnlicher Weiſe von der ſchöpferiſchen Erde 
hervorgebracht worden, und Eva aus ſeinem 
Körper wie die Knospe eines Polypen her- 


vorgeſproßt. Ja, noch mehr, als Francis— 
cus Redi um's Jahr 1674 in Florenz 


im faulen Fleiſche ausſprach, da er beob— 
achtet hatte, daß dieſelben in Form von 
Eiern in daſſelbe gelangt ſeien, ſchrie die 
Geiſtlichkeit über Ketzerei, da ja im Buche 
der Richter von der Eutſtehung eines Bienen— 
ſchwarms aus dem Aaſe eines Löwen die 
Rede ſei. So ändern ſich die Standpunkte! 

Unſer Autor wäre ganz einverſtanden 
mit der Lehre des heilige Baſilius, daß 
die Pflanzen und wilden Thiere nicht nur 
erſtmals durch die der Erde eingepflanzte 
Kraft „herfür kommen ſeien, ſondern daß 
ſolche auch heutigen Tages auf gleiche Weiß, 
annoch von der Erden ihren Urſprung 
nehmen und haben,“ aber dem Manne, der 
ſeine Vernunft auch auf Glaubensſätze an— 
wenden zu müſſen glaubte, fiel es ſchwer 
auf's Herz, wie nun dieſe orthodoxe Lehre 
von der Selbſtentſtehung der Thiere mit 
der Noahſage in Einklang zu bringen wäre. 
„Wann deme alſo, daß nemblichen die wil— 
den Thier, wie auch das zahme Viehe, auß 
angebohrner und eingepflanzter Kraft der 
Erden, für ſich hätten herfür kommen kön⸗ 
So würde der Allmächtige Gott dem 


nen. 


Die Kirche 


Nos nicht anbefohlen haben, die Thier zu 


ſich in die Archen zu nehmen,“ ruft er mit 
wohlberechtigten Gewiſſenszweifeln. 

Es iſt ſehr lehrreich zu ſehen, wie in 
der Mitte des ſiebenzehnten Jahrhunderts 
ein ſonſt durchaus ſtrenggläubiger Chriſt, 
der die Frage, zu welcher Jahreszeit die 
Welt eigentlich erſchaffen ſei, einer einge— 


henden Unterſuchung werth hält und dem 


] 
| 


holden Frühling dieſen Vorzug ertheilt, 
zwiſchen Buchſtabenglauben und Vernunft 
entſcheidet. Er verwirft unbedenklich den 
erſteren und folgt der letzteren. Man 
könne, ſagt er ungefähr, doch nicht glauben, 


daß Noah mit ſeiner Familie ſich alles 
Ungeziefers angenommen habe, nur damit 
Zweifel an der Selbſtzeugung der Maden 


es in der Fluth nicht umkomme, ſondern 
ihn und die Menſchen weiterplage. Es 
ſei auch gar nicht abzuſehen, wie er während 
der langen Dauer der „Sündfluth“ die reißen- 
den Thiere hätte ernähren und ſie abhalten 
können, die zahmen und nützlichen zu ver— 
zehren. Der heilige Origines ſei zwar zu 
dem Schluſſe gekommen, daß man die wilden 
Thiere hübſch abgeſondert habe, und der 
heilige Auguſtin habe gejagt, die Wildheit 


ſei ihnen für dieſe Zeit benommen worden, 


aber, meint der Autor, ohne weiteres Mi— 
rakul und Wunderwerk könne das doch nicht 
zugegangen ſein, denn die wilden Thiere 
hätten doch Lebensunterhalt haben müſſen. 
„An dieſem iſt ſehr ſtarck zu zweiffeln; denn 
ſo dieſem alſo wäre, hätte man nicht par 
und par von den unreinen, auch ſieben 
und ſieben von dem reinen Vieh, wie der 
heilige Text ſaget; ſondern deren eine große 
Menig, in die Archen auff und einnemben 
müſſen“, es ſei denn, ſetzt er zur Beruhigung 
der Gemüther hinzu, daß ſie durch ein 
Mirakul faſten gelernt oder Speiſe erhalten 
hätten. Sein beſondres Dafürhalten ſpricht 
er wiederholt dahin aus, daß „der fromme 


1 8 f 1 Ex 0 
1 


Noé nur allein das einheimiſche zahme 
Vieh zu ſich in die Archen genommen 
habe“, damit die Mühe der Zähmung nicht 
verloren gehe, und der Schaden der Sünd— 
fluth noch größer werde, „die ſchädlichen 
und grimmigen Thiere aber ſeien auß der 
Erden auffs new wieder herfürgekommen“. 

Daß aber Thiere neu entſtehen könnten, 
ſchließt der Verfaſſer auch daraus, daß wir 
ja häufig Thieren begegnen, die ganz ſicher 
nicht von Gott erſchaffen ſeien, und doch 
beſondre Form und Leben hätten, nämlich die 
Baſtarde, wie Maulthier, Luchs und Leopard, 
die aber darum auch das Gebot des Schöp— 
fers: Seid fruchtbar und mehret euch! 
nicht erfüllen könnten. Man hielt bekannt— 
lich ehemals den Luchs für einen Baſtard 
von Wildkatze und Wolf, den Leoparden 
für einen ſolchen vom Löwen und Panther. 
Der Verfaſſer nimmt das Vorkommen der 
Baſtarde für einen ſo wichtigen Beweis 
dafür, daß die Schöpfung nicht inumediate 
geſchehen ſein könne, daß er eine Unterſuchung 
darüber anſtellt, wer zuerſt Maulthiere ge— 
züchtet habe und zu dem Schluſſe kommt, 
es ſei Ana, des Sibon Sohn, ein Idumeer 
geweſen, der zu den Zeiten Jacobs und 
Eſau's die Hausthiere um dieſes zweideutige 
Weſen vermehrt habe. 

Das Hauptbedenken unſeres freiſinnigen 
Bibelauslegers gegen die Noah-Sage ent— 
ſprang aber der Unmöglichkeit: „daß zu 
Nos, alle Thier, von den äußerſten Gräntzen 
und Orten Americae, wie auch auß Magella- 
nica, hätten können gebracht, und in die 
Archen genommen werden; da doch deren 
Arten und Geſchlechte vorhero, weder in 
Aſien, Armenien, noch andern, dieſen nächſt 
angelegnen Ländern zu ſehen, noch zu finden 
waren.“ Dieſe Betrachtung führt den 
Verehrer der Vernunft weiter zu einem 
heftigen Kopfſchütteln zu der Sage von dem 


Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 


39 


Paradieſe als Schöpfungsmittelpunkte, in 
welchem Adam allen Thieren ihren Namen 
gegeben haben ſollte. Eine Menge nie ge— 


ſehener Pflanzen und Thiere war damals 


aus Amerika herübergebracht worden, und 
erregten den Bibelgläubigen ſchwere Zwei— 
fel. Nicht alle waren ſo gefällig wie die 
Maler, die alsbald Truthahn und Sonnen— 
blume in den Paradiesgarten Adam's auf- 


nahmen, als wären ſie dort von Anbeginn 


gepflegt worden. Den großen Eindruck jener 
Bereicherung der Paradiesgärten (wie man 
ehemals bekanntlich die zoologiſchen und bota— 
niſchen Gärten nannte) ſchildern Milius— 
Bitterkraut unter Andern mit folgenden 
Worten: „Mein Gott! Wie verwundern 
wir uns nicht darob, wann wir dergleichen 
ſeltzame Thier, auß ſo fern entlegenen Or— 
ten zu ſehen bekommen? Wie genau be— 
trachten wir alle ihre Lineamenten, Geſtalt, 
Haarfarben, ja gantze Leiber! Als ob ſie 
vom Himmel herabgefallen wären? — — 
— — Was wollen wir überdas, von ſo 
vielen unterſchiedlichen Gewächſen, Bäumen, 
Wurtzen und Saamen ſagen?“ 

Die Strenggläubigen machten es ſich 
wie immer bequem; ſie erklärten ohne 
Weiteres den kanadiſchen Lebensbaum, weil 
er die merkwürdige Eigenſchaft hat, ſchein⸗ 
bar in jedem Frühjahr neu aufzuleben, für 
den lange geſuchten, in Europa ausgegange— 
nen Lebensbaum des Paradieſes; in dem 
braſilianiſchen Guajakbaume wollten noch 
kühnere Combinatoren ſogar den Baum 
der Erkenntniß erkennen, aus deſſen heiligem 
Holze das Kreuz Chriſti gefertigt wurde; 
die auf Südamerika beſchränkten Paſſions— 
blumen ſollten urſprünglich auf Golgatha 
entſproſſen fein u. ſ. w. Von den Fiſchen 
und Vögeln wie von den Pflanzenſamen 
lag es nahe, zu ſagen, ſie ſeien durch Luft 
oder Waſſerſtrömungen aus der alten Welt 


40 


nach der neuen hingeführt worden, reſp. 
hingeſchwommen und hingeflogen. „Aber 
fein ſachte,“ ruft der beſonnene Kritiker den 
orthodoxen Heißſpornen zu, „man erwege 
dieſes ein Wenig beſſer, und übereile ſich 
diß Orts nicht allzuſehr. Dann, Lieber! 
gibet es nicht viel unter Gevögel, welche 
ſehr grobe, dike, harte und ſchwere Federn 
haben, auch im fliegen ſehr langſamb und 
träg ſeynd? Ja, was noch mehrerſt iſt, 
die vor dem Waſſer ein Abſcheuen tragen, 
daß ſie ſich auch nicht getrawen, einen von 
zwölf Schritten breiten Waſſerfluß, oder 
auff das meiſte eine kurze viertl Meil zu 
überfliegen? Ich geſchweige anjetzo derjenigen, 
die gar nicht fliegen können, als da ſeynd 
Straußen, Trappen und derley Geflügel 
mehr? Wie ſollten ſie dann erſt, das 


Meer Aniam und andre, etliche Meilen 


breite Ström' und Flüſſe, haben überwan— 
dern können?“ 

Daß man bei Seefiſchen, die ſich aus- 
ruhen können, die Möglichkeit ſo weiter 
Wanderungen zugeben müßte, empfindet der 
Verfaſſer und greift hier zu einem andern 
Gegenbeweiſe: „Es laſſen überdieß die Fiſche, 
(wie auch alle andern Thier) nicht gern von 
ihrem Orth, oder gewöhnlichen Wäſſern, 
allwo ſie ihren Stand, Weſen und Auffent— 
halt haben; ſondern es bleibet eine jedwe— 
dere Art derſelben am allerliebſten in ſeinem 
eigenen Waſſer oder Bach. Wie dann ge— 
meiniglich ein jeder Fluß, ja ſogar die 
kleinen Bächlein, ihr eigene abſonderliche 
Fiſch haben, worinnen ſie friſch und geſund 
bleiben, herentgegen aber in andern nicht 
gut thun, ſondern bald abſtehen.“ Natür- 
lich machen die Landreptile und Landſäuge— 
thiere, denen er vergeſſen hat, die Süß— 
waſſerthiere anzureihen, die Stärke dieſer 
Gruppe von Argumenten aus. „Zu deme 
ſo giebet es auch viel Thier auff Erden,“ 


Carus Sterue, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren 


hebt er an, „welche ihnen zu ſchwimmen 
gar nicht getrawen. Es möchte aber viel— 
leicht einer einwerffen und ſagen, daß man 
dergleichen vierfüſſige Thiere, auß unſern 
Landſchaften, in die Occidentaliſche Indien 
mit Schiffen übergebracht habe; Aber wie 
ungereimbt und unbedachtſamb iſt dieſes, auch 
wie ſchwer zu glauben? Dann wer hätte 
doch wollen ſo unbehutſamb, ja ganz aber⸗ 
witzig ſeyn, daß er Löwen. Beeren, Tiger, 
Panterthier, und dergleichen grauſame Beſtien 
mehr, hätte neben ſich gedulden, dero grau— 
ſamen Natur und Eigenſchafft ſich anver— 
trawen, und ſolche zu Schiff überbringen 
wollen? Welches fürwahr nichts anderes 
wäre, als gifftige Schlangen und Nattern, 
in ſeinem eigenen Buſen auffziehen wöllen.“ 

Der umſichtige Kritiker, dem bereits 
eine klare Ahnung von der Thier- und Pflan⸗ 
zengeographie aufgegangen war, belehrt uns 
ſodann, daß dieſer Verſuch, wenn man ihn 
machen wolle, wahrſcheinlich fehlſchlagen 
würde. Er verweist auf die negativen Er- 
fahrungen, die man gemacht, als man ver- 
ſuchte „unterſchiedliche Arten von zahmen 
Viehe über See nach Neu-Franckreich, ſonſten 
Canada genannt“ zu bringen. Sie hielten 
theils die Seereiſe nicht aus, theils ſchlug 
der mit gutem Vertrauen gemachte Verſuch, 
die Thiere an das fremde Klima zu ge— 
wöhnen, ſchon bei den Hausthieren fehl, 
die doch viel mehr Kosmopoliten ſind, als 
wilde Thiere. 

„Aber,“ ſo unterbricht der Verfaſſer 
dieſe Annahmen von Möglichkeiten, die faſt 
unmöglich erſcheinen, „wir wollen derley 
blinde Einfäll beyſeits ſetzen; auch nur bloß 
allein diſes allen Gelehrten zu betrachten 
überlaſſen, und ſolche wohlmeinend befragen: 
Ob ſich nicht in dieſen Oceidentalischen In⸗ 
dien, viel und mancherley Arten, ſo wohl 
grauſammer, frecher und wilder, als auch 


zahmer Thier befinden, dergleichen weder 
in Asia, Europa und Africa von dem es 
ſonſten heißet: Africa semper aliquid novi, 
jemahlen geſehen noch von den Alten Ge— 
ſchichtsſchreibern, darvon etwas Schrifftliches 
hinterlaſſen worden?“ Daſſelbe gilt von 
den Vögeln, Fiſchen und Pflanzen jener 
Länder: „Zudem ſo gibt es auch in America, 
Mexiko, Perü und Magellanica derley 
Arten Gevögels, die weder in Aſien oder 
Europa jemahlen geſehen worden ſeynd, ehe 
und bevor ſolche von dort auß mit Schiffen 
zu uns gebracht worden.“ 

„Allhier aber möchte einer wiederum 
fragen und ſagen: Weilen dann auß Asien 
als einer und zwar der erſten Zeuge-Mutter, 
ſo wol der Menſchen als auch aller andern 
Thier und Gewächſen, nichts in die andre 
Theil der Welt, als Akricam, Europam 
und Americam gebracht worden, warumben 


iſt dann von allen dieſen Sachen, ſelbiger 


Orten ein ſo großer Ueberfluß? Hierauff 
aber gibe ich dieſe Antwort, ſo villeicht, 
andern etwas ſeltzam vorkommen möchte, 
und ſage; Daß eben der jenige, welcher alle 
Thier, auch allerhand Gewächſe erſchaffen, 
und in Aſien, umb die Gegene Eden ge— 
pflantzet hat; Auch dergleichen in America 
gewürket, und alldorten allerley Sorten der 
Kräuter, Blumen, Bäume, Saamen, Wur— 
tzen und Thier mit gleicher Macht herfür 


gebracht, und mit eben dem Seegen und 


Benedeyung, ſich zu vermehren, begnadet 
habe.“ 

So hat ſich nun unſer freimüthiger 
Ausleger der moſaiſchen Tradition für die 
Annahme zahlreicher Schöpfungsmittelpunkte 
ausgeſprochen, und ſelbſt die ausdrückliche 
Angabe der Bibel, daß alle Thiere zu 
Adam gebracht worden ſeien, daß er jedem 
ſeinen Namen beilege, kann ihn in ſeiner 
Ueberzeugung nicht irre machen, daß die 


Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 41 


amerikaniſchen Thiere auf dem amerikaniſchen 
Boden, und die Bewohner der oceaniſchen 
Inſeln eben auf dieſen „großen und kleinen 
Inſuln des Meeres“ heimiſch ſeien, auch 
niemals nach Aſien gekommen ſein könnten. 
Dieſe ſeine Ueberzeugung, ruft er mit Virgil, 
ſtehe ſo unerſchütterlich: „wie das harte 
Geſtein, und wie marpeſiſcher Marmor!“ 
Man erkennt, wie tief der Eindruck jener 
unerſchöpflichen Mannigfaltigkeit des Thier— 
und Pflanzenlebens der neuen Welt ge— 
gangen war. Der Irrthum der ehemaligen 
Zoologen und Botaniker, daß die Pflanzen 
und Thiere im Allgemeinen überall dieſelben 
ſeien, ſo daß ſie z. B. die Pflanzen des 
Theophraſt und Dioskorides am Rheine 
und in Belgien ſuchten, dieſer Irrthum, der 
eine unendliche Literatur und eine unglaub— 
liche Verwirrung in die Nomenklatur gebracht 


hat, war endlich auf den Ausſterbe-Etat 


geſetzt worden. 

Mit den menſchlichen Bewohnern Ame— 
rikas macht Milius, wie es die heutige 
Wiſſenſchaft ja auch thut, eine Ausnahme. 
Er hält ſie nicht „wie die alten Egypter 
und Athenienſier von ſich rühmten, für Au- 
thochtones und Aborigines, die den 
Pilzen und denen Heuſchrecken gleich, ohne Vat— 
ter und Mutter, auß Kott und Letten ihren 
Urſprung überkommen.“ Leider können wir 
nicht ſagen, daß der ſcharfſichtige Mann, 
wie die Forſcher unſerer Zeit, durch ethno— 
logiſche und anatomiſche Gründe zu dieſer 
Erkenntniß gelangt war; es waren vielmehr 
verzwickte theologiſche Gründe, welche das 
von Zweifeln gepeinigte Gemüth zu dem 
Schluſſe trieben, hierin den Menfchen „von 
den andern Thieren“ getrennt ſeinen Weg 
ſuchen zu laſſen. Milius konnte ſich 


ebenſowenig wie die meiſten andern Ge— 
lehrten der Zeit, vorſtellen, daß dem Moſe 
und andern Propheten des alten und neuen 


ni, * „r eee 
en ra et 


7845 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 


Teſtamentes das Daſein der halben Welt 
unbekannt geweſen ſein ſollte; ſie ſuchten 
alſo Anführungen in der Bibel, die ſie 


auf die neue Welt beziehen könnten, und 


fanden, wie man immer findet was man 
ſucht, ſolche Beweiſe in genügender Auswahl. 


Aber keiner derſelben reicht vor die „Sünd⸗ 
fluth“ zurück, und man meinte deshalb, die 
alte Welt ſei vorher nicht ſo übervölkert 


geweſen, um zu einer Auswanderung nach 
der neuen zu zwingen. 


auf andern Inſeln geweſen, ſo wird un— 
fehlbar gefolgert, daß dort auch keine Sünder 
geweſen ſein können: „Muß alſo wahrhaftig 
dafür gehalten werden, daß die Sündfluth 
nit alle Orth der Welt, abſonderlich aber 
America, Magellanica und etliche andre 
Inſuln, keineswegs getroffen habe.“ Dies 
wird auch daraus geſchloſſen, daß die dieſen 
Ländern eigenthümliche, von der altweltlichen 
durchaus verſchiedene Flora und Fauna 
ſonſt keine Erneuerung gefunden haben 
würde, da der Schöpfer ſeit dem ſiebenten 
Tage ruhe. Dieſes Argument ſteht der— 
maßen im Widerſpruch mit den früher an— 
geführten Meinungen des Milius über 
den Urſprung der Pflanzen und Thiere, 
daß man es wohl vorläufig für ein Ein— 
ſchiebſel des Ueberſetzers halten darf. 

Es iſt nicht unintereſſant, zu ſehen, 
daß man damals ſogleich den Weg über 
Japan in's Auge faßte, der auch jetzt noch 
als der wahrſcheinlichſte gelten muß, obwohl 
man ſeit dem Jahre 1728 durch Behrings 
Entdeckung weiß, daß beide Welttheile durch 
eine ziemlich breite Waſſerſtraße getrennt 
ſind, während man früher einen Zuſam— 
menhang im Norden annahm. Schon 
Joſeph a Coſta einer der älteſten Ge— 
ſchichtsſchreiber Amerikas ließ ſeiner Phantafie 
auf dieſem Wege die Zügel ſchießen, indem 


0 


Da nun vor der 
Sündfluth keine Menſchen in Amerika und 


er die Straße verfolgte, auf welcher die 
Urmenſchen vom Indus und Ganges aus 
über China und Japan nach Amerika ge— 
kommen und dort bis nach den Anden hin— 
unter gewandert wären, woſelbſt fie zuerſt 
von ihrem unendlichen Wege ausgeruhet 
haben ſollten. „Es hält“ ſchreibt Milius, 
„Montanus vor gewiß, daß noch heutigen 
Tages in Perü, bei denen von den Span- 
niern ſo genannten Bergen Andes, eine ſehr 
alte Stadt, Nahmens Jucktam zu finden, 
und noch übrig ſeye. Worauß er ſchließet, 
daß dieſes Juektam oder Jecktam (welcher 
deß Heber dritter Sohn geweſen) Enickel 
(Enkel) und diejenige, ſo hernach auß ihren 
Lenden erzeuget worden, die Landſchaft Perü 
eingenommen, völlig bezogen, auch darinnen 
die erſte Stadt, nach dero erſtem Stiffter 
und Erbawer Juekta genennet haben.“ 
In der Bibel heißt es nämlich von 
Noahs Urenkel Eber (Geneſis 10, 25 —30): 
„Eber zeugte zween Söhne. Einer hieß 
Peleg, darum daß zu ſeiner Zeit die Welt 
zertheilet ward; deß Bruder hieß Jaketan 
Und ihre (der Söhne Jaketans) 
Wohnung war von Meſa an, bis man 
kommt gen Sephar, an den Berg gegen 
den Morgen.“ Die weitere geographiſche 
Beſtimmung außer Acht laſſend, deducirte 
man nun, mit dem Berge gegen Morgen 
könnten nur die Anden gemeint ſein, denn 
nur dieſes Gebirge dürfe „Billig und recht 
propter Excellentiam,“ d. h. wegen ſeiner 
alle andern Berge übertreffenden Höhe und 
Ausdehnung ſchlechthin „der Berg im Oſten“ 
genannt werden, und die Bewohner Baby— 
lons, von wo aus der Auszug der Völker — 
gerechnet wird, konnten, nach Meinung der 
Anhänger dieſer Conjektur, Amerika recht 
wohl das Land des Oſtens nennen. Der 
kühnen Hypotheſe des Aria Montanus 
ſtimmten nicht nur Joſeph a Coſta und. 


Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 43 


Georg Horn, der Verfaſſer eines 1652 
erſchienenen Werkes über die Herkunft der 
Amerikaner (de originis Americanis) bei, 
ſondern alle Diejenigen, denen ein Stein aufs 
Herz gefallen war, darüber, wie ſie die 
Entdeckung Amerikas mit der Bibel zu— 
ſammenreimen ſollten. Die Sache war in 
der That des Fleißes der Theologen werth. 
Die Bibel hatte bekanntlich Sem, Ham 
und Japhet zu den Stamm-Ahnen der 
Aſiaten, Afrikaner und Europäer erhoben, 
alſo anſcheinend Amerika vergeſſen, nun war 
der Stammvater der Amerikaner im Jaketan 
glücklich gefunden und nachgewieſen. 

Die Entdeckung Amerikas mußte freilich 
der orthodoxen Kirche recht unangenehm fein 
Hatte doch der heilige Auguſtin, dieſer zu 
allen Zeiten überſchätzte chriſtliche Sophiſt 
und Schönredner, in dem bekannten Anti— 
podenſtreite geſagt: „Unmöglich kann die 
entgegengeſetzte Seite der Erde Bewohner 
haben, denn in der heiligen Schrift kommt 
unter Adams Nachkommen keine derartige 
Sippſchaft vor.“ Dem heiligen Lactantius 
hatten ſchier die Worte gefehlt, um die 
Thorheit der Mathematiker und Aſtronomen 
ſeiner Zeit (im dritten Jahrhundert), 
welche das Vorhandenſein der Antipoden 
als offne Frage und Möglichkeit, ja als 
Wahrſcheinlichkeit hingeſtellt hatten, parla— 
mentariſch zu bezeichnen. „Iſt es möglich“, 
rief er aus, „daß Menſchen thöricht genug 
ſein können, zu glauben, die Bäume kehrten 
ſich auf der andern Seite der Erde nach 
unten und der Bewohner Füße ſtänden 
höher oben als ihre Köpfe! Fragt man 
nach Gründen für jene Ungeheuerlichkeit, 
daß die Gegenſtäude auf der andern Seite 
nicht abwärts von der Erde fallen, ſo hat 
man darauf die Antwort, es ſei eine phy— 
ſiſche Eigenſchaft, daß ſchwere Körper gleich 
den Speichen eines Rades, nach dem Centrum 


ſtreben, wogegen leichte Körper, wie etwa 
Gewölk, Rauch, Feuer, v Zentrum aus 
nach dem Himmelsraume ſtreben. Ich weiß 
aber wahrhaftig nicht, wie ich mich über 
jene ausſprechen ſoll, die auf verkehrtem 
Wege ſind, und noch widerſpenſtig auf ihrer 
falſchen Fährte verharren, und die eine 
thörichte Annahme durch eine noch thörichtere 
zu vertheidigen ſuchen.“ 

Nichts zeigt uns deutlicher, wie hart 
der Schlag war, den die myſtiſche Welt— 
anſchauung durch die Entdeckung Amerikas 
empfing, als eben die emſige Mühe, die 
man ſich gab, nunmehr auch Amerika in 
der Schrift zu entdecken. Ebenſo kühn wie 
man vordem aus der Schrift bewieſen hatte, 
daß jene weſtliche Halbkugel nicht bewohnt 
ſein könne, ſo ſuchte man nunmehr aus 
ebenderſelben Quelle zu beweiſen, daß jener 
Welttheil den Juden wohlbekannt geweſen 
ja daß ſie ſeit undenklichen Zeiten mit den 
Amerikanern in Handelsverkehr geſtanden 
hätten. Der Name des Landes, aus wel— 
chem Salomo ſeine Goldſchätze holte, das 
Ophir der Alten, war ja nur ein Anagramm 
Peru, des Goldreichen: Phiro — Peru, 
das war ja ganz einfach. Denen Mer— 
curius, Poſtellus, Goropius, Be— 
canus, Montanus und anderen Gelehrten 
des ſechszehnten und ſiebenzehnten Jahrhun— 
derts ging plötzlich ein Licht auf, und ſie 
bemühten ſich um die Wette, das Verdienſt 
dieſes Columbus, der ihnen einen ſo häßlichen 
Streich geſpielt hatte, herabzuſetzen, indem 
ſie ſagten, Salomo und alle Völker der 
alten Welt hätten ihre Schiffe allbereits 
nach Ophir, ſo man jetzt Peru nenne, ge— 
ſendet, und von einer neuen Entdeckung 
könne hier gar nicht die Rede ſein. 

Sogar der ehrliche Milius gibt dieſen 
Angriffen auf Columbus in einer deſſen 
Verdienſt herabſetzenden Weiſe Raum; über 


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44 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie v 


das amerikaniſche Ophir läßt er ſich folgen— 


dermaßen aus: „So kann man auch gar 


wohl muthmaſſen, Ja gleichſam vor gewiß 
ſchlieſſen, daß diſes Goldreiche Land Ophir, 


köſtliches verſchiedenes Holtzwerck, Helfenbein, 
Affen, Pfawen und Papageyen gebracht wor— 
den, eben dieſe unſer Peruanische Provinz 
ſey; alldieweilen auß ſolcher noch auf dieſe 


einem andern Orte der Orientaliſchen Indien, 
eine ſo weite und ferne Reiß von dreyen 


Jahren ſollte erfordert werden u. ſ. w.“ 
Der Verfaſſer hält es für ſehr wahrſchein⸗ 
auß welchem dem König Salomon, neben 
dem beſten und feinſtem Golde, auch viel | 


Welt⸗bekanntem Port Thir in Peru“ und 


Stund, auch zu uns, ein große Anzahl 


dergleichen wunderbahrlicher Thier, allerhand 
köſtliches Holtz, als Eben, Paradeyß, roht 
gelb, weiß Braſilien, item das heilige Holtz, 
Guajacum genand, Sassafras und dergleichen 
mehr gebracht wird. So hat man auch 
von dem rohten Meer auß, allwo der 
Allerglückſeligſte auß allen Königen, der 
allerweiſeſte Salomon, ſeine Schiffsflotten 
verfertigen und außrüſten laſſen, gar füglich 
in Americam ſchiffen können; Weilen dahin 
(ſo man Asien vorbeiſegelt) der geradeſte 
Curs, Lauff und Strich iſt. Auß welchem 
dann allem gantz klar erhellet, 


eben die Landſchaft America ſeye; welches 


der Bibliſche Text noch mehrers bekräftiget, 


in deme er andeutet, man habe mit dieſer 


Schiffart drey Jahr zugebracht; worauß 


abzunehmen, daß dieſes Land Ophir ſehr 
weit müſſe entlegen geweſen ſeyn. 
wollte ihme aber traumen laſſen, daß von 
den arabiſchen Küſten 
Juſul Japan und Malaca oder auch zu 


Wer 


auß, biß in die 


lich, daß die unvollkommne Schiffahrt jener 
Zeiten „von dem rothen Meere und deſſen 


zurück drei Jahre gebraucht haben werde, 
und findet auch dadurch den beruhigenden 
Schluß, daß der weiſe Salomo keinen geo— 
graphiſch beſchränkten Geſichtskreis beſeſſen 
habe, beſtätigt. 

Wahrhaftig, die freie Forſchung wurde 
von den Rückſichten, die ſie nach allen Seiten 
nehmen zu müſſen glaubte, faſt im Keime 
erſtickt; nur äußerſt langſam vermochte ſie 
ſich die Freiheit zu erkämpfen, in welcher 
ſie allein athmen und gedeihen kann. Wir 


haben den alten wahrheitsſuchenden Forſcher 


in dieſem Rückblick, der wie ein Janusbild 


auch auf die Zukunft deutet, möglichſt viel- 
fach ſelbſtredend auftreten laſſen, damit der 


dumpfe Gefängnißduft nicht verfliege, der 
daß deß 


Königs Salomon Ophir und Peruayno 


bei dem erſten Ausfluge des Geiſtes aus 
langer Kerkerhaft noch ſpürſam blieb. Auch 
wir arbeiten noch an der Aufgabe, die nach 
aufreibenden theologiſchen Studien zurück— 


| gebliebene Schwäche und krankhafte Bläſſe 
des Menſchheitgenius durch den unmittel— 
baren Verkehr mit der Natur, deren Hauch 
kräftigend wie Gebirgsluft und Seebäder 
wirkt, zu beſeitigen, und der freien Ent— 
faltung der geiſtigen Errungenſchaften Herzen 


und Thüren zu öffnen. 


or zweihundert Jahren. 


n 
Er 
1 u NDR 


Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 


Von 


Friedr. von Hellwald. 


aß die Anthropologie, 
d. h. die Wiſſenſchaft vom 
Menſchen als Menſch, nämlich 
als einheitliches, ſinnlich-wer— 
nünftiges Natur-Individuum, 
reine Naturwiſſenſchaf ſei, ſtößt gegenwärtig 
wohl kaum mehr auf Widerſpruch. Unter 
Ethnographie, zu deutſch Völkerkunde, 
verſtehen wir dagegen die Wiſſ enſchaft von Men- 
ſchen als Volksindividuum betrachtet. Der 
Wiener Linguiſt, Profeſſor Friedrich 
Mäller definirt beide Wiſſenszweige ſehr 
ſcharf und klar dahin, daß der Unterſchied zwi— 
ſchen beiden nicht in der Verſchiedenheit des 
Objectes, ſondern in der Verſchiedenheit der 
Auffaſſung dieſes Objectes liege. Während 
die Anthropologie den Menſchen als Exem— 
plar der zoologiſchen Species homo nach 
ſeinen phyſiſchen und pſychiſchen na— 
türlichen Anlagen betrachtet, faßt die 
Ethnographie den Menſchen als ein zu 
einer beſtimmten, auf Sitte und Her- 
kommen, beruhenden durch gemeinſame Sprache 
geeinten Geſellſchaft gehörendes Indivi⸗ 
duum. Der nämliche Gelehrte ſetzt auch 
überzeugend aus einander, daß Race, womit 
bei Feſthaltung des Allgemeinen und Ab- 


4 \ 
» 


ſehen von dem Beſonderen, innerhalb des 
Meuſchen feſtgeſtellte Grundtypen bezeich— 
net werden, ein ſtreng anthropologiſcher, 
Volk dagegen ein ſtrengethnographiſcher 
Begriff ſei. Damit iſt zugleich ausgeſprochen, 


daß das Studium der Nace eine Natur- 


wiſſenſchaft ſei, während von der, die Völker 
behandelnden Ethnographie ein Gleiches 
nicht allgemein angenommen wird. Gleich— 
wohl werden wir auch die Völkerkunde 
den Naturwiſſenſchaften beizählen müſſen, 
in ſo ferne das deutſche Wort „Völker— 
kunde“ mehr beſagt als der oben definirte 
Begriff „Ethnographie“. Gewiſſermaßen 
faßt unſere Bezeichnung „Völkerkunde“ beide 
Disciplinen in einen einzigen Begriff zuſammen, 
indem fie, wie natürlich, in erſter Inſtanz 
auf Claſſification der verſchiedenen Völker 
Rückſicht nimmt, dabei aber auf das anthro- 
pologiſche Racenmoment zurückgreifen muß. 
Die reine Ethnographie, welche ſich lediglich 
mit der Beſchreibung der Sitten, Gebräuche, 
Anſchauungen, Sprachen u. dergl. der einzelnen 
Völker beſchäftigt, braucht ſich um die 
Stellung jedes einzelnen dieſer Völker eigent— 
lich gar nicht zu bekümmern. Sie kaun 
uns über Chineſen und Indianer, über 


46 


Malayen und Botocuden, Papuas und 
Kaffern eben ſo gut unterrichten, wie wir 
die Lebensweiſe des Elephanten und des 
Kameeles, des Straußen und der Klapper⸗ 
ſchlange, der Biene und der Seeſterne er— 
örtern können, ohne nach der zoologiſchen 
Stellung dieſer Thiere weiter zu fragen? 
Wer aber dieſe Selbſtbeſchränkung übt, 
verzichtet auch naturgemäß auf jeden Einblick 
in den Cauſalzuſammenhang der Erſchei— 
nungen; ja, er vermag nicht einmal Ordnung 
in dieſelben zu bringen, oder, wenn er es 
dennoch unternimmt, ſo gelangt er von ſelbſt 
dahin, Verwandtes zu Verwandtem zu ſtellen, 
d. h. zu claſſificiren. Welches Syſtem 
man nun immer einer Claſſificirung zu 
Grund lege, ſtets überſchreitet man damit 
die Grenzen, welche, beim Menſchen, der 
reinen Ethnographie gezogen ſind, und 
greift ſomit unwillkürlich in das Gebiet der 
naturwiſſenſchaftlichen Anthropologie hinüber. 
Es iſt auch leicht einzuſehen, daß die Ethno— 
graphie in ihrem beſchränkten Sinne bei 
weitem das Intereſſe entbehrt, welches der 
„Völkerkunde“ innewohnt, wie ſie Peſchel's 
bekanntes Werk in ihren Umriſſen ange— 
deutet hat. Denn ſo unermeßlich iſt das 
vor dem Forſcher ſich ausbreitende Gebiet, 
daß auch Peſchel's „Völkerkunde“ uns nur 


zunehmender Kenntniß einſt werden kann, wer— 


vergängliches bahnbrechendes Verdienſt — die 
Pfade der künftigen Forſchung weiſt. Auch 
Peſchel, ſo ſehr er Gewicht legt auf jene 
Momente des geiſtigen Lebens der Völker, 
welche vor allem das Jutereſſe gefangen 
nehmen, erkannte die Nothwendigkeit, den 
Menſchen zuerſt als Naturindividuum, alſo 
anthropologiſch, und dann erſt als geſell— 
ſchaftliches Weſen, nämlich ethnographiſch zu 

betrachten. So finden wir denn in ſeinem 


zeigt, was aus dieſem Wiſſenszweige bei 


den muß, und — darin liegt Peſchel's un- 


Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 


Buche Anthropologie und Ethnographie innig 
verſchmolzen, letztere gleichſam aus erſterer 
hervorſprießend, wie der Aſt aus dem Stamme 
des Baumes; dies iſt die „Völkerkunde“, 
wie wir ſie heute verſtehen und wie ſie für 
das Verſtändniß der menſchlichen Entwicke⸗ 
lungsgeſchichte allein von Werth iſt. Un⸗ 
nöthig hinzuzuſetzen, daß ſie auch ſtets eine 
„vergleichende“ ſein müſſe, weil aus dem 
Vergleiche allein die Zuſammengehörigkeit 
der Phänomene ſich ergiebt und Geſetze, 
welche denſelben urſächlich zu Grunde liegen, 
ſich ableiten laſſen. 

Die Völkerkunde iſt alſo, ſagte ich, in 
gewiſſem Sinne auch Naturwiſſenſchaft. In 
der That regt ſich beim Nennen eines 
Völkernamens ſofort die läſtige Frage, in 
welchen Grundtypus des menſchlichen Ge— 
ſchlechtes, in welche Race er einzureihen fer. _ 
Nenne ich dem Leſer kurzweg einen unbe— 
kannten Völkernamen, fo kann er mit dem— 
ſelben eben jo wenig eine beſtimmte Vor- 
ſtellung verknüpfen, als mit jenem einer 
Thierſpecies ohne jedwede Angabe der Claſſe 
oder Ordnung. Mit den Diggdr weiß der 
Unkundige ſo wenig anzufangen, wie 
mit den Clavicornia (Keulenhörnern); 
orientirt iſt er aber ſofort, wenn ich ſage, daß 
die erſteren ein Indianerſtamm, die letzteren 
eine Käferart ſind. Dieſe Ausführungen 
mögen Manchen recht banal dünken, ſind 
aber doch ſehr geeignet darzuthun, wie wenig 
wir der Claſſification in naturhiſtoriſchem 
Sinne entrathen können. Der Umſtand, daß 
die Ethnologen ſich über eine beſtimmte 
Eintheilung des Menſchengeſchlechtes noch 
nicht geeinigt haben und vorausſichtlich noch 
ſehr lange nicht einigen werden, ändert daran 
nicht das Geringſte. Große allgemeine 
Gruppen laſſen ſich in der Anthropologie 
gerade ſo feſthalten wie im Thier- und 
Pflanzenreiche, und damit iſt, wenn auch 


nicht der Wiſſenſchaft, fo doch dem allge- 
meinen Bedürfniſſe Genüge geleiſtet. Gegen— 
ſtand eines etwaigen Streites unter den 
Fachgelehrten kann höchſtens die Stellung 
untergeordneterer Glieder ſein, wie dies auch 
in der Zoologie und Phytologie bei der 
zunehmenden Verflüchtigung des Artbegriffes 
eingetreten iſt. Der anthropologiſche Racen— 
begriff erleidet durch ſolche Schwankungen 
keine größern Einflüſſe als jener der zoo— 
logiſchen oder botaniſchen Claſſen. Damit 
ſoll beileibe nicht etwa eine Stabilität der 
Race a priori behauptet werden; nichts 
liegt uns im Gegentheil ferner, und ich 
füge ſchleunigſt hinzu, daß zwiſchen den 
verſchiedenen Typen allmählige Uebergänge 
von dem einen zum anderen ſich nachweiſen 
laſſen, welche gerade die Urſache der er— 
wähnten Schwankungen ſind. Sie machen 
es oft fraglich, ob dieſes oder jenes extreme 
Glied dieſem oder jenem Typus beigezählt 
werden ſolle. Allein, wie ſchon Humboldt 
ſagt, „das Sein wird in ſeinem Umfang 
und inneren Sein vollſtändig erſt als ein 
Gewordenes erkannt.“ Die menschlichen 
Grundtypen oder Racen treten uns als die 
Ergebniſſe unberechenbar langer Differen— 
zirungsproceſſe, als ein Gewordenes entgegen, 
und die relativ kurze Zeit, welche die Ge— 
ſchichte rückwärts zu ſchauen vermag, zeigt 
ſie uns eben ſo unverändert, wie die Thier— 
und Pflanzengeſtalten unſerer Erde. Wir 
dürfen demnach, ſo weit es ſich lediglich 
um geſchichtliche Betrachtung handelt, auch 
die Racen als etwas Stabiles, richtiger als 
etwas ſo langſam ſich Entwickelndes anſehen, 
daß die Veränderung unſeren forſchenden 
Blicken ſich entzieht. Innerhalb der hiſto— 
riſchen Zeiträume können wir an den großen 
Grundtypen der Menſchheit keine Veränder— 
ung in Körperbau, phyſiſchen und pſychiſchen 
Anlagen conſtatiren. Desgleichen find, fo 


Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 


lange wir denken können, Vögel ſtets Vögel, 
Fiſche ſtets Fiſche geblieben. Wenn Kurz— 
ſichtige dieſen Umſtand als Einwand gegen 
die Evolutionstheorie benützen, fo vergeſſen 
ſie, daß auf die Menſchheit übertragen 
der nämliche Umſtand mit logiſch unerbitt— 
licher Conſequenz zur aprioriſtiſchen Vielheit 
der Racen führen müßte. Nun ſind aber 
jene Gegner der Entwicklungslehre meiſt 
lebhafte Vertheidiger der Einheit des Menſchen— 
geſchlechts, welche gerade die auf zoologiſchem 
Felde angefeindete Transmutationstheorie 
in den Augen ihrer Anhänger über allen 
Zweifel erhoben hat. 

Alle Völkerkunde, will ſie die einzelnen 
Volksindividuen begreifen, muß alſo zuvör— 
derſt auf das anthropologiſche Racenmoment 
zurückgreifen; denn aus den Racen haben 
ſich erſt ſpäter die Völker herausgeſondert. 
Jedes Volk muß nothwendig irgend einer 
Race angehören, ſtreitig kann höchſtens ſein, 
welcher? Daß es gar keiner Race angehöre 
iſt platte Unmöglichkeit. Wenn dennoch die 
heutige Völkerkunde Stämme wie z. B. 
die Basken verzeichnet, welche iſolirt, ohne 
jegliche Anverwandtſchaft ſtehen, und die 
ſie demnach nicht zu claſſificiren weiß, ſo iſt 
dieſe ſeltſame Stellung doch nur ſcheinbar, 
inſofern die Basken nachweisbar die letzten 
Ueberbleibſel einer ausgeſtorbenen, einſt weit— 
verbreiteten Völkerfamilie ſind. Racentod 
kann aber, wie die in der Südſee unter 
unſern Augen ſich vollziehenden Vorgänge 
beweiſen, genau ſo eintreten wie der in der Ge— 
ſchichte häufige Völkertod, und es liegt auf flacher 
Hand, daß wir von den vor Beginn unſerer 
geſchichtlichen Kenntniſſe dahingeſchwundenen 
Racen nichts Näheres wiſſen können, wenig— 
ſtens nicht genug, um ihnen eine beſtimmte 
Stellung anzuweiſen. Die ſcheinbaren Aus— 
nahmen heben ſomit das allgemein gültige 
Geſetz nicht auf, wonach jedes Volk in 


zu 


48 


irgend eine Race einzureihen ſein müſſe. 
Dieſer Satz iſt für die Völkerkunde und 
deren Bedeutung in der ſpäteren Entwickelung 
der Menſchheit von fundamentaler Wichtigkeit. 
Wir wiſſen nämlich, daß Race als anthro— 
pologiſcher Begriff einen beſtimmten Bruch— 
theil der Menſchheit nach ſeinen phyſiſchen 
und pſychiſchen natürlichen Anlagen umfaßt. 
Friedrich Müller hat nun in bisher 
unwiderlegter Weiſe auseinandergeſetzt, wie 
die Racenbildung der mit dem Entſtehen 
der Sprache zuſammenfallenden Völkerbildung 
vorangegangen ſei. Es hat eine Zeit ge— 
geben, in welcher zwar Racen, aber keine 
Völker exiſtirten. Es gab alſo damals 
noch kein Volksthum, mithin auch noch nicht 
die daſſelbe begründenden Factoren: Sprache 
und Sitten. Als nun ſpäter, nach 
dieſer ſprachloſen Urzeit, aus den Racen, 
unter dem Einfluſſe der verſchiedenſten 
Verhältniſſe, die Völker ſich entwickelten, 
umſchlang die Glieder einer und der näm— 
lichen Race ſtets auch das gemeinſame Band 
der ererbten phyſiſchen und pſychi— 
ſchen natürlichen Anlagen, und 
dieſes Band hat ſich, wo nicht äußere Stö— 
rungen eintraten, wo die Race rein geblieben, 
ungeſchwächt erhalten bis zur heutigen Stun— 
de. Wir nennen es kurzweg die Racen— 
anlagen der Völker, und ſie ſind es einzig 
und allein, welche die Blutsverwandtſchaft 
der einzelnen Stämme beweiſen, nicht die 
Sprache, welche gar manchem Ethnologen 
mit Unrecht als alleiniger Leitſtern dient. 
Die Sprache iſt ein ausſchließliches Merk— 
mal des Volksthums, niemals eine Racen— 
eigenſchaft; nicht nur kann die Sprache von 
einem Volke, wie von einem Individuum 
willkürlich vertauſcht werden, wovon die 
Geſchichte zahlreiche Beiſpiele aufbewahrt 
hat, ſondern die verſchiedenen Sprachſtämme, 
auf welche die Wiſſenſchaft die Sprachen 


| 


Hellwald, Beben und Aufgaben der Völkerkunde. 


zurückzuführen im Stande iſt, ſetzen theils 
bei den verſchiedenen Racen mehrere von 
einander unabhängige Urſprünge voraus, 
theils weiſen ſie ſelbſt innerhalb einer und 
derſelben Race auf mehrere von einander 
unabhängige Urſprünge hin. Da es alſo 

erſter Linie die oben erwähnten Racen— 
anlagen ſind, welche die Stammverwandt— 
ſchaft der Völker und Nationen begründen, 
ſo iſt, wie ſich jeder Denkende ſelbſt ſagen 
wird, deren genaue Erforſchung eine der 
wichtigſten Aufgaben der vergleichenden 
Völkerkunde. 

Das Betonen der hervorragenden Wich— 
tigkeit des Racenmoments ſchien mir deshalb 
nicht überflüſſig, theils, weil daſſelbe noch 
lange nicht nach Gebühr gewürdigt wird, 
theils, weil ſich gegen eine ſolche Würdigung, 
wo man derſelben, ſelten genug, begegnet, 
ſogar eine auffallende Oppoſition von oft 
hochachtbarer Seite erhebt. So ſchreibt z. 
B. Profeſſor A. Sprenger, ein Orien— 
taliſt erſten Ranges: „Zu allen Zeiten 
haben ſich's die Gelehrten ſehr leicht gemacht, 
auffallende Erſcheinungen zu erklären: ſie 
ſtellen Schablonen auf, in welcher fie ſelbe 
hineinzwängen In neueſter Zeit 
hat man eine recht bequeme Schablone er— 
funden, alle Erſcheinungen im politiſchen und 
ſocialen Leben ſofort zu erklären, es iſt dies 
der Racenunterſchied.“?) Gewiß hätte der 
hochverdiente und gelehrte Forſcher zu der 
in dieſen Zeilen ausgedrückten Anſicht ſich 
nicht verleiten laſſen, wenn er die Tragweite 
des von ihm angezweifelten naturhiſtoriſchen 
Momentes genau erwogen hätte Ich will 
deshalb verſuchen, dieſen Punkt noch kräftiger 
zu beleuchten. Da ſogar ſchon der fromme 
Linné den homo sapiens als eine Species 
des Ba wenn auch als deſſen höchſte, 


LTE NE RE 


) Ausland 1877. Nr. 3. S. 55. 


— — — — 


Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 49 


g aufnahm, 
keinen Anſtoß erregen, daß die Wiſſenſchaft 


ſo wird die Behauptung wohl 


von dieſer Species, die Anthropologie, ſtrenge 


genommen, nur ein Zweig der Zoologie 
ſei, ein Zweig, der freilich in Anbetracht 
der Wichtigkeit, welche ſein Object für uns 
beſitzt, eine enorme Ausdehnung gewonnen 
und ſich zu einer beſonderen Disciplin empor— 
gearbeitet hat. 


1 


gemeinen Hauskatze Charakterzüge bemerkt 
welche dem geſammten Katzengeſchlechte eigen 
ſind? Dieſe Bemerkung iſt ſchon ſo trivial, 
daß daran zu erinnern füglich gar nicht 
nöthig ſein ſollte. Ebenſo ſcharf bewahrt 
aber jede Varietät jene Unterſchiede, welche 
ſie eben zur Varietät ſtempeln, ſie von den 


übrigen Varietäten der gemeinſamen Art 
Dies hindert nicht, daß als 
phyſiſches Individuum der Menſch denſelben 


unterſcheiden, und daſſelbe geſchieht bei den 
meiſt künſtlich hervorgerufenen Spielarten, 


Geſetzen unterworfen iſt wie das Thier. ſo lange die Momente andauern, welche ihr 
„Gleich dem Thiere zerfällt der Menſch in 


mehrere Varietäten. Gleichwie jeder thie— 
riſchen iſt auch jeder menſchlichen Varietät 
ein eigener Verbreitungsbezirk, innerhalb 
deſſen ſie gedeiht, angewieſen. Gleich dem 


Thiere, das gezähmt in mehrere Spielarten 


zerfällt, 
Weſen xar EEoyav, 
verſchiedener Typen dar.“ 


bietet der Menſch, ein ſociales 
eine große Menge 


die Racen, und die Paralleliſirung beider 
wird der naturwiſſenſchaftlich Gebildete als 
ſelbſtverſtändlich betrachten. Greifen wir 
nun eine beliebige Thierſpecies heraus, jo 
erkennen wir ſchon, daß alle ihre Varietäten 


fi nicht nur durch einen im Weſentlichen 


übereinſtimmenden Körperbau, ſondern auch 
durch eine beſtimmte Reihe gemeinſamer 
Erſcheinungen in ihren Lebensgewohnheiten, 
Sitten und, wenn man ſo ſagen darf, auch 
in ihren geiſtigen Anlagen charakteriſiren. 
Zerſplittert ſich die Varietät in Spielarten, 
ſo wird das Band ſolcher gemeinſamen 
Phänomene zwar loſer, iſt aber immerhin 
noch vorhanden und weiſt deutlich die all— 
gemeinen Racenmerkmale auf. Unſere Haus— 
thiere, die wohl insgeſammt von wilden 
Arten abſtammen und mitunter in zahlreiche 
Spielarten zerfallen, find hierfür ein deut⸗ 
licher Beweis. Wer hätte nicht an der 


Dies die Worte 
Friedrich Müller's. Was in einer Thier- | 
ſpecies die Varietäten, find in der Menſchheit 


Entſtehen veranlaßten. Im Allgemeinen 
können wir es getroſt ausſprechen, daß die 
Merkmale deſto feſter und unver— 
wiſchbarer haften, je größer die 
Kategorie iſt, welche ſie charak— 
teriſiren. So kann eine Spielart weit 
leichter jene Merkmale, welche ſie von der 
nächſten Spielart, als die Varietät jene 
verlieren, die ſie von der nächſten Varietät 
unterſcheiden. Mit andern Worten: 
Spielart geht leichter in der Varietät auf, 
als dieſe in der Art; die Varietät aber 
leichter in der Art, als dieſe in der Familie; 
die Art leichter in der Familie, als dieſe 
in der Ordnung; die Familie leichter in 
der Ordnung, als dieſe in der Claſſe u. ſ. w. 

Die Nutzanwendung dieſer Sätze auf 
die Völkerkunde ergibt ſich von ſelbſt. Vom 
Menſchen pflegt man anzunehmen, daß er 
nur in einer einzigen Art mit verſchiedenen 
Varietäten und noch mehr Spielarten exiſtirt; 
es iſt jedoch gut, daran zu erinnern, daß 
bei dem heutigen Zuſtande der Forſchung, 
welche die Flüſſigkeit aller Kategorien er— 
wieſen, zwar ein bedeutender Unterſchiede 
aber keine abſolute Grenzlinie zwiſchen Art 
und Varietät beſteht. Mehr denn irgend 
eine Disciplin iſt die Völkerkunde geeignet, 
uns dieſe Wahrheit vor Augen zu führen; 
denn es giebt zweifellos eine ganze große 
Reihe von nicht blos phyſiſchen, ſondern 


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auch pſychiſchen Erſcheinungen, welche allen 
Menſchen ohne Unterſchied der Race und 
des Volkes zukommen; wir nennen ſie all— 
gemein menſchliche. Die religiöſen Gefühle 
ſcheinen z. B. in dieſe Claſſe zu gehören. 
Jede menſchliche Varietät, jede Nace beſitzt 
aber ihrerſeits wieder beſtimmte, ihr eigen— 
thümliche Merkmale, wodurch ſie ſich von 
ihren Nebenracen unterſcheidet. Friedrich 
Müller hat in ſeiner „Allgemeinen Ethno— 
graphie“ zum erſten Male die Charakteriſtik 
der einzelnen Racen nach ihren hervor— 
ragendſten Unterſcheidungsmerkmalen durch— 
geführt. Die Spielarten der Menſchenracen 
nennen wir Völker und nach dem oben Er— 
wähnten unterliegt es keinem Zweifel, daß 
die Raceunterſchiede ſtärker ſein müſſen 
als die Völkerunterſchiede. Der einfache 
Augenſchein beſtätigt auch reichlich dieſes 
Axiom. Betrachten wir Italiener, Fran— 
zoſen, Spanier und Portugieſen, ſo er— 
kennen wir zwiſchen dieſen Nationen ſehr 
deutliche Unterſchiede, nicht blos in Sprache 
und Sitten, ſondern ſelbſt im Baue ihres 
Körpers. Dennoch kommen ihnen allen 
wieder in Sprache, Sitten und Körperbau 
übereinſtimmende Eigenſchaften zu, welche 
ſie von Engländern, Deutſchen und Skan— 
dinaviern, oder von Ruſſen, Polen, Böhmen 
u. ſ. w. unterſcheiden. Weit mehr als 
untereinander unterſcheiden ſich alle dieſe 
genannten Völker zuſammen aber von den 
Chineſen, Malayen oder Indianern, welche 
eben einer ganz anderen Race angehören. 
Den Racen⸗Unterſchied leugnen zu wollen, wäre 
Angeſichts der von der Völkerkunde auf- 
geſpeicherten Erfahrungen unmöglich und 
lächerlich, und müßte mit Nothwendig⸗ 
keit dazu führen, auch die Unterſchiede von 
Volk zu Volk in Abrede zu ſtellen, was 
gewiß keinem Vernünftigen beifällt. Es hieße 
Eulen nach Athen tragen, wollte ich daran 


erinnern, wie jede fremde Sprache uns 
daran mahnt, daß das Volk, welches ſie 
redet, auch verſchieden denkt und-oft verſchie— 
den empfindet. Können wir doch manche 
Begriffe der einen Sprache nicht in eine 
andere überſetzen! Der Völkerunterſchied iſt 
alſo unläugbar vorhanden, nicht blos in der 
Sprache, in der Denkweiſe, in den Sitten, in 
den Lebensgewohnheiten, kurzum in den geiſti— 
gen Gebieten, ſondern auch in den pſychiſchen 
und ſogar in den phyſiſchen Anlagen. 
Blättern wir in den Berichten der Rei- 


ſenden, ſo ſtoßen wir hundertfach auf die 


Angabe von der Sanftmuth oder dem Blut- 
durſte dieſes oder jenes Volksſtammes. 
Die Indianer Nordamerikas tragen große 
Unempfindlichkeit gegen körperliche Schmerzen 
und Qualen zur Schau; manche Neger- 
ſtämme legen auf das Leben gar keinen 
Werth. In Braſilien geben ſich Neger— 
jelaven in ganzen Geſellſchaften aus ganz 
geringfügigen Urſachen mitunter den Tod, 
blos um ihren meiſt guten Herrn zu 
ärgern! Wir brauchen aber nicht ſo weit 
zu gehen. In Gemüth und Temperament 
iſt der fröhliche Italiener von dem ernſten 
Deutſchen himmelweit verſchieden und dieſer 
wieder nicht mit dem ſchwermüthigen Slaven 
zu verwechſeln. Ganz das Gleiche trifft 
bei dem körperlichen Aeußeren zu. Ein 
nur halbwegs aufmerkſamer Beobachter er⸗ 
kennt alsbald einen fremden Typus inmitten 
eines Volkes. Ein geübtes Auge vermag 
beinahe jede europäiſche Nationalität an 
ihrem Aeußeren zu erkennen, wird zum min⸗ 
deſten niemals einen Briten für einen Spa⸗ 
nier oder dieſen für einen Schweden, Ruſſen 
oder Ungarn halten. Wer dann endlich in 


verſchiedenen Ländern gelebt, unter ver⸗ 
ſchiedenen Völkern ſich umgeſehen hat, der 
findet wohl ſehr bald heraus, wie ſo manche 
politiſche und ſociale Erſcheinungen in dem 


50 Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 5 


einen Lande gedeihen, in dem anderen hin— 
gegen unmöglich ſind, weil ſie eben mit den 
geiſtigen und pſychiſchen Anlagen des je— 
weiligen Volkes im innigſten Zuſammen— 
hange ſtehen. Die Culturgeſchichte verſieht 
uns mit zahlloſen Beiſpielen, daß eine und 
die nämliche Erſcheinung von verſchiedenen 
Völkern ſehr verſchieden aufgefaßt und be— 
urtheilt wird. Blicken wir auf das Chriſten— 
thum bei den Romanen, den Germanen 
und den Slaven, auf den Islam bei den 
ſemitiſchen Arabern und den uralaltaiſchen 
Türken. Welche tiefgehende Unterſchiede! 
Oder, um ein modernes Beiſpiel über einen 


recht gleichgültigen Gegenſtand zu wählen, 
vernehmen wir ein deutſches und ein ita= | 


lieniſches Urtheil über Richard Wagner'ſche 
Muſik! In's Unzählige ließen ſich dieſe 
Beiſpiele häufen, wäre es überhaupt noch 
nothwendig, die alte, längſt erkannte Wahr— 
heit zu beweiſen, daß die Völker von einander 
verſchieden geartet find. Niemand beftreitet 
fie, wagt es, fie zu beſtreiten. Iſt es nun nicht 
ſonderbar, daß man für die Racen nicht gelten 
laſſen will, was man doch für die Völker, 
ihre Spielarten, nicht in Abrede ſtellen kann? 


Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 


kenden Begriffe der Race noch nicht möglich 


Warum ſoll kein Racenunterſchied exiſtiren, 
Völker führt natürlich auf jene zurück, ob 


wenn es doch einen Völkerunterſchied gibt? 
Warum ſoll erſterer nur eine bequeme 
Schablone ſein, wenn die Wirkungen des 
Letzteren ſo augenfällig hervortreten? Wa— 
rum ſollen endlich beim Menſchen nicht die 
nämlichen Geſetze wirkſam ſein wie in der 
übrigen organiſchen Natur? 

Vielleicht wendet man ein, daß, die Racen— 
unterſchiede zugegeben, dieſelben noch nicht 
ſcharf genug definirt ſeien, um daran weitere 
Combinationen zu knüpfen. Dieſer Einwurf 
beſitzt eine ſcheinbare Berechtigung, in ſo 


dieſe 


| 


felhaft ſein. 


ferne die Anthropologen eine definitive Ein- 


theilung der Menſchheit in Racen noch nicht 
vereinbart haben, es ſomit bei dem ſchwan— 


51 


erſcheint jede, Race nach ihren phyſiſchen 
und pſychiſchen Anlagen ſcharf zu umgrenzen. 
Daß das Problem nicht ganz unlösbar ſei, 
hat indes, wie erwähnt, ſchon Friedrich 
Müller gezeigt, und dies bildet nun eine 
zweite Aufgabe der Völkerkunde. Für die 
Culturentwicklung der weißen Menſchheit, 
die, von Natur aus auf beſtimmte Erdſtriche 
beſchränkt, meiſtens allein in Betracht kommt, 
iſt aber der angedeutete Einwurf völlig 
werthlos, denn hier haben wir es nur mit 
längſt bekannten ethniſchen Factoren zu thun. 
Wir wiſſen genau, was zum indogermaniſchen 
und zum ſemitiſchen Stamme gehört, und 
was nicht; die Unterſchiede zwſchen beiden 
ſind ſcharf und beſtimmt, und laſſen ſich 
die ganze Geſchichte hindurch mit geringer 
Mühe verfolgen. Auch die ethnologiſche 
Stellung der meiſten aſiatiſchen Völker iſt 
genügend geſichert. 
erſt, wenn wir die Völkerkunde bei cultur— 
geſchichtlichen Unterſuchungen über ſehr fern 
abliegende Bruchſtücke der Menſchheit zu 
Hülfe rufen. 

Die Frage nach den Raceunterſchieden 
und deren Einflüſſen in der Geſchichte der 


Unterſchiede höhere und niedrigere 
Menſchentypen erkennen laſſen. Meiner 
Anſicht nach kann die Antwort nicht zwei— 
Gehen wir auch von einer 
urſpünglichen Einheit unſeres Geſchlechtes 
aus, ſo ſind doch die phyſiſchen Anlagen 
der einzelnen Racen erſt ſpäter im Kampfe 
um's Daſein erworben worden, und es iſt nicht 
einzuſehen, warum, wenn die Umſtände, welche 
die Racenbildung hervorriefen, ſtark genug 
waren, dieſe mit verſchiedener Hautfarbe, 


verſchiedenem Haarwuchs und verſchiedenem 


Schädelbau, mit ſogar ſehr verſchiedener 
Gehirngröße auszuſtatten, ein Gleiches nicht 


Fühlbar wird die Lücke 


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5 


— 


52 


auch bei den pſychiſchen Anlagen der Fall 
geweſen ſein ſollte. Die ſogenannte Gleich— 
heit aller Menſchen iſt ein wiſſenſchaftlicher 
Nonſens; ſie hat, wenn je, nur beſtanden, 
ſo lange der auf tiefſter thieriſchen Stufe 
ſtehende Menſch noch in der Urheimath un— 
abgetheilt in Varietäten lebte. Mit der, 
wahrſcheinlich durch die Wanderung und 
Aupaſſung an fremde Wohuſitze veranlaßten 
Spaltung in Varietäten, in Racen, hörte 
die urſprüngliche Einheit und Gleichheit 
auf, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, 
daß die verſchiedenen Racen pſpychiſch un— 
gleich begabt waren. Genau das Nämliche 
können wir übrigens an den Varietäten 
einer beliebigen zoologiſchen Art beobachten. 
Wenn wir nun von einer ungleichen Be— 
gabung reden, ſo iſt damit freilich noch 
kein Vergleich in dem Sinne von hoch und 
niedrig ausgedrückt, und ich will bemerken, 
daß letztere Unterſcheidung überhaupt eine 
ganz ſubjective iſt. Hoch nennen wir, was 
auf unſerer eignen Stufe ſteht; niedrig was 
darunter, am niedrigſten was am weiteſten 
davon entfernt iſt. Wir gerathen dadurch 
allerdings häufig in Gefahr als niedrig 
zu bezeichnen, was ſtreng genommen blos 
anders iſt als wir, immerhin aber doch 
mit einem gewiſſen Rechte, in ſofern wir 
ein Höheres über uns nicht erblicken. Folgen 
wir übrigens dem Geig er'ſchen Ausſpruche, 
wonach die Vernunft erſt durch die Sprache 
geſchaffen wurde, ſo war der Menſch in 
der Zeit, als es zwar Racen aber noch keine 
Völker gab, weil ſprachlos auch vernunft— 
los. Die intellectuellen Divergenzen können 
alſo erſt ſpäter, nach Entſtehung der 
Sprache und Abſonderung in Völker zum 
Vorſchein gekommen ſein und es iſt begreif— 
lich, daß je größer die Zerſplitterung, deſto 
größer und zahlreicher auch die geiſtigen 


Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 


— —< 


Verſchiedenheiten ſind. Durch die ſchon vor— 
handenen pſychiſchen Racenanlagen wurde 
die intellectuelle Entwickelung der neugebore— 
nen Völker zweifelsohne tief beeinflußt, 
allein, daß ſie nicht lediglich auf Rechnung 
der Race zu ſetzen ſei, erhellt aus dem Ge— 
ſagten zur Genüge. Wenn nun thatſächlich 
unter den verſchiedenen Stämmen intellectuelle 
Differenzen vorhanden ſind, wie ſie klaffender 
kaum gedacht werden können — die Armuth 
mancher, auf einige hundert nothdürftiger Be— 
griffe beſchränkter Sprachen, verglichen mit den 
hochausgebildeten wortreichen Idiomen der 
Culturvölker gibt davon Kunde — ſo er— 
wächſt daraus der Völkerkunde eine dritte, 
nicht minder wichtige Aufgabe: zu erfor— 
ſchen und zu ſondern, was auf Racen, 
einflüſſe zurückzuführen, was dem 
Volke als ſolchem eigent hümlich iſt 
Die hohe Bedeutung der Völkerkunde 
für die Geſchichte der menſchlichen Geſittung 
wird wohl Niemandem entgehen. In Wahr- 
heit ift ſie die alleinige Baſis, auf welcher 
culturhiſtoriſche Unterſuchungen mit Sicherheit 
ausgeführt werden können, gibt ſie allein 
einen zuverläſſigen Anhaltspunkt zur Be— 
urtheilung beſtehender Zuſtände, ſocialer 
wie politiſcher Inſtitutionen. Ohne ſie läuft 
man Gefahr, wie es ja alltäglich geſchieht. 
Utopien nachzujagen, Phantaſiegebilde für 
den Ausfluß tiefer Weisheit oder politiſcher 
Ueberlegenheit auszugeben. Vielleicht werde 
ich ein andermal in dieſen Spalten andere 
intereſſante Punkte der naturwiſſenſchaftlichen 
Völkerkunde, z. B. die culturhiſtoriſchen 
Wirkungen der Kreuzung und Racenmiſchung 
zu erörtern Gelegenheit finden. Für dies— 
mal begnüge ich mich mit dem Hinweiſe, 
daß alle Völkerkunde, wie ich gezeigt zu 
haben glaube, beginnen müſſe mit der 
Abſtammungslehre. 


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o 


= 


— 


Wirkung der 
Abſtammungslehre erſichtlicher 
als an der Wiſſenſchaft vom 
Menſchen. 

Als ich auf der Hochſchule weilte — 
es war von 1851 bis 56 — herrſchte 
noch unumſchränkt das Dogma Cuvier's: 
„Es gibt keinen foſſilen Menſchen.“ 
Ich erinnere mich noch ſehr gut, wie mein 
hochverehrter Lehrer Prof. Quenſtedt mich 
damals um meine Anſicht über ein paar 
Zähne frug, die er ſich nicht zu ent— 
räthſeln vermöge. Als ich ſie ohne Beſinnen 
für menſchliche Backenzähne erklärte, rief er 
lebhaft aus, das ſei nicht möglich, denn 
die Zähne ſeien ohne jede Frage foſſil und 
foſſile Menſchen gebe es nicht, er halte ſie 
für die Zähne einer kleinen Species von 
Schweinen, er habe in der zoologiſchen 
Sammlung der Univerſität alle dort vor— 
handenen Schweinearten durchgeſehen, mit 
denen ſtimmten ſie allerdings nicht, aber es 
könnte eine Dicotylesart ſein, deren Schädel 
in der Sammlung fehle. 
meiner eigenen Sammlung einen Schädel 


Da ich nun in 


Die moderne Anthropologie. 


Von 


Guſtab Jäger. 


auch nicht und der Zwieſpalt blieb unge— 
löst: Ich blieb dabei, daß es Menſchen⸗ 
zähne ſeien, er, daß ſie foſſil, alſo nicht von 
Menſchen ſtammen könnten. 

Und wie ſteht es heutzutage? In allen 
eiviliſirten Ländern beſtehen anthropo lo- 


giſche Geſellſchaften, in welchen fid 


Laien und Gelehrte in großer Zahl ver- 
einigt, welchen ſogar ſchon die Behörden 
ihren Apparat zur Verfügung geſtellt haben, 
einzig zu dem Zweck, den foſſilen oder, ſagen 
wir objektiver den prähiſtoriſchen Menſchen 
zu ſtudiren und ihn mit dem hiſtoriſchen in 
Verbindung zu ſetzen. Ein immenſes Material 
der intereſſanteſten Art iſt durch den von 
dieſen Vereinen ausgehenden Impuls zu 
Tage gefördert, eine Armee von Beobachtern 
über alle Länder hin aufgeſtellt worden 
und mit wachſendem Erſtaunen ſieht der ge— 
bildete Theil der Menſchheit die Ahnenſchaft 
von dem Agamemnon Schliemann's an— 
gefangen bis hinauf zu den Renthier— 
nomaden Schwabens und Südfrankreichs 
und den kannibaliſchen Höhlenbewohnern 
Belgiens aus dem Schoße der Erde ſteigen. 

Wer hat dieſen Zauber vollbracht? 


dieſes ſüdamerikaniſchen Schweines beſaß, Wer blies dieſe Poſaune des jüngſten Ge— 


fo holte ich denſelben herbei; er ſtimmte eben richts, welche die Gebeine der Vergangen— 


| 
| 


* 


54 


heit zur wiſſenſchaftlichen Auferſtehung kom— 
mandirte? Wem verdanken wir dieſe 
immenſe Erweiterung unſeres hiſtoriſchen 
Horizontes? Was war die geiſtige Macht, 
welche die Laienwelt packte und ſie zwang, 
dem kleinen, als Sonderlinge verlachten, ja 
von manchen des Schwindels geziehenen 
Corps von Archäologen, die ſchon ſeit 
Dezennien in der Stille dem Cultus der 


Vergangenheit huldigten, zur Seite zu treten; 


welche hunderte der beſten Köpfe und Tauſende 
von Händen in Bewegung ſetzt und einen 
neuen Zweig der Naturforſchung, 
Prähiſtorik, ins Leben rief? 

Niemand anders war es, als der Ruf 
der Darwiniſten: Der Menſch ſtammt 
vom Thiere ab! 

Wir Naturforſcher ſind ſo gern ſtolz 
darauf, daß wir über die Vorurtheile des 
Laien erhaben ſeien, daß das Dogma keine 
Herrſchaft über uns übe. Eitle Selbſt— 
überhebung! Wer die Geſchichte der Wiſſen— 
ſchaft ſtudirt, was findet er? Jederzeit 
die Herrſchaft des Dogma's und 
jeden Fortſchritt der Wiſſenſchaft 
geknüpft an den Sturz eines Dogma's. 
Und wodurch wird ein Dogma geſtürzt? 

Ich höre die Antwort: „Durch That— 
ſachen!“ daß das nicht wahr iſt, läßt 
ſich gerade an unſerem Kapitel beweiſen. 

Schon im Jahre 1828 hatte Herr 
Tournal in der Höhle von Bize den 
foſſilen Menſchen gefunden. Ein Jahr 
ſpäter entdeckte ihn Herr Chriſtol in Ge— 
ſellſchaft von Hyänen und Rhinoceros in 
der Höhle von Pondres. In den Jahren 
1833 — 34 publizirte Dr. Schmerling 
ſeine einſchlägigen Funde in den Höhlen, 
welche die Thäler der Maas und ihrer 
Nebenflüſſe bergen. | 

Lyell, der berühmte engliſche Geologe, 
der Begründer der Prähiſtorik, ſchreibt in 


die 


Jäger, Die moderne Anthropologie. 


ſeinem Buche „Das Alter des Menſchen— 
geſchlechts“ deutſche Ausgabe, S. 38: 

„Schmerling ſelbſt zweifelte nicht 
„daran, daß, als Schlußfolgerung aus 
„ſeinen Entdeckungen, der Menſch einſt in 
„dem Lütticher Gebiet als Zeitgenoſſe des 
„Höhlenbären und anderer ausgeſtorbener 
„Vierfüßler gelebt haben müſſe, und ſprach 
„ſich darüber in ſeinen Veröffentlichungen 
„aus. Aber die außerordentlichen und 
„Jahre andauernden Schwierigkeiten und 
„Anſtrengungen, welche der unermüdliche 
„und klar ſehende Forſcher bei feinen Unter- 
„ſuchungen zu überſtehen hatte, ſchreckten 
„andere ab, ihm auf dieſem Wege zu folgen 
„und ſeine Meinung konnte gegen 
„das vieljährige Vorurtheil der 
„bisherigen Wiſſenſchaft nicht durch— 
„dringen. Ich ſelbſt konnte mich, als 
„ich ihn im Jahre 1832 zuerſt beſuchte 
„und ſeine prächtige Sammlung beſichtigte, 
„nicht überzeugen, und legte ſeinen Ent— 
„deckungen, welche ich in der dritten und 
„den folgenden Auflagen meiner „Grund— 
„züge der Zoologie“ mittheilte, nicht das— 
„jenige Gewicht bei, welches ſie, wie ich 
„nunmehr glaube, verdienen.“ 

„Im Jahre 1860, ſechs und zwanzig 
„Jahre nach meiner erſten Begegnung mit 
„Schmerling, beſuchte ich Lüttich wieder. 
„Viele der Höhlen waren ganz zerſtört und 
„ihr Inhalt zu anderweiten Zwecken hin— 
„weggeführt. Nur von der Engihoulhöhle, 
„aus welcher Schmerling drei menſchliche 
„Skelete hervorgezogen hatte, war noch ein 
„großer Theil unverſehrt erhalten. Ich 
„durchſuchte dieſen Theil mit Hülfe des 
„Profeſſor Malaiſe von Lüttich und 
„fand bald Knochen und Zähne des Höhlen— 
„bären und anderer ausgeſtorbenen Thier— 
„arten, welche Schmerling namhaft ge— 
„macht hatte. Mehrere Wochen ſpäter, nach 


da ran. 
Fiunde in der Kenthöhle ganz unberückſich— 


„meiner Abreiſe, fand mein Begleiter in 
„derſelben Ablagerung drei Bruchſtücke eines 
„menſchlichen Schädels und zwei vollſtändige 
„Kinnladen mit Zähnen, alle in einer 
„ſolchen Weiſe mit Thierknochen gemiſcht 
„und denſelben ſo vollſtändig in Farbe und 
„ſonſtigen Eigenſchaften gleichend, daß der 
„Finder keinen Zweifel über die Zeitge— 
„noſſenſchaft des Menſchen mit ausgeſtorbenen 
„Thierarten behielt.“ a 

Warum kam Lyell erſt im Jahre 1860 
wieder nach Lüttich? Doch hören wir zuvor 
weiter. N 


Perthes ſeine Entdeckungen des foſſilen 
Menſchen im Sommethal; ſeine Publikation 
erfolgte im Jahre 1847. 
S. 62 hierüber? 

„Die wiſſenſchaftliche Welt hatte 
„keinen Glauben daran, daß Kunſt— 
„erzeugniſſe, wenn auch noch ſo roh, in 
„ungeſtörten Erdſchichten von ſolchem Alter 
„ſollten gefunden worden ſein. Nur wenige 
„Geologen beſuchten Abbeville, um ſich 
„ſelbſt von dem Stand der Sache zu über— 
„zeugen (auch Lyell kam nicht). Einige 
„hielten die Inſtrumente für Naturerzeug— 
„niſſe, andere hatten Verdacht gegen die 
„Arbeiter, welche die Inſtrumente ſelbſt 
„zum Verkaufe möchten angefertigt haben, 
„noch andere glaubten an eine zufällige 
„Vermiſchung.“ 

Noch weiter: Ein Dr. Rigollot, als 
ausgezeichneter Phyſiker bekannt, beſuchte 
Abbeville und beſchloß nach Beſichtigung 
des Sachverhalts auch in Amiens zu graben. 
Er hat den gleichen Erfolg wie Boucher 
de Perthes, veröffentlicht die Sache, 
und wieder glaubt kein Menſch 
Auch in England bleiben die 


; 1 tigt. Erſt im Jahre 1858 hält man es 


— — 


Jäger, Die moderne Anthropologie. 55 


bei Entdeckungen einer neuen, noch unbe— 
rührten Höhle bei Brixham für der 
Mühe werth, eine genauere Unterſuchung 
anzuordnen. Lyell ſchreibt S. 63: „1859 
beſuchte ich ſelbſt die unterirdiſchen Gallerien 
und Gänge.“ Im gleichen Jahre findet 
ſich Lyell (S. 74) auch veranlaßt, Hrn. 
Boucher de Perthes dreimal zu be— 
ſuchen und, wie oben gezeigt wurde, geht 
er 1860 zu Dr. Schmerling. 


Was hat Hr. Lyell in Bewegung 
geſetzt? — Im Jahre 1859 erſchien das 


Werk Darwins über „die Entſtehung der 
Im Jahre 1841 begann Boucher de Arten“, nachdem ſchon im Jahre 1858 
Darwin und Wallace die engliſchen 
Gelehrten mit den Grundzügen der neuen 


Was ſagt Lyell | Lehre bekannt gemacht hatten. 


Alſo ein ſo ausgezeichneter Forſcher wie 
Lyell ſteht faſt 30 Jahre lang unter dem 
Drucke von Thatſachen, ohne im Stande zu 
ſein, das Joch des Cuvier'ſchen Dogmas 
abzuſchütteln. Bis zum Jahre 1858 wird 
allen Thatſachen zum Trotz auf allen Hoch— 
ſchulen das Cuvier 'ſche Dogma gelehrt. 
Ein neues Dogma mußte das alte 
zuvor vom Throne ſtoßen, dann 
gingen Lyell und andern die Augen auf. 
Das iſt die Macht des Dogma's, 
der kein Menſch ſich entziehen kann. 


Man hört gegenwärtig ſo viel Jammern, 
daß mit der Darwin'ſchen Lehre der Dog— 
matismus nicht blos in der Wiſſenſchaft, 
ſondern tief in die Laienwelt hineingetragen 
worden ſei. Diejenigen, welche ſo klagen, 
find gerade die, welche ihre wiſſenſchaftliche 
Laufbahn unter dem Banne des Cuvier'ſchen 
Dogma's machten, freilich ohne zu wiſſen, 
welches Joch auf ihrem Nacken lag. Dieſen 
möchte ich den obigen Spiegel vorhalten. 
Sie möchte ich fragen: Welches Dogma 
war fruchtbringender für die anthropolo- 


FFF 


| 


1 


56 


Jäger, Die moderne Anthropologie. 


giſche Forſchung, das von Cuvier oder | Cuvier'ſche Joch tragen, daher doppelt be— 
das von Darwin? laſtet find: hine illae lacrymae! 


Das Gelungene an der Wendung der 
Dinge iſt namentlich das, daß die Ackerer 
auf dem neuen Boden der Anthropologie 
nicht etwa blos die Darwinianer, ſondern 
vielleicht ſogar der Mehrzahl nach eher die 
Zweifler an deſſen Lehre ſind. Im Schweiße 
ihres Angeſichts arbeiten ſie, um — wie ſieſagen 
— die Ehre des Menſchengeſchlechts wieder 
herzuſtellen, die dadurch angegriffen ſei, daß 
man es einer ſo niedrigen Herkunft zeihe. 
Dabei vergeſſen ſie ganz, daß ſie damit ge— 
nau ebenſo unter das Joch des neuen Dogma's 


gebeugt ſind wie ihre Gegner, nur mit dem 


Unterſchiede, daß ſie daneben noch das alte 


Was folgt daraus? Das neue Dogma 
iſt eine Macht, der ſich kein Forſcher mehr 
entziehen kann und welches gerade wie das 
Cuvier'ſche. Dogma fo lange die Forſchung 
ſouverain und unerbittlich beherrſchen wird, 
bis ein beſſeres es ſtürzt. Weiter folgt 
daraus: Es ſollten beide Theile etwas ver— 
ſöhnlicher gegen einander werden, den Gegner 
nicht beſchimpfen, ſondern ſtets an die eigene 
Bruſt ſchlagen, eingedenk des Bibelſpruchs: 

„Wir ſind allzumal Sünder (i. e. 
Dogmatiker), und mangeln des Ruhms, 
den wir vor Gott haben ſollen.“ 


worden. 


Darwin’s Werk: 


„Ueber die Wirkungen der Kreuzung und Selbſtbefruchtung im Pflanzenreich“ 
und ſeine Bedeutung für unſer Verſtändniß der Blumenwelt 


von 


Dr. Hermann Müller. 


N 


ſurch ein Werk, welches, wie 
das vorliegende, für die Er— 
klärung eines unermeßlich 
reichen Gebietes wunderbarer 
T Erſcheinungen zum erſten 
Male eine breite und ſichere Grundlage 
ſorgfältig feſtgeſtellter Thatſachen 
ſehen wir uns unwillkürlich veranlaßt, auf 


und ihre Begründung zurückzublicken, die 
jetzt gewonnenen Grundlagen für ein Ver— 
ſtändniß deſſelben, glatt herausgeſchält, 
uns zu vergegenwärtigen, 
Weiterforſchung ſich neu eröffnenden Pfade 


Nins Auge zu faſſen. 


Bis zu Chr. Conr. Sprengel's Zeit 


gelten. Die Frage, warum der einen 
Blume dieſe, der andern jene Eigenthümlich— 
keit der Farbe, des Geruches und der Ge— 
ſtaltung zukomme, konnte erſt auftauchen, 


nachdem dieſer ſelbſtbeſchränkte Standpunkt 


überwunden war, nachdem man begonnen 


liefert, 


hatte, ſich in das Einzelleben der Organismen 


zu vertiefen und ihnen einen eigenen Zweck zu— 
die bisherigen Auffaſſungen dieſes Gebietes 


zuerkennen. Dann mußte aber auch unaus— 
bleiblich die Beobachtung der den Blumen ihre 
Nahrung entnehmenden Inſekten zu der Er— 


kenntniß führen, daß die Bedeutung der 


und die der 


war an eine Löſung der Räthſel der Blumen 


welt, ſo viel wir wiſſen, nie gedacht 


Das Wohlbehagen, welches die 


Blumen durch ihre bunten Farben, ihre 
Wohlgerüche und ihre unendlich mannigfal— 
tigen, zierlichen Formen dem Menſchen wohl 
von jeher verurſacht haben mögen, konnte 
ihm, ſo lange er ſich ſelbſt als Mittelpunkt 
und alleinigen Zweck des Weltalls betrachtete, 
als hinreichender Grund 


ihrer Exiſtenz 


Blumeneigenthümlichkeiten nicht durch eine Be 
trachtung derſelben für ſich, ſondern nur im 
Zuſammenhange mit der Thätigkeit der die 
Blumen beſuchenden Inſekten erkannt werden 
könne. Der erſte Forſcher, der ſich mit 
ſo liebevoller Hingabe in das Leben der 
einzelnen Blumen und in die Thätigkeit der 
fie beſuchenden Juſekten verſenkte, daß dieſe 
Wahrheit ſich ihm erſchließen mußte, war 
Chr. Conr. Sprengel, welcher ſeine wichtigen 
Entdeckungen unter dem Titel: „Das ent— 
deckte Geheimniß der Natur im Bau und 
in der Befruchtung der Blumen“ im Jahre 
1793 veröffentlichte. 


CH 
[0 0) 


Sprengel hatte erkannt, daß viele 


Müller, Darwin's Werk. 


| alſo geſchehen, daß die Inſekten, indem fie 


honighaltige Blumen fo eingerichtet find, | 


daß zwar die Inſekten, welche ſich von ihrem 
Honige nähren, ſehr leicht zu demſelben 


dem Safte der Blumen nachgehen, noth— 
wendig den Staub der Antheren abſtreifen 


und auf das Stigma (die Narbe) bringen.“ 


gelangen können, der Regen aber ihn nicht 


verderben kann, und daraus geſchloſſen, daß 
der Honig dieſer Blumen wenigſtens zunächſt 
um der Inſekten willen abgeſondert werde. 
Es war ihm nicht entgangen, daß die ihrer 
Nahrung wegen in der Luft umherſchwär— 
menden Inſekten durch die bunten Farben 
der Blumen ſchon von weitem auf dieſe 
ihre Honigbezugsquellen aufmerkſam werden, 
und daß beſonders gefärbte Flecken und 
Linien an den Blumen ſich immer da finden, 
wo ein Inſekt ſeinen Kopf oder Rüſſel 
hineinzuſtecken hat, um zum Honige zu 
gelangen. Auch dieſe Blumeneigenthümlich— 
keiten konnte er daher nur als, wenigſtens zu— 
nächſt, um der Inſekten willen vorhanden, 
auffaſſen. Er hatte ferner direct beobachtet, 
daß die Inſekten, indem ſie dem Honige 
der Blumen nachgehen, ſich gewöhnlich mit 
Blüthenſtaub derſelben behaften und denſelben 
zum Theil an den Narben abſetzen, daß 
ſie alſo, ohne es zu wiſſen und zu wollen, 
ſehr häufig die Vermittler der Befruchtung 
werden. Er hatte endlich ſich überzeugt, 
daß viele honighaltige Blumen von Natur 
ſchlechterdings nicht anders befruchtet werden 
können, als durch dieſe Vermittelung der 
Inſekten. 

Aus dieſen Ergebniſſen ſeiner Unter— 
ſuchungen zuſammengenommen folgte nun 
faſt unabweislich ſeine Erklärung der Ein— 
richtungen aller honighaltigen Blumen, deren 
Grundlage er, von ſeinem teleologiſchen 
Standpunkte aus, in folgende Worte faßte: 
1) „Dieſe Blumen ſollen (nach der Abſicht 
des Blumenſchöpfers) durch dieſe oder jene 
Art von Inſekten oder durch mehrere Arten 
derſelben befruchtet werden. 2) Dieſes ſoll 


beſuchenden 


Von dieſer Grundlage aus erklären ſich die 
Abſonderung und Schützung des Honigs, 
die Augenfälligkeit und der Duft der Blumen 
als Einrichtungen, welche den Blumen un— 
mittelbar Inſektenbeſuch und mittelbar, mittelſt 
deſſelben, Befruchtung verſchaffen, während 
die beſondere Geſtaltung der Blüthentheile, 
ebenſo wie ihre gegenſeitige Stellung und 
Entwicklungsreihenfolge, ſich in der Regel 
als unmittelbar der Befruchtung durch die 
Inſekten dienend nachweiſen 
laſſen. 

Sprengel veröffentlichte dieſe Blu— 
mentheorie nicht, ohne fie an mehreren 
hundert Blumenarten mittelſt bewunder— 
ungswerth genauer Beobachtung ihrer 
Befruchtungseinrichtung und ihrer thatſächlich 
durch Inſekten vermittelten Befruchtung auf 
die Probe geſtellt zu haben. Sein Werk 
bildet daher eine reiche Fundgrube lichtvoller 
Einblicke in ein bis dahin abſolut dunkles 
Gebiet, und wir würden ihm noch heute 
die vollſte Berechtigung zu dem hohen Titel, 
mit welchem es auftrat, zuerkennen müſſen, 
wenn nicht in der Grundlage ſeiner Er— 
klärung ein ſchwacher Punkt vorhanden 
wäre, der wohl ſchon ſeinen Zeitgenoſſen 
aufgefallen ſein mag, und der allein es 
erklärlich macht, daß ein ſo prächtiges Werk 
70 Jahre hindurch faſt unbeachtet und 
wirkungslos bleiben konnte. Wenn nämlich, 
wie es nach der Sprengel'ſchen Blu- 
mentheorie ſcheint, die Befruchtung der 
Blumen durch Inſekten nichts anderes be— 
wirkt, als was auch ſchon die unmittelbare 
Vereinigung des Blüthenſtaubes mit der 
Narbe derſelben Blüthe bewirken würde, 
ſo iſt ſie nur eine nutzloſe Weitläufigkeit, 


* 


S 
x 


ebenſo widerſprechend der Vorſtellung eines 
weiſen Blumenſchöpfers, als unerklärlich 
durch Naturzüchtung. Nur wenn die In— 
ſekten als Befruchtungsvermittler den Pflanzen 
einen Vortheil zuführen, der ihnen durch 
die unmittelbare Vereinigung des Blüthen— 
ſtaubes mit der Narbe derſelben Blüthe 
nicht zu Theil werden kann, nur dann kann 
Demjenigen, der ſich einen Blumenſchöpfer 
vorſtellt, die von Sprengel demſelben 
zugeſchriebene Abſicht vernünftig und daher 
glaubhaft erſcheinen; nur dann iſt zugleich 
die Ausprägung aller jener Blumeneigen— 
thümlichkeiten, welche Inſektenbeſuch und 


mittelſt deſſelben Befruchtung herbeiführen, 


durch Naturzüchtung erklärlich. Dem Ent— 

decker der Bedeutung der Naturzüchtung, 

Charles Darwin, blieb es vorbehalten, in 
der günſtigen Wirkung der Kreuzung ges | 
trennter Individuen den Vortheil der durch | 
Inſekten vermittelten Befruchtung zu er— 

kennen und dadurch die ſtörende Lücke in 
der Grundlage der Sprengel'ſchen 
Blumentheorie auszufüllen. 

Schon in ſeinem Hauptwerke „Über die 
Entſtehung der Arten im Thier- und 
Pflanzenreiche“ (1859) hob Darwin die 
bereits vorliegenden Erfahrungen der Thier 
und Pflanzenzüchter hervor, welche darauf | 
hinweiſen, daß enge Inzucht von Nachtheil 
iſt, Kreuzung dagegen kräftigere oder frucht— 
barere Nachkommen hervorbringt, betonte 
nachdrücklich die Thatſache, daß ganz all— 
gemein bei allen organiſchen Weſen der 
Bau und die Lage der Geſchlechtstheile 
eine derartige iſt, daß ſie, oft mit unge— 
heurer Verſchwendung von männlichen Be— 
fruchtungskörpern, eine Kreuzung getrennter 
Individuen derſelben Art ermöglicht, und 
ſtellte es als ein vermuthlich allgemeines 
Naturgeſetz hin, daß kein organiſches Weſen 
eine unbegrenzte Zahl von Generationen 


Müller, Darwin's Werk. j: 


hindurch ſich ſelbſt befruchte, daß vielmehr 
jedes zu dauernder Erhaltung gelegentlicher 
Kreuzung mit getrennten Individuen derſelben 
Art durchaus bedürfe. Ebenſo erläuterte 
er bereits in demſelben vierten Kapitel, 
wie, unter der Vorausſetzung des Vortheils 
der Kreuzung, alle diejenigen Blumeneigen— 
thümlichkeiten durch Naturausleſe erhalten 
werden konnten und mußten, welche, wie 
z. B. die Honigabſonderung, den Beſuch 
der Inſekten veranlaſſen, oder welche, wie 
z. B. die Trennung der Geſchlechter, eine 
Kreuzung durch die beſuchenden Inſekten 
unvermeidlich machen. 

Was Darwin hier in den allgemeinſten 
Zügen erörterte, um die Wirkung der 
Naturzüchtung an einem beſtimmten erdachten 
Beiſpiele zu veranſchaulichen, die Anpaſſung 
der Blumen an Fremdbeſtäubung, das hatte 


er bereits mehr als 20 Jahre hindurch 


ſeit (1839) ins Auge gefaßt und durch eine 
große Maſſe von Beobachtungen für ſich 
ſelbſt feſt begründet. Anſtatt jedoch dieſe 
mannigfachen Beobachtungen gemiſcht und 
zum Theile unvollendet zu veröffentlichen, 
erſchien es ihm zweckmäßiger, eine einzelne 
Pflanzengruppe ſo ſorgfältig als möglich 
zu bearbeiten. Er wählte dazu die an 
höchſt verſchiedenen räthſelhaften Blumen— 
formen ſo wunderbar reiche Familie der 
Orchideen und zeigte in ſeinem 1862 er— 
ſchienenen Werke („Ueber die Einrichtungen 
zur Befruchtung britiſcher und ausländiſcher 
Orchideen durch Inſekten“, überſetzt von 
H. G. Bronn, Stuttgart 1862) mit über— 
wältigender Klarheit, daß bei faſt allen 
von ihm unterſuchten Arten dieſer Familie, 
nur einige wenige ſich regelmäßig ſelbſt 
befruchtende ausgenommen, die Blüthen mit 
erſtaunlicher Vollkommenheit und bis in 
die kleinſten Einzelheiten des Baues derartig 


eingerichtet ſind, daß ſie gewiſſe Inſekten 


S . — 


I 

\ 
j 
1! 


60 


zum Beſuche veranlaſſen, daß fie ferner 
nur durch dieſe beſuchenden Inſekten befruchtet 
werden können, und daß ſie endlich durch 


deren Beſuche unausbleiblich mit Pollen 


getrennter Individuen 


müſſen. 


beſruchtet werden 
Hierdurch erſchien nun mit einem 


Male, wie durch einen Zauberſchlag, das | 
Wunderreich der Blumen dem Verſtändniſſe 


erſchloſſen. Denn ſobald eine vortheilhafte 


Wirkung der Kreuzung als in allen Fällen 


ſtattfindend vorausgeſetzt werden darf, 
braucht man ja nur, wie es Darwin bei 
deu Orchideen in ſo meiſterhafter Weiſe 
gethan hat, alle Eigenthümlichkeiten einer 
Blume als mittelbar oder unmittelbar der 
Kreuzung dienend nachzuweiſen, um die 
Entſtehung derſelben als einen ganz natür— 
lichen Vorgang begreifen zu können. Und 
umgekehrt müßte die durchgängige Erklär— 
barkeit der Blumen aus der Vorausſetzung 
vortheilhafter Wirkung der Kreuzung dieſer 
Vorausſetzung ſelbſt den höchſten Grad von 
Wahrſcheinlichkeit verleihen. 

Zahlreiche Forſcher begannen daher, 
dieſes von Darwin eröffnete Gebiet zu 
bearbeiten. Aber während ſie einerſeits die 
mannichfachſten Blütheneinrichtungen der ver— 
ſchiedenſten Familien als der Kreuzung 
durch die natürlichen Uebertrager des Pollens 
(Inſekten, honigſaugende Vögel, Wind und 
Waſſer) dienend nachweiſen konnten, ſtellten 
ſich andererſeits ungewollt in mindeſtens 
gleichem Verhältniſſe auch immer zahlreichere 
Beiſpiele regelmäßiger oder wenigſtens über— 
wiegend häufiger Selbſtbefruchtung heraus, 
ſo daß zwar die Vorausſetzung ſtets vortheil— 
hafter Wirkung der Kreuzung nicht an 
Wahrſcheinlichkeit verlor, die Nothwendig— 

keit gelegentlicher Kreuzung aber durch alle 
auf das Darwin'ſche Orchideenwerk folgenden 
Blumenunterſuchungen zuſammengenommen 
der Gewißheit um keinen Schritt näher 


Müller, Darwin's Werk. 


geführt wurde. Um ſowohl die beobachteten 
Anpaſſungen der Blumen an Kreuzung, als 
auch die zahlreichen Fälle regelmäßiger 
Sichſelbſtbefruchtung erklären zu können, 
konnte es daher nicht mehr ausreichen, 
Kreuzung als ſtets vortheilhaft und ge— 
legentlich nothwendig vorauszuſetzen; viel— 
mehr mußte man durchaus auch der Be— 
deutung der Selbſtbefruchtung ausdrückliche 
Zugeſtändniſſe machen. Den früher ge— 
glaubten Satz: „Selbſtbefruchtung wirkt 
ſchädlich, Kreuzung vortheilhaft auf die 
Nachkommenſchaft ein“ mußte man dahin 
abändern: „Kreuzung iſt vortheilhafter als 
Selbſtbefruchtung; dieſe aber immer noch 
unendlich vortheilhafter als gänzliches Aus— 
bleiben der Befruchtung. In vielen Fällen 
ſcheint auch Selbſtbefruchtung von Generation 
zu Generation für die Fortpflanzung der 
Art genügen zu können. In Bezug auf 
die Wirkung der Selbſtbefruchtung ſcheint 
die Blumenwelt alle möglichen Abſtufungen 
darzubieten zwiſchen durchaus ſelbſt-unfrucht⸗ 
baren und durchaus ſelbſt-fruchtbaren 
Pflanzen.“ 

Ein derartiges Zugeſtändniß an die 
möglichen Wirkungen der Selbſtbefruchtung 
mußte indeß, ſo lange es nicht unmittelbar 
auf Verſuche geſtützt, ſondern nur mittelbar 
aus den Blütheneinrichtungen gefolgert war, 
erhebliche Bedenken erregen, da es der Er— 
fahrung der Viehzüchter, welche eine poſitiv 
nachtheilige Wirkung enger Inzucht nach— 
gewieſen hatten, direct zu widerſprechen 
ſchien. 

Der weitere Fortſchritt der Blumen— 
unterſuchuugen, weit entfernt, die der Er— 
klärung zu Grunde liegenden Vorausſetzungen 
zur Gewißheit zu erheben, legte daher nur 
immer klarer die Nothwendigkeit an den 
Tag, durch directe Beobachtung der Wir— 
kungen der Kreuzung und Selbſtbefruchtung 


| 3 Müller, Darwin's Werk. 


im Pflanzenreiche über die Richtigkeit oder 


Unrichtigkeit jener Vorausſetzungen zu ent— 
ſcheiden. Die in dieſer Richtung nebenbei 
bereits angeſtellten Verſuche und Beobach— 
tungen waren dazu viel zu vereinzelt; nur 
mit äußerſter Sorgfalt und Umſicht ange— 
ſtellte, durch viele Generationen hindurch 
fortgeſetzte und über zahlreiche Pflanzen der 
verſchiedenſten Familien und Länder ſich 
erſtreckende Selbſtbefruchtungs- und Kreu— 
zungsverſuche und genauer Vergleich ihrer 
Wirkungen konnten im günſtigſten Falle ſo 
umfaſſende Vorausſetzungen hinreichend ſicher 
begründen. Ja es mußte von vornherein 
ſogar ſehr zweifelhaft erſcheinen, ob die 
kurze Spanne Zeit, welche einem Einzelnen 
zur Beobachtung zu Gebote ſteht, die Ver— 
ſchiedenheit der Wirkungen beider Befruch— 
tungsarten hinlänglich klar zu Tage treten 
laſſen werde; ob dieſe nicht vielmehr ſo 
geringfügig ſein könne, daß ſie erſt nach 
langen Reihen von Generationen das Unter— 
liegen der aus der unvertheilhafteren Be 
fruchtungsart hervorgegangenen Nachkommen— 
ſchaft bewirkt. Darwin ſelbſt wurde durch 
dieſes Bedenken lange Jahre hindurch zurück— 
geſchreckt, ſich der faſt ausſichtsloſen Rieſen— 
arbeit des directen Verſuchs zu unterziehen. 
Er entſchloß ſich zu derſelben erſt, als er 
zufällig die überraſchende Entdeckung machte, 
daß bei mehreren Blumen, von denen er 
zu einem ganz anderen Zwecke aus Kreu— 
zung und aus Selbſtbefruchtung hervorge— 
gangene Pflanzen in großen Beeten neben 
einander aufzog, ſchon in der erſten Gene— 
rationen die erſteren merklich größer und 
kräftiger wurden als die letzteren. Eine 
lange Reihe von Verſuchen wurde nun von 
Darwin in Angriff genommen und die 
nächſten 11 Jahre hindurch fortgeſetzt, wobei 
er im Allgemeinen folgendes Verfahren be— 
obachtete. 


Keimpflänzchen 


61 


Es wurden an einer oder einigen, durch 
ein darüber geſtülptes Netz vor Inſekten—⸗ 
zutritt geſicherten Pflanzen eine gewiſſe An— 
zahl Blüthen gezeichnet und mit eigenem 
Pollen befruchtet, und an denſelben Pflanzen 
zu gleicher Zeit eine gleiche Anzahl Blüthen 
in anderer Weiſe gezeichnet und mit Pollen 
eines getrennten Individuums befruchtet. 
Die durch beiderlei Befruchtungsarten er— 
haltenen Samenkörner wurden völlig reif 
eingeerntet, in feuchtem Sande, auf entgegen— 
geſetzten Seiten deſſelben, durch eine Glas— 
platte bedeckten, Glasgefüßes zum Keimen 
gebracht, und, ſo oft ein aus Selbſtbe— 
fruchtung und ein aus Kreuzung hervorge— 
gangener Same gleichzeitig keimten, die 
auf die entgegengeſetzten 
Seiten eines Blumentopfes gepflanzt und 
unter möglichſt ſorgfältig gleich hergeſtell— 
ten Lebensbedingungen (Boden, Feuchtigkeit, 
Wärme, Licht) heranwachſen gelaſſen. 
dieſe Weiſe wurden jedesmal mehrere, oft 
über ein Dutzend gleichaltrige Paare dem 
Vergleiche der Wirkungen der beiden Be— 
fruchtungsarten unterworfen. Verglichen 
aber wurden die einzelnen Concurrenten, 
und dann, nach Berechnung der Durch— 
ſchnittszahlen, die beiden Parteien, regelmäßig 
in Bezug auf die Höhe, die ſie in erwach— 
ſenem Zuſtande erreichten, oft auch in Bezug 
auf ihre Höhe in früherem Lebensalter und 
bisweilen in Bezug auf das Gewicht der 
erwachſenen Pflanze. Auch ein verſchiedenes 
Verhalten beim Keimen, ein ungleichzeitiges 
Aufblühen beider Parteien und eine ver— 
ſchiedene Fruchtbarkeit derſelben, wie ſie ſich 
in der Zahl der hervorgebrachten Samen- 
kapſeln und der Durchſchnittszahl der in 
jeder Kapſel enthaltenen Samenkörner zu 
erkennen gibt, wurde häufig beobachtet und 


aufgezeichnet. 
Von den in feuchten Sand geſäten 


Auf 


62 


Müller, Darwin's Werk. 


Samenkörnern beider Parteien blieben nach 


dem Herausnehmen der gleichaltrigen Paare 
zahlreiche, theils in keimendem, theils in noch 
nicht keimendem Zuſtande übrig, und dieſe 
wurden dann dicht gedrängt auf die ent— 
gegengeſetzten Seiten eines oder einiger 
großer Blumentöpfe oder bisweilen in zwei 
lange Reihen ins freie Land geſät und in 
ſtrengſtem Wettkampfe um die Daſeinsbe— 
dingungen heran wachſen gelaſſen. Zahl— 
reiche Individuen gingen dabei frühzeitig 
zu Grunde; von den am Leben bleibenden 
wurden dann die größten, wenn ſie ausge— 
wachſen waren, gemeſſen. 

Die gleichaltrigen Paare wurden zu 


einem Vergleiche der in den folgenden 
Generationen hervortretenden Unterſchiede 


der beiden Befruchtungsarten in folgender 
Weiſe benutzt: Einige Blüthen der aus 
Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Pflanzen 
wurden wiederum ſelbſtbefruchtet, und einige 
Blüthen der aus Kreuzung hervorgegangenen 
Pflanzen wurden wiederum mit Pollen 
getrennter Individuen derſelben Zucht ge— 
kreuzt, und dieſelbe Methode bei einigen 
Arten nicht weniger als 10 Generationen 
hindurch fortgeſetzt, indem die Samenkörner 
und die aus ihnen erzielten Pflänzchen 
jedesmal genau in der ſchon beſchriebenen 
Weiſe behandelt wurden. 

Da alle dem Vergleich unterworfenen 
Pflanzen immer möglichſt gleichen Lebensbe— 
dingungen ausgeſetzt und die aus Kreuzung 
hervorgegangenen von Generation zu Genera— 
tion immer nur wieder unter ſich gekreuzt wur— 
den; ſo mußten auch die letzteren immer enger 
unter einander einander verwandt, und ur— 
ſprüngliche Eigenthümlichkeiten der Einzelnen 
immer mehr ausgeglichen werden. Die 
angedeutete, von Darwin in der Regel an— 
gewandte Methode war alſo ſehr wohl ge— 
eignet die Frage zu entſcheiden, ob Kreuzung 


Vortheil ſei. 
haften Wirkungen einer Kreuzung nicht 


an ſich, unabhängig von der conſtitutionellen 
Verſchiedenheit der ſich Kreuzenden, von 
Um dagegen die vortheil— 


verwandter Individuen, welche bei der 


Naturzüchtung der Blumen wohl in der 


Regel den Ausſchlag gegeben haben mag, 
in ihrem vollen Umfange hervortreten zu 
laſſen, hätten von Generation zu Generation 
die aus Selbſtbefruchtung hervorgegangenen 
Pflanzen einerſeits wieder ſelbſtbefruchtet, 
andrerſeits aber mit nicht verwandten In— 
dividuen derſelben Art und Varietät gekreuzt 
werden müſſen. Dieſer Verſuch wurde nur 
einige Male den oben angegebenen regel— 
mäßig angeſtellten hinzugefügt und lieferte 
überraſchende Reſultate; nicht nur in den 
oben angegebenen Beziehungen, ſondern ganz 
beſonders auch in der verſchiedenen Wider— 
ſtandsfähigkeit beider Parteien gegen feind— 
liche Einflüſſe (plötzliches Verpflanzen ins 
freie Land, Aufwachſen im Gedränge anderer 
Pflanzen u. ſ. w.). 

Was den Umfang der von Darwin 
11 Jahre hindurch fortgeſetzten grundlegenden 
Verſuche anbetrifft, ſo beläuft ſich die Zahl 
der aus Kreuzung und ebenſo die Zahl 
der aus Selbſtbefruchtung erzielten Pflanzen— 
individuen, die er vom Keime bis zur 
fertigen Entwicklung verfolgte und auf 
Grund ſorgfältiger Meſſungen verglich, auf 
mehr als 1000; ſie gehören 57 Arten, 
52 verſchiedenen Gattungen, 30 großen 


Familien des Pflanzenreichs an und ſind 
in verſchiedenen Erdtheilen zu Hauſe. 

Die wichtigſten allgemeinen Ergebniſſe 
der Darwin'ſchen Verſuche ſind etwa fol— 
gende: 

A. 1) Werden Pflanzen derſelben Art 
viele Generationen hindurch unter möglichſt 
gleichen Lebensbedingungen gehalten und von 
Generation zu Generation durch Selbſtbe— 


fruchtung fortgepflanzt, jo gewährt eine 


darauf folgende Kreuzung zwiſchen denſelben 


wenig oder gar keinen Vortheil. 

B. 2) Werden Pflanzen derſelben Art 
viele Generationen hindurch unter möglichſt 
gleichen Lebensbedingungen gehalten und von 
Generation zu Generation immer nur unter 
ſich gekreuzt, ſo läßt die aus ſolcher Kreuz— 
ung hervorgehende Nachkommenſchaft wohl 
während der erſten Generationen in der 
Regel einige Ueberlegenheit in Kräftigkeit 
und Fruchtbarkeit über die aus Selbſtbe— 
fruchtung hervorgegangenen Nachkommen er— 
kennen, nach einer geringen Anzahl von 
Generationen jedoch hört der vortheilhafte 
Einfluß dieſer Art von Kreuzung faſt voll— 
ſtändig oder vollſtändig auf und 

3) auch die Kreuzung der aus ſteter 
Selbſtbefruchtung derſelben Zucht erhaltenen 
Pflanzen mit den aus Kreuzung unter ſich 


Müller, Darwin's Werk. 


wir hier die obigen Sätze in die einfachen 
Formeln faſſen: 


E So 
B. 2) ESS 
3) SK IS 8 

Dagegen 4) S K F>S 


C. Werden dagegen aus andauernder 
Selbſtbefruchtung oder aus andauernder In— 
zucht hervorgegangene Pflanzen mit einem 
friſchen Stocke gekreuzt, ſo ergiebt dies 
immer viel kräftigere und fruchtbarere Nach— 
kommen, als weitere Inzucht; insbeſondere 
folgt aus den Darwi n'ſchen Verſuchen: 

SN 
FF 
I 
oder, wenn man dieſe Ergebniſſe vom ent— 
gegengeſetzten Geſichtspunkte aus ins Auge 
faßt: 


erhaltenen liefert kaum mehr ein günſtigeres S 
Reſultat als Selbſtbefruchtung, wogegen e 
4) Kreuzung der aus Selbſtbefruchtung E 


7 


hervorgegangenen Pflanzen mit einem friſchen 
Stocke außerordentlichen Vortheil gewährt 


Bezeichnen wir, um dieſe kaum ohne 
Weitſchweifigkeit in Worte zu faſſenden 
Verhältniſſe mit einem Blicke überſehen zu 
können, die aus (mehrere Generationen hin— 
durch) fortgeſetzter Selbſtbefruchtung hervor— 
gegangenen Pflanzen mit S, die aus fortgeſetz— 
ter Kreuzung (mehrere Generationen hindurch) 
unter ſich hervorgegangenen und möglichſt 
gleichen Lebensbedingungen 
weſenen Pflanzen mit J (Inzucht), Pflanzen 
eines friſchen Stockes, d. 


ausgelegt ge 
zucht hervorgegangen Pflanzen unter ſich 
h. nicht ver- | 
wandte und unter abweichenden Lebens- 
bedingungen aufgewachſene Individuen mit 
F (Fremde), die neue Kreuzung mit , 
annähernd gleiche Kräftigkeit und Frucht— 
barkeit mit O, bedeutend überlegene mit | 


[PE bedeutend nachſtehende mit <, fo können gangenen Pflanzen unter ſich ſehr viel we— 


das heißt mit Worten: 

5) Der Vortheil, welchen eine Kreuzung 
aus andauernder Selbſtbefruchtung hervor— 
gegangener Pflanzen mit aus Inzucht her— 
vorgegangenen und gleichen Lebensbeding— 
ungen ausgeſetzt geweſenen Pflanzen gewährt, 
iſt unbedeutend im Vergleich zu den vor— 
theilhaften Wirkungen einer Kreuzung der— 
ſelben Pflanzen mit einem friſchen Stode, 


Ebenſo liefert 


6) weitere Kreuzung der aus In— 
ſehr viel ſchlechtere Reſultate, in Bezug auf 
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit der Nach- 
kommen, als Kreuzung der aus Selbſt— 
befruchtung hervorgegangenen mit einem 
friſchen Stocke; und nicht minder hat 
7) Kreuzung der aus Inzucht hervorge— 


(rd x 
Dee 


64 Müller, Darwin's Werk. 


niger vortheilhafte Ergebniſſe als ihre 
Kreuzung mit einem friſchen Stocke. 

Aus dem erſten und den drei letzten 
Sätzen zuſammengenommen folgt in une 
zweideutiger Weiſe, daß der Vortheil einer 
Kreuzung niemals darin liegen kann, daß 
überhaupt die geſchlechtlichen Elemente ge— 
trennter Individuen ſich vereinigen, daß er 
vielmehr nur durch die innere Verſchieden— 
heit der ſich kreuzenden Individuen und 
ihrer geſchlechtlichen Elemente bedingt ſein 
kann. Dieſer von vornherein wahrſchein— 
liche, nun auch durch die Erfahrung be— 
ſtätigte Satz macht uns zugleich die unter 
B aufgeſtellten Sätze verſtändlich. Denn 
wenn Pflanzen immer unter möglichſt gleichen 
Lebensbedingungen gehalten und dabei immer 
nur unter ſich gekreuzt werden, ſo werden 
ſie unausbleiblich immer enger verwandt, 
und die anfangs vorhandenen individuellen 
Verſchiedenheiten müſſen ſich von Generation 
zu Generation mehr und mehr ausgleichen. 

In allen den bisherigen Sätzen handelt 
es ſich nur um eine vergleichsweiſe Werth— 
ſchätzung der Kreuzung und Selbſtbe— 
fruchtung. Darwin ſtellt jedoch als wich— 
tigſtes allgemeines Ergebniß ſeiner geſammten 
Verſuche die beiden nicht relative, ſondern 
abſolute Geltung beanſpruchenden Sätze 
hin: „Kreuzung iſt im Allgemeinen vortheil— 
haft und Selbſtbefruchtung ſchädlich.“ (Cross- 
fertilisation is generally beneficial and 
self-fertilisation injurious.) Es iſt 
nöthig, die Begründung dieſer beiden Sätze 
ins Auge zu faſſen, um ſich vor einer 
Ueberſchätzung ihrer abſoluten Geltung zu 
bewahren. 

Wenn Beſenſtrauch, die großblumige 
Form des Stiefmütterchens und andere 
Blumen, welche in freier Natur regelmäßig 
eine Kreuzung getrennter Stöcke durch be— 
ſuchende Inſekten erfahren, bei den Dar— 


winſchen Selbſtbefruchtungs- und Kreu— 
zungsverſuchen ſchon in der erſten Generation 
ein bedeutendes Zurückbleiben der aus 
Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Nach— 
kommen hinter den aus Kreuzung hervor— 
gegangenen, in Bezug auf Kräftigkeit und 
Fruchtbarkeit, erkennen laſſen, ſo kann 
dieſer Unterſchied offenbar nicht dadurch 
hervorgebracht worden ſein, daß die von 
Darwin vorgenommene Kreuzung die 
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit dieſer Pflanzen 
vermehrt hätte, da ſie ja während zahlloſer 
vorhergehender Generationen beſtändig ſolche 
Kreuzung erfahren haben. Die Selbſtbe— 
fruchtung muß alſo in dieſen Fällen poſitiv 
nachtheilig auf die Kräftigkeit und Frucht⸗ 
barkeit der Nachkommen eingewirkt haben, 
und wir ſind zur Aufſtellung des Satzes 
berechtigt: 

8) Pflanzen, welche viele Generationen 
hindurch der Kreuzung mit fremden Stöcken 
unterworfen geweſen ſind, werden durch 
Selbſtbefruchtung (in manchen oder allen 
Fällen?) in Bezug auf Kräftigkeit und 
Fruchtbarkeit ihrer Nachkommen erheblich 
geſchädigt. 

Andrerſeits kennen wir zahlreiche 
Pflanzen, die ſich in der Regel durch 
Selbſtbefruchtung fortpflanzen, und bei 
denen die ſich von Neuem wiederholende 
Selbſtbefruchtung eine Verminderung der 
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit durchaus nicht 
erkennen läßt, für die alſo der zweite der 
beiden obigen Sätze (Selbſtbefruchtung 
wirkt ſchädlich) nicht gilt. Gerade auf ſolche, 
viele Generationen hindurch durch Selbſt— 
befruchtung fortgepflanzte Arten aber (wie 
z. B. die Gartenerbſe) findet, ſoweit die 
bisherigen Verſuche ein Urtheil geſtatten, 
der erſte der beiden obigen Sätze (Kreuzung 
wirkt vortheilhaft) ſeine Anwendung; gerade 
ſie werden durch Kreuzung mit einem 


friſchen Stode in Kräftigkeit und Frucht— 
barkeit in der Regel außerordentlich geſteigert; 
ebenſo freilich auch Pflanzen (3. B. Ipomaea 
purpurea), welche zahlreiche (9) Genera— 
tionen hindurch durch Kreuzung unter ſich 
fortgepflanzt worden ſind und dann mit 
einem friſchen Stocke gekreuzt werden, ſo 
daß wir ferner behaupten dürfen: 

9) Pflanzen, welche viele Generationen 
hindurch immer durch Selbſtbefruchtung 
oder Kreuzung unter ſich fortgepflanzt 
worden ſind, werden durch Kreuzung mit 
einem friſchen Stocke (in manchen Fällen 
oder in der Regel?) kräftiger und frucht— 
barer. 

Die Einſchränkung, welche Darwin 
ſeinen beiden Sätzen: „Kreuzung wirkt 
vortheilhaft und Selbſtbefruchtung ſchädlich“ 
durch das hinzugefügte „im Allgemeinen“ 
(generally) gibt, läßt ſich hiernach durch 
ausdrückliche Hinzufügung folgender beiden 
Sätze näher beſtimmen: 

10) Pflanzen, welche bereits viele Gene— 
rationen hindurch immer durch Kreuzung 
mit friſchen Stöcken fortgepflanzt worden ſind, 
werden durch fernere Kreuzung mit friſchen 
Stöcken in ihrer Kräftigkeit und Frucht— 
barkeit nicht weiter geſteigert. 

11) Ob Pflanzen, welche bereits viele 
Generationen hindurch nur durch Selbſt— 
befruchtung oder enge Inzucht fortgepflanzt 
worden ſind, durch fernere Selbſtbefruchtung 
oder enge Inzucht noch eine Abnahme ihrer 
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit erleiden, wiſſen 
wir nicht. 

Der Umſtand, daß alle Pflanzen, ebenſo 
wie alle Thiere, derartig eingerichtet ſind, 
daß eine gelegentliche Vereinigung der ge— 
ſchlechtlichen Elemente getrennter Individuen 
mindeſtens möglich bleibt, macht es allerdings 
wahrſcheinlich, daß, abgeſehen von den ein— 

fachſten, nur durch Theilung ſich vermehren— 


Müller, Darwin's Werk. 


den Urweſen (Protiſten), jedes organiſche 
Weſen gelegentlicher, wenn auch erſt nach 
langen Zeiträumen erfolgender Kreuzung 
mit einem getrennten Individuum ſeiner 
Art bedarf. Eine Gewißheit darüber liegt 
aber nicht vor, und auch die Wahrſcheinlich— 
keit iſt durch die umfaſſenden Darwin'ſchen 
Verſuche nicht geſteigert worden. Im Gegen— 
theile legen dieſe die Vermuthung nahe, 
daß eine Anpaſſung an ſtete Selbſtbefruch— 
tung möglich iſt. Bei denjenigen beiden 
Blumen nämlich, bei denen Darwin die 
vergleichenden Selbſtbefruchtungs- und Kreu— 
zungsverſuche die größte Zahl von Genera— 
tionen hindurch fortgeſetzt hat (Tpomaea 
purpurea und Mimulus luteus), traten in 
den ſpäteren Generationen in der aus ſteter 
Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Zucht 
einzelne Individuen auf, welche die aus 
ſteter Kreuzung unter ſich hervorgegangenen 


an Kräftigkeit und Fruchtbarkeit erheblich 


übertrafen, und ihre überraſchende Kräftigkeit 
und Fruchtbarkeit von Generation zu Gene— 
ration, ſoweit die Beobachtung ſich erſtreckt 
hat, auch auf ihre Nachkommen vererbten. 
In einem dieſer beiden Fälle, bei Ipomaea 
purpurea, ſchien ein ſolches, aus ſteter 
Selbſtbefruchtung hervorgegangenes Indivi— 
duum (welches Darwin deshalb Hero 
taufte) von ſeiner Stammform ſogar in 
der Art abgewichen zu ſein, daß es — und 
ebenſo ſeine Nachkommen — nicht nur 
Nachkommen von großer Kräftigkeit und 
geſteigerter Fruchtbarkeit lieferte, wenn es 
durch Selbſtbefruchtung fortgepflanzt wurde, 
ſondern daß ſogar Kreuzung mit einem ge— 
trennten Stocke gar nicht mehr vortheilhaft 
darauf einzuwirken ſchien. Es muß indeß aus- 
drücklich hervorgehoben werden, daß dieſes 
ſeltſamſte aller Darwin'ſchen Unterſuchungs— 
ergebniſſe nur an einer einzigen Generation 
und unter abnormen Verhältniſſen erhalten 


66 


wurde, ſo daß es wohl als Anregung zu | 
weiteren Verſuchen in dieſer Richtung, aber | 
keineswegs als bereits conſtatirte Ausnahme 
der Regel, daß Kreuzung gerade nach an— 
dauernder Selbſtbefruchtung von beſonderem 
Vorthei Lift, dienen kann. In dem anderen 
Falle, bei Mimulus luteus, hatten die durch 
Kräftigkeit und Selbſtfruchtbarkeit auffallen- 
den Individuen der aus ſteter Selbſtbe— 
fruchtung hervorgehenden Zucht im Gegen— 
theile von einer Kreuzung mit einem friſchen 
Stocke ganz bedeutenden Vortheil. 

Noch zwei andere für das Verſtändniß 
der Blumenwelt ſehr wichtige Ergebniſſe 
dürfen hier nicht unerwähnt bleiben. 

12) Wenn Blumen, welche in ihrer 
Blüthenfarbe variiren, von Generation zu 
Generation immer nur durch Selbſtbefruch— 
tung fortgepflanzt werden, ſo entſteht nach 
wenigen Generationen eine durchaus gleich— 
artig gefärbte Nachkommenſchaft. 

Dies erklärt uns z. B. in einfachſter 
Weiſe die an ſich befremdende Thatſache, 
daß die kleinblumige Form des Stief— 
mütterchens in ihrer Färbung ganz gleich— 
artig und conftant, die großblumige dagegen 
ſehr verſchiedenartig und variabel iſt; denn 
die erſtere befruchtet ſich (wie ich in der 
„Nature“ vom 20 Nov. 1873 nachgewieſen 
habe) regelmäßig ſelbſt, die letztere dagegen 
wird ausſchließlich oder vorwiegend durch 
Kreuzung fortgepflanzt. 

13) Wenn Blüthen mit anderen 
Blüthen derſelben Pflanze oder auch mit 
Blüthen anf getrennten Wurzeln wachſender, 
aber demſelben Stocke als Schößlinge ent— 
ſtammender Pflanzen gekreuzt werden, ſo 
wirkt ſolche Kreuzung entweder gar nicht 
oder nur ſehr unbedeutend güunſtiger als 
Befruchtung mit eigenem Blüthenſtaube. 
Zahlreiche Blumeneinrichtungen, welche eine | 


Müller, Darwin's Werk. 


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Kreuzung getrennter Stöcke veranlaſſen oder 
begünſtigen, laſſen ſich daraus erklären. 
Die ſonſtigen interreſſanten Ergebniſſe 
der Darwin'ſchen Verſuche und die Fülle 
wichtiger allgemeiner Betrachtungen, welche 


in den letzten Kapiteln dieſes Werkes nieder— 
gelegt ſind, übergehe ich hier. 


Die heraus— 
gegriffenen 13 Sätze ſcheinen mir als 
Grundlagen der heutigen Blumentheorie 
von hervorragendſter Wichtigkeit zu ſein, 
und die Vorausſetzungen, welche ich in 
meinem Buche „Die Befruchtung der Blumen 
durch Inſekten“ meiner Erklärung von Blu— 
meneinrichtungen zu Grunde gelegt habe 
(vgl. Seite 443 — 448) nur durchaus zu 
beſtätigen. Ich faſſe deshalb dieſe Voraus— 
ſetzungen hier nochmals in den Worten zu— 
ſammen: „So oft aus Selbſtbefruchtung 
hervorgegangene Nachkommen mit aus Kreuz— 
ung hervorgegangenen in Wettkampf um die 
Daſeinsbedingungen gerathen, werden die 
erſteren von den letzteren überwunden; es 
werden daher vorwiegend Kreuzung beför— 
dernde Blumeneigenthümlichkeiten durch Na— 
turzüchtung ausgeprägt. Tritt dagegen dieſer 
Wettkampf nicht ein, ſo vermag in vielen 
Fällen auch Selbſtbefruchtung eine unbe— 
kannte, vielleicht unbegrenzte Zahl von Gene— 
rationen hindurch der Fortpflanzung zu 
genügen und zahlreiche, geſunde und frucht— 
bare Nachkommen zu liefern; in ſolchen 
Fällen, in welchen eine Kreuzung durch die 
natürlichen Transportmittel des Pollens 
(Wind, Inſekten u. ſ. w.) unſicher wird 
oder dauernd verloren geht, prägen ſich 
daher häufig Selbſtbefruchtung befördernde 
Eigenthümlichkeiten aus.“ 

Das einzige Bedenken, welches ſich von 
Seiten der Darwin'ſchen Verſuche gegen die 
Richtigkeit dieſer Vorausſetzungen erheben 
ließe, iſt das oben erwähnte Verhalten der 
Hero, jenes auffallend ſelbſtfruchtbaren In⸗ 


dividuums von Ipomaea purpurea, ein Ver— 
halten, welches durch die abnormen Um— 
ſtände, unter welchen es, und zwar nur 
ein einzigesmal, beobachtet wurde, ſeine 
Beweiskraft verliert, welches aber allerdings, 
wenn es ſich bei weiteren Verſuchen in dieſer 
Richtung beſtätigen ſollte, die Allgemein— 
gültigkeit des erſten Satzes meiner Vor— 
ausſetzungen umſtoßen würde. Von den 
mannichfachen neuen Unterſuchungsrichtungen, 
zu welchen das vorliegende Werk Anregung 
und Ausgangspunkte geben könnte, ſcheint 
mir deshalb eine der dankbarſten die weitere 
Verfolgung der an Hero und an den auf— 
fallend ſelbſtfruchtbaren Exemplaren von 
Mimulus luteus gemachten Erfahrungen zu 
ſein. Es müßten durch eine größere Zahl 
mit Darwin' cher Umſicht, Sorgfalt und 


Ausdauer ausgeführter Verſuchsreihen die 
Fragen entſchieden werden: Kommt es nur 
ausnahmsweiſe vor oder iſt es vielleicht 


Müller, Darwin's Werk. 


ſogar die Regel, daß bei ſteter Selbſtbe— | 
fruchtung eine völlige Anpaſſung an diefe | 


Befruchtungsweiſe ſtattfindet? Geht dieſe 


Anpaſſung wirklich in einigen Fällen ſo 


weit, daß Kreuzung mit einem getrennten 
Stocke der Pflanze gar keinen Vortheil 
mehr bringt? Oder iſt Kreuzung mit 


einem getrennten Stocke in allen Fällen, 
auch nach viele Generationen hindurch fort— 


geſetzter Selbſtbefruchtung, noch von Vor— 
theil? In dieſe Verſuchsreihen müßten 
namentlich auch diejenigen Blumenarten auf— 
genommen werden, von denen ich nachge— 
wieſen habe, daß ſie in zwei Formen exiſtiren, 
einer mit augenfälligen, der Kreuzung an— 
gepaßten, einer andern mit unanſehnlichen, 
ſich regelmäßig ſelbſtbefruchtenden Blumen 
(Viola tricolor, Rhinanthus erista galli 
u. ſ. w.) 

Nächſt dem dürfte es eine ſehr lohnende 
Aufgabe fein, vergleichende Selbſtbefruch— 
tungs- und Kreuzungsverſuche viele Gene— 
rationen hindurch in der Weiſe anzuſtellen, 
daß jedesmal die aus Selbſtbefruchtung 
hervorgegangenen Pflanzen einerſeits wieder 
ſelbſtbefruchtet, andererſeits aber mit einem 
friſchen Stocke gekreuzt und die aus beiderlei 
Befruchtungsarten hervorgegangenen Nach— 
kommen in Bezug auf Keimfähigkeit, Blüthe⸗ 
zeit, Fruchtbarkeit, Kräftigkeit und Wider— 
ſtandsfähigkeit gegen feindliche Einflüſſe mit 
einander verglichen würden. Darwin ſelbſt 
bedauert, erſt im Verlauf ſeiner Verſuche 
erkannt zu haben, daß dieſe Methode hätte 
eingeſchlagen werden müſſen, um die Vor— 
theile der Kreuzung mit einem friſchen Stocke 
in ihrem vollen Betrage zu Tage treten 
zu laſſen. 


— ſ·„—————— . — — —ͤ̃ ͤ —7 


Kleinere Mittheilungen. 


Zur kriticiſtiſchen Raumauffaſſung. 


er Streit zwiſchen den Anhängern 
des Euklid und den Parthei 


weitere Kreiſe zu ziehen, und dies 
um ſo mehr, als es zugleich fundamentale 
philoſophiſche, ja man darf ſagen weltbe— 
wegende Grundfragen ſind, um welche ſich 
derſelbe dreht. Es wird daher unſeren Leſern 
vielleicht nicht unwillkommen ſein, über eben 
dieſen Streit Einſicht zu erhalten durch eine 
wiſſenſchaftliche Debatte, welche ſich mit 
Rückſicht auf eine Reihe von Aufſätzen, 
die in der Zeitſchrift „Das Ausland“ Jahrg. 
1876, Nr. 50, 51 und 52 von dem Un— 
terzeichneten veröffentlicht wurden, ange— 
ſponnen hat, und in brieflicher Form fort— 
geſetzt wurde. Auf den Wunſch unſeres 
verehrten Mitarbeiters Herrn Prof. S. 
Günther in Ansbach laſſen wir dieſe 
Correſpondenz hiermit folgen. 

Dr. O. Caspari. 


gängern Riemann's beginnt immer 


Herr Prof. S. Günther Ansbach) an 
Herrn Dr. O. Caspari (Heidelberg.) 
Der Cyklus von Artikeln, welchen Sie 
unter dem Geſammttitel „Kritiſche Be— 
merkungen über Raum, Zeit und geſchicht— 
lichen Verlauf“ im „Ausland“ veröffent— 
licht haben, muß das lebhafte Intereſſe 
jedes Mathematikers in Anſpruch nehmen, 
der Unterſuchungen über die philoſophiſchen 
Grundlagen ſeiner Wiſſenſchaft nicht für 
etwas Ueberflüſſiges hält. Sie wiſſen, daß 
derjenige, der dieſe Zeilen ſchrieb, im All— 
gemeinen nicht der Reihe Derer beizuzählen 
iſt, welche das alte Problem von der Weſen— 
heit des Raumes als durch die Aufſtel— 
lung der metageometriſchen Syſteme eines 
Bolyai, Riemann ꝛc. gelöſt oder doch 
zum mindeſten im mathematiſchen Sinne als 
erledigt erachtet, daß er vielmehr einen un— 
gleich „conſervativeren“ Standpunkt in dieſer 
Frage einnimmt. Angeſichts deſſen möchte 
es vielleicht auf den erſten Blick ſonderbar, 
wo nicht unmöglich erſcheinen, von ihm das 
Bekenntniß zu hören, daß eine Abhandlung 
von ſo entſchieden radikaler Tendenz wie 
die Ihrige ihm gleichwohl in vielen Be— 
ziehungen ſympathiſch war, während natür— 
lich bei anderen Anläſſen ſich wiederum 
Differenzpunkte ergeben mußten. Geſtatten 
Sie deshalb eine kurze Erörterung der 


Sachlage nach ihrer poſitiven wie nach ihrer 
verneinenden Seite hin. — 

Der Standpunkt, von welchem aus Sie 
die Unterſuchung über die Natur unſerer 
Raumauffaſſung in Angriff nehmen, iſt 
der ſtreng kriticiſtiſche im Sinne Kant's, 
deſſen reformatoriſche Thätigkeit im Auf 
räumen mit abſoluten Dogmen Sie paſſeud 
mit derjenigen des Kopernikus vergleichen. 
Daß Sie dieſen Standpunkt gewählt, darin 
wird wohl die überwiegende Mehrzahl un— 
ſerer Mathematiker Ihnen durchaus bei 
pflichten, denn daß gerade für unſere Wiſſen 
ſchaft das Studium des Philoſophen von 
Königsberg ein beſonders erſprießliches ſei, 
dieſe Ueberzeugung bricht ſich immer mehr 
Bahn. In ſeiner intereſſanten Schrift 
„Grenze zwiſchen Philoſophie und exakter 
Wiſſenſchaft“ ?) hat J. C. Becker in 
Mannheim darauf hingewieſen, wie ſicher 
uns Kant auf dem ſchlüpfrigen Boden zu 
leiten verſtehe, auf welchem rein mathematiſch— 
naturwiſſenſchaftliche und erkenntnißtheore— 
tiſche Probleme in einander greifen. In 
dieſem Punkte alſo dürfte zwiſchen uns 
völlige Uebereinſtimmung herrſchen. 

Dem Kriticismus ſtellen Sie den Dog— 
matismus gegenüber, deſſen naive Auffaſſung, 
wie ſie ſich vielfach in älteren Werken kund— 


*) Es möge gelegenheitlich erlaubt ſein, 
eine ungerechte Recenſion dieſes Büchleins 
zurückzuweiſen, welche unlängſt in der „Jenaer 
Literaturzeitung“ erſchien und ohne näheres 
Eingehen mit den bei einzelnen anderen Re— 
cenſenten beliebten allgemeinen Redensarten 
das Publikum zu praeoccupiren ſucht. Un— 
ſeres Erachtens kann man der Becker'ſchen 
Arbeit nur das zum Vorwurfe machen, daß 
der Autor bei der Discufjion eines einzelnen 
Beiſpiels von dem ſpannenden Stoff ſich hin— 
reißen läßt und der Epiſode einen allerdings 
für das Ganze zu beträchtlichen Raum ein— 
räumt. 


Kleinere Mittheilungen. 69 


gegeben findet, Sie treffend zu charakteriſiren 


wiſſen. Allein dürfen wir — dieſe Vor— 
frage möge im perſönlichen Intereſſe des 
Schreibers geſtellt werden — ſchlechthin 


den Namen des Dogmatismus auf die heu— 


tigen Vertreter der conſervativen Richtung 


anwenden, dürfen wir wenigſtens die An— 
ſichten dieſer letzteren mit denjenigen iden— 
tifieiren, für welche Raum und Körper in 
Einen Körper zuſammengefloſſen ſind? 


Scheint es doch überhaupt eine etwas miß 


liche Sache, in einer ſo zahlreicher Nüan— 
eiruugen fähigen Angelegenheit mit Ge— 
ſammtnamen zu operiren, denen der Fort— 
ſchritt in den Ideen möglicherweiſe den Inhalt 
entzogen haben kann. In ſeinem höchſt be— 
merkenswerthen Artikel „Ueber die prinzi— 
piellen Unterſchiede erkenutnißtheoretiſcher An— 
ſichten“, den uns die treffliche neue „Zeitſchrift 
für wiſſenſchaftliche Philoſophie“ gebracht hat, 


hat Fr. Paulſen dieſen Mißſtand, einer 
geringen Anzahl fundamentaler Kategorien 


alle denkbaren Meinungen über eine um— 
faſſende Frage einordnen zu wollen, einer 
einſchneidenden Diskuſſion unterzogen und 
ſpeziell feinen Ausgangspunkt von der üb- 
lichen Dichotomie genommen, welche die Ge— 
ſammtheit unſerer Erkenntnißtheoretiker in 
die generellen Klaſſen der Idealiſten und 
Empiriſten zerfällt — eine Scheidung, welche 
prinzipiell mit der von Ihnen befolgten 
Gegeneinanderſtellung Dogmatismus und Kri— 
ticismus zuſammentrifft. Indem Paulſen 
eine empiriſtiſch-rationaliſtiſche, eine empi— 
riſtiſch-phaenomenaliſtiſche, eine rationaliſtiſch— 
realiſtiſche und eine rationaliſtiſch-phaeno— 
menaliſtiſche Anſicht poſtulirt, ſpricht er die 
Ueberzeugung aus, für jeden dieſer Gattungs— 
begriffe werde und müſſe ſich ein ent— 
ſprechender Umfang nachweiſen laſſen, und 
das glaubt auch der Unterzeichnete. Nicht 
als ob es ihm möglich erſchiene, ſeine eigene 


— 


70 


Auffaſſungsweiſe auch nur mit einer be— 
ſtimmten dieſer vier neuen Kategorien zur 
vollkommenen Deckung bringen zu können; 
aber das hofft er durch die Berufung auf 
jenen Reformverſuch Paulſen's erzielt 
zu haben, daß ſein eigenes, theilweiſe phae— 
nomenaliſtiſches, theilweiſe doch auch wieder 
— es ſei eben der alte Ausdruck wieder 
gewählt „dogmatiſches“ Glaubensbe— 
kenntniß minder paradox erſcheint, als es 
ſonſt vielleicht der Fall geweſen ſein dürfte. 

Wir laſſen es dahingeſtellt, ob der Raum 
an ſich irgendwie etwas Reales ſei. Sie 
ſehen, daß ich damit meiner Anſicht nach 
die kriticiſtiſche Lehre nur bis zu ihrer 
äußerſten Conſequenz durchführe, denn thut 
man dies, ſo kann ja auch ſtrenge genommen 
nicht abſolut behauptet werden, der Raum 
ſei lediglich eine Erſcheinung; es müßte 
eigentlich heißen, er erſcheine uns eben 
blos als eine ſolche. So viel iſt ſicher, 
daß nur von raumanſchauenden Individuen 
und von den das Phänomen unſerer Er— 
kenntnißthätigkeit übermittelnden Potenzen 
geſprochen werden dürfe. Und auch das 
endlich ſei eingeräumt, daß nur unter den 
für dieſe unſere Erkenntnißthätigkeit gültigen 
Bedingungen das Raum-Phänomen gerade 


unter dieſer Form auftreten muß, als wel- 


ches wir Alle es kennen. 

Allein trotzdem, daß der Unterzeichuete 
bis hierher völlig auf gleichem Boden mit 
Ihren Auseinanderſetzungen ſteht und es 
Ihrer Arbeit zum entſchiedenen Verdienſt 
anrechnet, dieſe Fundamentalwahrheiten in 
populärer Form dem Allgemeinverſtändniß 
näher gerückt zu haben, ſo glaubt er doch 
den Punkt ſcharf bezeichnen zu müſſen, bei 
welchem die Anſichten auseinandergehen. 
Es ſcheint bei dem ſehr berechtigten Ver— 
ſuche, die Unzulänglichkeit unſeres menſch— 
lichen Erkenntnißvermögens für die all— 


Kleinere Mittheilungen. 


gemeingültige Löſung ſolcher Fundamental— 
fragen in's Licht zu ſetzen, ein Umſtand 
nicht gewürdigt worden zu ſein, der nämlich, 
ob nicht doch am Ende die Eigenart unſeres 
menſchlichen Organismus unſerem Beſtreben, 
die Dinge rein 
wiſſe Schranken ſetze. Wie dies gemeint 
ſei, erhellt vielleicht am Beſten aus nach— 
ſtehender Theſe, an deren philoſophiſcher 
Einkleidung wohl Mancherlei auszuſetzen 
ſein wird, während bezüglich des Inhaltes 
der Unterzeichnete mit vielen Mathematikern 
ſich im Einklange weiß — zumal mit ſolchen, 
welche als Lehrer den menſchlichen Geiſt 
nicht ausſchließlich in ſeiner entwickelten, 
ſondern auch in ſeiner urſprünglichen, fo 
zu ſagen rudimentären Beſchaffenheit kennen 
zu lernen pflegen. Jene Theſe lautet: 

Wenn auch der menſchliche Geiſt 
zu der Erkenntniß durchdringen 
kann, daß er in den Dingen der 
Außenwelt zunächſt nur Phaeno— 
mene vor ſich habe, ſo wird er 
doch durch diejenigen unverbrüch— 
lichen Satzungen, welche ihm beim 
Bilden von Schlüſſen vorgezeich— 
net ſind, dazu gezwungen werden, 
dieſe Phaenomene nach einer ganz 
feſten Norm ſich zurechtzulegen. 
Solange die Regeln der formalen 
Logik, welche in der Mathematik 
ihren praegnanteſten Ausdruck 
finden, beſtehen bleiben, wird es 
dem Menſchen unmöglich ſein, den 
phaenomenalen Raum unter einem 
anderen Bilde aufzufaſſen, als 
dies der Drei-Dimenſionen-Raum 
des Euklides mit dem Krüm— 
mungsparameter Null thut. 

Läßt ſich dieſer Satz begründen? Ich 
meinestheils bin deſſen ſicher. Es muß ja 
freilich obige Behauptung ſich zweifellos 


Kleinere Mittheilungen. 71 


die verſchiedenſten Einwürfe gefallen laſſen. 
So wird man, um nur Eines hervorzu— 
heben, ſich darauf berufen, daß die Exiſtenz 
oder ſogar die Exiſtenzberechtigung einer 
rein formalen Denklehre durchaus keine 
allſeitig zugeſtandene ſei, daß ſogar Autori— 
täten erſten Ranges wie v. Prantl und 
Trendelenburg dieſe Disciplin mehr wie 
eine ariſtoteliſche Velleität behandelt haben. 
Es iſt dies dem Uuterzeichneten nicht un— 
bekannt, er hat vielmehr ſelbſt in der päda— 
gogiſchen Sektion einer deutſchen Natur— 
forſcherverſammlung das eigenthümliche 
Schauspiel eines Kampfes mit vertauſchten 
Rollen mit angeſehen, wie nämlich ein 
Profeſſor der Philoſophie in ſcharfer Weiſe 
den propädeutiſch-formalen Unterricht der 
Mittelſchule angriff und ein phyſikaliſcher 
College mit warmen Worten des angefoch— 
tenen Unterrichtszweiges ſich annahm. Eben 
aus dieſem Grunde hat er in ſeinem oben 
normirten Programm auch gleich die ſeiner 
Ueberzeugung nach beſtehende Identität 
zwiſchen. Mathematik und formaler Logik 
ausdrücklich betont. Und in der That, 
enthalten nicht Syſteme, wie dasjenige, 
welches Boole als „Calculus logieus“ 
oder Ernſt Schröder als „formale“, be— 
ziehungsweiſe „abſolute“ Algebra bezeichnet, 
in ihrer exakten Form genau dasjenige, 
was etwa — um die treffliche Leiſtung 
dieſer Art herauszuheben — im Compen— 
dium der elementaren Logik von Drobiſch 
enthalten iſt, nur noch viel mehr dazu? 
Kurz, daran wird meinerſeits feſtzuhalten 
ein, daß die Lehrſätze jener dem reinen 
Denken ſich widmenden Wiſſenſchaften auch 
auf das Studium der Frage angewendet 


werden dürfen und müſſen, ob nicht, obwol 
der Raum an ſich nur eine rein phacno- | 


menale Bedeutung hat, gleichwohl dieſes 
Phänomen für unſer Menſchengeſchlecht in 


einer unwandelbaren, niemals in Vergangen— 
heit oder Zukunft irgendwie zu verrückenden 
Geſtalt ſich darſtelle. 

Unterſuchungen dieſer Art liegen hier 
wenn auch freilich noch in ihrem erſten 
Keime vor. Abgeſehen von der nichteukli— 
diſchen Geometrie, deren rein mathematiſcher, 
Spekulationen abgewandter Charakter ſie 
eigentlich davor ſchützen ſollte, in den Kreis 
der hier vorliegenden Fragen mit herein 
gezogen zu werden, ſind es beſonders die 
Arbeiten von Riemann und Helmholtz, 
welchen wir hier unſere Beachtung ſchenken 
müſſen, zumal denjenigen des Letztgenannten. 
Denn während ſeine Vorgänger mehr nur 
in abſtrakter Weiſe die Principien beſprachen, 
nach welchen eine ganz allgemeine Raumlehre 
ſich behandeln ließe, hat es Helmholtz 
direkt unternommen, einzelne Axiome der 


Raumwiſſenſchaft negirend, unmittelbar die 


hieraus entſpringenden Folgen uns vor 
Augen zu ſtellen. Den Verſuch, die Exiſtenz 
einer vierten Dimenſion zu ſtipuliren, hat 
er allerdings ſo wenig wie irgend ein 
anderer unternommen, weil zu einem ſolchen 
eben alle und jede anſchaulichen Hülfsmittel 
mangeln; höchſtens Zöllner's neueſtes 
elektrodynamiſches Werk möchte als Aus— 
nahme zu verzeichnen ſein, denn hier ſtellt 
ſich uns der nach drei unabhängigen Fort— 
ſchreitungsrichtungen ausgedehnte Körper 
als Projektion einer vierfach ausgedehnten 
Mannigfaltigkeit dar. In dieſe Auffaſſung 
uns hineinzudenken, darauf verzichten wir 
gerne und vollſtändig. Helmholtz da— 


gegen hat uns durchaus greifbare Verhält— 
niſſe vorgeführt; wie er uns die Raum— 
anſchauung der von ihm jo genannten 
„Flächenweſen“ und die Bewegungserſchei— 
nungen in einem „gekrümmten“ Raume 
ſchildert, das können auch wir Anhänger 
der alten Lehre recht gut verſtehen und 


5 2 


billigen. Nur das glauben wir feſt: Wenn 
es auch de facto ſolche Zuſtände gäbe, 


Kleinere Mittheilungen. 


der gewöhnlichen nur leiſe differirende Raum- 


wie ſie uns Helmholtz in überzeugender 


Weiſe darlegt, ſo würden doch logiſch 
denkende Individuen aus ihren eigenen — 
mit den unſerigen als congruent ange 
nommenen — Denkgeſetzen heraus zu der 
Gewißheit durchdringen müſſen, es gebe 
einen allgemeinen „ebenen“, nach drei Dimen— 
ſionen ausgedehnten Raum, den ſie ſich 
freilich nicht vorzuſtellen, von deſſen 
Exiſtenz ſie ſich aber die feſte geiſtige 


Ueberzeugung zu verſchaffen im Stande 


ſind. Den Beweis für dieſe Thatſache 
haben ziemlich gleichzeitig der Unterzeichnete 
in einem der „Zeitſchrift für das Realſchul— 
weſen“ einverleibten Aufſatze und Schmitz— 
Dumont in einer ſelbſtſtändigen Special 
ſchrift (Leipzig, Koſchuy, 1876) zu leiſten 


der ich 
daß die Helmholtz' ſche Auffaſſungsweiſe 
nicht etwa widerlegt, wohl aber in dem 
ſo eben angedeuteten Sinne umgedeutet 
werden kann. 

Und damit komme ich wieder zu meinem 
urſprünglichen Vorhaben zurück, Ihre Aus— 
land-Artikel mit meinen Bemerkungen zu 
verſehen. Sie ſagen auf Seite 983: „Man 
denke, um ſich das (die Negationen 
des objectiven Raumes) zu verſinn— 


freilich Partei bin, feſtzuſtehen, unter denen auch die Raumgebilde ſich ſche— 


anſchauung produciren, überhaupt die Sprache 
ſein dürfe.“) Sehr mit Recht hat Schmitz— 
Dumont darauf hingewieſen, daß uns 
auch in Träumen und Fieberphantaſieen 
eben doch immer der alte euklidiſche Raum 
gegenwärtig bleibe, und wenn R. Falb 
behauptet (Sirius, Jahrg. 1876, 1. Heft), 


ein Blindgeborner vermöge nur nach zwei 


Dimenſionen zu ordnen, ſo muß ich das 
vorläufig noch als ein ganz ſcharfſinniges, 


*) Hierzu eine Bemerkung. Wir kennen 
gewiſſe Irritationen der Centralorgane und 
exaltative Zuſtände, in denen die Kranken ge— 


meinſam ausſagen: daß ihnen die Raum⸗ 


verhältniſſe derart durcheinanderſchwanken, daß 
ſie keinen Schritt thun können, ohne ſich zu 
täuſchen. Ferner, der klare intenſive Traum 


iſt, wie man Schmitz- Dumont zugeben 
verſucht; und mögen auch dieſe vielfach 
variirten Beweisverſuche Manches zu wün- 
ſchen übrig laſſen — ſoviel ſcheint mir, 


lichen, an ein Irrenhaus, in welchem jeder 


einzelne Kranke andere Hallucinationen über 
die Raumdimenſionen beſitzt.“ In dem 
Momente, wo mir ein einziger derartiger 


Fall als wirklich beobachtet bekannt gegeben 


wird, erkläre ich mich für beſiegt — allein deſtens diejenige Anſchauung auf, welche 


ich möchte ſehr bezweifeln, ob von der 


Möglichkeit, das Gehirn des Menſchen könne 


auch im ungeſundeſten Zuſtande eine von 


den 


darf, ein annähernd gutes Reproductionsbild 
des euklidiſchen Raums. Allein die Träume 
haben tiefe Abſtufungen nach Seiten der 
wunderlichſten Verzerrungen und Unklarheiten, 


menhaft und chaotiſch verwirren. Bei Fie— 
berdelirien aber, wo von klarem Bewußtſein 
(und dies ſetzt überall die ob,eftive Raum⸗ 
anſchauung voraus) überhaupt nicht mehr 
die Rede iſt, kann die objektive Raum— 
anſchauung ſelbſtverſtäudlich nicht mehr be— 
ſtehen. Rein ſubjektive Formen, verbunden mit 
Täuſchungen und Verwechſelungen treten 
hier ſelbſtſtändig auf und präoccupiren die 
niederen Bewußtſeinsgrade der Kranken. Ver⸗ 
fielen daher alle organiſirte Weſen in derartige 
Zuſtände, ſo könnte für alle dieſe kein eu— 
klidiſch-objektiver Raum beſtehen und zur 
Anerkennung kommen. Generaliſirt man dieſe 
Annahme auf alle Weſen und Atome des 


All's, zu welcher Conſequenz der Skeptiker 


jederzeit ſchreiten wird, ſo hebt ſich min— 


objektiven Raum im Sinne des Euklid 


als etwas abſolut Fixes und Unumſtößliches 
ante rem oder in re betrachtet. 
O. Caspari. 


25 


Kleinere Mittheilungen. 73 


8 0 
| 


jedes reellen Beleges dagegen entbehrendes „menſchliche Apodictieität“ nennen. 
Paradoxon erklären. Ich gebe ſonach zu, Mag fein, daß dem wirklich jo iſt, und 
8 | daß Sie mit großer Schärfe das Argu- wenn, wie Sie angeben, „die weiterſchrei— 
ment in den Vordergrund geſtellt haben, tenden Kriticiſten“ einig darüber find, daß; 
daß, wenn es erhärtet werden könnte, jene Anſicht eine verfehlte, jo kann ich | 
| die Diskuſſion ſofort in Ihrem Sinne ab- zwar auch dies nicht beſtreiten, wohl aber 
ſchließen müßte, allein ich glaube nicht an meine Poſition dahin erläutern, das eben 
die Möglichkeit eines Beweiſes. Und wie mein eigener Kriticismus auch nicht über 
verhält es ſich mit dem zweiten Beiſpiel, Kant hinausgeht. Nur freilich möchte ich 
demjenigen vom Regenbogen, welches Sie nicht gerade behaupten, jene die volle Phae— | 
mit offenbarer Liebe auf's Genaueſte durch- nomenalanſchauung behindernde Schranke 
geſprochen und deſſen innige Verwandtſchaft der menſchlichen Objectivität ſei eine aprio- 
mit der Hauptfrage ſehr treffend illuſtrirt riſtiſch feſtſtehende Thatſache, ſondern einzig 
haben? Sie haben auch nach der phyſi- und allein, es ſpräche für fie eine ganz 
kaliſchen Seite hin durchaus darin Recht, ungeheure Wahrſcheinlichkeit, eine Probabili— 
daß wir im Regenbogen blos ein Phäno- tät von' ungefähr gleicher Größe wie für 
— men vor uns haben, welches a priori für | den Tod aller Menſchen. 
jedes einzelne Individuum in einer ver— Dagegen muß ich Ihnen meine vollſte 
ſchiedenen Form auftreten könnte, und es Beiſtimmung zollen für die correkte Stellung, 
hat deshalb auch vor einiger Zeit eine welche Sie den Riemannianern ſtrenger 
pädagogiſche Zeitſchrift ganz richtig die Be- Regel gegenüber einnehmen, und für die 
merkung gemacht, man dürfe, ſtrenge ge- Beſtimmtheit, mit welcher Sie die in jener 
nommen, den Regenbogen nicht als etwas Schule durchgehends gehegte Anſicht zurück- — 
Objektives hinzeichnen, wie dies allerdings wieſen, als ſei nun ohne Weiteres die Lehre 
die Compendien der Naturlehre überein- vom „unebenen“ Raum identiſch mit der 
ſtimmend thun und auch wohl thun müſſen. kriticiſtiſchen Raumauffaſſung. Dieſe letztere 
Nun aber geſtatten Sie mir die Frage: ſteht zu Riemann wie zu Euklid ge— | 
Wie kommt es, daß denn doch alle Men- nau im nämlichen Verhältniß, d. h. über 
ſchen dieſe an ſich falſchen Zeichnungen an- den Parteien, keine bevorzugend. Sollte 
erkennen, daß jeder auf den erſten Blick aber je die Frage entſchieden werden, welche 
die Identität dieſes Bildes mit ſeinem der beiden oppoſitionellen Richtungen prin— | 
eigenen durch Autopſie erlangten einräumt? eipiell dem Kriticismus die näher ver— 
Doch offenbar nur darum, weil es eben wandte iſt, ſo ſollte doch wohl erwogen 
| Phaenomene giebt, welche die auf die wech- werden, daß der von jenem am ſchärfſten | 
— ſelnden äußeren Eindrücke angewandte und häufigſten bekämpfte Irrthum, die 
Reflexionsthätigkeit bei allen Menſchen trotz Ineinanderſchachtelung zweier „Räume“, 
aller ſonſtigen Verſchiedenheit in einheitlicher den Anhängern des Riemann'ſchen 
Weiſe deutet. 5 Raumes bei weitem näher liegt, ſo lange 
2 Sie werden mir, das fühle ich ſicher, ſich dieſelben nicht aus den Feſſeln der An— 
den Einwurf machen, ich nehme im Vor- ſchauung loszuringen im Stande ſind. Bis 
ſtehenden jene ältere Kant'ſche Anſicht jetzt hat das aber noch keiner jener Herren 
wieder auf, welche Sie ſelbſt (S. 107) fertig gebracht. — 


10 


7 


74 


Nur noch zum Schluß ein kurzes Wort 
über das zweite Hauptthema unſerer, reſp. 
Ihrer eigenen Unterſuchung, die Zeit. Ich 
muß es billigen, daß Sie die Verſchmelzung 
der Begriffe Zeit und Zeitmaß reprobiren 
und in Folge deſſen gegen die üblichen 
Definitionen erſteren Begriffes polemiſiren, 
aber ich muß fürchten, daß eine Definition 
überhaupt nicht möglich iſt. Denn ebenſo 
wie der Raum nicht als ſolcher, ſondern 
lediglich als Abſtraktum aus den in Wechſel— 
beziehung ſtehenden Körpern uns bekannt 
iſt, ganz ebenſo erkennen wir die Zeit nur 
aus einer in unſer Bewußtſein direkt hinein- 
tretenden Eigenſchaft — aus ihrer Gleich— 
förmigkeit, oder, wenn wir ein hier 
wohl ſtatthaftes geometriſches Kunſtwort 
verwenden, aus ihrem conſtanten Krüm— 
mungsmaß. Angeſichts dieſer zur De— 
finition brauchbaren und hinreichenden Eigen— 
ſchaft iſt es philoſophiſch dasſelbe, den 
Zeitverlauf mit dem Bilde der Geraden, 
Kreislinie oder Schraube zu identificiren, 
denn eben dieſen drei Curven — und nur 
ihnen — kommt bekanntlich jene Eigen— 
ſchaft zu, die wir im populären Sinne 
dahin praeciſiren können, daß mit gleicher 
Zirkelöffnung auf ihnen abgegriffene Stücke 
auch überall gleich groß ſind. Unter dieſer 


Vorausſetzung muß mir die von Wundt 


aufgeworfene Frage gegenſtandslos erſcheinen, 
ob nicht die Zeit ein von Null abweichen— 
des Krümmungsmaß beſitzen könne; einen 
realen Inhalt gewinnt ſie erſt, wenn von 
den abſtrakten Begriff der Zeit zu dem— 
jenigen des geſchichtlichen Verlaufs, oder, 
anders formulirt, von der reinen Philo— 
ſophie zur Philoſophie der Geſchichte 
übergegangen wird. — Und damit bin ich 
bei Ihrer Schlußabtheilung angelangt, 
welcher ich jedoch meine Commentationen 
um ſo weniger hinzufügen will, als ich 


Kleinere Mittheilungen. 


hier die von Ihnen gewonnenen Ergebniſſe 
größtentheils mit Vergnügen acceptire. 

Ich hoffe, daß vorſtehende Zeilen zur 
Klärung, wenn nicht der Sache ſelbſt, ſo 
doch unſerer gegenſeitigen Stellung Einiges 
beitragen möchten. Sollten Sie ſich dieſer 
Anſicht vielleicht anſchließen, ſo würde das 
zur lebhaften Befriedigung gereichen 

Ihrem aufrichtig ergebenen 


Siegm. Günther. 


Die Steppe als Uebergangsglied 
in der Erdgeſchichte. 


Von einem beſtimmten Gebiete — der 
Gegend zwiſchen Magdeburg und Halber— 
ſtadt — ausgehend, kommt Herr A. Nehring 
zu einigen bemerkenswerthen Schlüſſen über 
den Wechſel der Flora und Fauna, dem 
die vom Meere verlaſſenen Gebiete zunächſt 
zu unterliegen pflegen. Seine Unterſuchungen 
führten ihn darauf, daß jene jetzt ſo frucht— 
bare und eultivirte Gegend in einer be— 
ſtimmten längeren Epoche der Vorzeit den 
Charakter einer Steppe dargeboten haben 
müſſe, einer Steppe, die wahrſcheinlich nicht 
iſolirt lag, ſondern nach Oſten mit dem 
großen ruſſiſch-aſiatiſchen Steppengebiete im 
direkten Zuſammenhange ſtand. 

Gewöhnlich denkt man ſich Norddeutſch— 
land und damit auch die oben bezeichnete 
Gegend in der Vorzeit entweder noch vom 
Meere überfluthet und den ſkandinaviſchen 
Eisſchollen, ſammt ihren erratiſchen Blöcken 
zugänglich, oder man ſtellt ſich unſere 
Heimath ſo vor, wie Cäſar und Tacitus 
fie uns ſchildern, nämlich mit dichtem Wald 
und ausgedehnten Sümpfen bedeckt. Beide 
Vorſtellungen haben ihre Berechtigung, jene 


Fe 


für die ältere Periode der ſogenannten 
Diluvialzeit, dieſe für die dicht vor der 
hiſtoriſchen Zeit liegende Epoche. Es 
fragt ſich nun: Wie mag ſich die Zwiſchen— 
zeit für unſere Gegend geſtaltet haben, 
d. h. jene Zeit, in der das Meer aus den 
Ebenen, welche den Nordfuß des deutſchen 
Mittelgebirges umſäumen, zwar ſchon zurück 
gewichen, der Wald aber von den benach 
barten Höhenzügen aus noch nicht in das 
Tiefland vorgedrungen war? Es läßt ſich 
mit einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit ver— 
muthen, daß der frühere Meeresboden, 
welcher als eine ſandig lehmige, von Salz— 
waſſer durchtränkte Ebene dalag, ſich in 
manchen Gegenden Norddeutſchlands vor— 
läufig zu einer Steppe entwickelte, und es trat 
hier alſo wahrſcheinlich daſſelbe ein, was 
wir noch jetzt in den früher vom Meere 
bedeckten, im Laufe der Zeit trocken ge— 
wordenen Gebieten um das Kaspiſche Meer 
und den Aralſee beobachten können, und 
was wahrſcheinlich auch auf ausgedehnten 
Tieflandgebieten anderer Erdtheile (Prärieen 
von Nordamerika, Pampas von Süd— 
amerika u. ſ. w.) eingetreten iſt. Man 
braucht ſich eine Steppe durchaus nicht 


vollſtändig eben zu denken, vielmehr unter- 


brechen in den meiſten Steppenländern 


hügelige, wellenförmige, ſogar felſige Par— 


tieen die allerdings vorherrſchende Einöde. | 


Charakteriſtiſch iſt hauptſächlich das Fehlen 


des Waldes; der ſandig lehmige Boden iſt 
bedeckt mit Gräſern, Zwiebelgewächſen und 


niedrigen Stauden, welche im Frühjahr 
(reſp. nach der Regenzeit) ſchnell und 
üppig emporſchießen, in der heißen und 
trocknen Zeit aber verdorren, und dann 
der Steppe das in unſerer Vorſtellung 
vorherrſchende Bild einer Einöde verleihen. 

Die an der Scholle haftenden Thiere 


der Steppe find jo vollkommen den Ver 


N 


Kleinere Mittheilungen. 75 


hältniſſen des Bodens und Klimas an— 
gepaßt, daß ſie in andern Gegenden, z. B. 
auf waldigen oder ſumpfigen Terrains, nie 
gefunden werden, und daher in ihren Reſten 
als charakteriſtiſche Erkennungsmittel ehe— 
maliger Steppen dienen können. Dahin 
gehören vor allen Dingen die Steppen— 
nager, welche einerſeits in den Zwiebeln, 
Blättern und Beeren der Steppenpflanzen 
eine hinreichende Nahrung finden, anderer— 
ſeits in dem ſandig lehmigen Boden ein 
geeignetes Material zum Bau ihrer unter— 
irdiſchen Höhlen haben, durch welche ſie ſich 
gegen die ihnen nachſtellenden Raubthiere, 
ſowie gegen die harte Kälte des Steppen— 
winters Schutz verſchaffen. Unter ihnen 
ſind die Springmäuſe, Zieſel und Arvi— 
colen hervorzuheben. Für die Deutung 
der norddeutſchen Steppe in der Vorzeit 
kommen insbeſondere die Charakterthiere 


der Steppen an der unteren Wolga und 


dem oberen Ob in Betracht. Es ſind 
hauptſächlich 1) der große Sand- oder Pferde— 
ſpringer (Alactaga jaculus); 2) mehrere 
Zieſelarten, beſonders Spermophilus Evers- 
manni; 3) das Steppen-Murmelthier 
(Aretomys bobac); 4) der kleine Steppen— 
pfeifhaſe (Lagomys pusillus); 5) wilde 
Pferde; 6) die Saiga-Antilope. 
anderen Thiere ſind weniger ausſchließliche 
Angehörige der Steppe. 

Ganz dieſelbe Zuſammenſetzung zeigt 
nun die Diluvialfauna, welche Herr 
Nehring bei feinen wiederholten Aus— 
grabungen in den Bergling'ſchen Gipsbrüchen 
von Weſteregeln (Kreis Wanzleben) feſt— 
geſtellt hat. Hinſichtlich der Individuen— 
zahl überwiegen die Steppenthiere derart, 
daß die anderen Arten, welche ebenſo wie 
die heutige Fauna von Südweſtſibirien eine 
eigenthümliche Miſchung von nordiſchen und 
ſüdlichen Säugethieren bezeugen, daneben 


Die 


| 


76 


ganz zurücktreten. Am zahlreichſten fanden 
ſich die Springmäuſe und die Zieſel, welche 
förmlich rudelweiſe oder in Familien die 
Gegend von Weſteregeln bewohnt und in 
den ſandig lehmigen Ablagerungen der dor— 
tigen Gipsbrüche ihr Grab gefunden haben. 
Faſt ebenſo zahlreich müſſen die wilden 
Pferde geweſen ſein, deren Zähne und 
Knochen maſſenhaft vorkommen und auf 
eine tarpanähnliche Art ſchließen laſſen. 
Daneben treten zahlreiche Arvicolen, als 
feldmausähnliche Nager hervor, meiſtens 
ſolchen Arten angehörend, derer Verbreitungs— 
bezirk heutzutage weſentlich in Oſteuropa 
und Weſtaſien liegt. 

Das Steppenmurmelthier und den 
kleinen Steppenpfeifhaſen konnte Herr 


Nehring vorläufig nur in je einem 


Exemplar nachweiſen, die Saiga-Antilope, 
welche anderwärts im mittleren Europa 
(weſtlichen Frankreich) gefunden worden iſt, 
bisher überhaupt nicht. Aber wenn die 
Saiga-Antilope auch vorläufig dem Ge— 
ſammtbilde fehlt, ſo zeigt ſich die Weſter— 
egler-Diluvialfauna dennoch in ihren Haupt— 
vertretern als eine einheitliche Steppenfauna 
und weiſt uns ſo entſchieden auf Oſteuropa 
und Südweſtſibirien hin, daß wir gewiß 


ters wie die zwiſchen Wolga und Ob, ja 


man möchte einen ehemaligen Zuſammen⸗ 


hang beider vermuthen. Herr Nehring 


ſpäter frei gewordenen Ebenen 
ſich meiſtens zunächſt als Steppen 
entwickelten. Vielleicht dehnte ſich die 
Magdeburg-Halberſtädter Steppe nach 


Kleinere Mittheilungen. 


trockner, continentaler als jetzt. 
zu dem Schluſſe berechtigt ſind, es müſſe 
dort, wo dieſe Thiere einſt hauſten, eine 
Steppe beſtanden haben, ähnlichen Charak- 


Süden über Aſchersleben und Halle bis 
hinauf in das Thal der weißen Elſter aus, 
denn Herr Profeſſor Liebe hat auch bei 
Gera die foſſilen Ueberreſte von mehreren 
Exemplaren des großen Sandſpringers, 
ſowie diejenigen eines Zieſels gefunden, 
und zwar genau von derſelben Art, die 
Herr Nehring bei Weſteregeln antraf. 
Ebenſo ſind an mehreren weſtlicher gelegenen 
Punkten Mitteleuropas Reſte dieſer größe— 
ren Zieſelart, wie Lagomys pusillus, von 
der Saiga-Antilope und den wilden Pferden 
gefunden worden, wodurch obige Hypotheſe 
bis auf weitere ausgedehnte Unterſuchung 
geſtützt wird. 

Als Grund für das Verſchwinden dieſer 
einſtmaligen mitteleuropäiſchen Steppen 
nimmt Herr Nehring ein allmäliges 
Vorrücken des Waldes an, welches ver— 


muthlich Hand in Hand ging mit einer 
Aenderung des Klimas. 


Dieſes war in 
der Steppenzeit, in welcher wahrſcheinlich 
England und Südſkandinavien noch mit 
dem Continente zuſammenhingen, Nord— 
und Oſtſee noch nicht in der jetzigen Geſtalt 
exiſtirten, während der Golfſtrom vermuth— 
lich eine nördlichere Richtung hatte, ſchroffer, 
Mit der 
Milderung des Klimas und dem Vorrücken 
des Waldes von den bewaldeten Gebirgen 
und Höhenzügen her, zogen ſich die Steppen 
und mit ihnen die Steppenthiere allmählig 
nach dem Oſten zurück. (Blätter für Handel, 


Gewerbe und ſociales Leben. Beiblatt zur 
knüpft daran die Folgewing, daß vielleicht 
in jener Epoche der Entwicklungsgeſchichte 
unſeres Erdtheils überhaupt die einſt⸗ 
mals vom Meerebedeckt geweſenen, 


Magdeburgiſchen Zeitung No. 50, 1876.) 


8 


— 


Größeſchwankungen 
nordamerikaniſcher Säuger mit 
den Breitegraden. 


Die genauere Betrachtung der ausge— 
zeichneten Sammlung von Säugethierſchädeln 
im Nationalmuſeum der Vereinigten Staaten 
gab Herrn J. A. Allen Gelegenheit, die 
herrſchenden Anſichten über geographiſche 
Größeſchwankungen der nordamerikaniſchen 
Säuger einer Kritik zu unterwerfen. Man 
nahm bisher an, daß die Größenabnahme 
derſelben, wo ſie hervortritt, was nicht bei 
allen Thieren der Fall iſt, ungefähr mit 
der Abnahme der geographiſchen Breite 
Schritt halte. Der genannte Zoologe fand 
nun aber, daß bei Waſchbären (Procyon 
lotor) und den meiſten Katzenarten ein 
umgekehrtes Verhältniß obwaltet, daß ihre 
Größe vielmehr vom Norden nach dem 
Süden zunimmt. Da nun die meiſten 
Säuger Nordamerikas Familien und Gat— 
tungen angehören, welche ihre größte Ent— 
wicklung in den gemäßigten oder kälteren 
Theilen der nördlichen Halbkugel haben, 
ſo begreift man das Vorherrſchen der 
Größen-Abnahme gegen Süden, ebenſo wie 
die Ausnahme von dieſer Regel bei Thieren, 
welche wie die Katzen und Waſchbären in 
den tropischen Ländern ihre Hauptentwicklung 


erreichen. Herr Allen faßt die Beziehungen 


zwiſchen der Größe und geographiſchen 


Verbreitung der Thiere in folgende zwei 


Sätze zuſammen: 1) Die größte Entwicklung 
des Individuums wird erreicht, da wo die 
Lebensbedingungen ſeiner Art am günſtigſten 
ſind. Die Arten ſind in ihrer Verbreitung 
urſprünglich durch klimatiſche Bedingungen 
beſchränkt, denen ihre Vertreter an den äußer— 
ſten Grenzen nach Norden wie nach Süden 
ſchließlich erliegen. Dieſe Einflüſſe können 


Kleinere Mittheilungen. 


centrums gefunden, während die an der 
Grenze vorkommenden Formen gewöhnlich 
5 ( 


77 


ſein: einmal die unmittelbaren Wirkungen 
einer zu hohen oder zu niedrigen Temperatur, 
mangelnder oder überreichlicher Feuchtigkeit | 
auf die Thiere ſelbſt, und dann auf ihre 
Nährpflanzen und Thiere. Daher ſteht 

die Größe der Individuen im Allgemeinen 

in Beziehung zur Fülle oder Seltenheit der | 
Nahrung. Da aber verſchiedene Arten ihrer | 
Conftitutiin nach verſchiedenen klimatiſchen | 
Bedingungen angepaßt find, ſo können | 
Umgebungen, welche für die einen günſtig 
ſind, höchſt ungünſtig ſein für andere Arten, 
ſogar derſelben Familie oder Gattung. 

2) Es werden deshalb die größten Arten 
einer Gattung oder Familie dort gefunden, 
wo die betreffende Gruppe ihre höchſte 
Eutwicklung erreicht, oder wo ihr ſogenannter 
Schöpfungs⸗-Mittelpunkt liegt. Mit andern 
Worten: Arten einer gegebenen Gruppe 
erreichen ihre Maximalgröße dort, wo ihre 
Exiſtenzbedingungen am vollkommenſten er— | 
füllt werden. Dieſes Geſetz iſt im Allge- 
meinen nicht neu, und in ähnlicher Weiſe | 
ſchon öfter aufgeſtellt worden, man muß 
die Darlegungen des Herrn Allen daher 
mehr als eine Beſtätigung auffaſſen, wozu 
allerdings Amerika mit ſeiner ungeheuren 
Ausdehnung von Norden nach Süden die 
denkbar günſtigſte Gelegenheit bietet. cs 
gilt das Gleiche von dem dritten Satze, | 
welchen Herr Allen aus feinen Studien 
ableitet: Die typiſchen oder am meiſten ver— 
allgemeinerten Vertreter einer Gruppe, werden 
gleichfalls in der Nähe ihres Vertheilungs— 


mehr oder weniger abweichend oder ſpecialiſirt 


find. (The American Naturalist. Vol. 
os 19. 1876) 
K. | 


78 


Märtyrer der Darwin'ſchen Theorie. 


So darf man mit Grund die Amphi— 
bien nennen, von denen wieder im jüngſt ver— 
floſſenen Jahre Hunderte den Verſuchen, die 
Umwandlungslehren zu erweiſen, erlegen ſind, 
aber dafür auch zur Erkenntniß der Wahr— 
heit erheblich beigetragen haben. Die An— 
regung zur erneueten Aufnahme dieſer Ver— 
ſuche, zu denen kein Thier mehr herausfordert 
als dieſe Doppelnaturen, ging bekanntlich 
von der 1865 von A. Dumeril in 
Paris gemachten Beobachtung aus, daß der 
bisher für einen ſogenannten Perennibran— 
chier (d. h. immer mit Kiemen athmenden 
Lurch) gehaltene Axolotl aus Mexico 
(Siredon pisciformis) eines ſchönen Tages 
im Pariſer Pflanzengarten, ganz wider 
ſeine Gewohnheit, an's Land ging, die Lungen 
ausweitete, und ſich in einen, der Sippſchaft 
nach wohlbekannten amerikaniſchen Landmolch 
(Amblystoma) verwandelte. Das Ver— 
wirrende bei dem Auftreten dieſes Thieres, 
welches bisher ſelbſt in ſeiner Heimath ſtets 
zu den „verfehlten Exiſtenzen“ gehört hatte, 
war der Umſtand, daß es ſich als Kiemen— 
molch regelmäßig fortgepflanzt hatte, und 
da die Fortpflanzungsfähigkeit in der Regel 
erſt eintritt, wenn die Thiere alle ihre 
Verwandlungen abſolvirt haben und voll— 
kommen mündig geworden ſind, ſo glaubte 
man, alle Urſache zu haben, dieſe Thiere 
als vollendete ſtimmfähige Bürger des Thier— 
reichs anſehen zu dürfen. Die Thatſache, 


Kleinere Mittheilungen. 


welche ſich ſeitdem auch in anderen Aquarien 


beſtätigte, war ſo verblüffend, daß einige 
Zoologen, ſtatt auf die ſo naheliegende Er— 


klärung einer bisher gehemmten Entwicklung, 


auf allerhand myſtiſche Spekulationen ver— 
fielen, und aus dem Umſtande, daß ſich die 
neugebackenen Amblyſtomen nicht alsbald 


fortpflanzen wollten, ſogleich ſchloſſen, es 
habe hier eine rückſchreitende Metamorphoſe 
ſtattgefunden, der Uebergang vom Kiemen— 
thier zum Lungenthier ſei nicht der natür— 
liche Abſchluß eines nur für gewöhnlich 
durch äußere Umſtände gehemmten Ent— 
wicklungsvorganges, ſondern ein Rückſchlag 
(Atavismus) ſehr bedenklicher Art. Allein 
kaum waren dieſe Träumereien zu Papier 
gebracht, als auch ſchon die ſeit mehr als 


zehn Jahren unfruchtbaren Pariſer Am— 


blyſtomen ſich im vorigen Jahre regelmäßig 
fortzupflanzen begannen. Da dies geſchehen 
iſt, nachdem man die Behaglichkeit des 
Aufenthalts dieſer Thiere erhöht hatte, in— 
dem der Direktor Vaillant ihrer Pflege 
alle Sorgfalt zuwendete, ſo kann man 
ſchließen, daß eben nur das Fehlen eines 
landmolchwürdigen Daſeins dieſe Thiere 
ſo lange zu Anhängern der Hartmann'ſchen 
Philoſophie gemacht hatte. Die ganze my— 
ſteriöſe Erſcheinung ſtellt ſich nun folgender— 
maßen dar: Der See von Jezkuko, in 
welchem der Axolotl lebt, hat einen ſehr 
wechſelnden Waſſerſtand, ſo daß die Ufer 
beim Zurücktreten in der regenarmen Jahres— 
zeit ſtark mit Salz inkruſtirt werden. 
Dieſer Umſtand ſowohl, als das vielleicht 
trockner gewordene Klima hindert dieſe 
Thiere ans Land zu gehen und dort ihre 
vollkommene Umwandlung durchzumachen, 
wie ſie es ohne Zweifel früher zu thun 
gewöhnt waren. Es ſcheint aber, wie wir 


alsbald aus weiteren Beiſpielen ſehen werden, 


ein allgemeines Geſetz zu ſein, daß Larven, 
die durch äußere, ihrer Exiſtenz im All— 
gemeinen nicht ungünſtige Umſtände gehin— 
dert werden, ſich weiter zu entwickeln, ſchon 
als Larven geſchlechtstüchtig werden, damit 
die Art durch die Ungunſt der Verhältniſſe 
nicht ſogleich zu Grunde gehe. Es iſt dies 
offenbar ein ſehr ausgezeichnetes Beiſpiel 


— 


von der Anpaſſungsfähigkeit lebender Weſen, 
die, wie man hieraus erſieht, in allen Pe— 
rioden ihres Lebens gleich wirkſam iſt, 
und daher ſo leicht diejenigen Abweichungen 
vom natürlichen Entwicklungsgange hervor— 
bringen kann, welche Häckel Cenogeneſis, 
d. h. Fälſchungsgeſchichte, nennt. In den 
letzten Heften von Kölliker's und von 
Siebold's Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche 
Zoologie (Band XXVIII. Heft 1 und 2. 
1877) weiſt der letztgenannte darauf hin, 
daß wir ganz dieſelben merkwürdigen Vor— 
gänge einer gehemmten Entwicklung bei 
einem einheimiſchen Thiere beobachten 
können, nämlich beim Alpenmolch (Triton 
alpestris). Im Hochſommer 1861 fand 
der italieniſche Zoologe F. de Filippi in 
einem Sumpfe unweit An der Matten 
(Formazza-Thal) bei einer Höhe von nahezu 
4000 Fuß über'm Meeresſpiegel, eine 
Menge dieſer noch mit Kiemen verſehenen 
Thiere, welche vollkommen geſchlechtsreif 
waren. Er deutete ſich das Phänomen 
ganz richtig durch die örtlichen Verhältniſſe, 
und da er nur zwei Exemplare dieſer Thiere, 
bei denen die Kiemen eben eingegangen 
waren, auffinden konnte, ſo meinte er aus 
dieſem Fehlen ausgewachſener Exemplare 
ſchließen zu ſollen, daß dieſe Thiere ähnlich 
wie die kleine Pricke (Petromyzon Planeri) 
ſich verhalten mögen, welche drei Jahre 
im Larvenzuſtande, in dem man ſie früher 
bekanntlich für ein beſonderes Thier (Querder, 
Ammoeoetes) anſah, zubringt, um nach 
der Fortpflanzung alsbald zu ſterben. 
Dieſe Alpenmolche bieten alſo völlig daſſelbe 
Schauſpiel wie unſer Gaſt aus Mexico, 
und die ſoviel Aufſehen erregende Beobach— 
tung war nicht einmal neu. Prof. von 
Siebold macht bei dieſer Gelegenheit mit 
Recht darauf aufmerkſam, wie wenig einer— 
ſeits die Trennung der Salamandrina und 


Kleinere Mittheilungen. 8 79 


Proteina haltbar iſt, welche auch bereits 
durch van der Hoeven aufgegeben worden 
iſt, wie ſehr andererſeits die Amphibien 
zu Experimenten im Sinne der Entwid 
lungslehre einladen. Bekanntlich war es 
Schreibers in Wien, der zuerſt in den 
zwanziger und dreißiger Jahren dieſe Ver— 
ſuche aufnahm und unter andern den 
Proteus anguinus der Adelsberger Höhle 
bald zu einem reinen Kiementhier, bald 
zu einem vorwiegenden Lungenathmer erzog, 
je nachdem er ihn zwang, unter Waſſer 
zu bleiben, oder ausſchließlich zwiſchen naſſen 
Steinen und Badeſchwämmen zu leben. 
Schreibers ſtellte auch bereits Verſuche 
mit dem Alpenſalamander (Salamandra 
atra) an, den von Siebold im vergan— 
genen Jahr zu einem hüchſt intereſſanten 
Experimente zwang. Aehnlich jenen vor 
einigen Jahren von dem Marine-Apotheker 
Bavais entdeckten weſtindiſchen Fröſchen, 
welche ihre Kaulquappenzeit aus Mangel 
an Waſſertümpeln auf einzelnen dieſer vul— 
kaniſchen Inſeln im Ei abwarten, kommen 
die Jungen dieſes Alpenſalamanders in 
einem bereits ziemlich fortgeſchrittenen Stadium 
zur Welt. Von Siebold entnahm nun 
Embryonen dieſer Thiere dem Mutterleibe, 
wo ſie ſich merkwürdiger Weiſe auf gegen— 
ſeitige Koſten ernähren, und warf ſie in's 
Waſſer, um zu ſehen, ob ſie ſich nicht mit 
ihren Kiemen unter dieſen urſprünglichen 
Verhältniſſen wieder behelfen würden. Er 
ſelbſt hatte keine günſtigen Erfolge in der 
Erziehung dieſer Frühgeburten, aber einer 
in der Thierpflege außerordentlich geſchickten 
Naturforſcherin, die dieſe Verſuche auf des 
Genannten Anregung wiederholte, Fräulein 
Marie von Chauvin, glückte es, einen 
ſolchen zu früh der rauhen Außenwelt über— 
gebenen Alpenſalamander volle fünfzehn 
Wochen am Leben zu erhalten. Die ur— 


„ 


80 


ſprünglichen Kiemen, welche das Thier wie 


ein Schleier umhüllen, gingen ein, und es 


entwickelten ſich mit dem auch beim Axolotl 


beobachteten Reproduktionsvermögen neue, 
ein glänzender Beweis der immer neue 
Auswege ſchaffenden Naturkraft. Näheres 


über dieſe von der Beobachterin fortgeſetzten 


Verſuche findet der Leſer in Kölliker's 
und von Siebold's Zeitſchrift für wiſ— 
ſenſchaftliche Zoologie. (Bd. XXVII., Heft 4.) 


K. 


Die Schutzmittel der Zlüthen gegen 
unberufene Hüfte. 


In der Feſtſchrift zur Feier des 
fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der 
Wiener zoologiſch-botaniſchen Geſellſchaft 
(Wien, Braumüller 1876) giebt Herr 
A. Kerner Studien über Einrichtungen, 
welche die Blüthen der Pflanzen vor dem 
Beſuche unliebſamer, kriechender, nur auf die 
Stillung ihres Appetites bedachter Gäſte 
ſchützen ſollen, während den fliegenden 
Poſtillons d'amour's aus der Inſektenwelt 
alle Thore geöffnet, Honig und Blumenſtaub 
in Fülle geboten werden. Unter den un⸗ 
erſprießlichen Gäſten eröffnen die großen 
Weidethiere den Reigen, aber ſchlimmer als 
ſie wüthen die gefräßigen Heliciden unter 
den Schnecken, die Raupen, Blattläuſe, die 
kleinen Blumenkäfer, welche ihres geringen 
Leibesumfangs wegen ſich nicht mit Blumen— 
ſtaub einpudern, wenn ſie dem Honig nach— 
gehen u. ſ. w. Man trifft die genannten 
Weichthiere und Inſekten zwar nicht allzu— 
häufig auf Blüthen, aber nicht etwa weil 
ſie das zarte Parenchym der Blumenblätter 
nicht als Delikateſſe zu würdigen wüßten, 


Kleinere Mittheilungen. 


ſondern vielmehr, weil die meiſten Blüthen 
gegen ihre Beſuche geſchützt ſind. 

Die Schutzmittel der Blüthen mögen 
zum guten Theil auf chemiſch-phyſiologiſcher 


Wirkung beruhen, ſo daß ausgeſchiedene 


Harze und ätheriſche Oele, deren Duft uns 
vielleicht höchſt angenehm iſt, dieſe kleinen 
Thiere von dem Verzehren abſchrecken. 
Einer ganz beſondern Schutzeinrichtung 
erfreuen ſich einige Pflanzen, deren Blü— 
thenſchaft ſich mit Waſſer umgiebt, in 
welchem die Inſekten zu ertrinken Gefahr 
laufen, wie derjenige der Weberkarde, die 
deshalb auch Venus Waſchbecken heißt 
Am intereſſanteſten in dieſer Beziehung ſind 
die Bromeliaceen, deren Laubblätter häufig 


in geräumigen Trichterroſetten die atmo— 


ſphäriſchen Niederſchläge ſammeln, den daraus 
hervorſteigenden Blüthenſchaft mit Palliſaden— 
zaun, Wall und Graben umgeben,) und 
ſo dem Andringen flügelloſer Inſekten eine 
unüberſteigliche Schutzmauer entgegenſtellen. 
Die Waſſerpflanzen ſind eo ipso gegen das 
Ankriechen unberufener Gäſte geſchützt, 
und es iſt ſehr lehrreich, zu ſehen, daß 
Pflanzen, deren Blüthenſchäfte ſich aus 
dem Waſſer erheben, der ſogleich zu er— 


) Eines der wunderbarſten Anpaſſungs⸗ 
verhältniſſe dieſer Bromeliaceen beobachtete 
Gardner an den Orgelbergen bei Rio. Hier 
ſah er an den Felswänden bis zu 5000 Fuß 
über dem Meere eine große Tillandſia-Art 
wachſen, welche im Grunde ihrer Blattroſette 
eine beſonders anſehnliche Waſſermenge an— 
ſammelt. In dieſem Behälter, und nur hier 
allein, ſchwimmt eine der ſchönſten und an— 
ſehnlichſten Waſſerſchlaucharten (Utrieularia 
nelumbifolia), von der man nach den Gewohn— 
heiten dieſer inſektenfreſſenden Gattung viel— 
leicht ſchließen darf, daß ſie die läſtigen Gäſte 
der Bromeliacee, die in dem Waſſer ertrinken, 
zum Danke für das freie Logis wegfängt 
und verzehrt. Anm. des Ref. 


Kleinere Mittheilungen. 81 


wähnenden Schutzmittel der Landpflanzen 
faſt ausnahmslos entbehren. Kein Beiſpiel 
kann beweiſender in dieſer Beziehung ſein, 
als dasjenige unſeres überall verbreiteten 
Pflanzen⸗Amphibiums (Polygonum amphi- 
bium), das an den Ufern der Tümpel, in 
der Zeit der Ueberſchwemmung wie der 
Dürre fortkommt. Steht der Stengel im 
Waſſer geſchützt, ſo iſt er glatt, hat ſich die 
Fluth zurückgezogen, ſo entwickeln Blätter 
und Stengel klebrige Drüſenhaare, die den 
kriechenden Beſuchern den Weg zu den 
Blüthen ſauer machen; ja bei wiederkehren— 
der Ueberſchwemmung verſchwinden die 


Ausſonderungen wieder. Der Leſer erinnert 


ſich hierbei ſogleich an die zahlreichen Pflanzen, 
deren Blüthenſchaft ſich in der Nähe der 
Blüthe mit ſtarken klebrigen Ausſchwitzungen 
bedeckt, von denen die Pechnelke das be— 
kannteſte Beiſpiel giebt. Von ihr mögen 
die Obſtbaumzüchter ihre mit Brumata- 
Leim beſtrichenen Binden abgeſehen haben 

Während ſich dieſe klebrigen Aus- 


ſchwitzungen zur Abhaltung der Ameiſen 
und ähnlicher Thiere vollkommen bewähren, 


bleiben ſie unwirkſam gegen andere Thiere, 
welche, wie die Schnecken auf einer Schleim— 
brücke den Pechſumpf überſchreiten. Gegen 
dieſe Feinde waffnen ſich nun die Pflanzen 
mit Dornen, Stacheln und ſcharfen Zähnen 
aller Art, die nicht ſelten, wie bei der 
Hundsroſe, ihre Spitze nach unten, den 
Stürmenden entgegen, wenden. Manche 
derſelben ſcheinen freilich auch dazu da zu ſein, 
den Inſekten den richtigen Weg zur Blüthe 
zu weiſen. Zu dieſen Schutzvorrichtungen 
an den Stengeln und Blättern geſellen ſich 
andere in den Blüthen ſelbſt, gitter- und 
reuſenförmige Haargebilde, die nur einzelnen 
Thieren den Zugang wehren, Bedeckungen 
der Nektarien und ableitende Nektarabſchei⸗ 
dungen an den Blättern, Schutzmittel von 


großer Mannigfaltigkeit, deren Charakteriſtik 
man in der Original-Abhandlung nachſehen 
mag. Eine große Anzahl von Blüthen 
öffnet ſich nur des Nachts, wenn die 
meiſten der unnützen Geſellen ſchlafen, 
wobei eine Sicherung gegen die Einbrecher 
am hellen lichten Tage nicht überflüſſig 
wird. 

„Aus dem Geſagten“, ſchließt der Ver— 
faſſer ſeine an intereſſanten Ausblicken reiche 
Abhandlung, „dürfte es zur Genüge hervor⸗ 
gehen, daß die Beziehungen der Pflanzengeſtalt 
zu der Geſtalt der auf Pflanzenkoſt an— 
gewieſenen Thiere bei weitem mannigfaltiger 
ſind, als man bisher annehmen zu können 
glaubte, und daß insbeſondere zahlreiche 
Ausbildungen im Bereiche der Laubblätter | 
und des Stengels auch in ſofern eine 
biologiſche Bedeutung haben, als durch ſie 
den Blüthen gegen unvortheilhafte Angriffe 
gewiſſer Thiere ein Schutz geboten wird. 
Wo die Angreifer fehlen, iſt auch die 
Schutzwehr bedeutungslos, und es ſind 
daher alle dieſe Ausbildungen hauptſächlich 
nur für die Verhältniſſe der Oertlichkeiten, 
an denen ſie entſtanden, wichtig. An 
einem anderen Orte ſind ſie es vielleicht 
nicht, ja ſie können dort vielleicht von Nach— 
theil ſein, oder es liegt wenigſtens dort 
ihre Ausbildung als etwas Ueberflüſſiges 


nicht in der Oekonomie der Pflanze, und 
es iſt ſelbſtverſtäudlich, daß ſolche unvor— 
theilhaft, weil nicht ökonomiſch organiſirte 
Pflanzen, wenn ſie unter Verhältniſſe 
kommen, die ihrer Geſtalt nicht concordant 
ſind, von andern vortheilhafter organiſirten 
Concurrenten aus dem Felde geſchlagen 
werden. Unter den Aenderungen der 
äußeren Verhältniſſe, die hierbei in Betracht 
kommen, werden neben dem Orts- und 
Klima- Wechſel beſonders einflußreich die 
Veränderungen in der Thierwelt wirken, 


Kleinere Mittheilungen. 


namentlich vortheilhafte Anpaſſungen der⸗ 


ſelben, die in der Regel den Pflanzen 
nachtheilig ſein werden, weil, was die 


Exiſtenz pflanzenfreſſender Thiere befördert, 


derjenigen der Pflanzen in der Regel 
ſchaden muß, und einzelne Arten zum 
Ausſterben bringen kann. Aus ſolchen 
und ähnlichen Wechſelbeziehungen erklärt 
ſich die Erſcheinung, daß unter gleichen 
äußeren Verhältniſſen Pflanzenarten der 
verſchiedenſten Familien und Gattungen 
doch in gewiſſen Ausbildungen überein— 
ſtimmen. So lann man in dem einen 


Florengebiete Pflanzen der a verſchiedenſt 


Stämme mit Stacheln bewehrt finden, 
einem anderen Florengebiete ſolche 


nectarreichen Blüthen vorherrſchend 


treffen, ja es kann ſogar der 
rakter einer ganzen Vegetation durch 
Vorherrſchen von Pflanzen mit äh 
Schutzeinrichtungen beſtimmt werde 
wäre nichts anderes als die Ber 

der Spaltöffnungen in dürren und 


zeichnet und ähnliche Erſcheinungen. 


* en 


Gedanken über Dererbungserfheinungen und 
Vererbungswelen 


von 


Fenn man nach dem Werden der 
P organiſchen Formen fragt, jo 
giebt es ſtreng genommen nur 
zwei principiell verſchiedene und 
daher ſich gegenſeitig ausſchlie— 
ßende Erklärungsweiſen. Die eine läßt die 
einzelnen Formen, ſo wie ſie ſind, geſchaffen 
ſein, die andere leitet ſie von einander ab und 
zeigt, daß ſie in Folge Einwirkung von Urſachen 


ſich nur ſo und nicht anders geſtalten, alſo | 


werden konnten. Einestheils ift aber der 
Begriff „ſchaffen“, als Produktion durch den 
abſoluten Willen allein, ohne Naturnothwen— 
digkeit oder Naturgeſetze, wie C. E. v. Bär 
ſehr richtig bemerkt, unwiſſenſchaftlich und 
alſo auch nicht naturwiſſenſchaftlich. „Der 
g Naturforſcher darf als ſolcher“, wie v. Bär 
an einer andern Stelle hervorhebt, „nicht 
an Wunder, d. h. an Aufhebung der Natur- 
geſetze glauben; denn ſeine Aufgabe beſteht 
ja eben darin, die Naturgeſetze aufzuſuchen: 
was außer ihnen liegt, exiſtirt für ihn gar 
nicht. Deshalb darf er auch nicht einen 
wiederholten Eingriff der Allmacht an— 
nehmen.“ Wer das Bedenken des Natur- 
forſchers nicht hat, mag immerhin das Auf— 
treten neuer Organismen als erneute 


Dr. ud. Moerzier. 


Schöpfungsakte betrachten. Anderntheils 
ſind aber auch die Annahmen des frommen 
indiſchen, moſaiſchen ꝛe. Glaubens, wie die 
Formen, geſchaffen, und vollends, wie ſie 


unverſehrt aus der die fündigende Menfd- . 


heit vertilgenden Fluth erhalten worden ſein 
ſollen, ſo ſagenhaft, daß kein Naturforſcher 


im Ernſt ſie einer Kritik würdigen darf. Der 


Naturforſcher hört in dem Augenblicke auf die 
Natur zu erforſchen, wo er als Erklärungs— 
urſache ein nie faßliches, nie nachweisbares 
Unbekanntes aufſtellt. Er muß den Grund 
für die Formengeſtaltung in der Materie 
und den ihr immanenten Kräften, nicht aber 
außerhalb derſelben ſuchen, und dadurch wird 
er mit Nothwendigkeit auf das Descendenz— 
und Transmutationsprincip hingewieſen. 
Die äußeren Einflüſſe, und dahin ſind auch 
die ſcheinbar inneren Einflüſſe zu rechnen, 
formen die Materie; die Organismen paſſen 
ſich, mit anderen Worten, den Exiſtenzbeding— 
ungen an. Jedes Individuum, und mag 
es noch ſo ſehr ſeinen Verwandten ähneln, 
trägt in ſich die Spuren von Wirkungen 
der Außenwelt. Wenn das Geſetz von 
der Erhaltung der Kraft Wahrheit und 
keine Chimäre iſt, dann können die Licht⸗ 


* 


84 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


und Wärmeſchwingungen, die chemiſchen 
und elektriſchen Einwirkungen, ebenſo wenig 
wie die gröberen Reize der bewegten Außen— 
welt, wenn ſie den Organismus treffen, an 
dieſem unmöglich wirkungslos vorübergehen; 
ſie müſſen die Spuren ihres Daſeins zurück— 
laſſen als ſtetige Zeugen, daß die Welt 
des Unorganiſchen, ebenſo gut wie die des 
Organiſchen, nichts Anderes iſt als eine 
Funktion der die Materie bewegenden und 
im Wechſel der Bewegung formenden Kräfte. 
Nach der einen Auffaſſung iſt alſo die Welt 
und was ſich auf ihr regt, etwas Erſchaf— 
fenes, nach der andern iſt ſie etwas Ge— 
wordenes, ſich im Kreislauf aus einander 
Entwickelndes. 

Während aber in der unorganiſchen Welt 
nur die reine Anpaſſung, d. h. die Reaktion 
auf die Wirkung, zur Geltung kommt, tritt 
im Reiche des Lebendigen die Vererbung des 
durch Anpaſſung Erworbenen hinzu. Es 
gehört zum Weſen des Lebendigen, daß 
Nährmaterial in ſein Inneres aufgenommen, 
zu plaſtiſchem Material umgebildet und an 
den verſchiedenſten Stellen des Organismus 
zum Aufbau und zum Wachſen der Körper— 
ſubſtanz verwerthet wird. In der zu die— 
ſer Leiſtung nöthigen Kraft erkennt die 
Phyſiologie mit Recht einen adäquaten Theil 
der Sonnenkraft. Wenn das Wachsthum 
ein gewiſſes Maß erreicht hat, führt es 
durch Theilungs-, Sproſſungs-, Knospungs⸗, 
Gebärungsvorgänge zur Vermehrung und 
Fortpflanzung. Die Thatſache nun, daß 
das gezeugte Weſen ceteris paribus die 
Ei genthümlichkeiten des erzeugenden Weſens 
beſitzt, ſo daß die Geſtaltung des letzteren 
ein getreues Abbild derjenigen des erſteren 
iſt, dieſe Thatſache bezeichnet man, weil 
man fie einmal, um wiſſenſchaftlich weiter 
zu forſchen, begrifflich feſtſtellen muß, mit 
dem Ausdrucke Vererbung. In dieſer 


Hinſicht haben Häckel und Darwin 
vollkommen Recht, wenn ſie in der Wechſel— 
wirkung zwiſchen Anpaſſung und Vererbung 
die Urſache für die Formgeſtaltung der 
Organismen erkennen. Man hat Häckel 
vorgehalten, und zwar in der gehäſſigſten 
Form von Seiten ſolcher Gegner, die im 
dickſten Urmeer undefinirbarer Begriffeſchwim— 
men, daß er mit den Begriffen Anpaſſung 
und Vererbung nichts gelöſt, und nur die 
Frage nach den Urſachen für das Werden 
der Organismen etwas weiter zurück ver— 
legt habe. Es ſei nur ein neues Wort 
geſchaffen und nichts erklärt worden. Der 
Beweis iſt nicht ſchwer zu führen, daß 
hier der Uebereifer zu ungerechter Kritik 
verleitet hat. Man muß es vielmehr als 
eine dankbar anzuerkennende wiſſenſchaftliche 
That bezeichnen, wenn ein Forſcher mit 
klarem Blick die Wege vorzeichnet, auf 
denen ein tieferes Eindringen in die Ge— 
heimniſſe der Biogenie möglich wird. Und 
das haben Häckel und Darwin gethan. 
Darwin, und in conſequenter Durchfüh— 
rung des Darwin'ſchen Gedankens, Häckel, 
haben die Summen der zum Aufbau der 
organiſchen Geſtalten führenden Proeeſſe in 
zwei Sammelbegriffen zuſammengefaßt, in 
dem Princip der Anpaſſung und dem der 
Vererbung. Es war das ein taktiſch rich— 
tiger Griff, der um fo weniger Tadel ver— 
dient, als noch keiner von denjenigen, welche 
über das Unfaßliche dieſer Begriffe klagten, 
etwas Beſſeres an die Stelle geſetzt hat. 
Wenn Newton und die nachfolgende kos— 
mologiſche Schule in dem Ringen nach 
einer urſächlichen Erklärung der kosmiſchen 
Bewegung von einer allgemeinen Anziehungs⸗ 
kraft ſprechen, jo wird nur ein Verblende— 
ter ſo ungerecht ſein, den faßlichen Begriff 
Anziehung verwerfen zu wollen, weil man 
die Urſache für dieſe Anziehung und ihre 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und VBererbungswefen. 


Wechſelbeziehung zu Licht und Wärme und 
Elektricität bis jetzt noch nicht kennt. Es 
giebt das höchſtens neuen Antrieb, weiter 
zu forſchen und nachzuſehen, in wie weit 
auch die Schwerkraft dem allgemeinen Geſetz 
von der Erhaltung und Umwandlung der 
Kraft ſich fügt. Aehnlich verhält es ſich 
mit den Begriffen Anpaſſung und Ver— 
erbung. Sie ſind durchaus nicht myſtiſcher 
Natur, ſondern laſſen ſich tagtäglich durch 
die Erfahrung feſtſtellen. Keinen Organis- 
mus giebt es, der ſich nicht anpaßte; wir 
ſind ein Spiel von jedem Hauch der Luft, 
ja von jedem Licht- und Wärmeſtrahl, von 
jedem Materienſtäubchen, das mit unſerem 
Blute durch den Körper kreiſt. Auch die 
Vererbung iſt nichts Unfaßliches; wird uns 
doch tagtäglich die Thatſache der Vererbung 
bei Betrachtung der Neugeborenen gar aus— 
drücklich zum Bewußtſein gebracht. Häckel 
geht aber noch weiter, indem er nicht nur 
klar und deutlich ausgeſprochen hat, was 
er unter Anpaſſung und Vererbung verſteht, 
ſondern auch die hier waltenden Theilproceſſe 
andeutet. Als die allgemeine Grundurſache 
der Anpaſſung ſtellt er die phyſiologiſche 
Thätigkeit der Ernährung oder des Stoff— 
wechſels hin, indem er dieſelbe im weiteſten 
Sinne nimmt und in ihr die geſammten 
materiellen Veränderungen zuſammenfaßt, 
welche der Organismus in allen ſeinen Theilen 
durch die Einflüſſe der ihn umgebenden 
Außenwelt erleidet. Nicht allein die Auf- 
nahme der wirklich nährenden Stoffe und 
der Einfluß der verſchiedenartigen Nahrung, 
ſondern auch z. B. die Einwirkung der 
Feuchtigkeit und der Atmoſphäre, der Ein— 
fluß des Sonnenlichts, der Temperatur 
und alle diejenigen meteorologiſchen Erſchei— 
nungen, welche wir unter dem Begriff 
Klima zuſammenfaſſen, gehören hierhin; 
ebenſo der mittelbare und unmittelbare Ein- 


N 


85 


fluß der Bodenbeſchaffenheit und des Wohn— 
orts, ferner der äußerſt wichtige und viel— 
ſeitige Einfluß, welchen die umgebenden 
Organismen, die Freunde und Nachbarn, 
die Feinde, Schmarotzer und Räuber auf 
jedes Thier und jede Pflanze ausüben. 

Lamarck's Verdienſt iſt es, daß er 
ſeiner Zeit vorauseilend die innere Nothwen— 
digkeit dieſer Abhängigkeit der organiſchen 
Geſtaltung von den äußeren Einflüſſen klar 
erkannte, wenn auch bei der geringen Ent— 
wickelung, welche damals die Paläontologie, 
Embryologie, Phyſiologie und ſelbſt die 
vergleichende Anatomie zeigten, der Beweis 
für die Richtigkeit ſeiner Anſchauung nicht 
gerade ſehr leicht zu führen war. Heute 
hat ſich das Material zur Beweisführung 
verhundertfacht. Die ganze geiſtige Rich— 
tung iſt eine ſolche, die den Lamarck'ſchen 
Ideen conform iſt. Heute, wo das Geſetz 
von der Erhaltung der Kraft und die Lehre 
von den Wechſelbeziehungen zwiſchen Wärme, 
Bewegung, Licht, Schall, Elektricität und 
chemiſcher Affinität die Grundlage alles 
phyſikaliſchen Forſchens und Experimenti— 
rens ſind, kann ein mit den Thatſachen 
der modernen Forſchung Vertrauter es nur 
wunderlich finden, daß die Einflüſſe der 
Außenwelt an den Organismen ſo ganz 
ſpurlos vorüber gehen ſollten. 
Seeidlitz hat in feinem durchdachten 
Werke „Die Darwin'ſche Theorie“) die— 
ſem Gebiete der Anpaſſungen mehr Auf— 
merkſamkeit gewidmet, als es ſonſt Gebrauch 
iſt, und 1) die Witterungsverhältniſſe, 
2) das Medium des Aufenthalts, 3) die 
Nahrungsbedürftigkeit, 4) die natürlichen 
Feinde, 5) das Fortpflanzungsgeſchäft, 
6) die Befriedigung des Selbſtbewußtſeins, 

) Dr. Georg Seidlitz, „Die Darwin⸗ 
ſche Theorie“. 2. Auflage. Leipzig. W. Engel- 
mann. 1875. 


86 


in den Kreis ſeiner kritiſchen Studien ge— 


zogen; ebenſo hat Charles Martins, 


Profeſſor der mediceiniſchen Facultät zu 
Montpellier, der Herausgeber der „zoologi- 
ſchen Philoſophie“ von Lamarck“), in der 
biographiſchen Einleitung ſich die Aufgabe 
geſtellt, zu den wenig zahlreichen Anpaſſungs— 
Beiſpielen, welche Lamarck anführt, dieje— 
nigen hinzuzufügen, welche die moderne 
Wiſſenſchaft zuſammengeſtellt hat, und er 
beſpricht zu dieſem Zwecke den Einfluß des 
Waſſers, der Luft, des Lichtes, der Wärme, 
die rudimentären Organe ꝛc., ohne daß 
jedoch das Geleiſtete irgendwie erſchöpfend 
wäre. Auch Hoppe - Seyler?!) hat 
in ſeiner phyſiologiſchen Chemie der Ab— 
hängigkeit der Organismen von Luft, Licht, 
Wärme ec. eingehendere Studien gewidmet. 
In der Erforſchung der äußeren Einflüſſe 
im weiteſten Sinne und ihrer Wirkungen 
iſt jedoch noch lange nicht das letzte Wort 
geſprochen, und wir glauben nicht fal— 
ſcher Prophetie uns ſchuldig zu machen, 
wenn wir verkünden, daß hier die experimen— 
telle Phyſiologie ihre Hebel einſetzen muß 
und einſetzen wird, wenn ſie mit Erfolg 
nach einem urſachlichen Verſtändniß der 
organiſchen Geſtaltung vordringen will. 
Die Vererbungs-Erſcheinungen führt 
Häckel auf die materiellen Vorgänge der 
Fortpflanzung zurück, inſofern immer eine 
größere oder geringere Quantität eiweiß— 
artiger Stofftheilchen von der elterlichen 
Materie auf das kindliche Individuum 
übergeht. Die Fortpflanzung iſt aber nur 
eine beſondere Art des Wachsthums und 
nichts Anderes als eine unmittelbare Ver— 


Charles Martins, 


„Zoologiſche 


Philoſophie von Jean Lamarck“. Jena. Her— 
mann Dabis. 1876. 

) Hoppe-Seyler, „Phyſiol. Chemie“. 
Berlin. Auguſt Hirſchwald. 1877. 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


längerung deſſelben über das Individuum 
hinaus. „Wachsthum“, ſagt Bär, „iſt 
Ernährung mit Bildung neuer Körper— 
maſſe, in der That eine fortgeſetzte Zeu— 
gung, und Zeugung iſt nichts als der 
Anfang eines individuellen Wachsthums.“ 
Man hat nun ſehr ſachgemäß und mit 
Erfolg zu zeigen verſucht, daß die einzelnen 
Formen der Fortpflanzung, von der ein— 


fachſten durch Theilung, Knospung und 


Sproſſung angefangen bis zu der Keim— 
und Eibildung einer ſtetig zuſammenhängen— 
den Reihe angehören, und iſt mit Recht 
zum Schluſſe gelangt, daß, da immer ein 
Theil des elterlichen Organismus die Grund— 
lage zum Aufbau des kindlichen Organis- 
mus ausmacht, die als Vererbungserſchei— 
nung bezeichnete Wiederkehr ähnlicher, wenn 
nicht gar derſelben Geſtalten bei Mutter 
und Tochter ſelbſtverſtändlich ſei. Die That— 
ſache der Vererbung iſt damit zwar logiſch 
verſtändlich, nicht jedoch in ihrer letzten 
Urſache begreifbar gemacht. Wenn der 
Keim als ein Theil des elterlichen Orga— 
nismus die Eigenſchaften deſſelben in ſich 
potenzirt trägt, dann iſt es ein Ding der 
Nothwendigkeit, daß der Keim bei ſeiner 
Entwickelung ſich jo geſtaltet, wie der Er— 
zeuger war. — Wie kommt es aber, daß 
der Keim dieſe elterlichen Eigenſchaften in 
der Regel genau copirt? Das iſt die 
Frage, deren Löſung die Lehre von den 
Vererbungserſcheinungen ſich zu ſtellen hat. 
Für den einfachſten Vorgang der Fort— 
pflanzung durch Theilung ſcheint die Frage 
wohl weniger verfänglich, da die Organis— 
men, welche ſich durch Theilung fortpflanzen, 
in der Regel wenig differenzirt ſind, nur 
bloße Eiweißmaſſe bilden, die nur Nahrungs- 
material an allen Stellen ſich aſſimilirt, ſo 
daß das abgetrennte, jetzt kindliche Indi— 
viduum nur daſſelbe nach ſeiner Trennung 


nn 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 87 


weiter treibt, was es als Körpertheil des 
elterlichen Organismus früher getrieben hat. 
Die Theilſtücke haben eine gleich beſchaffene 
Materie wie das elterliche Individuum, und 
daher iſt es leicht verſtändlich, daß auch 
die Lebenserſcheinungen, die phyſiologiſchen 
Eigenſchaften, welche an die Materie ge— 
knüpft ſind, bei Eltern und Kindern die— 
ſelben ſind. Jedoch bleibt auch für dieſen 
einfachſten Fall immer noch die Erklärung 
zu liefern, durch welche chemiſch-phyſikaliſchen 
Eigenſchaften der Eiweißſubſtanz es bedingt 
iſt, daß bei der Aſſimilation aus dem ur— 
ſprünglich heterogenen Nährmaterial eine 
der Eiweißmaſſe conforme Subſtanz gebil— 
det wird. Einen geiſtreichen Verſuch, hier 
Aufſchluß zu ſchaffen, hat Jäger) gemacht. 

Weit geheimnißvoller wird aber der Vor— 
gang der Vererbung, wenn man zu den ver— 
wickelteren Fortpflanzungsweiſen vordringt. 
Wie kommt es, muß man ſich fragen, daß 
das kindliche, aus der Knospe hervorgegan— 
gene Individuum, genau die Eigenſchaften 
des elterlichen Organismus copirt? Warum 
hat es z. B. die Eigenſchaft, durch Knos— 
pen und nicht durch Theilung ſich fortzu— 
pflanzen? Wohl iſt es nicht unbekannt, 
daß oft genug ein Zurückgreifen auf den 
einfacheren Theilungsvorgang zu beobachten 
iſt; wir wollen hier jedoch die Mittellinie 
ſtrenge zeichnen, welche von der Theilung 
bis ſchließlich zur Eibildung führt. Wa— 
rum, wenn wir den complicirteſten Fall 
nehmen wollen, iſt z. B. die entwickelte 
kindliche Zehe, ceteris paribus, genau 
genommen die Copie der elterlichen Zehe, 
vielleicht mit allen Abſonderlichkeiten, die 
das mütterliche oder väterliche Individuum 
beſaß? „Mit der Materie“, ſagt mit Recht 
Häckel, „werden auch deren Lebenseigen— 
) „Zoologiſche Briefe“ und „Kosmos“, 


Heft 1. 


Anderes wird? 


ſchaften, die molekularen Bewegungen des 
Plasma, übertragen.“ Wie kommt es aber, 
daß z. B. das Vogelei in ſich ſolche Lebens— 
eigenſchaften oder, wenn man will, ſolche 
molekulare Bewegungen birgt, daß aus ihm 
nur der ganz ſpecifiſche Vogel und nichts 
Auf welchem Wege und 
durch welche Mittel wird vererbt? 

Die Entwickelungsgeſchichte der Orga— 
nismen war bisher faſt ausſchließlich Mor— 
phogenie, welche ſich als ſolche die Auf— 
gabe ſtellte, die ontogenetiſchen Formen als 
durch Uebergänge vermittelte Glieder nach— 
zuweiſen. „Wie dieſe,“ ſagt Häckel, „uns 
erſt das wahre Verſtändniß der organiſchen 
Formen eröffnet hat, ſo wird uns ſpäter 
die Phyſiogenie die tiefere Erkenntniß der 
Functionen durch Aufdeckung ihrer hiſtori— 
ſchen Entwickelung ermöglichen. Sie hat 
die fruchtbarſte Zukunft.“ Morphogenie 
und Phyſiogenie müſſen uns an der Hand 
geſchichtlicher Forſchung Auskunft geben, 
wie die Geſtalten und ihre Funktionen 
ſich herausgebildet haben. Dann bleibt 
aber immer noch die Frage ungelöſt, wa— 
rum ſie ſo und nicht anders wurden. Die 
geſchichtliche Forſchung giebt die Anhalts— 
punkte, gleichſam die Wegweiſer, wie wir 
zum urſachlichen Verſtändniß vordringen 
können, ſie zeigt den Weg zur Löſung der 
phyſiologiſchen Räthſel, aber fie löſt fie 
nicht in letzter Inſtanz. Nur dann iſt 
eine Entwickelungsſtufe geiſtig verſtanden, 
wenn man ſie mit allen ihren Beſonder— 
heiten, alſo in ihrem urſachlichen Zuſammen— 
hange mit den unmittelbar vorhergegangenen 
geſchaut hat. Wohl entbehrt auch die Bio— 
genie nicht ſolcher erklärenden Principien, 
inſofern ſie die Sammelbegriffe der Anpaſ— 
ſung und Vererbung als urſachliches Mo— 
ment verwerthet. Aber dieſe beiden Be— 
griffe, welche die Summe der Urſachen 


88 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


* 


umfaſſen, ſind doch nur inſofern von Werth, 
als ſie die zu entziffernden Urſachen auf 
einen leichter zu handhabenden Ausdruck 
bringen, als ſie die Urſachen ſehr anſchau— 
lich in zwei Gruppen ſondern, die zu 
einander in der durch Darwin enträth— 
ſelten Wechſelbeziehung ſtehen und dadurch 
erſt die Möglichkeit zu einem tieferen Ein— 
dringen in die entwickelungsgeſchichtlichen 
Vorgänge bieten. Die werkthätigen Ur— 
ſachen der Anpaſſungs- und Vererbungs— 
erſcheinungen ſind zwar geahnt aber darum 
immer noch nicht erkannt und wiſſenſchaft— 
lich feſtgeſtellt. Hier iſt daher auch die 
ſchwache Stelle, wo alle offenen und ver— 
ſteckten Gegner des Darwinismus zum An— 
griff ſich verſammeln und höhnend die 
raſtlos vorwärts ſtrebende Forſchung durch 
Aufthürmen von Hinderniſſen und Ent— 
gegenwerfen von Fragen zum Stillſtande, 
wenn nicht zum Rückzuge zu bringen hoffen. 

Dieſes Fortſchreiten der Forſchung von 
der ſyſtematiſchen zur morphologiſchen und 
von dieſer zur phyſiologiſchen Betrachtungs— 
weiſe liegt in der Natur der Sache be— 
gründet. Zuvor mußte ein allgemeiner 
Ueberblick über die Formenverwandlung 
gegeben ſein, ehe man den geheimnißvollen 
und dunklen Pfaden der phyſiologiſchen 
Entwickelungsurſachen folgen konnte. Die 
erſtere dient als Wegweiſer für die letztere, 
aber umgekehrt die letztere auch als neuer 
Beweis für die Richtigkeit der erſteren. 
Es wird nicht mehr lange dauern, bis der 
Grundgedanke des Darwinismus auch auf 
dem Felde der Phyſiologie ſich Bahn bricht. 
Der Anläufe zu dieſer phyſiologiſchen Rich— 
tung ſind ſchon mehrere gemacht worden, 
von keinem aber in ſo umfaſſender Weiſe, 
wie von Jäger in ſeinen vielfach ganz 
neue Geſichtspunkte bietenden zoologiſchen 
Briefen. „Mit Linné,“ jagt Jäger, „be 


gann die ſyſtematiſche Epoche der Organismen— 
lehre, mit Cuvier die anatomiſche, mit den 
deutſchen Embryologen und den deutſchen und 
engliſchen Morphologen die morphologiſche 
Epoche. Der Wendepunkt von einer Epoche 
zur andern iſt durch ein jedesmaliges Auf— 
flackern der naturphiloſophiſchen Spekulation 
gekennzeichnet. Zwiſchen die ſyſtematiſche 
und anatomiſche fällt, allerdings etwas ver— 
ſpätet, die durch Lamarck's Namen ge— 
kennzeichnete ſpekulative Periode; zwiſchen 
die anatomiſche und morphologiſche die in 
Oken und Schelling verkörperte Schule 
der deutſchen Naturphiloſophie, und an den 
Schluß der morphologiſchen Epoche die 
neueſte, durch Darwin' s Namen gekenn— 
zeichnete naturphiloſophiſche Schule“. „Ich 
ſage,“ bemerkt Jäger, „an den Schluß 
der morphologiſchen Epoche, nicht weil ich 
glaube, daß auf dem Boden der Morpho⸗ 
logie nichts mehr zu holen ſei, und daß 
wir ihn jetzt brach liegen laſſen ſollen, ſondern 
weil ich glaube und wünſche, daß wir am 
Beginn einer neuen Epoche der Organis— 
menlehre, nämlich der phyſiologiſchen, ins— 
beſondere der chemiſch-phyſiologiſchen ſtehen.“ 
Dieſer an ſich berechtigte Ausſpruch Jäger's, 
könnte mißverſtanden werden. Das letzte 
Ziel der phyſiologiſchen Forſchung muß doch 
die urſachlich verſtandene Morphogenie und 
Phyſiogenie fein.*) 


) Anmerkung der Redaktion: Ich be— 
finde mich mit dem Verfaſſer in vollſtändiger 
Uebereinſtimmung, denn mein Ausſpruch iſt 
ſo gemeint: Die morphologiſche Betrachtung 
allein genügt nicht zur Erklärung der That— 
ſache, daß das Leben ſich in eine Anzahl 
von ſpezifiſch verſchiedenen Lebeweſen zer— 
ſplittert, weil die Form nicht wieder aus 
der Form, ſondern nur aus der Thätig— 
keit des Inhalts und der Wechſelwirkung 
zwiſchen Inhalt und maßgebendem Medium 
d. h. phyſiologiſch erklärt werden kann. 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 89 


Zu dem vielverſchlungenen Labyrinth 
der hier waltenden Möglichkeiten muß aber 
die Morphologie für die Phyſiologie der 
leitende Faden ſein. Es iſt ſogar ſehr 
fraglich, ob es uns glückt, überall durch 
die Reaction die chemiſch-phyſikaliſchen Ur— 
ſachen zu finden; immerhin aber dürfte es 
uns leichter gelingen, durch Forſchung nach 
dem geſchichtlichen Verlauf der Geſtaltungen 
das „Wie“ der Entwickelung feſtzuſtellen, 
um daraus Schlüſſe auf ihr „Warum“ zu 
ziehen. In dieſer Hinſicht wird die Mor— 
phologie nicht nur die wichtige Unterlage, 
ſondern auch, als urſachlich zu verſtehende, 
das Endziel der phyſiologiſchen Betrachtung 
bleiben. Ja die Morphologie gab bereits 
der Phyſiologie die wichtigſten leitenden 
Geſichtspunkte, indem gerade die Principien 
der Anpaſſung und Vererbung phyſiolo— 
giſcher und nicht morphologiſcher Natur 
ſind. Die noch auszubauende vergleichende 
Phyſiologie der Organismen hat nur noch 
dieſe beiden Principien zu analyſiren und 
auf ihre Theilerſcheinungen zurückzuführen. 
Ich weiſe nochmals, um den Gang der 
biologiſchen Wiſſenſchaften zu zeichnen, auf 
den ganz ähnlichen der Kosmologie hin. 
Zuerſt erkannte man, wie die Planeten— 
bahnen ſeien, dann gab Newton als Grund 
der Planetenbewegung die Anziehung an, 


Ich wäre allerdings vor einem Mißver— 
ſtändniß geſchützt geweſen, wenn ich „mor— 
phogenetiſch“ Feſagt hätte, allein ich hatte 
eben nicht das Forſchungsziel, das 
natürlich die Morphogeneſis iſt, ſondern die 
Forſchungsmethode, die phyſiologiſche, 
im Auge, da wir zuerſt dieſe cultiviven 
müſſen. Denn die heutige Zoophyſiologie 
iſt viel zu einſeitig entwickelt, als daß wir 
uns derſelben ſofort mit Erfolg bedienen 
könnten, was der Leſer aus meinen Erörte— 
rungen über ſpezifiſche Stoffe wird ent— 
nehmen können. G. Jäger. 


obſchon wir bis heute das Weſen der An— 
ziehung und ihre Wechſelbeziehung zu an— 
deren Kraft- reſp. Bewegungsformen nicht 
kennen. So zeigten auch die Morphologen, 
wie die Formen ſich geſtalten, die Darwin— 
Häckel'ſche Schule lehrte die Anpaſſung und 
Vererbung als urſachliches Moment ſchätzen 
und enthüllte an der Hand dieſes leitenden 
Fadens eine Fülle neuer morphologiſcher 
Thatſachen, deren Folge noch lange nicht 
geſchloſſen iſt. Heute müſſen wir ſuchen, auch 
dieſe Anpaſſungs- und Vererbungsvorgänge 
in ihren Theilerſcheinungen zu begreifen; 
jedoch würde es ein Rückſchritt ſein und zu 
vielen Irrungen verleiten, wollte man die durch 
Darwin und Häckel klargelegte Wechſel— 
beziehung der beiden Urſachengruppen ver— 
geſſen und für die phyſiologiſche Forſchung 
als werthlos bei Seite ſetzen. „Durch die 
Vererbung,“ lehrt Häckel in ſeiner Schöpf— 


ungsgeſchichte, „wird die organiſche Form in 


ihren weſentlichſten Grundzügen erhalten, 
und es ſo ermöglicht, daß Generationen 
hindurch von ähnlichen Organismen Aehn— 
liches erzeugt wird; die Vererbung be— 
dingt eine gewiſſe Beſtändigkeit der Formen. 
Anderſeits ſind die Organismen aber um— 
bildſam; ihr plaſtiſcher Stoff paßt ſich den 
Einflüſſen der Außenwelt ſo viel wie 
möglich an. Es entſtehen ſo neue Formen 
aus den vorhandenen. Je nachdem die 
Erſcheinungen der Vererbung oder Anpaſſ— 
ung vorwalten, bleibt die Form conſtant 
oder verändert ſich dieſelbe. Der in jedem 
Augenblick ſtattfindende Grad der Form— 
beſtändigkeit bei den verſchiedenen Thier— 
und Pflanzenarten iſt einfach das noth— 
wendige Reſultat des augenblicklichen Ueber— 
gewichts, welches jede dieſer beiden Bildungs— 
kräfte (oder phyſiologiſchen Funktionen) über 
die anderen erlangt hat.“ Was ſich im 
Kampfe ums Daſein den Exiſtenzbedingungen 


Ehe 


90 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


anpaſſen kann, bleibt beſtehen und vererbt 
das Angepaßte auf die Nachkommen; was 
dieſer Forderung der Anpaſſung nicht ge— 
nügen kann, geht unter und macht exiſtenz— 
fähigeren, glücklicher geſtellten Individuen 
Platz zur Entwickelung. Mit dieſem Grund— 
gedanken Darwin-Häckel'ſcher Auffaſſung 
der organiſchen Natur muß die Pyſiologie 
ſich befreunden, wenn ſie nicht, leit- und 
principlos wie früher, im Dunkeln herum— 
tappen will. Eine Theorie der Vererbung 
iſt daher auch von einer Theorie der An— 
paſſung nicht zu trennen, da beide zu ein— 
ander in enger Wechſelbeziehung ſtehen. 

Wie ſich für die Erklärung des Wer— 
dens der Dinge im Allgemeinen zwei 
Theorien gegenüberſtehen, die dualiſtiſche 
Hypotheſe, welche bald mehr, bald weniger 
ausgedehnte Schöpfungsakte verlangt, und 
die moniſtiſche Theorie, welche die Formen 
im Kreislauf der Natur aus einander wer— 
den und ſich entwickeln läßt, ſo kann man 
auch die Zeugungstheorien in zwei principiell 
von einander geſchiedene Lager ſondern. 
Die Anhänger der transcendentalen Richtung 
laſſen durch einen Machtſpruch den Keim 
plötzlich mit allen ſeinen Bildungstrieben 
da ſein. Alles weitere Erklären iſt dann 
Spielwerk. Die moniſtiſche Naturanſchauung 
faßt dagegen die ganze Welt und die Or— 
ganismen auf ihr, als etwas ſich im Kreis— 
lauf der Dinge ſtetig Geſtaltendes, als etwas 
Werdendes auf. Die Materie kann nicht 
zu Nichts werden. Die Körper zerfallen 
höchſtens in ihre Elementarbeſtandtheile, 
die im ſtetigen Wechſel zu neuen Gebilden 
zuſammen treten. Nach dieſer Auffaſſung 
ſind auch die organiſchen Keime etwas Ge— 
wordenes, nichts Geſchaffenes, etwas all— 
mählig ſich Entwickelndes, nichts augen— 
blicklich fertig Angelegtes. 

Bei weiterer Entwickelung dieſes Ge— 


dankens ſind nun zwei Vorſtellungen mög— 
lich: Entweder haben ſich bei dem erſten 
Akte der Urzeugung verſchiedene plasma— 
tiſche Gebilde aufgebaut, von denen jedes ſich 
in feiner Art mit Anpaſſung an die Exiſtenz— 
bedingungen weiter entwickelte, oder aber 
aus einer weſentlich gleichartigen?) leben— 
digen Maſſe iſt durch Anpaſſung an die ver- 
ſchiedenen Bedingungen der Exiſtenz Ver— 
ſchiedenes geworden. Die erſtere Annahme 
führt zu einem polyphyletiſchen, die letztere 
zu einem monophyletiſchen Stammbaum; 
beide können aber der principiellen An— 
ſchauungsweiſe nach moniſtiſch ſein. Die 
moniſtiſch-polyphyletiſche Auffaſſung hat 
ſcheinbar den Vortheil, daß ſie die Frage 
nach den Urſachen der ſpeziellen Entwicke— 
lung ſchneller abfertigt, inſofern immer dieſe 
Antwort gegeben werden kann: Als die 
erſten Kohlenſtoff-Verbindungen lebendig 
wurden, beſaßen ſie vermöge ihrer Zuſam— 
menſetzung von Haus aus beiſpielsweiſe 
verſchiedene chemiſche Affinitäten und muß— 
ten daher von dem umgebenden Nähr- 
material, von Licht, Wärme, Druck, Elek— 
tricität u. ſ. w., jede in ihrer ſpeziellen 
Weiſe, beeinflußt werden. Sie vervollfomm- 
neten ſich in Folge der Selektion, ſo daß 
die Richtung und Stärke der Vervollkomm⸗ 
nung der Reſultante zwiſchen den bereits 
vorhandenen Ureigenſchaften und den Ein— 


) Wenn das Urprotoplasma hier gleich- . 
artig genannt wird, jo ſoll damit nicht an⸗ 
gedeutet ſein, daß es aus einer Subſtanz 
beſteht. Nach Jäger's Protoplasmatheorie 
müßte es ein Gemenge aus mindeſtens drei 
verſchiedenen chemiſchen Verbindungen ſein, 
weil ſonſt jede phyſikaliſche Baſis für die 


Erklärung der Lebenserſcheinungen fehlt. 
Auch Häckel hat wohl mit ſeinem gleich— 
artigen Protoplasma nur das Fehlen 
der organiſchen Differenzirung bezeichnen 
wollen. 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


flüſſen der Außenwelt entſprach. Nennt 
man dieſe Ureigenſchaften „innere Urſachen 
der Entwickelung“, ſo kann gegen ſolche 
innere Urſachen vom moniſtiſchen Stand— 
punkte aus principiell nichts eingewendet 
werden; man muß dann nur zuſehen, daß 
dieſem Begriff keine dualiſtiſche Unterlage 
untergeſchoben wird. 

Die moniſtiſch- monophyletiſche Auf— 
faſſung hat einen weit ſchwierigern Stand; 
ſie muß nicht nur zwiſchen verwandten 
Formen, ſondern zwiſchen den Typen die 
Uebergänge ſuchen; das iſt eine Arbeit, 
welche wohl noch lange den Fleiß und das 
Geſchick der Forſcher in Anſpruch nehmen 
wird, ehe eine endgültige Entſcheidung ge— 
fällt werden kann. Häckel vertritt, ge— 
ſtützt auf ſeine Gaſträatheorie, für deren 
Grundgedanken in letzter Zeit die Beweiſe 
immer mehr ſich häufen, die Anſicht, daß 
zunächſt durch das Auftreten der ontogene— 
tiſchen Gaſtrula das ganze Thierreich in zwei 
große Hauptgruppen zerfällt, in Protozoen 
und Metazoen. Für die Protozoen möchte 
er einen polyphyletiſchen Stammbaum zu— 
laſſen, während die Metazoen aus be— 
ſtimmten Protozoen ſich monophyletiſch ent— 
wickelt haben ſollen. Man muß bekennen, 
daß das Vorkommen der Archigaſtrula bei 
den niederen Thierformen ſämmtlicher 
Stämme, ſo wie die von Häckel rationell 
durchgeführte Ableitung der durch Anpaſſung 
abgeänderten Amphi-, Disco-, und Peri— 
gaſtrula der anderen Thiere ſo überraſchend 
iſt, daß die Annahme einer monophyletiſchen 
Descendenz aller Metazoen, ſchon aus heuri— 
ſtiſchen Gründen, ſehr vieles für ſich hat. 
„Wenn die verſchiedenen Gaſtrula-Formen“, 
jagt Häckel ?) „wirklich nur homomorphe 
wären, und wenn alſo die verſchiedenen 

) Häckel, Biologiſche Studien, zweites 
Heft, Jena 1877, Hermann Dufft. S. 244 ff. 


—— — 


91 


Metazoen-Gruppen von vielen urſprünglich 
verſchiedenen und nicht zuſammenhängenden 
Gaſträa⸗Vorfahren abſtammten, fo würde 
man annehmen müſſen, daß die Exiſtenz— 
Bedingungen der Urzeit ſo gleichförmig 
waren, daß ſie überall durch gleichartige 
Anpaſſung die erwarteten Metazoen-Ahnen 
in die gleiche Bildungsbahn der Gaſträa 
drängten. Wenn man hingegen mit uns 
annimmt, daß ſämmtliche Gaſtrula-Formen 
homophyletiſch ſind, ſo erklärt ſich ihre 
genetiſche Homologie (oder Homophylie) 
ſehr einfach durch Vererbung von einer ge— 
gemeinſamen Stammform. Beide Hypo- 
theſen laſſen ſich mit Gründen ſtützen; 
doch ſcheint mir die letztere einfacher und 
natürlicher als die erſtere.“ 

Für die Erklärung der Vererbungser— 
ſcheinungen iſt es gleichgültig, ob man die polyp⸗ 
hyletiſche oder monophyletiſche Descendenz an- 
nimmt; in beiden Fällen hat man ſich die 
Frage zu ſtellen, wie es kommt, daß Die zeit- 
lich auftretenden Abänderungen durch Verer— 
bung auf die Nachkommen übertragen werden. 

Entweder muß man überhaupt die Mög- 
lichkeit, daß ſich die Organismen anpaſſen und 
das Angepaßte vererben, leugnen; dann 
ſchlägt man der Wirklichkeit ins Geſicht 
und läuft Gefahr, jeden Augenblick durch die 
Thatſachen überführt zu werden; oder man 
giebt die Thatſache der Vererbung erwor— 
bener Eigenſchaften, wenn auch noch ſo li— 
mitirt, zu, dann muß man nach einer natur 
wiſſenſchaftlichen Begründung dieſer Vor— 
gänge forſchen. Es iſt hier geboten, daß 
wir uns zunächſt über die Bezeichnung 
„äußere Einflüſſe“ verſtändigen, da hier— 
durch manchem Mißverſtändniß vorgebeugt 
werden dürfte. Häckel unterſcheidet mit 
Recht zwiſchen palingenetiſchen Proeeſſen 
und cenogenetiſchen. Als palingenetiſch deu— 
tet er diejenigen keimesgeſchichtlichen Er— 


ee EEE . 


92 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


ſcheinungen in der individuellen Entwice- 
lungsgeſchichte, welche durch die Vererbung 
getreu von Generation zu Generation über— 
tragen worden ſind, und welche demnach 
einen unmittelbaren Rückſchluß auf ent- 
ſprechende Vorgänge in der Stammesge— 
ſchichte der entwickelten Vorfahren geſtatten. 
Cenogenetiſch nennt er dagegen diejenigen 
Vorgänge in der Keimesgeſchichte, welche 
nicht auf ſolche Vererbung von uralten 
Stammformen zurückführbar, vielmehr erſt 
ſpäter durch Anpaſſung der Keime der 
Jugendformen an beſtimmte Bedingungen 
der Keimesentwickelung hinzugekommen ſind. 
Er nennt ſie ſogar keimesgeſchichtliche Fäl— 
ſchungen. Wenn man weiß, was Häckel 
mit dieſer Bezeichnung ſagen will, dann 
deckt der Ausdruck Fälſchung ganz paſſend 
das, was mit ihm bezeichnet werden ſoll. 
Wenn man ihn aber aus dem Zufammen- 
hange herausgreift und dann dem argloſen 
Laien vorhält, „wie unwiſſenſchaftlich es ſei, 
die Natur Fälſchungen begehen zu laſſen“, 
dann ſcheint das ein arger Verſtoß gegen 
alle Grundprincipien exakter Forſchung zu 
ſein. Vielleicht hätte Häckel, um der ſo— 
phiſtiſchen Verdeutelung auszuweichen, beſſer 
den Ausdruck „Störung“ gebraucht. Aber 
auch dann konnte man, den Zuſammen— 
hang der Ideenverknüpfung löſend, wieder 
ausrufen: „Wie kann und darf einem 
Moniſten die Natur ſich ſtören laſſen.“ 
Und dennoch wird auch bei den auf exakte 
Rechnung zurückführbaren Planetenbewe— 
gungen von Störungen geſprochen! Ja, 
es iſt ſogar wahrſcheinlich, daß das Geſetz 
der Planetenbewegung nicht aufgefunden 
worden wäre, wenn ſein Entdecker von An— 
fang an alle Störungen gekannt hätte. 
Nachdem aber einmal das Geſetz gefunden 
war, mußte die Analyſe der Störungen 
nur neue und ſchlagende Belege für ſeine 


Richtigkeit bieten, indem ſie zeigte, daß auch 
die Störungen, als nothwendige Folge der 
allgemeinen Attraktion, ſich dem Attraktions— 
geſetze beugen. Aehnlich verhält es ſich mit 
Häckel's Palingeneſis und Cenogeneſis. 
Während die palingenetiſchen Erſcheinungen 
der individuellen Entwicklung bekunden, daß 
eine Abhängigkeit der Keimes- von der Stam⸗ 
mesentwickelung beſteht, ſind die cenogenetiſchen 
Vorgänge Störungen. Wenn man ſein 
Augenmerk hauptſächlich auf die Störungen 
richtet, wird das biogenetiſche Grundgeſetz 
verdeckt; wenn man aber, nachdem das 
Geſetz aus grundlegenden Thatſachen er— 
kannt iſt, auch dieſe Störungen auf ihre 
Urſachen und Wirkungen prüft, zeigt ſich, 
daß ſie nur neue und ſchlagende Belege 
für die Richtigkeit des Häckel'ſchen Geſetzes 
bringen. Will man ſtreng getrennt innere 
und äußere Urſachen der Entwickelung auf- 
ſtellen, ohne ihre Wechſelbeziehungen zu 
würdigen, dann iſt kein einheitliches Ver— 
ſtändniß der Formengeſtaltung möglich. 
Man muß unterſcheiden, erſtens zwiſchen den 
inneren und äußeren Entwickelungsurſachen 
des elterlichen Organismus, und zweitens 
zwiſchen denjenigen des Keimes. Was für 
erſtere ſchon innere Urſache iſt, kann für 
letztere noch zu den äußeren gehören. Ein 
Beiſpiel wird das Geſagte veranſchaulichen. 
Das elterliche Individuum beſitzt eine 
Summe von Eigenſchaften, die es theils 
ererbt, theils durch Anpaſſung bereits er— 
erworben hat. Es iſt den Einflüſſen der 
Außenwelt, wie ſie alle heißen mögen, aus— 
geſetzt, dieſelben werden theils erhaltend, 
theils umbildend auf Nerven, Muskeln, 
Knochenſkelet, Hautbedeckung u. ſ. w. ein⸗ 
wirken. Als innere Urſachen der Formge— 
ſtaltung würden nun ſolche anzuſehen ſein, 
welche durch die Conſtitution des organiſchen 
Materials ſelbſt, z. B. die ſpeeifiſche che⸗ 


miſch⸗phyſikaliſche Beſchaffenheit des Blutes, 
überhaupt der Zellen, ihres Inhaltes und 
ihrer Ausſcheidungen gegeben ſind; auf äußere 
Urſachen wäre dagegen z. B. die Formung 
durch die Schwerkraft, den Luft- oder Waſſer⸗ 
druck, den Waſſergehalt der Luft, die Be— 
ſchäftigung und dergleichen zurückzuführen. 
Sobald die organiſche Conſtitution durch ſie 
mehr oder weniger geändert iſt, iſt ein 
adäquater Theil der von außen wirkenden 
Kräfte in organiſche Spannkraft, oder, da 
man für die Begriffe deckende Bezeichnungen 


haben muß, in „innere Geſtaltungskraft“ 
lungsgeſchichte der Individuen auch Seiten 


überführt worden. 

Wenn man in ähnlicher Weiſe die den 
Keim bewegenden Kräfte betrachtet, ſo iſt für 
ihn der Begriff der „äußern Kräfte“ in— 
ſofern ein umfaſſenderer, als derſelbe von dem 
mütterlichen Organismus eingeſchloſſen iſt. 
Die organiſche Conſtitution der Mutter iſt 
für ihn adäquat den Eigenſchaften der die 
Mutter umgebenden Außenwelt, mit dem 
Zuſatze, daß die Außenwelt auf die Con— 
ſtitution der Mutter und durch dieſe auch 
auf den Keim wirkt. Als innere Urſache 
der Keimesentwickelung kann man nur die 
Beſchaffenheit des den Keim ſelbſt zu— 
ſammenſetzenden Materials betrachten. Das— 
ſelbe muß, als urſprünglicher Theil. des 
mütterlichen Organismus, deſſen organiſche 
Conſtitution beſitzen, und bei der engeren 
Beziehung beider die Aenderungen der 
mütterlichen Conſtitution in ſich weit 
exakter wiederholen, als dies bei den mehr 
geloderten Beziehungen, die zwiſchen dem 
erwachſenen Individuum und der Außen— 
welt beſtehen, bei letzterem der Fall iſt. 
Die Cenogeneſis des Mutterorganismus 
geht alſo über in deſſen Palingeneſis, die 
wieder zum Theil Cenogeneſis des Keims 
iſt, und letztere iſt die Quelle für deſſen 
werdende Palingeneſis. Wenn daher Köl— 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 93 


liker, His und Andere von „inneren 
Entwickelungsurſachen“, von „inneren Trieb— 
federn“ der Entwickelung ſprechen, ſo hat 
das in gewiſſem Sinne ſeine Berechtigung. 
Unberechtigt würde es dagegen ſein, wollte 
man nur ſolche „innere Triebfedern“ als 
Urſachen der Entwickelung anſehen und ſich, 
nach Bildung des im Allgemeinen annehm⸗ 
baren techniſchen Ausdrucks (innere Ur— 
ſachen), des Forſchens über die Urſachen 
dieſer inneren Urſachen enthoben 
glauben. Wenn man gegen das Häckel'ſche 
Geſetz eingewandt hat, daß die Entwicke— 


darbiete, von denen die Stammesgeſchichte 
nichts wiſſe, wie das Beiſpiel der Allantois, 
des Amnions und des Fruchtkuchens der hö— 
heren Thiere beweiſe, ſo iſt zu beachten, daß 
das Amnion, die Allantois, überhaupt ſämmt⸗ 
liche bei Entwickelung der Frucht im In— 
nern des mütterlichen Organismus bethei⸗ 
ligten Bildungen ſich entwickelt haben in 
Folge der immer mehr verzögerten Geburt. 
Gerade dieſe Gebilde ſind für die Wür— 
digung der Häckel'ſchen Auffaſſung von der 
Wechſelbeziehung zwiſchen Phylogenie und 
Ontogenie ſehr lehrreich. Sie gehören zur 
Stammesentwickelung, inſofern der mecha— 
niſche Grund des Zurückbleibens der Frucht 
im mütterlichen Schoße zu ihrer phylo— 
genetiſchen Ausbildung Veranlaſſung gab 
und das einmal Gewordene auf die Nach— 
kommen übertragen wurde. Sie greifen 
aber zweitens in das Werden des Keimes 
auch wieder inſofern ein, als ſie jetzt vor— 
handene (palingenetiſche) Eigenſchaften des 
Keimes mechaniſch beeinfluſſen und ihrer 
Wirkung anpaſſen. Gerade im Darwin— 
Häckel'ſchen Sinne, oder beſſer geſagt, 
nur in dieſem laſſen ſich dieſe cenogenetiſch 
gewordenen, aber zur Palingeneſis führenden 
Bildungen erklären. (Schluß folgt.) 


5 8 gender: 

8 785 Nach Darwins Annahme 
find alle Organe allmählich im Laufe vieler 
Generationen aus kleinen Anfängen durch 
ſucceſſive Vervollkommnung zu ihrer jetzigen 
Entwicklungshöhe gediehen. Das Motiv 
der fortſchreitenden Entwicklung iſt die er— 
höhte Brauchbarkeit des Organs, in dem 
jetzt ſelbſt die kleinſte Verbeſſerung dem 
Organträger eine Ueberlegenheit im Kampf 
ums Daſein ſchafft. Die Gegner behaupten 
nun, ſo zuläſſig auch dieſes Motiv für die 
Vervollkommnung eines einmal be— 
ſtehenden Organs ſein könne, ſo wenig 
treffe es für die erſten kleinen Anfänge 
zu; ein Organ ſei erſt nützlich, wenn es 
eine gewiſſe Ausbildung erlangt habe, un— 
entwickelte, alſo rudimentäre Organe ſeien 
eher ein unnützer hindernder Ballaſt, als 
ein brauchbares Werkzeug. 

Für die Milchdrüſen der Säuge— 
thiere, die von Mivart als Beleg für 
dieſe Behauptung angeführt worden ſind, 
habe ich die Unwichtigkeit dieſes Einwurfs 


. 


Die Organaufänge. 


Von 


Prof. Dr. Gultav Jäger. 


1 Ar 5 
0 N 
=: in vielgehörter ef gegen 


ſchon früher“) dargethan. Da aber der 
Einwand ſich immer wieder hinter ein an⸗ 
deres Organ flüchtet und es leicht iſt, dem 
nicht ſpeziell Sachverſtändigen die Unmög⸗ 
lichkeit eines Organanfangs namentlich dann 
vorzudemonſtriren, wenn man einen falſchen 
Organanfang zu Grunde legt, ſo dürfte es 
ſich empfehlen, der Reihe nach alle Organe 
des Thierkörpers durchzugehen, genau feſt— 
zuſtellen, in welcher Form und Funktion 
das Organ erſtmals auftritt und welchen 
Vortheil es ſeinem Träger über das im 
übrigen gleich beſchaffene, aber das betr. Organ 
völlig entbehrende Thier gibt. Ich beginne 
mit den Sinnes organen, ſpeziell mit dem 
Auge, erlaube mir aber für den minder 
ſachverſtändigen Leſer Folgendes voraus zu 
ſchicken: 

Man hat ſich auf Grund des Sach— 
verhaltes bei den hochorganiſirten Thieren 
daran gewöhnt, ſich die Sinnesorgane als 
Beſtandtheile des Nervenſyſtems zu denken. 
Dieſer Vorſtellung muß man ſich entſchlagen, 
wenn man die Anfänge der Sinnesorgane 


) Ausland. Jahrgang 1874. S. 638. 


ſtudiren will, da die lebendige Subſtanz 
an und für ſich, d. h. ehe geſonderte Organe 
vorhanden ſind, wenn man ſo ſagen will, 
riecht, ſchmeckt, hört, ſieht und fühlt, d. h. 
gegen chemiſche Reize und molekulare ſowie 
grobmechaniſche Bewegungen empfindlich iſt. 
Um dieſe Thatſache verſtändlich zu machen, 
iſt es nöthig, ſich einige allgemeine Be— 
trachtungen aus dem Gebiete der Bewegungs— 
lehre vorzuführen. 

Die Phyſik nennt das Licht, die Wärme, 
die Elektrizität, die Schallwellen und die 
mechaniſchen Bewegungen freie Kräfte 
(im Gegenſatz gegen die latente oder Spann— 
kraft) oder Bewegungen, weil ſie ſich im 
Raume fortbewegen oder, wie man ſich 
ausdrückt, weil fie von ihrem Entſtehungs— 
herde aus fortgeleitet werden. 

Trifft eine ſolche freie Bewegung auf 
einen Körper, ſo kann dreierlei geſchehen: 

1) Die Bewegung wird an ihrem Fort— 
ſchreiten verhindert und da ſie nicht ver— 
ſchwinden kann, ſo ſchlägt ſie einen rück— 
läufigen Weg ein; der Phyſiker ſagt: ſie 
wird reflektirt. Die betreffende Eigen— 
ſchaft des Körpers nennen wir ſeine Re— 
flexionsfähigkeit. 

2) Der Körper geftattet der freien Be— 
wegung nicht nur den Eintritt, ſondern 
auch den Durchgang und zwar ſo wie ſie 
iſt, d. h. ohne ſie in eine anderartige Be— 
wegung zu verwandeln. Wir ſagen jetzt, 
die Bewegung wird geleitet und nennen 
die Eigenſchaft des Körpers Leitungs- 
fähigkeit. 

3) Der Körper geſtattet der freien Be— 
wegung zwar den Eintritt d. h. reflektirt 
ſie nicht, aber er leitet ſie auch nicht als 
ſolche fort, ſondern zwingt ſie eine andere 
Form freier Bewegung!) und zwar 

) Den vierten Fall, die Umwandlung 
in Spannkraft, erörtere ich hier nicht. 


Jäger, Die Organanfänge. 


95 


diejenige anzunehmen, welche der Körper zu 
leiten vermag; dabei verſchwindet natürlich 
die urſprüngliche Form der freien Be— 
wegung, was wir als Abſorption be— 


zeichnen. Dieſe Eigenſchaft eines Körpers 
eine freie Bewegung zu abſorbiren, indem 
ſie ſie umwandelt, nenne ich allgemein Em— 
pfindlichkeit, eine Eigenſchaft, von welcher 
die Erregbarkeit der lebendigen Sub- 
ſtanz nur eine weitere Complikation iſt. 
Erregbarkeit und Empfindlichkeit 
unterſcheiden ſich nämlich in der Weiſe: 
Empfindlichkeit iſt nur die Fähigkeit eines 
Körpers eine freie Bewegung zu hemmen 
und in eine anderartige Bewegungsform 
umzuwandeln. Erregbar dagegen iſt eine 
Subſtanz, bei welcher in Folge dieſer Um— 
wandlung der ſie treffenden freien Be— 
wegung (die man dann Reiz nennt) neue 
Kräfte, die in der Subſtanz in der Form 
von Spannkraft vorhanden waren, frei ge 
macht oder wie man auch jagt ausgelöſt 
werden. Der Reiz iſt alſo das auslöſende 
Moment, ohne ihn bleibt die Spannkraft 
gebunden und die Grundlage der Erregbar— 
keit iſt alſo die Empfindlichkeit. 
Wichtig iſt nun weiter die leichtver— 
ſtändliche Thatſache, daß die drei genannten 
Eigenſchaften eines Körpers — Reflexions- 
fähigkeit, Leitungsfähigkeit und Empfindlichkeit 
— im Verhältniß der relativen (nicht ab- 
ſoluten) Ausſchließung zu einander ſtehen: 
— Ein Körper der eine Bewegung ſtark 
und leicht reflektirt, wird ein ſchlechter Leiter 
und auch wenig empfindlich für ſie ſein. 
Andrerſeits: Ein Körper, der eine Be— 
wegung leicht in ſich eindringen läßt und 
fortleitet oder umwandelt, wird ſie ſchlecht 
reflektiren. Im gleichen Verhältniß der 
Ausſchließung ſteht Leitungsfähigkeit und 
Empfindlichkeit; ein guter Leiter wird die 


Bewegung nicht in eine andere umwandeln, | 


96 Jäger, Die Organanfänge. 


und einer der ſie umwandelt, wird ſie 
ſchlecht leiten. Orientiren wir uns über 
dieſe Thatſache mit Bezug auf das Licht 
genauer. 

Einen Körper, der das Licht als ſolches, 
d. h. ohne es umzuwandeln und als ganzes 
leitet, nennen wir durchſichtig (diaphan) 
und farblos. Ein ſolcher Körper iſt 
nun einmal ein ſchlechter Reflektor, er wird 
nur diejenigen Lichtſtrahlen reflektiren, welche 
unter einem beſtimmten, von ſeinem Brech— 
ungsindex abhängigen Winkel feine Ober- 
fläche treffen, alle andern gehen hindurch. 
Ferner wird ein durchſichtiger Körper auch 
wenig empfindlich für Licht ſein, weil dies 
vorausſetzt, daß das Licht abſorbirt und in 
eine andere Bewegung (Wärme, chemiſche 
Bewegung ꝛc.) umgewandelt wird, denn 
wenn ein Körper das Licht abſorbirt, ſo 
nennen wir ihn undurchſichtig. Mithin 
iſt ein Körper um ſo empfindlicher für 
Licht, je geringer, bei gleicher Reflexions— 
fähigkeit, ſeine Durchſichtigkeit iſt. 

Ob ein Stoff ſich zum Reflektor oder 
zum Lichtempfindungsapparat eignet, wird 
davon abhängen, in welchem Grad er im 
im Stande iſt, das Licht in eine andere 
Form freier Bewegung überzuführen Hier— 
bei handelt es ſich um chemiſche und phyſi— 
kaliſche Eigenſchaften. Die chemiſche Um— 
wandlungsfähigkeit iſt bei einer chemiſchen 
Verbindung vorhanden, deren Beſtandtheile 
durch ſo ſchwache Affinitäten zuſammen— 
gehalten ſind, daß ein geringer Stoß gegen 
das labile Molekulargebäude einen Zu— 
ſammenſturz deſſelben zur Folge hat. Solche 
Stoffe verwendet der Photograph und dieſe 
ſind ſelbſtverſtändlich für Conſtruktion von 
Reflektoren abſolut untauglich; hierzu ge— 
hören Stoffe, welche von ſolchen Stößen, wie 
ſie die Lichtſtrahlen ausführen, nicht alterirt 
werden, weil die chemiſche Zerſetzung mit 


einer Veränderung der phyſikaliſchen Be⸗ 
dingungen der Reflexion verbunden iſt. 

Als gemeinſchaftliche phyſikaliſche Be— 
dingung für Reflexion und Abſorption 
haben wir oben die Undurchſichtigkeit 
verlangt, daß aber — gleichen Grad von 
Undurchſichtigkeit vorausgeſetzt — die Re⸗ 
flexionsfähigkeit auf Eigenſchaften beruht, 
welche die Abſorptionsfähigkeit mindern und 
umgekehrt, geht aus Folgendem hervor. 

Wenn ein Lichtſtrahl einen undurch⸗ 
ſichtigen Körper trifft, ſo wird er nie völlig 
reflektirt, ein gewiſſer Theil wird ſtets ab- 
ſorbirt und in Wärmebewegung übergeführt, 
ſo daß der reflektirte Lichtſtrahl nie dieſelbe 
Stärke hat wie der auffallende. Wie viel 
reflektirt und wie viel abſorbirt wird, hängt 
nun von zwei Umſtänden ab: 

1) Von dem Grad der Elaſticität 
für Licht. Je licht-elaſtiſcher ein Körper 
iſt, deſto beſſer wird reflektirt, je weniger 
elaſtiſch er iſt, um ſo mehr wird abſorbirt. 

2) Von der Beſchaffenheit der Ober— 
fläche. Iſt ein Körper vollſtändig eben, 
ſo kann ein Lichtſtrahl denſelben nur ein— 
mal treffen, hat er dagegen Hervorragungen, 
ſo werden die Strahlen, welche die ſchiefe 
Ebene der Hervorragungen treffen, an die 
gegenüberſtehende Wand der nächſten Her— 
vorragung reflektirt, und ſo in mehrfacher 
Wiederholung, bis ſie ganz oder faſt ganz 
in Wärme erzeugendem Anprall ſich erſchöpft 
haben. Eine ſolche rauhe Oberfläche kann 
mithin nur diejenigen Lichtſtrahlen reflek— 
tiren, welche auf ganz beſtimmt geneigte 
Flächen und in ganz beſtimmter Richtung 
auffallen, alle andern werden ganz oder faſt 
ganz abſorbirt und in Wärme umgewandelt. 
Die Empfindlichkeit iſt um ſo größer, je 
kleiner und zahlreicher dieſe Erhabenheiten 
ſind. Will deshalb der Phyſiker einen 
Körper lichtempfindlich machen, ſo über— 


zieht er ihn mit einer Rußſchicht die aus 
zahlloſen, winzigen, lauter Erhabenheiten 
vorſtellenden, undurchſichtigen 
aus einer ſehr wenig lichtelaſtiſchen Subſtanz 
beſteht. 

Bei der Lichtempfindlichkeit eines Kör— 


pers kommt jedoch noch Folgendes in Be 


tracht: Das weiße Sonnenlicht iſt bekanntlich 


eine Miſchung ſehr vieler verſchiedenfarbiger 
die chemiſche Struktur derſelben eine äußerſt 
wankelmüthige, unter ſehr geringen Anſtößen 


Lichtſtrahlen. Ein undurchſichtiger Körper 
kann nun ſo beſchaffen ſein, daß er ent— 
weder alle Farben gleichmäßig reflektirt, 


dann iſt er, ſofern er ſie auch miſcht, weiß; 
der Photographen, aber natürlich ebenſo 


oder er abſorbirt ſie alle gleichmäßig und 
möglichſt vollſtändig, dann iſt er ſchwarz; 
oder er abſorbirt nur einen Theil, während er 
einen andern reflektirt, dann iſt er farbig. 
Daraus ergibt ſich, daß ſchwarze Körper am 
lichtempfindlichſten find, aber am ſchlechteſten 
reflektiren, farbige weniger empfindlich 
ſind, aber beſſer reflektiren und weiße die 
beſten Reflektoren und am wenigſten für 
Licht empfindlich ſind. 

Wenden wir uns nun zu der leben- 
digen Subftanz. Bekanntlich iſt dieſelbe 
durch eine große Empfindlichkeit ausge— 
zeichnet und die Kehrſeite davon iſt ihre 
geringe Leitungsfähigkeit und Reflexions- 
fähigkeit. Die lebendige Subſtanz iſt ein 
ſchlechter Wärmeleiter, deshalb iſt ſie ſehr 
empfindlich für Wärmeſchwankungen; ſie 
leitet die Elektricität millionenmal ſchlechter 
als ein Kupferdraht, deswegen iſt ſie ſo 
empfindlich für Elektricitätsſchwankungen; 
ſie iſt ein ſchlechter Schallleiter, deshalb 
empfindlich für Schallwellen, und ſie iſt fo 
empfindlich für Druckſchwankungen, weil ſie 
ihrer teigig weichen Beſchaffenheit wegen ein 
ſchlechter Leiter für mechaniſche Bewe— 
gungen iſt. 

Wie verhält ſie ſich nun gegen das 
Licht? Wir ſahen oben, daß ein Körper 


Jäger, Die Organanfänge. 


Körperchen | 


* 


um ſo lichtempfindlicher ſei, je weniger 
durchſichtig und farblos er iſt. In ihrer 
einfachſten primären Erſcheinungsform iſt 
nun die lebendige Subſtanz faſt farblos 
und in ziemlich hohem Grade durchſichtig. 
Vom phyſikaliſchen Standpunkt aus iſt fie 
alſo für Lichtempfindung nicht günſtig ge— 
artet und dies wird nur dadurch bis zu 
einem gewiſſen Grade ausgeglichen, daß 


leidende iſt, daß ſie alſo in ähnlicher Weiſe 
lichtempfindlich iſt, wie die ſenſitiven Stoffe 


ausſchließlich für den chemiſch wirkſamen 


Theil der Lichtſtrahlen. 


Soll nun — und das iſt der Anfang 
der Sehorganbildung — das Proto— 
plasma auch für dieſe phyſikaliſch wirk— 
ſamen Lichtſtrahlen empfindlich gemacht wer— 
den, ſo gibt es kein anderes Mittel, als 
ſeine Durchſichtigkeit zu beſchränken oder ganz 
aufzuheben, und das geſchieht durch Ein— 
lagerung von einzelnen feinen, lauter Er— 
habenheiten vorſtellenden Körnern einer un— 
durchſichtigen Subſtanz von geringer Licht— 
elaſtizität. Nach dem früher geſagten wird 
dieſes Ziel am vollkommenſten erreicht, wenn 
die Subſtanz alle Lichtſtrahlen, nicht nur 
einen Theil derſelben, zu abſorbiren vermag, 
alſo ſchwarz iſt; unvollſtändiger durch 
Einlagerung von blos farbigen Subſtanzen, 
und noch unvollſtändiger durch Einlagerung 
von Körnern, welche zwar durchſichtig farb— 
los und wenig reflektirend ſind, aber einen 
anderen Brechungsindex haben als die Grund— 
ſubſtanz. 

Den zuletzt genannten niedrigſten Grad 
phyſikaliſcher Bedingung für Lichtempfind- 
lichkeit beſitzt nun die lebendige Subſtanz, 
inſofern ſie ein Gemenge aus zwei Stoffen 
von verſchiedenem Brechungsindex, Grund— 


98 


ſubſtanz und Protoplasmakörnern, iſt. Ge— 
ſteigert wird ſie, ſobald Farbſtoffkörner 
auftauchen: gefärbtes Protoplasma iſt licht— 
empfindlicher als farbloſes. Wenn die 
Körner vollends ſchwarz ſind, ſo erreicht 
die Empfindlichkeit einen noch höheren Grad: 
geſchwärztes Protoplasma übertrifft das 
farbloſe an Lichtempfindlichkeit ebenſo, wie die 
geſchwärzte Thermometerkugel des Phyſikers 
die ungeſchwärzte. 

Ich erlaube mir hier eine kleine Ab— 
ſchweifung. Es hat ſich unter den Phyſio— 
logen auf Grund des zuſammengeſetzten 
Baues des Wirbelthierauges eine wie mir 
ſcheint falſche Vorſtellung über das Sehen 
gebildet: Sie halten die ſtabförmigen 
Endigungen des Sehnerven für den Sitz 
der Lichtempfindlichkeit. Das iſt phyſikaliſch 
unmöglich, da dieſe Gebilde vollſtändig 
durchſichtig ſind; dem gegenüber muß der 
Zoologe und Phyſiker daran feſt halten, 
daß die Lichtempfindung Lichtabſorp— 
tion vorausſetzt und daß dies die Funktion 
des für alle Augen charakteriſtiſchen Pig— 
mentes iſt. In dem Pigment wird die 
Lichtbewegung in Wärmebewegung umgeſetzt 
und die Endſtäbchen des Sehnerven ſind nach 
meiner Anſicht thermoelektriſche Apparate. 
Würde das Pigment im Auge eine ſo unter— 
geordnete Rolle ſpielen, wie die iſt, welche 
ihr die heutigen Phyſiologen zuweiſen, ſo 
wäre das Pigment weder ein ſo ausnahms— 
loſer Begleiter aller Sehwerkzeuge, noch 
wäre ein Pigmentfleck als der Anfang des 
Sehorgans zu betrachten, ſondern es hinge das 
Sehen von der Anweſenheit eines Nerven— 
ſyſtems ab, was der Thatſache widerſpricht, 
daß ausgeſprochene Lichtempfindlichkeit bei 
Thieren zu beobachten iſt, welche nicht die 
Spur eines Nervenſyſtems beſitzen, ſondern 
nur entweder ganz oder theilweiſe gefärbt 
oder geſchwärzt ſind. 


Jäger, Die Organanfänge. 


Es iſt klar, daß eine bloße Färbung 
oder Schwärzung nicht entfernt für ein 
Thier zu leiſten vermag, was ein voll— 
kommenes Auge thut. Vom deutlichen 
Sehen eines Gegenſtandes iſt natürlich keine 
Rede, fo lange ein bildentwerfender dioptriſcher 
Apparat fehlt, allein dennoch hat eine ge— 
ſchwärzte lebendige Subſtanz oder ſagen wir 
ein geſchwärztes einfachſtes Weſen einen 
Vortheil über das ungeſchwärzte durchſich— 
tige, inſofern als es die Lichtabnahme 
empfindet, welche die Beſchattung durch 
einen Fremdkörper hervorruft. Damit iſt 
ein Diſtanzſinn geſchaffen, der dem Thier 
das Herannahen einer Gefahr oder die An— 
weſenheit eines Hinderniſſes oder eines Beute- 
gegenſtandes ankündigt. 

Wir dürfen aber hierbei nicht ſtehen 
bleiben. Der Gegenſtand, den wir zu be— 
handeln haben, iſt nicht die Entſtehung 
allgemeiner Lichtempfindlichkeit, ſondern die 
Entſtehung eines beſtimmten lokaliſirten 
Sehorgans, in Form eines oder einiger 
kleiner umſchriebener Pigmentflecke, denn man 
könnte denken: Wenn erhöhte Lichtempfindlich— 
keit ein Vortheil iſt, ſo iſt er um ſo größer, 
je ausgedehnter die durch Schwärzung ent— 
ſtandene lichtempfindliche Fläche iſt, alſo am 
größten, wenn das Thier vollſtändig ge— 
ſchwärzt iſt. Daß dies nicht der Fall iſt, 
erhellt aus folgendem. 

Bei der Vortheilsfrage handelt es ſich 
nicht blos um das Sehen, ſondern auch 
um das Geſehenwerden. Befindet ſich 
ein ganz geſchwärztes Thier in lichter Um⸗ 
gebung, ſo entſteht ein Contraſt, der das 
Thier in höherem Grade ſichtbar macht, alſo 
den Augen ſeiner Feinde ausſetzt, und dann 
iſt es in ganz entſchiedenem Nachtheil gegen- 
über farbloſen durchſichtigen und deshalb 
ſchwer ſichtbaren Thieren. 

Dieſer Nachtheil verſchwindet aber ſo⸗ 


fort, wenn nicht das ganze Thier geſchwärzt 
iſt, ſondern nur eine kleine Stelle, die wegen 
ihrer Kleinheit und dadurch, daß ſie eine 
ganz andere Contour hat als das Geſammt— 
thier, weder die Erblickbarkeit noch die Er— 
kennbarkeit ſteigert. 

Ein weiterer Umſtand iſt folgender: 
Die Wirkung des Lichts auf einen ge— 
ſchwärzten Gegenſtand iſt eine Erwärmung 
desſelben und dieſe fällt um ſo größer 
aus, in je ausgedehnterem Maße die 
Oberfläche geſchwärzt iſt, um ſo kleiner, 
je geringer die Fläche iſt. Stellt man nun 
die Frage, ob eine Steigerung der Körper- 
wärme durch Lichteinfluß vortheilhaft iſt 
oder nicht, ſo kann die Antwort nur dahin 
ausfallen, daß die Steigerung der Körper— 
wärme den Stoffumſatz, alſo das Nahrungs- 
bedürfniß verſtärkt, was ein Nachtheil im 
Kampf ums Daſein iſt. Mit der Be— 
ſchränkung der Schwärzung auf eine kleine 
Stelle iſt dieſe nachtheilige Nebenwirkung, 


Jäger, Die Organanfänge. 


um die es ſich ja gar nicht handelt, auf 
ein Minimum reduzirt. 

Als dritter Umſtand kommt nachſtehen— 
des in Betracht. Der Empfindungsvorgang, 
den das Licht in einem völlig geſchwärzten 
Thier hervorruft, muß nach obigem derſelbe 
ſein, als wenn man durch Erwärmung des 
Mediums die Temperatur des Körpers 
ſteigert und damit fällt die Möglichkeit der 
Unterſcheidung von Licht und Wärme weg. 
Iſt dagegen nur eine kleine Stelle geſchwärzt, 
ſo iſt der Empfindungsvorgang bei Be— 
leuchtung ganz verſchieden von dem bei Er- 
wärmung: Erſterer iſt auf eine kleine Stelle 
beſchränkt, letzterer trifft die ganze Körper— 
fläche; damit iſt der für jede Organiſation 


jo hochwichtige Weg der räumlichen Arbeits— 


* 


99 


theilung auf dem Gebiete der Sinnesempfin⸗ 
dung betreten. Während die geſchwärzte 
Stelle ſich zu einem immer vollkommneren 
Lichtempfindungsappart fortentwickelt, kann 
die übrige Körperoberfläche ohne Rückſicht 
auf die Lichtwahrnehmung ſich der Ent- 
wickelung der anderartigen Sinnesorgane 
hingeben, was wir in der Folge beweiſen 
wollen. 

Es würde hier zu weit führen, wenn 
ich alle die ſucceſſiven Vervollkommnungen 
des Sehorgans bis hinauf zu dem wunder— 
vollen Apparat eines Wirbelthierauges ſchil— 
dern und die aus jeder Vervollkommnungs⸗ 
ſtufe erwachſenden Vortheile darlegen wollte; 
ich will nur noch die nächſte Stufe, weil 
ſie eine ſehr einſchneidende iſt, dem geneigten 
Leſer vorführen. 

Auf dieſer wird nämlich eine Steigerung 
der Lichtempfindlichkeit der geſchwärzten Stelle 
durch Einlegung einer Sammellinſe in das 
Pigment bewirkt. Wie ein Brennglas ſam— 
melt dieſe die auffallenden Lichtſtrahlen in 
Brennpunkte, ſo daß ihre Wirkung auf 
einen kleinen Punkt concentrirt wird und 
dadurch um ſo ſtärker ausfällt. Außerdem 
iſt damit auch die Fixirung einer Seh- 
richtung gegeben: Da der Brennpunkt, in 
welchem ſich die Strahlen ſammeln, ſtets 
in der Verlängerung der Linie liegt, welche 
den Mittelpunkt der Linſe mit der Lichtquelle 
verbindet, ſo hat jede Ortsveränderung der 
Licht⸗ oder Schattenquelle auch eine Lage— 
veränderung des entſprechenden Brennpunkts 
zur Folge. 

In einem folgenden Artikel ſollen die 
Anfänge der übrigen Sinneswerkzeuge nach 
Natur und Werth feſtgeſtellt werden. 


14 


Ueber den Arſprung der Blumen, 


Bon 


Dr. Hermann Müller. 


N lumen heißen nach deut— 
I ſchem Sprachgebrauche Blü— 
then, welche durch Farbe oder 

. Wohlgeruch oder beides zu— 

* gleich unſere Aufmerkſamkeit 
auf ſich lenken. Daß die deutſche Sprache 
ſolche Blüthen mit einem beſonderen Aus— 
druck belegt hat, macht es wahrſcheinlich, 
daß ſchon unſeren in der Natur heimiſchen 
Ahnen der Gegenſatz zwiſchen augenfälligen, 
angenehm riechenden und unſcheinbaren, ge— 
ruchloſen Blüthen zum Bewußtſein gelangt 
iſt, daß ſie alſo auch ſchon unſcheinbare 
und geruchloſe Blüthen beobachtet haben. 
Die romaniſchen Sprachen haben unſere 
Unterſcheidung von Blüthe und Blume 
nicht, was darauf hinweiſt, daß der roma— 
niſche Stamm unſcheinbare und geruchloſe 
Blüthen urſprünglich wohl völlig überſehen 
oder wenigſtens nicht der Beachtung werth 
gehalten haben mag. Wenn ſich in dieſer 
Eigenthümlichkeit unſerer Sprache eine tie— 
fere Naturaufaſſung der germaniſchen Raſſe 
ausſpricht, ſo iſt es vielleicht nicht Zufall, 
daß es ein Deutſcher war, der „das Ge— 
heimniß der Natur im Baue und Befruch— 
tung der Blumen entdeckte.“ 


ter Individuen erfahrende Blüthen. 


Die von Sprengels) aufgeſtellte, 
von Darwin neuerdings tiefer begründete 
Blumentheorie, deren Grundzüge in dem 
erſten Hefte dieſer Zeitſchrift, in der Be— 
ſprechung des neuſten Darwin'ſchen Werkes, 
kurz dargelegt ſind, erklärt uns in der 
That in ebenſo einfacher als befriedigender 
Weiſe, welche Bedeutung die dem Menſchen 
angenehmen Eigenſchaften der Blumen für 
das Leben der Pflanzen ſelbſt haben. Sie 
zeigt uns, daß dieſelben Farben und Wohl— 
gerüche, welche uns und ſchon unſere Ahnen 
mit gewiſſen Blüthen befreundet haben, 
auch die natürlichen Befruchter dieſer Blü— 
then, die Inſekten und insbeſondere die 
Bienen und Schmetterlinge, mit denſelben 
befreunden und zu ihrem unbewußten 
Liebesdienſte an denſelben veranlaſſen. Im 
Allgemeinen decken ſich daher die Ausdrücke 
Blumen, d. h. dem Menſchen wohlge— 
fällige Blüthen, und Inſektenblüthen, 
d. h. den Inſekten angenehme und durch 
Inſektenvermittelung eine Kreuzung getrenn— 
Sie 

* Chr. Conr. Sprengel, das ent— 
deckte Geheimniß der Natur im Bau und in 
der Befruchtung der Blumen. 1793. 


Farben und Gerüchen mit dem der blumen— 
beſuchenden Inſekten übereinſtimmt. Für 
biologiſche Betrachtungen empfiehlt es ſich 
daher, mit geringer Abänderung des üb— 


lichen Begriffes, mit dem kurzen, einem 


Jeden geläufigen Worte Blumen über— 
haupt alle diejenigen Blüthen zu bezeichnen, 
welche für Befruchtung durch Inſekten (in 
wärmeren Ländern auch durch Vögel) aus— 
gerüſtet ſind. In dieſem Sinne gebraucht 
umfaßt der Ausdruck Blumen z. B. 
auch jene uns widerlichen Blüthen, welche 


durch bleiche oder bläulichrothe Farben und 


Aasgeruch Aasfliegen an ſich locken und 
von denſelben befruchtet werden. 

Was läßt ſich nun über den Urſprung 
der Blumen Zuverläſſiges feſtſtellen? 

Wie ſehr auch die Erkenntuiß des 
verwandtſchaftlichen Zuſammenhanges der 
Pflanzen-Ordnungen und Wamilien, die 
Klarlegung der Hauptveräſtelungen des 
Pflanzenſtammbaumes, noch in den erſten 
Anfängen begriffen iſt, darüber iſt unter 
den Pflanzenforſchern wohl kein Zweifel 
mehr, daß die unterſte Entwickelungsſtufe 
des Pflanzenreichs von den Zellenpflanzen 
(Algen, Pilzen, Mooſen) dargeſtellt wird, 
daß aus dieſer die Gefäßkryptogamen oder 
Stockpflanzen (im Sinne Al. Braun's), 
Farne, Schachtelhalme, Bärlappe u. a., ſich 
entwickelt haben, daß aus ungleichſporigen 
Stockpflanzen die Archiſpermen“) (Gymno— 
ſpermen), bei uns durch die Nadelhölzer 
vertreten, hervorgegangen ſind, daß endlich 
die Metaſpermen ?) (Angioſpermen), d. h. 


) Al. Braun hat in einer beſonderen 
Abhandlung: „Die Frage nach der Gymno— 
ſpermie der Cycadeen“ (Monatsbericht der 
Akademie der Wiſſenſchaften. Berlin 1875. 
S. 241—377) diejenige Auffaſſung ſehr ein— 
gehend begründet, nach welcher die männlichen 


decken ſich, ſo weit unſer Wohlgefallen an 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


101 


alle unſere Blüthenpflanzen mit Ausnahme 


der Nadelhölzer, die veränderten Abkömm— 


linge von Archiſpermen ſein müſſen. 
Blumen begegnen wir zum erſten 
Male bei den Archiſpermen, und zwar in 
einem einzigen Beiſpiele, bei der wunder— 
baren Welwitſchig. Auf der darauf fol— 
genden höchſten Entwickelungsſtufe des 
Pflanzenreiches dagegen, bei den Meta— 


ſpermen, finden wir die weit überwiegende 


Mehrzahl der Blüthen für Kreuzung durch 


Inſekten ausgerüſtet, alſo zu Blumen ge— 


worden. Wir werden daher die der ge— 
ſchlechtlichen Fortpflanzung dienenden Organe 
und ihre ſtufenweiſe Umbildung in allen 
dieſen aufeinander folgenden Entwickelungs— 


ſtufen des Pflanzenreichs ins Auge faſſen 
müſſen, um über den Urſprung der Blumen 


eine beſtimmte Vorſtellung zu gewinnen. 


then, ihre Schuppen als „identiſche“ Blätter 
betrachtet werden, nur daß die einen die 
Organe der männlichen Keimbereitung (Pollen— 
ſäcke), die andern die der weiblichen, nackte 
Samenknöspchen, tragen. Dieſe Auffaſſung 
der Cycadeenblüthen erſcheint mir viel unge— 
zwungener und natürlicher als diejenige 
Strasburger's, welcher die männlichen 
Zapfen als Blüthen, die zum Verwechſeln 
ähnlichen weiblichen als Blüthenſtände be— 
trachtet. In Bezug auf die Coniferen und 
Gnetaceen dagegen muß es, wie auch Al. 
Braun zugiebt, als eine noch offene Frage 
gelten, ob die zuerſt auftretende Knospenkern— 
umhüllung dem Fruchtknoten oder der Knospen— 
hülle (integumentum) der Angioſpermenblüthe 
entſpricht. So lange aber dieſe Frage noch 
nicht entſchieden iſt, ſcheinen mir die Stras— 
burger'ſchen Bezeichnungen Archiſpermen und 
Metaſpermen vor den früher üblichen Gymno— 
ſpermen und Angioſpermen den Vorzug zu 
verdienen, weil ſie nur die unbeſtrittene That— 
ſache ausdrücken, daß die erſtere der beiden Ab— 
theilungen die urſprüngliche iſt, die letztere 
dagegen von ihr abſtammt. 


(SR 


102 


Ja wir müſſen ſogar uoch tiefer, bis zur 
gemeinſamen Wurzel des Thier- und Pflan- 
zenreichs, bis zu den einfachſten kernloſen 
Urweſen, den Moneren Häckel's, hinab— 
ſteigen, um die geſchlechtliche Fortpflanzung 
bis zu ihren erſten Anfängen zu verfolgen. 

In der That laſſen ſich ſchon bei den 
Moneren wenigſtens die erſten Spuren 
geſchlechtlicher Fortpflanzung nachweiſen, ob- 
ſchon Häckel ſelbſt den Moneren aus— 
ſchließliche Fortpflanzung auf ungeſchlecht— 
lichem Wege zuſchreibt. Der von Häckel 
beobachtete orangerothe Urſchleimſtern (Pro— 
tomyxa aurantiaca) nämlich ſpaltet ſich, 
nachdem er durch Wachsthum eine gewiſſe 
Größe erreicht, ſich in Kugelform zuſam— 
mengeballt und eine ſchützende Hülle um 
ſich herum abgeſondert hat, in zahlreiche 
Spaltungsſtücke, die mit einer Geißel verſehen, 
aus der geſprengten Hülle hervortreten und 
ſelbſtbeweglich umherſchwimmend neue Wohn— 
ſitze gewinnen, darauf die Geißel einziehen 
und als junge Schleimſterne amöbenartig 
umherkriechen. 

Wenn nun, wie Häckel angiebt, zwei 
oder drei dieſer jungen Protomyxa-Schleim⸗ 
ſterne zu einem neuen Individuum verſchmel— 
zen, ſo kann der Vortheil dieſes phyſiologi— 
ſchen Vorganges offenbar nur darin geſucht 
werden, daß die verſchmelzenden jungen 
Schleimſterne verſchiedenen Lebensbedingun⸗ 
gen ausgeſetzt geweſenen Eltern entſtammen 
und dadurch, wenn auch für uns unwahr⸗ 
nehmbar, irgend welche Verſchiedenheit der 
Lebensäußerung erlangt haben, und daß 
eben durch das Zuſammenwirken dieſer 
verſchiedenen Lebensäußerungen das aus der 
Verſchmelzung hervorgehende Individuum 
geſteigerte Anregung zu weiteren Lebens— 
äußerungen empfängt. Von der deutlich 


ausgeprägten geſchlechtlichen Fortpflanzung 


würde hiernach die Verſchmelzung junger 


Protomyxa-Schleimſterne nur dadurch ver— 
ſchieden ſein, daß eine Arbeitstheilung der 
verſchmelzenden Protoplasmakörper, ein Ge— 
genſatz zwiſchen kleineren, beweglicheren, 
männlichen, und an Bildungsſtoff reicheren, 
trägeren, weiblichen, noch nicht vorhanden 
iſt, daß vielmehr jeder der bei der Ver— 
ſchmelzung betheiligten Protoplasmakörper 
nach einander dieſe beiden Zuſtände durch— 
läuft. 

In dem Verſchmelzen mehrerer jungen 
Protomyxaſchleimſterne zu einem neuen In⸗ 
dividuum dürfen wir ſonach die älteſte und 
urſprünglichſte Form geſchlechtlicher Fort— 
pflanzung vermuthen. Und die Entwicke— 
lung eines ſchwanzförmigen Anhanges dür— 
fen wir als die denkbar einfachſte und that— 
ſächlich urſprünglichſte, ſchon bei den Moneren 
aufgetretene Abänderung betrachten, durch 
welche Protoplasma-Individuen befähigt 
wurden, ſelbſtthätig durch das Waſſer zu 
ſchwimmen, um anderen Lebensbedingungen 
ausgeſetzt geweſene Protoplasma-Individuen 
aufzuſuchen und mit denſelben zu neuen, 
kräftigeren und entwickelungsfähigeren In⸗ 
dividuen zu verſchmelzen. 

Aus der gemeinſamen Wurzel der Mo— 
neren hat ſich die unendliche Mannigfaltig— 
keit einerſeits der Thier-, andererſeits der 
Pflanzenformen entwickelt, und die Urform 
des mit ſchwanzförmigem Anhange ſelbſt— 
thätig umherſchwimmenden Protoplasma⸗ 
Individuums hat ſich in den Spermazellen 
mit bewundernswerther Treue einerſeits bis 
zu den höchſten Entwickelungsſtufen des 
Thierreichs, andrerſeits durch die urſprüng⸗ 
lich waſſerbewohnenden Abtheilungen des 
Pflanzenreichs hindurch vererbt. Weshalb 
durch das ganze Thierreich und weshalb 
im Pflanzenreiche nur auf die niederen, 
urſprünglich waſſerbewohnenden Abtheilun⸗ 
gen, das erklärt ſich wohl hinreichend dar— 


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Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


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Schwimmbewegungen ihrer 


üller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


aus, daß die landbewohnenden Thiere ſich 
frei von der Stelle bewegen und daher ſich 
gegenſeitig aufſuchen können, wogegen die 
landbewohnenden Pflanzen feſt an die Scholle 
gebunden ſind. Im Waſſer nämlich kann 
die Selbſtbeweglichkeit frei umherſchwimmen— 
der Befruchtungskörper offenbar ebenſowohl 
bei feſtgewachſenen als bei frei umher— 
ſchwimmenden Arten der gelegentlichen Kreu— 
zung getrennter Individuen genügen, und 
ſie iſt in der That bei allen der urſprüng— 
lichen Waſſerlebensweiſe treu gebliebenen 
Organismen die einzige Art der Kreuzungs— 
vermittelung geblieben, wenigſtens wenn wir 
das Wort Befruchtungskörper im weiteſten 
Sinne nehmen und darunter nicht nur 
Spermazellen, ſondern auch ſelbſtſtändiger 
Ortsbewegung fähige Spermaträger (Me— 
duſen, Hektokotylus) und die ganzen zur 
Kreuzung ſich aufſuchenden Individuen be— 
greifen. Beim Uebergange von der Wafler- 
zur Landlebensweiſe dagegen konnte natür— 
lich die Selbſtbeweglichkeit ſchwimmender 
Spermazellen nur in dem Falle als der 
Kreuzung genügende Befruchtungsform er— 
halten bleiben, wenn entweder, durch Be— 
gattung, die Spermazellen in Berührung 
oder unmittelbare Nähe der zu befruchten- 
den Eizellen gebracht wurden (Landthiere), 
oder wenn an die Scholle gebundene Or— 
ganismen, wenigſtens während der Be— 
fruchtungszeit, das Waſſer als Mittel der 
Spermazellen 
benutzen konnten, und das war nur bei Pflan- 
zen möglich, die hinlänglich niedrig an we— 
nigſtens zeitweiſe dem Waſſer ausgeſetzten 
Standorten wuchſen. Nach meiner Anſicht 


gibt dieſe einfache und unabweisbare Betrach— 
tung von einer höchſt auffallenden und ſchon 
vielfach erörterten, aber meines Wiſſens noch 
niemals erklärten Erſcheinung in der Ent: | 
wickelung des Pflanzenreichs, nämlich von 


REN e ane 


103 


der Verſchiebung der geſchlechtlichen Ver— 
einigung nach dem erſten Jugendleben hin, 
welche ſich bei der Vergleichung der Mooſe 
und Stockpflanzen ſcheinbar herausſtellt, 
eine ganz befriedigende Erklärung. Ich will 
deshalb dasjenige, was ſich über den Ueber— 
gang der Pflanzen von der Waſſer- zur 
Landlebensweiſe mit größter Wahrſcheinlich— 
keit behaupten läßt, hier etwas eingehender 
auseinanderſetzen. 

Die urſprünglichſten Pflanzen waren 
waſſerbewohnende Algen. Die erſte dünne 
Pflanzendecke, von welcher in einer uralten 
Erdgeſchichtsperiode, von deren organiſchem 
Leben uns die Gebirgsſchichten keine Kunde 
überliefert haben, die aus dem Ocean her— 
vorgetauchten Feſtlandmaſſen zum erſten 
Male ergrünten, wurde ohne Zweifel eben— 
falls von Algen gebildet, und dieſe konnten 
jedenfalls auf den noch häufig überflutheten 
Flächen, welche ſie beſiedelt hatten, die ererbte 
Kreuzungsart durch ſelbſtbeweglich umher— 
ſchwimmende Spermazellen noch ziemlich un— 
behindert fortſetzen. 

Aus ſolchen auf das Land übergeſie— 
delten Algen müſſen ſich, wenn wir die 
individuelle Entwicklung als kurze Wieder- 
holung der Stammesentwickelung betrachten 
dürfen, die Laub- und Lebermooſe ent— 
wickelt haben; auch deren Lieblingswohnſitze, 
in tiefen Hohlwegen, an feuchten Felsab— 
hängen, Grabenwänden u. ſ. w., werden 
zeitweiſe von Waſſer überfluthet, und die 
Moosraſen, welche dieſe Standorte be— 
kleiden, ſind allezeit niedrig genug, um bei 


zeitweiſer Ueberfluthung den Spermazellen 


Gelegenheit zu geben, durch ſelbſtthätiges 
Umherſchwimmen zu den ſich öffnenden 
flafhenförmtgen Gebilden, welche die Ei— 
zellen umſchließen, zu den ſogenannten Arche— 
gonien, und durch deren mit Schleim er— 
füllten Halskanal zu der befruchtungs— 


104 


fähigen Eizelle felbft zu gelangen. Auch 
für die Mooſe hat daher keine Nöthigung 
vorgelegen, die urſprüngliche, vielleicht ſchon 
von den Moneren her ererbte Kreuzungs— 
art zu verlaſſen. 

Etwas anderes iſt es mit den Farn— 
kräutern, Schachtelhalmen und Verwandten, 
die ſich, nach ihren Vorkeimen zu ſchließen, 
aus blattloſen Lebermooſen entwickelt zu 
haben ſcheinen. Sie waren wohl die erſten 
Pflanzen, welche ſich zu hoch in die Luft 
aufſtrebenden Stämmen entwickelten; ſie 
waren es, welche das dem Meere entſtiegene, 
erſt mit Algen, dann mit grünem Moos— 
teppich ſich bekleidende Feſtland zum erſten Male 
mit üppigen Wäldern bedeckten. Den Boden, 
aus welchem dieſe erſten Wälder empor— 
wuchſen, müſſen wir uns als häufigen Ueber 
fluthungen ausgeſetzt vorſtellen; ſchon die 
maſſenhaften Zuſammenhäufungen von zu— 
ſammengeſchwemmten Farnen, Calamiten, 
Sigillarien und Lepidodendren in den 
Schieferthonſchichten der Steinkohlenforma— 
tion nöthigen uns zu dieſer Vorſtellung. 
Während nun die flach auf der Erde ſich 
ausbreitenden Mooſe ſich zu immer höher 
ragenden Pflanzenformen ausbildeten, konnte 
natürlich die Kreuzung getrennter Indivi— 
den durch frei nmherſchwimmende 
Spermazellen immer nur in demjenigen 
Lebensalter und Entwicklungsſtadium er— 
folgen, in welchem die Pflanze der zeit— 
weiſen Ueberfluthung noch ausgeſetzt blieb. 
Die Weiterentwickelung zu immer höheren 
und höheren Pflanzenſtöcken konnte ſich 
alſo nicht zwiſchen das Keimen der Sporen 
und die geſchlechtliche Vereinigung getrennter 
Individuen einſchalten; die auf Schwimmen 
eingerichteten Spermazellen wären ja ſonſt 


immer höher und höher in die Luft gerückt, 
Kapſeln) und Archegonien entwickelt; bei, 
ihrer ſtufenweiſen Entwickelung braucht alſo 


ihre Lebensverrichtung wäre ſchon mit dem 
erſten Anfange dieſes Emporrückens unmög— 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


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| 


lich gemacht worden. Nur wenn die Weiter— 
entwickelung erſt nach vollzogener Kreuzung 
erfolgte, ſich alſo zwiſchen die geſchlechtliche 
Vereinigung und Sporen-Entwickelung ein— 
ſchaltete, vermochten ſich die dem zeitweiſe 
überrieſelten Boden flach angedrückten und 
durch ſchwimmende Spermazellen ſich kreuzen— 
den Lebermooſe zu hoch in die Luft ragenden 
Pflanzenſtöcken zu entwickeln. Damit ſcheint 
mir das ganze Räthſel der ſcheinbaren 
Verſchiebung der geſchlechtlichen Vereinigung 
nach dem früheren Jugendleben hin, we— 
nigſtens, ſoweit es ſich aus dem Vergleiche 
der Mooſe einerſeits, der Farne und 
Schachtelhalme andrerſeits ergiebt, gelöſt. 
Die Verſchiebung innerhalb dieſer Klaſſen 
iſt in der That nur eine ſcheinbare. Es 
iſt wahr: bei den Laubmooſen entwickeln 
ſich die Eizellen und Spermazellen erſt, 
nachdem der beblätterte Laubmoosſteugel ſich 
gebildet hat, auf dieſem, und aus der be— 
fruchteten Eizelle entwickelt ſich nur die 
Sporenkapſel, bei den Farnen und Schachtel— 
halmen dagegen entwickeln ſich die Eier und 
Spermazellen ſchon vor Stengeln und 
Blättern auf dem Vorkeime, und aus der 
befruchteten Eizelle gehen erſt Stengel und 
Blätter und ſchließlich auch Sporenkapſeln 
hervor. Wenn man daher Laubmooſe und 
Farne oder Schachtelhalme als aufeinander 
folgende Glieder derſelben Entwickelungs— 
reihe anſieht, ſo muß man allerdings den 
Eindruck bekommen, als wenn die ge— 
ſchlechtliche Vereinigung ſich nach dem Jugend— 
alter hin verſchoben hätte. Farne und 
Schachtelhalme haben ſich aber keineswegs 
aus Laubmooſen, ſondern, nach ihren Ver— 


keimen zu ſchließen, aus blattloſen Leber— 


mooſen mit dem Thallus aufſitzenden oder 
eingebetteten Antheridien (d. h. Spermazellen— 


105 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


keine Verſchiebung der Blüthezeit nach dem 
früheren Jugendalter hin ſtattgefunden zu 
haben, ſondern die geſchlechtliche Vereinigung 
erfolgt vielleicht noch heute bei Farnen und 
Schachtelhalmen auf derſelben Entwickelungs— 
ſtufe, auf welcher ſie bei ihren Stammeltern 
ſchon erfolgt iſt, als ſie noch Lebermooſe 
waren und in der Blüthe den Gipfelpunkt 
ihrer Entwickelung erreichten. Wir dürfen 
ſonach bei den heutigen Farnen und 
Schachtelhalmen die ganze Entwickelung von 
der Spore bis zur Eizelle, abgeſehen von 
vielleicht nachträglich erworbenen Anpaſſungen, 
als von ihren Stammeltern, den Leber— 
mooſen ererbt, die ganze Entwickelung da— 
gegen von der befruchteten Eizelle bis zur 
Bildung von Sporenkapſeln als ſeit dem 
Ueberholen jener Stammeltern neu er— 
worben betrachten. 

Wie ein Rückblick auf das bisher Er— 
örterte ergiebt, umfaßt die unterſte Ent— 
wickelungsſtufe des Pflanzenreichs, die der 
Zellenpflanzen, die urſprünglichen Waſſer— 
bewohner und ihre auf das Feſtland über— 
geſiedelten Abkömmlinge, ſoweit ſie niedrig 
genug blieben, um auf dem Gipfel ihrer 
Entwicklung überfluthet und durch ſchwim— 
mende Spermazellen gekreuzt werden zu 
können. Die zweite Entwickelungsſtufe, die 
der Stockpflanzen, umfaßt, wenn wir von 
einer Berückſichtigung der waſſerbewohnen— 
den Stockpflanzen vorläufig abſehen, die— 
jenigen Abkömmlinge der erſten, welche ſich, 
nachdem die Kreuzung durch ſchwimmende 
Spermazellen erfolgt iſt, über ihr Ueber— 
fluthungsniveau emporheben und den Gipfel 
ihrer Entwicklung alſo erſt nach erfolgter 
geſchlechtlichen Vereinigung erreichen. Die 
dritte Entwickelungsſtufe des Pflanzenreichs, 
die der Archiſpermen, iſt dadurch erreicht 
worden, daß die allmählich auf trockenere 
Wohnſitze vorrückenden Stockpflanzen ſich 


| 


der Kreuzung durch Vermittelung des Win— 
des angepaßt und dadurch von zeitweiſer 
Ueberfluthung des Standortes während 
ihres Jugendzuſtandes gänzlich unabhängig 
gemacht haben. 

Das Waſſer konnte natürlich als Mittel 
der Kreuzung getrennter Individuen erſt 
dann überflüſſig werden, wenn andere na— 
türliche Uebertragungsmittel der männlichen 
Befruchtungskörper, erſt neben ihm, dann 
ſtatt ſeiner, in Wirkſamkeit getreten waren. 
Als ſolche ſind, außer dem Waſſer, über— 
haupt nur der Wind und lebende Thiere 
vorhanden. Durch lebende Thiere aber 
konnten die männlichen Befruchtungskörper 
em übertragen werden, jo lange ſie ſelbſt— 
thätig ſchwimmende Spermazellen waren. 
Als einzige Möglichkeit für die Ueberſied— 
lung der Stockpflanzen auf trockene Stand— 
orte bleibt alſo die Anpaſſung ihrer männ— 
lichen Befruchtungskörper an die Uebertra— 
gung durch den Wind übrig. Aber auch 
dieſe mußte ihre ſehr großen Schwierigkeiten 
haben. Denn man wird kaum eine Form— 
umwandlung der ſelbſtthätig umherſchwim— 
menden Spermazellen auszuſinnen vermögen, 
durch welche dieſelben hätten in den Stand 
geſetzt werden können, ebenſowohl activ, im 
Waſſer ſchwimmend, als paſſiv, von der 
bewegten Luft getragen, zu den Eizellen 
anderer Stöcke zu gelangen. Eine ſolche 
directe Anpaſſung der ſchwimmenden Sperma— 
zellen an die Uebertragung durch den Wind 
konnte überdieß ſchon deshalb kaum zu 
Stande kommen, weil dieſelben ja durch 
die Natur ihrer Standorte vor der Ein— 
wirkung des Windes in hohem Grade ge— 
ſchützt ſein mußten. Denn die ſchwimmen— 
den Spermazellen traten ja dicht an der 
Bodenoberfläche aus den Antheridien her— 
vor, und zwar an Stellen, die theils durch 
die Bodengeſtaltung des Standorts (in 


Vertiefungen, an geſchützten Abhängen), 
theils durch eine ſie überragende Vegetation 
von Stockpflanzen gegen den freien Zutritt 
bewegter Luft geſchützt waren. 

Somit ſcheint diejenige Anpaſſung der 
männlichen Befruchtungskörper an Ueber⸗ 
tragung durch den Wind, welche ſich that— 
ſächlich vollzogen hat, überhaupt die einzig 
mögliche geweſen zu fein. Gewiſſe ungleich— 
ſporige Stockpflanzen, welche eine überreiche 
Menge frei in die Luft hervorragender 
Mikroſporangien erzeugten und aus den 
ebenfalls frei in die Luft ragenden Makro- 
ſporangien, noch bevor dieſelben zur Erde 
fielen, einen Flüſſigkeitstropfen ausſchieden, 
mögen zum erſten Male die Möglichkeit 
einer Kreuzung getrennter Individuen durch 
den Wind dargeboten haben, indem von 
einer Unzahl von dem Winde losgeriſſener 
und fortgeführter Mikroſporen einzelne von 
den Flüſſigkeitstropfen der Makroſporangien 
aufgefangen wurden und dann ihre ſelbſt— 
beweglichen Spermazellen unmittelbar in die 
noch auf dem Pflanzenſtocke feſtſitzenden 
Archegonien der Makroſporen eindringen 
ließen. Dieſelben Stockpflanzen, welchen 
zuerſt ſolche Kreuzung durch den Wind zu 
Theil wurde, haben ohne Zweifel noch 
viele Generationen hindurch neben derſelben 
die ererbte Kreuzungsart beibehalten; denn 
dieſe konnte natürlich erſt dann überflüſſig 
werden und eingehen, nachdem die Kreuzung 
durch Vermittlung des Windes durch Aus— 
prägung geeigneter Abänderungen zu voller 
Wirkſamkeit gelangt war. 

Welche Abänderungen können es nun 
geweſen ſein, die beim Vorrücken der Stock— 
pflanzen auf trocknere Standorte den Wind 
als Vermittler ihrer Kreuzung in volle 
Wirkſamkeit treten ließen? Die thatſächlich 
vorliegenden Unterſchiede, einerſeits zwiſchen 
den gleichſporigen und ungleichſporigen Stod- 


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106 Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


pflanzen, andrerſeits zwiſchen den letzteren 
und den Archiſpermen, geben uns darüber 
hinreichende Auskunft. 

Gewiß mit vollſtem Rechte werden die 
ungleichſporigen Stockpflanzen als Mittel- 
ſtufe zwiſchen den gleichſporigen Stockpflanzen 
und den Archiſpermen betrachtet. Während 
der Vorkeim der Farne und Schachtel— 
halme noch als vielleicht unverkürzte Wieder— 
holung der Entwickelung ihrer Stammeltern, 
blattloſer Lebermooſe, angeſehen werden 
kann, ſtellen uns die nur wenig aus der 
geplatzten Sporeuhülle heraustretenden oder 
gänzlich in derſelben eingeſchloſſen bleibenden 
Vorkeime der ungleichſporigen Stockpflanzen 
unverkennbar eine immer mehr verkürzte 
Wiederholung der Entwicklung der Stamm⸗ 
eltern dar, und es iſt leicht zu erkennen, 
welche Veränderung der Lebensbedingungen 
zu dieſer Verkürzung und zugleich zur Aus— 
bildung beſonderer männlicher und weiblicher 
Sporen führen mußte. Je ſpärlicher nämlich 
beim allmähligen Trocknerwerden des Feſt— 
landes oder beim Vorrücken der Stock— 
pflanzen auf trocknere Standorte die zeitweiſe 
Ueberrieſelung des Bodens mit Waſſer 
wurde, um ſo weniger fanden die leber— 
moosartigen Vorkeime den geeigneten Boden 
zu ihrer Entwicklung, um jo mehr mußte 
ſich dieſe Entwicklung auf die Leiſtung ihres 
nothwendigen Lebensdienſtes, die Ermög— 
lichung der Kreuzung durch Erzeugung von 
Eizellen und ſelbſtbeweglichen Spermazellen, 
beſchränken, und dieſe Beſchränkung war 
jedenfalls in noch höherem Grade möglich, 
wenn eine Arbeitstheilung in weibliche und 
männliche Sporen hinzutrat, da letztere aus 
noch viel winzigeren Vorkeimen die zur 
Kreuzung nöthigen Spermazellen zu erzeugen 
vermochten. 

Dieſelben Abänderungen aber, welche 
die Stockpflanzen befähigten, auch auf ſpärlich 


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Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 107 


überrieſeltem Boden ſich anzuſiedeln, ermög⸗ 
lichten und begünſtigten zugleich eine ge— 
legentliche Kreuzung derſelben durch den 
Wind, wenn ſie auch keineswegs die ein— 
zigen Vorbedingungen für eine ſolche waren. 
Vor allem mußte ja natürlich die Arbeits— 
theilung in kleine männliche und große 
weibliche Sporen ſich bereits vollzogen haben, 
ehe Mikroſporen durch den Wind auf Makro— 
ſporangien geführt werden, ehe alſo über— 
haupt irgend welche Stockpflanzen durch 
Vermittelung des Windes gekreuzt werden 
konnten. Die Miekroſporen konnten ferner, 
wenn ſie einmal durch den Wind auf Makro— 
ſporangien geführt wurden, um ſo leichter 
eine Befruchtung in denſelben bewirken, je 
raſcher ſie ihre Spermazellen erzeugten. Und 
die Makroſporen konnten um ſo leichter, 
während fie noch am Pflanzenſtocke ſaßen, 
durch angewehte Mikroſporen befruchtet 
werden, je mehr ſich ihre Vorkeimentwick— 
lung beſchränkt hatte, in je jugendlicherem 
Alter ſie alſo Archegonien mit befruchtungs— 
fähigen Eizellen hervorbrachten. Aber außer 
dieſen durch ſpärliche Ueberrieſelung des 
Bodens bedingten Abänderungen mußte die 
Ausſcheidung eines Flüſſigkeitstropfens aus 
dem Makroſporangium, oder irgend eine 
andere das Auffangen zugewehter Mikro— 
ſporen bewirkende beſondere Abänderung auf— 
getreten ſein, ehe eine Befruchtung durch 
Vermittlung des Windes erfolgen konnte. 
War eine ſolche an den durch Trockenheit 
des Bodens bedingten Grenzen des Ver— 
breitungsbezirkes der Stockpflanzen einmal 
aufgetreten, ſo mußten dann nicht nur die 
eben genannten, eine Kreuzung durch den 
Wind überhaupt ermöglichenden, ſondern 
auch alle weiterhin auftretenden, dieſelbe 
begünſtigenden Abänderungen durch Natur- 


züchtung erhalten werden und zur Aus- 


prägung einer neuen Pflanzenfamilie führen, 


welche, frei von der Concurrenz ihrer 
Stammeltern, ſich ungehindert über die 
trocknen Landſchaften ausbreitete und die— 
ſelben zum erſten Male mit ſchattigen 
Wäldern überkleidete. 

Als ſolche weiterhin aufgetretene Abän— 
derungen, welche die Kreuzung durch den 
Wind begünſtigt und endlich völlig geſichert 


haben, dürften folgende zu betrachten ſein: 


Die Entwicklung der Makroſporenvorkeime, 
welche ihre urſprüngliche Bedeutung verloren 


hatten, wurde noch mehr und mehr verkürzt. 


Da die Makroſporen nun für immer ver— 
einigt blieben, ſo wurden alle diejenigen 
Bildungen, welche die ſchützende Umhüllung 
und beſondere Ausſtattung der einzelnen 
Makroſporen bewirkten., überflüſſig, und 
fielen zunehmender Verkümmerung anheim. 
Dagegen wurde eine ſchützende Umhüllung 
der im jugendlichen Zuſtande frei der Luft 
ausgeſetzten Makroſporangien nothwendig 


oder wenigſtens vortheilhaft und gelangte 


durch Naturausleſe zur Ausprägung. In⸗ 
dem dieſe Umhüllung als umſchließender 
Wall bis weit über den Gipfel des Makro— 
ſporangiums (Knospenkerns) emporwuchs, 
ehe ſie ſich in eine engere Oeffnung zu— 
ſammenzog, bewirkte ſie zugleich, daß der 
vom Makroſporangium (Knospenkern) zur 
Blüthezeit ausgeſchiedene, darauf verdunſtende 
oder wieder aufgeſaugte Flüſſigkeitstropfen 
die von ihm aufgefangenen, vom Winde 
zugeführten Mikroſporen in einen wohlum— 
ſchloſſenen Raum dicht über dem Gipfel 
des Makroſporangiums zuſammenführte. 
Durch dieſe Umwandlungen wurde aus dem 
Makroſporangium der ungleichſporigen Stock— 
pflanzen die Samenknospe der Archiſpermen, 
in welcher, da eine Vielheit weiblicher Be— 
fruchtungskörper zu einem einzigen ſich ver— 
ſchmolzen hatte, von vorn herein durch dieſe 
Verſchmelzung der Anlaß zu ſtufenweiſe 


4 108 


weiterer Verkümmerung der nutzlos gewor— 
denen Individuen gegeben war. Die Re— 
duction der Makroſporen (Embryoſäcke) 


auf eine einzige hat ſich ſchon bei den 


Archiſpermen vollendet, während wir endlich 
bei den Metaſpermen auch von den Arche— 
gonien (Corpusculis) der einzigen übrig 


gebliebenenen Makroſpore des (Embryoſacks) | 
nur noch ein einziges erhalten und ſelbſt 


dieſes auf eine oder zwei Zellen (Keim— 
bläschen), nämlich die Eizelle und in der 


670 7 7 7 
Regel noch eine zweite, die „Kanalzelle“, 


reducirt ſehen. 
Weniger umfaſſenden Umbildungen durch 


Naturzüchtung waren die männlichen Be- | 


fruchtungskörper unterworfen, da eben nicht 
die Mikroſporangien, ſondern nur die ein— 


zelnen Mikroſporen die Möglichkeit darboten 
und thatſächlich dazu gelangten, vom Winde 


losgeriſſen auf die weiblichen Befruch— 
tungskörper übertragen zu werden. Wäh— 
rend daher bei den weiblichen Befruchtungs— 
körpern die Anpaſſung an Kreuzung durch 
den Wind eine zwiefache Reduction einer 
Mehrzahl von Individuen auf die Einzahl 
zur Folge hatte, nämlich 1) die der Makro— 
ſporen deſſelben Makroſporangiums, 2) die 
der Archegonien derſelben Makroſpore, konnte 
bei den männlichen Befruchtungskörpern 
nur eine einzige ſolche Reduction ſtatt finden 
und fand thatſächlich ſtatt: Die nutzlos ge— 
wordene Zerſpaltung des Mikroſporen— 
Protoplasmas in Vorkeimzellen und zahl— 
reiche Spermazellen ging ein, die ebenfalls 
nutzlos gewordene Selbſtbeweglichkeit und 
Schwimmfähigkeit des nun einheitlich blei— 
benden männlichen Protoplasmas ging gleich- 
falls ein, und ſo wurde die Mikroſpore zum 
Pollenkorn, und dieſes wurde bei den Coni— 
feren durch flügelartige Anhänge zu noch 
leichterer Uebertragung durch den Wind be— 
fähigt. Außer dieſer Umbildung der ein— 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


zelnen Makroſporangien und Mikroſporen 
ſind die koloſſale Steigerung der Zahl der 
von einem Pflanzenſtocke erzeugten Pollen— 
körner, ihre und der Samenknospen (Makro- 
ſporangien) dem Winde ausgeſetzte Stellung, 
und in vielen Fällen (bei Coniferen) die 
Entwicklung immer höher in die Luft empor- 
ragender Baumſtämme als die Kreuzung 
durch den Wind ſichernde und deshalb durch 
Naturzüchtung ausgeprägte Eigenthümlich— 
keiten der Archiſpermen zu betrachten. So 
ſtellt uns denn die dritte Entwicklungsſtufe 
des Pflanzenreichs, die Klaſſe der Archi— 
ſpermen, eine Pflanzengeſellſchaft dar, welche 
durch die ſoeben erörterten neu erworbenen 
und zugleich durch Getrenntgeſchlechtigkeit 
und andere von den ungleichſporigen Stock— 
pflanzen ererbte Eigenthümlichkeiten in wirk— 
ſamſter Weiſe für die Kreuzung durch den 
Wind ausgerüſtet und dadurch zur Be— 
ſiedelung von Bergeshöhen und trockenen 
Feſtlandsſtrichen befähigt iſt. 

Wir ſind damit zu demjenigen Punkte 
gelangt, wo der Urſprung der Blumen 
anhebt. Nachdem nämlich die Archiſpermen 
die Erzeugung einer überſchwenglichen Pollen— 
menge in dem Grade geſteigert hatten, daß 
dadurch ihre Kreuzung durch den Wind 
unausbleiblich geworden war, konnte es nicht 
ausbleiben, daß ihrer Nahrung wegen in 
der Luft umherfliegende Inſekten, die Dieſes 
und Jenes auf ſeine Genießbarkeit probirten, 
auch dazu kamen, die bequem erreichbaren 
nährſtoffreichen Pollenkörner der Archi— 
ſpermen zu verzehren, ja daß manche In— 
ſekten dieſe ergiebige und concurrenzfreie 
Nahrungsquelle mit Vorliebe benutzten. 
Die hervorſtechende Farbe der frei in die 
Luft ragenden Antheren erleichterte ihnen 
dabei ohne Zweifel in hohem Grade das 
Auffinden der geſuchten Speiſe, wie wir ja 
noch heute zahlreiche windblüthige Pflanzen 


nur durch die Farbe ihrer Antheren Pollen 
ſuchende Inſekten an ſich locken ſehen. Aber 
da die Archiſpermen, in Folge ihrer Her— 
kunft, ſämmtlich getrennt⸗geſchlechtig waren, 
fo konnten ihnen die ihre Antheren plün— 


dernden Inſekten den unbewußten Liebes⸗ 


dienſt der Kreuzung nicht erweiſen, ſo lange 
nicht Abänderungen der Archiſpermenblüthen 
eintraten, welche entweder männliche und 
weibliche Befruchtungsorgane in derſelben 
Blüthe vereinigten oder die Inſekten auch 
zum Beſuche der weiblichen Blüthen ver⸗ 
anlaßten. Und auch wenn ſolche die Kreu⸗ 
zung durch Inſekten ermöglichende Abände⸗ 
rungen eintraten, konnten ſie bei Pflanzen, 
deren Kreuzung durch den Wind geſichert 
war, ſelbſtverſtändlich durch Naturzüchtung 
nur dann erhalten und zu neuen, für Kreu— 
zung durch Inſekten ausgerüſteten Pflanzen⸗ 
formen ausgeprägt werden, wenn der 
Uebergang von der Windblüthigkeit zur 
Juſektenblüthigkeit für das Leben der Pflanze 
mit einem bedeutenden Vortheile verknüpft 
war. Da nun thatſächlich von der aus den 
Archiſpermen hervorgegangenen, jetzt vor— 
herrſchenden, höchſten Entwicklungsſtufe des 
Pflanzenreichs, den Metaſpermen, die weit 
überwiegende Mehrzahl für die Kreuzung 


durch Inſekten ausgerüſtet iſt, ſo dürfen 


wir nicht zweifeln, daß der Uebergang von 
der Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit 
in der That von außerordentlichem Vortheile 


für die Pflanzen geweſen ſein muß. Die 


Natur dieſes Vortheils müſſen wir alſo 
uns klar zu machen ſuchen, wenn wir uns 


von dem Urſprunge der Blumen eine klare 


Vorſtellung bilden wollen. 
Die Sicherung der Befruchtung durch 


den Wind iſt bei den Archiſpermen, wie 
wir geſehen haben, durch außerordentlich 


maſſenhafte Pollenentwicklung erreicht wor— 
den, und dieſe genügt zwar wohl, um 


| 


109 


Individuen deſſelben mehr oder weniger 
geſchloſſenen Beſtandes, aber nicht, um 
weit von einander entfernt ſtehende Indi— 
viduen zu kreuzen. Nur ſehr ausnahms— 
weiſe mögen die von der Luft getragenen 
Pollenkörner auch einmal auf weibliche 
Blüthen eines weit entfernt ſtehenden In— 
dividuums gelangen. Daß überdieß, wenn 
während der Blüthezeit dieſelbe Windrichtung 
herrſcht, die Kreuzung aller äußerſten Indivi- 
duen auf der Windſeite unterbleibt, mag 
als Nachtheil der Windblüthigkeit noch am 
wenigſten ins Gewicht fallen. Jedenfalls 
ſind aber die windblüthigen Archiſpermen 
1) zu einer koloſſalen Pollenverſchwendung 
genöthigt; 2) vermögen ſie im Allgemeinen 
nur in einigermaßen geſchloſſenen Beſtänden 
vorzurücken und ſind nicht im Stande, in 
einzelne frei werdende Plätze der Nachbar— 
gebiete ſich einzudrängen; 3) wird ihnen der 
Vortheil einer Kreuzung mit unter ganz 
anderen Lebensbedingungen aufgewachſenen 
Individuen nur ausnahmsweiſe zu Theil. 

Man ſieht leicht ein, daß der Uebergang 
zur Inſektenblüthigkeit in allen drei Be⸗ 
ziehungen den Pflanzen von entſcheidendem 
Vortheil ſein mußte, denn: 1) Wenn der 
Blüthenſtaub ſich Inſekten anheftet, die 
durch ein ſo mächtiges Intereſſe wie die 
eigene Ernährung zum Beſuche zahlreicher 
Blüthen derſelben Art getrieben werden, 
fo iſt außer dem den Inſekten ſich anhef— 
tenden und von ihnen auf die Narben an— 
derer Blüthen übertragenen, und dem dabei 
nutzlos verſtreuten nur noch ſo viel 
Pollen erforderlich, als die übertragenden 
Inſekten zu ihrer Ernährung bedürfen. 
Ganze Wolken von Blüthenſtaub, welche 
eine windblüthige Pflanze dem Winde an— 
vertrauen muß, wenn mit einiger Wahr- 
ſcheinlichkeit Kreuzung getrennter Individuen 
erfolgen ſoll, werden alſo durch den Ueber- 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


I 


110 


gang zur Inſektenblüthigkeit erſpart, und 
das mußte für die Pflanzen von größtem 
Vortheile ſein. 2) Trotz dieſer Erſparniß 
wird die Kreuzung getrennter Individuen 
durch den Uebergang zur Inſektenblüthigkeit 
eine viel geſichertere. Die Inſekten, welche 
mit beſtimmten Blüthen als ergiebigen 
Nahrungsquellen einmal vertraut ſind, halten 
ſich gern andauernd an dieſelben und ſuchen 
ſie, in der Luft umher fliegend, auch in 
größerer Entfernung auf. Inſektenblüthler 
vermögen daher nicht nur in geſchloſſenen 
Schaaren in noch unbeſetzte Landſtriche vor— 
zudringen, ſondern auch in ſchon dicht be— 
ſetzten Nachbargebieten einzelne frei ge— 
wordene Stellen zu beſetzen oder im Einzel— 
kampfe ſich neue Plätze zu erobern. Darin, 
daß ſolche einzelne Vordringlinge an ver— 
ſchiedenen Punkten ganz verſchiedenen gün— 
ſtigen und feindlichen Einflüſſen, nament⸗ 
lich aber ganz verſchiedenen Combinationen 
von Einwirkungen ſie umgebender Pflanzen 
und Thiere ſich anzupaſſen haben, iſt offen- 
bar ein Hauptgrund zu ſuchen, weshalb 
mit dem Uebergange zur Inſektenblüthigkeit, 
mit der Entſtehung der Blumen, die Man- 
nigfaltigkeit der Pflanzenformen ſich fo 
außerordentlich geſteigert hat, und an die 
Stelle einförmiger Nadelwälder ein aus 
den mannigfachſten Arten bunt zuſammen— 
gewirkter Pflanzenteppich getreten iſt. Die 
geſteigerte Möglichkeit, neue Wohnſitze zu 
gewinnen, wenn auch oft nur unter erheb— 
licher Abänderung ererbter Eigenthümlich⸗ 
keiten, iſt aber unſtreitig für die von der 
Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit über- 
gehenden Pflanzen ebenfalls ein bedeutender 
Vortheil geweſen. 3) Wie die Darwin'- 
ſchen Verſuche beweiſen, iſt es ein außer— 
ordentlicher Vortheil für eine Pflanze, ſo— 
wohl in Bezug auf die Kräftigkeit, als in 
Bezug auf die Fruchtbarkeit ihrer Nach— 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


kommen, wenn ſie mit einem friſchen Stocke, 
d. h. mit einem nicht verwandten und 
unter ganz anderen Lebensbedingungen auf— 
gewachſenen Individuum, gekreuzt wird. 
Und dieſen außerordentlichen Vortheil, der 
ihnen durch Vermittlung des Windes ge— 
wiß nur ſelten zu Theil wird, ſichern ſich die 
Pflanzen ebenfalls durch den Uebergang 
zur Juſektenblüthigkeit. 

Dieſen durchgreifenden Vortheilen ge— 
genüber darf jedoch ein leicht verhängnißvoll 
werdender Nachtheil nicht unerwähnt bleiben, 
mit welchem der Uebergang zur Inſekten— 
blüthigkeit faſt unvermeidlich verknüpft war. 
Während nämlich die zur Kreuzung eines 
einigermaßen dichten Beſtandes von Wind— 
blüthlern erforderliche Luftbewegung während 
der Blüthezeit derſelben wohl kaum jemals 
fehlen wird, können beſtimmte Inſekten— 
arten ſehr leicht während der ganzen Blüthe— 
zeit einer Blume durch ſchlechtes Wetter 
am Beſuche derſelben verhindert ſein, ſo 
daß die Pflanze einer Kreuzung dann voll— 
ſtändig verluſtig geht. Während ferner der 
Wind ohne Wahl über die ganzen mit 
Pflanzen bedeckten Flächen dahin ſtreicht 
und allen Windblüthlern in gleicher Weiſe 
als Uebertrager ihres Pollens dient, ſind 
die Inſektenblüthler von der Wahl ihrer 
Beſucher und der Concurenz, welche ihnen 
andre Inſektenblüthler machen, in hohem 
Grade abhängig und können daher auch 
einmal bei nicht beſonders ungünſtigem 
Wetter verblühen, ohne eine Uebertragung 
ihres Pollens durch Inſekten zu erfahren. 
Mit völligem Ausbleiben der Befruchtung 
aber würde eine inſektenblüthig gewordene 
Art erlöſchen müſſen. 

Trotz der hervorragenden Vortheile, 
welche die Kreuzung durch Vermittlung der 
Inſekten darbietet, haben daher nur die— 
jenigen, eine ſolche ermöglichenden Abände— 


rungen der Windblüthler durch Naturzüch— 
tung ausgeprägt werden können, welche zu— 
gleich die in der Unſicherheit des Inſekten— 
beſuchs liegende Gefahr beſeitigten. Nun 
konnten aber die getrenntgeſchlechtlichen Wind— 
blüthler überhaupt nur auf zweierlei Weiſe 
zur Kreuzung durch beſuchende Inſekten ge— 
eignet werden: 1) indem die getrenntge— 
ſchlechtigen Blüthen zu Zwitterblüthen 
wurden, ſo daß die beſuchenden Inſekten, 
auch wenn fie nur auf Blüthenſtaub aus- 
gingen, doch auch die weiblichen Befruch— 
tungsorgane berühren mußten; 2) indem 
ſie zwar getrenntgeſchlechtig blieben, aber 
auch in den weiblichen Blüthen ein Genuß— 
mittel darboten — wir kennen als ſolches 
nur Honig (Nektar), — durch welches die 
urſprünglich nur dem Pollen nachgehenden 
Inſekten veranlaßt wurden, beiderlei Blüthen 
gleichmäßig zu beſuchen. Im erſteren Falle, 
wenn die Blüthen zwitterig wurden, war 
damit zugleich die Möglichkeit der Selbſt— 
befruchtung und damit die einfachſte und 
ſicherſte Beſeitigung der Gefahr gänzlich 
ausbleibender Befruchtung gegeben. Im 
letzteren Falle, wenn in den getrenntge— 
ſchlechtigen Blüthen ſich Honigabſonderung 
einſtellte, welche die Inſekten zu gleichmäßi— 
gem Beſuche der männlichen und weiblichen 
Blüthen veranlaßte, konnte die Gefahr des 
gänzlichen Unbefruchtetbleibens nur unter 
beſonders günſtigen Umſtänden, durch äußerſt 
wirkſame Anlockung einer niemals gänzlich 
ausbleibenden Beſucherſchaar, beſeitigt wer— 
den. Daher iſt die Mehrzahl der Wind— 
blüthler nicht zur Inſektenblüthigkeit ge— 
langt, ohne zugleich zwitterblüthig zu wer— 
den. Nur äußerſt wenigen iſt dieß mit 
Beibehaltung der Getrenntgeſchlechtigkeit, 
durch bloße Honigabſonderung gelungen. 
Von Pflanzen, welche durch Zwittrigwerden, 
ohne Honigabſonderung, zur Inſektenblüthig⸗ 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 111 


keit gelangt ſind, iſt Welwitſchia als ein— 
ziger bekannter Jnſektenblüthler unter den 
Archiſpermen wohl das unzweideutigſte und 
deshalb lehrreichſte Beiſpiel. Ihre honig— 
loſen Blüthen ſind nur durch Zweigeſchlech— 
tigkeit, Ausbildung einer großen, mit Pa— 
pillen beſetzten Narbe und vielleicht durch 
Klebrigwerden des Pollens lich finde keine 
Bemerkung darüber) aus Windblüthen zu 
Juſektenblüthen geworden. Ein ebenſo un— 
zweideutiges und lehrreiches Beiſpiel der 
anderen Art von Uebergang von Wind— 
blüthigkeit zu Juſektenblüthigkeit bieten uns 
unſere Weiden, die Arten der Gattung 
Salix, dar, welche ſich, wie ihr Vergleich 
mit der nächſtverwandten Gattung Populus 


ergiebt, lediglich durch Honigabſonderung 


in den eingeſchlechtigen Blüthen und durch 
Klebrigwerden des Pollens einen nie ganz 
ausbleibenden Beſucherkreis mannigfachſter 
Inſekten geſichert hat, aber freilich nur 
unter beſonders günſtigen Umſtänden und 
mit theilweiſem Verzicht auf die Vortheile 
der Inſektenblüthigkeit. Ein ſo reicher In— 
ſektenbeſuch, wie er thatſächlich ſtattfindet 
und zur Kreuzung der weiblichen Stöcke 
mit den davon getrennten männlichen ſelbſt 
bei wenig günſtigem Wetter ausreicht, wird 
nämlich den Weiden bloß dadurch zu Theil, 
daß ſie in einer Jahreszeit blühen, in der 
ihnen von anderen Blumen noch ſehr wenig 
Concurrenz gemacht wird, und daß ſie ihren 
Beſuchern außer Honig eine außerordent— 
liche Menge von Blüthenſtaub darbieten. 
Der erſtere dieſer beiden günſtigen Um— 
ſtände nun würde ſelbſtverſtändlich auf— 
hören, wenn zahlreichere Windblüthler in 
gleicher Weiſe wie die Weiden inſekten— 
blüthig geworden wären, durch den anderen 
zahlreiche Beſucher herbeilockenden Umſtand 
aber, durch die Erzeugung einer außer— 
ordentlichen Pollenmenge, verzichtet Salix 


N 112 


auf einen Hauptvortheil, den ſonſt die In— 
ſektenblüthigkeit darbietet und der, gerade 
in der Erſparung großer Pollenmengen 
beſteht. 


zwei verſchiedenen Arten des Uebergangs 
von Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit 


Iſt die ganze Abtheilung der Metaſpermen 
als von einer und derſelben archiſpermiſchen 


ſind für verſchiedene Zweige der Meta— 


formen anzunehmen? 
ſchen Thatbeſtande allein läßt ſich eine Ent— 
ſcheidung dieſer für die Syſtematik höchſt 
wichtigen Frage nicht gewinnen. Im gün— 
ſtigſten Falle werden vielleicht die genaueſten 
morphologiſchen Vergleiche der den Archi— 
ſpermen noch am nächſten ſtehenden Meta— 
ſpermen unter ſich und mit den Archi— 
ſpermen den verwandtſchaftlichen Zuſam— 
menhang erkennen laſſen. Aber es kann 
wenigſtens für eine klare Frageſtellung bei 
dieſen morphologiſchen Forſchungen nur für- 
derlich ſein, wenn auch vom biologiſchen 
Geſichtspunkte aus verſucht wird, die denk— 
baren Fälle aus einander zu legen und die 
für den einen oder andern ſprechenden Wahr— 
ſcheinlichkeitsgründe hervorzuheben. 
Man könnte ſich nun vorſtellen: 


1) Bei einheitlichem Urſprunge der 
Metaſpermen: 

a) eine archiſpermiſche Pflanze 
wäre im windblüthigen getrennt— 
geſchlechtigen Zuſtande metaſper— 
miſch geworden und ihre Abkömmlinge 
wären zwar zum Theil windblüthig ge— 
blieben, hätten ſich aber zum viel größeren 
Theil, einerſeits durch Zwitterblüthigkeit, 
andrerſeits durch Honigabſonderung bei 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


Die ſoeben erörterten Beiſpiele von 
drängen uns unmittelbar zu der Frage: 
Stammform abſtammend aufzufaſſen, oder 


ſpermen verſchiedene archiſpermiſche Stamm 
Aus dem biologi- 


fortdauernder Getrenntgeſchlechtigkeit in In— 
ſektenblüthler verwandelt. Dieſe Annahme 
würde ſehr gut die Getreuntgeſchlechtigkeit aller 
derjenigen Metaſpermen, in deren Blüthen 
ſich keine Spur vorhergegangener Zwitter— 
blüthigkeit erkennen läßt, als von archi— 
ſpermiſchen Stammeltern ererbt erklären. 
Sie würde natürlich zugleich die andere 
Annahme nöthig machen, daß der Ueber— 
gang zur Inſektenblüthigkeit durch Zwittrig— 
werden, unabhängig von einander, bei den 
Archiſpermen und bei den Metaſpermen 
erfolgt ſei. 

b) eine archiſpermiſche Pflanze 
(Gnetacee?) wäre erſt nach Er- 
langung zweigeſchlechtiger Inſek— 
tenblüthen metaſpermiſch geworden. 
Dann würde ſich die bei den Metaſpermen 
ſo überwiegend häufig vorkommende Zwei— 
geſchlechtigkeit und Inſektenblüthigkeit als 
von den Archiſpermen ererbt erklären 
laſſen. Welwitſchia könnte man dann 
entweder als Abkömmling deſſelben archi— 
ſpermiſchen Ur-Inſektenblüthlers, oder auch 
als ſelbſtändig zur Inſektenblüthigkeit ge⸗ 
langt auffaſſen. Alle diejenigen getrennt- 
geſchlechtigen Metaſpermen aber, in deren 
Blüthen ſich keine Spur vorhergegangener 
Zwitterblüthigkeit erkennen läßt, müßten 
eben ſo gut wie diejenigen, deren männ— 
liche und weibliche Blüthen durch überein— 
ſtimmenden Bau und verkümmerte Ueber— 
reſte des anderen Geſchlechts vorhergegangne 
Zwitterblüthigkeit bekunden, als Abkömm⸗ 
linge zwitterblüthiger metaſpermiſcher In— 
ſektenblüthler betrachtet werden. Die Weiden 
würden dann, wenn wir bis zu den Stock— 
pflanzen zurückgehen, als Ahnenreihe er— 
halten: 1) getrennt-geſchlechtige archiſper— 
miſche Windblüthler, 2) zwitterblüthige 


archiſpermiſche Inſektenblüthler, 3) zwitter— 
blüthige metaſpermiſche Inſektenblüthler, 


N 


trenntgeſchlechtigen, alle 


WWW 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 113 


4) getrenntgeſchlechtige metaſpermiſche Wind- 
blüthler, ähnlich Populus, um ſich endlich 
aus dieſen 5) in getrenntgeſchlechtige 
metaſpermiſche Inſektenblüthler zu verwan— 
deln. Die Unwahrſcheinlichkeit dieſer An— 
nahme und vor Allem die Unmöglichkeit, 
ſo verſchiedene männliche und weibliche 
Blüthen, wie ſie ſich bei Corylus und 
zahlreichen anderen windblüthigen Meta— 
ſpermen finden, als aus gleichartigen 
Zwitterblüthen hervorgegangen vorzuſtellen, 
läßt, bei einheitlichem Urſprung der Meta— 
ſpermen, kaum eine Wahl, die erſten 
Metaſpermen als windblüthig und ge— 
trenntgeſchlechtig anzunehmen. 


2) Bei mehrfachem Urſprunge der 
Metaſpermen 
könnte man alle getrenntgeſchlechtigen Meta— 
ſpermen, welche keine Spur vorherge— 
gangener Zwitterblüthigkeit zeigen, von ge— 
zwitterblüthigen 
Metaſpermen von zwitterblüthigen Archi— 
ſpermen herleiten. Es wäre aber auch 
eine ſolche Mannigfaltigkeit anderer Aus— 
nahmen möglich, daß es zu Nichts führen 
kann, dieſe Möglichkeiten auszuſpinnen, ſo 
lange nicht morphologiſche Unterſuchungen 
dieſelben in enge Grenzen eingeſchloſſen und 
vor Allem, fo lange dieſelben nicht über- 
haupt einen mehrfachen Urſprung der Meta— 


ſpermen wahrſcheinlich gemacht haben. 


Mag nun der Urſprung der Meta— 
ſpermen einheitlich oder mehrfach geweſen 
ſein, mag ferner die bei den Archiſpermen 
zuerſt entſtandene Umhüllung des Knospen— 
kerns ſich bei den Metaſpermen zur Knospen— 
hülle oder zum Carpell ausgebildet haben, 
mag alſo die einfache oder doppelte Knospen— 
hülle vor oder nach dem Carpell entſtanden 
ſein, aus dem, was wir über die ur— 
ſprüngliche Beſchaffenheit der Archiſpermen— 


blüthe und über den Urſprung der Jn— 
ſektenblüthigkeit feſtgeſtellt haben, laſſen ſich 
wenigſtens einige Schlüſſe ziehen, welche 
für die Erkennung des verwandtſchaftlichen 
Zuſammenhanges der Metaſpermenfamilien 
hier und da mit Vortheil verwendet werden 
können: 1) Diejenigen getrenntgeſchlechtigen 
Arten, deren männliche und weibliche 
Blüthen keine Spur des anderen Geſchlechts 
und keine Uebereinſtimmung im Bau zeigen, 
wie z. B. die Cupuliferen, haben wahr— 
ſcheinlich ihre Getrenntgeſchlechtigkeit von 
windblüthigen Archiſpermen ererbt. 2) Die— 
jenigen getrenntgeſchlechtigen Arten, deren 
männliche und weibliche Blüthen Spuren 
des anderen Geſchlechts und Ueberein— 
ſtimmung im Bau erkennen laſſen, ſind 
Abkömmlinge zwittriger Inſektenblüthler. 
Ebenſo ſtammen auch 3) die zwittrigen 
Windblüthler (Plantago, Gramineen 2c.) 
von zwittrigen Inſektenblüthlern ab. 

Wir haben im Vorhergehenden den 
Urſprung der Blumen nur bis zu ihren 
erſten Anfängen verfolgt. Sobald dieſelben 
aber einmal erreicht waren, ſobald die 
Kreuzung irgend welcher Pflanzen einmal 
gänzlich von beſuchenden Inſekten abhängig 
geworden war, ſtand der weiteren Aus— 
rüſtung und Differenzirung derſelben ein 
unabſehbar weites Feld offen. Die man- 
nigfachſten Abänderungen konnten nun eine 
vollkommnere Anpaſſung an die vorhan— 
denen Lebensbedingungen oder eine Be— 
ſetzung neuer, noch nicht ausgefüllter Stellen, 
welche durch die immer mannigfaltiger wer— 
denden Wechſelbeziehungen zwiſchen den Or— 
ganismen bedingt waren, ermöglichen und 
dadurch zur Entſtehung neuer Arten führen. 
Die den Windblüthlern eigenthümliche und 
nothwendige Pollenverſchwendung konnte be— 
ſchränkt werden, indem fi die Zapfen— 
oder Kätzchenform zur einfachen Blumenform 


en 
zuſammenzog. Die in der Luft umherflie— 
genden Inſekten konnten durch Buntfärbung 
und Vergrößerung der Blüthenhüllen oder 
ſonſtige Steigerung der Augenfälligkeit oder 
durch Entwickelung von Gerüchen wirkſamer 
angelockt werden. Honigabſonderung konnte 
die angelockten Beſucher zu eifrigerer Wie— 
derholung ihrer Beſuche veranlaſſen. Be— 
ſondere Flecken oder Linien um den Blü— 
theneingang herum, beſondere Anflugflächen, 
Rüſſelführungen u. ſ. w. konnten den Be— 
ſuchern die Auffindung und Gewinnung des 
Honigs erleichtern und damit zugleich ihre 
Befruchtungsarbeit fördern. Haare, Sta— 
cheln, ſpitze Vorſprünge, klebrige Drüſen 
u. ſ. w. konnten die Blumen vor Entwen— 
dung des Honigs durch unnütze Gäſte 
ſchützen. Beſondere Geſtaltungen und Ent— 
faltungszeiten der Blüthenhülle konnten be— 
ſtimmten Beſuchern den ausſchließlichen Ge— 
nuß des Honigs ſichern und dieſelben dadurch 


Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 


4 


zu um ſo regelmäßigerem Beſuche veran- 
laſſen. Beſtimmte Stellung und Entwicke— 
lungsreihenfolge der Staubgefäße und Grif— 
fel konnten eine Kreuzung getrennter Stöcke 
durch die beſuchenden Inſekten unausbleiblich 
machen. Alle dieſe und die mannigfachſten 
ſonſtigen Abänderungen, deren bloße flüch— 
tige Andeutung hier ſchon zu weit führen 
würde, konnten denjenigen Inſektenblüthlern, 
an welchen ſie auftraten, theils zum Siege 
über ihre Concurrenten, theils zur Be— 
ſetzung neuer, noch concurrenzfreier Stel— 
len des Naturhaushaltes verhelfen und 
mußten dann durch Naturausleſe erhalten 
und ausgeprägt werden, und theils zu wei— 
terer Vervollkommnung der einmal vorhan- 
denen, theils zur Ausbildung immer neuer 
Blumenarten führen. Einzelne dieſer Ab— 
änderungen und ihre Wirkung auf die 
Naturzüchtung der Blumen werde ich in 
ſpäteren Aufſätzen klar zu ſtellen verſuchen. 


Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche, 


erläutert an den FJormenkreiſen der Gallung Rubus. 


Von 


Wilhelm Olbers Jocke. 


or zwanzig Jahren ſchien noch 
wenig Ausſicht vorhanden zu 
Y2 fein, daß es ſchon bald gelin— 
Der e . 
Se gen werde, eine einigermaßen 
klare Einſicht in die Entſtehungs— 
geſchichte der organiſchen Arten zu erhalten. 
Allerdings hatte ſich damals allen unbefange— 
nen Beobachtern längſt die Wahrnehmung 
aufgedrängt, daß die Grenzen der „Species“ 
des Thier- und Pflanzenreichs in vielen 
Fällen unſicher ſind. Es war indeß noch 
ſehr zweifelhaft, ob dieſe Unſicherheit eine 
wirklich in der Natur begründete, oder ob 
ſie nicht vielmehr nur eine ſcheinbare ſei. 
Die allgemeine Annahme ging dahin, daß 
die Urſache jeglicher Un gewißheit über den 
wahren Umfang der Arten in der Mangel— 
haftigkeit unſerer Kenntniſſe geſucht werden 
müſſe. Mit dieſer Anſicht ſtand freilich eine 
auffallende Erfahrung in grellem Wider— 
ſpruche. Unſer Wiſſen in der Naturkunde 
wuchs von Jahr zu Jahr an, aber die 
Zweifel über den Umfang der Arten ver— 
minderten ſich nicht nur nicht in entſpre— 
chendem Maße, ſondern traten in ſtets zu— 
nehmender Häufigkeit hervor. Allerdings 


glückte es zuweilen einmal, über die Arten 
einer einzelnen Formenreihe zu größerer 
Klarheit zu gelangen, allein im Großen 
und Ganzen tauchten für jeden beſeitigten 
Zweifel ſicherlich zehn bisher ungeahnte 
wieder auf. Man ſprach aber nicht gern 
über ſolche unangenehme Erfahrungen; man 
behielt ſie meiſtens für ſich und ſuchte ſie 
wo möglich ſelber zu vergeſſen. Glaubte 
doch Jeder ſich ein Armuthszeugniß auszu— 
ſtellen, wenn er geſtand, daß er über die 
Artgrenzen in dieſer oder jener Gruppe 
nicht in's Reine kommen könne. 

Unter den Pflanzen hatte eine Zeitlang 
die Gattung Salix (Weide) eine gewiſſe 
Berühmtheit als „botanicorum erux atque 
scandalum“ genoſſen; es war daher ein 
bedeutender Triumph, als es gelang, durch 
Ausſcheidung der Baſtarde die Artgrenzen 
unter den Weiden wieder ſchärfer zu ziehen. 
Die Roſen und Hieracien waren in Koch's 
deutſcher Flora in einer Weiſe dargeſtellt 
worden, welche vorläufig befriedigte. Ueber 
die Brombeeren (Rubus) waren die An— 
ſichten indeß ſehr getheilt. Wer ſich dieſe 
Pflanzen auch nur oberflächlich im Freien 


16 


116 Focke, über den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


* 


zu ſein ſchienen, ſondern auch eine ganze 


anſah, mußte ſich bald überzeugen, daß die | 
Anzahl von Formen, die ich mit größerem 


Formen derſelben doch zu weſentlich von 


einander abweichen, um ſie mit gutem Ge— 
wiſſen alle für Varietäten einer und der— 
ſelben Art erklären zu können. Dagegen 
meinte man gewöhnlich, daß Weihe und 
Nees, die über 40 Arten unterſchieden 
hatten, doch wohl zu weit gegangen ſeien. 

Bei dieſer Lage der Dinge war es na— 
türlich, daß ich meine Aufmerkſamkeit auch 
auf die Brombeeren richtete, als ich um 
Mitte der fünfziger Jahre nach Formen— 
gruppen ſuchte, welche über das Weſen von 
„Species“ und „Varietas“ Aufſchluß zu 
verſprechen ſchienen. Die erſten gelegent— 
lichen Verſuche, mich in der Gattung zu 
orientiren, waren nicht beſonders erfolgreich. 
Als ich aber im Sommer 1857 nach Wien 
kam, fiel mir dort der Kubus tomentosus 
auf, eine charakteriſtiſche Brombeere, die ich 
drei Jahre früher am Rhein kennen gelernt 
hatte. Hier ſah ich alſo eine Pflanze vor 
mir, die ihren Typus in verſchiedenen 
Gegenden treu zu bewahren ſchien, vie aber 
von den meiſten Botanikern nur für eine 
„Varietät“ des Rubus fruticosus ge— 
halten wurde. Es lag daher die Ver— 
muthung nahe, daß R. tomentosus eine 
halb fertige Art oder eine der wirklichen 
„Species“ ſchon ſehr genäherte Mittelform 
oder Uebergangsſtufe zwiſchen Varietät und 
Art ſein möchte. Dieſer Umſtand erregte 
mein lebhafteſtes Intereſſe, ſo daß ich ſofort 
mit einer genaueren Unterſuchung der öſter— 
reichiſchen Brombeeren den Anfang machte. 
Freilich überzeugte ich mich bald, daß meine 
Vermuthung in Betreff des R. tomentosus 
irrig geweſen war, da ſich derſelbe in jeder 
Beziehung wie eine durchaus ſelbſtändige Art 
verhielt. Indeſſen fand ich nicht nur einige 
weitere Brombeertypen, die eine beträchtliche 
Verbreitung beſaßen und mir wirkliche Arten 


Rechte als den R. tomentosus für Mittel 
ſtufen zwiſchen Varietäten und Arten halten 
durfte. Endlich entdeckte ich auch unfrucht— 
bare Zwiſchenformen, deren Baſtardnatur 
mir nicht zweifelhaft ſein konnte. Als 


ich nun die ſo gewonnenen Anſichten wäh— 


rend der folgenden Jahre in Norddeutſch— 
land zu prüfen ſuchte, machte ich die Wahr— 
nehmung, daß die Brombeeren der nieder— 
deutſchen Ebenen von den öſterreichiſchen 
weit mehr abwichen, als ich vorausgeſetzt 
hatte. Dieſer Umſtand war der Vorſtellung, 
daß es ſich in der betrachteten Formen— 
gruppe vielfach um werdende Arten handle, 
nicht ungünſtig. 

Durch die Bekanntſchaft mit Darwin's 
„Entſtehung der Arten“ gewannen dieſe 
Anſchauungen eine feſtere Geſtalt. Die Fülle 
von Stoff, welche der große Naturforſcher 
in jenem Werke der Wiſſenſchaft bot, ſowie 
die neuen Geſichtspunkte, unter welchen er 
die Thatſachen betrachtete, mußten auf Jeden, 
der ſich bereits mit den dort behandelten 
Fragen näher beſchäftigt hatte, einen außer— 
ordentlichen Eindruck machen. Ich erhielt 
dadurch eine wirkſame Anregung, die be— 
gonnenen Brombeerſtudien mit neuem Eifer 
aufzunehmen. Wenn ich auch bald erkannte, 
daß zu Unterſuchungen über das Weſen der 


Arten andere Formenkreiſe ſich beſſer eig— 


nen dürften als die Brombeeren, jo mahn— 
ten mich gerade die ungewöhnlichen Schwie— 
rigkeiten des einmal gewählten Arbeitsge— 
bietes zur Ausdauer. Es erwies ſich bald 
als unerläßlich, mich ſchon um der Rubi 
willen mit einer ganzen Reihe von bio— 
logiſchen Fragen eingehend zu beſchäftigen, 
ſo wie Seitenblicke auf zahlreiche andere 
formenreiche Pflanzengruppen zu werfen. 
Jetzt, nach zwanzigjährigen Brombeerſtudien, 


habe ich mich entſchloſſen, über die Ergeb— 


niſſe dieſer Unterſuchungen Rechenſchaft ab- 
zu einer Schilderung der Formenkreiſe 


zulegen. Ich bin weit entfernt, die Auf— 
gabe durch Veröffentlichung der betreffenden 
Schrift (Synopsis Ruborum Germaniae) 
als gelöſt zu betrachten, glaube vielmehr, 
daß das von mir zunächſt erſtrebte Ziel, 
die Analyſe des ehemaligen Sammelbegriffs 
Rubus fruticosus, nur der Ausgangs— 
punkt für eine ſtreng wiſſenſchaftliche For— 
ſchung iſt. Die einfache Beobachtung wird 
freilich zunächſt wenig mehr leiſten können, 
als daß ſie zu den Hunderten bekannter 
Formen neue Hunderte hinzufügt. Darin 
würde ich an und für ſich keinen großen 
Gewinn erblicken. Zum Zweck einer wirk— 
lichen Förderung unſerer wiſſenſchaftlichen 
Einſicht werden wir einen andern Weg, 
nämlich den der experimentalen Prüfung, 
betreten müſſen. 

Die Frage nach dem Weſen und der 
Entſtehung der Arten iſt eine ſo vielſeitige 
und verwickelte, daß es kaum zweckmäßig 
ſein dürfte, dieſelbe innerhalb des Rahmens 
eines einzelnen Aufſatzes nach allzu verſchie— 
denen Richtungen zu erörtern. Schon die 
Unterſuchung der Brombeeren bietet man— 
nichfaltige Geſichtspunkte, von welchen aus 
die einzelnen Seiten des Gegenſtandes be— 
trachtet werden können. Eine Beſchränkung 
ſcheint daher in Bezug auf die zu beſpre— 
chenden Fragen unumgänglich nothwendig 
zu ſein, während andrerſeits die in der 
Gattung Rubus beobachteten Thatſachen nur 
dann richtig gewürdigt werden können, wenn 
ſie mit analogen Erſcheinungen innerhalb 
anderer Formengruppen verglichen werden. 
Ich möchte daher zunächſt auf einige all- 
gemeine Eigenſchaften der Arten 
oder Formenkreiſe aufmerkſam machen, und 
zwar auf ſolche, deren Berückſichtigung mir 
für das Verſtändniß der bei den Brom— 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


117 


beeren zu beobachtenden Verhältniſſe beſon— 
ders wichtig erſcheint. Sodann werde ich 


unter unſeren deutſchen Brom— 
beeren und ihrer gegenſeitigen Beziehungen 
übergehen. Daran wird ſich eine Ver— 
gleichung der entſprechenden bei 
andern Artengruppen beobachteten 


| Thatſachen reihen; endlich werde ich die 
Ergebniſſe 


dieſer Studien kurz zu- 
ſammenfaſſen, und auf den Weg hinwei— 
ſen, deſſen Verfolgung weitere Aufſchlüſſe 
verſpricht. 

Die allgemeinen Eigenſchaften 
der Arten, die mir bei einer Würdigung 
der in der Gattung Rubus beobachteten 
Thatſachen beſonders beachtenswerth erſchei— 
nen, ſind insbeſondere die Ungleich— 
werthigkeit der Arten und die rein 
relative Bedeutung jedes einzel— 
nen Axtbegriffs. Vorher will ich nur 
kurz hervorheben, daß die allgemeine Be— 
zeichnung „Varietät“ wiſſenſchaftlich völlig 
werthlos iſt. Als Varietäten hat man indi— 
viduelle Abänderungen, durch den Standort 
bedingte Zuſtände, Krankheitsprodukte, Miß— 
bildungen, Baſtarde, unbeſtändige Spiel— 
arten und conſtante Racen in buntem Ge— 
menge neben einander aufgeführt. Nur die 
in der Folge der Generationen durch be— 
ſtändig wiederkehrende Merkmale ausge— 
zeichneten „Racen“ können bei Unter— 
ſuchungen über die Speciesfrage neben den 
„Arten“ in Betracht kommen. Durch 
deutliche Unterſchiede charakteriſirte Racen, 
von denen mehrere einander nahe verwandte 
den Formenkreis einer Art in weiterem 
Sinne (Geſammtart) zuſammenſetzen, nenne 
ich Unterarten. Daß die Racen andrer— 
ſeits durch unmerkliche Uebergänge mit den 
Spielarten, individuellen Abänderungen und 
Baſtarden zufammenhängen, braucht wohl 


5 


118 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


kaum erwähnt zu werden. — Was nun 
den Artbegriff ſelbſt betrifft, ſo ſind be— 
kanntlich die Meinungen darüber ſehr ge— 
theilt, ob die alten, oft viele Racen um— 


faſſenden Species oder die neuerdings ſchärfer 


unterſchiedenen Unterarten und Racen die 
wahren und echten Arten ſind. Nur vom 
Standpunkte der Conſtanzhypotheſe kann 
man dieſer Frage ein wiſſenſchaftliches In— 
tereſſe abgewinnen, da ſie in Wirklichkeit 
nur eine rein formale Wichtigkeit hat. Es 
ſchließt ſich indeß an die Unterſcheidung der 
Unterarten und Geſammtarten die Frage 
nach der Natur des Artbegriffs an, 
da die Anhänger der Conſtanzhypotheſe die 
Arten für geſchloſſene Complexe, für abſo⸗ 
lute Weſenheiten halten. Ein Blick auf die 
thatſächlichen Verhältniſſe zeigt jedoch, daß 
der Artwerth eines Formenkreiſes niemals 
an und für ſich, ſondern ſtets nur unter 
Bezugnahme auf andere Formenkreiſe be— 
ſtimmt werden kann. Jede pflanzenform, 
die heut. als Unterart oder nach bisherigem 
Sprachgebrauche als „Varietät“ erſcheint, 
würde ſofort den Rang einer „guten Art“ 
erhalten, wenn die andere Form, der ſie 
untergeordnet oder nebengeordnet wird, nicht 
mehr exiſtirte. Der Artwerth iſt daher ein 
relativer Begriff; er wird abgemeſſen 
nach der Weite der Kluft, welche den un— 
terſuchten Formenkreis von andern Formen— 
kreiſen trennt. 

Indeß möchte ich die Ungleichwerthig— 
keit der Arten noch etwas ausführlicher 
beſprechen, da das gewöhnliche Verfahren 
der Syſtematiker, die Arten gleichberechtigt 
neben einander aufzuführen, die wirklichen 
Thatſachen ſehr unvollkommen zum Aus— 
druck bringt. Die Arten ſind ungleich— 
werthig in Beziehung auf Selbſtändigkeit, 
Umgrenzung, Bildſamkeit, Formenreichthum, 
Individuenzahl und Verbreitung; dieſe Un— 


gleichwerthigkeit beruht nicht etwa auf Män— 
geln unſeres Unterſcheidungsvermögens, ſon— 
dern ſie iſt eine natürlich begründete; ſie 
bleibt beſtehen, ob man weite oder enge 
Arten annimmt, ob man die Grenzen 
zwiſchen ihnen hierhin oder dorthin ver— 
ſchiebt. 

Wenn ſich die Thatſache der Ungleich— 
werthigkeit der Arten zunächſt auch nur aus 
der unmittelbaren Beobachtung ergiebt, ſo 
ſprechen doch zwingende Gründe dafür, daß 
dieſe Ungleichheiten nicht zufällig entſtanden 
ſind, ſondern ſtets auf Naturnothwendigkeit 
beruhen und in jedem einzelnen Falle mit 
der geſchichtlichen Entwickelung der betreffen— 
den Formenreihe zuſammenhängen. Aller- 
dings ſetzt die Abſtammungslehre voraus, 
daß die organiſchen Geſtalten bildſam und 
wandlungsfähig ſind, jedoch nur im Sinne 
geſetzmäßiger Fort- oder Rückbildung. Dieſe 
Anſchauungsweiſe ſchließt durchaus nicht die 
Anerkennung der Thatſache aus, daß es 
Arten giebt, welche gegenwärtig ſtreng un— 
veränderlich ſind, wenn auch angenommen 
werden muß, daß fie ihre Biegſamkeit erſt 
im Laufe ihrer geſchichtlichen Entwickelung 
verloren haben. Wie von den menſchlichen 
Bauwerken, welche zur Römerzeit in Deutjch- 
land ſtanden, faſt nichts mehr erhalten iſt, 
ſo ſind auch die Pflanzenformen des mio— 
cänen Alters bis auf ſpärliche Ueberbleibſel 
von der Erdoberfläche verſchwunden. Frei— 
lich giebt es einzelne Ausnahmen: Wie eine 
Porta nigra ragt z. B. das miocäne Taxo- 
dium distichum in die Gegenwart hinein. 
Es fragt ſich nun, ob ſich der Vergleich 
weiter ausführen läßt, ob man glauben 
darf, daß die miocänen pflanzlichen Zeitge— 
noſſen des Taxodium zerſtört, die moder— 
nen inzwiſchen aus anorganiſchen Stoffen auf- 
gebaut worden ſind, wie es ſeit den Römer— 


tagen mit menſchlichen Bauwerken geſchehen 


iſt? Wer etwa geneigt fein ſollte, dieſe 
Frage zu bejahen, wird zunächſt wohl 
daran thun, die miocänen und pliocänen 
Tulpenbäume, Platanen, Amberbäume, 
Kaſtanien, Buchen und Lorbeeren mit den 
lebenden zu vergleichen. Wenn man die 
Abſtammung des heutigen Taxodium von 
feinen miocänen Vorfahren für ſelbſtver— 
ſtändlich hält, ſo iſt kein Grund vorhanden, 
weshalb man die Vorläufer der heutigen 
Vertreter der andern genannten Baumgat— 
tungen nicht für deren wirkliche Vorfahren 
oder Stammväter halten will. Der Grad 
der Verſchiedenheit zwiſchen der alten und 
neuen Form iſt beim Taxodium faſt gleich 
Null, erreicht aber in andern Gattungen 
allmälig etwas höhere Werthe. Nirgends 
zeigt fi die Möglichkeit einer ſcharfen Ab— 
grenzung. Analog den zeitlich getrennten 
Lebensformen der Vorzeit und Gegenwart 
verhalten ſich auch die räumlich getrennten 
verwandten Formenkreiſe, welche wir noch 
heute neben einander beobachten können und 
an denen wir vergebens nach den Grenzen 
ſuchen, wo die Varietät aufhört, die neue 
Art anfängt. 

Dieſe Betrachtungen, die ſich leicht weiter 
fortführen laſſen, müſſen nothwendig den 
lebhaften Eindruck hinterlaſſen, daß die 
Arten ihrem innerſten Weſen nach ungleich— 
werthig find. Das altehrwürdige Taxo- 
dium dürfen wir gewiß mit vollem Rechte 
für eine wirklich conſtante und unveränder— 
liche Art halten; wir haben nicht den geringſten 
Grund zu vermuthen, daß es fähig ſein wird, 
in Zukunft Aenderungen einzugehen, da wir 
wiſſen, daß es ſeit unabſehbar langer Zeit un— 
verändert geblieben iſt. Wir müſſen ferner 


zahlreiche andere Formen nach hiſtoriſchem 
Maße für conſtant halten, da wir wiſſen, 


daß ſie ſchon in oder vor der Diluvialzeit 


vorhanden waren, ſich alſo während geo— 


| Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


119 


logiſch meßbarer Zeitabſtände als beſtändig 
bewährt haben. Leichte Abweichungen, wel— 
chen man bei lebenden Pflanzen nicht ſelten 
ſpecifiſchen Werth beilegt, laſſen ſich freilich 
an dem foſſilen Material gewöhnlich nicht 
erkennen. Merkwürdiger Weiſe kommen die 
Anhänger der Hypotheſe von der Conſtanz 
der Species noch immer darauf zurück, daß 
das Stroh in altägyptiſchen Ziegeln ebenſo 
ausſieht wie heutiges Stroh. Man braucht 
aber in der Vergangenheit gar nicht weit 
über das Pyramidenalter hinauszugehen, 
um organiſche Bildungen anzutreffen, die 
keineswegs mehr vollkommen mit den heu— 
tigen Lebensformen übereinſtimmen. Schon 
auf das Zeugniß der Pfahlbauten kann 
man ſich nicht mehr ſo unbefangen berufen, 
wie auf das des Pharaonenſtrohs, wenn 
man für die Unveränderlichkeit der Arten 
plädiren will; jeder Schritt weiter rückwärts 
führt uns merklich näher an das Zeitalter 
fremdartiger Thier- und Pflanzentrachten 
heran. 

Die ſprechenden Beweiſe für die Con— 
ſtanz und für die Plaſticität der Typen 
findet der Forſcher auf jedem Wege, den 
er verfolgt, neben einander vor. Merk— 
würdiger Weiſe iſt die geiſtige Organiſa— 
tion vieler Menſchen ſo beſchaffen, daß 
Manche nur die erſte Reihe von Thatſachen 
als beachtenswerth aufnehmen, während 
Anderen nur die zweite in's Auge fällt. 
Die unbefangene Forſchung wird beide Er— 


ſcheinungen als Folgen von Erblichkeit und 


Variabilität zu würdigen wiſſen und wird 
beide für das Verſtändniß der Entwickelungs⸗ 
geſchichte der Arten verwerthen. 

Die vorſtehenden Bemerkungen über 
Artbegriff und Artwerth dürften dazu die⸗ 
nen, die Bedeutung der ſpeciellen Unter- 


ſuchungen über die deutſchen Brom— 


beerformen ſchärfer zu beleuchten. Die 


5 


120 


Thatſachen, welche man ſonſt nur im Ueber— 


beobachten kann, treten auf dem engen Ge— 
biete der Brombeerforſchung ſchon in der 
Gegenwart und innerhalb kleiner Areale 
hervor. Deutſchland iſt nicht groß genug 
und klimatiſch zu wenig gegliedert, um 
innerhalb der Landesgrenzen den Umfang 
der Variation der Arten beſonders häufig 
und deutlich zu zeigen. Frankreich und 
Oeſterreich-Ungarn ſind in dieſer Beziehung 
mehr begünſtigt. Die Brombeeren ſind in— 
deß ſchon auf kleinen Arealen durch Formen 
von offenbar völlig verſchiedenem Artwerth 
und verſchiedener Beſtändigkeit vertreten. 

Die Brombeeren ſind allbekannte Pflan— 
zen; über ihre Eigenthümlichkeiten möchte 
ich nur bemerken, daß ſie ſehr langlebig 
ſind und das Vermögen beſitzen, ſich durch 
Wurzelbrut oder durch einwurzelnde Schöß— 
linge zum Theil ſehr ſchrell auf vege⸗ 
tativem Wege auszubreiten. Ihre offenen 
Blüthen werden von mancherlei Inſecten 
beſucht, welche theils eine Fremdbeſtäu— 
bung, theils eine Selbſtbefruchtung vermit— 
teln. Als Arten unterſchied Linné den 
Rubus caesius und Rubus fruticosus, 
welche jedoch durch Uebergangsformen ver— 
bunden ſind. Gewöhnlich haben die Botaniker 
Alles, was nicht deutlicher R. caesius war, 
R. fruticosus genannt. Die Himbeere, R. 
Idaeus, kommt bei Unterſuchungen über die 
(ſchwarzfrüchtigen) Brombeeren zunächſt nicht 
in Betracht. 5 

Die erſte Frage, welche bei einer Um— 
ſchau über die Formenkreiſe der deutſchen 
Rubi zu beantworten iſt, wird die nach 


Brombeeren ſein. 
Conſtanzlehre, welche, wie z. B. Wigand 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


blick über große Raum- und Zeit-Abſchnitte 


der ſpecifiſchen Einheit oder Vielheit unſerer | 
Es giebt Anhänger der 


(Darwinismus I, ©. 23), behaupten, alle 
einheimiſchen Brombeeren ſeien nur Varie— 


täten einer Art, ſeien alſo nach der Con— 
ſtanzdoctrin aus einer einzigen Stammform 
hervorgegangen. Wenn ſich dieſe Anſicht 
thatſächlich beweiſen ließe, ſo würde die Ent— 
wickelungslehre einen großen Triumph feiern. 
Wer die Möglichkeit zugiebt, daß ſo ver— 
ſchiedene Pflanzenformen, wie die euro— 
päiſchen Brombeeren, ſich binnen eines ge— 
gegebenen Zeitraums aus einer einheitlichen 
Stammart entwickeln können, wird nur einer 
entſprechend längeren Zeit bedürfen, um 
fi die Differenzirung urſprünglich homo— 
gener Formenkreiſe in verſchiedene Unter— 
gattungen und Gattungen als möglich zu 
denken. Dadurch würde er mitten in der 
Entwickelungstheorie ſtehen. 

Um einen Begriff zu geben von dem 
wirklichen Betrage der Unterſchiede zwiſchen 
den vermeintlichen „Varietäten“ des Lin— 
neben Kubus fruticosus, ſei hier nur 
bemerkt, daß der geſchulteſte Syſtematiker, 
der ſich noch nicht mit der Gattung Rubus 
beſchäftigt hat, außer Stande ſein würde, 
in einer gemiſchten Sammlung europäiſcher 
und verwandter amerikaniſcher Brombeeren 
zu beſtimmen, was europäiſcher Kubus 
fruticosus und was „gute amerikaniſche 
Species“ iſt. 

Wenn auch für die experimentale For- 
ſchung über die Formenkreiſe der Brombeeren 
noch ſehr viel zu thun übrig bleibt, ſo 
laſſen doch die Beobachtungen in der freien 
Natur kaum einen Zweifel übrig, daß ſich 
zahlreiche Brombeerformen ſexuell ganz wie 
verſchiedene Arten verhalten. Obgleich ſolche 
verſchiedene Formen dicht verſchlungen durch 
einander wachſen, obgleich zahlreiche In— 
ſecten ohne Wahl von Blüthe zu Blüthe 
fliegen, findet nur ausnahmsweiſe Arten- 
kreuzung ſtatt. Die intermediären und allem 
Anſchein nach hybriden Formen dagegen, 
welche dennoch nicht ſelten entſtehen, zeigen 


meiſtens, ganz wie die Artbaſtarde, eine 
ſehr verminderte Fruchtbarkeit. — Die Frage, 
ob die europäiſchen Brombeeren eine einzige 
Art bilden, dürfte damit wohl als erledigt 
zu betrachten ſein. Eine Vereinigung iſt 
nach allen ſyſtematiſchen Regeln unmöglich, 
mag man auch den Artbegriff ſo weit faſſen, 
wie man will. 

Während es demnach nicht zweifelhaft 
fein kann, daß es mehr als eine europäiſche 
Brombeerart giebt, iſt es andrerſeits voll— 
ſtändig unmöglich, zu ſagen, wie groß deren 
Zahl eigentlich iſt. Wenn man den Verſuch 
machen will, ſich eine annähernde Ueberſicht 
über dieſe Formen zu verſchaffen, ſo wird 
man zunächſt die ausgezeichnetſten Typen 
herausheben müſſen. Gewiß wird man 
allgemein anerkennen, daß die durch aus— 
geprägte morphologiſche und biologiſche 
Eigenthümlichkeiten charakteriſirten Formen 
vor allen Dingen Beachtung verdienen; 
in zweiter Linie wird man auch Häufigkeit, 
Umfang des Wohngebiets, Beſtändigkeit, 
ſcharfe Umgrenzung und Fruchtbarkeit in 
Betracht ziehen. Nach ſolchen Grundſätzen 
geſichtet, habe ich in Deutſchland 34 ver— 
breitete und gut charakteriſirte Arten unter 
ſchieden, von denen jedoch drei keine ho— 
mogenen Formenkreiſe, ſondern Sammelarten 
darſtellen. Dieſen 34 Arten ſchließen ſich 
zunächſt 30 weitere Arten an, welche in ihrer 
Tracht und ihren Eigenſchaften kaum weniger 
ſelbſtändig erſcheinen, aber noch nicht als über 
größere Gebiete verbreitet nachgewieſen ſind. 
Zählt man ſtatt der drei Sammelarten 
die wichtigeren Unterarten mit, in welche 
dieſelben zerfallen, ſo erhält man im Ganzen 
etwa 80 bemerkenswerthe Formenkreiſe 
unter den deutſchen Brombeeren. Bei ge— 
nauerer Bekanntſchaft mit der ſüddeutſchen 
Rubus-Flora wird ſich dieſe Zahl noch er— 
heblich vermehren, jo daß man annehmen 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


121 


kann, daß in Deutſchland im Ganzen etwa 
100 ſelbſtändige und einigermaßen ver— 
breitete Brombeerarten vorhanden ſind. Es 
bleibt indeß unter allen Umſtänden die 
Grenzlinie zwiſchen den wichtigeren und den 
unwichtigen Arten eine willkürliche. — 
Offenbar wird aber für Denjenigen, der 
ſich in dem Formengewirre zunächſt nur 
orientiren will, das Bedürfniß nach einer 
genügenden Würdigung der aus der Be— 
trachtung vorläufig ausgeſchloſſeuen Formen— 
kreiſe ſehr gering ſein, da es ihm ſicherlich 
viel mehr auf eine weitere Auswahl oder 
Ordnung unter den 100 oder 80 oder 34 
wichtigeren Arten ankommt. Es verſteht 
ſich von ſelbſt, daß überhaupt nur von 
fruchtbaren und ſamenbeſtändigen Arten die 
Rede ſein kann; freilich war es bisher un— 
möglich, die Beſtändigkeit jeder einzelnen 
Form durch Maſſenausſaat der Früchte 
von Blüthenzweigen, die vor Hybridiſation 
geſchützt waren, zu prüfen, allein die bisher 
vorliegenden Erfahrungen geſtatten nicht, 
an der Conſtanz jener Arten zu zweifeln. 
Während nun die wichtigeren Brombeerarten 
ſich in Fruchtbarkeit und Stetigkeit durchaus 
wie normale Species verhalten, zeigen ſie 
eine bemerkenswerthe Anomalie in der Be— 
ſchaffenheit ihres Blüthenſtaubes. Derſelbe 
beſteht nämlich meiſtens nicht aus lauter 
gleichartigen, regelmäßigen Körnern, ſondern 
enthält neben ſolchen wohlgebildeten Be⸗ 
ſtandtheilen eine größere oder geringere 
Beimiſchung von verkümmerten, mißgeſtalteten 
oder doch unregelmäßig geformten Körnern, 
die bei Befeuchtung oft nur unvollkommen 
aufquellen. Nur drei deutſche Brombeer⸗ 
arten, nämlich R. ulmifolius, tomentosus 
und caesius, machen eine Ausnahme, indem 
bei ihnen die Pollenkörner ganz regelmäßig 
gebildet ſind. Die Beſchaffenheit des Blüthen⸗ 
ſtaubes der andern Arten iſt genau dieſelbe, 


122 


wie man fie bei fruchtbaren Baſtarden an— 
zutreffen pflegt. Bei unfruchtbaren, offenbar 
hybriden Brombeerformen iſt der Blüthen— 
ſtaub manchmal aus lauter verſchrumpften 


ſein, zu glauben, daß außer den drei ge— 
nannten Arten alle andern deutſchen Brom— 
beeren hybriden Urſprungs ſeien. Bei 
dieſer Annahme ſtößt man indeß auf die 
Schwierigkeit, daß man keine Stammarten 


teriſirten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen— 
ſtaub möglicherweiſe ableiten könnte. Man 
ſähe ſich daher zu der mißlichen Ver— 
muthung gedrängt, daß die meiſten ur— 
ſprünglichen Stammarten unſerer heutigen 
Brombeeren ausgeſtorben ſeien. Es würde 
viel zu weit führen, wenn ich hier die Frage 


nach der Bedeutung des irregulären Blüthen- 
Die wichtigſten derſelben ſind unzweifelhaft 


ſtaubes ausführlich erörtern wollte, zumal 
da es nicht möglich iſt, ſich mit Beſtimmtheit 
über die Urſachen dieſer Erſcheinung aus— 
zuſprechen. Gewiß iſt nur ſo viel, daß die 
drei Brombeerarten mit regulärem Pollen 
durch ausgeprägte Eigenthümlichkeit und 
weite Verbreitung alle andern Arten über— 
treffen. Ganz ſcharf ſcheint indeß die 
Grenzſcheide zwiſchen den Arten mit gleich- 
körnigem und denen mit ungleichkörnigem 
Blüthenſtaub nicht zu ſein. Es giebt z. B. 
eine Brombeerart, welche ich R. gratus 
genannt habe, in deren Blüthenſtaub die 
Beimiſchung der verbildeten Körner ſo gering 
iſt, daß ſie für zufällig gehalten werden 
könnte. Dieſe Art zeigt keinerlei nähere 
Verwandtſchaft mit einer jener drei Haupt⸗ 
arten mit regulärem Pollen; ſie iſt aber 
bis jetzt erſt innerhalb eines ſehr mäßigen 
Verbreitungsbezirkes nachgewieſen, deſſen 


äußerſte Punkte Lübeck und Aachen ſind. 
Zwar reicht das Wohngebiet des K. gratus 
wahrſcheinlich viel weiter, allein es bleibt 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


nichtsdeſtoweniger ein beſchränktes. An 
R. gratus reiht ſich im Hinblick auf die 
Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes zunächſt 


R. Arrhenii an, eine trefflich charakteriſirte, 
Körnern gebildet. Man könnte nun geneigt 


aber bisher nur zwiſchen Flensburg und 
Burgſteinfurt nachgewieſene Art. Dann 
folgt etwa R. sulcatus, der allerdings in 


faſt ganz Mitteleuropa vorzukommen ſcheint. 


Nach der Verbreitung geordnet, würden 


ſich indeß andere Formenkreiſe (R. bifrons, 
vorfindet, von welchen man die beſtcharak— 


villicaulis, plicatus, suberectus, vestitus, 
rudis, Bellardii, hirtus u. ſ. w.) neben 
dem R. suleatus als die wichtigſten an 
die Arten mit regulärem Pollen anreihen. 
Noch etwas anders ſtellt ſich die Sache, 


wenn man im Anſchluß an die bisher be— 


trachteten Verhältniſſe nach den Arten mit 
den ausgeprägteſten Eigenſchaften, alſo nach 
den am meiſten differenzirten Typen ſucht. 


unter den bereits genannten Arten vertreten, 
aber es giebt auch manche gut umgrenzte 
Arten mit ſehr kleinem Wohngebiete. 
Ohne in die ſpeciellere Unterſuchung 
dieſer Verhältniſſe näher eingehen zu wollen, 
will ich nur erwähnen, daß ich außer den 
drei Arten mit regulärem Pollen ſechs 
weitere Grundtypen aufgeſtellt habe, an 
welche ſich die ſämmtlichen deutſchen Brom⸗ 
beeren anreihen laſſen. Dieſe Grundtypen 
ſind zum Theil durch eine Anzahl nahe 
verwandter, wohlcharakteriſirter, einander 
ziemlich gleichwerthiger Arten repräſentirt. In 
andern Fällen reihen ſich an einen Grund— 
typus ähnliche, aber eigenthümlich ent⸗ 
wickelte und mehr iſolirt daſtehende Arten 
an, welche ich als Nebentypen bezeichnet 
habe. Die große Maſſe der übrigen deutſchen 
Brombeeren beſteht indeß aus Mittel- 
formen. Dieſe Mittelformen ſind gewiß 
keine einfachen Baſtarde, ſondern ſind durch 
Verbreitung, Beſtändigkeit und Fruchtbarkeit 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 123 


als wirkliche Arten charakteriſirt, obgleich 
die Vermuthung nahe liegt, daß ſie ſich 
urſprünglich einmal aus Baſtarden ent— 
wickelt haben. — Es giebt nun alle denk— 
baren Mittelſtufen zwiſchen weitverbreiteten 
beſtändigen Arten einerſeits und ganz lokal 
auftretenden Formen und Abänderungen 
andrerſeits; auch dürfte es ſchwer ſein, 
zwiſchen Arten und Baſtarden eine ſcharfe 
Grenze zu finden, wenn auch in der Mehr— 
zahl der Fälle eine Unterſcheidung ſehr 
wohl möglich iſt. — Eine genaue Schil— 
derung ſämmtlicher vorhandenen Formen— 
kreiſe würde für die menſchlichen Faſſungs— 
kräfte in höchſtem Maße verwirrend ſein. 
Nur wenn man Weſentliches und Unweſent— 
liches zu ſondern, nur wenn man die wich— 
tigeren und dauernden Erſcheinungsformen 
überſichtlich zu gruppiren verſteht, kann man 
das Verſtändniß der naturhiſtoriſchen That— 
ſachen fördern. 

Von dieſen Erwägungen geleitet, habe 
ich jeder einzelnen Brombeerart, welche ich 
keunen lernte, mit Rückſicht auf ihre Selbſt— 
ſtändigkeit, Verbreitung, Abgrenzbarkeit 


u. ſ. w. einen beſtimmten Artwerth zuge 


theilt. Im Ganzen habe ich ſechs Werth— 
ſtufen unterſchieden, von denen die erſte nur 
die drei weitverbreiteten Arten mit gleich— 


körnigem Blüthenſtaub umfaßt, die zweite 


dagegen die verbreiteten und beſtcharakteri— 
ſirten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen— 
ſtaub. Die vierte Stufe enthält die aus— 


gezeichnetſten Formen, welche bisher nur in 


beſchränkter Verbreitung nachgewieſen ſind; 
in die dritte, welche in der Zukunft vielleicht 


entbehrlich werden wird, ſtelle ich die aus 
bekannten 
über deren Zugehörigkeit zur 


etwas größeren Wohngebieten 
Formen, 
zweiten oder vierten Klaſſe ich zweifelhaft 
bin. Die fünfte Werthſtufe enthält die ge‘ 


wöhnlichen Lokalracen, die ſechſte endlich 


iſolirt vorkommende Sträucher, muthmaßliche 
Hybride und Abänderungen zweifelhaften 
Urſprungs, überhaupt ſolche Formen, deren 
Samenbeſtändigkeit unwahrſcheinlich iſt und 
die deßhalb nicht als Arten oder Racen be— 
trachtet werden können. 

Obgleich ſich die Stellung vieler Arten 
nach dem Maße unſerer Kenntniſſe über 
ihre Conſtanz und Verbreitung nothwendig 
ändern muß, obgleich außerdem in vielen 
Fällen die Beſtimmung des Artwerthes 
ziemlich willkürlich iſt, glaube ich, daß der 
von mir eingeſchlagene Weg die einzige 
Möglichkeit bietet, das Conglomerat von 
Formen, welches bisher als Rubus fruti- 
cosus bezeichnet wurde, zu entwirren. Aus— 
drücklich betonen möchte ich noch den Um— 
ſtand, daß bei der vielſeitigen Verwandt— 
ſchaft der meiſten Formenkreiſe unter ein— 
ander durch Zuſammenfaſſen der Racen 
nur in wenigen Fällen einigermaßen nas 
türliche und definirbare Geſammtarten oder 
Sammelarten gebildet werden können. 

Zu näherer Charakteriſtik der von mir 
angenommenen Arten ſind noch drei ver— 
ſchiedene Eigenthümlichkeiten derſelben zu 
beſprechen, nämlich ihre Umgrenzung, 
Variabilität und Vergeſellſchaftung. 
Im Allgemeinen kann man behaupten, daß 
der größere Theil der Arten, welche den 
erſten vier Werthſtufen angehören, gut ab— 
gegrenzt iſt. Allerdings giebt es manche 
Formen, welche ſich einem Arttypus ſehr 
nahe anſchließen und von denen man nicht 
weiß, ob ſie einfache Abänderungen oder 
Miſchlinge oder ſich ſelbſtändig entwickelnde 
Nebenformen ſind. Man kann indeß nicht 
behaupten, daß directe Uebergänge zwiſchen 
zwei im Allgemeinen getrennten Formen— 
kreiſen irgendwie häufig ſind. — Sehr ver— 
ſchieden verhalten ſich die einzelnen Arten 
in Bezug auf Variabilität. Bei va— 


| 


| riabeln Arten wird man ſich immer die 


Frage vorlegen müſſen, ob man es wirklich 
mit einem weſentlich homogenen Formen— 
kreiſe oder mit einer Sammelart zu thun 
hat. In der That habe ich mich veranlaßt 
geſehen, mehrere Sammelarten aufzuſtellen, 
deren einzelne Beſtandtheile ich freilich zu 
ſondern bemüht war, aber nicht mit voll— 
ſtändigem Erfolge. Unter den übrigen Arten 
iſt der Grad der Variabilität ſehr ver— 
ſchieden. Den R. tomentosus (eine Art 
mit gleichkörnigem Blüthenſtaub) könnte 
man wohl in verſchiedene Arten oder Unter— 
arten ſpalten, zumal die äußerſten Glieder 
ſeines ganzen Formenkreiſes einander in der 
That recht fern ſtehen. Die Gründe für ein 
Zuſammenfaſſen der Formen ſcheinen mir 
jedoch überwiegend zu ſein. Unter den ver 
breiteten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen— 
ſtaub zeigen ſich manche ſehr beſtändig, 
andere dagegen mehr oder minder veränder— 
lich. In einzelnen Fällen ſcheinen die Ab— 
änderungen durch ſtandörtliche Verhältniſſe 
bedingt zu ſein; in der Regel ſcheinen ſie 
auf Racenunterſchiede und beginnende Diffe— 
renzirung zu deuten. Zuweilen ſcheint eine 
Art in gewiſſen Gegenden durch zwei ihr 
nahe ſtehende Unterarten vertreten zu ſein, 
zwiſchen 
maßen die Mitte hält. In Bezug auf 
Vergeſellſchaftung zeigt ſich folgendes 
Verhalten. Wenn man innerhalb einer 
Lokalflora die Corylifolii Orthacanthi und 
Sepincoli ausſcheidet, welche Mittelformen 
zwiſchen R. caesius und ſämmtlichen andern 
Arten umfaſſen, wenn man ferner die offen— 
baren Baſtarde des R. tomentosus und 
anderer Arten, die iſolirten, nur in ein— 
zelnen Sträuchern oder Strauchgruppen ge- 
fundenen Formen, ſo wie endlich die man— 
gelhaft fruchtenden Exemplare unberückſichtigt 
läßt, ſo behält man innerhalb des Gebietes 


welchen die Hauptart gewiſſer⸗ 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


jeder Lokalflora eine mäßige Zahl von gut 
charakteriſirten Racen übrig, die entweder 
überhaupt oder wenigſtens innerhalb des 
unterſuchten Gebietes eine beträchtliche Ver— 
breitung zeigen. Für das mittlere und 
weſtliche Deutſchland beträgt die Zahl der 
innerhalb der Grenzen einer Lokalflora vor— 
handenen wohl zu unterſcheidenden Arten 
zwiſchen 15 und 40; für Oſtdeutſchland 
iſt ſie geringer. Die Unterſcheidung der 
Arten, welche ſich in kleineren Bezirken 
neben einander finden, pflegt keineswegs 
beſonders ſchwierig zu ſein, da an jedem 
einzelnen Orte die Grenzen viel ſchärfer 
hervortreten, als bei Berückſichtigung ſämmt— 
licher Abänderungen, die auf größeren 
Arealen vorkommen. Viele Eigenthümlich— 
keiten und Merkmale, die an einem einzelnen 
Orte ſehr ausgeprägt hervortreten, verlieren 
ſich, ſobald man die Verbreitung einer Art 
weiter verfolgt, während der Typus, die 
Geſammtheit der Eigenſchaften, im Weſent— 
lichen unverändert bleibt. 

Faſſen wir ſchließlich die wichtigſten 
Eigenſchaften der Arten innerhalb der 
Gruppe der ſchwarzfrüchtigen europäiſchen 
Rubus-Arten, ſoweit ſie in Deutſchland 
vertreten iſt, zuſammen, ſo gelangen wir 
zu folgenden Ergebniſſen: 

1) Es giebt in Deutſchland drei Brom- 
beerarten mit gleichkörnigem Blüthenſtaub; 
dieſe Arten bewohnen ausgedehnte Land— 
ſtriche außerhalb Deutſchlands, wenn auch 
nur eine durch das ganze Gebiet des deut— 
ſchen Reiches verbreitet iſt. Die Mittel— 
formen zwiſchen dieſen drei Arten ſind ein— 
fache Baſtarde von ſehr geringer Frucht— 
barkeit. 

2) Es giebt außerdem eine beträchtliche 
Zahl von Brombeeren, welche trotz mehr 
oder minder ungleichkörnigen Blüthenſtaubes 
in jeder Beziehung, insbeſondere durch 


Fruchtbarkeit, Samenbeſtändigkeit und an— 
ſehnliche Verbreitung, als wohlcharakteriſirte 
Arten erſcheinen. 

3) Es giebt ferner eine außerordentlich 
große Zahl von Brombeerracen, welche zwar 
fruchtbar ſind und ſamenbeſtändig zu ſein 
ſcheinen, aber eine mehr oder minder be— 
ſchränkte Verbreitung beſitzen und ſich mei— 
ſtens nur durch geringfügige Merkmale von 
den nächſtverwandten andern Arten unter— 
ſcheiden laſſen. 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


| 


4) Es giebt endlich unter den Brom⸗ 
beeren eine große Zahl von Uebergangs⸗ 
formen, welche zwiſchen zwei Arten in der 


Mitte ſtehen und welche zum Theil als 
einfache Baſtarde, zum Theil als aus 
Baſtarden abgeleitete, mehr oder minder 
beſtändige Arten (Blendarten) erſcheinen. 


5) Eine beſtimmte Grenze zwiſchen den 
verbreiteten Arten einerſeits, den Lokalarten, 


Blendarten und Baſtarden andrerſeits iſt 
nicht vorhanden, vielmehr kommen alle denk— 


baren Zwiſchenſtufen in großer Häufig⸗ 
erhalten pflegt, welche bei wilden Pflanzen 


keit vor. 

6) Im Gebiete jeder Lokalflora ſind 
die dort wachſenden fruchtbaren und beſtän— 
digen Formen in der Regel gut gegen ein— 
ander abgegrenzt. 

7) Die leichte Vermehrung auf vegeta— 


tivem Wege begünſtigt bei den Brombeeren 
minder zeigen aber auch andere Culturge— 


eine dauernde Erhaltung jeder einmal ge— 


bildeten Form, mag ſie nun fruchtbar oder 


unfruchtbar, ſamenbeſtändig oder bei Aus— 
ſaat variabel ſein. 

8) Blüthenbau und Vergeſellſchaftung 
begünſtigen bei den Brombeeren eine häufige 
Kreuzung der Arten und Racen. 


Nachdem ich die geſchilderten Eigenthüm⸗ 
lichkeiten der Brombeerarten kennen gelernt 


hatte, neigte ich mich Anfangs dem Glauben 
zu, daß die Gattung Rubus eine Aus— 
nahmeſtellung in der Natur einnehme. Ein 


fortgeſetztes Studium hat mir gezeigt, daß 
dieſe Meinung nicht richtig war, daß viel— 
mehr die Polymorphie in der Gattung 
Rubus ſich nicht dem Weſen, ſondern nur 
dem Grade nach von den Formenreihen 
anderer Artengruppen unterſcheidet. 
Die auffallendſten Aehnlichkeiten mit den 
Verhältniſſen der Gattung Rubus zeigen 
zunächſt manche Culturpflanzen, na= 
mentlich viele unſerer Obſtbäume. Auch 
bei den Aepfeln, Birnen, Pflaumen und 
Kirſchen ſind Arten und Racen ſchwer aus— 
einander zu halten; auch bei ihnen enthält 
der Blüthenſtaub vielfach verbildete Körner; 
auch bei ihnen findet eine ausgiebige Ver— 
mehrung auf vegetativem Wege ſtatt. Da⸗ 
gegen iſt hervorzuheben, daß der Grad der 


Verſchiedenheiten innerhalb jeder Obſtgat— 


tung weit geringer iſt als in der Gruppe 
der europäiſchen Brombeeren; auch darf man 
nicht vergeſſen, daß man bei cultivirten 
Gewächſen ſchon ſehr geringfügige indivi— 
duelle Abänderungen zu beachten und zu 


gänzlich unbemerkt bleiben. Nichtsdeſto— 
weniger wird man zugeben müſſen, daß 
unter den Aepfeln, Birnen, Kirſchen und 
Pflaumen ganz ähnliche Beziehungen der 
engeren Formenkreiſe zu einander vorhanden 
ſind, wie bei den Brombeeren. Mehr oder 


wächſe ein ähnliches Verhalten, ein Umſtand, 
der längſt allgemein bekannt iſt. Der junge 
Botaniker früherer Jahrzehnte, dem man ein— 
ſchärfte, daß er nur „gute Arten“ ſammeln 
dürfe, wurde ſtets ganz beſonders vor den 
Gartenpflanzen gewarnt. Cultivirte Exem⸗ 
plare werden in den Herbarien allgemein 
mit einem gewiſſen Mißtrauen betrachtet. 
Andrerſeits ſcheinen ſich noch heutzutage 
manche Leute einzubilden, daß die Berüh— 
rung der menſchlichen Hand eine ganz be— 


126 


ſondere Zauberkraft auf die Samen aus— 
übe. 


gelüſte, welche den Samen innewohnen, 


durch die Cultur entfeſſelt werden, während | 


andrerſeits alle Varietäten, die im Freien 
entſtanden ſind, unter dem Einfluſſe 
Cultur reuig zur Stammart zurückkehren 
ſollen. 
unverändert geblieben“ gilt bei den Flo— 
riſten immer noch als die beſte Legitimation 
für das „Artrecht“ einer neu aufgeſtellten 
Species. 

So lächerlich und unſinnig dieſe land— 


läufigen Vorſtellungen an und für ſich auch 
find, ſo liegen ihnen doch, wie es bei vielen 


abergläubiſchen Ideen der Fall iſt, that— 
ſächliche Beobachtungen zu Grunde. Ur— 
ſprünglich richtige Wahrnehmungen ſind da— 
durch gefälſcht worden, 
der Speciesdoctrin verquickt- hat. 
daher wohl der Mühe werth, den eigent— 
lichen Sachverhalt kurz darzulegen. 

Der wirkliche Werth der Culturver— 


ſuche liegt darin, daß man bei ihnen Samen 


von bekannter Abſtammung verwenden, und 


daß man durch willkürliche Abänderung der 


Lebensbedingungen, der Vergeſellſchaftung 
u. ſ. w. die Wirkung vieler einzelnen Yac- 
toren auf die Geſtalt und das Gedeihen 
der Pflanzen prüfen kann. Nur bei ſtrenger 
Beobachtung aller Regeln der naturwiſſen— 


ſchaftlichen Experimentirkunſt haben ſolche 


Verſuche einen wirklichen Werth; gewöhn— 
liche Ausſaaten ohne genaue Berückſichtigung 
aller einſchlägigen Verhältniſſe find ent— 
weder Spielereien oder ſie haben doch nur 
eine bedingte Brauchbarkeit. Für die Be⸗ 
urtheilung der Variabilität bei den Cultur⸗ 
pflanzen kommen insbeſondere folgende Punkte 
in Betracht: 

1) Von jeder begehrten Culturpflanze 
werden möglichſt viele verſchiedene Racen 


5 ee | 
Sie nehmen an, daß alle VBariations- | 


der 


Ein „Iſt bei mehrjähriger Cultur 


daß man ſie mit 
Es iſt 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


und Unterarten eingeführt, häufig ſolche, 
deren natürliche Standorte weit von ein— 
ander entfernt liegen. 

2) Aus den abſichtlichen und unabſicht— 
lichen Kreuzungen der durch den Menſchen 
zuſammengebrachten Racen gehen mancherlei 
Blendlinge hervor, deren Nachkommenſchaft 
oft ſehr variabel iſt, oft aber auch unter 
dem Einfluſſe ſtrenger Inzucht beſtändige 
neue Racen liefert. 

3) Der Menſch bewahrt und vermehrt 
zahlreiche Abänderungen, welche an und für 
ſich unfähig ſein würden, ſich im Daſeins— 
kampfe zu behaupten. 

4) Von nicht zu unterſchätzender Be— 
deutung iſt für die Culturgewächſe der durch 
vielfachen Samenaustauſch bewirkte Stand— 
ortswechſel, welcher zur Folge hat, daß die 
einzelnen Generationen der betreffenden Arten 
nicht allein oftmals unter ſehr verſchiedenen 
Ernährungsverhältniſſen wachſen, ſondern 
auch bald der Kreuzung mit andern Schlägen 
ausgeſetzt, bald auf ſtrenge Inzucht ange— 
wieſen ſind. 

Wenn es richtig iſt, daß die Urſachen 
für die Variabilität und Polymorphie der 
Culturpflanzen in dieſen Verhältniſſen be— 
gründet ſind, ſo iſt es klar, daß bei wilden 
Gewächſ en das Zuſammentreffen analoger 
Bedingungen auch analoge Folgen haben 
muß. Bei den Brombeeren find Kreuzungen 
offenbar leicht möglich; die lange Erhaltung 
einmal gebildeter Formen wird durch die 
ſtarke Vermehrung auf vegetativem Wege 
begünſtigt; ein ſprungweiſes Wandern wird 
durch die harten Steinkerne ermöglicht, 
welche mit den ſaftigen Fruchthüllen durch 
Vögel, Bären und andere Thiere verzehrt 
und dann nach dem Durchwandern des 
Darms an oft weit entfernten Orten aus- 
geſtreut werden. Es iſt nicht unwahrſchein— 
lich, daß die Polymorphie der verſchiedenen 


Gruppen der Gattung Rubus zum Theil | 


Folge einer durch die Bären früherer Zeit— 


alter bewirkten, ſtets wiederholten Miſchung 


der Formen iſt. 

Es fragt ſich nun, in wie weit andere 
wilde Pflanzengruppen ein ähnliches Ver— 
halten der Formenkreiſe zu einander zeigen, 
wie die europäiſchen Brombeeren. Zunächſt 
iſt hervorzuheben, daß ſich innerhalb der 


großen Gattung Rubus dieſelbe Erſcheinung | 
noch mehrfach wiederholt. Die ſüdaſiatiſche 
Gruppe Malachobatus, welche in den Wachs- 


thumsverhältniſſen an unſere Brombeeren 
erinnert, aber einfache, gelappte Blätter 
und unſcheinbarere Blüthen beſitzt, dürfte in 
Bezug auf Polymorphie die europäiſchen 
Verwandten noch übertreffen. Die Rubi 
glandulosi und stipulares der ſüdamerika— 
niſchen Anden zeigen ein ähnliches Verhalten. 
Die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes bei 
dieſen exotiſchen Pflanzen iſt allerdings nicht 
bekannt; wo wir aber in Europa eine ana— 
loge Vielgeſtaltigkeit antreffen, da zeigen 
ſich auch zahlreiche Formen mit ungleich— 
körnigem Blüthenſtaub neben wenigen gleich— 
körnigen. Unter den europäiſchen Gattungen 
verhalten ſich zunächſt Rosa und Crataegus 
ganz wie die Brombeeren, eine Analogie, 
die ſich auch auf die Genießbarkeit der 
Früchte erſtreckt. Mehrere Gruppen von 
Potentilla (z. B. verna - argentea) und 
faſt die ganze Gattung Hieracium zeigen 
ſich ebenfalls in hohem Grade polymorph, 
haben aber ungenießbare Früchte. Fernere 
Beiſpiele dürften die arktiſchen Draben, die 
Dactyloides-Gruppe von Saxifraga in den 
Pyrenäen, viele ſüdeuropäiſche Artengruppen 
von Galium, Centaurea und Dianthus, 
die orientaliſchen Eichen, die ſüdamerika— 
niſchen Cinchonen u. ſ. w. bieten, wenn 
auch die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes 
derſelben nicht bekannt find. 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


127 


Während die genannten Gruppen, welche 
in Bezug auf Polymorphie mit Rubus 
wetteifern, immerhin als Ausnahmsfälle 
aufgefaßt werden können, muß man es ge— 
radezu als Regel bezeichnen, daß die Arten 
des alten Artbegriffs aus mehr oder minder 
zahlreichen ſamenbeſtändigen Racen zuſammen— 
geſetzt werden. Es iſt insbeſondere Jor— 


dan's Verdienſt, auf dieſe Thatſache nach— 


drücklich hingewieſen zu haben. In der 
Regel ſind die Racen ſtandörtlich getrennt, 
auch ſcheinen ſie nicht immer leicht Kreu— 
zungen mit einander einzugehen. Die beſt— 
charakteriſirten Unterarten ſolcher Sammel— 
arten würde man unbedenklich als „gute 
Species“ betrachten, wenn die Mittelformen 
nicht vorhanden wären. Die Eigenſchaften 
einer beſtändigen Unterart werden aber offen— 
bar durchaus nicht durch die Thatſache ver— 
ändert, daß irgendwo Uebergangsglieder 
zwiſchen ihr und einer andern Unterart vor- 
kommen. Nur das künſtliche ſyſtematiſche 
Schema, welches auch auf die Zwiſchen— 
glieder Rückſicht nehmen muß, wird ſich er— 
heblich anders geſtalten, wenn zwei Typen 
durch Uebergänge verbunden ſind, als wenn 
fie iſolirt daſtehen; wiſſenſchaftlich betrachtet, 
bleibt der Unterſchied zwiſchen zwei Formen 
völlig unverändert, mögen ſie überall ſcharf 
getrennt ſein oder nicht. Die Syſtematiker 
haben ſich nicht geſcheut, auf die unerheb— 
lichſten Merkmale hin zwei Formen für ver- 
ſchiedene Arten zu erklären, wenn nur die 
Grenze hinreichend ſcharf ſchien (blaue und 
rothe Anagallis arvensis, ſchwarzblaue und 
weiße Phyteuma), während ſie andrerſeits, 
wie das Beiſpiel von Rubus fruticosus, 
Rosa canina, Euphrasia officinalis u. |. w. 
zeigt, die heterogenſten Typen zuſammen— 
pferchten, ſobald ſie keine beſtimmte Scheide⸗ 
linie ziehen konnten. Ein hübſches Beiſpiel 
bietet das Stiefmütterchen, Viola tricolor, 


128 


welches in einer großen Zahl von beftän- 
digen Racen auftritt. Unter dem Einfluffe 
unbekannter Verhältniſſe, namentlich in 
höheren Gebirgen, kommen von verſchiede— 
nen Racen der Viola tricolor gelbblüthige 
Unterracen vor. Die Syſtematiker nen⸗ 
nen nun alle gelben Formen, ſie mögen 
unter ſich noch ſo verſchieden ſein, Viola 
lutea, während fie für die ſämmtlichen 
bunten den Namen V. tricolor beibehalten. 
Die Sammler ſehen zwar bunte und gelbe 
Formen, die ſich übrigens in jeder Be— 
ziehung gleichen, neben einander wachſen, 
aber fie bringen nur die ſeltene V. lutea 
mit, weil es nach ihrer Meinung nicht der 
Mühe werth iſt, ſich um die „gemeine“ 
V. tricolor zu kümmern. 

Nur unter der Herrſchaft der Doctrin 
von der Speciesconſtanz konnten ſolche natur— 
widrige Grenzlinien durch ganze zuſammen— 
hängende Formengruppen hindurchgezogen 
werden, nur durch den einſchläfernden Ein— 
fluß, den jedes Dogma ausübt, iſt es er— 
klärlich, daß man gedankenlos an Erſchei— 
nungen vorüberging, die ſo ſehr geeignet 
ſind, den Forſchungseifer anzuſpornen. Je 


mehr man ſich in der freien Natur umſieht, 


um ſo mehr erſtaunt man darüber, wie es 
möglich war, die thatſächlichen Verhältniſſe 
ſo einſeitig und verzerrt darzuſtellen, wie 
es in den ſyſtematiſchen Werken gewohn— 
heitsmäßig geſchehen iſt. Die abſonder— 
lichſten Bücher-Species, die ureigenſten Pro— 
ducte des alten Dogma's, werden von den 
Anhängern der Conſtanzhypotheſe mit be— 


ſonderer Vorliebe als die ſchlagendſten Beweis- 


mittel für ihre Ideen in's Feld geführt. 
Dieſer Umſtand zeigt, daß bei ihnen ein 


vollſtändiger Circulus vitiosus von Trug- 


ſchlüſſen beſteht, aus dem nur ein aus— 
dauerndes Selbſtſtudium in der offenen 
Natur herausführen kann. 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. | 


Die für unſere Unterſuchungen wid 
tigſte Thatſache, welche ſich aus der Muſte— 
rung der polymorphen Formenkreiſe ergiebt, 
iſt die, daß von den leichten Variationen, 
wie wir ſie bei einiger Aufmerkſamkeit faſt 
an jeder Pflanzenart wahrnehmen können, 
bis zu dem Formengewirre ſolcher Arten— 
gruppen, wie die Brombeeren und Roſen, 
alle denkbaren Mittelſtufen vorkommen. 
Wenn man ſich, um mur deutſche Pflanzen 
zu nennen, an Suaeda, Salicornia, Ar- 
meria und Polygala, dann an Atriplex, 
Thymus, Draba, Taraxacum und Sele- 
ranthus, endlich an Potentilla, Euphrasia, 
Rumex, Galium und Centaurea erinnert, 
dann wird man ſich bald von der Richtige 
keit dieſer Behauptung überzeugen. Ver— 
gegenwärtigt man ſich ferner die Häufigkeit 
der Mittelformen, den auf Baſtardbildung 


deutenden Blüthenſtaub und die offenbare 


Ungleichwerthigkeit der einzelnen Formen— 
kreiſe innerhalb jeder dieſer Artengruppen, 
ſo wird man ſich ſchwerlich der naheliegenden 
Vermuthung entziehen können, daß Kreu— 
zungen zwiſchen Racen und Arten einen be— 
deutenden Antheil an der Vielgeſtaltigkeit 
der betrachteten Formenkreiſe haben. Die 
Thatſache, daß aus vielen Baſtardformen 
unter Einwirkung beſtimmter Factoren ſamen— 
beſtändige Racen, die ich als Blendarten 
bezeichne, hervorgehen können, darf wohl 
als feſtſtehend betrachtet werden. Aus 
Samen einer wenig fruchtbaren, ihren Merk— 
malen nach entſchieden hybriden Brombeer— 
form (Rub. tomentosus & vestitus) habe 
ich eine habituell ähnliche, aber merklich 
veränderte, völlig fruchtbare Pflanze erzogen, 
welche ſo gut wie vollſtändig mit einer 
wohlbekannten ſamenbeſtändigen Brombeer— 
race (R. macrophyllus hypoleueus) über- 
einſtimmt. Obgleich der vollſtändige Beweis 


des Urſprungs dieſer letzten Form dadurch 


noch nicht erbracht iſt, ſo ſpricht doch die 
Wahrſcheinlichkeit dafür, daß die Sache ſich 


Anſchein hat. 


häufige Kreuzungen mit fruchtbarer Nach— 


Erwägt man ferner die obigen Bemerkungen 
über Culturpflanzen und vergleicht damit 
die geſchilderten Verhältniſſe bei den Brom— 
beeren und andern wilden Pflanzen, ſo wird 
man ſich eine ziemlich deutliche Vorſtellung 
von den Factoren machen können, welche 
für die Beurtheilung der Polymorphie in 
Betracht kommen. Racenkreuzung liefert im 
Weſentlichen das plaſtiſche Material zu den 


aus den Racenblendlingen gehen die geſellig 
entſtehenden neuen Typen hervor, ſo daß 


Anfängen aus verſchiedenen Racen beſteht. 
Unter den neuen Racen werden oftmals 
einige kräftiger oder beſſer accommodirt fein, 
als die alten Typen, und werden ſich unter 
Verdrängung ihrer Mitbewerber weiter aus— 
breiten. Stehen ſich die Racen, welche 
Verbindungen mit einander eingehen, ferner, 
verhalten ſie ſich alſo wie verſchiedene Arten, 
ſo ſind die Kreuzungsproducte in ihrer 
Fruchtbarkeit geſchwächt. Bei langlebigen 
Gewächſen können indeß auch aus ſolchen 


hervorgehen. 


bildung ſtehen mit keinen bekannten That— 
ſachen in Widerſpruch, ſchließen ſich viel— 
mehr genau an alle Beobachtungen über 
die engſten Formenkreiſe, ſo wie an die 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


jeder Formenkreis gleich in feinen erſten 


Artbaſtarden ſchließlich fruchtbare Blendarten 


Dieſe Vorſtellungen über die Arten- 


| 
! 


jo verhält, wie es nach dem Verſuche den | 


129 


Erfahrungen der Gärtner an. Eine weitere, 
wie ich vermuthe, äußerſt wichtige Erſchei— 
nung iſt die der Differenzirung oder Spal— 


tung der Arten in verſchiedene Zweige. 


Berückſichtigt man die große Neigung 
aller Kreuzungsproducte zur Bildung von 


Abänderungen und zur Eingehung weiterer 
hybriden Verbindungen, jo wird man die 
Polymorphie ſolcher Artengruppen, in denen 


Vielleicht werde ich Gelegenheit haben, auf 
dieſe Frage ſpäter einmal ausführlich zu— 
rückzukommen. Dagegen wird es nützlich 
ſein, hervorzuheben, daß von den geſellig 
entſtehenden Racen und Arten ſich in der 


Regel die einzelnen ſtärkeren und beſſer 


kommenſchaft vorkommen, verſtändlich finden. 


neuen Racen und zu den zukünftigen Arten; 


accommodirten Typen über größere Land— 
ſtriche ausbreiten und die nächſtverwandten 
Formen verdrängen oder durch wiederholte 
Kreuzungen abſorbiren. So findet ſich im 
Gebiete jeder Lokalflora von den meiſten 
Arten nur eine einzige Hauptrace vor, ein 
Umſtand, der viel dazu beigetragen hat, 
die Idee von den ſcharfen Artgrenzen zu 
ſtützen. Die Brombeeren und Roſen, von 
welchen ſo zahlreiche Typen neben einander 
beſtehen, bilden durch dieſe Eigenthümlichkeit 


allerdings für das nördliche Mitteleuropa 


Ausnahmefälle. In Südeuropa, ſo wie in 
den Alpen und Pyrenäen wiederholt ſich 
ein annähernd ähnlicher Formenreichthum 
in vielen Artengruppen. 

Die Analyſe der Sammelart K. fruti- 
cosus hat mich genöthigt, für die ſyſte— 
matiſche Darſtellung ſolcher polymorphen 
Formenkreiſe eine neue Methode vorzu— 
ſchlagen, nämlich das Herausheben der 
wichtigſten und verbreitetſten Typen. Es 
würde ſehr fehlerhaft ſein, wenn man die 
bisherigen wirklichen Errungenſchaften der 
Syſtematik preisgeben wollte. Man wird 
ſich nicht mehr darüber ſtreiten, ob die 
engen oder die weiten Formenkreiſe die 
wirklichen und echten Arten darſtellen. Man 
wird beide Auffaſſungen als berechtigt an— 
erkennen und wird, ohne irgendwie in— 
conſequent zu ſein, je nach dem Zwecke 


einer ſyſtematiſchen Arbeit, bald die weiten 


z 


130 


Species, bald die engeren Subſpecies und 
Racen, als die normalen ſyſtematiſchen 
Einheiten hinſtellen können. Man wird 
ferner in polymorphen Gruppen, wie geſagt, 
die wichtigeren Typen unter den ſyſtema— 
tiſchen Einheiten hervorheben und ihnen die 
untergeordneten Formenkreiſe ſo wie die 
Lokalracen anreihen müſſen. Mit dem bis— 
herigen ſinnloſen Aufzählen von Abände— 
rungen des allerverſchiedenſten Werthes 
(ſtandörtliche, krankhafte und andere indivi— 
duelle Modificationen bunt gemiſcht mit 
Hybriden und mit typisch abweichenden 
Racen) unter dem Titel Varietas œ, 5, y 
u. ſ. w. muß indeß gründlich gebrochen 
werden. 
ſichtlichkeit, welche man bisher allein er— 
ſtrebte, darf nicht preisgegeben werden, aber 
neben den tuypiſchen Repräſentanten der 
größeren Formenkreiſe wird die neuere 
Syſtematik auch die Mittelglieder nicht 
unberückſichtigt laſſen, welche ſich nicht den 
Geſammtarten naturgemäß unterordnen 
laſſen, ſondern vielmehr die einzelnen Typen 
mit einander verbinden. Während man 
bisher ängſtlich bemüht war, das Vor— 
handenſein von Uebergangsformen und 
ſchlechten Arten zu verbergen oder zu ver— 
tuſchen, damit nur ja nicht der Ruf der 
„guten Art“, die man beſchrieb, beein— 
trächtigt werde, iſt es die Aufgabe der zu— 
künftigen Syſtematik, die Zwiſchenformen 
ſorgfältig zu beachten, ihre verwandtſchaft— 
lichen Beziehungen zu würdigen und ſie an 
den ihnen gebührenden Platz zu ftellen, freilich 
nicht in Form von „Arten“, die den nor— 
malen Typen gleichwerthig ſind, ſondern in 
organiſchem Zuſammenhange und in be— 
ſcheidener Unterordnung neben diejenigen 
Typen, welche in der gegenwärtigen Periode 
der Erdgeſchichte als die hervorragendſten 
Vertreter ihres Formenkreiſes erſcheinen. 


Die formale, ſchematiſche Ueber- 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


Dieſe Aufgabe der Syſtematik, die L. 
Reichenbach ſchon 1837 (Regensb. Botan. 
Zeit. S. 217) richtig erkannte, muß in 


9 


der Gegenwart nothwendig feſt in's Auge 


gefaßt werden. 

Was wir bisher über die Formen— 
kreiſe der Pflanzenarten wiſſen, verdanken 
wir vorzugsweiſe der Beobachtung in der 
freien Natur, der eingehenden Analyſe der 
Sammelarten. Daneben ſtammt aber ein 
großer Theil unſerer Kenntniſſe aus Her— 
bariumsſtudien, deren Ergebniſſe gegenwärtig 
noch viel zu wichtig und bedeutend ſind, 
als daß ſie entbehrt werden können. Trockne 
Pflanzenbruchſtücke ſind aber offenbar nur 
ein mangelhafter Erſatz für die Unterſuchung 
der Gewächſe an ihren natürlichen Stand— 
orten. Lebendige und entwickelungsfähige 
Organismen darf man nicht wie ſtarre 
Modelle auffaſſen, was bei den Herbariums— 
ſtudien ſo außerordentlich leicht geſchieht. 
Um nun aber wirkliche Fortſchritte zu 
machen, iſt es unerläßlich, mit der Beob— 
achtung der in der freien Natur gegebenen 
Thatſachen das Experiment zu verbinden. 
Freilich ſtellen die Gärtner unzählige wichtige 
Verſuche an, aber die Wiſſenſchaft hat aus 
bekannten Gründen keinen Nutzen davon. 
Außerdem erfährt man hin und wieder 
von wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen über 
den Einfluß des Bodens — ohne chemiſche 
Analyſe, von Hybridiſationen — ohne 
Studium der ſpäteren hybriden Generationen, 
von Ausſaatverſuchen — ohne genügende 
Rückſicht auf Inzucht und Einwirkung be 
nachbarter anderer Racen, von Variations— 
ſtudien — ohne Kenntniß der ſpontau vor— 
kommenden verwandten Formenkreiſe. Man 
wundert ſich dann, daß ſolche „Verſuche“ 
zu keinen allgemeinen Reſultaten führen. 
Streng methodiſche, mit voller Beherrſchung 
der einſchlägigen bekannten Thatſachen durch— 


geführte Verſuchs reihen gehören noch zu den 


größten Seltenheiten. Daß aber Experi— 
mente, welche unter Berückſichtigung aller 
Nebenumſtände angeſtellt werden, auch auf 
dem Felde der wiſſenſchaftlichen Pflanzen— 
biologie die glänzendſten Ergebniſſe liefern, 
das zeigen am beſten die muſtergültigen 
Verſuche Darwin's. 

Es iſt klar, daß derartige Verſuche in 
irgend größerem Maßſtabe nur von Män— 
nern, welche frei über ihre Zeit verfügen, 
durchgeführt werden können. Die Ein— 
richtung ſelbſtändiger botaniſcher Verſuchs— 
gärten muß eine dringende Forderung der 
heutigen Wiſſenſchaft werden. Die Auf— 
gaben, welche einem Verſuchsgarten zu— 
fallen, haben ſämmtlich mehr oder minder 
directe Beziehungen zur Artenbildung. Um 
indeß directe Unterſuchungen auf dieſem 


Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 


Felde in erfolgreicher Weiſe anſtellen zu 
können, muß die Analyſe der polymorphen 
Formenkreiſe voraufgehen, welche allein im 
Stande iſt, dem Gange der Forſchung eine 
beſtimmte Richtung vorzuzeichnen. Durch 
planloſe Ausſaatverſuche wird man zwar 
zu einer Reihe einzelner zuſammenhangsloſer 
Beobachtungen, aber niemals zu ſicheren 
allgemeinen Ergebniſſen gelangen. Eine 
ſorgfältige Unterſuchung der engeren Formen— 
kreiſe iſt daher eine unentbehrliche Vorarbeit 
für alle Studien über das Weſen der or— 
ganiſchen Species. Ein Experiment iſt 
eine Frage an die Natur, welche jedesmal 
beantwortet werden wird, wenn die Frag— 
ſtellung eine richtige war. Um aber die 
Frage richtig ſtellen zu können, muß man 
mit den betreffenden Thatſachen genau ver— 
traut ſein. . 


Kl 


Tamarck und Darwin. 
Lin Beitrag zur Geſchichte der Sutwidlungslehre. 


Von 


8 ist ein erfreuliches Zeichen der 
wahren Wiſſenſchaftlichkeit, des 
a Strebens nach unbefangener Be— 

urtheilung der herrſchenden 
Thecrien und Hypotheſen in der Natur- 
wiſſenſchaft, wenn auch ſie in neuerer Zeit 
mehr als je ihren eigenen Entwickelungs— 
gang zu verfolgen bemüht iſt. 
uns den Charakter, die Eigenſchaften, Fähig— 
keiten und Kenntniſſe eines jeden Menſchen 
erklären können, 
ziehung, ſeinem Bildungsgange, ſeinen Schick— 
ſalen und äußern Verhältniſſen bekannt 
werden, und wir verſuchen, die Anlagen, 
die er mit auf die Welt gebracht hat, von 
dem zu trennen, was gleichſam von außen 
neu zu ihm gekommen iſt; ſo vermögen 
wir uns auch den gegenwärtigen Stand 
einer Wiſſenſchaft erſt dann zu erklären, 
wenn wir uns einerſeits über das innere 
Weſen dieſer Wiſſenſchaft und anderſeits 
über ihren Entwickelungsgang ins Klare 
geſetzt haben. Im individuellen Entwicke— 
lungsgange jedes Menſchen ſind geringfügige 
Verhältniſſe bisweilen von beſtimmendem 
Einfluſſe, während große Erſcheinungen oft 


Wie wir 


wenn wir mit ſeiner Er- 


Dr. Arnold Lang. 
I. 


ſpurlos an ihm vorübergehen. Ebenſo 
bedingen auch im Entwickelungsgange der 
Wiſſenſchaft oft ſcheinbar oder wirklich ge— 
ringfügige Entdeckungen und unweſentliche 
Beobachtungen ganz neue Richtungen, wäh— 
rend ganze große Gruppen zuſammen— 
hängender Thatſachen ſich nicht der Re— 
flexion der Forſcher aufzudringen vermögen. 
Wie der Bildungsgrad eines Menſchen be— 
dingt iſt einerſeits durch die Zahl und Art 
der Eindrücke, die auf ihn einwirken, ander- 
ſeits durch ſeine größere oder geringere 
Empfänglichkeit für dieſe Eindrücke; ebenſo 
hängt auch die Ausbildung der Naturge— 
ſchichte, wie überhaupt aller Wiſſenſchaften, 
einerſeits ab von der Zahl und Art der 
beobachteten und bekannten Thatſachen und 
anderſeits vom Zeitgeiſt. 

Unter allen dieſen Geſichtspunkten iſt 
es außerordentlich intereſſant, die Entwicke— 
lung der Naturgeſchichte und ihrer Verall— 
gemeinerungen um die Wende unſeres Jahr— 
hunderts zu verfolgen. Es war dies für 
die Naturgeſchichte eine Uebergangszeit und 
Uebergangszeiten weiſen überall excentriſche 
Anſchauungen und Ausſchweifungen auf. 


— 


Während im vorigen Jahrhundert unter 
dem Einfluſſe des Zeitgeiſtes, der, zum 
großen Theil beſtimmt durch die Wiſſen— 
ſchaften, auf jede einzelne wieder zurück— 
wirkt, im Allgemeinen einigen wenigen, oft 
unweſentlichen, zum Theil ſchlecht beobach— 
teten Thatſachen eine große Bedeutung bei— 
gelegt wurde, zeichnet ſich unſer Jahrhun— 
dert in der Naturgeſchichte durch das Streben 
einer umfaſſenden und mehr gleichmäßigen 
Berückſichtigung einer möglichſt großen Menge 
von Thatſachen aus. Im achtzehnten Jahr— 
hundert konnten Theorien, wie die Evolu— 
tionstheorie, zu allgemeiner und herrſchender 
Geltung gelangen, Theorien, die ſich auf 
wenige, vereinzelte, zudem ſchlecht verbürgte 
Beobachtungen ſtützten, denen aber von den 
Forſchern eine um ſo größere Bedeutung 
beigelegt wurde, je mehr ſie in den engen 
Rahmen der ihnen von vorne herein plau— 
fiblen Theorien paßten. Zu Anfang un— 
ſeres Jahrhunderts nun ſuchte man ſich 
von dieſen methodischen Fehlern zu emanci— 
piren und das geſammte, inzwiſchen mäch— 
tig angewachſene Thatſachenmaterial für 
Verallgemeinerungen möglichſt gleichmäßig 
zu verwerthen. In Wirklichkeit konnte ſich 
aber die Biologie zu Anfang unſeres Jahr— 
hunderts der mangelhaften Methodik bei 
Verallgemeinerungen nur zum Theil ent— 
ſchlagen, ſie blieb auf halbem Wege ſtehen 
und erzeugte, begünſtigt durch die damalige 
Zeitſtrömung, jene Produkte, die wir unter 
dem Namen der ältern franzöſiſchen und 
deutſchen Naturphiloſophie zuſammenfaſſen. 

Wir können in der allgemeinen Bio— 
logie der erſten Decennien unſeres Jahr— 
hunderts drei Richtungen unterſcheiden, von 
denen die erſte ihrem innerſten Weſen nach 
alle die Mängel des Naturphiloſophirens 
des vorigen Jahrhunderts beſitzt, die an— 
dere neben dieſen Mängeln ſchon die Vor— 


Lang, Lamarck und Darwin. 


133 


theile der neuern naturwiſſenſchaftlichen Me— 
thode in ſich aufnimmt, während eine dritte, 
eigenthümliche und ſehr fruchtbare Richtung 
in der Naturgeſchichte die wahre und rich— 
tige Methode der Naturforſchung zur vollen 
Geltung bringt, zugleich aber die Reſultate 
dieſer Forſchung mit den alten dogmatiſchen 
Ueberlieferungen in Einklang zu ſetzen 
ſucht. 

Die erſte Richtung bildet die ſogenannte 
deutſche Naturphiloſophie, das 
Philoſophiren eines Oken, Schelling 
u. ſ. w. Es mochte den Anſchein haben, 
als ob dieſe Männer auf Grund der em— 
piriſchen Thatſachen der Naturwiſſeuſchaft 
durch Syntheſe ihre Syſteme aufgebaut 
hätten. Dem iſt indeß durchaus nicht ſo. 
Sie haben zunächſt in der rein formellen 
Weiſe eines Hegel aus einem oberſten, 
willkürlich geſetzten Principe Kategorien ab— 
geleitet, in die ſie dann künſtlich genug 
alles Gegebene hinein paßten. Man hat 
dieſe deutſchen Naturphiloſophen bisweilen 
als Begründer gewiſſer Lehren bezeichnet, 
die wie die Zellentheorie, die Wirbeltheo— 
rie des Schädels u. ſ. w. ſeither zu großer 
wiſſenſchaftlicher Bedeutung gelangt ſind. 
Dies iſt indeß nur ſo zu verſtehen, daß 
ſie, überall herumtaſtend, über alles philo— 
ſophirend, hier und da etwas annähernd 
Richtiges getroffen haben, wie ein blindes 
Huhn, das auch bisweilen ein Samenkorn 
findet. Es iſt die ſogenannte deutſche Na— 
turphiloſophie von Oken und Schelling 
für die Naturwiſſenſchaft nichts, als ein 
bisweilen allerdings geiſtreiches Phantaſiren. 

Die zweite angeführte Richtung bildet 
die ältere franzöſiſche Naturphilo— 
ſophie, deren Hauptvertreter Lamarck 
und der ältere Geoffroy ſind. Es ent— 
wickelte ſich dieſe Richtung ganz ſelbſtſtändig 
und unabhängig von der deutſchen Natur- 


134 


philoſophie. Vergleicht man beide Richtun⸗ 
tungen, jo wird mau, wie ich in dem nad) 
folgenden Aufſatze mit Rückſicht auf La— 
marck darzuthun hoffe, nicht lange darüber 
in Zweifel fein, daß die franzöſiſche Natur- 
philoſophie der deutſchen vom naturwiſſen— 
ſchaftlichen Standpunkte aus weit überlegen 
iſt. Wenn auch die franzöſiſchen Natur- 
philoſophen in vielen, ja den meiſten ihrer 
Schlußfolgerungen zu voreilig, kühn und 
unvorſichtig waren und Naturphiloſophie 
mit Metaphyſik vermiſchten, wenn fie 
auch nicht der Verlockung widerſtehen 

konnten, in Disciplinen, deren empiriſcher 
Boden ihnen nicht genau bekannt war, 
umfaſſende Theorien aufzuſtellen; ſo fühlt 
man bei ihnen doch innerhalb ihrer beſon— 
dern Wiſſenſchaft, in der ſie Meiſter wa— 
ren, das Beſtreben heraus, nur auf Grund 
einer möglichſt breiten empiriſchen Baſis 
zu immer höhern Verallgemeinerungen ſich 
zu erheben. 

Die dritte Richtung wird repräſentirt 
durch Cuvier, den Schöpfer der ver— 
gleichenden Anatomie und Palaeontologie. 
In der methodiſchen Sichtung und Bear— 
beitung des Materials iſt Cuvier um 
übertroffener Meiſter. Die Induktion ver— 
bindet er mit der Deduktion zur wahren 
naturwiſſenſchaftlichen Methode. In ſeinen 
erſten, unmittelbar aus den Thatſachen ab— 
ſtrahirten Verallgemeinerungen hat er denn 
auch beim damaligen Stand des naturge— 
ſchichtlichen Wiſſens das Beſtmögliche ge— 
leiſtet. Damit begnügte ſich aber Cuvier 
nicht, ſondern auch er wollte, wie es bis 
zu ſeiner Zeit, ich möchte ſagen Mode war, 
umfaſſende Theorien über die Schöpfungs- 
geſchichte der Erde und ihrer Bewohner 
aufſtellen. Seine eigenen palgeontologiſchen 
Unterſuchungen lieferten Ergebniſſe, die mit 
der moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte in der 


Lang, Lamarck und Darwin. 


genauern Präciſirung Linné's in Wieder— 
ſpruch waren. Nun war aber Cuvier 
ein ſtrenger Anhänger des Speciesdogmas 
und der direkten Schöpfung aller Organis— 
menarten. Um die Reſultate ſeiner eigenen 
Forſchungen mit dieſen ſeinen vorgefaßten 
Anſichten in Einklang zu ſetzen, ſah er ſich 
genöthigt, das Princip der Actualität auf⸗ 
zugeben. Er erſann die Cataclysmen— 
theorie, jene „Möblirungstheorie“, wie 
Carl Vogt ſie nennt, eine jeder Grund— 
bedingung der Naturwiſſenſchaft in's Geſicht 
ſchlagende Lehre, die nun bis zum Auf- 
treten Darwin's die herrſchende blieb. Mit 
dieſer Cataclysmentheorie ſteckt auch noch 
der ſcharfſinnige, für die weitere Entwicke— 
lung der meiſten zoologiſchen Disciplinen 
ſonſt grundlegende Cuvier im naturge— 
ſchichtlchen Aberglauben früherer Jahr— 
hunderte. 

Wir ſtellen uns in den folgenden Zeilen 
die Aufgabe, eine der drei angeführten 
Richtungen, die ältere franzöſiſche Natur- 
philoſophie in ihrem Hauptvertreter Jean 
Lamarck, auf ihre Beziehungen zur neuern, 
durch die Darwin'ſche Theorie reformirten 
Biologie zu unterſuchen. Haeckel war 
wohl der erſte, welcher 1866 in ſeiner 
„Generellen Morphologie“ mit Nachdruck 
Lamarck als den bedeutendſten Vorgänger 
Darwin's bezeichnete und als eigentlichen 
Begründer der Descendenztheorie feierte. 
Er hat indeſſen bloß die wichtigſten Aus- 
ſprüche Lamarck's zuſammengeſtellt, ohne 
näher den innern Zuſammenhang und Ge— 
dankengang ſeiner Schriften darzulegen. Es 
hat ſodann Quatrefages 1868 in 
ſeinem Artikel „Les précurseurs français 
de Darwin“ (Revue des deux Mondes) 
die Beziehungen Lamarck's zu Darwin, 
jedoch nur kurz und unvollſtändig erörtert; 
zudem hat er vorzugsweiſe das Schwache 


und Unhaltbare ſeiner Theorie hervorge— 
hoben. In neuerer Zeit hat Ch. Martins 


Lang, Lamarck und Darwin. 


der neuen franzöſiſchen Ausgabe der „Phi- 
dient, feinen eigenen Forſchungs- und Ent 


losophie zoologique“ und ihrer deutſchen 
Ueberſetzung eine Einleitung beigegeben, 
welche außer der Biographie La marck's 
eine ziemlich eingehende Anführung 
Principien enthält, welche Lamarck und 
Darwin gemeinſam ſind. Hat die Arbeit 
Quatrefage's den Fehler, daß ſie haupt— 
ſächlich die ſchwachen Punkte der Lamarck! 
ſchen Verallgemeinerungen hervorhebt, ſo iſt 
es ein weſentlicher Mangel der Einleitung 
von Martins, daß ſie bloß das berück— 
fitigt, was auch in der Darwin' ſchen 
Lehre zur Geltung kommt. Es bleibt 
deshalb, wie auch der Kritiker der „zoolo— 
giſchen Philoſophie“ betont, eine nochmalige, 
eingehende Analyſe der Lamarck'ſchen Lehren, 
„welche die wiſſenſchaftliche Bedeutung und 
die phantaſtiſchen Verirrungen derſelben im 
Einzelnen klar auseinanderlegt“, ſehr wün— 
ſchenswerth. 


Will man aus den Lehren eines For- 


ſchers vergangener Zeiten Richtiges und 
Wahres herausfinden, ſo muß man den 
Maßſtab der modernen Wiſſenſchaft an ſie 
aulegen, ſich auf den durch dieſe Wiſſen— 
ſchaft am meiſten begründeten Standpunkt 
ſtellen. Allerdings wird man dann oft 
mit einem Maßſtabe meſſen, der ſich im 
Einzelnen ſelbſt wieder als unrichtig er— 
weiſen kann, denn wir meſſen mit dem, 
was wir beim gegenwärtigen Stande un— 
ſeres Wiſſens für richtig halten, oder für 
richtig zu halten gezwungen find. Die Er- 
gebniſſe einer ſolchen Unterſuchung werden 
immer mehr oder weniger ſubjectiver Natur, 
aber dennoch fruchtbar ſein. Will man 
aber einen Forſcher würdigen, ihn begreifen, 
ſo darf man dieſen Maßſtab nicht anwenden. 
Dann muß man ihn vom Standpunkte des 


der 


Wiſſens ſeiner Zeit aus beurtheilen und 
auch, was indeſſen mehr zu ſeiner perſön— 
lichen Würdigung als zu der ſeiner Lehren 


wicklungsgang verfolgen. Die erſtere, ſub— 
jective Unterſuchungsweiſe zeigt uns das 
Richtige und Unrichtige, die letztere, ob— 
jective, das Gerechtfertigte und das nicht Ge— 


rechtfertigte. Die letztere allein kann un— 
bedingt auf dauernden Werth Anſpruch 
machen. 


Wir werden verſuchen, von beiden 
Geſichtspunkten aus Lamarck ſo unbe— 
fangen als möglich zu beurtheilen. Immerhin 
werden wir am meiſten beſtrebt ſein, dem 
objectiven, hiſtoriſchen Geſichtspunkt den 
Vorrang zu laſſen und während der ganzen 
Unterſuchung die Zeit, während welcher 
Lamarck lebte, und den damaligen Stand 
des naturgeſchichtlichen Wiſſens im Auge zu 
behalten. 5 

Wenn wir uns fragen, welches die ein— 
zelnen Disciplinen der Naturgeſchichte ſeien, 
die eine Theorie, wie die Darwin' ſche 
am meiſten ſtützen müſſen, ſo werden wir 
wohl in erſter Linie, was alle Naturforſcher 
einftimmig anerkennen, die Palaeonto— 
logie zu erwähnen haben. Denn die 
Palaeontologie oder Lehre von den 
Verſteinerungen allein liefert uns abſolut 
unbeſtreitbare Anhaltspunkte für die Er- 
kenntniß der erdgeſchichtlichen Aufeinander— 
folge der Organismen. Die Palaeonto— 
logie zeigt uns die wahren Denkmünzen 
der Schöpfung. Eine naturgeſchichtliche 
Schöpfungstheorie muß vor allem mit den 
Thatſachen der Palaeontologie in Einklang 
ſtehen. Eine Palaeontologie war aber zur 
Zeit Lamarck's noch gar nicht vorhanden. 
Es fehlte ihm alſo in erſter Linie dieſe 
weſentliche Grundlage für ſeine Schöpfungs— 
theorie. Erſt ſpäter hat er ſelbſt, mehr 


rr a ET le! 


500 


{9} 


Lang, Lamarck und Darwin. 


aber noch fein eminenter Gegner Cu vier, als die erſte Grundbedingung zur Er— 


die erſten Grundſteine dieſer Wiſſenſchaft 
gelegt. 

Eine andere Disciplin, welche uns über 
das Weſen der Art unmittelbar und beinahe 
ausſchließlich belehrt, welche den Artbegriff 
zu kritiſiren ermöglicht, iſt eine ganz genaue, 
ich möchte ſagen raffinirte Syſtematik, eine 
eingehende Ueberſicht nicht nur aller be— 
kannter Arten, ſondern auch einer möglichſt 
großen Menge von Individuen einer Art. 
Eine ſolche Syſtematik war zwar zu La— 
marck's Zeiten ſchon vorhanden, jedoch 
bei weitem nicht ſo ausgebildet, wie heute. 
Lamarck beruft ſich denn auch ausdrücklich 
auf dieſe Disciplin. 

Eine dritte Disciplin, welche ebenfalls 
direkte Beweismittel liefert, iſt die Bio- 
logie im engern Sinne, die Oekologie 
der Organismen, welche das Leben der Or— 
ganismen, ihre Beziehungen zu einander 
und zur unorganiſchen Natur aufzuklären 
hat. Auch die Oekologie iſt erſt durch 
Darwin und in Folge ſeiner Lehre, zu 
höherer Ausbildung gelangt. 

Waren dies Lehren, welche direkt und 
unmittelbar eine Schöpfungstheorie zu ſtützen 
geeignet ſind, und mit deren Thatſachen 
eine ſolche durchaus in Einklang ſtehen muß, 
ſo giebt es aber noch andere, welche zwar 
nicht direkte Beweiſe liefern, dem philoſo— 
phiſchen Naturforſcher aber für die Er— 
mittelung der Schöpfungsgeſchichte von nicht 
geringerer Bedeutung erſcheinen. Hier ſteht 
in erſter Linie die Embryologie oder 
Ontogenie der Organismen. Auch der— 
jenige, welcher nicht anerkennt, daß die 
Ontogenie mit der Phylogenie in 
urſächlichem Zuſammenhange ſtehe, ein kurzer 
und vielfach gefälſchter Auszug der Stammes— 
geſchichte ſei, muß doch nothwendigerweiſe 
zugeben, daß ſie in neuerer Zeit allgemein 


mittelung des natürlichen Syſtemes der Or— 
ganismen und folglich ihrer Verwandtſchaft 
betrachtet werde. Laſſen wir auch dieſen 
Geſichtspunkt unberückſichtigt, ſo ſteht doch 
die Thatſache feſt, daß hiſtoriſch die An— 
ſichten über die Schöpfung oder Entſtehung 
der Organismen immer in enger Beziehung 
waren zu den Anſichten über das Weſen 
der individuellen Entwickelung. So lange 
diejenige Theorie in der Embryologie all— 
gemein gültig war, welche die Entwickelung 
eines Organismus blos als eine Auswicke— 
lung ſeit Urzeiten vorgebildeter Keime be— 
trachtete, war eine andere Anſicht, als die 
der direkten Entſtehung aller einzelnen Or— 
ganismenarten ganz unmöglich, und an 
genealogiſche Beziehungen der Organismen 
zu einander konnte gar nicht gedacht werden. 
Dieſe Theorie war aber noch bis zum 
Tode Lamarck's die allgemein anerkannte 
und es fehlte alſo auch Lamarck für ſeine 
Verallgemeinerungen über die Entſtehung 
der Organismen diejenige ontogenetiſche 
Grundlage, welche in unſerer Zeit eine ſo 
mächtige Stütze der Darw in' ſchen Theorie 
geworden iſt. 

Von ebenſo großer Bedeutung für die 
Erkenntniß der natürlichen Verwandtſchaft 
d. h. der Stammverwandtſchaft der Or- 
ganismen iſt die vergleichende Ana— 
tomie. Auch dieſe Wiſſenſchaft war zu 
Lamarck's Zeiten noch wenig ausgebildet; 
ſie hatte noch nicht den Character einer rein 
morphologiſchen Wiſſenſchaft, zu der ſie 
erſt Cuvier machte. Auch dürfen wir nicht 
vergeſſen, daß die Zellentheorie, welche 
fo außerordentlich zum Verſtändniß der ent- 
wickelten und ſich entwickelnden organiſchen 
Körper beigetragen hat, erſt Ende der 
dreißiger Jahre begründet wurde. 

Ich erwähne noch als Hauptſtütze der 


Lang, Lamarck und Darwin. 137 


Entwickelungstheorie die Thier- und 
Pflanzengeo graphie, von der zu 
Lamarck's Zeiten durch Buffon kaum die 
einfachſten Anfänge gemacht waren. Alles 


dies ſind Disciplinen der Biologie, weſche 


nur über die Entſtehung der Organismen 
Aufſchluß geben können. Nicht minder als 
mit den Reſultaten dieſer Wiſſenſchaften, 
muß eine richtige Schöpfungstheorie in 
erſter Linie auch mit den Thatſachen einer 
andern Wiſſenſchaft, der Geologie, völlig 
im Einklang ſtehen. Der kindliche Zuſtand 
der geologiſchen Wiſſenſchaft zu Ende der 
vorigen und zu Anfang dieſes Jahrhunderts 
iſt bekannt. Die Geſchichte der Erdober— 
fläche war der Gegenſtand abenteuerlicher 
Speculationen, welche alle das naturhiſto— 
riſche Princip der Actualität mehr oder 
weniger außer Acht ließen. Erſt nach dem 
Tode Lamarck's wies Lyell nach, daß die 


Entſtehung unſerer heutigen Erdkruſte viel 


beſſer zu erklären ſei aus natürlichen, heute 
noch wirkenden Urſachen, als durch die 
Annahme plötzlicher Cataſtrophen, welche 
ihre Urſachen in einer außernatürlichen 
Kraft haben. Daß die Lehre von der 
hiſtoriſchen Entwickelung der Organismen 
auf der Erdoberfläche mit der Lehre von 
der Entwickelung dieſer Erdoberfläche ſelbſt 
in Einklang ſtehen muß, iſt ſonnenklar, und 
es iſt beinahe unbegreiflich, wie Cuviers 
Cataclysmentheorie in der Palaeontologie 
bis zu Darwin's Zeiten allgemein aner— 
kannt neben der durch Lyell reformirten 
Geologie fortbeſtehen konnte. 

Faſſen wir Vorſtehendes zuſammen, fo 
ſehen wir, daß zur Zeit, als Lamarck 
ſeine Verallgemeinerungen über die Ent— 
ſtehung der Organismen begann, alle Dis— 
ciplinen, die nothwendiger Weiſe Grundlage 
ſolcher Verallgemeinerungen ſein müſſen, 
entweder noch gar nicht vorhanden, oder 


doch in höchſt unvollkommener Ausbildung 
waren. Es wird ſich nun fragen, in wie 
weit Lamarck auf Grund der damaligen 
empiriſchen Baſis Vermuthungen, Hypotheſen 
oder Theorien aufzuſtellen berechtigt war; 
es wird ſich ferner fragen, ob Lamarck dieſe 
empiriſche Baſis und zwar unter ausſchließ— 
licher Hinzuziehung des allein naturwiſſen— 
ſchaftlichen Princips der Actualität für ſeine 
Theorien umfaſſend verwerthet oder ob er 
haltloſe und empiriſch unbegründete Hypo- 
theſen aufgeſtellt hat; es wird ſich ſchließlich 
fragen, wie viel Richtiges und Wahres in 
denſelben von dem Standpunkte der Dar— 
win' chen Theorie aus enthalten ſei. Auch 
wird zu beachten ſein, ob die Lamarck'ſchen 
Lehren vor den andern herrſchenden ſeiner 
Zeit durch ausſchließliche Erklärungsverſuche 
aus natürlichen, heute noch wirkenden Ur— 
ſachen einen entſchiedenen Vorzug bean— 
ſpruchen dürfen. Zunächſt werden wir 
einige Bemerkungen über die allgemein 
philoſophiſchen Anſichten Lamarck's machen, 
dann ſeine geologiſchen Theorien beſprechen 
und ſchließlich ausführlicher eingehen auf 
ſeine Anſichten über das Verhältniß der 
Organismenwelt zur anorganiſchen Natur, 
der Thiere zu den Pflanzen, und über die 
Entſtehung der Organismen. Die großartig 
angelegte Pſychologie Lamarck's darzuſtellen 
und zu critiſiren, überlaſſen wir einer ge— 
übteren Feder; ebenſo werden wir die phyſi— 
kaliſchen, meteorologiſchen und chemiſchen 
Schriften als für unſern Zweck werthlos 
und lauter haltloſe, unbegründete Phantaſien 
enthaltend, übergehen. In Betreff der 
Lebensgeſchichte Lamarck's verweiſe ich auf 
Ch. Martin's biographiſche Einleitung zu 
den neuern Ausgaben der „zoologiſchen 
Philoſophie“. 

Chronologie der in Betracht kommenden 
Lamarck'ſchen Schriften: 


158 


Hydrogeologie; 1802. 
Recherches sur l’organisation des 
corps vivans 1802. (?) 
Philosophie zoologique. 


Jahrg. X. 


Ausgabe 1830; neue Ausgabe 1873; 


Lang, Lamarck und Darwin. 


| 


rungen 


1809 2. 


uns mit feinen biologiſchen Verallgemeine— 
beſchäftigen können. Wir machen 
keinen Anſpruch auf vollſtändige und gleich— 


mäßige Behandlung der Lamarck'ſchen 


precedee d'une introduction biographique 


de Charles Martins. Zoologiſche 
Philoſophie, mit einer biographiſchen 
Einleitung von Charles Martins aus 
dem Franzöſiſchen überſetzt von Arnold 


Lang. 1876. 
Histoire naturelle des animaux 
sans vertebres. Introduction. 


1815. Zweite Auflage, durchgeſehen und 


vermehrt von Deshayes und Milne 


Edwards 1835. 


sances de 


1830. 


positives 


1 
Zur Weltanſchauung Lamarck's. 


Bevor wir uns zu der Betrachtung der 


Philoſophie, beſchränken uns vielmehr dar— 


auf, die weſentlichſten Punkte hervorzuheben 
und die Aufmerkſamkeit der Philoſophen 
auf dieſen Mann zu lenken, der auch von 


ihnen vollſtändig ignorirt worden iſt.“) 
In den verſchiedenen Werken Lamarck's 


finden ſich vielfach innere Widerſprüche mit 


ſeiner Philoſophie. Wir benutzen deshalb 
hauptſächlich zwei Werke, in denen ſich eine 


ziuſammenhängende Darſtellung findet, näm- 
Systeme analytique des connais- | 5 ung | Be 


homme lich erſtens, die oben erwähnte Einleitung zur 


Naturgeſchichte der wirbelloſen Thiere und 


| dann ein kleines, ausſchließlich philoſophi⸗ 


biologiſchen Theorien Lamarck's wenden, 


erſcheint es nicht überflüſſig, einen kurzen 


Blick auf feine philoſophiſchen Anſichten zu 
Denn wie feine biologiſchen Ver- 
allgemeinerungen, ſo zeigen uns auch ſeine 
allgemeinen philoſophiſchen Betrachtungen, 


werfen. 


wie er, einerſeits noch im Dualismus 
ſeiner Zeit ſteckend, anderſeits doch ſich ent— 
ſchieden zu einer einheitlichen mechaniſchen 
Auffaſſung der Welt hinneigt. Auch in 
der Philoſophie zeigt ſich bei Lamarck 
jener in der Einleitung erwähnte Uebergang. 
Wenn wir zuerſt mit der Betrachtung 
der Lamar ck'ſchen Weltanſicht beginnen, 
ſo geſchieht dies nicht, weil etwa ſeine bio— 
logiſchen Theorien als Poſtulate eines von 
ihm vorher aufgeſtellten Syſtems aufzufaſſen 
ſind, ſondern deshalb, weil wir dann nach— 
her zuſammenhängend und ununterbrochen 


ſches und pſychologiſches Werk, das La⸗ 
marck ſchrieb, als er ſchon erblindet war, 
nämlich das „Systeme analytique 
des connaissances positives de 
l’homme.“ 

Lamarck ſtellt ſich in erſter Linie die 
Frage: „Auf welchem Wege gelan— 
gen wir zu ſicheren Erkenntniſſen?“ 
Er antwortet darauf: Alle ſicheren 
Kenntniſſe, die ſich der Menſch 
verſchaffen kann, entſpringen aus 
der Beobachtung; die einen erlangen 
wir durch die direkte Beobachtung; die an⸗ 
dern dadurch, daß wir die richtigen Con— 
ſequenzen aus ihr ziehen. Die erſteren ſind 
vollſtändig, ſicher und exact; die letzteren 
nähern ſich mehr oder weniger der Wahrheit, 
je nach dem größeren oder geringeren Grade 
der Vernunft, d. h. der Richtigkeit 

) Wir finden z. B. Lamarck in Lange's 
Geſchichte des Materialismus, obſchon er doch 
dieſelben Probleme wie Condillae, Caba— 
nis und das Systeme de la nature 


eingehend behandelt, mit keiner Silbe er— 
wähnt. 


ſum iſt die unthätige, paſſive, mit 


der Urtheile der Individuen. Außer 
dem, was aus der Beobachtung ſtammt, 
iſt alles, was wir zu denken vermögen, 
Produkt unſerer Einbildungskraft, 
Illuſion. — Wenn alſo nur die Kennt— 
niſſe, die wir direkt oder indirekt durch die 
Beobachtung gewonnen haben, ſicher ſind, 


fo fragt es ſich nunmehr, was denn über- 
änderliche, in allen ihren Verrichtungen 
was beobachtbar ſei. Wir können, ſagt 
Lamarck, blos die Stoffe und Kör- 
per, die wir wahrnehmen, die Bewe⸗ 


haupt der Beobachtung zugänglich, d. h. 


gungen, Veränderungen, Eigen— 


ſchaften und verſchiedenen Erſcheinungen, 


welche dieſe Stoffe und Körper uns dar— 
bieten, und endlich die Geſetze, nach denen 
dieſe Bewegungen, Veränderungen und Phä— 
nomene vor ſich gehen, beobachten. Alle 
dieſe beobachtbaren Dinge bilden im 
Gegenſatz zum Gebiet der Einbil— 
dungskraft das Gebiet der Reali— 
täten. Blos die Kenntniß der zu letz— 
terem Gebiete gehörenden Dinge kann dem 
Menſchen wahrhaft nützlich ſein; alle Er— 
zeugniſſe der Einbildungskraft hingegen, 
mit Ausnahme eines einzigen, der Hoff— 
nung, ſind ſchädlich. — 

Alle Körper, die wir beobachten können, 
ſind in ſteter Veränderung und Be— 
wegung begriffen. Oft gehen dieſe Ver— 


änderungen und Bewegungen jo langſam 


vor ſich, daß wir ſie nicht wahrnehmen 


können. Nichts deſto weniger herrſcht in 
Wirklichkeit nirgends abſolute 
Ruhe. Lamarck ſchließt daraus auf 


eine allgemeine Macht, welche die Ur— 
ſache aller dieſer Bewegungen und Verän— 
derungen ſein müſſe, und nennt dieſe Macht 
die Natur. 

Lamarck unterſcheidet die „Natur“ 


vom „Univerſum“. Das Univer— 


Lang, Lamarck und Darwin. 


keinen eigenen Kräften ausgeſtattete Summe 
aller exiſtirenden Stoffe und 
Körper.“ “) 

„Die Natur iſt eine Ordnung der 
Dinge, die aus der Materie frem— 
den und durch die Beobachtung der Kör— 


per beſtimmbaren Objekten beſteht, deren 


Summe eine ihrem Weſen nach unver— 


abhängige und beſtändig auf alle 
Theile des Univerſums einwir— 
kende Macht bildet.“ **) 

Natur und die dem Univerſum zu 
Grunde liegende Mater ie faßt Lamarck, 
wie wir gleich ſehen werden, ihrerſeits 
wieder auf als Wirkung einer erſten Ur— 
ſache, Gottes. Von der Gottheit können 
wir blos wiſſen, daß ſie exiſtirt, ewig, un— 
beſchränkt und allmächtig ſei. Die Idee 
Gottes ſei kein Produkt unſerer Einbildungs— 
kraft, ſondern, wie er glaubt, eine noth⸗ 
wendige Conſequenz unſerer Beobachtungen, 
eine zwar indirekte, aber ſichere Erkenntniß. 
Ebenſo ſei die Allmacht Gottes eine ſolche 
Erkenntniß. Gott konnte, ſagt Lamarck, 
in Folge ſeiner Allmacht bei der Schöpfung 
in zweierlei Weiſe zu Werke gehen. 

„Es war entweder ſein Wille, alle Körper, 
die wir beobachten können, unmittelbar und 
jeden für ſich zu erſchaffen, ihre Verände— 
rungen, ihre Bewegungen oder ihre Thätig— 
keiten zu regieren, jeden einzelnen von ihnen 
beſtändig im Auge zu behalten und Alles, 
was dieſelben betrifft, unaufhörlich durch 
ſeinen höchſten Willen zu regieren“, oder 
er konnte „ſeine Schöpfung auf eine geringe 
Zahl beſchränken und eine allgemeine, con— 
ſtante, immer durch Bewegungen belebte, 
überall Geſetzen unterworfene Ordnung der 


*) Introd. 2. Ausgabe, Seite 258; Syst. 
analyt. Seite 45. 
) Introd. S. 260; Syst. analyt. ©. 50. 


19 


5 140 
Dinge in's Daſein rufen, mit Hülfe deren 
alle exiſtirenden Körper, alle Veränderungen, 
welche ſie erleiden, alle Eigenſchaften, die 
ſie beſitzen, und alle Erſcheinungen, welche 
viele von ihnen darbieten, erzeugt werden 
können.““) Die Beobachtung der Natur- 
körper und ihrer Veränderungen wird es 
nun möglich machen, zu erkennen, welchen 
von dieſen beiden Wegen der Schöpfer ein- 
geſchlagen hat. Haben wir dies durch um— 
faſſende und übereinſtimmende Beobachtungen 
erkannt, ſo werden wir getroſt und ohne 
Vermeſſenheit behaupten können, daß es 
eben Gottes Wille war, den betreffenden 
Weg einzuſchlagen. Alle Beobachtungen 
weiſen nun nach Lamarck übereinſtimmend 
und überzeugend darauf hin, daß Gott bei 
der Schöpfung ſeiner Werke in der zuletzt 
angeführten Weiſe zu Werke ging. 
Zwiſchen „Erſchaffen“ und „Her— 
vorbringen“ macht Lamarck einen 
ſcharfen Unterſchied. Hervorgebracht 
iſt alles, was auf natürliche Weiſe, 
durch mechaniſche Urſachen entſtanden 
iſt. Erſchaffen iſt alles das, deſſen na— 
türliche Entſtehung wir uns nicht vorſtellen, 
nicht denken können. Die Beobachtung lehrt 
nun, daß alle Körper und alle Erſchei— 
nungen durch mechaniſche, natürliche 


Urſachen hervorgebracht werden, daß alles 


nach beſtimmten und conſtanten Ge— 
ſetzen geſchieht. Nie und nirgends be— 
obachten wir ein direktes Eingreifen der 
göttlichen Allmacht. Alle Erſcheinungen 
laſſen ſich auf die geſetzmäßige, me— 
chaniſche Ein wirkung der Natur, auf 
die Materie zurückführen. Das Zuftande- 
kommen der Natur und der Materie 
ſelbſt aber können wir uns nicht mehr aus 
natürlichen mechaniſchen Urſachen erklären. 


) Syst. analyt. Seite 8 u. 9. 


= Te Teer 
Lang, Lamarck und Darwin. | 


Lamarck nimmt deshalb, wie ſchon ge- 
jagt, für fie eine erſte auß er- und über- 
natürliche Urſache, Gott, an; giebt 
zugleich aber noch die andere Möglichkeit 
zu, daß Materie und Natur unend- 
lich und ewig ſeien. In dieſem Falle 
ſei die Annahme eines Schöpfers, eines 
Gottes, überflüſſig. 

Ob Gott außer der Natur und der 


Materie noch etwas anderes erſchaffen, 


können wir, ſagt Lamarck, nicht wiſſen, 
da alle unſere Kenntniſſe aus der Beobach— 
tung ſtammen. Daß er aber bei ihrer 
Schöpfung keine andere Abſicht hatte, als 
daß ſie exiſtiren, und daß er nicht etwa 
bezweckte, die Entſtehung irgend eines be— 
ſondern Körpers, irgend einer beſonderen 
Erſcheinung (auch des Menſchen nicht aus— 
geſchloſſen) herbeizuführen, das iſt für 
Lamarck unumſtößliche Gewißheit. Blos 
die Exiſtenz der Natur und der Ma- 
terie iſt Zweck Gottes. Alle Körper, 
alle Phaenomena, die wir beobachten, find 
die not hwendigen Reſultate der nach 
rein mechaniſchen Geſetzen geſchehenden 
Einwirkung der Natur auf die Materie; 
mit einem Wort: das Univerſum im 
Sinne Lamarck's iſt das nothwendige, 
mechaniſche und natürliche Produkt der Natur 
und der Materie. 

Die Materie ift, wie alles direkt Er— 
ſchaffene, unzerſtörbar und unver— 
gänglich. Auch nicht das kleinſte Theilchen 
derſelben geht wirklich verloren, keines wird 
wirklich neu gebildet. Nur Gott hat die 
Macht, ihre Exiſtenz aufzuheben. Er hat 


verſchiedene Arten von Materie erſchaffen, 
die den Elementen entſprechen. Die Materie 
iſt ſehr theilbar, aber nicht bis in's Un⸗ 
endliche, nur bis auf die weſentlichen Mole— 
küle. Sie iſt vollſtändig paſſiv, träge, 
ohne eigene Bewegung und Thätig— 


keit. Sie kann aber bewegt werden und tig, keine Intelligenz. Sie iſt ab- 


Bewegungen mittheilen. Sie iſt nothwen— 
digerweiſe ausgedehnt, ſie iſt endlich, 
weil ſie eine Stelle im Raume einnimmt. 
Sie bildet die alleinige Subſtanz der 
Körper. Je nachdem nun ein Körper aus 
der Vereinigung oder Verbindung ver⸗ 
ſchiedener Arten von Materie beſteht, und 


je nach den Beziehungen, welche letztere zu 


einander und zu den umgebenden Medien 


haben, werden verſchiedene Eigenſchaften be- 


dingt. 
der Materie find undurchdringlich und 
untheilbar, wodurch ſie ſich von den 
integrirenden Molekülen der zu— 
ſammengeſetzten Stoffe unterſcheiden, die 


Die weſentlichen Moleküle 


Körper hervor.“ 


theilbar, veränderlich und zer ſtör⸗ 


bar ſind. Die Materie hat nur Eigen— 
ſchaften, keine Fähigkeiten. 
die Bewegung iſt ihr nicht eigen. 
beobachtete oder beobachtbare Erſcheinung 
iſt nothwendigerweiſe entweder das Produkt 
einer Veränderung im Zuſtande eines 


Auch 
Jede 


Stoffes, oder das Produkt von Beziehungen 
Modification eines Körpers, welcher ſeine 


zwiſchen verſchiedenen Arten von Materie, 
von denen wenigſtens eine in Bewegung iſt. 


Sehen wir nun des Näheren, was 


Lamarck unter Natur verſteht. 


Vorerſt 


iſt fie. bei ihm etwas abſolut Im ma- 


terielles. „Die Materie iſt dem, was 
wir unter Natur verſtehen, vollſtändig 
fremd.“ Sie beſteht, um die Redeweiſe 
Lamarck's zu gebrauchen, aus einer 
„Ordnung der Dinge“, welche eine 
Macht bildet, die beſtändig auf die Ma— 
terie und in Folge deſſen auf alle Theile 
des Uni verſums einwirkt. Sie wirkt 
blind, nothwendig, mechaniſch, 
hat keine Abſichten, keinen Zweck 
und kann unter gleichen Verhältniſſen nur 
gleiche Wirkungen hervorbringen. Sie iſt 


weder ſelbſtbewußt, noch ver nünf— 


hängig und beſchränkt. Wie alles 


direkt von Gott Erſchaffene bleibt ſie in 
ihrem Ganzen beſtändig gleich. Nur Gott 


kann ſie aufheben. Die Materie iſt 
ihr einziger Wirkungsbezirk. Ohne 
ein einziges Theilchen von ihr wegnehmen 
oder zu ihr hinzufügen zu können, ver— 
ändert und modificirt ſie dieſelbe beſtändig 
in der mannigfaltigſten Weiſe. Durch das 
unaufhörliche Einwirken dieſer Macht auf 
die Materie werden alle die verſchieden— 
artigen Körper und Erſcheinungen hervor— 
gebracht, die wir beobachten. „Die Natur 
bringt nicht die Materie, ſondern die 
Sowohl die anorga— 
niſchen Körper, als die Thiere und Pflanzen 
ſind Reſultate dieſer Einwirkung der blind, 
gefegmäßig wirkenden Macht der Natur 
auf die Materie. Die „Ordnung der 
Dinge“, welche die Natur ausmacht, be— 
ſteht: 

1) Aus der Bewegung, zu deren 
Kenntniß wir durch die Beobachtung „der 


Lage verändert“, gelangen. Sie iſt uner- 
ſchöpflich, überall vorhanden, aber der 
Materie und den Körpern vollſtändig fremd. 

2) „Aus verſchiedenartigen conſtanten 
und unabänderlichen Geſetzen, nach welchen 
alle Bewegungen, alle Veränderungen, denen 
die Körper unterworfen ſind, vor ſich gehen 
und welche im Univerſum, deſſen Theile 
ſich immer verändern, das ſich aber als 
Ganzes immer gleich bleibt, eine unzer— 
ſtörbare Ordnung und Harmonie her— 
ſtellen“. 

Die Natur verfügt unaufhörlich über 
den Raum, der unbeweglich, durch— 
dringbar und beſtimmt ift, und über 
die Zeit oder die Dauer, welche nur 
eine unendliche oder endliche Continuität 


nn 


142 Lang, Lamarck und Darwin. 


der Bewegung oder der Exiſtenz der 
Dinge iſt. 

Thätigkeit, Geſetze und endloſe | 
Mittel find alſo für die Natur charakte- 
riſtich; die Summe aller paſſiven und 
weſentlich unthätigen Körper bildet das 
Univerſum, das einzige Wirkungsfeld 
der erſteren. 

Das iſt in kurzer, gedrängter Dar- 
ſtellung Lamarck's Philoſophie. Den | 
Encyclopädiſten wird man leicht heraus- 
finden. Sehr vieles erinnert an das 
„Systeme de la nature“: „Das Wort 
Zufall drückt nur unſere Unkenntniß der 
Urſachen aus.“ „Die Unkenntniß der 
Natur iſt Urſache des Unglücks der Men— 
ſchen“. Im Sinne des „Systeme de la 
Nature“ iſt auch die von Lamarck behaup- 
tete Relativität des Guten und Böſen ꝛc. — 
Werfen wir noch einen kurzen kritiſchen 
Blick auf die Philoſophie Lamarck's, 
ſo ſehen wir in erſter Linie, daß Lamarck, 
je mehr er zu höheren Abſtractionen empor= 
ſteigt, um fo mehr in einen ausgeſprochenen 
Dualismus verfällt. So der craſſe Dua- 
lismus in ſeiner Unterſcheidung der Natur 
und des Univerſums, in der Annahme 
einer Einwirkung eines Immateriellen auf 
ein Materielles. Zu oberſt erſcheint dann 
wieder der bekannte deus ex machina, 
jener „Pſeudo-Kraftbegriff“, den Caſpari 
im erſten Hefte dieſer Zeitſchrift ſo treffend 
charakteriſirt hat. Mag nun auch Lamarck 
in ſeiner Philoſophie noch fo ſehr dua— 
liſtiſch und z. Th. teleologiſch, in 
allen Dingen, insbeſondere in der Auf— 
faſſung der Seuſationen, des Raums und 
der Zeit, durchaus nicht kritiſch ſein, 
immerhin wahrt er ganz ausdrücklich für 
das ganze Gebiet der Naturforſchung 
das Geſetzmäßige, Mechaniſche. | 


nothwendig herbeigeführtes Re— 
Huta iſt “ 


=——— — — — ͤ—ůb 


Dies zeigt uns am beſten ein ausgezeich- 
neter Ausſpruch Lamarck's, den wir hier 
in getreuer Ueberſetzung anführen wollen 
und der zugleich uns in das Studium 
ſeiner naturgeſchichtlichen Lehren einzuführen 
geeignet iſt: 

„Hauptſächlich bei den Orga— 
nismen und ganz ſpeciell bei den 
Thieren glaubte man in den Ver— 
richtungen der Natur einen Zweck 
zu erblicken. Ein ſolcher Zweck iſt 
indeß hier, wie anderswo, blos 
Schein, nicht Wirklichkeit. Die 
Wirklichkeit hat bei jeder beſon— 
dern Organiſation unter dieſen 
Naturkörpern eine durch natür⸗ 
liche Urſachen und ſtufenweiſe zu 
Stande gekommene „Ordnung der 
Dinge“, durch eine fortſchreitende, 
von den Umſtänden bedingte Ent— 
wickelung von Theilen das herbei— 
geführt, was nur Zweck erſcheint, 
und was in Wahrheit reine Noth— 


wendigkeit iſt. Das Klima, die 


Lage, die Medien, in denen die 
Organismen leben, die Mittel 
zum Leben und zur Selbſterhal— 
tung, kurz, die ſpecifiſchen Ver- 
hältniſſe, in welchen jede Art lebte, 
haben die Gewohnheiten dieſer 


Art herbeigeführt; dieſe haben die 


Organe der Individuen umge— 
modelt und angepaßt. Die Folge 


davon iſt, daß die Harmonie, die 


zwiſchen der Organiſation und den 


Gewohnheiten der Thiere exiſtirt, 


uns als vorbedachtes Reſultat 
erſcheint, während ſie blos ein 


) Introd. Seite 266 u. 267. 


we 


Die neueſten Ausgaben des Romans 
von der Urweisheit des Menſchengelchlechts. 


Von 


Carus Sterne. 


alter, in welchem alle Thiere 

zahm und giftlos, die Menſchen 
ohne Sünde und Krankheit in göttlicher 
Faulheit bei unſterblichem Ueberfluſſe dahin 
lebten, parallel mit dieſer, in dem ewig 
jungen Sange von der guten alten Zeit 
und der verderbten Gegenwart fortklingen— 
den Herzwunſch-Mythe der Menſchheit geht 
die andere, von dem goldenen Zeitalter des 
Geiſtes und der urſprünglichen Allwiſſen⸗ 
heit des gotterſchaffenen Menſchen. Gehörte 
der Paradieſestraum dem armen, hungern— 


den, überbürdeten und leidenden Volke an, 
fo ſchwelgten in dem Urweisheits-Rauſche 


ſeit jeher die mit ihrer Erkenntnißſtufe un⸗ 
zufriedenen, dürſtenden Forscher. Dieſelbe 
Phantaſie wird uns heute in einer andern 
Abſicht vorgeſpielt, nämlich gleichſam als 
Haupttrumpf und letztes Mittel, um uns 


Civiliſation emporgearbeitet habe, ſondern 
umgekehrt von der höchſten Bildungsſtufe 
in die tiefſte Rohheit herabgeſunken ſei, 
daß die Lehre von dem Sündenfall eine 
tiefe Wahrheit enthalte, und daß Plato 
vollkommen Recht habe, wenn er fordere, 
daß der göttliche Geiſt des Menſchen ſich 
zurückbeſinnen ſoll auf Alles das, was er 
feit feiner Inkarnation vergeſſen habe. 

Mr. Alfred Ruſſel Wallace, den man 
den Stiefoheim der Darwin'ſchen Theorie 
nennen möchte, weil er ſeine Nichte ſehr häufig 
mißhandelt, und von dem es bisweilen 
ſcheint, als arbeite er abwechſelnd mit einer 
oppoſitionellen Hirnhemiſphäre, wenn ſeine 
andre, beſſre Hälfte gerade müde iſt, hat 
mit obiger düſtern Melodie die anthropolo- 


giſchen Sitzungen des vorjährigen Natur- 
forſcher-Congreſſes von Glasgow eröffnet. 


Im Grunde machte ſich der geiſtvolle Forſcher 
dabei nur zum Echo einer gleichgeſtimmten 


zu beweiſen, daß die Wiſſenſchaft wirklich 
umkehren müſſe, da die Menſchheit ſich nicht 
aus einem Zuſtande der Barbarei zur 


Behandlung deſſelben Thema's, welche Mr. 
Albert Mott ſchon 1873 als Präſident 
der Liverpooler philoſophiſch⸗literäriſchen Ge- 


144 Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ıc. 


ſellſchaft vorgetragen hatte, obwohl er noch 
einige Zweiglein und Blumen einflocht, die 
in dem Garten des bekannten ſchottiſchen 
Aſtronomen Piazzi-Smyth gewachſen 
ſind. 

Da ſich die Spitze dieſer neuerweckten 
Doktrin gegen die böſen Fortſchrittler der 
Naturwiſſenſchaft kehrt, welche vermuthen, 
daß das Menſchengeſchlecht ſich umgekehrt 
aus ſehr niedern Anfängen emporgearbeitet 
habe, ſo hat dieſelbe einen ſehr angenehmen 
Klang für alle wohlgeſinnten, conſervativen 
Elemente der Gelehrten-Republik gewonnen. 
Die Rückſchrittstheorie iſt förmlich Mode 
geworden, und auf ihre Statuten ver— 
pflichtet ſich ein Geheimbund, deſſen Ziel 
iſt, zu beweiſen, daß die moderne Willen- 
ſchaft ſich auf gänzlich verkehrtem Wege be— 
findet. Welche Perſpektive thut ſich ihnen 
auf, wenn ſie von dem göttergleichen Adam, 
wie ihn die fromme Bourignon in ihren 
Viſionen geſehen, zurückblickt auf den 
Darwinianer, der ſich nicht mehr ſchämt, 
eine gewiſſe körperliche Aehnlichkeit mit dem 
Affen einzugeſtehen, ja bis zu dem Neger 
und Buſchmann, welcher dieſer Rückbildung 
wirklichen körperlichen Ausdruck leiht! Hat 
doch bereits Mivart angedeutet, daß es 
am Ende leichter ſei, die vier Linien der 
Menſchenaffen vom Menſchen herzuleiten 
als umgekehrt dieſen von ihnen, und es 
ſchließen ſich dann wunderhübſch daran die 
vielſeitigen modernen Beſtrebungen, Am— 
phiorxus und Sackwürmer als degenerirte 
Wirbelthiere, ja die ganze Schöpfung als 
eine durch den Sündenfall aus dem gott— 
gleichen Adam hervorgegangene Familie von 
Rückſchrittlern aufzufaſſen, wie das ja in allem 
Ernſte bereits geſchehen iſt. Es verlohnt 
ſich mithin wohl einmal, dem Urſprunge 
dieſer modiſchen Parodie der Darwin 'ſchen 
Theorie nachzugehen. 


Es ſcheint, daß die älteſten Spuren der— 
ſelben im alten Babylon anzutreffen waren. 
Die Prieſter dieſes allerdings ſehr alten, viel— 
leicht älteſten Kulturvolkes rühmten ſich, wie 
Beroſus verrathen hat, ſeit zwanzigtauſend 
Jahren aſtronomiſche Beobachtungen ange— 
ſtellt zu haben, und man ſprach von einer 
vor der großen Fluth bereits zur höchſten 
Blüthe gediehenen Wiſſenſchaft, deren ſchrift— 
liche Aufzeichnungen Kiſuthrus, der chaldäiſche 
Noah, nachdem ihm die Fluth angekündigt 
worden war, in der Nähe der alten 
Sonnenſtadt Sippara vergraben haben ſollte, 
um ſie den Ueberlebenden zugänglich zu 
machen. Nach hieran ſich knüpfenden egyp— 
tiſchen Sagen wäre dies auch gelungen und 
der Prieſter Manethos ſollte ſeine Auf— 
zeichnungen aus derartigen in Stein einge— 
grabenen, vorſündfluthlichen Nachrichten ge— 
ſchöpft haben. Mit faſt abgöttiſcher Ver— 
ehrung blickten die Griechen auf die Ueber— 
bleibſel jener in Indien, im alten Chaldäa 
und in Egypten gepflegten Urweisheit, und 
ihre Philoſophen pilgerten nach jenen Ländern, 
um wenigſtens einen Bruchtheil der antedi- 
luvianiſchen Philoſophie heimzutragen. 

Fragen wir, worin dieſelbe beſtand, ſo 
heißt es, daß es nicht erlaubt war, darüber 
offen zu ſprechen, daß man ſie nur in 
ſymboliſcher Sprache von Mund zu Mund 
und unter dem Siegel der größten Ver— 
ſchwiegenheit verbreiten durfte. Diodor 


ſagt uns ausdrücklich, daß in den ſamo— 


thrakiſchen Myſterien die Weisheit eines 
durch die große Fluth vertilgten Urvolkes 
mitgetheilt werde; Plato, Cicero, Strabo 
und andere vollwichtige Autoritäten ſtimmen 
in der Andeutung überein, daß dort der 
tiefſte Grund der Dinge, welcher dem Volke 
nur unter Bildern zugänglich ſei, gelehrt 
werde. Man ließ durchblicken, daß dieſe 
Urweisheit der Altvordern eine offenbarte 


geweſen, daß fie als Mitgift des Schöpfers, 
als von vielen Inhabern leider vernachläſſigte 
Erbweisheit zu betrachten ſei. Die 
Babylonier wollten dieſe Offenbarungen von 
einem fiſchgeſtalteten Gott Jannes, die 
Egypter von Thoth, die Etrusker von 
einem Sohne des Jupiter erhalten haben. 
Aber wie geſagt, die Menſchen achteten das 
göttliche Geſchenk nicht, ſie ließen es bis 
auf wenige Spuren verkommen, ſanken 
herab bis zum Nullpunkt des Verſtandes, 
wie ihn etwa die Auſtralier darbieten, ja 
immer noch tiefer, bis auf jene Stufe der 
negativen Weisheit, in der es beſonders 
einige Freunde unſerer Zeitſchrift weitgebracht 
haben ſollen. 

Ohne vorgefaßte Meinungen würde man 
kaum ein Recht haben, die Möglichkeit einer 
ſolchen, durch Fluthen oder andre Erd— 
umwälzungen vernichteten Kultur in Abrede 
zu ſtellen. Allein noch niemals hat man 
in angeſchwemmten Schichten, — es wären 
denn ſolche unſerer Strom- oder Meeresufer, 
— Spuren entdeckt, die man auf eine höhere 


antediluvianiſche Kultur beziehen könnte, 


und die Parteigänger derſelben werden ſich 
bemühen müſſen, dieſelben in von den Meeres— 


wellen überſchwemmten Vorwelten, wie etwa 


auf der vielumfabelten Inſel Atlantis, oder 


auf dem vielleicht ausſichtsreicheren ſubmarinen 
Erdtheil Lemuria zu ſuchen. Dem gegen— 
über glauben Mott und Wallace den 


voll ausreichenden Beweis, daß auch unfre | 


Vorfahren die herabgekommenen, in Un⸗ 


wiſſenheit gefallenen Kinder einer viel weiſeren 


Vorzeit geweſen ſeien, aus den Ruinen der 
Vorzeit führen zu können. Wenn ſich auch 


dabei von einem anfänglich niedern Zu— 
ſtande aus, zu dem die allmälig in die 
Höhe geſtiegenen Kulturen in einem unge— 
heuren Kreislaufe zurückkehren, ſo verräth 


Wallace den Anſchein giebt, als gehe er 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 145 


doch feine Bundesgenoſſenſchaft mit Piazzi- 
Smyth, daß im Hintergrunde ſeiner Ge— 
danken neuerdings wohl die Erbweisheits— 
Theorie Platz gegriffen hat, wie er ſich 
denn auch in ſeiner Rede redliche Mühe 
gegeben hat, die Annäherungen zwiſchen Menſch 
und Thier hinwegzuleugnen. Sein Schluß— 
ergebniß lautet: „daß mehrere, vielleicht die 
Mehrzahl unſrer wilden Völker, (warum 
nicht alle?) die Abkömmlinge gebildeterer 
Racen ſeien, wie denn auch die ihnen be— 
kannten Kunſtfertigkeiten in entfernten Con- 
tinenten mit einander eine erſtaunliche 
Aehnlichkeit darböten, und auf einen ge— 
meinſamen Urſprung von civiliſirteren Na- 
tionen hindeuteten.“ Insbeſondere glaubt 
Wallace mit dem Dr. Daniel Wilſon bei 
den Urbewohnern Nordeuropa's, die durch 
das Klima leicht erklärbaren Spuren einer 
Decadence zu erkennen, da der Menſch 
wahrſcheinlich in ungeheuer zurück liegenden 
Zeiten in wärmeren Strichen zuerſt aufgetreten 
ſei. Es würden demnach die ältern Schichten 
Zeichen einer größern Kunſtfertigkeit als die 
darauf liegenden jüngern aufweiſen müſſen. 
In dem wohldurchſuchten Europa findet 
dieſe neue Anſchauungsweiſe weniger Stützen. 
Aber in Nordamerika, woſelbſt die Europäer 
bei der Entdeckung nur ziemlich rohe In— 
dianerſtämme antrafen, verbergen die Erd— 
ſchichten in der That Ueberbleibſel einer un— 
leugbar höheren und dennoch gänzlich ver— 
geſſenen Geſittung; auf oceaniſchen Inſeln, 
wo heute Kannibalen hauſen, finden ſich 
Spuren von Denkmälern und Bilderſchriften, 
deren Urheber ſicher geiſtig höher ſtanden, 
als die heutigen Bewohner. In Trümmern 
liegen die Wunderbauten der alten Indier, 
Perſer, Chaldäer, Egypter und andrer 
Völker, die vor Jahrtauſenden ſtolz auf 
barbariſche Nachbarn herab ſahen; wilde 


Horden, die keine Ahnung von der Weihe 


er 


des Bodens haben, haufen in den Trümmern. 
Die Blüthe Griechenlands iſt für immer 
verwelkt, und die Ruinen ſeiner Tempel, 
die Fragmente ſeiner Bildwerke ſcheinen be— 
deutungsvoll auf den Verfall der Kunſt 
und Geſittung hinzudeuten, deſſen Endziel 
mithin wäre, daß die Menſchen ſich endlich 
ſelbſt verzehrten und zu Raubthieren würden. 

Gewiß enthält die ſtumme Predigt der 
Ruinen, wie ſie einſt Volney in Worte 
gekleidet, tiefernſte Mahnungen, zweifellos 
ſind in unzähligen Ländern die Menſchen 
von hohen Kulturſtufen hinabgeſunken, faſt 
bis zur Grenze des Thieres, und ſicher iſt 
das Gerede von einem nothwendigen, ge— 
raden Fortſchreiten der Geſittung ebenſo 
falſch, wie das andere von einem zielbe— 
wußten Aufſteigen der Thierwelt bis zum 
Menſchen. Wir haben hier nicht zu unter— 
ſuchen, wie weit das, was wir Kultur 
und Civiliſation nennen, den Keim des 
Verderbens in ſich trägt, nach welchen Ge— 
ſetzen etwa die Staaten entſtehen und ver— 
gehen, ob die Cultur nach Weſten oder 
Oſten ſchreitet; die Frage iſt vielmehr: ob, 
von dem Hinſterben eines einzelnen Cultur— 
volkes abgeſehen, ganz im Allgemeinen der 
Meuſch ſich aus einem Zuſtande der Bar— 
barei und höchſten Rohheit emporgearbeitet 
habe zur höchſten Bildungsſtufe und theil— 
weiſe raffinirtem Luxus, oder ob der um— 
gekehrte Weg der allgemeine ſei. Aus der 
Allverbreitung von Steinwaffen in Schichten, 
die kaum jemals über den Trümmern 
wirklicher Culturſtätten, nicht ſelten aber 
unmittelbar unter denſelben gefunden wor- 
den ſind, hat man bekanntlich die Lehre 
von dem prähiſtoriſchen Menſchen auf- 
gebaut, an deren Stelle Mott und 
Wallace, nunmehr auf einige amerikaniſche 
und ozeaniſche Vorkommniſſe geſtützt, diejenige 
von dem poſthiſtoriſchen Barbaren 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ze. 


ſtellen möchten. Einer der kühnſten Vor— 
kämpfer dieſer verkehrten Welt-Ordnung, 
Herr Hippolyt Clauzel“) hilft ſich noch 
ſchlauer, indem er ſagt: „Der Irrthum, 
daß das Menſchengeſchlecht mit einem Zu— 
ſtande der Wildheit begonnen habe, während 
vielmehr umgekehrt dieſer Zuſtand das 
Endergebniß eines allmäligen, durch die 
Zerſtreuung und Iſolirung auf weiten Ge— 
bieten verurſachten Verkommens geweſen 
iſt, hat unglaubliche Dummheiten (bévues) 
im Gefolge gehabt.“ 

Die Herren Boucher de Perthes, 
Chriſty und Lartet, Fraas, Lyell, 
Lubbock, Virchow und tauſend andere 
Verblendete meinten bekanntlich, in ge— 
wiſſen mehr oder weniger bearbeiteten 
Steinen die rohen Waffen und Werkzeuge 
einer auf den erſten Schritten der Cultur 
befindlichen Urbevölkerung erkennen zu müſſen. 
Thorheit ohne Gleichen! Jene vermeintlichen 
Meſſer und Beile waren nach Clauzel 
die religiöſen Symbole des weiſen Urvolkes, 
ja die in egyptiſchem Styl gehaltenen Dar— 
ſtellungen der vom Himmel herab ge— 
tropften Urweisheit ſelbſt! Sie 
waren zugleich die Abbilder der Paradies- 
frucht, welche die von dem Cherub ver— 
triebenen Menſchen auf allen Wanderungen 
mit ſich führten, wie Hausgötter verehrten 
und einander als Erinnerung an den gött— 
lichen Urſprung in's Grab legten. „Alle 
dieſe Steine“, jo hatte Leguay geſagt, 
„haben den Sinn von Votivgaben; ſie 
entſprechen ſozuſagen den Immortellenkränzen 
und ähnlichen Liebeszeichen, die wir auf die 


*) Le triomphe du Christ, ou de 
couverte d’une science immense perdue de- 
puis 5000 ans. Bergerac 1875. Die hier 
mitgetheilten Stellen ſind dem 3. Kapitel 
(S. 115 — 164) des köſtlichen Buches ent- 
nommen. j 


Gräber unſrer Verwandten und Freunde 
legen, einem Brauche folgend, der ſich im 


Dunkel der Zeiten verliert . . . .. Zu 
allen Zeiten, auf jeder Culturſtufe em— 
pfand der Menſch den Drang, ſeiner Trauer 
äußerlichen Ausdruck zu leihen ..... In 
jenen fernen Epochen nun verfertigte Jeder 
ſeine Opfergabe ſelbſt, formte ſeinen Kieſel, 
und trug ihn ſelbſt herbei. Dieſer Auf— 
faſſung würde am beſten die Verſchiedenheit 
der in den Gräbern zerſtreuten Kieſelſtücke 


einer großen Zahl von weniger geſchickten 
Händen gearbeiteter Stücke unter ihnen.“ 
Zu dieſer wohldurchdachten Vermuthung 
über die Bedeutung der maſſenhaften Werk— 
zeuge in manchen Gräbern, bemerkt Clauzel: 


verſinnlichte, der roheſte Splitter dieſelbe 
Bedeutung 
hatte. Indeſſen, es iſt bemerkenswerth, 
licherweiſe zu Sägen und Schabſteinen 
machen möchte, faſt regelmäßig und zum 
Beweiſe ihrer myſtiſchen Bedeutung die 
Form eines dreiſeitigen Prisma's, als Dar— 
ſtellung der Dreieinigkeit, darboten.“ 


rohen Formen dieſer vermeintlichen Werk— 


zeuge und Waffen ſchließen dürfe, daß man 


damals keine beſſeren im gewöhnlichen Leben 


verwendet habe, ebenſowenig dürfe aus den 
megalithiſchen Bauwerken, den Steinkreiſen 


und rohen Opfertiſchen geſchloſſen werden, 
daß die Erbauer darin etwas ihnen Eben— 


bürtiges, oder gar ihr Höchſtes geleiſtet 


hätten, während ſie doch anderwärts Wunder— 
bauten vollführt hätten, die wir uns ver— 
geblich bemühen, nachzuahmen. Clauzel 
erinnert zur Erklärung der Rohheit dieſer 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 


nicht aus behauenen Steinen 
würde entweiht werden, wenn du ihn mit 
dem Meißel berührteſt“, eine Vorſchrift, 


fluthlichen Kinder der 


dem Cultus gewidmeten Monumente der 


147 


Vorzeit an das göttliche Gebot: „So du 
mir einen Altar errichteſt, ſollſt du ihn 
erbauen, er 


die man ſo gut es anging, noch beim 
erſten Tempelbau zu Jeruſalem durchzu⸗ 
führen ſuchte. Dieſe Bauten der vorſünd— 
Weisheit, waren 
eben abſichtlich roh gehalten, um die 


Afterklugheit des neunzehnten Jahrhunderts 
entſprechen und insbeſondere die Roharbeit 


zu äffen. Von der hohen mathematiſchen 
Bildung legt aber die Bewegung und Auf— 
richtung der koloſſalen Maſſen allein ſchon 
vollgiltiges Zeugniß ab. Daß die Griechen 
und andre Völker in einem wohlüberſehbaren 


Entwicklungsgange begannen, die geheime 
„Man darf nicht vergeſſen, daß in jener 
Zeit, in der man die Gottheit durch Steine 


Mathematik ihrer Urahnen anzuwenden und 
mit Meißel und Loth immer ſchönere 


Tempel zu bauen, war alſo, wie es ſcheint, 
wie das beſtgeformte Stück 


bereits Profanation und Decadence, und 


die rohen Bildwerke der Oſterinſel ſind als 
daß dieſe Splitter, die man heute lächer-⸗ 


abſichtlich roh gehaltene Skulpturen viel— 


leicht von dieſem höheren Geſichtspunkte aus 


„unſrer lieben Frau“ von Melos weit 
vorzuziehen. 
So ſcharfſinnig dieſe von der Rohheit 


der Steinwaffen und der eyklopiſchen Bauten 
Ebenſowenig, wie man alſo aus den 


hergenommenen Gründe für die Superio— 
rität der Urmenſchen auch ſein mögen, man 
kann doch nicht läugnen, daß ſie mehr 
negativer Art ſind, etwa wie man die 
Klugheit am Schweigen und den wahren 
Philoſophen, ſeit Sokrates, am Geſtänd— 
niſſe ſeiner tiefgefühlten Unwiſſenheit er— 
kennt. Allein auch mit poſitiven Gründen 
hat man die niederſchmetternde Botſchaft 


von dem tiefen Sturze des ehemals erha— 


benen Geiſtes zu unterſtützen gewußt, indem 
man gewichtige Spuren einer Urweisheit 
nachzuweiſen ſuchte, welche ſchlechterdings 
nicht irdiſcher Abkunft ſein könnten. Zuerſt 


148 


hat man in dieſer Beziehung auf die ſchon 
im Alterthum angeſtaunten aſtronomiſchen 
Kenntniſſe der Chaldäer und alten Indier 
hingewieſen, welche letzteren den herabge— 
kommenen Söhnen ein Verfahren hinter⸗ 
laſſen haben, nach dem ſie Sonnen- und 
Mondfinſterniſſe faſt mechaniſch an den 
Fingern ausrechnen, indem ſie ein Gedicht 
herſagen und darnach den Termin der näch— 
ſten Finſterniß aus dem vorigen berechnen. 
Beſonders Bailly in ſeiner „Geſchichte 
der Aſtronomie“ bei den Alten hat viel 
dazu beigetragen, daß die aſtronomiſchen 
Kentniſſe der Alten in's Fabelhafte über— 
trieben worden ſind, ſo daß wirklich der 
Zweifel rege werden mußte, ob denn ein 
ſolcher Wiſſensſchatz ſelbſt erworben ſein 
konnte ſchon zu einer Zeit, die nur we— 
nige hundert Jahre nach dem angenommenen 
Geburtsjahre der Menſchheit fiel. Die 
neuere Zeit hat, nachdem die Entzifferung 
der Keilſchriften gelungen iſt, dieſe Angaben 
an ſichern Dokumenten kontroliren können 
und der unheimlichen Urweisheit näher auf 
die Finger geſehen. In der Bibliothek von 
Ninive wurde unter andern eine größere 
Anzahl von Tafeln gefunden, die zu einem 


großen aſtronomiſchen Werke, Namar Bel 


betitelt, gehören, und wie die meiſten 
dieſer Werke im Jahre 700 v. Chr. auf 
Befehl König Sargon's II nach Tafeln ko— 
pirt ſind, die vielleicht tauſend Jahr und 
darüber alt waren. A. H. Sayce und 
andere Keilſchriftkenner haben dieſe Sargon’- 
ſchen Tafeln überſetzt, und es tritt uns 
daraus ein reſpectables Beobachtungsmaterial 
entgegen. Aber einmal zeigen ſich dieſe 
Kenntniſſe tief geſättigt mit aſtrologiſchem 
Aberglauben, dem deutlichſten Merkmal 
einer kaum den Kinderkrankheiten entron— 
nenen Wiſſenſchaft, auf der andern Seite 
begegnet man Angaben über Finſterniſſe, 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 


die nicht zur berechneten Zeit eingetroffen 
waren, wahrſcheinlich, weil man nur ver— 
ſtand, den regelmäßigen Cyclus der Finſter— 
niſſe, nicht aber zu berechnen, an welchen 
Orten der Erde ſie ſichtbar ſein würden. 
So hat man ein Tüfelchen gefunden, auf 
welchem der offizielle Aſtronom Abal-Iſtar 
dem Könige Meldung über eine derartige 
ausgebliebene Sonnenfinſterniß macht. Die 
offenbarte Urweisheit hält alſo im Punkte 


der Aſtronomie keinen Vergleich aus mit 


unſerer ſündlichen, ſelbſterarbeiteten Wiſſen⸗ 
ſchaft. 

Zahlreiche Andeutungen gelehrter Män- 
ner des ſpätern Alterthums hatten, wie 
ſchon oben erwähnt, durchblicken laſſen, 
daß in den Myſterien die Reſte der Ur— 


weisheit, tiefe phyſikaliſche und kosmiſche 


Lehren vorgetragen würden, und die my— 
thologiſche Schule, welche in den erſten 
Jahrzehnten unſres Jahrhunderts herrſchend 
war, die Kanne, Creuzer, Schelling, 
Barth u. A. verſuchten es denn auch, 
alle Mythen des griechiſchen Olymps phy— 
ſikaliſch zu verſtehen, wie es Dupuis 


früher und im Allgemeinen mit mehr Glück 


unternommen hatte, dieſelben aſtronomiſch 
zu deuten. Der gelehrte Hallenſer Phyſiker 
Prof. C. Schweigger unternahm es in 
dieſem Sinne, in zahlreichen Abhandlungen 
den Beweis zu liefern, daß die griechiſchen 
und römiſchen Prieſter die Geſetze des da— 
mals eben erkannten Electromagnetismus 
mindeſtens ebenſo genau gekannt hätten, 
wie Oerſtedt und Ampere, und daß 
man nichts beſſeres thun könne, um den 
Studirenden die ſchwierigſten Probleme an— 
ſchaulich zu machen, als zu der Bilderſchrift 
der griechiſchen Tempel zurückzugreifen. Auf 
Veranlaſſung der neueren Entdeckungen von 
Dümichen und Brugſch, nach denen 
die altegyptiſchen Tempel bereits vor vier— 


tauſend Jahren mit Blitzableitern verſehen 
geweſen zu ſein ſcheinen, habe ich vor einigen 
Monaten dieſes Feld noch einmal gründlich 
durchgeackert, und bin dabei zu bemerkens— 
werthen Reſultaten gelangt, die ich ander— 
wärts veröffentlicht habe, allein ich habe 
mich nicht überzeugen können, daß das Alter— 
thum über die leicht zu erwerbende Kenntniß 
der Thatſache, daß die Luftelectrizität ſich 
an metallenen Gegenſtänden herableiten und 
anhäufen läßt, weit hinausgekommen ſei. 

Vor Allem aber haben einige Winke 
des alten Herodot und Strabo, nach 
denen in den äußern Ausdehnungen der 
großen Pyramide von Gizeh gewiſſe mathe— 
matiſche Verhältniſſe und beſtimmte Maß— 
einheiten niedergelegt ſeien, die Alterthums— 
forſcher gereizt, hier ein unvergängliches 
Denkmal der offenbarten Urweisheit zu 
erkennen, und daraus die tiefſten Geheim— 
niſſe der Welt abzuleiten. Bereits im 
Jahre 1637 ſuchte der Oxforder Profeſſor 
John Greaves dieſe Geheimniſſe der 
großen Pyramide mit der Meßſchnur zu 
ergründen, und die Gelehrten der fran— 
zöſiſchen Expedition Le Pere und Cou— 
telle fanden, daß die Angabe des Strabo, 
die Höhe des Baues gleiche genau einem 
egyptiſchen Stadium, bewunderungswürdig 
zutreffe, woraus weiter folge, daß die 
alten Egypter vor undenklichen Zeiten 
Gradmeſſungen mit einer Genauigkeit aus— 
geführt hätten, die man damals kaum 
übertraf. In unſerm Jahrhundert widmete 
zuerſt der engliſche Oberſt Howard Vyſe 
der großen Pyramide ein dreibändiges 
Werk (1837), in welchem er auf Grund 
der Meſſungen ſeines Ingenieurs Perring 
wunderbare Dinge entdeckt hatte. Ihm 
folgte der Ingenieur Wild aus Zürich, 
der in dem Verhältniſſe der Maße eine 
großartige architektoniſche Vorführung des 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 


149 


pythagoräiſchen Lehrſatzes erkannte. Mr. 
John Taylor aus London veröffentlichte 
jodanı 1864 die große Entdeckung, daß 
in dem Maßverhältniß der Pyramidenhöhe 
zur Summe der Baſis-Kanten die Lu dolf'- 
ſche Zahl mit Ludolf'ſcher Genauigkeit 
mehrere tauſend Jahre vor demſelben archi— 
tektoniſch verewigt ſei. 

Aber alles das waren nur die Vor— 
läufer der pyramidalen Entdeckungen, welche 
der ſchottiſche Aſtronom Piazzi-Smyth 
an der großen Pyramide machen ſollte, 
Entdeckungen, die darauf abzielen, zu zeigen, 
daß dieſe Pyramide ein von Gott in— 
ſpirirtes Werk iſt, in welchem die 
größten phyſikaliſchen und aſtronomiſchen 
Entdeckungen unſerer Tage, die Maße des 
Weltalls, vorweg deponirt ſind, vor welcher 
die Kepler, Newton, Herſchel und 
Humboldt das Haupt neigen ſollen, in 
Demuth bekennend, daß ſie mit der ge— 
offenbarten Weisheit der großen Pyramide 
keineswegs concurriren können. Seit dem 
Jahre 1864 hat Piazzi Smyth eine 
Bibliothek von ſechs, zum Theil ſehr dicken 
Bänden über das ehrwürdige Bauwerk ver— 
öffentlicht, von denen wir hier nur auf 
den letzten verweilen”), da er die vollſtän— 
digſte Ueberſicht giebt. Wir wollen die 
wunderbaren Reſultate dieſer Pyramiden- 
weisheit zur Beſchämung der modernen 
Forſchung hier nochmals zuſammenſtellen: 
1) Die Höhe der Pyramide entſpricht einem 
Milliardſtel der Entfernung der Sonne 
von der Erde, mit einer Genauigkeit, wie 
man ſie 1867 noch nicht erreicht hatte, 
und erſt in den jüngſtverfloſſenen Jahren 
berechnet hat. 2) Die Pyramide iſt ſo 


genau nach den Himmelsgegenden orientirt, 
wie es z. B. Tycho de Brahe bei ſeiner 


) Our Inheritance in the great Pyramid. 
II. Ed. London. 1874. 


150 


Sternwarte auf Uranienberg trotz allen 
augewendeten Fleißes nicht eyreichen konnte. 
3) Das Gewicht der Pyramide entſpricht 
auf ein Haar dem Hundertbillionften Theil 
des Erdgewichtes. 4) Ein halbes Milliard— 
ſtel des Erddurchmeſſers entſpricht genau 
dem Pyramidenzoll, der Maßeinheit der 
Stiftshütte und des Weltalls. 5) Die 
Baſis-Kanten ergeben in Pyramiden- 
ellen die Tage eines Jahres bis auf den 
Bruch. 6) Die Länge des Jahreswegs der 
Erde um die Sonne beträgt auf den 
Schritt genau hunderttauſend Millionen 
Pyramidenzolle. Ich will nur noch ſumma— 
riſch erwähnen, daß in dem Innern der 
Pyramide ein Gefäß gefunden wurde, deſſen 
Inhalt mit Waſſer gefüllt, zur Beſtimmung 
des Pyramidenpfundes dient und zugleich 
die mittlere Erddichtigkeit ausdrückt, daß 
die Richtung des geneigten Hauptganges 
der Pyramide das Erbauungsjahr angiebt, 
und gleichſam den unverrückbaren Zeiger 
der Weltenuhr darſtellt, welcher das durch 
das Vorrücken der Nachtgleichen gegebene 
große Weltenjahr abmißt, nach welchem 
die Conſtellationen des Weltalls wieder— 
kehren. 

Man kann ſich denken, mit welchem 
Enthuſiasmus die Reſultate dieſer Unter— 
ſuchungen, welche die moderne Wiſſenſchaft 
vor der offenbarten Urweisheit demüthigen 
ſollen, von chriſtlich konſervativen Männern 
aufgenommen worden ſind. Eine Menge 
derſelben, von denen ich nur Prof. Hamilton 
Smith in New-York, Sir John Vincent 
Day in Glasgow, Mr. James Simpſon, 
Mr. Waynman Dixon, Sir John 
Herſchel erwähnen will, haben ſich mit 
Smyth vereint, um den Triumph der offen— 
barten Weisheit voll zu machen und Sir 
Alfr. Ruſſel Wallace hatte Recht, ſich 
in ſeiner Rede über die richtige Auffaſſung 


Re 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 


des Entwicklungsganges der Menſchheit 
hauptſächlich auf die großen Entdeckungen 
Smyth's zu berufen. Man darf gewiß 
auch ferner noch auf die überraſchendſten 
Enthüllungen aus dieſem Kreiſe für die 
Verbreitung höherer Wahrheit rechnen. 
Schon haben ſie entdeckt, daß in der großen 
Pyramide nicht nur, wie in einem Grund— 
ſteine, der Bauplan und die Maße des 
Weltalls niedergelegt ſeien, ſondern daß 
darin auch das Jahr der Sündfluth, der 
Geburt und des Leidens Chriſti, des Welt— 
untergangs u. ſ. w. zwar nur in Maß⸗ 
zahlen, aber dem geſchärften Auge deut— 
licher als wenn es geſchrieben ſtünde, 
niedergelegt ſind. Mein verehrter College, 
der Herausgeber des Pariſer Kosmos, 
Abbé Moigno, einer der eifrigſten Partei— 
gänger der Pyramidenweisheit, hat die bis— 
herigen Reſultate derſelben in einem Buche?) 
geſammelt, welches ich den auf ein weiteres 
Eindringen in dieſelbe begierigen Leſern 
empfehlen kann. i a 

Es bleibt mir nur noch übrig, auf 
einige Umſtände hinzuweiſen, welche alle 
dieſe hochgelehrten Herren für unweſentlich 
halten und darum in ihren Schriften zu 
erwähnen unterlaſſen, nämlich darauf, daß 
wir eigentlich gar nicht genau feſtſtellen 
können, wie hoch die Pyramide, wie lang 
ihre Kanten und ſonſtigen Dimenſionen 
geweſen ſind. Bekanntlich fehlt derſelben 
die ſcharfe Spitze und die geſammte äußere 
Bekleidung, und je nachdem man die letz— 
tere etwas dicker oder dünner annimmt, 
kann man durch Multipliciren und Di— 
vidiren jede beliebige Zahl herausrechnen, 
die man ſich zu finden vorgeſetzt hat. So 
hat denn auch einer der begabteſten Schüler 


*) La grande Pyramide, ses mer- 
veilles, ses mysteres et ses enseignements. 
Paris 1875. 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc— 


Smyth's, Herr A. Dufeu, Mitglied 
des egyptiſchen Inſtitutes zu Paris, in 
vollem Ernſte, aber zum Entſetzen des Mei— 
ſters, aus den Dimenſionen der großen Py— 
ramide herausgerechnet“), daß deren Erbauer 
wahrſcheinlich Amerikaner geweſen ſind, 
was vortrefflich mit der Hypotheſe des 


Herrn Wallace von der Urweisheit in 
Nordamerika ſtimmt. 

Nicht ganz ſo ernſthaft ſind vielleicht 
die Rechnungen des Herrn Prof. Wacker— 
barth in Upſala zu nehmen, der nach An— 
leitung des ſchottiſchen Aſtronomen aus den 
Dimenſionen ſeines Fortepiano die wunder— 
bare Zahl ebenfalls herausrechnete und 
dieſelbe ferner in der Höhe der Pauls— 
kirche (314 Fuß) ausgedrückt fand, wäh— 
rend Sir Henry James aus dem merk— 
würdigen Umſtand, daß die Länge eines 
Aequatorgrades 365,234 engliſche Fuß be— 
trägt, alſo durch 1000 dividirt genau die 
Tage des Jahres ergiebt, ſich zu dem 
Schluſſe berechtigt fand, daß der engliſche 
Fuß ebenſo gut ein inſpirirtes Weltallsmaß 
ſein müſſe, wie die famoſe Pyramidenelle. 
Clauzel glaubt aus dem Umſtande, daß 
das „älteſte Gebäude der Welt“ zugleich 
das „gelehrteſte Haus“ ſei, ſchließen zu 
dürfen, daß ſehr wohl die Völker der ſo— 
genannten Steinzeit die heruntergekommenen 
Nachkommen eines weiſen Urvolkes, deſſen 
Bildungsſtufe der unſrigen gleichkam oder 


ſie weit übertraf, geweſen ſein können; wir 


ſchließen uns hingegen lieber der Meinung 


Wackerbarth's an, daß Zahlen in der 


Hand eines Träumers ein gefährliches 
Spielzeug ſeien, und daß man ein ſehr 
„gelehrtes Haus“ ſein könne und doch Ein— 


) Decouverte de Page et la véritable 
destination des quatres Pyramides de Gizeh, 


prineipalement de la grande Pyramide. | 
Paris 1873. 


151 


fälle haben kann, wie das bekannte ein— 
fältige alte Haus. 

Da die Parteigänger der pyramidalen 
Urweisheit insgeſammt ſtarke Bibelgläubige 
ſind, ſo will ich ihnen in allem Ernſte zu 
bedenken geben, daß ihre Lehre höchlichſt 
entſchieden der Bibel zuwiderläuft. 
Denn dieſe lehrt bekanntlich, daß gerade 
mit dem Genuſſe vom Baume der 
Erkenntniß die Sünde in die Welt kam, 
und dieſe Mythe iſt in ihrer Art zehnmal 
gedankenreicher und ſchöner als die, daß 
eine im Beſitze der höchſten Weisheit 
befindliche Menſchheit ſo dumm geweſen 
ſein ſollte, dieſelbe freiwillig wieder zu ver— 
ſcherzen. Indiſche, perſiſche und turaniſche 
Sagen ſtimmen darin völlig mit der ſe— 
mitiſchen Mythe überein, und ich kann den 
Herren Smyth und Moigno nur ſoweit 
Recht geben, als ſie behaupten, die Urheber 
dieſer Mythen ſeien ſchlauer geweſen als 
ſie ſelbſt. Dem Herrn Hippolyt Clauzel, 
der in den ſteinernen Werkzeugen der Vor- 
zeit gleichzeitig das himmelstropfenförmige 
Symbol der Urweisheit und des Apfels, 
durch den ſie verloren ging, erkennen will, 
und der in den geſammten religiöſen Bild— 
werken des Erdballs nichts als Wieder— 
holungen dieſer Sündenfall-Mythe zu er— 
kennen im Stande iſt, deſſen erſte Frage 
ſtets lautet: Oü est la femme? und die 
zweite: Oü est la pomme? — möchte ich zu 
bedenken geben, ob nicht vielleicht die Auf— 
faſſung des Herrn Victor Guerin bibel- 
gemäßer ſei, der vor drei Jahren einen 
Haufen ähnlicher Kieſelwerkzeuge, die er in 
einer Höhle fand, für die Werkzeuge er— 
klärte, deren ſich Joſua zu ſeiner berühmten 

gaſſenoperation bedient hat, und von denen 


ein Theil ja wohl über die geſammte Erde 


verftrent worden fein mag. Die andern, 


die mich tadeln möchten, derartigen Träume— 


— — — 


152° 


reien ſoviel Rückſicht geſchenkt zu haben, 
mögen ſich zu meiner Entſchuldigung des 
alten Wortes erinnern: Diffieile est, satiram 
non seribere! 

Mit dieſen Urweisheits-Doctrinären, 
welche ſagen: „die Wilden aller Zeiten waren 
und find Abkömmlinge urweifer Menſchen,“ 
kann ein Mann von dem weiten Blicke 
Wallace's natürlich nicht in allen Stücken 
gemeinſchaftliche Sache machen. Er wünſcht 
zunächſt nur Zweifel zu erregen, ob man 
ein Volk der Vorzeit oder Gegenwart, 
überhaupt nach der Beſchaffenheit ſeiner 
Geräthe und Lebensweiſe prähiſtoriſch nennen 
dürfe, und für dieſen Einwurf darf ihm 
die prähiſtoriſche Forſchung dankbar ſein, 
obwohl ſie denſelben Grundſatz längſt, z. B. 
den jetzt ſo tief rangirenden Auſtraliern 
gegenüber, geltend gemacht hat. Wir würden 
dieſes Muſterbeiſpiel für ſehr viel glücklicher 
halten, als die beiden von Wallace aus— 
führlich dargelegten Beiſpiele der Urbe— 
wohner Nordamerika's und der Oſterinſeln. 
Die Steinbildwerke der Letzteren bezeichnen 
unſres Bedünkens keine beſonders bemerkens— 
werthe Culturſtufe und von den Urameri— 
kanern ſchließt Wallace ſelbſt, aus dem 
unähnlichen Profil der Pfeifen-Bildwerke, 
daß ſie nicht die Ahnen der nachherigen 
Landinhaber geweſen ſeien. Laſſen wir der 
Kürze halber die Beweiskraft jener plafti- 
ſchen Schöpfungen unangezweifelt, ſo ſtehen 
wir nur einer amerikaniſchen Parallele zu 
der lokalen Vernichtung alteuropäiſcher Cultur 
durch aſiatiſche Horden gegenüber. 


Nur auf einen Umſtand möchte ich zum 


Schluſſe noch aufmerkſam machen. Wallace 
meint, daß zu einer derartigen Degeneration 


Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 
2 ) 


BET EEE IE 


ähnliche ungeheure Zeiträume gehören möchten, 
als zur Erwerbung einer durchaus ſelbſtän— 
digen Cultur. Abgeſehen davon, daß wir 
in einzelnen europäiſchen Ländern während 
des Zeitraums weniger tauſend Jahre 
mehrere Schwankungen von ausgezeichneter 
Cultur zu verhältnißmäßig auffallender 
Verwilderung verfolgen können, ſo werden 
unter Umſtänden ſogar wenige Generationen 
hinreichen, um aus den Kindern eines hoch— 
gebildeten Volkes „Steinmenſchen“ zu machen. 
Man braucht nur an die Robinſonaden zu 
denken, deren Urbild Grimmelshauſen im 
Simpliciſſimus geſchaffen hat. Denkt man ſich 
einige Familien der gebildetſten Klaſſen 
Rußlands oder Frankreichs nach einem 
öden Theil Sibiriens verwieſen oder nach 
einer iſolirten Inſel deportirt, ſo wird ihre 
Nachkommenſchaft ohne Spezialkenntniſſe in 
der Metallgewinnung oder Mineralkenntniß, 
vielleicht ohne Erze, gar bald wieder in 


den Zuſtand des Steinmenſchen hinabſinken 


können. Wallace deutet indirekt darauf 
hin, daß ein ſolches Verhältniß auch viel— 
leicht bei dem europäiſchen Urmenſchen an— 
zunehmen ſei, und will ſich, wie es ſcheint, 
daraus erklären, daß die Schädelunterſchiede 
zwiſchen dem vorhiſtoriſchen und dem heu⸗ 
tigen Durchſchnitts-Europäer fo gering aus- 
fallen. Weit entfernt die Nützlichkeit ſolcher 
Erwägungen zu verkennen, hielten wir es 
doch für angezeigt, zugleich auf die Aus— 
wüchſe der Degenerations-Hypotheſe hinzu— 
weiſen, zu welcher die Gegenwart in Be— 
folgung der weltgeſchichtlichen Regel, welcher 
die Echternacher Springproceſſion thatſäch— 
lichen Ausdruck giebt, lebhaft hinzuneigen 
ſcheint. 


Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Tieder 
der Ehrüer 


von 


1 Dr. Martin Sckultze. 


e enn Jemand das verdienſt- großen Ganzen fallen jedoch jene vier Pe— 


liche, aber freilich ſchwierige 
> Werk, eine Geſchichte der 
\ Mythologie zu Schreiben, 
b übernehmen wollte, ſo würde 
er wahrſcheinlich dazu kommen, ſeinen Ge— 
genſtand in folgende vier Perioden einzu— 
theilen: 
1) Die Zeit der Mythenbildung, 
2) Die Zeit der Tradition, 
3) Die Zeit der Kritik, 
4) Die Zeit der Reconſtruction. 
Natürlich gelten dieſe vier Perioden nicht 
für die ganze Welt, ſondern höchſtens für 
ein einzelnes Volk. Während z. B. im ge— 
bildeten Europa die Mythologie bereits in 
ihre letzte Phaſe eingetreten iſt, befindet ſie 
ſich bei den „culturloſen“ Völkern andrer 
Erdtheile noch heute in der erſten. Ja 
ſogar innerhalb deſſelben Volkes decken ſich 
die Perioden nicht ganz. Während man in 
den Metropolen der Intelligenz bereits re— 
conſtruiert, oder wenigſtens kritiſiert, blüht 
in ſtillen Gebirgsthälern noch die Tradition, 
wenn nicht gar die Mythenbildung. Im 


rioden mit denjenigen der Culturgeſchichte 
zuſammen. 

In der vorhiſtoriſchen oder, wenn 
der Ausdruck erlaubt iſt, „culturloſen“ 
Zeit bilden ſich die Mythen in der Weiſe, 
daß zunächſt auffallende Vorgänge des täg— 
lichen Lebens beſprochen werden. Hauptge— 
genſtände dieſer Beſprechung ſind: die Be— 
reitung künſtlicher Nahrungsmittel, die Er— 
zeugung des Feuers, die Herſtellung von 
Waffen, Kleidungsſtücken und Geräthen, 
ſowie, bei ſeßhaften Völkern, die landwirth— 
ſchaftlichen Arbeiten. Wenn der kräftige 
Mann mit dem Grabſtocke, ſpäter mit dem 
Pfluge, Furchen in den Erdboden riß, um 
dann die Saat hinein zu ſtreuen, und zwar 
im Herbſt, vor dem erſten Schneefall, ſo 
hieß es: „der Starke folgt dem Rei 
ßenden, bis der letztere im Schnee fteden 
bleibt.“ — Sodann werden die menſchlichen 
Verhältniſſe auf das Außermenſchliche über— 
tragen. Man beſprach die auffallenderen 
Naturerſcheinungen in ähnlicher Weiſe. Wenn 
z. B. im Hochſommer die gelb flammende 


Sonne mit verſengendem Strahl die Men— 
ſchen traf, ſo ſagte man: „der Starke iſt 
zum gelben Mähnen-Löwen geworden.“ 

Mit dem Beginn der Geſchichte, 
d. h. zu der Zeit, wo die Völker ſich auf 
ſich ſelbſt beſinnen, die Thaten ihrer Vor— 
fahren im Gedächtniß behalten und ſpäter 
ſogar aufzeichnen, da wird aus dem Be— 
ſprechen ein Erzählen, aus der Mythen— 
bildung eine Tradition. Beſtimmte Hel- 
den treten an die Stelle der unbeſtimmten, 
ſtets wechſelnden Perſonen der frühern Pe— 
riode. Es heißt nicht mehr: „der Starke 
folgt dem Reißenden“, ſondern „der 
ſtarke Sohn der Alkmene folgte dem 
reißenden (erymanthiſchen) Eber bis in 
den Schnee.“ Ferner: „derſelbe ſtarke Held 
warf die gelbe Löwenhaut über die Schultern.“ 
Dies iſt die Zeit, in der einerſeits die 
breite Proſa-Erzählung zur Entwickelung 
kommt, wie bei den Semiten, andrerſeits 
die epiſche Poeſie ihre erſten Blüthen treibt, 
wie bei den Indogermanen. 

Wenn es dann zur Bildung der Wiſſen— 
ſchaft kommt, d. h. wenn die Völker an- 
fangen, darüber nachzudenken, ob das Ge— 


auch die Mythologie in das Stadium der 
Kritik. Dieſe Periode iſt, wie es in 
der Natur der Kritik überhaupt liegt, nicht 


die bisherige Entwickelung, iſt jedoch nichts— 
deſtoweniger nothwendig als Vorſtufe zur 
Erkenntniß der Wahrheit. Sie, die Periode 
des Zweifels, beginnt für die griechiſche 

eythologie bereits im Alterthume. Das 
chriſtliche Mittelalter ſodann negiert zwar 
die Berechtigung der alten Mythen über— 
haupt, begnügt ſich indeß mit dieſem allge— 
meinen Proteſte, ohne im Einzelnen Kritik 
zu üben. Erſt die neuere Zeit nimmt dieſe 
wieder auf. Immer ſicherer wird die Unter— 


154 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 


glaubte auch wahr und wirklich iſt, ſo tritt 


ſcheidung zwiſchen Geſchichte und Sage. 
Man bleibt jedoch hierbei nicht ſtehen, ſon— 
dern ſucht auch bereits den Sinn der 
Mythen zu deuten, ſo gut man es ver— 
mag. Dieſe Deutungsverſuche ſind zuerſt 
völlig phantaſtiſcher Natur. Man traut den 
mythenbildenden Völkern eine Beobachtungs— 
gabe, einen Schönheitsſinn, eine Natur- 
ſchwärmerei zu, die ſie nie gehabt haben. 
Inzwiſchen iſt die vergleichende Sprach— 
wiſſenſchaft erſtanden, und ihr folgt nun 
auf dem Fuße die vergleichende My— 
thologie. Bisher unverſtandene Namen 
werden jetzt richtig gedeutet, und man lernt, 
durch Vergleichung verwandter Sagen, das 
Wichtige vom Unwichtigen, das Nothwen— 
dige vom Zufälligen ſcheiden. Dabei geht 
man jedoch einſeitig zu Werke, indem man, 
ohne Rückſicht auf die gegebenen Verhält⸗ 
niſſe, der Sprachwiſſenſchaft allein das 
Recht zuerkennt, in Sachen der Mythologie 
zu entſcheiden. 

Endlich erhebt die rationelle Natur- 
forſchung unſrer Tage ihr Haupt; und 
hiermit tritt die Mythologie in ihr viertes 
Stadium, das der Reconſtruction. 
Soll einmal ein einzelner Name genannt 


werden, fo könnte wohl auch hierfür der- 
jenige Darwin's als epochemachend gelten. 
Man fängt an, den Menſchen ſelbſt als 
productiv, ſondern hemmt im Gegentheil 


Naturproduct anzuſehen und, beſonders in 
ſeinen tieferen Entwickelungsſtufen, zu ſtu— 
dieren. Dadurch fällt ein unerwartetes Licht 
auf die vorhiſtoriſchen Zuſtände der Cultur⸗ 
völker, und wie mit einem Schlage er— 
ſteht in zauberhafter Klarheit die alte. 
Märchenwelt vor unſern Blicken wieder. 
Es iſt, als ob Herbſtnebel bis dahin die 
Ausſicht gehemmt hätten. In ihnen wogte 
es wohl von Geſtalten; dieſelben waren 
aber alle mehr oder weniger dunkel und 
unerkennbar. Jetzt tritt der erſte Froſt ein, 


Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 


und plötzlich ſehen wir mit Erſtaunen vor 


uns die ſilberne Pracht des bereiften Waldes. 
Er iſt zwar todt; die herrlichen Sagenge— 
ſtalten der Vorzeit ſind nicht mehr fähig, 
ſich weiter zu entwickeln. Aber wir ſehen 
ſie nun greifbar vor uns; wir brauchen 
blos die Hand auszuſtrecken, um den Duft 


der Poeſie abzuſtreifen und dann den Stamm 


des uralten Baumes ſelbſt zu faſſen. Frei— 
lich iſt dieſer innerſte Kern der Sagen 
lange nicht fo ſchön, wie die ihn umklei— 
dende Hülle ahnen ließ. 

Dieſen Weg hat die griechiſche Mytho— 
logie, und mit ihr die indogermaniſche 
überhaupt, genommen. Anders iſt es der 
ſemitiſchen, ſpeciell der ebräiſchen, er— 


gangen. Während die griechiſche Mythologie | 


durch das Chriſtenthum gewiſſermaßen ge— 
tödtet wurde, durfte die ebräiſche ſich zwar 
nicht in voller Freiheit weiter entwickeln, 
wie etwa die indiſche, wurde jedoch noch 
im Stadium der Tradition von der neuen 
Religion aufgenommen und als Heilig— 
thum ſorgfältig conſerviert. Als es daher 
ſchon lange zu einer kritiſchen und ſogar 
reconſtructiven Behandlung der griechiſchen 
Sagen gekommen war, galt es noch immer 
als Sacrilegium, die ebräiſchen Mythen, 
die uns Geneſis, Richterbuch u. ſ. w. 
(natürlich in der Form von Geſchich te) 
darbieten, mit kritiſcher Hand anzutaſten. 
Erſt im fünften Jahrzehent dieſes Jahr— 
hunderts wagte F. Nork von einer „My— 
thologie“ der Bibel zu ſprechen. Freilich 
fehlte ihm noch der Schlüſſel, den uns 
nicht allein die Sprachwiſſenſchaft, ſondern 
vor allen Dingen die Naturkunde (Anthro— 
pologie, Ethnologie) darbietet. Zur För— 
derung der Kritik haben dann mit mehr 
oder weniger Glück beigetragen: Schwenk, 
J. Braun, H. Steinthal, F. Grill, 
J. Goldziher u. A. Ich ſelbſt habe es 


155 


verſucht, die Reſultate der Naturforſchung 
mit denen der Sprachvergleichung zu ver— 
einen, um ſo eine Reconſtruction der ebräi— 
ſchen Mythologie anzubahnen, nicht ohne 
darin von Männern wie O. Caspari, 
A. de Gubernatis, Fr. von Hell- 
wald, H. Pfannenſchmid unterſtützt 
und ermuthigt, von anderer Seite natür— 
lich angegriffen zu ſein. Oft habe ich ge— 
wiß noch zu kurz, bisweilen auch wohl 
über das Ziel hinaus geſchoſſen. 

Im Folgenden iſt der Verſuch gemacht, 
den ſpärlichen Reſten der alt-⸗ebräiſchen 
Volkspoeſie, ſoweit fie ſich auf den Yand- 
bau beziehen, mit vorurtheilsfreiem Blicke 
zu begegnen, und zwar mit der beſtimmten 
Erwartung, in ihnen nicht unwichtige Auf— 
ſchlüſſe über Sitten und Sagen der Ebräer 
zu finden. 

Zum richtigen Verſtändniß der in den 
Text der bibliſchen Bücher eingeſtreuten 
Lieder iſt Folgendes zu beobachten. Die 
Lieder ſind offenbar älter als der Proſatext. 
Beſonders die Ueber- und Unterſchriften 
(Ex. 15, 1; Gen. 49, 28) gehören einer 
ſpätern Zeit an und find ganz bedeutungslos.“ 
Auch ſpruchartige Einſchiebſel und An— 
hängſel (Gen. 49, 18; Richt. 5, 31) ſind 
auszuſcheiden. Die Lieder ſind nur aus 
ſich ſelbſt, nicht aus der ſie begleitenden 
Erzählung, zu erklären. Bei der Neigung 
jüngerer ebräiſcher Schriftſteller, die Pro— 
ducte der älteren zu ihren Zwecken zu ver— 
wenden und tendenziös umzugeſtalten, 
kommt es hauptſächlich darauf an, die 
Tendenz zu entdecken. Da die große Mehr- 
zahl der ſpäteren Schriftſteller dem Levi— 
tismus angehört, ſo iſt beſonders auf dieſe 
Richtung in den Liedern, die im Uebrigen 
ein alterthümliches Gepräge haben, zu 
achten und die Ausſcheidung der dahin 
zielenden Stellen und Ausdrücke zu ver— 


21 


156 


ſuchen. In den allerälteſten Liedern, be— 
ſonders in denen iſraelitiſchen Urſprungs 
(Nicht. 5), iſt auch der Gottesname Jah ve 
(Jehova) verdächtig. Entweder ſind ganze 
Stellen, in denen er vorkommt, als unächt 
auszuſcheiden, oder an ſeiner Statt iſt ein 
anderer (etwa Baal, Adon, El zu denken. 
Auch darauf iſt zu achten, daß die Sprache 
der älteſten Lieder eine andere iſt als die 
der ſpäteren Schriftſteller, und daß manche 
Ausdrücke, die der ſpätere Redactor vielleicht 
ſelbſt nicht mehr verſtand, aber doch als 
werthvolle Trümmerſtücke in dem überar- 
beiteten Texte ſtehen ließ, nicht aus der 
gewöhnlichen ebräiſchen Schriftſprache erklärt 
werden dürfen, ſondern aus einer Ver— 
gleichung derſelben mit andern ſemitiſchen 
Dialecten, beſonders mit dem Arabiſchen 
und Aramäiſchen. So iſt zu addirim, 
Richt. 5, 13, ſyr. edr-o, Tenne, zu ver- 
gleichen, zu gidgöt, Richt. 5, 11, arab. 
gad dat, cadaqat, Gabe, Geſchenk. 

Wenn wir dieſe Grundſätze zunächſt 
auf das kleine Lied anwenden, das der 
levitiſche Erzähler dem Joſua in den 
Mund legt (Joſ. 10, 12), ſo können wir 
nicht umhin, es für ein benjaminitiſches 
Schnitterlied zu erklären und, in freier 
Form, etwa ſo zu überſetzen: 

Ach, bleib', du Sonne, bleibe, 

In deinem Haus zu Gibeon! 

Verbirg die helle Scheibe, 

Du Mond, im Thal von Ajalon! 

Habak. 3, 11 wird geſchildert, wie 

Sonne und Mond beim Herannahen des 
Gewitterſturmes ſich in ihren „Wohnungen“, 
d. h. hinter Wolkenmaſſen, bergen, oder, 
wie es im Texte heißt, in ihrer Wohnung 
„ſtehen bleiben“ Camad zebuläh). Hier 
in unſerm Liede bitten, meiner Anſicht nach, 
die bei der „ländlichen Campagne“ be- 
ſchäftigten Schnitter die Sonne und den 


Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 


Mond, ſie mögen „aufhören“ (dom), näm⸗ 
lich zu wandern, alſo „ſtehen bleiben“, na— 
türlich nicht irgend wo auf dem Wege, 
ſondern in ihren Wohnungen, hinter Wolken. 
Der Himmel möge ſich mit Wolken bedecken 
während der Ernte, das iſt der Wunſch 
der Arbeiter und der Sinn dieſes kleinen, 
aber viel beſprochenen Liedes. Daß Gibeon 
und Ajalon genannt werden, läßt auf ben— 
jaminitiſche Sänger ſchließen. 

Die verſchiedenen Sprüche, die dem 
Simſon in den Mund gelegt werden 
(Richt. 14, 14, 18 und 15, 16), haben 
es zweifellos mit dem Landbau zu thun 
und bilden, wie es ſcheint, ein Ganzes. 
Ich habe hier verſucht, daſſelbe, natürlich 
auch in freier Form, wieder herzuſtellen, 
und möchte es als danitiſches Ernte— 
lied bezeichnen. 

Von dem Würger kam Speiſe, 

Und Süßes vom Starken. — 
Was iſt ſüßer als Honig, 

Was ſtark wie der Löwe? — 
Doch vor Allem iſt nöthig 

Zur Löſung des Räthſels: 
Mit dem Pfluge zu folgen 

Dem Wagen der Sonne. — 
Dann erliegen wohl Tauſend 

Den kräftigen Streichen; 
War es gleich nur die Sichel, 

Die nieder ſie ſtreckte. 

Der „Würger“, der mähnenumflatterte 
Löwe, iſt das Sinnbild der ſtrahlenden 
Sommerſonne, deren menſchliche Incarnation 
Sim ſon iſt. Die Sonne giebt Speiſe, 
indem ſie das Getreide reift, ſie giebt auch 
die Süßigkeit des Honigs, den die Bienen 
im Sommer ſammeln. Doch von ſelbſt 
wächſt kein Getreide; es muß erſt geſäet 
ſein. Darum iſt es nöthig, „mit Simſon's 
(alſo der Sonne) Wagen zu pflügen“, 
d. h. mit der Sonne aufzuſtehen und, ſo⸗ 
lange ihr Wagen (oder Rad) am Himmel 


8 5 


Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 157 


rollt, mit dem Pfluge zu arbeiten. Der den ſchwerſten Aufgaben der Exegeſe jeder 


Ausdruck GLI IJ, mit Vocalen egläti, 
der gewöhnlich durch „mein Kalb“ überſetzt 
wird, iſt wohl richtiger durch „mein Wa— 
gen“ wiederzugeben, v. a gala h. Der 


Sonnengott beſitzt zwar, nach einer andern 


Vorſtellung, auch Rinder, nämlich die 
vor der Sonne herziehenden Wolken. Mit 
dieſen Rindern wird aber nicht gepflügt, 
alſo ganz gewiß nicht mit einem einzigen 
Kalbe. Erſt der ſpätere Proſabericht, 
der dem Simſon ein Weib gab, verſtand 
den Ausdruck ſo. 

Ueber den Ausdruck „Eſelskinnbacken“, 
1E hi hamör, der ein Wortſpiel bildet 
mit „ein Haufen, zwei Haufen“, hamör 
hamorätajim (wie der Schnitter zählt, 
wenn er mit jedem Streiche eine Schwade 
niederſtreckt) bitte ich, mein „Handbuch der 
ebr. Mythologie“, S. 170, 187 u. 86, 
zu vergleichen. Hier nur ſo viel, daß ſich 
derſelbe möglicher Weiſe, wenn wir uns die 
Wörter vocallos und defectiv geſchrieben 
denken (alſo LH HMR), auch 18 ah (oder, 
in archaiſtiſcher Weiſe, mit vocaliſchem Aus- 
gang, lEhi) hömer leſen und durch 
„Kraft der Erde“ überſetzen ließe. In 
jedem Falle iſt darunter die in der älteſten 
Zeit aus Feuerſtein, dem kräftigſten 
Product des Erdbodens, geſchlagene Sichel 
zu verſtehen, die in ihrer Form allerdings 
dem Kinnbacken eines Eſels gleicht. 
Mit ihr werden die Tauſend Getreide— 
halme niedergemäht, gerade ſo, wie die den 
Furchen entſproſſenen „Männer“ der Ar⸗ 
gonautenſage durch den „Stein“, welchen 
Jaſon unter ſie wirft, umkommen. — 

Das wunderbarſte und wohl auch älteſte 
größere Stück der ganzen Bibel iſt das 
„Deboralied“, Richt. 5. Leider iſt es von 
den levitiſchen Redactoren ſo gründlich ver— 
arbeitet worden, daß ſeine Erklärung zu 


Richtung gehört. Nur bei ausgedehnteſter 
Anwendung der oben angegebenen Grund— 
ſätze iſt es möglich, den urſprünglichen 
Sinn des ſchönen Liedes zu deuten. 


Wie daſſelbe jetzt vorliegt, läßt es ſich 
in fünf Abſchnitte zerlegen, die ſehr ver— 
ſchieden find an Alter und Werth. Die 
Einleitung, Richt. 5, 2—3, iſt ohne Zweifel 
unächt, d. h. jünger als der Kern des 
Gedichts. Ebenſo unächt iſt der Schluß, 
V. 28 ff., der von der Mutter Siſſera's 
handelt. Von den übrigen drei Abſchnitten 
iſt der mittelſte, V. 14 18, urſprünglich, 
wie mir ſcheint, eine beſondere kleine Dich— 
tung geweſen, welche in alterthümlich ein— 
facher Weiſe die zehn Stämme des iſrae— 


litiſchen Volkes aufzählt und kurz charak⸗ 
terifiert. Etwas Aehnliches beſitzt die angel— 
ſächſiſche Literatur in dem „Wandererliede“, 
wo ein alter Sänger ebenfalls kurze No— 
tigen über die ihm bekannten Völker und 
Stämme giebt. Aus der älteſten griechiſchen 
Literatur gehört der homeriſche „Schiffs— 
katalog“, Il. II, 484, hierher. Der in 
Rede ſtehende Abſchnitt des Deboraliedes 
dürfte urſprünglich, wenn man die nicht 
hinein gehörigen Beziehungen ausſcheidet, 
etwa ſo gelautet haben: 


Du, Ephraim beſchirmſt des Landes Grenze, 

Nebſt Benjamin, der Beduinen Nachbar. 

Verſtänd'ge Richter ſandte uns Machir. 

Vom Stamme Sebulon kam Mancher her, 

Der mit des Sängers Stab das Land durch— 
zog. 

Zum Thal hinab erſtreckt ſich Iſaſchar. 

An Bächen lagert Ruben, hohen Muthes. 

Vom Jordan öſtlich hauſet Gilead. 

Auf Schiffen wandert Dan; auch Aſſer 
wohnt, 

Des Meeres Strand entlang, an ſeinen Häfen. 

Das Volk von Sebulon und Naphthali 

Plagt mit des Feldes Arbeit ſich zu Tode. 


P — , K 


Ze 
158 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. N 


Dieſer „Deboraſegen“ iſt eins der äl— 
teſten und wichtigſten hiſtoriſchen Documente. 


Nur Stä werden genannt. Weder . f 
Nur zehn Stämme 9 Du Barak, auf, ergreife deinen Raub! 


Juda, noch Levi und Simeon ſtehen in 
irgend welcher Verbindung mit Iſrael, 
ſondern dieſelben werden noch, wie es ſcheint, 
von den ſüdlich ſchweifenden „Beduinen“ 
(im Texte: Amalekitern) nicht unterſchieden. 

Ephraim „beſchirmt des Landes Grenze“, 
nach dem Texte: hat ſeine Wurzel, d. h. 
ſein äußerſtes Ende, in Amalek. — Der 
Stamm Machir heißt ſpäter Manaſſe, der 
Stamm Gilead: Gad. Von der danitiſchen 
Colonie zu Lais (Richt. 18) weiß das Lied 


ichts, ſondern berichtet nur, daß die 
Ba 0 15 „das Da liegt er rund zu ihren Füßen nun. — 


Daniter am Meere wohnen. Daß Machir 


zwiſchen Ephraim und Sebulon genannt 


wird, ſcheint zu beweiſen, daß darunter 
Weſt-Manaſſe zu verſtehen iſt, nicht 
der gleichnamige Stamm, der öſtlich vom 
Jordan hauſte. 

Es bleiben noch die beiden Abſchnitte 
des Deboraliedes übrig, die recht eigentlich 
hierher gehören und die ich als Lied auf 
den Kreislauf des Jahres bezeichnen 
möchte, nämlich Richt. 5, 4 — 13 und 
19 — 27. Ich überſetze dieſelben, natürlich 
ganz frei, wie folgt: 

Von Süden zieht der Herr der Welt heran, 

Von Edom's Feld, es bebt der Erde Grund, 

Des Himmels Wolken ſtrömen Regen nieder. 

In Jael's Tagen ſind die Wege leer, 

Und Straßenwandrer ziehen krumme Pfade. 

Es feiert noch die Schnitterſchaft im Land, 

Solange, bis Debora ſich erhebt 

Und eine Mutter wird in Israel. 

Dann kommt's zum Kriege mit den Stachel— 
trägern, 


Obwohl nicht Schild, noch Speer in Israel. 


Dann reitet Niemand wohl auf ſchönem Zelter, 
Und Keiner ruht auf weichem Teppich dann, 
Auch wandert Niemand auf des Landes Wegen, 
Der nicht mit Freuden lauſchte dem Geſange 
Der Schnitter, die da ſchreiten in den Furchen 


en 


Und Gottes Güte, wie des Landes Frucht, 
Die reichlich wachſende, im Liede feiern. 
So ſing', Debora, nun auch du dein Lied; 


Dann ſteigt der Reſt hinab zu weiten Tennen 
Nun ziehen die Berather in den Streit. 
Um Silber freilich wird hier nicht gerungen- 


Des Himmels Strahl hat Siſſera gereift. 


Schon wallt es auf wie in des Kiſon's Fluthen. 
Tritt auf, o meine Seele, nun mit Kraft! 
Und nieder raſſelt's wie von Roſſes Hufen. 
Geſegnet ſei im Zelt die Zauberin, 


Die Milch ſtatt Waſſer reicht in weitem Kruge. 


Zum 


Schmiedehammer greift ſie mit der 
Rechten 


Und ſenket Siſſera ins Haupt den Pflock. 


Ob die erſten Verſe (V. 4 und 5) 
dem urſprünglichen Liede angehört haben, 
oder ob daſſelbe mit: „In Jael's Tagen“ 
begann, wage ich nicht zu entſcheiden. Sicher 
iſt die zweite Hälfte von V. 5 einer der 
ſpäteren Zuſätze; ebenſo die Worte: „in 
Samgar's Tagen“ ꝛc. (V. 6.). Auch V. 9 
bleibt wohl am beſten weg, ebenſo ſcheinen 
die Worte: „da ſtieg das Volk Jahve's 
zu den Stachelträgern hinab“, V. 11, nur 
eine Wiederholung aus V. 8. Unächt iſt 
ferner der Zuſatz „Sohn Abinoam's“ bei 
dem Namen Barak, V. 12. 

In der zweiten Hälfte des Liedes iſt 
die Ortsbeſtimmung „zu Thaanach am 
Waſſer von Megiddo“, V. 19, wohl ſpä— 
terer Zuſatz. Sicher iſt endlich V. 23 
unächt, wo dem zweifelhaften „Meros“ 
und ſeinen Bewohnern geflucht wird. Der 


Gottesname iſt natürlich überall zu ändern. 


Wenn der Sonnengott ſeinen tiefſten 
Stand im Süden erreicht hat und, im 
Mittwinter, wieder aufzuſteigen beginnt, 
alſo ſcheinbar von Edom her nach Iſrael zieht, 
da „triefen die Wolken von Waſſer“, 


dem in Paläſtina gewöhnlichen Herbſt- oder 


Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 


Früh-Regen. Auch Gewitter find in dieſer 
Zeit nicht ſelten, vor ihnen erbebt die 
Erde. Dies Alles könnte auch ein ſpäterer 
Zuſatz ſein, der unter dem „Heraufziehen 
des Herrn“ das Herankommen eines Ge— 
witters von Süden her verſteht, wie Habak. 
3, 2 ff. Von hier an aber iſt der Sinn 
des Liedes klar. 

Der Name Jael bedeutet den Srein— 
bock. Wenn die Sonne in ſeinem Zeichen 
ſteht, im December, bedeckt das Regen— 
waſſer, möglicher Weiſe ſogar der Schnee, 
alle Straßen; die wenigen Wanderer müſſen 
„krumme Pfade“ gehen, auf hervorragende 
Steine treten. Auch wenn man annimmt, 
daß das Lied aus einer Zeit ſtammt, wo 
auf die himmliſchen Zeichen noch nicht ge— 
achtet wurde, ließe ſich doch der Steinbock, 
das winterliche, in hohen Berggegenden 


heimiſche Thier, als Sinnbild des Winters 
auffaſſen, ſowie die Biene, Debora, als 
das des Sommers. 


Die Schnitterſchaft (peräzön; vgl. 
arab. faraza, trennen, abſchneiden) feiert, 
bis die Biene (Deböräh) ſich erhebt (ſchwärmt) 
und zur Mutter wird, d. h. bis die junge 
Bienenbrut erſcheint, im Frühling, wo die 
Ernte in Paläſtina beginnt. Die Stadel- 
träger (eigentl. die Struppigen, Starren— 
den, V. 8 und 11), mit denen es nun 
zum Kriege kommt, ſind nichts weiter, als 
die Getreide-Aehren, die von den Schnittern 
abgemäht werden. Nun vernimmt man 
überall die Stimme der „Schneidenden 
zwiſchen den Waſſerrinnen“, wie es wört— 
lich heißt (V. 11). Der „Geſang der 
Debora“ (das Summen der Bienen) wird, 
während der Ernte, immer lauter. Es 
ſcheint beinahe, als ob das viermal wieder— 
holte ür, „erhebe dich“, dies Geſumme 
nachahmen ſollte. — Jetzt aber ergreift 


Barak (der Feuerſtrahl, Feuerbrand) 


193 


jeinen Raub, d. h. die Stoppeln der Halme 
werden mit Feuer abgebrannt, wie dies 
im Orient noch heute üblich iſt. Gleich— 
zeitig ſteigt der Reſt (die abgeſchnittenen 
Aehren) hinab zu den Tennen (V. 13), 
wörtlich „den weiten“ (Flächen), wo die 
Körner von Rindern oder andern Thieren 
ausgetreten werden, wie ebenfalls noch 
heute im Orient. Damit iſt die Ge— 
treide-Ernte, gegen Pfingſten, zu Ende, 
und auch die erſte Hälfte des Liedes. 

Die zweite Hälfte (V. 19 ff.) ſchildert 
die Weinleſe, die in Paläſtina im Oc— 
tober beginnt. Unter den „Königen Ka— 
naan's“, wie der Text hat, ſind gewiß 
nicht Feinde Iſrael's zu verſtehen, wie der 
ſpätere Redactor es erſcheinen läßt, ſondern 
die iſraelitiſchen Winzer ſelbſt. Ich habe 
das Wort für „König“ durch Berather 
überſetzt, ſeinem Verbalſtamme entſprechend. 
Vielleicht hatte der urſprüngliche Text ein 
anderes Wort. Die Ortsbeſtimmung „zu 
Thaanach“ iſt wohl, wie ſchon bemerkt, 
ſpätere Zuthat, obwohl ſich annehmen 
läßt, daß gerade dort der Weinbau ganz 
beſonders blühte. 

„Des Himmels Strahl hat Siſſera 
gereift“. Im Text ſteht dafür: „die Ge— 
ſtirne von ihren Bahnen haben mit Siſſera 
gekämpft“. Den Namen Siſſera (bei 
den LXX Iroaee) erkläre ich, aus dem 
Arabiſchen, als Milch (si) des Muthes 
(sara) und verſtehe darunter den Wein, 
der auch dem Feigen Muth giebt. 

„Tritt auf, meine Seele, mit Kraft!“ 
mögen ſich wohl die Kelterer zugerufen 
haben, wenn es im Keltertroge, unter 
ihren Füßen, roth aufwallte, wie wenn 
des Kiſon's Woge Blut und Leichen dahin 
wälzt. Daß in der fröhlichen Zeit der 
Weinleſe viel geſungen und gerufen wurde, 
wiſſen wir auch aus andern Stellen. Der 


160 
gewöhnliche Ruf der Winzer war he dad 
el. 16, 9; Jer. 25, 30) oder hed 
(Ezech. 7, 7). 


Die Stelle, wo „Meros und feine Be- | 
Perſonification des „Zaubers“ (Heber der 


wohner“ verflucht werden (V. 23), ift 
offenbar eingeſchaltet als Gegenſatz zu dem 
folgenden Segen über das „Weib des 
Zaubers“ (heber), das in ſeinem Zelt 
(dem Gährungs-Gelaß) Milch (den weißen 
Gährungsſchaum) ſtatt Waſſer reicht. In 
vielen Weinſagen iſt es ein ſchönes Weib, 
das den „Göttertrank“ ſpendet. Ich er— 
innere nur an Medea, die dem Rieſen 


Talos, d. h. dem Weinkruge oder Faße, 
ſchloſſen; die Zauberin ſchlägt dem „Siſ— 


den Pflock aus dem „Halſe“ zieht, worauf 
er ſich verblutet (der rothe Wein heraus— 
fließt), und au die indiſche Mohini, die 
den Göttertrank aus dem Milchmeere herauf 
hebt; verweiſe jedoch auf die eingehendere 
Erklärung dieſer Sagen in meinem „Hand— 
buch der ebräiſchen Mythologie“. 


Ob die 
Medea unſres Liedes, das ſchöne Zauber- 


Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 


weib, urſprünglich Jael, Steinbock, ge 


heißen hat, iſt mir zweifelhaft. Der Name 


dürfte ſich wohl aus dem Anfange des 
Liedes hierher verirrt haben. Auch die 


Keniter) iſt wahrſcheinlich jünger. In der 
Ueberſetzung iſt beides unberückſichtigt ges 
blieben. 

Man ſucht bei der Zauberin Waſſer 
(fo ſchien der friſche Moſt), erhält aber 
Milch (den mit weißem Schaum bedeckten 
Wein) in dem weitbauchigen Gährungsge— 
fäße. Sobald ſich dieſe Milch über dem 
Gefäße gezeigt hat, wird daſſelbe ver— 


ſera“, der nun als runder Krug zu ihren 
Füßen liegt, den Pflock (Spund) in den 
„Kopf“, gerade wie Medea (wenn die 
Weinkrüge ſpäter wieder geöffnet werden, 
in Athen beim Feſte der ZIrFoyie) dem 
„Talos“ den Pflock wieder aus dem „Halſe“ 
zieht. 


“ 


ET m: . . 3 
9 Ber: = N 


Kampf um's Daſein unter den 
Korallen. 8 


s iſt eine gewöhnliche und ſelbſtver— 
ſtändliche Erſcheinung, daß ſich ver— 
„ſchiedene Korallen-Species gleichzeitig 
auf den abgeſtorbenen Gerüſten an— 


thatſächlich lebendig begräbt. 
ſchen Muſeum befindet 
„Theil des abgeſtorbenen und anſcheinend 
im Meere umgeſtürzten Stammes einer 
Hornkoralle (Liopathes compressa), auf 
dem ſich verſchiedene Steinkorallen angeſetzt 
haben, nämlich eine Sternkoralle (Dicho— 
coenia uva) und zwei Arten von Poren— 
korallen (Porites). Die eine der letzteren 
(Porites elavaria) wächſt in dichten, 
aufſtrebenden Büſchen mit dicken, 


Im briti⸗ 


dagegen ſolide Maſſen von kugeliger Geſtalt, 


nicht unerheblich durch die Beſchaffenheit 


Species aus dieſer Thiergruppe einen 
activen Kampf ums Daſein mit einander 
führen, und wie die eine die andere 


Kleinere Mit 


derer Arten anſiedeln, aber es war mir 
neu zu ſehen, wie zwei nahe verwandte 


| 


a 


lumen. 


ihrer Polypenkelche und bilden eben zwei 
gut getrennte Species. Nun haben ſich 
die betreffenden Exemplare (die übrigens 
alle nur von geringer Größe ſind) augen— 
ſcheinlich im Gaſtrula-Stadium auf den 
Aeſten der todten Hornkoralle nicht fern 
von einander feſtgeſetzt, ſich dann durch 
Knospung vergrößert und kleine Korallen— 
ſtöcke in Geſtalt unregelmäßiger Klumpen 
gebildet, die ſich endlich berührten. Nun 
begann ein Ringen um den ſehr beſchränkten 


Platz — die Aeſte der Hornkoralle find 


ſich der untere 


. 


meiſt | 
keulenförmigen, gabeltheiligen Aeſten; die 
andere (Porites astraeoides) bildet 


nur einige Millimeter dick. Die Porites 
elavaria war in dieſem Streite (wohl in 
Folge der Art und Schnelligkeit ihres 
Wachsthums) ſo entſchieden im Vortheil, 
daß ſie nicht nur ihren Platz behauptete, 
ſondern auch ihre unbehülfliche Schweſter 
faſt vollſtändig überwucherte und erdrückte. 
An zwei verſchiedenen Aeſten der Horn— 
koralle, an denen die beiden Porites in 
Contact gekommen ſind, iſt jedesmal die 
Porites astraeoides von der anderen 
Species überwachſen und eingehüllt. 

An der einen Stelle iſt ihr eine Seite 
des Liopathes-Aſtes (vermuthlich diejenige, 


die dem Meeresboden zugekehrt war) frei— 
meiſtens mit leicht wellenförmig höckeriger 
Oberfläche; beide unterſcheiden ſich außerdem 


geblieben; an dem anderen Orte ragt nur 
noch ein kleines Stückchen der Astraeoides 
unter der Clavaria hervor. An einer 


Be, 


Fruchtknotens oder auf den unterſten Theil 
der Blumenblätter, auf denen ſich dann 
zwiſchen je 2 Staubfäden je 1 oder 2 
kleine runde Nektarien ausbildeten. So 
ſpaltete ſich der gemeinſame Gentianaſtamm 
in zwei Zweige, welche beide dann durch An— 
paſſung an engere, aber emſigere Beſucher— 
kreiſe zur Sicherung der Kreuzung fort⸗ 
ſchritten. | 
Der eine Zweig mit Honigabſonderung 
am Grunde der Blumenkrone, gelangte zur 
Sicherung der Kreuzung bei eintretendem 
Beſuche langrüſſeliger Inſekten, durch Ver— 
wachſung der Blumenblätter zu einer Röhre, 
welche die Befruchtungsorgane ſo dicht um— 
ſchließt, daß jeder zum Honig vordringende 
Rüſſel erſt die breite Narbe, dann eines 


er 


dritten Stelle endlich, wo die Astraeoides 
von ihrer fatalen Concurrenz unbehelligt 
blieb, iſt es ihr gelungen, einen Korallen— 
ſtock von etwa Taubeneigröße zu Stande 
zu bringen. 

London. 


Kleinere Mittheilungen. 


F. Brüggemann. 


Die geſchichtliche Entwicklung der 
Gattung Genkiana. 


In zwei kürzlich veröffentlichten Auf— 
ſätzen *) habe ich die Abſtufungen erörtert, 
welche die Gentiana-Arten Deutſchlands 
und des Alpengebietes in Bezug auf An— 
paſſung an Befruchtung durch Inſekten er- 


kennen laſſen, und aus denſelben in Bezug 
auf die geſchichtliche Entwicklung der Gat— 
tung Gentiana folgende Vermuthungen als 
die wahrſcheinlichſten abgeleitet: 

Die gemeinſamen Stammeltern aller 
heutigen Enzianarten hatten vermuthlich 
völlig offene Blüthen, bis gegen den Grund 
hin getrennle Blumenblätter, aus einander— 
ſtehende Staubgefäße, zwei zurückgekrümmte 
Griffeläſte, deren Narbenpapillen gelegentlich 
von dem einen oder andern Staubgefäße 
berührt wurden, und Honig, welcher, im 
Grunde der Blüthe, in den Winkel zwiſchen 
dem unterſten Theile der Blumenkrone und 
des Stempels, abgeſondert und beherbergt, 
den mannigfachſten Inſekten frei zugänglich 
war. Trotz der Mannigfaltigkeit des In— 
ſektenbeſuchs war bei ihnen Kreuzung nicht 
geſichert und die Möglichkeit der Selbſtbe— 
fruchtung nothwendig. Bei den Nachkommen 
dieſer Urgentianen beſchränkt ſich die Honig— 
abſonderung entweder auf den unterſten 
Theil des dann fleiſchig anſchwellenden 


) Fertilisation of flowers by insects. 
XV. XVI. Nature, vol. XV. No. 380. 387. 


der Staubgefäße ſtreifen muß, und zur 
Sicherung gegen Fliegen und andere un— 
nütze Gäſte durch ein den Eingang der 
Blumenröhre verſchließendes Gitter, welches 
nur langrüſſeligen Bienen und Schmetter— 
lingen den Eingang geſtattet. Er entwickelte 
ſich durch Ausprägung dieſer Ausrüſtungen 
zur Untergattung Endotricha, welche die 
gleichzeitig der Befruchtung durch Bienen 
und durch Schmetterlinge angepaßten Arten 
(campestris, tenella, nana u. |. w.) um⸗ 
ſchließt. 

Der andere Zweig, mit Honigabſonde— 
rung am Grunde des Fruchtknotens, bietet 
uns in G. lutea ein noch fortlebendes ver— 
einzeltes Zweiglein dar, welches ſich in 
ſeiner übrigen Blütheneinrichtung in nichts 
über die gemeinſamen Stammeltern der 
Gattung erhoben hat und wie dieſe von 
einer bunten Mannigfaltigkeit verſchieden— 
artiger Inſekten beſucht wird, ohne die 
Möglichkeit der Selbſtbefruchtung entbehren 
zu können. Daneben aber iſt aus dem— 
ſelben Zweige, durch Anpaſſung an Hum— 


meln, die große Untergattung Coelanthe 


Kleinere Mittheilungen. 


hervorgegangen, und zwar durch folgende, 

durch Naturausleſe gezüchtete Abänderungen: 

Die urſprünglich faſt ganz getrennten Blumen— 

blätter ſind zu einer Blumenglocke ver— 

ſchmolzen, die weit genug iſt, um den 

ganzen Leib einer Hummel in ſich aufzu⸗ 

nehmen. Der Stempel mit ſeinen beiden 

zurückgekrümmten Griffeläſten iſt unver— 

ändert in der Blüthenachſe ſtehen geblieben, 

aber die urſprünglich aus einander ſtehenden 

Staubgefäße haben ſich dicht um den Griffel 

herum zuſammengelegt; ihre nach außen 

aufſpringenden Staubbeutel umſchließen ein 

Stück unter den beiden Narben den Griffel 

mit einem breiten Ringe von Blüthenſtaub, 

ſo daß die den Honig aufſuchenden Hummeln 

erſt die Narben, dann den Blüthenſtaub 

ſtreifen und daher in jeder folgenden Blüthe 

Kreuzung bewirken müſſen. Die Baſis 

der Blumenglocke hat ſich zuſammengezogen 

und iſt mit dem unteren Theile der Staub- 
fäden verwachſen, ſo daß dieſe den ſchmalen 
Zwiſchenraum zwiſchen Fruchtknoten und 
Blumenkrone in fünf enge Kanäle abtheilen, 
die zwar den Hummelrüſſeln den Zugang 
zum Honige geſtatten, Fliegen und andere 
unnütze Gäſte aber vom Genuſſe deſſelben 
ausſchließen. Dadurch, daß die Hummeln 
dem ihnen allein verbleibenden Honig um jo 
eifriger nachgehen und dabei gezwungen 
find, Fremdbeſtäubung zu bewirken, iſt den 
Arten dieſer Untergattung (G. punctata, 
acaulis, excisa u. ſ. w.) Kreuzung ges 
ſichert und die Möglichkeit der Selbſtbe⸗ 
fruchtung entbehrlich geworden und that— 
ſächlich verloren gegangen. 

Aus dieſer Untergattung Coelanthe 
iſt, vermuthlich in hochalpinen Gegenden, 
in denen Hummeln ſelten, Schmetterlinge 
verhältnißmäßig häufig ſind, die Unter— 
gatt ung Cyelanthera hervorgegangen, in— 
dem durch Naturzüchtung alle, eine Kreu- 


zung „durch Schmetterlinge begünſtigenden 
Abänderungen erhalten und ausgeprägt 
wurden. Durch Verengerung der Blumen- 
röhre und Verbreiterung der Griffeläſte zu 
einer den Blumeneingang ſchließenden papil— 
löſen Scheibe wurde es den dünnen Schmelter- 
lingsrüſſeln unmöglich gemacht, in die Blüthe 
einzudringen, ohne erſt die Narbe, dann 
den Blüthenſtaub zu ſtreifen. Durch ge— 
ſteigerte Empfindlichkeit gegen Sonnenwärme 
und weitere Ausbildung der das Zuſammen— 
drehen der Blüthenhülle vermittelnden Falten 
zwiſchen den Blumenblättern paßten ſich die 
hochalpinen Gentiana-Arten der vom Sonnen— 
ſchein abhängigen Thätigkeit ihrer Befruchter 
derart an, daß ihre Blüthen ſich öffnen, 
ſobald die Sonnenſtrahlen die Falter zum 
Beſuche hervorlocken, ſich dagegen zuſammen— 
drehen und ſchließen, ſobald die Sonne ſich 
hinter Wolken verſteckt und die Schmetter- 
linge ſich zurückziehen; ?) Gentiana bava- 
rica, verna, nivalis u. ſ. w. gehören zu 
dieſer Gruppe. 

Als ein Mittelglied zwiſchen der Unter— 
gattung Coelanthe und der aus ihr hervor— 
gegangenen Untergattung Cyelanthera dürfte 
Gentiana prostrata zu betrachten ſein, 
welche in allen übrigen Stücken die Eigen— 
thümlichkeiten der Cyclanthera-Gruppe er- 
langt hat, in den zurückgekrümmten Griffel— 
äſten aber mit den Coelanthe-Stammeltern 
noch übereinſtimmt. 

Lippſtadt. 

Hermann Müller. 


) Daß die Wärme, nicht das Licht, das 
Oeffnen dieſer Gentianablüthen veranlaßt, 
wurde durch beſondere Verſuche an G. bavarica 
und verna von mir feſtgeſtellt. 


164 


Neues über die Stachelhäuter. 
Während der jetzt beendeten Weltumſeg— 


und unter jenen, welche aus dem ſüdlichen 
Ocean gefiſcht wurden, gibt es viele, welche 
nicht nur eine Ausnahme von dem ge— 
wöhnlichen Entwicklungsgange aufweiſen, 
inſofern als die Jungen direct, ohne Da— 
zwiſchenkunft einer ſogenannten Ammenform 


welche darauf abzielen, den Jungen während 
ihrer hilfloſen Jugendzeit Schutz zu ge— 
währen. In einigen Fällen iſt die Analogie 
dieſer Einrichtungen mit jenen der beutel— 
tragenden Säugethiere Auſtraliens ſo über— 
raſchend, daß man mit Recht von „mar— 
ſupialen“ Stachelhäutern ſprechen könnte. 
Sir C. Wyville Thomſon hat in den 


acht Exemplare dieſer ſeltſamen Schutzver— 


ſchrieben, wovon die Popular Science 
in einem längeren Aufſatze Notiz nimmt. 

In der Claſſe der Seewalzen oder Holo— 
thurien bezeichnet Sir Wyville Thomſon 
zwei Species, in welchen die Entwicklung 
direct zu ſein ſcheint; aber die Einrichtung 
für die Unterkunft der Jungen iſt ſehr ver— 
ſchieden. 


Brutbeutel. 
Species, etwa 4 Zoll lang mit 1½ Zoll 


Durchmeſſer, von ſafrangelber Farbe und 
wurde ſehr häufig an dem rieſigen Macro- 


eystis (Seetang) hängend geſunden, welcher 


in 510 Faden Tiefe in Stanley Harbour 


Er der öſtlichen Falkland-Inſel ſchwimmt. 


lung des „Challenger“ wurde eine große 
Zahl intereſſanter Echinodermaten geſammelt, 


oder die Bildung proviſoriſcher Organe, er- 
zeugt werden, ſondern auch ganz ſeltſame 
Einrichtungen verſchiedener Theile beſitzen, 


Verhandlungen der Linns'ſchen Geſellſchaft 
bindung zwiſchen Mutter und Jungen be 


Review (January 1877, S. 50— 63) 


Die eine ward mit Cladodactyla 
crocea Lesson identificirt und hat keinen 
Es iſt eine kleine, elegante 


Kleinere Mittheilungen. 


Die zehn Mundtentakel find lang und zart 
gegliedert, die Haut iſt dünn und halb— 
| durchſichtig und geſtattet vollkommen die 
Muskelbänder und andere innere Organe 
zu ſehen und zu beobachten. Fünf Am— 
bulacralrinnen mit zahlreichen und wohl— 
entwickelten Tentakularfüßen (Saugfüßchen, 
Pedicelli), ziehen am Körper von einem 
Ende zum andern, aber nicht auf gleiche 
Entfernungen von einander; drei davon 
ſtehen auf der einen Seite des Thieres, 
zwei auf der andern, 
zwiſchen beiden Gruppen iſt auf beiden 
Seiten größer, als jener zwiſchen zwei 
Rinnen derſelben Gruppe. Die Schwell— 
füßchen der drei erſten Rinnen ſind größer 
als die anderen und bilden auf alle Fälle 
beim Weibchen das regelmäßige Bewegungs— 
mittel; bei dieſem Geſchlechte dienen aber 
die zwei andern (Rücken-) Rinnen einem 
ganz verſchiedenen Zwecke, indem ſie ſo zu 
ſagen, den Zaun der Ammenſtube bilden, 
in welcher das Thier ſeine Jungen herum— 
trägt. Dieſe Füßchen ſind kurz und mit 
Saugſcheibchen verſehen, deren kalkiges Netz— 
werk jedoch noch ziemlich rudimentär iſt. 

In dieſen beiden Rücken-Rinnen und 
an ihren Saugfüßchen hängend, werden nun 
die Jungen vom Mutterthiere ſo lange 
herumgetragen, bis ſie groß genug gewor— 
den ſind, um für ſich ſelbſt zu ſorgen, was 
erſt relativ ſpät zu geſchehen pflegt. Die 
| Jungen find faſt vollkommene Miniatur— 
bilder ihrer Eltern, nur ſind die Dorſal— 
Saugfüßchen noch ganz rudimentär oder 
oft bloß angedeutet; dagegen ſind die Bauch— 
füßchen völlig entwickelt und gerade mittelſt 
dieſer hängen ſie ſich an die Rückenfüßchen 
der Mutter an. 

Ein noch weit merkwürdigeres und 


intereſſanteres Beiſpiel diretter Fortpflanzung, 
im Vereine mit dem Vorhandenſein eines 


und der Raum 


vollſtändigen Brutbeutels, bietet eine kleine 


Kleinere Mittheilungen. 


Holothurie von Heard Island, zum Ge— | 
nus Psolus gehörig (von welcher es eine 


oder zwei britiſche Species gibt) und 
wahrſcheinlich ein naher Verwandter, wenn 


nicht gar eine bloße Varietät vom Psolus 


operculatus. 
einer kleinen niederen Pyramide von fünf 
genau klappenden Kalkblättchen ausgeſtattet, 
die feſt ſchließen, wenn der Mund mit 


Die Mundöffnung iſt mit 


ſeinen umgebenden Tentakeln nach innen 


zurückgezogen iſt; desgleichen 
Afteröffnung durch einen ähnlichen, aber 
weniger regelmäßigen Klappenaparat 


ſchloſſen. 


ſich am Rücken eine 


wird die 


ge 
Bei dem Weibchen nun befindet 
Art Sattel, be⸗ 


ſtehend aus großen feinkörnigen Kalkplatten 


unregelmäßiger Form, welche jedoch ziem- | 
die Eier und die daraus direct entſtehenden 


lich aneinander ſchließen, und 


genau 


daher ward das Thier proviſoriſch Psolus | 
Entfernen wir eine | 
oder zwei dieſer Centralplatten, jo ſehen 
Stacheln verſehen find. Sir Wyville Thom— 


ephippifer genannt. 


wir dieſelben, nicht wie die ſonſtigen Platten 


des Periſom (der Haut), theilweiſe oder 


ganz in der Cutis (Lederhaut) eingebettet, 


ſondern gleich einem Pilze auf einer cen— 
tralen Säule aufgerichtet, ſo daß, wenn 
geſchloſſen, ſie einen geſchützten Hohlraum 
zwiſchen ſich und der Lederhaut frei laſſen. 
In dieſem Raume werden nun die Eier 


ausgebrütet, und durch Entfernung der 
Platten können die Jungen auskriechen. 


Es liegt alſo hier ein wahres Marſupium, 


ein wahrer Brutbeutel vor, und da der- 


ſelbe den größten Theil des Rückenraumes 
einnimmt und ſich bis an den Mundrand 
erſtreckt, wo auch die Ovarialöffnung ſich 
befindet, ſo gelangen die Eier aus dieſer 
direct in den ſchützenden Hohlraum, ohne 
irgend einer äußeren Gefahr ausgeſetzt zu 
ſein. 
klaffen die anfänglich feſt ſchließenden Platten 


Wenn das Junge größer wird, fo 


165 
immer weiter auseinander, bis daſſelbe 
endlich auskriechen kann. 

Unter den Seeigeln (Echinoiden) und 
ſpeciell der Familie der Cidariden, iſt noch 
kein Beiſpiel einer Fortpflanzung ohne die 
Dazwiſchenkunft des ſogenannten Pluteus— 
Stadiums bekannt. Dieſe Larve wurde 
früher für ein ſelbſtändiges Thier gehalten. 
Nun aber ſind auch bei dieſem wenigſtens 
höchſt merkwürdige, bislang völlig unbe— 
kannte Gewohnheiten des Mutterthieres 
beobachtet worden. Die Eier einer der Ci— 
daris papillata ſehr verwandten Gattung 
wandern nämlich nach ihrem Austritte aus 
den Genitalöffnungen nach dem Munde, 
wo ſie in einer Art offenen Zeltes em— 
pfangen werden, das die kleineren Stacheln 
über dem Munde bilden. Darin verbleiben 


Jungen, bis ſie einen Durchmeſſer von 
etwa Yo Zoll erreicht haben und voll— 
ſtändig mit Kalkplatten überzogen und mit 


ſon nannte dieſen Seeigel vorläufig Cidaxis 
nutrix. Bei Goniocidaris canaliculata, 
welche hauptſächlich auf die kühleren Theile 
des ſüdlichen Oceans beſchränkt iſt, geſchieht 
daſſelbe am anderen Pole des Körpers. 
Das gleiche Princip findet ſich endlich bei 
der zweiten Abtheilung der Echinoiden, bei 
den Petalosticha, nur iſt die Specialiſirung 
des Apparates eine noch viel complieirtere. 

In den Aſteriden oder Stelleriden 
(Seeſterne) hat ſchon Sars an einer nor— 
diſchen Species, an Pteraster militaris, 
eine Marſupialentwicklung der Jungen be— 
obachtet. Prof. Thomſon beſchreibt ein 
ähnliches Verhalten bei einer großen Species 
von Archaster, die er vorläufig A. exca- 
vatus getauft hat und die mit dem nordiſchen 
A. Andromeda verwandt iſt. Der hier 
beobachtete Vorgang erinnert an den bei 


— 


2 


Psolus beſchriebenen. Ein anderer dieſer 
brütenden Seeſterne gehört zur weitver— 
breiteten Species Hymenaster, einem Ge⸗ 
ſchlecht, das überall im Ocean in Tiefen 
von 400 — 2500 Faden vorkommt. Hyme- 
naster nobilis, die von Thomſon neu be⸗ 
ſchriebene Species, iſt ſehr groß, wohl einen 
Fuß im Durchmeſſer von einer Spitze zur 
andern, deren Zwiſchenräume durch fleiſchige 
Gewebe ausgefüllt werden, ſo daß der 
ganze Körper das Ausſehen eines regel— 
mäßigen Pentagons gewinnt, hierin dem 
Genus Pteraster ſehr ähnlich, das mit 
dem Hymenaster nahe verwandt iſt. Auch 
dieſes Thier beſitzt am Rücken einen wunder⸗ 
vollen Klappenapparat, unter dem eine 
fünfeckige Kammer zur Aufnahme der Jungen 
verborgen liegt. Endlich wurden an einem 
Schlangenſtern, Ophiocoma didelphys, 
ähnliche Beobachtungen über das Aufbringen 
der Jungen gemacht. 

Natürlich iſt, obwohl die Benennung 
Marſupium auf die jungenbergenden Hohl- 


räume der Stachelhäuter angewendet wurde, 


die Analogie mit den echten Beuteln der 
Marſupialier bloß auf den Schutz be— 
ſchränkt, den beide den Jungen gegen äußere 
Gefahren gewähren; die Jungen werden 
dadurch mit dem Mutterthiere ſo lange in 
einer gewiſſen Verbindung erhalten, bis ſie 
ſich ſelbſtändig fortbringen können; eine 
directe Ernährung der Jungen durch die 
Mutter, wie bei den auſtraliſchen Beutel- 
thieren, findet aber bei den Echinodermaten 
nicht ſtatt. 


(Ausland No. 9. 1877.) 


Kleinere Mittheilungen. 


Reue Hoffnungen und Enttäuſchungen 
hinſichtlich der Auffindung von 
Urmenſchen. 


Seit der erſten Ausdehnung der Ab- 
ſtammungslehre auf den Menſchen hoffen 
oder fürchten die Anthropologen, je nach 
ihrer Stellung zu derſelben, daß doch viel 
leicht in irgend einem verſteckten Winkel 
unſres Planeten noch ein iſolirtes Reſtchen 
ungewöhnlich affenähnlicher Menſchenbrüder 
der Cultur, die alle Welt beleckt, entſchlüpft 
ſein könnte, um plötzlich aufzutauchen, wie 
die ſeit dem Alterthum angezweifelten afri⸗ 
kaniſchen Zwergvölker, welche Schweine 


furth erſt vor wenigen Jahren der Mythen 


entriſſen hat. Nachdem alle fünf Welttheile 
ſich von dieſem — Verdachte mehr oder 
weniger gründlich gereinigt haben und ein 
untergegangener Continent für die Wiege des 
Menſchengeſchlechts gehalten wird, haben ſich 


die letzten Hoffnungen, reſp. Befürchtungen, 


auf einige von Papuas bewohnte Inſeln 


des als Melaneſien zuſammengefaßten, an⸗ 


thropologiſchen Welttheils gerichtet, den 


man weder zu Aſien noch Auſtralien ziehen 


kann, obwohl er mit dem letzteren vom 
thier⸗ und pflanzengeographiſchen Geſichts—⸗ 
punkte aus näher verwandt erſcheint, als 
mit Aſien. In anthropologiſcher Hinſicht 
galt, wie geſagt, der ganze Strich unge⸗ 
heurer Inſelländer von Neuguinea über 


Ceram und Celebes bis Borneo für nicht 


ganz geheuer, und insbeſondere hatten die 
nichtmalayiſchen Ureinwohner Ceram's, 
welche im gebirgigen Innern der dreihundert 
Quadratmeilen umfaſſenden Inſel hauſen, 
die Alfuren oder Haraforen, ſich durch 
ihre unzähmbare Wildheit in einen bedenk⸗ 
lichen Ruf gebracht. Man erzählt beiſpiels⸗ 
weiſe, die jungen Mädchen verlangten von 
ihrem Liebhaber ein Feindeshaupt als Hoch⸗ 


zeitsgabe und „wer niemals einen Kopf 


geſchnellt, der ſei kein braver Mann“ bei 
ihnen und dürfe noch nicht heirathen. Die 
moderne Forſchung aber, die zuletzt jeden 
Schlupfwinkel der Mythe auskehrt, iſt nun⸗ 
mehr endlich auch in das Myſterium der 
Berg⸗Alfuren eingedrungen und hat fie ihres 
— wenn man ſo ſagen darf — Raubthier- 
und Affen-Nimbus beraubt. Der erſte 
Eindringling in dieſe gefürchteten Regionen 
war ein Deutſcher, der in niederländiſch— 
oſtindiſchen Dienſten ſtehende Capitän 
Schulze, welcher mehrere Jahre als Be— 
fehlshaber auf der Inſel weilend, einen 
zehnmonatlichen Streifzug in das Innere 


vornehmen mußte, um einen Stamm zu 


züchtigen, aus deſſen Mitte ein niederlän⸗ 
diſcher Soldat getödtet und ſeines Kopfes 
beraubt, wie der Kunſtausdruck ſagt, „ges 
ſchnellt“ worden war. Aus dem ſehr in— 
tereffanten Berichte, welchen der zur Zeit 
in Europa weilende Capitän Schulze am 
17. März e. in der berliner anthropologiſchen 
Geſellſchaft über ſeine Beobachtungen er— 
ftattete, entnehmen wir nachſtehende Einzel— 
heiten. 

Die Berg-Alfuren ſind von chokolade— 
brauner Hautfarbe, kräftigem, wiewohl 
ſchlankem Wuchſe, und zum Theil in einer 
allerdings an Affen erinnernden Weiſe an 
den verſchiedenſten Körpertheilen auffallend 
ſtark behaart. Das Haupthaar iſt wellig, 
der Mund unförmlich groß, die Lippen 
aufgeworfen. Nach ihrer Zählmethode zer— 
fallen ſie in Stämme, die bis neun zählen 
(Pattah-siwah), und ſolche, die nur bis fünf 
zählen Pattah-lima). Ihre Wohnungen 
ſind durchweg Pfahlbauten, oft von 
ſolcher Größe, daß ſie bis zu hundert Per— 
ſonen als Obdach dienen. Namentlich beſteht 
in jeder Gemeinde ein großer Geſellſchafts— 


Pfahlbau (Bailéo) für die unverheiratheten 


Kleinere Mittheilungen. 


167 


Männer, und ein anderer, in welchen ſich 
die Frauen zu Zeiten zurückziehen. Uebrigens 
leben ſie in ſtrenger Monogamie. Das 
Naturell macht eher den Eindruck einer 
kindlichen Gutmüthigkeit, die allerdings im 
Kampfe und Streite einer raſenden Wild⸗ 
heit Platz macht. Gegen Ihresgleichen 
beobachten fie die weitgehendſte Gaftfrennd- 
ſchaft und ſtrenge Sittlichkeit; Diebſtahl 
und Ehebruch ſollen kaum vorkommen. 
Ihre Waffen gleichen denen der, mit Ma- 
layen vermiſchten, Strandbewohner; ſie haben 
eine Lanze, ein langes Schwert, Pfeil und 
Bogen, dazu einen ſchmalen Schild, mit 


welchem ſie auf 70 Schritt einen Pfeil 


aufzufangen wiſſen, ſchließlich eine Triton— 
muſchel als Kriegstrompete. Dem über— 
wundenen Feinde wird, wie geſagt, der 
Kopf abgeſchnitten und die geſchnellten Köpfe 


oder Haarbüſche als Trophäen im Jung 


geſellenhauſe aufgehangen. Neben dieſem 
Kriegsgebrauche iſt aber auch ein heimliches, 
meuchelmörderiſches Kopfſchnellen ſtark in 
Uebung. Ein den mittelalterlichen Vehm— 
gerichten ähnlicher Geheimbund (Kakian) 
verhängt gewiſſermaßen amtlich, als Embryo 
und Urzuſtand der Sicherheitspolizei, dieſe 
volksthümliche Exekution gegen ſolche Perſonen, 
die ſich den anerkannten Grundanſchauungen 
nicht fügen wollen. Die mit der Aus- 
führung betrauten Freiwilligen ſchleichen 
nun oft wochenlang um das Opfer, welches 
gewöhnlich eine Perſon iſt, die ſich in Furcht 
zu ſetzen gewußt hat, beſchießen es aus 
ihrem Hinterhalte mit Pfeilen, worauf der 
Furchtloſeſte unter ihnen ihm den Kopf 
abſchlägt, und dadurch, wenn er noch un— 
verheirathet iſt, den unbeftrittenen Anſpruch 
auf das ſchönſte Mädchen ſeines Stammes 
erwirbt. Seine Begleiter tauchen ihre 


Schwerter in das Blut der Leiche, und man 
ſcheidet ſtill, um ſich nach längerer Zeit in 


75 
168 


dem Heimathsdorfe beim feierlichen Todten— 
tanz (Kahuwa) wieder zuſammenzufinden. 


ſcheinen die Theilnehmer ſämmtlich 
Blumen und bunten Zweigen geſchmückt, 
welche maleriſch von den Oberarmringen 
über den halb oder dreiviertel nackten Körper 
herabhängen. Die Matadore im Kopf- 
ſchnellen erkennt man an dem Ring und 
Federſchmuck auf dem Haupte, während die 
Zahl der geleiſteten Häupter durch Kreiſe 
auf einem Streifen Baſt vermerkt wird, den 
ſie an den Hüften tragen. Die Frauen 
glänzen in ihrem beſten Schmucke von Glas— 
perlen und Muſchelringen um Hals, Schulter 


friſchen Baumblättern umhüllten natürlichen 
Chignon gethürmt. In bunter Reihe, ſich 


verbundenen Kreis, der ſich unter dem 
Jauchzen der Männer unaufhörlich von 


rechts nach links dreht, wobei der „geſchnellte 


Kopf“, von einer Schönen mit Betel und 
Tabak verſehen, über leichtem Kohlenfeuer 
dem wilden Tanze aſſiſtirt. Das Muſikchor 
wird von alten Frauen gebildet, welche auf 
einfelligen Trommeln, Gongs und Triton— 
muſcheln einen Höllenlärm vollführen. Wäh— 
rend die alten Frauen ſo als Muſikanten 
verwendet werden, haben die ganz alten 
Herren als Kindermädchen zu dienen, den 


Bei dieſem gemeinſamen Nationaltanze er- 
mit 


| 
| 


und Arme; ihr Haar ift zu einem mit 


jungen Nachwuchs auf ihren Schultern zu 


tragen, damit er früh durch die Freuden 
und Ehren, die ſeiner warten, für die Kopf— 
ſchnellerei begeiſtert werde. Dem Capitän 
Schulze erſchien es, als ob die Alfuren 
eine Uebergangsraſſe zwiſchen Malayen und 
Papua's darſtellen. 

Hinſichtlich der Urmenſchenfrage bemerkte 
derſelbe Beobachter, daß er im Jahre 1860 
auf Borneo einen ſogenannten „geſchwänzten 
Menſchen“ geſehen habe, und daß das freie 


“x 


Kleinere Mittheilungen. 


Schwanzwirbelrudimente bei den Frauen 


von hinten umfaſſend, ſchließen fie einen eng⸗ 


Hervorragen der für gewöhnlich verwachſenen 


dieſer Inſel häufiger als anderswo vor— 
kommen ſolle. Uebrigens tauchen an Stelle 
der entſchwänzten Alfuren ſchon wieder neue 
Aſpiranten für dieſe hintere Körperzierde 
auf. Das „Ausland“ erzählt darüber 
(1877 Nr. 6) Folgendes: Der Reverend 
George Brown kehrte im Oktober 1876 
von einem längern Aufenthalte auf den 
Inſeln Neu-Britannien und Neu-Irland 
nach Sidney zurück und erzählte, daß die 
Eingebornen von Blanchebay ihm und ſeinem 
Begleiter, dem Naturforſcher Coquerell 
aus Queenstown in pofitivfter Weiſe behauptet 
hätten, daß im Innern von Neu-Britannien, 
in einer Kali genannten und niemals von 
Europäern beſuchten Gegend Menſchen mit 
richtigen Schwänzen exiſtirten. Auf die 
Einwendung, daß ſie wohl von Affen 
ſprächen, antworteten dieſe Kannibalen un⸗ 
willig mit den Gegenfragen: „Ob denn 
Affen mit Speeren kämpften, ob Affen 
Yams pflanzten und Häuſer bauten?“ 
Wahrſcheinlich handelt es ſich um Menſchen, 
die einen Thierſchwanz hinten als Zierrath 
tragen, wie z. B. die von Schweinfurth 
abgebildete Bongo⸗Schöne. 

Im Uebrigen darf man nicht behaupten, 
daß ein derartiger weitgehender Atavis— 
mus — denn die menſchenähnlichen Affen 
ſind ſämmtlich ſchwanzlos — nicht auch 
einmal in weiterer Ausdehnung vorkommen 
könne, und daß jene von de Laet beſchriebene 
braſilianiſche Hochzeits-Ceremonie, bei welcher 
die Nachkommen in effigie engliſirt wurden, 
nicht irgendwo ihre Berechtigung finden 
könnte; denn eine Vermehrung des dem 
Menſchen gebliebenen Erbreſtes von Schwanz— 
wirbeln kommt ſogar in civiliſirten Ländern 
gar nicht ſo überaus ſelten vor. Doch 


mögen nicht alle von Aerzten erzählten 


Fälle diefer Art auf einer wirklichen Appo⸗ 


fition von Wirbeln beruhen, wie nach— 


ſtehender von Virchow mitgetheilter Fall — 


beweiſt. Gegen Ende des Jahres 1874 


erhielt dieſer Forſcher von dem Chefarzte 


der griechiſchen Armee ſchriftliche Mitthei— 


Kleinere Mittheilungen. 


lungen und Photographieen eines in der 


Kreuzbein- Gegend auffallend behaarten 
Menſchen, den der Chefarzt für einen 
richtigen homo caudatus anſah. 
Virchow würde kaum Bedenken getragen 
haben, den neuen Fall jenen andern in der 
mediciniſchen Literatur verbürgten Fällen von 
Zahlenvermehrung und freiem Hervorragen 
der Schwanzwirbel hinzu zu zählen, wenn er 
nicht zufällig an demſelben Morgen, an 
welchem die ſehr merkwürdige Photographie 
aus Athen eintraf, Mittheilung über eine 


Prof. 


thiere beſchränkt. 
mehreren Forſchern, 


1698 


dieſer Mißbildungen erblich geworden 
war? K. 


Foſſiles Vorkommen des Dingo. 


Die allgemeine Ueberzeugung der Zoo— 
logen geht bekanntlich dahin, daß der auſtra— 
liſche Wildhund ebenſowohl wie der Menſch 
dort eingewandert ſein muß, da die autoch— 
thone Säugethierfauna ſich eben auf Beutel— 
Nun war aber von 

wie M' Coy und 


Sol vyns, berichtet worden, daß ſie foſſile 


in Berlin gerade zur Sektion vorliegende 


weibliche Leiche erhalten hätte, die ebenfalls 
auf der Rückengegend eine ungewöhnlich 
behaarte Stelle aufwies. Eine genauere 
Unterſuchung ergab aber, daß es ſich in 
dieſem Falle um eine ſogenannte Spina 
bifida oceulta d. h. eine Art von Rück— 
gratsſpaltung handelte, alſo um ein durchaus 
pathologiſches Vorkommen, welches nicht das 
Allermindeſte mit Atavismus zu thun hatte. 
Die vermeintliche Zugabe war nur ein die 
Mißbildung nach außen andeutendes, ſehr 
ſtark und lang behaartes Muttermal. Es 


iſt alſo hier nothwendig, zwiſchen ganz ver— 


ſchiedenen Vorkommniſſen zu unterſcheiden, 
und dieſe Unterſcheidung iſt in Radſchputana 
vielleicht nicht unwichtig, da die Dſchaitwas 
einen ſolchen Appendix für die natürliche 
Mitgift ihrer Fürſten halten, die ſich vom 
Affengotte Hanuman herleiten, wie die 
chineſiſchen Selbſtherrſcher vom großen 
Drachen. Wer kann ſagen, ob dort nicht 
wirklich einmal eine Familie herrſchend ge— 
weſen fein mag, in der die urwüchſigere 


Ueberreſte vom Dingo gefunden hätten. In 
der Sitzung der Berliner anthropologiſchen 
Geſellſchaft vom 17. Februar e. berichtete 
Prof. R. Hartmann, daß er ſelbſt der— 
artige unzweifelhaft foſſile Knochen des 
Dingo, die in der Nähe des Murray— 
fluſſes mit Reſten von Känguruh's und 
Wombat's zuſammen gefunden worden waren, 
unterſucht habe. Es geht alſo daraus her- 
vor, daß der Dingo bereits ſehr früh dort 
eingewandert iſt, und es iſt die Frage auf— 
geworfen worden, ob dieſe Einwanderung 
unabhängig und vor derjenigen der Menſchen 
geſchehen ſein könne. Dagegen ſpricht aber 
die große Aehnlichkeit des Dingo mit dem 
Schäferhunde, und es würde hier der in— 
tereſſante Fall vorliegen, daß die Reſte 
eines heute wilden Thieres die Gegenwart 
des Menſchen, der ihn zahm dorthin ge— 
bracht haben dürfte, für Zeiträume wahr— 
ſcheinlich macht, für welche andre Anhalts— 
punkte fehlen. Allerdings iſt die Brücke 
dieſer Schlüſſe eine ſehr wankende, aber 
wenn man andrerſeits annehmen wollte, 
das Stammthier habe ſchwimmend den 
fernen Welttheil erreicht, ſo müßte man zur 
Erklärung der Nachkommenſchaft eine Ge— 
ſellſchaftsreiſe vorausſetzen, oder annehmen, 


170 


das dorthin verſchlagene Thier fer ein träd- 
tiges Weibchen geweſen, eine Hypotheſe, 
die der erſteren an Wahrſcheinlichkeit nicht 
voranſteht. K. 


Chemiſche Bedenken gegen die 
Wirbelthier-Verwandtſchaft des 
Lanzetthiers. 


Herr Profeſſor Hoppe-Seyler hat 


ſich das Verdienſt erworben, die Aufmerk— 
ſamkeit der Forſcher auf das ſo ſehr ver— 
nachläſſigte Studium der chemiſchen Ver— 
ſchiedenheiten, ſowohl im Aufbau der Körpers 
bei den einzelnen Thierklaſſen, als hinſicht— 
lich der phyſiologiſchen Vorgänge, nament— 
lich der Verdauung zu richten (Pflüger's 
Archiv für Phyſiologie. Bd. XIV. 
S. 395). Er kommt dabei zu einigen 
Schlüſſen, die ſich gegen die heute am all⸗ 
gemeinſten angenommene Hypotheſe der 
Wirbelthier-Abſtammung zu richten ſcheinen, 
und ſagt in dieſer Beziehung: „Es ſcheint 
höchſt auffallend, mit welcher Bereitwillig— 
keit die ſyſtematiſche Zoologie den Amphioxus 
den Wirbelthieren zugeordnet hat, lediglich 
in einſeitiger Berückſichtigung einer Chorda 
dorsalis und der Lagerung des Nervenſtrangs 
über, und des Verdauungskanals unter der- 
ſelben. Eine geſunde Syſtematikfaßt Gattungen 
zuſammen, die nicht allein in einer morpho⸗ 
logiſchen Hinſicht, ſondern in der ganzen 
Organiſation zuſammengehören. Amphioxus 
hat außer der Chorda nichts mit den Wirbel- 
thieren gemein; er beſitzt kein geſchloſſenes 
Gefäßſyſtem mit rothen Blutkörperchen, keine 
Leber, die Galle bildet, kein ordentliches 
Gehirn, ja er enthält nicht einmal leim⸗ 
gebendes Gewebe, welches allen Wirbel— 
thieren eigen iſt und außerdem den Cephalo— 
poden, aber keiner andern Abtheilung 


Kleinere Mittheilungen. 


wirbelloſer Thiere. 


In ihrer ganzen hoch— 
entwickelten Organiſation ſtehen wohl die 
Cephalopoden den Wirbelthieren am nächſten; 
dem Amphioxus wird weiter abwärts eine 
Stelle gefunden werden müſſen. 

Geht man die Zuſammenſetzung der 
Gewebe vergleichend von den niedriger or— 


ganiſirten zu den höher entwickelten Thieren 


durch, ſo findet man zuerſt das Auftreten 
von mucin⸗(ſchleim-)gebenden Geweben, dann 
von chondrin-(knorpelleim-)gebenden, endlich, 
auch in den Cephalopoden, das Auftreten 
von glucin-(knochenleim- gebenden Geweben; 
die Ausbildung wirklicher Knochen iſt nicht 
einmal allen Wirbelthieren eigen, fehlt den 
Cephalopoden gleichfalls. Ganz dieſelbe 
Reihenfolge ergiebt ſich, wenn man die 
Stadien der Entwicklung eines Embryo 
z. B. des Hühnchens im Ei verfolgt, und 
ich kann mir nicht denken, daß dieſe Ueber⸗ 
einſtimmung nur eine zufällige ſei. Faſſen 
wir aber das Ganze zuſammen, ſo finden 
wir unzweifelhafte Beziehungen der chemiſchen 
Zuſammenſetzung der Gewebe und der 
chemiſchen Funktion der Organe zu den 
Stufen der Entwicklung, die ſich im z00- 
logiſchen Syſteme, ſowie in den jugend⸗ 
lichen Stadien jedes einzelnen, höheren Or— 
ganismus zeigen, Beziehungen, die gewiß 
einer weiteren Beachtung und Erforſchung 
werth ſind, und in vielen Punkten die 
Schwächen und Fehler in der Claſſifikation 
und Beurtheilung der Organiſation der 
Thiere, welche der bisher allein maßgebenden 
einſeitigen, morphologiſchen Forſchung an— 
hängen, zu vermeiden und zu verbeſſern 
befähigen werden.“ 

Gewiß wird der Morphologie die 
Bundesgenoſſenſchaft der phyſiologiſchen 
Chemie ſehr erwünſcht ſein und gute Dienſte 
leiſten. Aber nur, wenn ſie einträchtiglich 
mit der Morphologie ans Werk geht. Denn 


die einſeitige Anwendung, wie fie im Obigen 
verſucht worden iſt, bringt die größten 
Gefahren mit ſich. Wir erfahren dort, 
daß vom chemiſchen Standpunkte aus Ce— 
phalopoden faſt näher zu den Wirbelthieren 
gehören würden als der Amphioxus, weil 
ſie nämlich leimgebendes Gewebe beſitzen. 
Grade ſo einſeitig könnte man auch ſagen, 
die Regenwürmer ſtänden den Wirbelthieren 
näher als der Amphioxus, weil ſie rothes 
Blut haben, oder die Sackwürmer ſtänden 
den Pflanzen viel näher als dem Amphio— 
zus, weil fie Celluloſe abſcheiden. Die 
Sache liegt doch einfach ſo, daß die Trias 
von Blutfarbſtoff, Gallenpigmenten, und 
leimgeben dem Gewebe, um bei dem ge— 
wählten Beiſpiele ſtehen zu bleiben, ſämmt— 
lichen wirbelloſen Thieren ebenſowohl fehlt, 
wie den Anlagen der Wirbelthiere ſelbſt. 
Dieſe Körperbeſtandtheile müſſen alſo noth— 
wendig im natürlichen Entwicklungsgange 
an irgend einer Stelle zum erſten Male 
und neu erſcheinen. Die rothen Blut— 
körperchen (und wenn ich nicht irre, auch 
die aus dem Hämoglobin gebildeten Gallen— 
farbſtoffe) treten nun zuerſt bei den Rund— 
mäulern auf, deren nahe Verwandtſchaft 
mit dem Amphioxus zweifellos aus ihrer 
Entwicklungsgeſchichte hervorgeht. 
Naturforſcher, welche jede Annäherung des 
Amphioxus an das Wirbelthierreich ſo eifrig 
wie der h. Georg diejenige des Drachens 


Logik, daß man aus einer Kette zuſammen— 
gehöriger Gedanken nicht einen einzelnen 


thun. Wenn ſie conſequent 
wollen, müſſen ſie wenigſtens auch die 
Rundmäuler vom Wirbelthierſtamme los— 
weißen, trotz der Gegenwart des rothen 
Blutes und der Galle, des Gehirns und 


Die 
bekämpfen, vergeſſen eben die Regel der 


herausreißen darf, um ihn für ſich abzu⸗ 
verfahren 


leimgebenden Gewebes. Es geht hieraus 


Kleinere Mittheilungen. 


a 
wohl zur Genüge hervor, daß die chemiſche 
Beſchaffenheit der Körpertheile viel weniger 
charakteriſtiſch und verwendbar iſt für die 
Zwecke einer geſunden Syſtematik, die nicht 
nur auf die Trennung, ſondern auch auf 
die Wiedervereinigung bedacht ſein ſoll, als 
der anatomiſche Bau und die Entwicklungsge— 
ſchichte derſelben, und daß die Morphologie 
nach dieſer Richtung immer die Führung be— 
halten wird, ſo erwünſcht ihr, wie geſagt, 
die Hülfstruppen ſein müſſen, die ihr Herr 
Profeſſor Hoppe-Seyler zuführen will. 
N. 


Chemiſche Ausblicke auf die Ur— 
zeugungs Hypotheſe. 


Für die Urzeugungs-Alchemiſten und 
gemäßigten Homunkulus-Fabrikanten haben 
einige neue Arbeiten von Berthelot in 
Paris bedeutendes Intereſſe. Derſelbe fand 
nämlich, daß die an ſich ſchwache Affinität 
des trägen Stickſtoffs und der übrigen 
Organogene zu einander, bedeutend geſteigert 
werden könne durch ſchwache elektriſche Span— 
nungen und allmählige, dunkle Entladungen. 
Kohlenwaſſerſtoffe und ſogenannte Kohlen— 
hydrate (feuchte Celluloſe, Dextrin u. ſ. w.) 
nahmen unter dem Einfluße ſchwacher 
elektriſcher Spannung aus der Luft oder 
aus reinem Stickſtoff beträchtliche Mengen 
des letzteren auf, amidartige Verbindungen 
bildend, während ſie ohne eine ſolche Span— 
nung, die übrigens durchaus nicht im Stande 
war, den Sauerſtoff in Ozon zu ver— 
wandeln, in derſelben Zeit keine Spur von 
Stickſtoff banden. Dieſe Verſuche ſind zu— 
nächſt dadurch lehrreich, daß ſie einen für 
die Landwirthſchaft gewiß ſegensreichen Faktor 
im Naturhaushalt kennen lehren, dann aber 


auch indem ſie zeigen, wie wenig bisher 


23 


855 


die Kräfte der Natur, welche bei Bildung 
organiſcher Verbindungen in Betracht kommen, 
bei den Verſuchen, dergleichen Verbindungen 
künſtlich zu erzeugen, erſchöpft worden ſind. 
Zugleich liefern dieſe Verſuche einen Finger— 
zeig zur Complikation der phyſikaliſchen 
Bedingungen für die Urzeugungsverſuche. 
Daß die ſtillen Ausſtrömungen den Lebens— 
prozeſſen in keiner Weiſe hinderlich ſind, 
bewieſen grüne Algen, die ſich in zweien 
der elektriſchen Röhren Berthelot's auf dem 
feuchten Papier angeſiedelt hatten, und grade 
in dieſen beiden Röhren war die Stickſtoff— 
aufnahme am ſtärkſten geweſen. Es ſcheint 
mir, als müſſe man in jenen Verſuchen 
erſt auf Protoplasma (Moneren)- Bildung 
und nicht ſogleich auf Monaden und In— 
fuſorien-Fabrikation losgehen, wie es die 
meiſten Experimentatoren ſeither gethan 
haben. Vielleicht liefern ihnen die im drei- 
und vierundachtzigſten Bande der Comptes 
rendus beſchriebenen Verſuche Berthelot's 
neue Ausgangspunkte. 

Auf die ſehr auseinandergehenden An— 
gaben über die zur Tödtung organiſcher 
Keime ausreichende Temperatur wirft eine 
Betrachtung von Dr. Emil Jacobſen in 
Berlin Licht. „Ich glaube,“ ſagt derſelbe 
(Jnduſtrieblätter 1877. N. 7) „die Er- 
klärung iſt unſchwer herbeizuführen. Der 
Inhalt aller Keimzellen iſt eiweißhaltig; 
mit dem Coaguliren des Eiweißes hört die 
Keimfähigkeit auf. Dieſes Coaguliren iſt 
(abgeſehen von der Coagulation durch Salze 
oder Alkohol) ſtets mit einer Aufnahme 


Kleinere Mittheilungen. 


und chemiſchen Bindung von Waſſer ver— 
knüpft. Fehlt das Waſſer, jo kann Ei- 
weiß bis zum Bräunen erhitzt werden, ohne 
zu coaguliren. Sogenanntes Albuminpapier 
der Photographen kann man über der Licht— 
flamme beiſpielsweiſe bis zur beginnenden 
Verkohlung des Papiers erhitzen. Der Ei— 
weißüberzug bleibt im Waſſer löslich; ſo— 
bald man aber erhitzten Waſſerdampf da⸗ 
gegen ſtrömen läßt, wird das Eiweiß 
augenblicklich coagulirt und im Waſſer un⸗ 
löslich gemacht. Waſſerarme Keime oder 
ſolche, die durch langſames Trocknen ihres 
Waſſergehaltes beraubt find, werden alſo 
ganz bedeutende Temperaturen aushalten 
können, ohne daß ihr Eiweißgehalt zum 
Coaguliren gelangt. Eine Waſſer abſtoßende 
oder doch für Waſſer ſchwierig zugängliche 
Beſchaffenheit der Oberhaut der Sporen 
wird das Coaguliren des Inhalts ſelbſt in 
feuchter Hitze hinauszuſchieben vermögen.“ 
Dieſe Betrachtungen erklären ſehr ſchön 
die kürzlich von Tyndall gemachte Be— 
obachtung, daß die organiſchen Keime in 
jüngerem Heu ſchneller durch Kochen mit 
Waſſer ihrer Entwicklungsfähigkeit beraubt 
wurden, als diejenigen, welche in einem 
mehrere Jahre alten Heu enthalten waren. 
Bei einem Heu, welches 1876 geerntet 
war, reichte bereits ein fünf Minuten 
langes Kochen mit alkaliſchem Waſſer aus, 
um alle darin enthaltenen Keime zu tödten; 
älteres Heu mußte bedeutend länger ge— 
kocht werden, um daſſelbe Reſultat zu er— 
reichen. K. 


Offene Briefe und Antworten. 


Aus einem Briefe von 
Mr. Charles Darwin 
an die Redaktion. 


S J will suggest one 
point which you as Editor will perhaps 


| 


ſatze huldigt: 


find an opportunity of urging on your 
readers, and which seems to me of 


paramount importance with respeet to 
the descent theory, — namely the in- 
vestigation of the causes of variability. 


Why for instance are the wild eattle | 


which roam over the Pampas uniformly 
coloured, whereas they are half do- 
mesticated, they are said by Azara to 
change colour; and so in endless other 
cases. We want to know what is the 
nature of the change in the environ- 
ment which induces variability in each 
particular instance, and why one part 
of the organisation is affeeted more 
than another; though it seems hopeless 
at present to attempt solving this latter 
problem. J cannot but think that 
light might be thrown on this diffieult 
subject by experiments and observations 
made on freshly domesticated animals 
and cultivated plante. 


Ueber das Zuſammenwirken von 
Anthropologie und Ethnologie. 


Eine Auseinanderſetzung zwiſchen Herrn 
Profeſſor Dr. Friedr. Müller und Herrn. 


Friedrich von Hellwald. 
J. 
Es thut mir leid, meine Beiträge zum 
Kosmos mit einer Polemik gegen einen ge— 


ſchätzten Mitarbeiter und lieben Freund be— 
ginnen zu müſſen; ich glaube aber mir dies 
um ſo mehr erlauben zu dürfen, als auch 
mein Freund F. v. Hellwald dem Grund— 
„Amieus Plato, amieus 
Aristoteles, sed magis amica veritas.“ 

Hellwald will in ſeinem Aufſatze „Be— 
deutung und Aufgaben der Völkerkunde“ “) 
gegenüber der von mir nachdrücklich betonten 
Scheidung der Authropologie und Ethno— 
logie, die „Völkerkunde“, eine Verquickung 
beider Wiſſenſchaften, zu Ehren bringen, 
wobei er ſpeciell auf Peſchel ſich beruft. 
Wir hätten gegen ein ſolches Vorgehen nichts 
einzuwenden, ſofern es um eine einzelne 


Leiſtung, ein einzelnes intereſſant geſchriebenes f 


Buch ſich handelt, ebenſo wenig als wir 
gegen einen begabten Schriftſteller, der uns 
mit einer „Menſchenkunde“, einer Verquickung 
von Anatomie, Phyſiologie, Pſychologie 
und noch anderen Wiſſenſchaften, beſchenken 
würde, den Vorwurf der Vermengung 


mehrerer von einander geſchiedenen Wiſſens— 


zweige erheben würden. 

Hingegen müßten wir doch, falls Jemand 
die „Menſchenkunde“ in dem bewährten 
Sinne als Wiſſenſchaft proclamiren und an 
die Stelle der Anatomie, Phyſiologie und 
Pſychologie ſetzen wollte, energiſchen Proteſt 
gegen eine ſolche Vermengung der Wiſſen— 
ſchaften erheben. Und warum? Weil jede 
Wiſſenſchaft, falls ſie dieſen Namen 
verdienen ſoll, vorausſetzt und 
fordert, daß derjenige, welcher ſie 
treibt, in allen ihren Fragen voll— 
kommen zu Hauſe ſei, ſich ein ſicheres 


) Kosmos, Heft 1 Seite 45. 


FRE 


174 


Urtheil bilden und in allen ihren 
Problemen Rede und Antwort ſtehen 
könne. Ein auf bloße Autorität hin 


Offene Briefe und Antworten. 


gefälltes Urtheil hat, wie bekannt, in der | 


Wiſſenſchaft abſolut keinen Werth. 
aber Jemand, der in der Anatomie, Phyſio— 


Darf 


logie und Pſychologie, ſammt deren pro- 


pädeutiſchen Wiſſenſchaften nicht tüchtig ge- 
arbeitet hat, ein ſelbſtändiges Urtheil in 


irgend einem etwas ſchwierigeren Problem 
dieſer Diſciplinen ſich anmaßen? 

Das was Hell wald über den innigen 
Zuſammenhang der anthropologiſchen und 
ethnologiſchen Forſchung mit einander be— 
merkt, beweiſt ebenſo viel, als die Noth— 
wendigkeit, in phyſiologiſchen Fragen auf 
die Lehren der Phyſik und Chemie ſich zu 
beziehen, ja von ihnen auszugehen, um die 
Verquickung der Phyſik, Chemie und Phyſio— 


logie zu einer einzigen Wiſſenſchaft wünſchens⸗ 


werth erſcheinen zulaſſen. — Jede Wiſſenſchaft 
ſteht ja mit einer Reihe anderer Wiſſen— 
ſchaften im Zuſammenhange und muß viel- 
fach auf dieſelben ſich beziehen. Daraus 
aber darf nimmermehr die Nothwendigkeit 
einer Verſchmelzung dieſer Wiſſenſchaft ab— 
geleitet werden. 

Hellwald verſucht es, jene Selbſtbe— 
ſchränkung d. h. das Vertreten bloß jener 
Wiſſenſchaft, die man verſteht, als un— 
wiſſenſchaftlich hinzuſtellen. Er ſagt „die 
reine Ethnographie, welche ſich lediglich mit 
der Beſchreibung der Sitten, Gebräuche, 
Anſchauungen, Sprachen und dgl. der 
einzelnen Völker beſchäftigt, braucht ſich um 
die Stellung jedes einzelnen dieſer Völker 
eigentlich gar nicht zu bekümmern.“ Wir 
möchten gern wiſſen, welchem Ethnographen 
dieſes Geſtändniß entnommen iſt. Wenn 


Hellwald dabei an unwdiſſenſchaftlich ge— 
ſchriebene Monographien denkt, ſo iſt der 
Satz unrichtig, da ſolche Publicationen nicht 


in die Wiſſenſchaft der Ethnographie gehören; 
denkt er aber dabei an Darſtellungen der 
Ethnographie als Wiſſenſchaft, ſo hätte 
dabei das Buch, welches die Wiſſenſchaft 
ohne ein beſtimmtes Syſtem darzuſtellen 
unternimmt, näher bezeichnet werden ſollen. 
Bekanntlich habe ich es in meiner 1873 
erſchienenen „allgemeinen Ethnographie“ 
unternommen, die Ethnographie als die Lehre 
vom Menſchen, inſofern er einer natür- 
lichen, d. h. durch Sprache, Sitten u. ſ. w. 
geeinten Geſellſchaft angehört, ſyſtematiſch 
darzuſtellen, wobei ich nach der von mir 
gegebenen Definition von Raſſe und Volk, 
von der anthropologiſchen Grundlage, aus— 
ging. Ich habe in meinem Syſtem beide 
Richtungen, Anthropologie und Ethnologie, 
ſtreng aus einander gehalten; ſie ſind nicht 
bei mir ſo verquickt, daß eine Richtung 
von der andern abhängig wäre. Mein 
ethnologiſches Syſtem vermag ich ſel b⸗ 
ſtändig zu vertreten und bin ſtets bereit, 
mich mit Fachgenoſſen in Erörterungen 
darüber einzulaſſen; dagegen iſt das von 
mir adoptirte anthropologiſche Syſtem (für 
das ich wohl Verſtändniß habe, das ich 
aber nicht ſelbſtändig zu vertreten vermag) 
fremdes Eigenthum. Es bildet blos den Aus- 
gangspunkt meines ethnologiſchen Syſtem's 
und könnte auch, falls ein beſſeres ſich mir 
darbieten würde, durch dieſes, ohne irgend 
welche Veränderung in meinem ethnologiſchen 
Sy ſtem hervorzurufen, erſetzt werden. 

Ein ſolches Auseinanderhalten anthro— 
pologiſcher und ethnologiſcher Forſchung ſcheint 
mir für den Fortſchritt der Wiſſenſchaft 
förderlicher zu ſein als jene Verquickung, 
wie ſie Peſchel in ſeiner „Völkerkunde“ 
durchgeführt hat, und die nun Hellwald in 
die Wiſſenſchaft einführen möchte. Durch 
dieſe Bemerkung wird — wir müſſen dies 
ausdrücklich betonen — Peſchel's Buch 


keineswegs betroffen. Das Buch Peſchel's 


iſt ein geiſtreich geſchriebenes, in ſeiner Art 
claſſiſches Werk, das blos ein Peſchel 
ſchreiben konnte. Es nimmt aber ebenſo 
wenig in den Wiſſenſchaften der Anthro— 


pologie und Ethnologie eine beſtimmte 


Stellung ein, als ewa Humboldt's Kosmos 
in der Anatomie, Phyſiologie und dergl. 


Peſchel war bekanntlich vergleichender 
Geograph, aber weder Natur- noch Sprach- 


forſcher von Fach. Seine Anſichten ſtützen 
ſich, ſofern ſie auf die beiden letzteren Ge— 
biete ſich beziehen, auf beſtimmte Autori— 
täten. Das iſt Wiſſen, glänzendes Wiſſen, 
aber nicht Wiſſenſchaft, wie man ſie heut 
zu Tage verſteht, nämlich „zunftmäßige 
Wiſſenſchaft.“ 

Während Peſchel's Buch nur von 
einem Peſchel geſchrieben werden konnte, 
hätte jeder mit meinen Fachkenntniſſen und 
Studien ausgeſtatteter Mann meine „all— 
gemeine Ethnographie“ zu Stande gebracht. 

Mit dieſem Geſtändniß habe ich die 
Vorzüge und Mängel zugleich der Arbeit 
Peſchel's, ſowie ſeiner Richtung, die 
Hellwald in die Wiſſenſchaft einführen 
möchte, getroffen. — Das Werk Peſchel's 
blendet, es iſt mit tiefen philoſophiſchen 
Betrachtungen durchflochten und anziehend 
geſchrieben. Es iſt mehr für die erhebende 
Lectüre als für das zünftige Studium 


beſtimmt. Es fehlt ihm jedoch die eigene 


Grundlage; dieſelbe beſteht vielfach aus „in 
fremdem Garten gepflückten Blumen“; in 
anderen Fällen iſt fie durch den Eklekticismus 
(eine Folge davon, daß Peſchel nicht 
Fachmann war) gewaltig erſchüttert. 


Wie man heutzutage Wiſſenſchaft treibt, 


ſo wird von jedem ihrer Jünger zunächſt die 
genaueſte Kenntniß ihres Handwerkszeuges 
und ihrer Methode gefordert. Der Umfang 
einer jeden Wiſſenſchaft iſt heutzutage derart, 


Offene Briefe und Antworten. 


175 


daß nur Jemand, der ſich auf eine be— 
ſtimmte Richtung beſchränkt, Bedeutendes, 
für die Wiſſenſchaft Werthvolles zu leiſten 
vermag. Ob ein Jemand im Stande iſt, 
zwei ſo verſchiedene Wiſſenſchaften, wie ver— 
gleichende Anatomie und vergleichende Sprach— 


kunde (und dieſe beiden bilden doch zuletzt die 


ſicheren Grundlagen einerſeits der anthropolo— 
giſchen, andererſeits der ethnologiſchen For— 
ſchung) zu umfaſſen, d. h. wiſſenſchaftlich zu 
umfaſſen, dies iſt eine Frage, die ich 
im Hinblick auf meine eigenen Kräfte ent— 
ſchieden verneinen möchte. 

Wir bleiben alſo bei unſerer bereits 
gemachten Bemerkung, daß wir, wenn Je— 
mand als Schriftſteller Anthropologie und 
Ethnologie verquickt, alſo eine „Völkerkunde“ 
ſchreibt, nichts Weſentliches dagegen einzu— 
wenden haben; daß wir aber, ſofern es ſich 
um die Wiſſenſchaft, d. h. zunftmäßige 
Wiſſenſchaft handelt, auf ein ſtrenges Aus— 
einanderhalten beider Richtungen dringen 
müſſen. Nur durch eine ſolche Vertheilung 
des gewaltigen, zwei ganz verſchiedenen 
Wiſſensgebieten angehörenden Stoffes, durch 
genaue ſyſtematiſche Bearbeitung deſſelben 
von eigens dazu geſchulten Kräften, wird 
ein Ausbau der Wiſſenſchaften der Anthro— 
pologie und Ethnologie möglich ſein; glück— 
lichere Zeiten, als es die unſere iſt, mögen 
dann meinetwegen den ſtolzen Tempel der 
„Völkerkunde“ vollenden. 

Wie wir glauben, mag Hellwald 
im tiefſten Grunde zu ſeinen Ausführungen 
durch den Umſtand veranlaßt worden ſein, 
daß ſein Gewiſſen ſich ſträubt, die Wiſſen— 
ſchaft vom Menſchen überhaupt aus dem 
Bereiche der exacten Wiſſenſchaften auszu— 
liefern, daher er fie wiederholt den Natur- 
wiſſenſchaften zuzählt. Dem liegt aber eine 
ſtillſchweigende Identificirung der Natur- 
wiſſenſchaften mit exacter Wiſſenſchaft über— 


. 
enn al 


176 


haupt zu Grunde, eine Identificirung, der 
wir auch bei vielen Sprachforſchern (z. B. 
Schleicher) begegnen. Daß aber eine ſolche 
Identificirung nicht richtig iſt, geht ſchon 
daraus hervor, daß Manches in das Ge— 
biet der Naturwiſſenſchaften gehören kann, 
ohne deswegen exact zu ſein, und umgekehrt 
manches dem Gebiete der Geiſteswiſſen— 
ſchaften Angehörende exact ſein kann. Wer | 
will behaupten, daß z. B. Perty's bekannte | 
Arbeiten über die Geiſtererſcheinungen (ein 
ſtreng naturwiſſenſchaftliches Object!) den 


Namen einer exacten Forſchung ver— 
dienen? Und verdient die vergleichende 
Grammatik irgend eines Sprachſtammes 


weniger den Namen einer exacten Leiſtung 
als eine Arbeit über die Schädelbildung 
dieſer oder jener Raſſe? Man erſieht wohl 
daraus leicht, daß der Umſtand, ob eine 
Arbeit exact ſei oder nicht, nicht ſo wohl 
darauf, ob das Object den Natur- oder 
den Geiſteswiſſenſchaften angehört, ſondern 
vielmehr darauf beruht, mit welcher Methode 


Offene Briefe und Antworten. 


beider Wiſſenſchaften anſtrebe. Weit entfernt, 


ſie ausgeführt worden iſt. In der Me— 
thode ruht der eigentliche Cha— 
rakter — der Fortſchritt der 
Wiſſenſchaft. 

Friedrich Müller. 


II. 

Die Einwendungen, welche Profeſſor 
Friedrich Müller in Wien gegen meine 
Auffaſſung der „Völkerkunde“ erhebt, konn— 
ten mir von keiner angenehmeren Seite 
kommen als gerade von ihm, mit dem 
mich eine langjährige Freundſchaft verbindet. 
Es wird daher nicht ſchwierig ſein, zu einer 
Verſtändigung in der aufgeworfenen Frage 
zu gelangen, welche auch für weitere Kreiſe 
Intereſſe haben dürfte, und wir haben ſo— 
gar alle Urſache, dem Wiener Sprachgelehr— 


ten unſeren aufrichtigſten Dank dafür zu 
zollen, daß er dieſes Thema einer näheren 
kritiſchen Beachtung werth erachtet hat. Mit 
Vergnügen folge ich daher meinem lieben 
Freunde auf dieſem Boden und will im 
Folgenden ſo knapp als möglich meine An— 
ſichten präciſiren, wobei ſich wahrſcheinlich 
herausſtellen wird, daß, wenn überhaupt, 
eine nur ſehr unerhebliche Meinungsdiffe⸗ 
renz zwiſchen uns beſteht. 

Müller irrt entſchieden, wenn er 
meint, daß gegenüber der von ihm nach— 
drücklich betonten Scheidung der Anthro⸗ 
pologie und Ethnologie ich eine Verquickung 


Müller hierin zu opponiren, rechne ich 
ihm gerade die ſcharfe Sonderung der bei— 
den Wiſſenszweige zum höchſten Verdienſte 
an; hat doch er zuerſt der Verſchwommen⸗ 
heit ein Ende gemacht, welche lange Zeit 
die beiden Begriffe umnebelte. Qui bene 
distinguit, bene docet; dieſer alte Satz 
hat auch hier ſeine volle Geltung. Wenn 
ich dennoch die „Völkerkunde“ in dem Sinne 
nahm, wie Peſchel deren Grundriſſe 
feſtgelegt, ſo geſchieht dies keineswegs, um 
den Unterſchied zwiſchen Anthropologie und 
Ethnologie wieder aufzuheben, noch auch 
um aus der „Völkerkunde“ eine beſondere 
Disciplin zu machen. Aus vollem Herzen 
unterſchreibe ich alles, was Fr. Müller 
über Peſchel's Buch ſagt; die Stellung 
der „Völkerkunde“ im Kreiſe des menſch— 
lichen Wiſſens nach meiner Auffaſſung 
glaube ich jedoch am beſten an zwei con— 
creten Beiſpielen klar machen zu können. 
Faſſen wir zunächſt die ſeit mehreren 
Jahren ſehr erfolgreich betriebenen urge— 
ſchichtlichen Studien, oder wie Manche mit 
einem Fremdworte ſagen, die Prähiſtorie 
des Menſchen ins Auge. Unterſuchen wir 
die Programme und den Wirkungskreis der 


Offene Briefe und Antworten. 177 


ſich mit dieſem Wiſſenszweige befaſſenden 
Geſellſchaften in Deutſchland, in Oeſterreich, 
in Frankreich, in England, überall finden 
wir, daß dieſelben mindeſtens drei be— 
ſtimmte, geſonderte Disciplinen: Anthro— 
pologie, Ethnologie und Urgeſchichte um— 
faſſen. Jede dieſer drei Disciplinen ſteht 
für ſich völlig unabhängig, ſelbſtſtändig da; 
nur wenn ſie alle drei ſich vereinen, ver— 
mögen wir aber ein Verſtändniß für die 
menſchliche Prähiſtorie zu gewinnen. Wer 
die Urzuſtände unſeres Geſchlechts erforſchen 
will, muß nothwendiger Weiſe alle drei 
Disciplinen mit gleicher Sorgfalt berück— 
ſichtigen, und erſt die Ergebniſſe aus allen 
dreien conſtituiren die prähiſtoriſche Wiffen- 
ſchaft. Werden aber darum die drei Dis— 
ciplinen in ihrer Selbſtſtändigkeit verletzt? 
Keineswegs. Man wird immer ganz aus— 
ſchließlich blos anthropologiſche, blos ethno— 
logiſche oder blos urgeſchichtliche (dann 
richtiger archäologiſch zu nennende) Forſchun— 
gen anſtellen und auf jedem dieſer Gebiete 
Großes leiſten können; nur wird die bloße 
Beherrſchung eines dieſer Wiſſensfelder allein 
niemals zur Herſtellung des Begriffes ge— 
nügen, welchen wir mit der prähiſtoriſchen 
Wiſſenſchaft verbinden. Noch beredter ſpricht 
das näher liegende Beiſpiel vom Arzte, 
worauf Müller ſelbſt hindeutet, indem 
er fragt, ob Jemand, der in der Anatomie, 
Phyſiologie und Pſychologie ſammt deren 
propädeutiſchen Wiſſenſchaften nicht tüchtig 
gearbeitet hat, ein ſelbſtſtändiges Urtheil in 


irgend einem ſchwierigeren Problem dieſer 
| ſchmelzung oder Verquickung das Wort zu 
reden, glaube ich damit gerade auf dem 
es, daß die ärztliche Wiſſenſchaft nur aus 


Disciplinen ſich anmaßen darf? Gewiß 
nicht, antworte ich; aber ebenſo gewiß iſt 


der Vereinigung aller dieſer Disciplinen 
und noch anderer hervorgeht. Man kann 
ein tüchtiger Anatom, oder Phyſiologe, oder 
Pſychologe ſein, iſt aber deshalb lange 


noch kein Arzt. Erleiden aber dieſe einzelnen 
Disciplinen dadurch, daß ſie alle insgeſammt 
zur ärztlichen Wiſſenſchaft gleich nothwen— 
dig ſind, irgend eine Beeinträchtigung an 
ihrer Selbſtſtändigkeit, oder werden ſie da— 
durch etwa mit einander verſchmolzen? 
Sicherlich nicht im Geringſten, und ganz 
thöricht wäre es von uns, die Selbſtbe— 
ſchränkung, d. h. das Vertreten blos jener 
Wiſſenſchaft, die man verſteht, als unwiſſen— 
ſchaftlich hinzuſtellen. Kein Gedanke konnte 
mir ferner liegen, und Müller's dies— 
bezügliche Annahme beruht wohl nur auf 
einem vielleicht von mir durch undeutliche 
Ausdrucksweiſe hervorgerufenen Mißver— 
ſtändniſſe. Die reine Ethnographie, welche 
ſich lediglich mit der Beſchreibung der Sit— 
ten, Gebräuche, Anſchauungen, Sprachen 
u. dgl. der einzelnen Völker beſchäftigt, 
braucht ſich um die Stellung jedes einzelnen 
dieſer Völker eigentlich gar nicht zu be— 
kümmern. So ſagte ich, und mein ge— 
ſchätzter Freund fragt, welchem Ethnographen 
dieſes Geſtändniß entnommen ſei. Glück— 
licherweiſe gar Keinem, denn ich hatte 
dieſes eben nur in abstracto und unter 
„Stellung jedes einzelnen dieſer Völker“ 
die anthropologiſche Stellung gemeint. 
In abstracto wohnt aber dem Satze wohl 
die nämliche Berechtigung inne, als wenn 
ich ſage, daß die Anatomie ſich eigentlich 
nicht um die Pſychologie, die Anthropo— 
logie ſich nicht um die Archäologie zu 
kümmern brauche. Jedes bildet eben eine 
Disciplin für ſich, und ſtatt einer Ver— 


Standpunkte Müller's zu ſtehen, den 
ich nicht nur in dieſer, ſondern auch noch 
in anderen Fragen verfechte. Nur glaube 
ich, daß es Wiſſenſchaften giebt, welche erſt 
aus der Vereinigung der Reſultate mehre— 


178 


rer Disciplinen erwachſen, was von einer | 
Verſchmelzung oder Verquickung derſelben 


doch himmelweit verſchieden iſt. Solche 
Wiſſenſchaften find die Prähiſtorie, die Heil— 
kunde und — meiner Anſicht nach — die 
Völkerkunde. Daß Fr. Müller offenbar 
der nämlichen Anſchauung huldigt, geht 
übrigens aus ſeiner eigenen trefflichen 
„Allgemeinen Ethnologie“ hervor, in wel— 
cher er zwar beide Richtungen, Anthropo— 


logie und Ethnographie, ſtreng aus einander 


hält, dennoch aber die erſtere Disciplin, 
ſogar, wie er ſagt, in einem adoptirten 
Syſteme, überall zur Geltung gelangen 
läßt, ſtatt dieſelbe gänzlich auszumerzen, 
wie es logiſch wäre, wenn er ſie in 
ſeinem Buche nicht für nöthig erachtete. 
Ueberall läßt Müller — und mit voll- 
ſtem Rechte — die Schilderung des leib— 
lichen Typus, d. h. das anthropologiſche 
Moment, der ethnographiſchen Schilderung 
vorangehen, ein Beweis, daß auch ihn 


eine allgemeine Ethnographie, welche ſich 


nur mit Sitten, Gebräuchen, Anſchau— 
ungen, Sprache der Völker befaßt, unbe— 
friedigt gelaſſen hätte. Daß Müller 
beide Richtungen ſtreng aus einander ge— 
halten, ſo daß keine von der anderen ab— 
hängig erſcheint, verdient hohe Anerkennung, 


nicht minder aber auch, daß er beide den 


noch neben einander gleichmäßig einherführt. 
Mit dieſem Satze iſt, glaube ich, der Boden 
für eine Verſtändigung, ſowohl mit dem be— 
freundeten Forſcher wie mit dem Leſer dieſer 
friedlichen Auseinanderſetzung, gewonnen, 
und wird Prof. Müller nicht mehr im 
Zweifel ſein können, daß ein Widerſpruch 
zwiſchen unſeren Anſichten nicht beſteht. 


Offene Briefe und Antworten. 


Vielleicht trüge es zur Klärung ähn— 
licher Discuſſionen bei, wenn man der 
Terminologie eine größere Schärfe geben 
könnte. Die Definition, welche Müller 
für die „Wiſſenſchaft“ aufſtellt, iſt an und 
für ſich unbeſtreitbar; da aber Müller 
ſelbſt zur genaueren Bezeichnung ſich des 
Beiwortes „zunftmäßig“ bedient, ſo dürfte 
man vielleicht den Vorſchlag wagen, dieſe 
„zunftmäßigen Wiſſenſchaften“ „Disci— 
plinen“, kurzweg „Wiſſenſchaften“ aber jene 
Wiſſensfelder zu nennen, deren Bebauung 
das Zuſammenwirken mehrerer Disciplinen 
erfordert. In dieſem Sinne wären z. B., 
um nur einige zu nennen, Heilkunde, Ge— 
ſchichte, Erdkunde und auch Völkerkunde, 
(die ja nur die deutſche Umſchreibung 
des Wortes „Ethnographie“), weil der 
Mitwirkung verſchiedener Disciplinen bedürf- 
tig, Wiſſenſchaften, während Anatomie, 
Phyſiologie, Pſychologie, oder auf geſchicht— 
lichem Gebiete Numismatik, Epigraphik 
u. dgl., endlich auf jenem der Erdkunde Geo— 
logie, Paläontologie, Phyſik, ſo wie die 
verſchiedenen Zweige der „Naturwiſſen— 
ſchaften“ als Dis ciplinen zu gelten hätten. 
Was die Scheidung zwiſchen Natur- und 
Geiſteswiſſenſchaften anbelangt, ſo lege ich 
keinen ſo großen Werth darauf, ob die 
Wiſſenſchaft vom Menſchen zu dieſen oder 
zu jenen gezählt werde, da — ſo ſehr ich 
Müller's Ausführungen beipflichte — 
dieſe Scheidung mir noch eine ziemlich ſub— 
jective erſcheint, zumal es nicht an Stimmen 
fehlt, welche in gewiſſem Sinne alle 
Wiſſenszweige den Naturwiſſenſchaften zu- 
rechnen. 

Friedrich von Hellwald. 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


Gedanken über Dererbingseriheinungen und 
Dererbungswelen 


von 


Dr. Ludw. Moerzier. 


(Schluß.) 


nennenswerthen Verſuch, 
den Hergang bei der Vererbung 


mit ſeiner Hypotheſe der Pan— 


geneſis gemacht, die der britiſche Forſcher 
jedoch ſelbſt als eine nur „proviſoriſche“ 
bezeichnet. Darwin nimmt an, „daß die 
Zellen kleine Körperchen (Keimchen, Gem— 
mulae) abgeben, welche durch das ganze 
Syſtem (des Körpers) zerſtreut werden; 


daß dieſe, gehörig genährt, ſich durch 
Selbſttheilung vervielfältigen und ſchließ— 
lich zu Einheiten (oder Zellen) entwickelt 
werden, gleich denjenigen, von welchen ſie 
urſprünglich abgeleitet ſind. Sie ſammeln 
ſich aus allen Theilen des Körpers, um 
die Geſchlechtselemente zuſammenzuſetzen, 
und ihre Entwickelung in der nächſten Ge— 
neration bildet ein neues Weſen; aber ſie 
ſind gleicherweiſe auch fähig, in einem 
) Charles Darwin, Das Variiren 
der Thiere und Pflanzen im Zuſtand der 
Domeſtikation. 2. Aufl. 1875. 27. Kapitel. 


ſchlummernden Zuſtande an künftige Ge— 
nerationen überliefert und dann erſt ent— 
wickelt zu werden. Ihre Entwickelung hängt 
ab von ihrer Vermiſchung mit anderen, 
theilweiſe entwickelten oder entſtehenden 
Zellen, welche ihnen im regelmäßigen Ver— 
lauf des Wachsthums vorausgehen.“ Es 
wird ferner von ihm angenommen, „daß 
Keimchen von jeder Einheit oder Zelle 
nicht nur während ihres erwachſenen Zu— 
ſtandes abgegeben werden, ſondern auch 
während jedes Entwickelungszuſtandes eines 
jeden Organismus; aber nicht nothwendig 
während der fortgeſetzten Exiſtenz derſelben 
Zelle.“ Endlich nimmt er an, „daß die 
Keimchen in ihrem ſchlummernden Zuſtande 
eine gegenſeitige Verwandtſchaft zu einander 
haben, welche in ihrer Anhäufung entweder 
zu Knospen oder zu Sexual-Elementen 
führt.“ 

Aehnliche Vorſtellungen, daß der Same 
gleichſam ein Extrakt des ganzen Körpers 
ſei, finden ſich ſchon bei Schriftſtellern der 


[| Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


Alten; der Same ſtrömt, nach Hippo— 
krates, von allen Theilen des Körpers 
her, und iſt geſund oder ungeſund, je nach— 
dem die Theile geſund oder ungeſund ſind. 
Nach Demokrit wird der Same vom 
ganzen Körper ausgeſchieden und belebt 
durch eine körperliche Kraft; der Same 
jedes Körpertheils erzeugt den beſtimmten 
Theil wieder. 

Der Lehre Demokrit's ſchloß ſich 
Paracelſus an, und dieſelbe wurde als 
neue Zeugungstheorie im Anfang dieſes 
Jahrhunderts von Ben. Höſch aufgeſtellt: 
er hält die Zeugungsſtoffe für Gemiſche 
von Grundſtoffen des ganzen Körpers, von 
Keimen aller Organe, die von den Saug— 
adern aufgenommen und durch das Blut 
in Hoden und Eierſtock geführt werden. 
Auch die Buffon'ſche Lehre der Erb— 
lichkeit, wonach die Keime Extrakte des 
ganzen Körpers ſind, die ſich mit einander 
miſchen, ſowie die neueren Hypotheſen *) 
ſtimmen im Princip mit Darwin's 
Pangeneſis überein. 

His“) weiſt zur Widerlegung der 
Pangeneſis auf die Kritik hin, welche be— 
reits Ariſtoteles auf die ganz ähnliche 
Hypotheſe ſeines Zeitgenoſſen geſchrieben 
habe. Wenn auch, bei dem fortgeſchrittenen 
Standpunkte der hiſtologiſchen Forſchung, 
Darwin's Pangeneſis gegen mehrere der 
Ariſtoteliſchen Einwürfe ſich vertheidigen 
läßt, ſo bleibt doch immer das eine 
wichtige Bedenken, welches auch His an— 
führt: „Wollen wir ſelbſt die Möglichkeit 
zugeben, jede Ganglienzelle bilde ihre 

) Vgl. Dr. Emanuel Roth, Hiftorifch- 
kritiſche Studien über Vererbung. Berlin 1877. 
Verlag von Aug. Hirſchwald. 

) His, Unſere Körperform und das 
phyſiologiſche Problem ihrer Entſtehung. 
Leipzig 1875. Verlag von F. C. W. Vogel. 


* 


Ganglienzellenkeime und gebe je nur 
einen an einen neuen Geſammtkern ab, 
und daſſelbe gelte von jedem andern un— 
ſerer Elementarbeſtandtheile, ſo bleibt ſtets 
noch ſicher, daß eine Summe von diminu— 
tiven Theilrepräſentanten oder von Organ— 
ſplittern nicht ein diminutives Ganze liefern 
wird, ſondern ein regelloſes Gemenge, das 
auf den Namen eines Organismus keinen 
Anſpruch machen darf.“ Selbſt wenn man 
annimmt, daß gleichartige Keimchen ſich 
finden, ſo iſt damit doch immer noch nicht 
erklärt, warum ſie, nachdem ſie ſich gefun— 
den haben, den anderen Keimchencomplexen 
gegenüber in einer der Schichtungsweiſe des 
elterlichen Organismus ſo ganz ähnlichen 
Weiſe bei ihrer Schichtung ſich verhalten 


werden, warum beiſpielsweiſe die Keimchen- 


complexe der Muskeln zu denen der Nerven 
genau ebenſo ſich lagern, wie dies bei den 
Muskeln und Nerven des elterlichen Or— 
ganismus der Fall war. Was giebt den 
Keimchen die wunderbare Organiſation, 
daß ſie, etwa von der degenerirten Zehe 
ſtammend, im Keim ſich zu der ganz ähn— 
lich gebauten kindlichen Zehe ſammeln? 
Bei aller Hochachtung und Verehrung, 
welche Darwin verdient, muß man ſich 
geſtehen, daß er das zu Erklärende in die 
Keimchen ſelbſt zurückverlegt hat und ihnen 
Eigenſchaften zuweiſt, die ebenſo unerklärt 
und ſtaunenerregend find, wie der makro— 
ſkopiſche Bau des Thieres, der durch ſie im 
Keime vorgebildet werden ſoll. 

Wenn Blumenbach, in Weiter⸗ 
bildung der früher ſchon von Mauper— 
tuis und Needham ausgeſprochenen 
Idee annahm, daß „nachdem der vorher 
rohe und ungebildete Zeugungsſtoff der orga— 
niſchen Körper zu ſeiner Reife und an den 
Ort ſeiner Beſtimmung gelangt ſei, in ihm 
ein beſonderer, dann lebenslang thätiger 


Bez 
en), 


Trieb rege wird, eine jedesmal beſtimmte 
Geſtalt anzunehmen, lebenslang zu erhalten 
und, wenn ſie etwa verſtümmelt worden, wo— 
möglich wieder herzuſtellen,“ ſo kann die 
Aufſtellung eines ſolchen Bildungstriebes 
ſo lange nichts erklären, als dasjenige, was 
dieſen Trieb treibt, nicht durchſchaulich wird. 
Iſt ein ſolcher „Bildungstrieb“, oder ſind 
vielmehr ſolche Bildungstriebe weniger 
ſtaunenerregend, als die vollendeten Ge— 
ſtalten ſelbſt? Und ſagt dieſe Erklärung 
vielleicht etwas Anderes, als daß die For— 
men ſo ſind, weil ſie ſo getrieben ſind? 
Von eben ſolchen Trieben, obwohl er ſie 
verurtheilt, ſpricht im Grunde genommen 
auch der Verfaſſer von „Unſere Körper— 
form“. Er glaubt das phyſiologiſche 
Problem ihrer Entſtehung der Löſung nahe 
gebracht zu haben, indem er dem mütter— 
lichen Ei eine ſpecifiſche Vertheilung der 
Wachsthums-Erregbarkeit zuerkennt, welche 
durch die verſchiedene ſpecifiſche Erregung 
durch die Samenfäden in Wirkung ver— 
ſetzt wird. Iſt es aber nicht eine wunder— 
bar geſchickt vertheilte Wachsthumserregbar— 
keit des Eies, und iſt es nicht ein wunder— 
lich geſchickt erregender Stoß der Samen— 
fäden, wenn das Endreſultat derſelben das 
jedesmalige Werden eines ſpecifiſchen In— 
dividuums iſt? Wodurch wird im Ei 
dieſe Wachsthumserregbarkeit ſo hübſch ver— 
theilt, was legt in die Samenfäden die 
ebenſo hübſch vertheilte erregende Kraft, 
daß aus dem Ei nach Contakt mit den 
Samenfäden ein Weſen wird, welches die 
mütterlichen und väterlichen Eigenſchaften 
oft bis zu den minutiöſeſten Kleinigkeiten 
in ſich vereinigt? Wo ſind mit anderen 
Worten die Urſachen der inneren Ur— 
ſachen? 

Wenn His ſich als Ziel die mecha— 
niſche Erklärung der Ontogeneſe ſtellt und 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 
ö g ) 9 0 


181 


dieſe auf phyſiologiſchem Wege dadurch zu 
erreichen ſucht, daß er „ein allgemeines 
Grundgeſetz des Wachsthums“ aufſtellt, ſo 
iſt das gewiß anzuerkennen, wenn er aber 
als Urſache der verſchiedenen Wachsthums— 
formen einen dem Keim anhängenden 
Wachsthumstrieb annimmt, dann darf er 
gewiß den nisus formativus Blumen- 
bach's nicht zu ſehr von oben herab be 
trachten. Klarer über das Endziel cauſaler 
Naturerklärung denkt jedenfalls Häckel. 
„Auch ich,“ ſagt derſelbe in Beantwortung 
des His'ſchen Angriffes, *) „verfolge in 
allen meinen Arbeiten über Entwickelungs— 
geſchichte das Hauptziel, ſämmtliche Erſchei— 
nungen der Ontogeneſis mechaniſch zu 
erklären, freilich nicht mit Ausſchluß, 
ſondern mit Hülfe der Phylogeneſe; aber 
ebenfalls auf phyſiologiſchem Wege. Iſt 
doch das ganze neunzehnte Kapitel der „ge— 
nerellen Morphologie“ bemüht, die beiden 
formbildenden Erſcheinungen der Vererbung 
und Anpaſſung, mit denen die bisherige 
Schul-Phyſiologie ſich jo gut wie gar nicht 
beſchäftigt hat, als phyſiologiſche Funktionen 
der Organismen nachzuweiſen, auf die 
Funktionen der Fortpflanzung und Ernäh— 
rung zurückzuführen, und als ſolche mecha— 
niſch, d. h. durch chemiſch-phyſikaliſche Ur— 
ſachen zu erklären.“ Und weiter: „Ich befinde 
mich alſo bei Stellung meiner Hauptaufgabe 
zunächſt ganz auf demſelben Boden, wie 
His, auf dem Boden des Monismus, und 
erkenne als den auf unſer gemeinſames Ziel 
hinführenden Weg den mechaniſchen, im 
Gegenſatz zum teleologiſchen an. Denn ich 
theile die Anſicht Kant's, daß der Me— 
chanismus allein eine wirkliche Erklärung 
einſchließt, und daß es ohne das Princip 

) Ernſt Häckel, Ziele und Wege der 
heutigen Entwickelungsgeſchichte. Jenaiſche 
Zeitſchrift. X. Band. Supplementheft. 


“ 


182 


des Mechanismus keine Naturwiſſenſchaft 
geben kann. Auch darin, daß das Wachs— 
thum als nächſtes formgeſtaltendes Princip 
die geſammte individuelle Entwickelung be— 
herrſcht, ſtimme ich ganz mit His über— 
ein. Wir beide erkennen ja damit im 
Grunde nur den Satz an, welchen Baer 
ſchon vor 47 Jahren als das allgemeinſte 
Reſultat ſeiner Forſchungen erklärte: „Die 
Entwickelungsgeſchichte des Individuums iſt 
die Geſchichte der wachſenden Individualität 
in jeglicher Beziehung.“ Wie kommt aber 
das Wachsthum dazu, in den ungezählten 
Tauſenden von organiſchen Formen überall 
verſchiedene und ewig wechſelnde Formen 
anzunehmen? Hier ſcheidet ſich der Er— 
klärungsweg von His fundamental von 
dem meinigen; ich wende mich zur Phylo— 
genie, um die hiſtoriſche Entſtehung der 
verſchiedenen Wachsthumsformen zu erklären, 
und ſuche in der Wechſelwirkung der Ver— 
erbung und Anpaſſung den völlig genü— 
genden Erklärungsgrund. His hält dieſen 
„weiten Umweg“ für ganz überflüſſig und 
ſucht direkt die Ontogenie aus ſich ſelbſt 
zu erklären.“ Es dürfte nicht ſchwer hal— 
ten zu zeigen, daß auch Herr Profeſſor 
His das Bedürfniß, über die Ontogeneſe 
hinaus durch die Phylogeneſe zu einer cau— 
ſalen Erklärung des ontogenetiſchen Wachs— 
thums zu gelangen, gefühlt hat. Er faßt 
ſeine Unterſuchungen in die Behauptung zu— 
ſammen, daß die Körperform eine unmittel— 
bare Folge des Keimwachsthums und bei 
gegebener Anfangsform des Keimes aus 
dem Geſetze des Wachsthums abzuleiten 
ſei. Sein Beſtreben geht 1) auf empiriſche 
Feſtſtellung des Wachsthumsgeſetzes und 
2) auf die Ableitung der ſich folgenden Formen 
des entſtehenden Körpers aus dieſem Ge— 
ſetz. Weiterhin iſt ihm das Keimwachs— 
thum eine Folge der Eigenſchaften des eben 


„ 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


befruchteten Keimprotoplasmas. Dieſe ſind 
eine Folge von den Eigenſchaften der elter— 
lichen Keimſtoffe und der Art ihres Zu— 
ſammentreffens. Wir bekommen ſomit nach 
His folgende Reihe zu leiſtender Erklä— 
rungen: 

1) Erklärung der Körperform aus dem 
Wachsthum des Keimes; 2) Erklärung des 
Keimwachsthums aus den Eigenſchaften 
des befruchteten Keimprotoplasmas und aus 
den Bedingungen feiner Entwickelung (Tem— 
peratur, Ernährungsbedingungen u. ſ. w.); 
3) Erklärung der Eigenſchaften des befruch— 
teten Keimprotoplasmas aus den Eigen— 
ſchaften der elterlichen Keimſtoffe und den 
beſonderen Bedingungen ihres Zuſammen— 
treffens. 4) Erklärung der Eigenſchaften 
der Keimſtoffe aus dem Gange der 
elterlichen Körperentwickelung. 
5) Erklärung der beſonderen Bedingungen der 
Befruchtung aus den Lebens verhält— 
niſſen der beiden Erzeuger u. ſ. f. Sue 
dem er aber die Eigenſchaften des Keim— 
protoplasmas auf die Eigenſchaften der 
elterlichen Keimſtoffe, dieſe wieder auf den 
Gang der elterlichen Körperbildung und 
letztere, ganz oder zum Theil, auf die Le— 
bensverhältniſſe der Erzeuger zurückführt, 
muß er aufſteigend zu Stammformen kom— 
men, welche immer mehr Eigenſchaften ſich 
erwerben. Wenn His an anderer 
Stelle an dem Ausſpruche feſthalten will, 
daß „die im individuellen Leben erworbenen 
Eigenſchaften ſich nicht vererben,“) fo 
ſcheint es uns, daß er dadurch nicht nur 
den Thatſachen, ſondern auch der eigenen 
Begründung ſeines „Wachsthumsgeſetzes“ 
widerſpricht. Stellenweiſe ſpricht His ſo, 
daß man ſich mit ihm einverſtanden erklären 
könnte, jo z! B. am Schluß von „Unſere 


) His, Unſere Körperform ꝛc. S. 158. 


TERN, 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 
0 FA 


Körperform“, wo er jagt: „Beſäßen wir 


die ideale Klarheit jenes von Laplace 


gedachten Geiſtes, dem der Weltproceß in 
einer mathematiſchen Formel vorliegt, dann 
würden uns auch die Wachsthumsformeln 


organiſcher Weſen nach ihrem letzten Aus 
drucke bekannt fein, und wir vermöchten 


ſie nach ihrer Form und innerhalb jeder 
Form nach dem Werth ihrer conſtanten 
Glieder zu ordnen. Den höchſten über— 
haupt denkbaren Anforderungen an die 
Syſtematik wäre damit Genüge geleiſtet. 
Würden wir alsdann die Formeln nach 
ihrer phylogenetiſchen Succeſſion zuſammen— 


ſtellen, dann würden auch dieſe Reihen 
fortlaufende Aenderungen der Coefficienten 


neben ſteigender Complication der Formeln 


nachweiſen, und aus den dabei zu Tage 


tretenden Geſetzen müßte wohl ohne Wei 
teres erkennbar ſein, ob die im Laufe der 
Generationen erfolgten Umbildungen ihren 
Grund im Weſen der Entwickelung ſelbſt 
gehabt haben, oder ob ſie ſchließlich aus 
Anpaſſungen an äußere Verhältniſſe hervor— 
gegangen ſind.“ „Die phſiologiſche Ab— 


leitung der thieriſchen Körperformen und 


die Aufſuchung ihrer phylogenetiſchen Ge— 
ſchichte ſind zwei Aufgaben, deren Wege 
für die nächſte Zeit getrennt neben einan— 
der herlaufen.“ 

So mag denn Herr His verſuchen, auf 
dem Boden der Ontogeneſe zu der Klar 
heit dieſes idealen Geiſtes vorzudringen, 
einſtweilen ſteht er, wenn er die Vererbungs— 
erſcheinungen und ihr Weſen durch dieſe 
allein urſachlich erklären will, rathlos da; 
möge er dann aber auch die phylogenetiſche 
Forſchungsweiſe ſchon allein deshalb mit 
etwas mehr Achtung behandeln, weil ſeine 
phyſiologiſchen Beſtrebungen im Grunde 
genommen doch nur ein kleiner Theil der 


von Häckel mit Geiſt und Scharfſinn 


ſchen Auffaſſung der 


183 


gezeichneten morphologiſchen Disciplinen ſind. 
„Was His erſtrebt,“ ſagt Hädel*), „das 
iſt eine Phyſiologie des Wachsthums, alſo 
ein Theil der Phyſiontogenie oder der 
„Keimesgeſchichte der Funktionen.“ (Anthro— 
pogenie S. 18.) Da dieſer Zweig der 
Entwickelungsgeſchichte faſt noch gar nicht 
bearbeitet iſt, kann His darauf Anſpruch 
machen, dieſen Specialzweig der Phyſio— 
logie der Keimung zuerſt ernſtlich in 
Angriff genommen zu haben; auch werden 
ſicherlich mit der Zeit dabei manche werth— 
volle Reſultate erzielt werden. Nur ſoll 
His nicht glauben, damit die Morphologie 
der Keimung erklärt zu haben.“ His 
mag auf dem von ihm eingeſchlagenen Wege 
dahin gelangen, die in der Keimesentwicke— 
lung ſtattfindenden Wachsthumsverhältniſſe, 
günſtigen Falls ſogar ihre Abhängigkeit 
von den censogenetiſchen Beeinfluſſungen 
durch den umhüllenden mütterlichen Orga- 
nismus feſtzuſtellen, damit hat er aber das 
Weſen der Vererbung nicht enthüllt, auch 
nicht gezeigt, warum die organiſchen Keime 
gerade den ihnen eigenthümlichen und keinen 
anderen Entwickelungsgang nehmen. Wohl 
mag es an der Zeit ſein, auch die ſpeci— 
fiſche Eigenthümlichkeit des Keimprotoplas— 
mas mehr wie es bis jetzt geſchehen in 
Betracht zu ziehen; man darf aber dann 
deſſen Anpaſſungsfähigkeit an äußere Be— 
dingungen nicht unberückſichtigt laſſen; mit 
dieſer einen Conceſſion würde aber His 
auf den Boden der Darwin-Häckel'- 
organiſchen Natur 
hinübertreten und zu der ahnenden Vor— 
ſtellung gelangen, daß auch ein guter Theil 
der von ihm als primitiv angenommenen 
Keimeseigenſchaften durch Anpaſſung wäh— 
rend der Stammesentwickelung erworben 


) Ziele und Wege a. a. O. 


184 


und durch Vererbung auf die jedesmaligen 
Nachkommen übertragen ſein dürfte. 
Kölliker's Theorie der heterogenen Zeu— 
gung, oder, wie er ſie ſpäter genannt hat, der 
Entwickelung aus inneren Urſachen,“) 
kann eine moniſtiſche ſein, doch iſt ſie zu— 
gleich ein ſolche, daß ſie auch wohl dua— 
liſtiſch verwerthbar iſt. Sie geht davon 
aus, „daß der Entwickelung der ge— 
ſammten Welt der Organismen, wie der 
Natur überhaupt, Geſetze zu Grunde lie— 
gen, welche dieſelbe in ganz beſtimmter 
Weiſe zu immer höherer Entwickelung trei— 
ben. Wie ſchon in das befruchtete Ei des 
höheren Organismus die Triebfeder der 
ganzen weiteren Entwickelung gelegt iſt und 
Stufe um Stufe geſetzmäßig ſich entfaltet, 
wie ferner eine Mutterlauge von beſtimm— 
ter chemiſcher Zuſammenſetzung mit Noth— 
wendigkeit eine beſtimmte Kryſtallform an— 


ſchießen läßt, ſo enthalten auch die Urkeime 
aller Organismen und die organiſche Materie 
bei ihrer erſten Entſtehung die Möglichkeit 
für alle ſpäteren Bildungen in ſich, und 
bringen dieſelbe geſetzmäßig und in ganz 


beſtimmter Weiſe zur Verwirklichung.“ 
„Nenne man“ jagt Kölliker, „dieſes 
ſchaffende Princip, dieſe ſchöpferiſche Thätig— 
keit, wie man wolle, ſo iſt doch ſicher, daß 
dieſelbe an beiden Orten mit Nothwendig— 


keit, d. h. in regelrechter Folge von Urſache. 


und Wirkung thätig iſt und ergiebt ſich 
ſomit nicht die geringſte Nöthigung, bei der 
Entwickelung der Organismen irgend wel— 
chen äußeren Einwirkungen, heiße man ſie 
Zufall oder ſonſt wie, eine weſentliche Rolle 
zuzuſchreiben“. Wir hätten die etwas weg— 
werfende Hinweiſung auf dieſes Wörtchen 


) Kölliker, Morphologie und Ent— 
wickelungsgeſchichte des Pennatulidenſtammes. 
Frankfurt a. M. 1872. Verlag von Chriſtian 
Winter. S. 26. 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.“ 


„Zufall“ gern vermißt, da dem Natur- 
forſcher, welcher nach cauſalem Verſtänd— 
niſſe der Formen ringt, Alles und auch 
wieder Nichts Zufall iſt, da alles dem 
Zuge der Nothwendigkeit folgt. Köl— 
liker will dabei ſtehen bleiben, daß 
dem Keim von Anfang an ein innerer 
Eutwickelungstrieb zugetheilt ſei, der ihn 
befähigt, die ihm zugewieſene Reihe zu 
bilden. Dabei kann er nicht umhin, die 
Thatſache der Varietätenbildung anzuerkennen, 
er will ſie aber nur auf innere Urſachen 
zurückführen. Wenn aber auch nur ein ein— 
ziger Fall vorläge, welcher klar beweiſt, daß 
ein Organismus nach Aenderung von Luft, 
Licht, Wärme ec. ſich ändert, und dieſe 
Aenderung, mag ſie noch ſo minimal ſein, 
auf die Nachkommen überträgt, dann iſt 
für das Cauſalitätsbedürfniß des denkenden 
Menſchen ein neues weites Feld der For— 
ſchung eröffnet; dann muß er ſich fragen: 
Iſt es nicht möglich, daß im Wechſelverkehr 
mit den äußeren Einflüſſen, wie ſie der 
Zufall — wir bitten, das Wort richtig im 
cauſalen Sinne zu faſſen — mit ſich bringt, 
das, wenn man will, tauſendſach verſchie— 
dene Protoplasma die zur Bildung höherer 
Formen führenden Eigenſchaften erwarb? 
Soll das Urprokoplasma im Wechſelverkehr 
mit den verſchiedenſten Baſen, Säuren, Sal— 
zen ꝛc., ausgeſetzt den variirenden Feuchtig— 
keits-, Wärme-, Druck- und Beleuchtungs- 
verhältniſſen ſich ohne Aenderung ſtets gleich 
geblieben ſein, während doch im ganzen 
Bereiche der ſideriſchen und auch unorga— 
niſchen telluriſchen Welt das Gebildete jedes— 
mal das Produkt aller combinirten Kräfte 
iſt? Wenn man denn nach dem juridiſchen 
Beweiſe für die Annahme der ſtetigen Um— 
bildung der ſpecifiſchen Keimſtoffe fragt, wo 
iſt dann der juridiſche Beweis für ihre 
Conſtanz? Was entſpricht mehr den Regeln 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 
1 


der Wahrſcheinlichkeit, daß alles im ſteten 
Wechſel unter neuen Verhältniſſen zu neuen 
Formen ſich geſtaltet, oder daß bloß für 
den ſpecifiſchen Keim dieſes Geſetz der Kräfte— 
und Stoffwandlung aufgehoben iſt? Mögen 
dann diejenigen, welche es lieben, immer 
neue und neue Beweiſe vom Darwinismus 
zu fordern, ſelbſt einmal mit dem Schatten 
eines ſolchen für ihre Anſchauungen heraus— 
rücken! Kölliker ſelbſt iſt zu intelligent 
und geiſtvoll, als daß er zu der ſtarren 
Conſtanz der Species ſich flüchten möchte. 
Wenn aber die Species nicht conſtant iſt, 
dann ändert ſie ſich, und wenn ſie ſich 
ändert, dann ändert ſie ſich nicht allein von 
innen heraus, ſondern in Folge der Wechſel— 
wirkung der ſchon beſeſſenen Protoplasma— 
eigenſchaften mit den äußeren Einflüſſen. 
Der Weg, den die Entwickelung nimmt, 
iſt die Reſultante beider. Wenn aber 
ein äußerer Einfluß zur Geltung gelangen 
und vererbt werden kann, dann müſſen wir 
wieder fragen, auf welchem Wege das Er— 
worbene feſtgehalten und bei der Fortpflan— 
zung vererbt wird? Wie kommt es, daß 
beiſpielsweiſe eine durch gewerbliche Beſchäf— 
tigung erlangte Krümmung der Arme, der 
Wirbelſäule oder der Beine erblich über— 
tragen wird? Wo iſt der Vermittler, welcher 
den äußern Einfluß ſo auf das Protoplasma 
überträgt, daß eine ſpecielle Bildung nur 
an einer beſtimmten Stelle des kommenden 
Embryo's und nur an dieſer auftritt? Die 
Annahme der heterogenen Zeugung, der 
Entwickelung aus inneren Urſachen, iſt alſo 
nicht erſchöpfend, weil ſie die äußeren Ein— 
wirkungen unberückſichtigt läßt; ſie kann 
ferner die Frage, was denn das Weſen der 
Vererbung ſei und wodurch dieſe vermittelt 
wird, nicht umgehen. Damit iſt aber die 
Kugel des Descendenzprincips, die an dem 
Steine der heterogenen Zeugung in ihrem 


185 


Laufe gehemmt ſchien, wieder ins Rollen 
gebracht und die logiſche Vorausſetzung 
einer Variation der inneren Protaplasma— 
Eigenſchaften der weiteren Erklärung bedürftig 
geworden. Die einzig befriedigende Ant— 
wort hierauf iſt aber nur auf dem Boden 
Darwin-Häckel'ſcher Auffaſſung der organi— 
ſchen Natur zu erwarten. Nach ihr haben 
die durch Autogonie entſtandenen organiſchen 
Keime den Kampf ums Daſein zu beſtehen; 
was ſich den Exiſtenzbedingungen anpaſſen kann, 
bleibt erhalten und vererbt die erworbenen 
Eigenſchaften auf die Nachkommen, was ſich 
dieſer Anpaſſung nicht fügen kann, muß 
untergehen. Dieſe Darwin-Häckel'ſche Natur- 
auffaſſung, einfach und groß wie die Natur 
ſelbſt, trägt in ihrer Einfachheit, Durch— 
ſchaulichkeit und logiſchen Folgerichtigkeit die 
Gewähr des Sieges über jede, noch fo 
ſcharfſinnig zuſammengeſetzte, andere Hypo— 
theſe. Es würde einer ſolchen ergehen, 
wie dem Verſuche Tycho de Brahe's, 
welcher auf höheren Wunſch an Stelle des 
Kopernikaniſchen Syſtems ein anderes ſcharf— 
ſinnig erdachtes, aber complicirteres Syſtem 
ſetzen wollte, um die geocentriſche Würde 
der Erde zu retten. Tycho de Brahe's 
Syſtem ſchlummert ruhig den Schlaf der 
Vergeſſenheit, während die kopernikaniſche 
Lehre heute von Frommen und Unfrommen 
anerkannt wird. 

Einen geiſtvollen Verſuch, das Weſen 
der Vererbung zu enthüllen, verdanken wir 
dem Verfaſſer der generellen Morphologie. 
Häckel hebt in ſeiner Perigeneſis der 
Plaftidule*) hervor, daß er von viel zu 
) Ernſt Häckel, Die Perigeneſis der 
Plaſtidule oder die Wellenzeugung der Le— 
benstheilchen. Ein Verſuch zur mechaniſchen 
Erklärung der elementaren Entwickelungsvor— 
gänge. Berlin 1876. Verlag von Georg 
Reimer. 


186 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


hoher Verehrung für Charles Darwin, 
von viel zu aufrichtiger Bewunderung für 
ſeine leitenden Ideen erfüllt ſei, als daß 
er einer ſo umfaſſenden und großartig an— 
gelegten Hypotheſe, wie die Perigeneſis ſei, 
hätte entgegentreten und ihre Widerlegung 
verſuchen wollen, ohne irgend etwas Anderes 
an ihre Stelle ſetzen zu können. Wenn er 
jetzt dieſen Verſuch wage, ſo geſchehe es, weil 
einige, vor zehn Jahren in der „generellen 
Morphologie“ niedergelegte Keime ſich in— 
zwiſchen zu einer eigenen Hypotheſe entwickelt 
hätten, die ihm mehr innere Wahrſcheinlich— 
keit als die Perigeneſis zu beſitzen ſcheine und 
von der er hofft, daß ſie ſich zum Range 
einer genetiſchen Molekular-Theorie werde 
ausbilden laſſen. Er bezeichnet dieſe Hypo— 
theſe, die auch er als eine proviſoriſche be— 
trachten möchte, als die „Perigeneſis der 
Plaſtidule“, die „Wellenzeugung der Lebens— 
theilchen“. Er erinnert zunächſt an die 
heutige, durch Virchow's cellular-patho- 
logiſche Unterſuchungen begründete biologiſche 
Auffaſſung, daß der hochentwickelte Orga— 
nismus ein Zellenſtaat ſei, der ſich im Laufe 
vieler Millionen Jahre ohne vorbedachten 
„Zweck“ ganz ebenſo nothwendig durch das 
Zuſammenwirken und die hiſtoriſche Aus— 
bildung der conſtituirenden Zellen entwickelt 
habe, wie ſich der menſchliche Culturſtaat 
im Laufe weniger Jahrtauſende Schritt für 
Schritt durch die Wechſelwirkung und die 
fortſchreitende Arbeitstheilung der Staats— 
bürger herausgebildet hat. Die Arbeiten 
von Cohn, Schultze, Mohl, Hux— 
ley, Strasburger, Hertwig, Auer— 
bach, Bütſchli, Jäger, Häckel und 
Anderen, erweiterten jedoch den Begriff der 
Zellentheorie zu dem der Plaſtidentheorie. 
Darnach iſt die Zelle nicht, wie man bisher 
annahm, der einfachſte älteſte und niederſte 
Elementar-Organismus; es geht vielmehr 


der echten, kernhaltigen „Zelle“ die niedere 
kernloſe „Cytode“ voraus. Cytode und Zelle 
nannte Häckel bereits in ſeiner generellen 
Morphologie Bildnerinnen oder Plaſtiden, 
da ſie in Wahrheit die plaſtiſchen Künſt⸗ 
lerinnen ſind, durch deren Thätigkeit das 
ganze wundervolle Gebäude des organiſchen 
Lebens errichtet wird. Den in der Cytode 
vorhandenen eiweißartigen Bildungsſtoff, aus 
dem Protoplasma und Coccoplasma (Nuclein) 
ſich ſondert, nannte er „Plaſſon“. Es muß 
die nächſte Aufgabe der Phyſiogenie ſein, 
eine möglichſt erſchöpfende Kenntniß von der 
Natur dieſes wichtigſten „Lebensſtoffes“, 
dieſer wahren „phyſikaliſchen Lebens-Grund— 


lage“, wie Huxley ihn nennt, zu erlangen. 


Die Plaſſon-Moleküle nannte Häckel nach 
dem Vorgange Elsberg's „Plaſtidule“ und 
die Moleküle des Protoplasma und Cocco— 
plasma der Kürze halber Plasmodule und 
Coccodule. Häckel nimmt nun an, daß 
die Plaſtidule nicht nur die allgemeinen phy- 
ſikaliſchen Eigenſchaften beſitzen, welche die 
Phyſik und Chemie den Molekülen der 
Materie im Allgemeinen zuſchreibt, ſondern 
auch noch andere Attribute, die ihnen aus— 
ſchließlich eigenthümlich ſein ſollen. Jedes 
phyſikaliſche Atom beſitze eine inhärente 
Summe von Kraft und ſei in dieſem Sinne 
„beſeelt“. Häckel ſpricht daher von einer 
„Atomſeele“. „Luſt und Unluſt, Begierde 
und Abneigung, Anziehung und Abſtoßung 
müſſen allen Maſſen-Atomen gemeinſam 
ſein; denn die Bewegungen der Atome, die 
bei Bildung und Auflöſung einer jeden 
chemiſchen Verbindung ſtattfinden müſſen, 
ſind nur erklärbar, wenn wir ihnen Em— 
pfindung und Willen beilegen“. „Wenn 
der Wille des Menſchen und der höheren 
Thiere frei erſcheint im Gegenſatz zu dem 
„feſten“ Willen der Atome, ſo iſt das 
eine Täuſchung, hervorgerufen durch die 


* + * y * 
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


höchſt verwickelte Willensbewegung der erſte— 
ren im Gegenſatze zu der höchſt einfachen 
Willensbewegung der letzteren. Die Atome 
wollen überall und jederzeit daſſelbe, weil 
ihre Neigung dem Atom jedes anderen 
Elementes gegenüber eine conſtante und un— 
abänderlich beſtimmte iſt; jede ihrer Be— 
wegungen iſt daher determinirt. Hingegen 
erſcheint die Neigung und willkürliche Be— 
wegung der höheren Organismen frei und 
unabhängig, weil in dem unaufhörlichen 
Stoffwechſel derſelben die Atome beſtändig 


- ihre gegenſeitige Lage und Verbindungsweiſe 


verändern und daher das Geſammtreſultat 
aus den zahlloſen Willensbewegungen der 
conſtituirenden Atome ein zuſammengeſetztes 
und unaufhörlich wechſelndes iſt.“ „Wie die 
Maſſe des Atoms“, ſagt Häckel, „unzer— 
ſtörbar und unveränderlich, ſo iſt auch die 
damit untrennbar verbundene Atom-Seele 
ewig und unſterblich. Vergänglich und ſterb— 
lich ſind nur die zahlloſen und ewig wech— 
ſelnden Verbindungen der Atome, die un— 
endlich mannigfaltigen Modalitäten, in denen 
ſich die Atome zur Bildung von Molekülen, 
die Moleküle zur Bildung von Kryſtallen 
und Plaſtiden, die Plaſtiden zur Bildung 
von Organismen vereinigen. Dieſe mo— 
niſtiſche Auffaſſung der Atome allein iſt im 
Einklang mit den großen Geſetzen der „Er— 


haltung der Kraft“ und der „Erhaltung 


des Stoffes“, welche die Naturphilo- 
ſophie der Gegenwart mit Recht als ihre 
unveräußerlichen Fundamente betrachtet.“ 
Empfindung und Willen werden demnach 
nicht mehr als ausſchließliche Vorzüge der 
thieriſchen Organismen betrachtet. Die Plaſti— 
dule ſollen ſich jedoch von den anorganiſchen 
Molekülen durch die „Fähigkeit der Repro— 
duktion oder des Gedächtniſſes, welche bei 
jedem Entwickelungs-Vorgang und nament— 
lich bei der Fortpflanzung der Organismen 


des bewußten 


wirkſam iſt“, unterſcheiden. „Das Ver— 
mögen der Vorſtellung und Begriffbildung, 
des Denkens und Bewußtſeins, der Uebung 
und Gewöhnung, der Ernährung und Fort— 
pflanzung beruht, wie Häckel mit Ewald 
Hering!) ſagt, „auf der Funktion des 
unbewußten Gedächtniſſes, deſſen Thätig- 
keit viel bedeutungsvoller iſt, als diejenige 
Gedächtniſſes“. Häckel 
möchte jedoch in ſoweit die Darſtellung 
Hering's ergänzen, als er nur der wirk— 
lich lebenden, nicht aller organiſirten Materie 
dieſes Gedächtniß zuſprechen will. Häckel 
führt nun aus, daß nach ſeinem „biogene— 
tiſchen Grundgeſetz“ „der Mikrokosmos des 
ontogenetiſchen Zellen-Stammbaumes das ver- 
kleinerte und verzogene Abbild von dem 
Makrokosmos des phylogenetiſchen Arten— 
Stammbaumes“ **) fer, und daß, da der Ent- 
wickelungsprozeß Beider das Bild einer 
verzweigten Wellenbewegung lie— 
fere, auch die molekulare Plaſtidul-Bewegung 
das Bild einer ſolchen darſtellen müſſe. 
Nur bei dieſer Vorſtellung ſei die Möglich— 
keit gegeben, den verwickelten Gang des bio— 
genetiſchen Proceſſes auf mechaniſche Bewe— 
gung der Maſſen-Atome zurückzuführen. 
Das Verzweigtſein der Bewegung, welches 
ſie von anderen ähnlichen periodiſchen Pro— 
ceſſen unterſcheide, beruhe auf der „Repro— 
duktionskraft“ der Plaſtidule, und dieſe ſei 
wieder durch deren atomiſtiſche Zuſammen⸗ 
ſetzung bedingt. „Dieſe Reproduktionskraft, 
die allein die Fortpflanzung der Plaſtiden 
ermögliche, ſei aber gleichbedeutend mit dem 
„Gedächtniß“ der Plaſtidule“. Ich geſtehe, 
daß ich mich an der Einführung der Ter— 


) Ewald Hering, Ueber das Gedächt— 
niß als eine allgemeine Funktion der organi— 
ſchen Materie. Wien 1870. In Comm. bei 
Gerold's Sohn. 

) Perigeneſis S. 64. 


188 


mini: „Empfindung, Willen und Gedächt— 
niß“ in die Atomiſtik geſtoßen habe, aber 


nach mehrmaligem Durcharbeiten der Peri- 


geneſis zu der Anſicht gekommen bin, daß 
den Häckel'ſchen Anſchauungen ein ge— 
ſunder Kern zu Grunde liegt. Nur muß 
ſich ein Moniſt fragen: Welcher materiellen 
Eigenſchaft entſpricht dieſes pſychiſche Empfin— 
den und Wollen, woher kommt ſo urplötzlich 
das Gedächtniß der Plaſtidule her, und in 
welcher entwickelungsgeſchichtlichen Beziehung! 
ſteht daſſelbe zu den chemiſch-phyſikaliſchen 
Eigenſchaften der Atome? Beſteht Autogonie, 
dann muß ſich doch wohl das „Gedächtniß“ 
der Plaſtidule aus den Eigenſchaften der 
Moleküle und Atome aufbauen. Wie kommt 
es ferner, daß das Gedächtniß jedesmal am 
richtigen Orte, zur richtigen Zeit und in 
der richtigen Weiſe eingreift, um zur Wieder— 
holung der biogenetiſchen Erſcheinungen den 
Anſtoß zu geben und was iſt es, wodurch 
ſchließlich das Gedächtniß angeregt wird? 
Das Gedächtniß wird alſo wieder als die 
Folge chemiſch-phyſikaliſcher Urſachen auf— 
gefaßt werden müſſen, und da dieſes bei 
Häckel der Fall iſt, giebt uns der Ter— 
minus dieſes „unbewußten Plaſtidul-Ge— 
dächtniſſes“ ein Hülfsmittel, vermöge deſſen 
wir dem Verſtändniß des biogenetiſchen Pro⸗ 
ceſſes wieder etwas näher rücken, namentlich 
aber zum Aufbau einer Entwickelungs— 
geſchichte des Pſychiſchen die Funda— 
mente legen lönnen. 

Vielleicht kann man jedoch auch ohne 
Zuhülfenahme dieſes Terminus weiter 
kommen. Jäger's durchdachte Arbeiten 
über die chemiſche Natur der Eiweißſtoffe 
und Protoplasmaſubſtanzen dürften in dieſer 
Hinſicht als willkommene Ergänzung zu 
Häckel's Perigeneſis zu betrachten ſein. 
Wo der Eine von Bewegungen ſpricht, be- 
handelt der Andere die chemiſch-phyſikaliſchen 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


Eigenſchaften des Plasmas, die aber doch 
in letzter Inſtanz nur durch Bewegungen 
übertragen und geändert werden können. 
Die hohen Atomzahlen, welche die Elemen— 
tar⸗Analyſe der Eiweißſtoffe liefert, und 
die zahlreichen Iſomerien, welche ſelbſt 
Stoffe von weit geringerem Atomgehalt 
| bieten, laſſen erwarten, daß die das Proto— 
plasma zuſammenſetzenden Eiweißſubſtanzen 
die mannigfaltigſten rationellen Formeln 
zeigen würden, wenn wir ſolche bereits ent— 
werfen könnten. Jäger nimmt nun an, 
daß, wie die weißen Blutkörperchen in ihrer 
Umbildungsfähigkeit das plaſtiſche Repara— 
turmaterial für das ſteter Abnützung unter— 
liegende Zellenbauwerk liefern, ſo auch als 
Urſache für die Gewebsdifferenzirung die 
Differenz der Exiſtenzbedingungen zu be— 
trachten ſei, welche ſich bei Bildung eines 
Zellconglomerats nothwendig unter den 
einzelnen Zellen je nach ihrer Lage inner— 
halb der Zellgeſellſchaft einſtellen müſſen; 
jede einmal eingetretene, wenn auch noch 
fo geringgradige Differenz jet ferner rich— 
| tunggebend für das Endziel der Differen- 
zirung. In ähnlicher Weiſe werde die 
Ausbildung des Thierkörpers beherrſcht 
durch die beſtimmte, chemiſch-phyſikaliſche 
Beſchaffenheit des Keimprotoplasmas, wel— 
ches bei den verſchiedenen Typen, Claſſen, 
Familien, Gattungen, Arten u. ſ. w. ein 
verſchiedenes ſei.“) 


) Bezüglich des Näheren muß auf Jä— 
ger, Zoologiſche Briefe (Wien, 1876. Verlag 
von Wilhelm Braumüller) verwieſen werden. 
Auch Jäger's Lehrbuch der Zoologie (Ernſt, 
Günther's Verlag in Leipzig), deſſen II. Ab- 
theilung, die Phyſiologie umfaſſend, ſich 
augenblicklich unter der Preſſe befindet, jedoch 
in Aushängebogen dem Verfaſſer, leider etwas 
ſpät nach Abſchluß der Arbeit, freundſchaft— 
lichſt übermittelt wurde, enthält viel werth- 


volles und ſchätzbares Material. 


Die phylogonetiſche Fortentwickelung be- 
ſtehe nun darin, daß das durch alle Gene— 
rationen hindurch continuirliche, nur bei 
jeder neuen Generation in einen Hüll— 
organismus eingekapſelte Keimprotoplasma 
zu feinen bereits vorhandenen morphologiſch— 
wirkſamen, aus beſtimmten chemiſch-phyſika— 
liſchen Qualitäten beſtehenden Dispoſitionen 
in einer beſtimmten zeitlichen Reihenfolge 
ſtets ueue hinzu erwirbt. Bei der ontogeni— 
tiſchen Entwickelung kommen alle morpho— 
logiſchen Protoplasmadispoſitionen zur Ent- 
faltung, die während der Phylogeneſe er— 
worben wurden, und ihre Entfaltung iſt 
an die gleichen zeitlichen, räumlichen und 
phyſikaliſchen Bedingungen geknüpft, wie 
bei der Phylogeneſe. Die Folge dieſer 
Uebereinſtimmung iſt eine gewiſſe räumliche 
und zeitliche Wiederholung der Phylo— 
geneſe durch die Ontogeneſe. Bezüglich 
des urſachlichen Wechſelverhältniſſes beider 
möchte auch Jäger ſich dahin entſcheiden, 
daß neue Charactere zuerſt von dem je— 
weiligen Träger des Keimprotoplasmas 
während ſeiner individuellen Entwickelung 
durch eine Aendernug der Entwickelungs— 
bedingungen erworben werden müſſen, 
und daß ſie dann erſt erblich werden, wenn 
ſie derart ſind, daß ſie in den Reifungs— 
proceß des Keimprotoplasmas eingreifen 
können. Es erregt ein beſonderes Intereſſe, 
daß in beiden Reihen der Waſſergehalt mit 
fortſchreitender Entwickelung abnimmt. Für 
die Deutung der Entwickelung und Ver— 
erbung des umfaſſenderen Gruppencharakters 
leiſtet die Jäger'ſche Theorie alles, was 
man verlangen kann. Sowohl das räum— 
liche wie das zeitliche Verhalten der Proto— 
plasmadispoſitionen iſt in ſeiner urſachlichen 
Beziehung zur Entwickelung der Stamm— 
formenreihe durchſchaulich. Es fragt ſich nur, 
ob es auch zur Deutung der Vererbung 


Oyoerzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


189 


der Art- und Individual⸗Charactere aus⸗ 
reicht. Auch in dieſer Hinſicht hat Jäger 
bereits vorgearbeitet. Er geht davon aus,) 
daß für Thiere ebenſogut wie für Pflanzen 
nicht nur jede morphologiſche Art ihren 
ſpecifiſchen Ausdünſtungsgeruch hat, ſondern 
auch jede Raſſe, jede Varietät und zuletzt 
ſogar jedes Individuum. Ebenſo giebt 
es ſpecifiſche Gerüche der Gattungen, Fa— 
milien, Ordnungen und Claſſen, mit ande— 
ren Worten, die Aehnlichkeit und Ver— 
ſchiedenheit der Geruchs- und Geſchmacks— 
ſtoffe ſteht in genauer Beziehung zu dem 
Grade der morphologiſchen Verwandtſchaft. 
Der Ausdünſtungsgeruch und -Geihmad 
entſtammt nun zum Theil der jeweiligen 
Nahrung, der andere, weit überwiegende 
Theil haftet der lebendigen Subſtanz des 
Thieres an, iſt ſein Protoplasmageruch 
und Geſchmack. Während der erſtere für 
die Anpaſſung von Bedeutung wird, ſpielt 
der letztere bei der Vererbung eine Rolle. 
Die ſpecifiſchen ſaporigenen und odorigenen 
Subſtanzen kommen nämlich bereits im 
ſpecifiſchen Keimprotoplasma vor und 
nehmen nur bei der Entwickelung an Inten- 
ſität und Specifikation in gleichem Maße 
zu, wie die morphologiſche Detaillirung 
des Körpers. Der Parallelismus zwiſchen 
den Geruchs- und Geſchmacksſtoffen einer— 
ſeits und den ontogenetiſchen und ſyſtema— 
tiſchen morphologiſchen Differenzen anderer- 
ſeits begründet, wie Jäger bemerkt, einen 
jo dringenden Verdacht eines Cauſal— 
zuſammenhangs, daß, wer die Lehre von der 
Vererbung vom Fleck bringen will, an 
dieſer Thatſache nicht länger vorbeigehen 


) Prof. Dr. Guſtav Jäger, Ueber 
die Bedeutung der Geſchmacks- und Geruchs— 
ſtoffe, Kölliker's Zeitſchrift für wiſſenſchaft— 
liche Zoologie, Bd. 27. S. 319 ff. ſowie 
Kosmos, Heft 1. 


190 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


darf. „Als Regulatoren für die Nahrungs— 
auswahl erhalten ſie während der Ontogeneſe 
die ſpecifiſche Protoplasmazuſammenſetzung 
aufrecht, ſo daß eine Generation der anderen 
gleicht; als Regulatoren des Fortpflanzungs⸗ 
inſtinktes ſorgen ſie dafür, daß das Keim— 
protoplasma ſtets die gleiche Miſchung aus 
Eiprotoplasma und Samenprotoplasma iſt; 
ſie ſind alſo nicht blos die Träger der 
Vererbung überhaupt, ſondern auch der Con— 
ſtanz der Vererbung.“ Die hohe Bedeutung, 
welche den Geſchmacks- und Geruchs-, ſowie 
auch den Farbſtoffen, für die continuirlichen 
Verrichtungen des Protoplasma zukommt, 
veranlaßt Jäger zur Auſſtellung ſeiner 
„chemiſchen Transmutationstheorie“, der— 
gemäß eine phylogenetiſche Abänderung nur 
zu erzielen iſt, wenn es gelingt, eine ſapo— 
rigene, odorigone (oder chromogene) Meta— 
morphoſe des Keimprotoplasmas zu bewerk— 
ſtelligen. Die eingehendere Beſprechung 
der bei der Aſſimilation und Bildung der 
protoplasmatiſchen Subſtanzen auftretenden 
Spaltungsprodukte der Eiweißſubſtanzen ſo— 
wie eine Auseinanderſetzung über die 
nähere Funktion der ſpeciſiſchen Geſchmacks— 
und Geruchsſtoffe bei dem Geſchäfte der Er— 
nährung und Fortpflanzung wurden bereits 
von Herrn Prof. Dr. Guſtav Jäger 
im erſten Hefte des „Kosmos“ geliefert. 

Es iſt nicht zu verkennen, daß dieſe 
chemiſche Betrachtungsweiſe uns Ausſicht 
bietet, experimentell der Vererbungsfrage 
immer näher auf den Leib zu rücken und 
dieſelbe ſchließlich ſoweit zu löſen, als über- 
haupt die Frage nach den Eigenſchaften 
der Materie experimentell enthüllbar iſt. 
Auch werden die Anpaſſungen und Vererbun— 
gen bis in die complicirteſten Verhältniſſe 
hinauf immer nur aus einem Aſſimilations— 
reſp. Ernährungsproceſſe hergeleitet werden 
müſſen, der aber durch die Variation der 


Wärme⸗, Licht- und wohl auch elektriſchen 
Beeinfluſſung bei den Individual-Charakteren 
für die Analyſe und Syntheſe ſchwieri— 
ger zu verfolgen iſt. Die „Entwidelungs- 
bewegungen des reifen Keimes“ ſagt in 
dieſer Hinſicht Biſchoff, “) „ſind nicht allein 
abhängig von den mit dem Reifezuſtand des 
Eies gegebenen Umſetzungsbewegungen; ſie 
und ihre Fortſetzung ſind auch nicht allein 
abhängig von dem Einfluſſe des Spermatozo⸗ 
iden, ſondern wir wiſſen, daß dieſelben weſent⸗ 
lich auch noch von anderen Bedingungen 
beeinflußt werden. So von einem gewiſſen 
Wärmegrad, der offenbar auch nur als 
Bewegungsmoment wirkt; von einem ge— 
wiſſen Grade von Feuchtigkeit, ohne wel— 
chen die betreffenden Molekularbewegungen 
nicht vor ſich gehen können, von der Ein— 
wirkung des atmoſphäriſchen Sauerſtoffes, 
welcher unumgänglich nothwendig erſcheint 
für die nothwendigen Umlagerungen des 
Keims. Selbſt das Licht hat, wie neuere 
Beobachtungen von Schnetzler bei Froſch— 
eiern beweiſen, einen entſchiedenen Einfluß 
auf die Entwickelung derſelben.“ Indem 
wir aber in letzter Inſtanz die chemiſchen 
Wirkungen als Bewegungsreſultate deuten 


müſſen, treten wir aus der chemiſchen Be— 


trachtungsweiſe hinüber in die allgemein- 
phyſikaliſche, ſpeciell in die mechaniſche, 
und gewinnen ein Verſtändniß dafür, wenn 
ich Häckel's Perigeneſis mit Jäger's che— 
miſcher Theorie auf denſelben Grundgedanken 
zurückzuführen ſuchte. Die Frage, warum 
eine beſtimmte chemiſche Subſtanz immer 
unter gleichen Verhältniſſen in derſelben Weiſe 
wirkt, iſt in letzter Inſtanz eine mechaniſche, 
) Prof. Dr. Th. L. W. Biſchoff, 
Hiſtoriſch-kritiſche Bemerkungen zu den 
neueſten Mittheilungen über die erſte Ent⸗ 
wickelung der Säugethiereier. München 1877. 
Th. Riedel. 


15 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 191 


inſofern wir nach dem Geſetze von der Er— 
haltung und Umwandlung der Kraft 
Wärme, Licht, Elektricität, chemiſche Affi— 
nität u. ſ. w. als verſchiedene Arten von 
Bewegung aufzufaſſen haben. Wenn 
Jäger, der chemiſchen Anſchauungsweiſe fol— 
gend, aus der Continuität des Keimproto— 
plasmas und den parallelen Reihen der in 
der Phylogeneſe und Ontogeneſe auftretenden, 
jedoch auf ihre innere Struktur noch näher 
zu unterſuchenden Dispoſitionen des Keim— 
protoplasmas die Anpaſſungs- und Ver⸗ 
erbungserſcheinungen cauſal zu deuten ſucht, 
ſo hat Häckel, auf die Urquelle aller 
materiellen Verſchiedenheit zurückgehend, die 
Continuität der Bewegung und die paral— 
lelen Reihen der in der Phylogeneſe und 
Ontogeneſe auftretenden Bewegungsände— 
rungen als bewirkende Urſache für An— 
paſſung und Vererbung hingeſtellt. Nur 
hätte er vielleicht auch das Gedächtniß auf 
ſeinen mechaniſchen Werth zurückführen 
können. Wenn eine Tonwelle den Reſonanz— 
boden in entſprechende Schwingungen ver— 
ſetzt und umgekehrt die anfänglich erregende 
Stimmgabel wieder durch die von der 
Reſonanz erzeugten Schwingungen zur Er— 
regung des gleichen Tones bei gleichen 
Schwingungen veranlaßt wird, ſo ertheilt 
die theoretiſche Phyſik den Stimmgabelmole— 
külen kein Gedächtniß; ebenſowenig braucht 
die ſtete, gleiche Lagerung des Staubes der 
Ch ladni'ſchen Klangfiguren als Folge 
eines Gedächtniſſes der Scheiben-Moleküle 
betrachtet zu werden. Es iſt ferner be— 


kannt, daß aus einer, verſchiedene Salze 
enthaltenden Löſung ein beſtimmtes Salz 
ausgeſchieden wird, wenn man einen Kry—⸗ 
ſtall deſſelben Salzes in die Löſung bringt; 
der Kryſtall wächſt, indem vorzugsweiſe 
die gleichartigen Salztheilchen an ihn ſich 
Geſetzt in der Löſung wären 


anſetzen. 


auch iſomorphe Subſtanzen vorhanden ge— 
weſen, ſo würde etwa an den reinen Kalk— 
ſpath auch iſomorphes Magneſia- oder 
Eiſencarbonat ſich anſetzen und der Kryſtall 
würde durch Anpaſſung in der Außenſchicht 
zum Braunſpath werden, ſo daß jetzt die 
braunſpathbildenden Salztheile von der 
äußeren Kryſtallſchicht angezogen würden. 
Hier hätten wir alſo ſelbſt aus dem Reiche 
des Anorganiſchen das Beiſpiel einer Weiter— 
entwickelung, die dort nur deshalb ſeltener 
vor Augen tritt, weil der direkte Uebergang 
aus dem flüſſigen in den feſten Zuſtand 
die fortſchreitende Umbildung erſchwert und 
nur Anlagerung der neuen Moleküle ge— 
ſtattet, während die höheren Kohlenſtoff— 
verbindungen, welche die Organismen auf— 
bauen, in Folge ihres teigartigen Zuſtandes 
nicht nur Intusſusception und Aſſimilation 
im Inneren, ſondern auch eine allmälig 
fortſchreitende Entwickelung geſtatten. Zur 
Erklärung der Auswahl der gleichartigen 
Salztheile durch den Kryſtall braucht 
aber dem Kryſtall kein Gedächtniß zuge— 
ſchrieben zu werden. Man kann die me— 


chaniſche Erklärung zulaſſen, daß die 
Schwingungen der Kryſtallmoleküle eine 


Wellenbewegung erzeugen, welche die gleich— 
artig ſchwingenden Salzmoleküle zur An— 
ſetzung bringt. Was hier in den erſten 
Anfängen auf chemiſch-phyſikaliſche Urſachen 
zurückführbar iſt, wird in den complicir— 
teren Fällen organiſcher Entwickelung noch 
als Folge von Anpafjung und Vererbung 
gedeutet, indem, bei unſeren ungenügenden 
Kenntniſſen von dem chemiſch-phyſikaliſchen 
Verhalten der Eiweißſtoffe, die Endurſache 
weniger durchſchaulich iſt. 

In ähnlicher Weiſe dürfte auch die 
Wiederholung der Plaſtidulbewegungen als 
die rein mechaniſche Urſache der Vererbung, 
und die Abänderung der Plaſtidulbewegung 


192 


in Folge ablenkender Außenbewegungen als 
die Urſache der Anpaſſung aufzufaſſen ſein. 
Ebenſo läßt ſich das Bild der verzweigten 
Wellenbewegung beibehalten, wenn auch das 
Plaſtidul ſelbſt keine verzweigte Wellen— 
bewegung hat, da es ſich dann ſpalten 
müßte. Für den fortſchreitenden Entwicke— 
lungsproceß der Arten, Keime und auch 
der Plaſtidule iſt aber dieſe Bezeichnung 
mehr als eine bildliche. Die Unterſuchungen 
Jäger's haben das Vortheilhafte, daß ſie 
uns ein Mittel bieten, durch Ergründung 
des Stoffumſatzes der Frage auch experi— 
mentell näher zu rücken. Nur ſollte mir 


Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 


ſcheinen, daß zum Verſtändniß der erblichen 
Uebertragung individuell erworbener Eigen- 
thümlichkeiten, namentlich hoch organiſirter 
Weſen mit wohlentwickeltem Nervenſyſtem 
auch die pſychiſchen Affekte, freilich aufgelöſt 
in ihre mechaniſchen Theilerſcheinungen, 
nicht außer Acht zu laſſen ſeien. Je mehr 
wir von den Pflanzen zu den ſenſiblen 
Thieren aufſteigen, um ſo mehr muß 
neben dem Stoffwechſel, als dem Vermittler 
der Vererbung, auch dem Nervenſyſtem eine 
direkte oder indirekte Betheiligung zuerkannt 
werden. Darüber jedoch bei einer ſpäteren 
Gelegenheit. 


Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypothele. 


Von 


Carl du Prel. 


Si les phenomenes ne sont pas enchaines les uns 


eder Sinneseindruck bedarf, um 
e uns bewußt zu werden, einer 
BEN entſprechenden Zeit, die je nach 


der Enmpfindungsfähigkeit des 
Individuums verſchieden iſt. Nehmen wir 
mit den Phyſiologen als das mittlere Maß 
dieſer Zeit / Sekunde an, fo geht ſchon 
daraus hervor, daß, wenn wir Gedrucktes 
ſehr raſch durchleſen, nicht jedem einzelnen 
Buchſtaben jedes einzelnen Wortes die Zeit 
gelaſſen wird, den Sinneseindruck zu voll— 
ziehen. Wäre dem nicht ſo, ſo würde das 
Auffinden von Druckfehlern viel leichter 
ſein, als es in der That ſogar dann iſt, 
wenn wir etwa mit dieſer alleinigen Ab— 
ſicht Druckbogen durchleſen. 

Da nun der Sinn des Geleſenen gleich— 
wohl aufgefaßt wird, ſo geht daraus her— 
vor, daß raſches Leſen mehr oder minder 
ein Errathen iſt, indem wir die mangel— 
haften Eindrücke ſelbſtändig ergänzen, aus 
wenigen Buchſtaben auf das Wort ſchließen. 
Das Leſen iſt daher mehr oder minder 
eine ſynthetiſche Funktion des menſchlichen 


aux autres il n'y a pas de philosophie. 


Diderot. 


Geiſtes, und wenn wir abſehen vom In— 
halte des Buches, von der intellektuellen 
Auffaſſungsgabe des Leſers und der Menge 
der in ſeinem Gehirn latent ruhenden Be— 
griffe, zu welchen die Ergänzung ſtattfindet, 
ſo wird unter ſonſt gleichen Umſtänden die 
Leichtigkeit, womit wir trotz unvollſtändiger 
Sinneseindrücke das Wort zu finden ver— 
mögen, alſo die Fähigkeit ſchnell zu leſen, 
immerhin noch abhängig ſein vom Grade 
dieſer ſynthetiſchen Anlage. Unterſtützt wer— 
den wir dabei allerdings durch den ſinn— 
vollen Zuſammenhang, innerhalb deſſen 
viel unvollſtändigere Eindrücke genügen, ein 
Wort zu errathen, als wenn daſſelbe iſo— 
lirt ſtünde. 

Auch das Leſen im Buche der Natur 
iſt eine ſolche ſynthetiſche Funktion unſeres 
Geiſtes; denn nicht nur ſteht dieſes Buch, 
in ſo ferne als uns die cauſale Verbindung 
ſo vieler Erſcheinungen fehlt, gleichſam in 
ſeine Worte und Buchſtaben zerfallen vor 
uns, deren Aneinanderreihung von uns zu 
geſchehen hat, ſondern ein großer Theil der 
Beſtandtheile dieſes Buches iſt uns ſogar 


er 


ganz unbekannt. Es iſt Sache des Natur- 
forſchers im engeren Sinne, die Einzel— 
erſcheinungen mit möglichſter Genauigkeit 
analytiſch zu prüfen; er tritt aber bereits 
in die Reihe der Philoſophen über, wenn 
er weiter geht, und verſucht, in dem netz— 
artigen Geflechte der Erſcheinungen die 
durch das unſichtbare Band des Cauſalitäts— 
geſetzes verbundenen zuſammenzuſtellen, wo— 
bei es vom Grade feiner ſynthetiſchen Fähig- 
keit abhängt, die nähere oder entferntere, 
direkte oder Seitenverwandtſchaft zu durch— 
ſchauen, in welcher ſolche Erſcheinungen zu 
einander ſtehen. Oft aber iſt dieſes nicht 
anders möglich, als indem er, die Lücken 
unſeres Wiſſens ergänzend, wie wir es 
beim Leſen thun, auf die Exiſtenz nicht 
ſichtbarer Erſcheinungen als Mittelglieder 
nur ſchließt, mit Hülfe welcher erſt es ihm 
gelingt, aus den empiriſchen, lückenhaft ge- 


gebenen Erſcheinungen Worte, Sätze und. 


Kapitel zuſammenzuſetzen. 

Mehr oder minder ſind bereits alle 
Zweige der Naturforſchung in dieſes Sta— 
dium getreten, wobei die weitere Entwick— 
lung von der ſynthetiſchen Anlage des 
menſchlichen Geiſtes abhängt, der erſt dann 
ſeine vielleicht unerreichbare Aufgabe erfüllt 
haben wird, wenn er die Fülle der Vor— 
ſtellungen zu einem begrifflichen Abbilde der 
Welt verknüpft haben wird, wobei wir freilich 
nicht vergeſſen dürfen, daß auch dann nur 
erſt ein Kapitel aus dem Buche der Natur 
feſtgeſtellt fein wird, welches zu einem 
begrifflichen Abbilde auch der Geſchichte des 
Kosmos in Richtung der Vergangenheit 
wie Zukunft ergänzt werden muß. 

Wenn die Wahrheit in dieſem Sinne 
zu definiren iſt als die Uebereinſtimmung 
der Vorſtellungen mit den Dingen, ſo er— 
ſcheint das Auffinden der Wahrheit als 
ein Denkproceß, in welchem die ſubjektiven 


du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 


Vorſtellungsglieder in einer mit der Ver— 
knüpfung der objektiv gegebenen Erſcheinungen 
übereinſtimmenden Weiſe verbunden werden. 
Die ſubjektive Aſſociation muß ſich mit der 
objektiven decken. 

Dieſer Syntheſis verdanken alle jene 
großen Hypotheſen ihren Urſprung, welche 
epochemachend in der Geſchichte des menſch— 
lichen Geiſtes aufgetreten ſind. 

Je größer die Fülle des erforſchten 
empiriſchen Materials iſt, deſto leichter voll— 
zieht ſich die Syntheſis. Gleichwohl iſt es 
als eine häufige Erſcheinung zu verzeichnen, 
daß die großen Entdeckungen nicht in die 
Epochen reichhaltiger Anſammlung des 
Materials fallen, und nicht immer treffen 
die Worte Georg Zimmermann's („Von 
der Erfahrung in der Arzneikunſt“) zu: 
„Je mehr die Augen geſehen haben, deſto 
mehr ſieht auch der Geiſt.“ Vielmehr er— 
eignet es ſich ſehr oft, daß in ſolchen Epochen 
der Wald vor lauter Bäumen nicht geſehen 
wird, daß dagegen in anderen das Genie 
anticipirend auftritt, indem es eine relativ 


noch geringe Summe empiriſcher Daten mit 


großer Oekonomie des Geiſtes zu ſolchen 
Hypotheſen verwerthet, die oft erſt ſpäter, 
wenn die Summe der beſtätigenden Er— 
ſcheinungen beträchtlich angewachſen iſt, die 
allgemeine Anerkennung finden. 

So können alſo derartige Verſuche des 
menſchlichen Geiſtes, die Einzelerſcheinungen, 
zwiſchen welchen die ideale Verknüpfung 


noch nicht hergeſtellt iſt, ſynthetiſch zu ver- 


binden, und aus dem Aggregate der Er— 
ſcheinungen gleichſam den Organismus des 


Kosmos begrifflich zu conſtruiren, ver- 


glichen werden mit dem Unternehmen, aus 
abgeriſſenen Worten einer ſtark beſchädigten 
Urkunde den Text zu ergänzen. 

In dieſem Sinne aber giebt es wohl 
wenige Verſuche, die uns ſo große Be— 


wunderung abnöthigen, als das Unternehmen 
Kant's, aus dem zu ſeiner A. höchſt 
mangelhaft gegebenen empiriſchen Materiale 
die Geſchichte der kleinen kosmiſchen Inſel 
zu conſtruiren, die wir das Sonnenſyſtem 
nennen. 5 

Was wußte Kant von unſerem Sonnen— 
ſyſteme? 

Wenn wir von den Cometen, die er 
nicht verwerthete, abſehen, ſo kannte er ſechs 
Hauptplaneten nebſt neun Monden, die gleiche 
Richtung, in der ſich dieſe Weltkörper um 
die Sonne bewegen, die Ringe des Saturn, 
die annähernde Kreisform der Planeten- 
bahnen und das annähernde Zuſammen— 
fallen ihrer Bahnebenen. 

Was dagegen kennen wir? Nicht nur 
hat ſich die Zahl der Planeten (mit Ein— 
ſchluß der Aſteroiden) ſeither um 164 ver⸗ 
mehrt, auch die Anzahl der Monde iſt auf 
18 geſtiegen, und alle dieſe Himmelskörper 
beſtätigen die Nebularhypotheſe. Wir kennen 
ferner den intereſſanten Verſuch Plateau's, 
der die Entſtehung des Sonnenſyſtems im 
Kleinen nachbildete, indem er in einer 
Miſchung von Waſſer und Weingeiſt eine 
Kugel aus Olivenöl in Rotation verſetzte, 
alſo vom Standpunkte der Univerſalität 
der irdiſchen Geſetze die Berechtigung der 
Kant' chen Hypotheſe erwies; wir kennen 
ferner die kosmiſchen Nebel — die von 
Kant erſchloſſene Urmaterie, — deren dunſt— 
förmige Beſchaffenheit durch die Spektral- 
analyſe bewieſen wird, ja das Teleſkop läßt 
uns ſogar dunſtförmige Ringe erkennen, 
welche, analog den Ringen des Saturn, 
dieſe Nebelmaſſen umſchweben; endlich ſind 
zahlreiche veränderliche und neu auflodernde 
Sterne entdeckt worden — Worte, die in 
dem von Kant durchforſchten Texte faſt 
ganz fehlten, die uns aber den Dienſt ſehr 
wichtiger Mittelglieder leiſten, wenn wir 


du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 


daran gehen, die Geſchichte des Kosmos 
zu ſchreiben, — und ſo iſt es denn kein 
Wunder, daß wir in der Nebularhypotheſe 
eine der Gewißheit ſehr nahe kommende 
Wahrſcheinlichkeit anerkennen. Daß aber 
im Gehirne des Königsberger Philoſophen 
eine Vorſtellungsreihe verlief, deren Ueberein— 
ſtimmung mit der Reihe längſt vergangener 
Ereigniſſe er nur an wenigen Punkten zu 
conſtatiren vermochte, in welche aber alle 
ſeither geſchehenen Entdeckungen, wie Glieder 
einer Kette, ſich zwanglos einſchieben ließen, 
das verdient unſere höchſte Bewunderung. 

Kant war freilich weit von dem Glauben 
entfernt, hiermit der Forſchung ein Ruhe— 
kiſſen bereitet zu haben; aber faſt ſcheint 
es, als vergäßen wir über der Vermehrung 
der die Nebularhypotheſe beſtätigenden Ma— 
terialien ganz, die durch keine Entdeckung 
ausfüllbaren Lücken derſelben und die Mängel, 
die derſelben unbeſtreitbar noch anhaften, zu 
beachten. Iſt ja doch ſchon in dem Kant 
ſelbſt vorgelegenen Materiale, wie wir ſehen 
werden, ſolches zu finden, welches zu einer 
Umbildung derſelben uns treiben ſollte. 
Wir tragen Bauſteine zuſammen, ohne zu 
bedenken, daß nach Maßgabe des zugeführten 
Materials auch der Bau ſelbſt in die Höhe 
ſtreben ſollte. Wir verwechſeln alſo die 
Mittel mit dem Zwecke; da aber im Kos— 
mos die Erſcheinungen ſyſtematiſch ver— 
bunden ſind, kann es unſere Aufgabe nicht 
ſein, dieſelben vereinzelt in unſerem Ver— 
ſtande aufzuſammeln, es muß vielmehr auch 
in unſerem Vorſtellungsbilde der Welt 
Alles ſyſtematiſch verknüpft ſein. 

Kant und, weniger gründlich als er, 
Laplace haben wohl in allgemeinen Um— 
riſſen den Proceß angegeben, wodurch unſer 
Sonnenſyſtem entſtanden iſt, und durch 
welchen die gemeinſamen Eigenſchaften der 
Planeten und Monde ihre Erklärung finden; 


26 


* 


196 


aber die Verſchiedenheit derſelben in Bezug 
auf Maſſe, beſtimmte Entfernung von der 
Sonne — die nach dem bekannten Titius'- 
ſchen Geſetze annähernd in geometriſcher 
Progreſſion vorhanden iſt —, Geſtalt der 
Bahnen und Geſchwindigkeit der Bewegung, 
findet ihre Erklärung nicht. Und doch ſind 
es eben dieſe Verſchiedenheiten, hauptſächlich 
die räumliche Vertheilung der Maſſe, wor— 
auf die Stabilität des Syſtems beruht. 
Das teleologiſche Reſultat des Entſtehungs— 
proceſſes aus natürlichen Geſetzen zu er— 
klären, iſt demnach eine noch zu löſende 
Aufgabe. Wir müſſen alſo entweder der 
urſprünglichen Materie außer der Eigen— 
ſchaft der Schwere auch noch eine ſolche 
beilegen, welche das teleologiſche Reſultat 
erklärt, oder aber annehmen, daß aus der 
Eigenſchaft der Schwere eine wichtige, von 
Kant überſehene Folgerung ſich ergab. Nur 
die letztere Annahme aber wäre wiſſenſchaft— 
lich und frei von Willkür. 

Aus dem Gravpitationsgeſetze 
heraus iſt alſo die Nebularhypotheſe um— 
zubilden, und zwar ſind folgende Aufgaben 
zu löſen: 

1. Die zweckmäßige Maſſenvertheilung 
der Planeten und Monde muß erklärt 
werden. Es genügt nicht zu ſagen, daß 
die Sonne ſich ruckweiſe zuſammenzog und 
äquatoriale Ringe abtrennte; denn darum 
handelt es ſich hauptſächlich, daß gerade 
in den gegebenen Abſtänden Planeten von 
gerade der entſprechenden Geſchwindigkeit 
und Maſſe umlaufen, und daß an keinem 
dieſer Faktoren ohne Umwälzungen etwas 
geändert werden könnte. 

2. Die Cometen und Meteoriten müſſen 
in die Nebularhypotheſe eingefügt werden, 
und zwar muß die überwiegende Mehrzahl 
derſelben gegenüber den Planeten als eine 
nothwendige Folge des Gravitationsgeſetzes 


du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 


ſich erweiſen. Wenn Laplace ſagt: „Dans 
notre hypothese les comètes sont etran- 
geres au systeme planétaire“ (expos. 
d. syst. d. monde p. 475. Paris 1846), 
ſo ſcheint dies bei jeglichem Mangel eines 
Beweiſes dafür, daß dieſelben auch in Wirk— 
lichkeit fremder Abkunft ſind, als ein bloßer 
Verlegenheitsausſpruch, und es iſt unzu— 
läſſig, uns von den Cometen durch die 
willkürliche Annahme zu befreien, daß ſie 
insgeſammt, rechtläufige wie rückläufige, 
erſt im ſpäteren Verlaufe des Proceſſes aus 
den Regionen der Fixſterne zu uns herab— 
geſtiegen ſeien, — ganz abgeſehen davon, 
daß hierdurch das Räthſel nur zurückge— 
ſchoben wird. f 

3. Es iſt zu erklären, warum wir trotz 
der ungeheueren Ausdehnung des urſprüng— 
lichen Sonnenballs nicht mehr Planeten 
vorfinden, warum ferner die Planeten ge— 


rade mit der gegebenen Anzahl von Satel— 


Erſcheinungscomplexe, die 


liten umgeben ſind. Die Berechtigung zu 
letzterer Frage insbeſondere ergiebt ſich mit 
Evidenz aus der Thatſache, daß die Anzahl 
der Monde zwar im Allgemeinen, aber 
nicht im Einzelnen, mit den Rotations- 
geſchwindigkeiten der zugehörigen Planeten 
übereinſtimmt. Die Aſtronomie iſt nur 
ein Specialgebiet der Mechanik; ſehen wir 
daher, daß z. B. Mars faſt ebenſo ſchnell 
rotirt, als die Erde, und doch mondlos 
iſt, ſo dürfen wir unmittelbar folgern, daß 
der nach mechaniſchen Principien theoretiſch 
ſich ergebende Marsmond auch in Wirklich— 
keit vorhanden geweſen ſein muß. 

Es handelt ſich nun darum, dieſe drei 
nothwendiger 
Weiſe in näherer oder entfernterer Ver— 
wandtſchaft ſtehen müſſen, ſynthetiſch zu 
verbinden, wie es immer zu geſchehen hat 
bei Erſcheinungen, die, für ſich allein be— 
trachtet, uns nichts ſagen. 


5 
2 

% 
EN 
NG 
— 
5 


Eine ſolche Erſcheinung ift das Fehlen 
des Marsmondes. Sie ſagt uns nichts, 
wird aber ſehr beredſam, wenn wir ſie in 
Verbindung ſetzen mit den beiden anderen 
Punkten der zu löſenden Aufgabe. Zu 
nächſt, wenn wir bedenken, daß im Bil— 
dungsgange des Sonnenſyſtems auch Eli 
minationsproceſſe ſtattfanden, erſcheint es 
zuläſſig, ſolche auch bezüglich ehemaliger 
Planeten vorauszuſetzen. Halten wir nun 
dieſe Eliminationsproceſſe wiederum an die 
sub 1. berührten Erſcheinungen, ſo erhellen 
ſie ſich gegenſeitig, und wir werden un— 
willkürlich zu der Folgerung getrieben: Die 
zweckmäßige Maſſenvertheilung des Sonnen- 
ſyſtems iſt das Reſultat von Eliminations- 
proceſſen, durch welche diejenigen Planeten 
und Monde beſeitigt wurden, welche den 
Mechanismus des Sonnenſyſtems ſtörten. 

Dieſe Erklärung trägt nicht nur der er— 
wähnten Anforderung Rechnung, auch die 
teleologiſchen Eigenſchaften des Sonnen— 
ſyſtems aus der Schwere abzuleiten, ſon— 
dern ſie erweiſt ſich als die allein richtige 
auch durch ihre Uebereinſtimmung mit den 
Geſetzen der Logik, welche uns gebieten, 
zweckmäßige Erſcheinungen, in welchem Ge— 
biete der Natur wir ſie auch wahrnehmen 
mögen, niemals als fertig in die Natur 
tretend, ſondern als Reſultate eines Ent— 
wicklungsproceſſes anzuſehen. Will aber 
die Wiſſenſchaft, welche doch die zweckmäßi— 


gen Principien zu verſchmähen gehalten iſt, 


gleichwohl die Möglichkeit zweckmäßiger 
Reſultate darthun, ſo kann ſie dieſes nur 
durch die Annahme einer indirekt geſchehen— 
den Ausleſe, und dieſe wiederum iſt be— 
dingt durch die Exiſtenzunfähigkeit aller 
unzweckmäßigen Gebilde in einem ſyſtema— 


tiſch verbundenen Ganzen. 


Die Entwicklung des Kosmos erſcheint 
unter dieſem Geſichtspunkte, wie a priori 


du Prel, Ueber die nothwendige Umdildung der Nebularhypotheſe. 197 


erwartet werden darf, ganz analog der Ent— 
wicklung aller übrigen Naturreiche. Wie 
z. B. in der Biologie die Anpaſſung an 
die Lebensbedingungen nur indirekt durch 
den Ausjätungsproceß erzielt wird, der in 
der Elimination der exiſtenzunfähigen Orga— 
nismen beſteht, ſo beſorgt in der Mechanik 
des Himmels das Gravitatiousgeſetz durch 
indirekte Ausleſe die Zweckmäßigkeit der 
Syſteme, indem jene Himmelskörper, welche 
in Anſehung des Ganzen mit einem Wider— 
ſpruch belaſtet ſind, ausgeſchieden werden. 
Die Perturbationen, d. h. jene Störungen, 
welche in Folge der gegenſeitigen An— 
ziehung der Planeten entſtanden, haben in— 
direkt, durch Elimination des größten 
Theiles der ehemaligen Begleiter der Sonne, 
die Ausleſe jener geringen Zahl unſerer 
Planeten beſorgt, die nur vermöge der Ir— 
rationalität ihrer Umlaufszeiten trotz ihres 
gegenſeitigen Gravitirens beſtandesfähig ſind. 
Die Natur verfährt gleichſam wie der 
Holzſchneider, der die Zeichnung nur indi⸗ 
rekt, durch Vertiefung der Zwiſchenfelder, 
zu Relief bringt. 

So nur läßt ſich aus dem ungehemm— 
ten Walten natürlicher Geſetze jenes teleo— 
logiſche Reſultat begreifen, das natürlich 
eine hyperboliſche Erklärungsweiſe zu for- 
dern ſchien, jo lange man ſtatt der ſucceſ— 
ſive eintretenden indirekten Ausleſe die ein⸗ 
mal geſchehene direkte Ausleſe vorausſetzte.“) 


) Wenn daher einer der neueren Recen— 
ſenten meiner nachſtehend erwähnten Schrift 
meint (Philoſ. Monatshefte. 1873. Nr. 3); „Gibt 
es einen Forſchritt, d. h. werden in der Welt 
Zwecke, ſei es durch Evolution, ſei es auf 
irgend eine andere Art erfüllt, ſo reicht das 
Geſetz des Mechanismus zum Verſtändniß 
einer ſolchen Welt nicht mehr aus; oder die 
blinde Nothwendigkeit regiert allein, dann 
darf von Zweckmäßigkeit in der Welt auch 
nicht länger die Rede ſein“ — ſo vermag ich 


2 

Kosmiſche Probleme dürfen nur jo ge— 
löſt werden, daß man aus Vorgängen, die 
ſich in der Erfahrung bieten, auf die Ver— 
gangenheit zurückſchließt. Die Perturba- 
tionen ſind aber bekannte Erſcheinungen im 
Planetenſyſteme, haben indeſſen nur zur 
Folge, daß die Planeten in geringem Maße 
von der regelmäßigen Bahn abgelenkt wer— 
den. Daß ſie aber auch jene in obiger 
Schlußfolgerung ihnen zugemuthete höhere 
Wirkſamkeit, nämlich die Elimination von 
Weltkörpern aus dem Syſteme, ausüben 
können, das lehren die Cometen, deren Bah— 
nen nicht ſelten in Folge von Störungen 
ganz und gar umgeſtaltet werden. 


darin eine kritiſche Bemerkung nicht zu er— 
kennen. Zwecke, etwa eines extramundanen 
Weſens, die der Herr Recenſent wohl retten 
möchte, werden allerdings im Weltproeeſſe 
nicht realiſirt; aber in jedem Kräfteſyſtem 
erzeugt die Ausgleichung entgegengeſetzter 
Kräfte mehr und mehr ſtabile Zuſtände, und 
die Stabilität unſeres Sonnenſyſtems darf 
doch als eine mechaniſche Zweckmäßigkeit be— 
zeichnet werden, wenn nicht etwa ein bloßer 
Wortſtreit eintreten ſoll. Will aber der Herr 
Recenſent zweckmäßige Reſultate als natür— 
liches Ergebniß nicht für möglich halten, ſo 
war es doch unlogiſch, mir das entgegenzu— 
werfen, d. h. ſich gerade auf jenes Vorurtheil 
zu ſtützen, welches zu widerlegen eben der 
ganze Zweck meines Buches war, — er hätte 
denn die Unzulänglichkeit meiner Beweiſe dar— 
gethan, was er wohlweislich gar nicht ver— 
ſucht hat. Wenn er zudem die befremdliche 
Behauptung aufitellt, daß ich an Stelle der 
Darwin'ſchen „natürlichen Auswahl“ die in— 
direkte Auswahl ſetze, ſo hat er wohl nicht 
erkannt, daß Darwin's „natürliche Aus- 
wahl“ eben eine indirekte Auswahl iſt. — 
Wenn dagegen ein anderer Recenſent („Die 
Natur“ 1877. Nr. 6) meint: „Die Descendenz 
im anorganiſchen und phyſikaliſchen Reiche 
hat nichts mit jener Darwiniſtiſchen im Reiche 
der Organismen zu thun“ — ſo beweiſt er 
damit nur, daß er den philoſophiſchen Kern 


du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 


dewton hat bewieſen, daß bei dem 
quadratiſchen Anziehungsgeſetze die Planeten— 
bahnen nur Kegelſchnitte mit dem Anziehungs— 
centrum als Brennpunkt ſein können, und 
zwar, je nach dem Verhältniſſe der Schwer— 
kraft zu ihrer Centrifugalkraft, Kreiſe, 
Ellipſen von verſchiedener Länge, Parabeln 
oder Hyperbeln. Eine eigentliche Elimina— 
tion von Weltkörpern konnte alſo nur ein- 
treten, wenn dieſes Verhältniß der Schwer— 
kraft zur Centrifugalkraft ſo bedeutend ge— 
ändert wurde, daß entweder bei eintretender 
Vermehrung der Schwerkraft die Spiral- 
bewegung gegen das Anziehungscentrum 
eintrat, oder — falls nämlich die Störung 
die Centrifugalkraft bedeutend vermehrte — 
wenn die urſprüngliche Kreisbahn in eine 
nicht geſchloſſene Bahn, Parabel oder Hyperbel, 
verwandelt wurde. Dagegen verblieben alle 
diejenigen Planeten im Syſteme, deren Bah— 
nen nur in langgeſtreckte Ellipſen verwan— 
delt wurden. 

Solche Planeten finden ſich aber in 


der Darwin'ſchen Theorie herauszuſchälen 
nicht vermochte, und daß er über die zu 
einem Analogieſchluſſe nöthige Phantaſie nicht 
verfügte. Erſteres iſt aber nöthig, weil nur 
ſo die Analogie zwiſchen den biologiſchen und 
kosmologiſchen Problemen als eine reale 


Analogie ſich darſtellt. Nur ſo aber habe ich 


es auch gemeint, und habe nicht etwa die 
Fixſterne für Säugethiere gehalten. Wären 
die angeführten Worte des Herrn Recenſen— 
ten richtig, ſo war das Lob, das er im 
Uebrigen meinem Buche ertheilt, ganz und 
gar nicht am Platze; denn alsdann hätte ich 
nichts Neues geſagt, und hätte nur das zwei— 
felhafte Verdienſt, aus 99 vorhandenen Bü— 
chern das hundertſte zuſammen geſchrieben zu 
haben. — Beide Beiſpiele beweiſen eben wie— 
der, daß der Styl, um für alle Köpfe ver— 
ſtändlich zu ſchreiben, leider noch nicht erfun— 
den iſt; ich konnte darum auch keinen Ge— 
brauch davon machen. 


un 


Wirklichkeit nicht vor. Nur Cometen und 
Meteoritenſtröme bewegen ſich in ſolchen ge— 
ſtreckten Ellipſen, — eben jene Weltkörper, 
welche in die Nebularhypotheſe einzufügen, 
wie erwähnt, als eine weitere Aufgabe uns 
obliegt. Es iſt aber nicht nur zur Gewiß— 
heit erhoben, daß die Meteoriten Bruchſtücke 
ſind, die ehemals zu großen Weltkörpern 
verbunden waren, ſondern Schiaparelli 
hat auch den Zuſammenhang zwiſchen Co— 
meten und Meteoriten nachgewieſen, während 
es nach den Unterſuchungen Zöllner's ſehr 
wahrſcheinlich wird, daß die Cometen ledig— 
lich Meteoriten von verdampfungsfähiger 
Materie ſind. 

Es erübrigt alſo nur mehr der Nach— 
weis, daß planetariſche Körper, welche durch 
die anfänglichen Perturbationen in lang— 


geſtreckte Bahnen verwieſen wurden, in Folge 


deſſen dem Stadium des Zerfalls ſchneller 
zueilen mußten als jene, welche nur in ge— 
ringem Grade von der Kreisbahn abgedrängt 
wurden, — eine Unterſuchung, bei der uns 


die vergleichende Aſtronomie des Planeten 
ſyſtems von großem Nutzen ſein wird, in 
ſo ferne als ſchon bei unſeren Planeten und 


Monden, deren Zuſtände verſchiedene Phaſen 
des gleichen Entwicklungsganges repräſen— 
tiren, jene von den Meteoritenſtrömen dar— 
geſtellte Endphaſe mehr oder minder deutlich 
bereits angedeutet ſein muß. Ich glaube 
jedoch ein näheres Eingehen auf dieſes 


Thema hier um ſo mehr unterlaſſen zu 


dürfen, als ich es anderwärts ausführlich 
erörtert habe.“) — 

Nach der Nebularhypotheſe muß die 
unſer Syſtem bildende Materie einſt bis 
über die Grenzen der Neptunsbahn aus— 


) Vgl. „Der Kampf ums Daſein am 
Himmel. Verſuch einer Philoſophie der Aſtro— 
nomie.“ 2. umgeſtaltete und vermehrte Auf— 
lage. Berlin, Denicke. S. 227 — 310. 


du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 


199 


gedehnt geweſen ſein, und man hat berechnet, 
daß die bis zu ſolcher Ausdehnung ver— 
flüchtigte Materie dieſes Syſtems nur eine 
Dichtigkeit vom zehnmillionſten Theile des 
leichteſten der bekannten Gaſe, Waſſerſtoff— 
gas, beſitzen konnte. Die Ungeheuerlichkeit 
einer ſolchen Verdünnung, für welche eine 
verurſachende Wärmeentwicklung kaum vor— 
ſtellbar iſt, dürfte allein ſchon genügen, uns 
zu der Annahme zu treiben, daß ehemals 
in dem von der Neptunsbahn umſchriebenen 
Raume viel mehr Materie zu finden war, 
als derzeit, zu Weltkörpern verdichtet, darin 
ſchwebt, daß alſo der urſprüngliche Nebel 
weit weit weniger verdünnt geweſen ſei als 
in obiger Annahme liegt. So aber müſſen 
uns die Meteoritenſtröme und Cometen ſo— 
gar ſehr willkommen erſcheinen, um unter 
der Annahme, daß auch ſie in dieſem Raume 
aufgelöſt waren und erſt in Folge ſpäterer 
Perturbationen die Grenze überſchritten, dem 


urſprünglichen Nebel einige Aehnlichkeit mit 


jenen kosmiſchen Nebeln zu ertheilen, welche 
das Spektroſkop entdecken ließ. Bedenken 
wir zudem, daß diejenigen urſprünglichen 
Begleiter der Sonne, welche, in paraboliſche 
und hyperboliſche Bahnen gelenkt, das Syſtem 
ganz verließen, ebenfalls noch herangezogen 
werden dürfen, den von der Neptunsbahn 
umſchriebenen Raum auszufüllen, fo gelan- 
gen wir wenigſtens zu einem vorſtellbaren 
Grade der Verflüchtigung der urſprünglichen 
Materie des Sonnenſyſtems. 

Die Anzahl der gänzlich aus unſerem 
Syſteme eliminirten Himmelskörper kann 
freilich nur annähernd und indirekt beſtimmt 
werden, wenn wir nämlich annehmen, daß 
die Fixſterne gleich reichlich mit Begleitern 
verſehen ſind, daß auch in dieſen Syſtemen 
Eliminationsproceſſe vorkommen, und daß 
unſere Sonne von den benachbarten Fix— 
ſternen mit mindeſtens ebenſo vielen Aus— 


2 


200 du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypetheſe. 


gewieſenen bedacht wird — die ſich als— 
dann hyperboliſch wieder empfehlen —, als 
ſie ihrerſeits ausgewieſen hat. 

Als ſolche Fremdlinge dürfen wir alle 
rückläufigen Cometen und Meteoriten 
betrachten; zum Theile haben dieſelben in 
Folge planetariſcher Einflüſſe geſchloſſene 
Bahnen erworben und ſich dauernd in 
unſerem Syſteme niedergelaſſen. 

Wenn nun aber die langgeſtreckten Bah— 
nen der rechtläufigen Cometen und 
Meteoriten uns nicht hindern dürfen, in 
ihnen Fragmente ehemaliger Planeten unſeres 
Syſtems anzuerkennen, ſo bleibt als Gegen— 
ſatz zu den Bahnebenen der Planeten, die 
mit der Aequatorebene der Sonne faſt zu— 
ſammenfallen, nur noch der Umſtand zu er— 
klären, daß der Winkel ihrer Bahnebenen 
mit der Erdbahn zum Theile ſehr beträcht— 
lich iſt. Aber auch dieſe Schwierigkeit hebt 
ſich, wenn wir dieſe Neigung gegen die 
Erdbahn als eine durch Perturbationen erſt 
erworbene betrachten. So hatte z. B. der 


Comet von Brorſen 1846, den uns nach 
d' Arreſt 1842 die Anziehung des Jupiter 
zuführte, eine Neigung von 41 Grad gegen 
die Erdbahn, und wurde dieſelbe durch dieſe 
einzige Störung auf 31 Grad vermindert. 
Es kann alſo unter entſprechenden Um— 
ſtänden auch eine eben ſo bedeutende Ver— 
mehrung eintreten. — 

So zeigt es ſich denn, daß wir zu 
einer moniſtiſchen Vorſtellung von der Ge— 
ſchichte unſeres Sonnenſyſtems nur dadurch 
gelangen, daß wir die indirekte Ausleſe des 
Zweckmäßigen durch Elimination des Un— 
zweckmäßigen im Entwickelungsproceſſe an- 
nehmen, welche in allen Naturgebieten Gel— 
tung hat. Dadurch wird, aus einem Punkte 
heraus, nicht nur die zweckmäßige Maſſen— 
vertheilung im Planetenſyſteme erklärt, ſon— 
dern auch der Dualismus beſeitigt, in dem 
man bisher die Cometen neben den Planeten 
unvermittelt herlaufen ließ. 

Wir müſſen alſo Kant und 
Laplace durch Darwin ergänzen. 


837 
n 


Die Organanfünge. 


Von 


Prof Dr. Guftao Jäger. 


15 


Die Anfänge des Gehörorgans. 


Fährend das Auge eine ein— 
fache ſchöne Entwickelungsſkala 
von einem einfachen Pigment- 
fleck bis zu einem wunder— 
J bar complicirten Organapparat 
aufweiſt, zeigt das Gehörorgan weder einen 
ſo einheitlichen Anfang, noch einen ſo ein— 
heitlichen Entwickelungsgang in der auf— 
ſteigenden Reihe der Thiere, noch überhaupt 
eine ſolche vergleichsweiſe beharrliche und 
frühzeitige Lokaliſation wie das Auge. Wir 
werden in der Folge ſehen wie und warum. 
Bei der Betrachtung des Gehörſinns 
muß zuerſt an den Umſtand erinnert wer— 
den, daß Hören und Taſten ſehr nahe mit 
einander verwandt ſind. Wir fühlen die 
Schwingungen einer Saite oder einer Stimm— 
gabel ebenſo gut, wie wir ſie hören, und 
der Schwerhörige benützt ſeinen Taſtſinn 
als Beihülfe beim Hören. Dieſe Verwandt— 
ſchaft iſt auch begreiflich; beim Hören wie 
beim Taſten iſt der Reiz, um deſſen Wahr— 


nehmung es ſich handelt, eine Druckſchwan— 


kung, die durch eine Maſſenbewegung erzeugt 
wird. Wenn wir von der Tonunterſchei— 


dung abſehen und nur die Schallempfindung 


im Auge haben, ſo iſt der ganze Unter— 
ſchied der, daß Taſtempfindung in der Regel 
durch die unregelmäßigen Bewegungen eines 
feſten Fremdkörpers erzeugt wird, während 
es ſich beim Hören im Allgemeinen um eine 
Druckſchwankung des Aufenthaltsmediums 
(Luft oder Waſſer) handelt. 

Wie in dem vorigen Artikel ein— 
leitend geſagt wurde, iſt Empfindung 
ſtets mit Abſorption, d. h. Vernichtung 
der Bewegung, die empfunden werden ſoll, 
verbunden, alſo ein der Leitung beziehungs— 
weiſe Reflexion einer Bewegung entgegen— 
geſetzter Vorgang. 

Empfindlich für Schallwellen kann alſo 
nur ein Körper ſein, der den Schall ſchlecht 
leitet und ſchlecht reflektirt und, da Hören 
und Taſten auf daſſelbe hinauskommen, der 
auch mechaniſche Bewegungen ſchlecht leitet 
und ſchlecht reflektirt. Einen ſchlechten Leiter 


202 Jäger, Die Organanfänge. 


für mechaniſche Bewegung nennen wir 
weich und bekanntermaßen ſind weiche 
Körper auch ſchlechte Schallleiter: der Schall 
wie die mechaniſche Bewegung werden um 
ſo beſſer geleitet, je feſter ein Körper iſt. 
Die Reflexion von Schall und mechaniſcher 
Bewegung hängt von dem Elaſticitätsgrad 
ab; je unelaſtiſcher, deſto ſchlechter 
fällt die Reflexion aus. 

Nun wiſſen wir, daß die lebendige Sub— 
ſtanz in ihrem einfachen und urſprünglichen 
Zuſtande ein ſehr weicher, ganz un— 
elaſtiſcher Stoff iſt und ſchon daraus 
allein geht hervor, daß dieſelbe ebenſo em— 
pfindlich für mechaniſche Druckſchwankungen 
als für Schallwellen ſein muß, daß ſie 
alſo ſchon an und für ſich nicht blos fühlt, 
ſondern auch hört. Unſere Unterſuchung 
hat mithin nur feſtzuſtellen, auf welchem 
Wege die Schallempfindlichkeit geſteigert 
und ſchließlich von der Taſtempfindlichkeit 
geſondert und einem eigenen Organ über— 
antwortet wird. 

Das erſte Mittel zur Steigerung der 
Schallempfindlichkeit iſt das Ausſtrecken der 
Wurzelfüße, jener zarten, oft ſelbſt wieder 
veräſtelten, lebendigen Fortſätze, welche die 
lebendige Subſtanz in ihrer urſprünglichſten 
Verfaſſung bei niederſten Organismen in 
oft großer Zahl hervortreibt und wieder 
einzuziehen vermag. Jeder Wurzelfuß, der 
in einer die Bahn der Schallwelle kreuzen— 
den Richtung ſteht, iſt erſtens eine Ver— 
größerung der Schall auffangenden Oberfläche, 
und zweitens muß derſelbe in transverſale 
Bewegungen verſetzt werden, wodurch ener— 
giſche, weil mit Hebelgewalt wirkende Druck— 
ſchwankungen an der Anſatzſtelle des Wurzel— 
fußes entſtehen. Wir können mithin ganz 
gut ſagen: Wenn ein Wurzelfüßer — ſo 
bezeichnet man jene einfachſten Organismen, 
die nichts ſind als ein Stückchen lebendige 


Subſtanz — alle ſeine Wurzelfüße voll 
entfaltet hat, ſo befindet er ſich im Zuſtand 
einer beträchtlich geſteigerten Schallempfind- 
lichkeit, alſo gleichſam in lauſchender 
Haltung. 

Da die Wurzelfüße ſelbſtverſtändlich 
zugleich der Sitz einer und zwar erhöhten 
Taſtempfindlichkeit find, fo find hier Taft- 
und Gehörſinn noch nicht anatomiſch ge— 
trennt. Man würde aber gewiß fehl gehen, 
wenn man deshalb den Wurzelfüßern die 
Unterſcheidung von Hören und Taſten ab- 
ſprechen wollte. Beim letzteren werden nur 
in einzelnen Wurzelfüßen Druckſchwankungen 
erzeugt, während die Schallwelle alle Wur— 
zelfüße erregt, welche die Bahn derſelben 
kreuzen und zwar in ganz methodiſcher 
Weiſe. 

Ein ganz anderer, gleichſam entgegen— 
geſetzter Weg zur Erhöhung der Schall— 
empfindlichkeit der lebendigen Subſtanz 
iſt die pflockartige Einpflanzung von 
Hartgebilden, die mit einem Theil ihrer 
Länge über die Oberfläche hervorragen. 
Als Stoff hierzu find z. B. bei den Ra- 
diolarien Kieſelnadeln, bei den See— 
ſchwämmen theils Kieſelnadeln, theils 
Kalknadeln verwendet. Solche Hartgebilde 
ſind ſehr gute Schallleiter und mit ihrer 
Anweſenheit iſt deshalb mehrfaches für die 
Schallempfindlichkeit gewonnen: 

1. Da eine Nadel, die die Bahn einer 
Schallwelle kreuzt, von ihr in Bewegung 
verſetzt wird, ſo bildet die Beſtachelung 
ebenſo eine Vermehrung der ſchallauffangen— 
den Fläche, wie das Ausſtrecken der Wur— 
zelfüße. 

2. Da das Exzittern einer ſolchen 
Nadel, unter dem Einfluß einer Schallwelle, in 
der ganzen Ausdehnung der Berührungs— 
fläche zwiſchen Nadel und lebendiger Sub— 
ſtanz Druckſchwankungen erzeugen muß, jo 


wird ein weit größerer Theil der Geſammt— 
maſſe des Körpers direkt vom Schallreiz 
getroffen, als wenn die Nadeln fehlten und 
die Schallwelle nur auf die Oberfläche eines 
glatten Körpers auffallen würde. Für eine 
einzige Nadel muß ſich die Verſtärkung der 
Wirkung durch das Verhältniß zwiſchen 
dem Querſchnitt eines Cylinders und der 
Flächenausdehnung des Cylindermantels aus— 
drücken laſſen. 

3. Die vom Schall ſeitlich getroffenen 
Nadeln werden, wenn ſie lang und dünn 
genug ſind, auch in quere Schwingungen 
verſetzt, welche ſehr energiſch auf den Bo— 
den wirken müſſen, in welchem ſie ſtecken. 

Daß ſolche ſteife Stäbe, in empfind— 
licher Subſtanz ſteckend, zugleich ausgezeich— 
nete Taſtwerkzeuge und außerdem noch Ver— 
theidigungswerkzeuge ſind, bedarf keiner 
Erörterung, ebenſo wenig, daß hier ſo gut 
wie bei den Wurzelfüßen eine Unterſchei— 
dung zwiſchen Taſten und Hören ſtattfinden 
kann. 

Noch in anderer Form treten harte 
Skelettheile als Steigerer der Schallempfind— 
lichkeit auf. Der verkalkte Wurzeltheil einer 
Steinkoralle, der mit einer ſehr ge— 
dehnten Fläche mit dem lebendigen, ihn wie 
eine Kruſte überziehenden Theile in Be— 
rührung ſteht, iſt ein ſo guter Schallleiter, 
daß wir ohne weiteres ſagen dürfen, eine 
Steinkoralle höre beſſer als ein Fleiſchpolyp. 


Jäger, Die Organanfänge. 


In Seewaſſeraquarien läßt ſich das auch 
ſehr leicht conſtatiren: Wenn man eine kalk— | 


ſchalige Bryozoencolonie, oder eine Cyathine 
oder eine Oculinencolonie entfaltet ſehen 
will, ſo hat man ſich dem Gefäß mit 
einiger Vorſicht zu nähern, während die 
fleiſchigen Seeanemonen in dieſer Bezie— 
hung äußerſt ſtumpfſinnig ſind. 

Ferner darf es uns auch nicht Wunder 
nehmen, daß man bei den Stadel- 


häutern (Seeſternen, Seeigeln ꝛc.) keine 
geſonderten Gehörapparate nachzuweiſen ver— 


mag. Ihre ganze Leibeswand iſt ſo ſehr 
von gut ſchallleitenden Theilen durch— 
ſetzt, daß eine relativ ziemlich hohe 


Schallempfindlichkeit in ihnen vorhanden ſein 
muß, was nur ihrer im Allgemeinen geringen 
Empfindlichkeit wegen weniger in die Augen 
ſpringt. Die Stachelhäuter, insbeſondere 
die Seeigel, theilen eben mit allen über— 
mäßig ſtark beſchützten Thieren (Landſchild— 
kröten, Igeln, Gürtelthieren, Dorneidechſen 
ꝛc.) die große Unempfindlichkeit und Träg— 
heit aller Lebenserſcheinungen. 

Die Mollusken haben zwar, wie wir 
ſpäter ſehen werden, ein ganz beſtimmtes 
Gehörorgan, allein daneben darf ſicher die 
große Schallleitungsfähigkeit ihrer ſtein— 
harten Schalenſubſtanz als Quelle einer 
allgemeinen Schallempfindlichkeit nicht unter— 
ſchätzt werden; ich habe wenigſtens in 
Aquarien Auſtern unter Umſtänden ſich 
ſchließen ſehen, die auf eine Schallleitung 
durch die Schale hinweiſt. 

Noch günſtiger ſind feſte Körperbedek— 
kungen dann, wenn ſie zugleich elaſtiſch und 
im Stande ſind, transverſale Schwin— 
gungen auszuführen. Hierbei müſſen wir 
aber noch auf einen Punkt aufmerkſam 
machen: Da das Waſſer die Schallwellen 
viel beſſer leitet als die Luft, ſo befinden 
ſich die Waſſerthiere bezüglich der Schall— 
wahrnehmung in einer günſtigeren Lage 
als die Luftthiere; ſie hören unter ſonſt 
gleichen Umſtänden weiter und ſchneller. 
Außerdem hören ſie aber auch ſicherer, 
weil die Schallwelle aus dem Waſſer viel 
leichter in die wäſſerig durchtränkte thieriſche 
Subſtanz oder in die Hartgebilde eintritt, 
als dies in die gleichen Stoffe aus der Luft 
geſchieht. Günſtiger geſtaltet ſich das Ver— 
hältniß für das Luftthier erſt dann, ſobald 


196 du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 


aber die Verſchiedenheit derſelben in Bezug 
auf Maſſe, beſtimmte Entfernung von der 
Sonne — die nach dem bekannten Titius'- 
ſchen Geſetze annähernd in geometriſcher 
Progreſſion vorhanden iſt —, Geſtalt der 
Bahnen und Geſchwindigkeit der Bewegung, 
findet ihre Erklärung nicht. Und doch ſind 
es eben dieſe Verſchiedenheiten, hauptſächlich 
die räumliche Vertheilung der Maſſe, wor- 
auf die Stabilität des Syſtems beruht. 
Das teleologiſche Reſultat des Entſtehungs— 
proceſſes aus natürlichen Geſetzen zu er— 
klären, iſt demnach eine noch zu löſende 
Aufgabe. Wir müſſen alſo entweder der 
urſprünglichen Materie außer der Eigen— 
ſchaft der Schwere auch noch eine ſolche 
beilegen, welche das teleologiſche Reſultat 
erklärt, oder aber annehmen, daß aus der 
Eigenſchaft der Schwere eine wichtige, von 
Kant überſehene Folgerung ſich ergab. Nur 
die letztere Annahme aber wäre wiſſenſchaft— 
lich und frei von Willkür. 

Aus dem Gravitationsgeſetze 
heraus iſt alſo die Nebularhypotheſe um— 
zubilden, und zwar ſind folgende Aufgaben 
zu löſen: 

1. Die zweckmäßige Maſſenvertheilung 
der Planeten und Monde muß erklärt 
werden. Es genügt nicht zu ſagen, daß 
die Sonne ſich ruckweiſe zuſammenzog und 
äquatoriale Ringe abtrennte; denn darum 
handelt es ſich hauptſächlich, daß gerade 
in den gegebenen Abſtänden Planeten von 
gerade der entſprechenden Geſchwindigkeit 
und Maſſe umlaufen, und daß an keinem 
dieſer Faktoren ohne Umwälzungen etwas 
geändert werden könnte. 

2. Die Cometen und Meteoriten müſſen 
in die Nebularhypotheſe eingefügt werden, 
und zwar muß die überwiegende Mehrzahl 
derſelben gegenüber den Planeten als eine 
nothwendige Folge des Gravitationsgeſetzes 


ſich erweiſen. Wenn Laplace ſagt: „Dans 
notre hypothèse les comètes sont étran- 
geres au systeme planétaire“ (expos. 
d. syst. d. monde p. 475. Paris 1846), 
jo ſcheint dies bei jeglichem Mangel eines 
Beweiſes dafür, daß dieſelben auch in Wirk— 
lichkeit fremder Abkunft ſind, als ein bloßer 
Verlegenheitsausſpruch, und es iſt unzu— 
läſſig, uns von den Cometen durch die 
willkürliche Annahme zu befreien, daß ſie 
insgeſammt, rechtläufige wie rückläufige, 
erſt im ſpäteren Verlaufe des Proceſſes aus 
den Regionen der Fixſterne zu uns herab— 
geſtiegen ſeien, — ganz abgeſehen davon, 
daß hierdurch das Räthſel nur zurückge— 
ſchoben wird. 

3. Es iſt zu erklären, warum wir trotz 
der ungeheueren Ausdehnung des urſprüng— 
lichen Sonnenballs nicht mehr Planeten 
vorfinden, warum ferner die Planeten ge— 
rade mit der gegebenen Anzahl von Satel— 
liten umgeben ſind. Die Berechtigung zu 
letzterer Frage insbeſondere ergiebt ſich mit 


Evidenz aus der Thatſache, daß die Anzahl 


der Monde zwar im Allgemeinen, aber 
nicht im Einzelnen, mit den Notationg- 
geſchwindigkeiten der zugehörigen Planeten 
übereinſtimmt. Die Aſtronomie iſt nur 
ein Specialgebiet der Mechanik; ſehen wir 
daher, daß z. B. Mars faſt ebenſo ſchnell 
rotirt, als die Erde, und doch mondlos 
iſt, ſo dürfen wir unmittelbar folgern, daß 
der nach mechaniſchen Principien theoretiſch 
ſich ergebende Marsmond auch in Wirklich— 
keit vorhanden geweſen ſein muß. 

Es handelt ſich nun darum, dieſe drei 
Erſcheinungscomplexre, die nothwendiger 
Weiſe in näherer oder entfernterer Ver— 
wandtſchaft ſtehen müſſen, ſynthetiſch zu 
verbinden, wie es immer zu geſchehen hat 
bei Erſcheinungen, die, für ſich allein be— 
trachtet, uns nichts ſagen. 


Eine ſolche Erſcheinung iſt das Fehlen 
des Marsmondes. Sie ſagt uns nichts, 
wird aber ſehr beredſam, wenn wir ſie in 
Verbindung ſetzen mit den beiden anderen 
Punkten der zu löſenden Aufgabe. Zu 
nächſt, wenn wir bedenken, daß im Bil⸗ 
dungsgange des Sonnenſyſtems auch Eli 
minationsproceſſe ſtattfanden, erſcheint es 
zuläſſig, ſolche auch bezüglich ehemaliger 
Planeten vorauszuſetzen. Halten wir nun 
dieſe Eliminationsproceſſe wiederum an die 
sub 1. berührten Erſcheinungen, ſo erhellen 
ſie ſich gegenſeitig, und wir werden un— 
willkürlich zu der Folgerung getrieben: Die 
zweckmäßige Maſſenvertheilung des Sonnen- 
ſyſtems iſt das Reſultat von Eliminations— 
proceſſen, durch welche diejenigen Planeten 
und Monde beſeitigt wurden, welche den 
Mechanismus des Sonnenſyſtems ſtörten. 

Dieſe Erklärung trägt nicht nur der er— 
wähnten Anforderung Rechnung, auch die 
teleologiſchen Eigenſchaften des Sonnen— 
ſyſtems aus der Schwere abzuleiten, ſon— 
dern ſie erweiſt ſich als die allein richtige 
auch durch ihre Uebereinſtimmung mit den 
Geſetzen der Logik, welche uns gebieten, 
zweckmäßige Erſcheinungen, in welchem Ge— 
biete der Natur wir ſie auch wahrnehmen 
mögen, niemals als fertig in die Natur 
tretend, ſondern als Reſultate eines Ent— 
wicklungsproceſſes anzuſehen. Will aber 
die Wiſſenſchaft, welche doch die zweckmäßi— 
gen Principien zu verſchmähen gehalten iſt, 
gleichwohl die Möglichkeit zweckmäßiger 
Reſultate darthun, ſo kann ſie dieſes nur 
durch die Annahme einer indirekt geſchehen— 
den Ausleſe, und dieſe wiederum iſt be— 
dingt durch die Exiſtenzunfähigkeit aller 
unzweckmäßigen Gebilde in einem ſyſtema— 
tiſch verbundenen Ganzen. 

Die Entwicklung des Kosmos erſcheint 
unter dieſem Geſichtspunkte, wie a priori 


du Prel, Ueber die nothwendige Umdildung der Nebularhypotheſe. 


a 


197 


erwartet werden darf, ganz analog der Ent— 
wicklung aller übrigen Naturreiche. Wie 
z. B. in der Biologie die Anpaſſung an 
die Lebensbedingungen nur indirekt durch 
den Ausjätungsproceß erzielt wird, der in 
der Elimination der exiſtenzunfähigen Orga— 
nismen beſteht, ſo beſorgt in der Mechanik 
des Himmels das Gravitationsgeſetz durch 
indirekte Ausleſe die Zweckmäßigkeit der 
Syſteme, indem jene Himmelskörper, welche 
in Anſehung des Ganzen mit einem Wider— 
ſpruch belaſtet ſind, ausgeſchieden werden. 
Die Perturbationen, d. h. jene Störungen, 
welche in Folge der gegenſeitigen An— 
ziehung der Planeten entſtanden, haben in— 
direkt, durch Elimination des größten 
Theiles der ehemaligen Begleiter der Sonne, 
die Ausleſe jener geringen Zahl unſerer 
Planeten beſorgt, die nur vermöge der Ir— 
rationalität ihrer Umlaufszeiten trotz ihres 
gegenfeitigen Gravitirens beſtandesfähig find. 
Die Natur verfährt gleichſam wie der 
Holzſchneider, der die Zeichnung nur indi— 
rekt, durch Vertiefung der Zwiſchenfelder, 
zu Relief bringt. 

So nur läßt ſich aus dem ungehemm⸗ 
ten Walten natürlicher Geſetze jenes teleo— 
logiſche Reſultat begreifen, das natürlich 
eine hyperboliſche Erklärungsweiſe zu for- 
dern ſchien, fo lange man ſtatt der ſucceſ— 
five eintretenden indirekten Ausleſe die ein- 


ſenten meiner nachſtehend erwähnten Schrift 
meint (Philoſ. Monatshefte. 1873. Nr. 3): „Gibt 
es einen Forſchritt, d. h. werden in der Welt 
Zwecke, ſei es durch Evolution, ſei es auf 
irgend eine andere Art erfüllt, ſo reicht das 
Geſetz des Mechanismus zum Verſtändniß 
einer ſolchen Welt nicht mehr aus; oder die 
blinde Nothwendigkeit regiert allein, dann 
darf von Zweckmäßigkeit in der Welt auch 
nicht länger die Rede ſein“ — ſo vermag ich 


725 


Zellen, welche dieſe ſteifen Fäden hervor— 
treiben, ſetzen ſich auf ihrer entgegengeſetzten 
Seite mit Nervenfäden in Verbindung und 
werden ſo zu Hörzellen, und indem die 
Hautfläche, deren Grenzzellen zu Hörzellen 
werden, ſich taſchenartig einſtülpt, iſt hier 
ebenfalls der Anfang zu einem geſonderten 
Gehörorgan gelegt. 

Der Weg zur Abſcheidung des Gehör— 
ſinns vom Taſtſinne iſt alſo bei Inſekten, 
Krebſen und Wirbelthieren der ganz gleiche 
d. h. Verſenkung der ſchallempfindlichen 
Theile in die Tiefe; aber das Material 
hierzu iſt genau ſo verſchieden, als die drei 
Thiergruppen ſich auch ſonſt von einander 
unterſcheiden. 

Damit iſt jedoch die Zahl der Gehör— 
organanfänge noch nicht erſchöpft, denn wir 
haben bis jetzt der Mollusken, Würmer 
und Quallen noch nicht gedacht. Bei 
dieſen iſt das Gehörorgan ein in die Tiefe 
des Leibes verſenktes, rundum geſchloſſenes 
Bläschen, das mit Nervenendzellen aus— 
tapeziert iſt. Die letzteren tragen ſteife 
Haare, die in die Lichtung des Bläschens 
vorſpringen. In der das Bläschen er— 
füllenden Flüſſigkeit ſchwimmt entweder ein 
einziger größerer Hörſtein oder eine Gruppe 
vieler kleiner Hörſteine. Auch hier tritt zu— 
nächſt die nahe Verwandtſchaft von Taſt— 
empfindung und Schallempfindung hervor: 
Wenn eine Schallwelle die Wand des Bläs— 
chens trifft, ſo müſſen die Schwingungen 
einen Zuſammenſtoß der Hörſteine mit den 
Hörhaaren, alſo einen Taſteindruck hervor— 
bringen, der von anderen Taſteindrücken nur 
deshalb unterſchieden wird, weil er eine 
andere Stelle des Körpers trifft und einen 
gewiſſen Rhythmus hat. Die tiefe Ver— 
ſenkung des Molluskenohrs in den Körper 
ſichert allerdings die Sonderung von Taſtſinn 
und Gehörſinn in hohem Grade, allein man 


u 


Jäger, Die Organanfänge. | 


iſt verſucht zu fragen, ob dadurch nicht die 
Zugänglichkeit des Gehörorgans für Schall— 
wellen ſehr beeinträchtigt iſt. Bei den im 
Waſſer lebenden Mollusken und Würmern 
— und das iſt weitaus die Mehrzahl — 
wird die Leichtigkeit, mit der die Schall— 
wellen aus dem Waſſer in die wäſſerig durch— 
feuchteten Thierkörper eintreten, eine genügende 
Leiſtung ſicherſtellen, aber darüber belehrt 
uns doch die Beobachtung, daß die Mollusken 
nicht zu den feinhörigen Thieren gehören. 
Bei den Landmollusken kommt in Betracht, 
daß die feſten Körper, auf denen ſie ſitzen, 
gute Schallleiter ſind, und daß damit für ſie 
ſchon ziemlich viel erreicht iſt; für Schall— 
wellen in der Luft ſind ſie aber ſehr wenig 
empfindlich. 

Darüber, ob dieſer Anfang der Gehör— 
organbildung etwas ganz für ſich beſtehen— 
des iſt oder ob er an eine der andern 
bereits beſprochenen Organanfänge an— 
knüpft, läßt ſich zur Zeit nicht entſcheiden. 
Möglich iſt in der letzten Richtung zweierlei: 
1) Wenn die geſchloſſene Gehörblaſe der 
Mollusken durch Abſchnürung einer ur- 
ſprünglichen Hauttaſche entſteht, dann liegt 
derſelbe Vorgang vor, wie bei den Wirbel— 
thieren; die Hörhaare dürfen dann als mo- 
dificirte Flimmerhaare betrachtet werden. 
2) Wenn der Hörſteinſack aber nicht durch 
Einſenkung der Haut, ſondern durch Modifi⸗ 
cation eines innerlich gelegenen Nervenendes 
entſteht, dann müßte man an die Hörſtift— 
bildung bei den Inſekten denken; der Hör— 
ſtein wäre die Modifikation eines Hörſtiftes. 

Nun müſſen wir aber noch etwas über 
die äußerlichen Bedingungen der Gehör— 
organentwickelung ſprechen, da man dieſen 
Punkt, wie mir ſcheint, noch zu wenig ins 
Auge gefaßt hat. 

Wir wiſſen längſt, daß unter die Be— 
dingungen der Entwickelung des Sehorgans 


Be 


der Aufenthalt in beleuchteten Räumen ge— 
hört, denn Thiere, welche ſeit vielen Gene— 
rationen im Dunkeln leben, ſind entweder 
augenlos oder haben verkümmerte Augen. 
Es hat nun wohl noch niemand daran ge— 
dacht, daß der Blindheit der Dunkel— 
thiere die Taubheit ſolcher Thiere ent— 
ſprechen müßte, die in ſtummer Umgebung 
leben. Man wird nun ſagen, die Natur 
ſei nirgends ſtumm und deshalb gäbe es 
keine tauben Thiere. Das mag ſein, aber 
daß große Unterſchiede in dieſer Beziehung 
vorhanden ſind, muß zugegeben werden. 

Vergleichen wir z. B. Luft- und Waſſer⸗ 
leben, ſo ſpringt in die Augen, daß im 
Vergleich zum letzteren die Luft das Reich 
der Töne iſt. Die meiſten Waſſerthiere 
ſind ſtumm und zwar nicht blos in ſofern 
als ſie keine wirkliche Stimme haben, ſondern 
die Glätte ihres Körpers und die Schmieg- 
ſamkeit des Waſſers hat auch zur Folge, 
daß ſie nur unter ganz beſonderen Verhält— 
niſſen bei ihrer Fortbewegung im Waſſer 
Geräuſche hervorbringen. Das Toben der 
Brandung, das Heulen des Seeſturms iſt 
allerdings eine gewaltige Muſik und ſie zu 
hören für ein Seethier ſehr wichtig, weil 
es gilt einer Gefahr auszuweichen, allein in 
der purpurnen Tiefe der Hochſee muß es 
doch faſt eben ſo ſtill als dunkel ſein, und 
wenn die dortigen Thiere nicht blos blind, 
ſondern auch relativ taub wären, ſo würde 
ich das völlig natürlich finden. Wir müſſen 
uns aber recht verſtehen: So wenig ein 
augenloſes Thier völlig unempfindlich gegen 
das Licht iſt — wovon wir uns bei jedem 
Regenwurm überzeugen können — ebenſo we— 
nig nehme ich an, daß irgend ein Thier völlig 
taub iſt; eine gewiſſe allgemeine Schall— 
empfindlichkeit kommt ihnen ſicher ebenſo gut 
zu, als den blinden Thieren eine gewiſſe, 
oft auffallend ſtarke Lichtempfindlichkeit. 


Jäger, Die Organanfänge. 


207 | 


Mit dieſer Einſchränkung aber erlaube 
ich mir eine große Anzahl von Seethieren 
für taub zu erklären. 

Die Kehrſeite zu dem Vorſtehenden iſt 
die Thatſache, daß bei den tönenden Thieren 
auch die Gehörorgane unter ſonſt gleichen 
Umſtänden eine höhere Entwicklungsſtufe 
zeigen als bei den ſtummen. Unter den 
Inſekten haben die ſtimmbegabten Heuſchrecken 
und Grillen die einzigen gut lokaliſirten Ge— 
hörorgane und unter den Wirbelthieren ſind 
die Gehörorgane der ſtummen Fiſche ent— 
ſchieden niedriger organiſirt (weil ſie keine 
Schnecke an ihrem Labyrinth haben) als 
die der Luftwirbelthiere, die entweder ſtimm— 
begabt ſind oder doch wenigſtens bei ihrer 
Fortbewegung Geräuſche erzeugen. 

Einen weiteren Einfluß auf die Ent— 
wickelungshöhe des Gehörorgans (wie aller 
Sinnesorgane) hat die Höhe der Intelligenz, 
weil mit ihr die Häufigkeit des Gebrauchs 
ſteigt. So lege ich mir die Thatſache zu— 
recht, daß die Gehörorgane der Säugethiere 
höher entwickelt ſind als die der Vögel, 
trotzdem daß die letzteren ſtimmbegabter ſind, 
als die erſteren. 

Zum Schluß noch eine Vergleichung von 
Gehör- und Geſichtsſinn. Beide ſtehen näm— 
lich in ähnlichen Beziehungen zum Taſtſinn. 
Letzteren zerlegen die Phyſiologen ſchon ſeit 
länger in den Temperaturſinn und den 
Druckſinn. Wie aber der Gehörſinn 
eine Abzweigung des Druckſinns, gewiſſer— 
maßen ein Diſtanzdruckſinn iſt, jo 
iſt der Geſichtsſinn ein Diſtanztem— 
peraturſinn. 

Berühren wir einen tönenden Körper 
mit dem Finger, ſo fühlen wir ſeine Be— 
wegungen mittelſt des Druckſinns, mit dem 
Ohr fühlen wir ſie auf Diſtanz. Beim 
Sehen iſt das Eigenthümliche, daß die höher 
organiſirten Augen die ſogenannte dunkle 


200 


gewieſenen bedacht wird — die ſich als— 
dann hyperboliſch wieder empfehlen —, als 
ſie ihrerſeits ausgewieſen hat. 

Als ſolche Fremdlinge dürfen wir alle 
rückläufigen Cometen und Meteoriten 
betrachten; zum Theile haben dieſelben in 
Folge planetariſcher Einflüſſe geſchloſſene 
Bahnen erworben und ſich dauernd in 
unſerem Syſteme niedergelaſſen. 

Wenn nun aber die langgeſtreckten Bah— 
nen der rechtläufigen Cometen und 
Meteoriten uns nicht hindern dürfen, in 
ihnen Fragmente ehemaliger Planeten unſeres 
Syſtems anzuerkennen, ſo bleibt als Gegen— 
ſatz zu den Bahnebenen der Planeten, die 
mit der Aequatorebene der Sonne faſt zu— 
ſammenfallen, nur noch der Umſtand zu er— 
klären, daß der Winkel ihrer Bahnebenen 
mit der Erdbahn zum Theile ſehr beträcht— 
lich iſt. Aber auch dieſe Schwierigkeit hebt 
ſich, wenn wir dieſe Neigung gegen die 
Erdbahn als eine durch Perturbationen erſt 
erworbene betrachten. So hatte z. B. der 


du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypetheſe. 


Comet von Brorſen 1846, den uns nach 
d' Arreſt 1842 die Anziehung des Jupiter 
zuführte, eine Neigung von 41 Grad gegen 
die Erdbahn, und wurde dieſelbe durch dieſe 
einzige Störung auf 31 Grad vermindert. 
Es kann alſo unter entſprechenden Um— 
ſtänden auch eine eben ſo bedeutende Ver— 
mehrung eintreten. — 

So zeigt es ſich denn, daß wir zu 
einer moniſtiſchen Vorſtellung von der Ge— 
ſchichte unſeres Sonnenſyſtems nur dadurch 
gelangen, daß wir die indirekte Ausleſe des 
Zweckmäßigen durch Elimination des Un— 
zweckmäßigen im Entwickelungsproceſſe an— 
nehmen, welche in allen Naturgebieten Gel— 
tung hat. Dadurch wird, aus einem Punkte 
heraus, nicht nur die zweckmäßige Maſſen— 
vertheilung im Planetenſyſteme erklärt, ſon— 
dern auch der Dualismus beſeitigt, in dem 
man bisher die Cometen neben den Planeten 
unvermittelt herlaufen ließ. 

Wir müſſen alſo Kant und 
Laplace durch Darwin ergänzen. 


Die Organanfänge. 


Von 


Prof Dr. Guſtav 4 


I 


ü ger. 


Die Anfänge des Gehörorgans. 


Fährend das Auge eine ein— 
fache ſchöne Entwickelungsſkala 
von einem einfachen Pigment⸗ 
fleck bis zu einem wunder— 
bar complicirten Organapparat 
aufweist, zeigt das Gehörorgan weder einen 
ſo einheitlichen Anfang, noch einen ſo ein— 
heitlichen Entwickelungsgang in der auf— 
ſteigenden Reihe der Thiere, noch überhaupt 
eine ſolche vergleichsweiſe beharrliche und 
frühzeitige Lokaliſation wie das Auge. Wir 
werden in der Folge ſehen wie und warum. 
Bei der Betrachtung des Gehörſinns 
muß zuerſt an den Umſtand erinnert wer— 
den, daß Hören und Taſten ſehr nahe mit 
einander verwandt ſind. Wir fühlen die 
Schwingungen einer Saite oder einer Stimm— 
gabel ebenſo gut, wie wir ſie hören, und 
der Schwerhörige benützt ſeinen Taſtſinn 
als Beihülfe beim Hören. Dieſe Verwandt— 


ſchaft iſt auch begreiflich; beim Hören wie 
beim Taſten iſt der Reiz, um deſſen Wahr- 
nehmung es ſich handelt, eine Druckſchwan— 


kung, die durch eine Maſſenbewegung erzeugt 
wird. Wenn wir von der Tonunterſchei— 
dung abſehen und nur die Schallempfindung 
im Auge haben, ſo iſt der ganze Unter 
ſchied der, daß Taſtempfindung in der Regel 
durch die unregelmäßigen Bewegungen eines 
feſten Fremdkörpers erzeugt wird, während 
es ſich beim Hören im Allgemeinen um eine 
Druckſchwankung des Aufenthaltsmediums 
(Luft oder Waſſer) handelt. 

Wie in dem vorigen Artikel ein— 
leitend geſagt wurde, iſt Empfindung 
ſtets mit Abſorption, d. h. Vernichtung 
der Bewegung, die empfunden werden ſoll, 
verbunden, alſo ein der Leitung beziehungs— 
weiſe Reflexion einer Bewegung entgegen— 
geſetzter Vorgang. 

Empfindlich für Schallwellen kann alſo 
nur ein Körper ſein, der den Schall ſchlecht 
leitet und ſchlecht reflektirt und, da Hören 
und Taſten auf daſſelbe hinauskommen, der 
auch mechaniſche Bewegungen ſchlecht leitet 
und ſchlecht reflektirt. Einen ſchlechten Leiter 


210 


Angriffen nur in geringem Grade aus— 
geſetzt ſind. — Charles Darwin 
prüfte Wallace's Neſttheorie und ſagt in 
ſeinem Endergebniß darüber („Abſtammung 
u. ſ. w.“ Bd. 2, S. 149 der deutſchen 
Ueberſ.): „Trotz der im Vorſtehenden auf— 
gezählten Einwürfe kann ich nach Durchleſen 
von Wallace's ausgezeichneter Abhand— 
lung nicht zweifeln, daß im Hinblick auf 
die Vögel der ganzen Erde eine bedeutende 
Majorität der Species, bei denen die 
Weibchen auffallend gefärbt ſind (und in 
dieſen Fällen find die Männchen mit 
ſeltenen Ausnahmen in gleicher Weiſe auf— 
fallend gefärbt) verborgene Neſter zum 
Zwecke eines Schutzes bauen 
Wallace glaubt, daß in dieſen Gruppen 
die brillanten Färbungen in dem Maße, 
als die Männchen dieſelbe durch geſchlecht— 
liche Zuchtwahl allmälig erlangt haben, 
auf die Weibchen überliefert und wegen des 
Schutzes, welchen dieſelben bereits durch die 
Art und Weiſe ihres Neſtbaues erhielten, 
nicht wieder beſeitigt wurden. Dieſer An— 
ſicht zufolge wurde die jetzige Art und 
Weiſe des Niſtens früher erlangt als die 
jetzt dieſe Vögel ſchmückenden Farben. Es 
ſcheint mir aber viel wahrſcheinlicher zu 
ſein, daß in den meiſten Fällen die Weib- 
chen, wie dieſelben dadurch immer mehr 
und mehr brillant gefärbt wurden, daß 
ſie an der Färbung des Männchens Theil 
nahmen, allmälig dazu geführt wurden, 
ihre Inſtinkte zu verändern (allerdings 
unter der Annahme, daß ſie früher offene 
Neſter bauten!) und ſich Schutz zu ſuchen 
durch das Errichten kuppelförmig verborgener 
Neſter“. Dieſem werden Beiſpiele 
veränderter Gewohnheit beigefügt, die ſich 
leicht vermehren ließen. 

Es kann für vollkommen ſicher erachtet 
werden, daß beide Anſichten betreffs des in 


„2 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


Rede ſtehenden Gegenſtandes, ſowohl die 
Wallace'ſche, als die Darwin 'ſche, zu- 
treffend ſind; die erſtere ſcheint mir aber in 
den meiſten Fällen, die letztere mehr in den 
Ausnahmefällen haltbar zu ſein. Daß es 
nicht allzu wahrſcheinlich iſt, daß alle 
Höhlenbrüter erſt ſpäterhin zu ihrer Brut— 
weiſe gekommen ſein ſollten, wie Darwin 
meint, zeigt die vortreffliche Auseinander— 
ſetzung Wallace's, indem der Bau eines 
offenen Neſtes für manche Familien gerade— 
zu eine phyſiſche Unmöglichkeit genannt 
werden muß. 

„Die Caprimulgidae,“ ſagt Wallace, 
„haben die unvollkommenſten Werkzeuge 
von allen, Füße, welche ſie nur auf einer 
ebenen Oberfläche tragen, und einen außer— 
ordentlich breiten, kurzen und ſchwachen 
Schnabel, der faſt gauz zwiſchen Federn 
und Borſten verſteckt iſt. Sie können kein 
Neſt von Zweigen und Faſern, von 
Haar und Moos, wie andere Vögel, bauen 
und ſie enthalten ſich im Allgemeinen daher 
ganz des Neſtbaues, indem ſie ihre Eier 
auf die nackte Erde oder auf den flachen 
Aſt eines Baumes legen. Die plumpen 
Hakenſchnäbel, der kurze Hals, die kurzen 
Füße und die ſchweren Körper der Papa— 
geien machen ſie ganz unfähig, ein Neſt 
zu bauen. Sie können keinen Aſt hinauf 
klimmen, ohne ſowohl Schnabel als auch 
Füße zu gebrauchen; ſie können ſich ſelbſt 
nicht auf ihrem Sitze umwenden, ohne ſich 
mit dem Schnabel feſt zu halten. Wie 
alſo ſollten ſie die Materialien für ein Neſt 
ineinander legen oder mit einander ver— 
flechten? Demzufolge legen ſie alle ihre 
Eier in Baumlöcher, auf die Spitzen ver- 
faulter Stümpfe oder in verlaſſene Ameiſen— 
neſter, deren weiche Materialien ſie leicht 
aushöhlen können.“ — Bei den Spechten 


herrſcht dieſelde Urſache, ebenſo bei den 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 211 


Tukans, Eisvögeln, Bienenfreſſern u. ſ.w. — 
„Viele Seeſchwalben und Strandläufer legen 
ihre Eier auf den nackten Sand des See— 
ufers, und zweifellos hat der Herzog 
von Argyll Recht, wenn er ſagt, daß 
die Urſache dieſer Gewohnheit nicht darin 
liegt, daß ſie unfähig ſind ein Neſt zu 
bauen, ſondern darin, daß in einer ſolchen 
Lage jedes Neſt auffallen und zu der Ent— 
deckung der Eier führen würde.“ Darwin 
führt dazu an, in der Bemerkung des Her— 
zogs von Argyll liege viel Wahres, „daß 
ein großes kuppelförmiges Neſt einem Feinde 
viel auffälliger iſt, beſonders allen auf Bäumen 
jagenden fleiſchfreſſenden Thieren, als ein 
kleineres offenes Neſt.“ Die Richtigkeit 
dieſer Bemerkung muß indeß doch ſehr be— 
ſtritten werden; im Gegentheil gewährt ein 
ſolches kuppelförmiges Neſt verſchiedene 
Vortheile; denn 1) verwehrt es allen im 
Fluge jagenden Raubvögeln die Möglichkeit, 
einen Fang zu thun, weil ſie den Inhalt 
nicht ſehen können oder dieſer ihnen un— 
zugänglich iſt; 2) iſt es durch Größe und 
Form den Angriffen vierfüßiger Raub— 
thiere gewiß nicht mehr ausgeſetzt, als 
das offene Neſt, da jene meiſt der Naſe 
oder dem Gehör nachgehen; nach viel— 
fältigen Beobachtungen, die ich an Katzen, 
Füchſen, Hunden und Wieſeln anſtellen 
konnte, bin ich zu dem Schluß gelangt, daß 
das Ausſpähen der Beute faſt ausnahms— 
los nicht mit dem Auge, ſondern mittelſt 
Naſe oder Gehör ſich vollzieht, das Auge 
tritt erſt hinzu — Ausnahmen ſind höchſt 
ſelten und ſah ich erſt eine einzige — 
wenn die Beute ſich wirklich bewegt und 
erſt dadurch für dieſen Sinn die Bedeutung 
eines lebenden Weſens erhält. Ferner iſt 


durch Stellung und Bauart des Neſtes 
ſowohl vielen Raubſäugethieren, als auch 
Vögeln und Schlangen der Eingang ſehr 


Theorie indeß noch hinzufügen. 


erſchwert und oft unmöglich gemacht. 
Andere ſcheinbare Gegenbeweiſe ſind durch 
Wallace oder Darwin beſeitigt worden; 
einige Punkte will ich der Wal lace'ſchen 
Die Ko⸗ 
libri's bauen tiefnapfförmige Neſter, welche 
wenigſtens ſeitlich vollſtändigen Schutz ge— 
gen feindliche Augen gewähren, und be— 
feſtigen dieſelben meiſt an einem dünnen 
ſchwanken Zweige, Stiele oder Blatte, wo— 
hin vierfüßige Thiere ſchwerlich gelangen 
können. Von Adlern und Falken dürfte 
das kleine, ſchmetterlingsartig gefärbte Weib— 
chen theils leicht überſehen werden, theils 
auch aus dem Grunde für ſich ſelbſt 
wenigſtens keine Gefahr laufen, weil es ſich 
noch im letzten Augenblicke vermöge ſeiner 
außerordentlichen Fluggewandtheit retten 
kann. Wahrſcheinlich werden aber die Raub— 
vögel eine ſo kleine und erfahrungsgemäß 
nicht beikömmliche Sylvie kaum berückſich— 
tigen. Den Baumſchlangen vermögen nur 
beſonders geſchickte Hängeneſterfertiger zu 
entgehen; es können dieſe Reptilien alſo 
wohl auch nur in dieſer Richtung von Be— 
einfluſſung geweſen ſein. Es giebt auch 
Vögel mit nicht auffälligen Weibchen, welche 
doch in Höhlen brüten — hier iſt die 
Niſtweiſe wohl meiſtens ſecundär; Wallace 
erklärt dieſe Erſcheinung ſehr einfach und 
gut durch den erfahrungsmäßigen Schutz 
vor Regen, Wind und Sonnenſtrahlen, 
welchen ſie dort finden. Daß intelligentere 
Vögel beſonders hierzu neigen, liegt auf der 
Hand. Aber Darwin führt noch zwei 
nach ſeiner Anſicht wichtige Ausnahmefälle 
der Wall ace'ſchen Theorie an, welche in— 
deſſen, je mehr ich ſie betrachte, den Cha— 
rakter als Ausnahme verlieren. Sie be— 
treffen Monticola eyanea und Dromolaea 
leuerura, zwei Wüſtenbewohner, welche 
auffallende Farben zeigen. Näheres über die 


* 2 


Pr 
er 


212 


Niſtweiſe der Monticola ift mir zwar nicht 
bekannt, aber das Weibchen iſt nicht hell— 
blau, ſondern braun und weiß gefleckt. 
Aller Wahrſcheinlichkeit nach ſtimmt aber 
dieſes Gefieder, aus einiger Entfernung 
geſehen, ſehr wohl mit der ſteinigen Um— 
gebung des — noch dazu vielleicht in Fels— 
ritzen ſtehenden — Neſtes überein; denn, 
wie der Name ſchon ſagt, hält fi Monti- 
cola nicht in der flachen, goldgelben Sand— 
wüſte, ſondern auf den Geſteins- und 
Bergzügen auf, welche einen großen Theil 
der Wüſtenlandſchaft ausmachen. In Be— 
zug auf die Dromolaea- Species bin ich 
ſicherer unterrichtet. Das Weibchen iſt 
nicht ſo ſchwarz wie das Männchen, ſondern 
rußbraun, alſo minder in die Augen fallend. 
Nach Alfr. Brehm paßt die Dromolaea zu 
den Gebirgen, wie die Steine ſelbſt, aus denen 
die Felſen beſtehen. „Sie zieht dunkles Ge— 
ſteiu dem helleren vor; denn ſie weiß, daß 
ſie dieſem angehört.“ Den Trauerftein- 
ſchmätzer ſchützt zum Ueberfluſſe noch die Art 
ſeines Niſtens. Derſelbe vorzügliche Beobachter 
ſagt darüber: „An paſſenden Niſtplätzen fehlt 
es ihm nicht; denn überall findet er in den 
hohen, ſteilen Felſenwänden eine Höhlung, 
welche noch von keinem Steinſperlinge in Beſitz 
genommen wurde und die er alſo benutzen 
kann . . . Ein ſolches Neſt fand ich im An— 
fang des Juli 1857 in der Sierra de los 
Anches bei Murcia. Es ſtand in einer 
ziemlich geräumigen Höhle, welche durch 
das theilweiſe Zerbröckeln und Herabfallen 
des Geſteines gebildet worden war, auf 
einem breiten, von einem andern überdachten 
Steine, wie auf einem Geſimſe.“ Daß 
viele Vögel, welche offene Neſter bauen, 
nicht beſonders oder gar nicht brillant 
gezeichnete Männchen haben, beweiſt nichts 
gegen Wallace's Auseinanderſetzung, welche 
durchaus nicht verlangt, daß dies der Fall 


Wi 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


ſein müſſe, ſondern nur hervorhebt, daß dem 
oft ſo ſei: Entweder ließ die natürliche Zucht— 
wahl bei beiden Geſchlechtern glänzende 
Farben nicht aufkommen, oder die geſchlecht- 
liche Zuchtwahl brachte ſolche bei dem weit 
weniger exponirten Männchen hervor, indem 
ſie hier aus unbekannten Gründen ſich bildende 
Schmuckzeichen fixirte, (wie Darwin in jo 
ausgezeichneter Weiſe klar gelegt), während 
ſie dieſe bei dem Weibchen nicht zu 
Stande kommen ließ (ſexuelle Vererbung). 
In den Fällen, wo das Weibchen bunt und 
das Männchen unſcheinbar ausſieht, brütet 
das letztere, und iſt die Richtigkeit der 
Wallace'ſchen Anſicht damit bewieſen. 
Die bunten Männchen ſchützend gefärbter 
Weibchen betheiligen ſich zwar auch zuweilen 
beim Brüten und Füttern der Jungen, je 
doch nur in ſehr beſchränktem Grade: die, 
welche brüten helfen, thun dies ſelten zu 
einer andern Zeit, als in der Mittagsgluth, 
wenn das Weibchen zur Tränke fliegt und 
ſein Gefieder reinigt. Zu dieſer Zeit aber 
jagen die meiſten Raubthiere nicht. 

Es ſcheint die Anſicht vieler Forſcher 
zu ſein, als ob natürliche Zuchtwahl bei 
den Vogeleiern ſich gar nicht bethätige, und 
wenn man bedenkt, daß die Eier faſt 
andauernd und vollſtändig von dem Weib— 
chen bedeckt werden, ſo möchte man 
allerdings zweifeln, wie eine Auswahl da 
möglich ſein ſollte, wo kein Vortheil zu er— 
reichen iſt. In Wahrheit aber liegt die 
Sache anders. In der erſten Zeit, ſo lange 
noch neue Eier zu den ſchon gelegten hin— 
zukommen, bleiben dieſe Produkte faſt im— 
mer unbedeckt und ſind dann den Blicken 
der eierſuchenden Raubvögel ausgeſetzt. Das 
eine Weibchen legt dunklere Eier als das 
andere: die dunklen werden überſehen, die 
hellen aufgeſpeiſt. Von den Nachkommen 
des erſteren Weibchens legen wieder einige 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


dunkle Eier und dieſe vermögen ihre Gattung 
Mit einem Worte, die Eier 


zu erhalten. 
brauchen nur zu variiren, und zwar ſelbſt 


verſtändlich die Eier verſchiedener Weibchen | 
oder verſchiedener Gelege, was dasſelbe tft, 


und der natürlichen Zuchtwahl iſt freier 
Spielraum gelaſſen. Nun ſind aber in 


der That die Gelege der offen brütenden 


Weibchen ungleich; die Eier, namentlich die— 
jenigen verſchiedener Weibchen, variiren. 
Ich beſchränke mich, da hier von einer un— 
umſtößlichen Thatſache die Rede iſt, nur 
auf Anführung einiger Beiſpiele: 1) Die 
Gelege verſchiedener Neuntödterweibchen 
(Lanius collurio) ſind in hohem Grade 
ungleich, ebenſo 2) die der Haidelerche 
(Chorys arborea.) Ich ſelbſt habe die 
Eier von zwei Haidelerchen hinweggenommen; 
das eine Gelege iſtübereinſtimmend gelblich, 
über und über ſo dicht erdbraun geſprenkelt, daß 
nur dieſe Färbung hervorſticht, das andere in 
gleicher Weiſe grünlichbodenfarbig mit eiſen— 
grauen großen Flecken und Punkten. 3) Die 
Gelege der Schneeammer (Pleetrophanes 
nivalis) ſind außerordentlich veränderlich. 
4) Ein Kukuksweibchen legt nach überein— 
ſtimmenden Berichten der verläßlichſten Be— 
obachter immer ſeine eigens gefärbten Eier, die 
mit denen anderer Weibchen derſelben Art oft 
ſtark contraſtiren. 5) Kiebitzeier ſind be 
kanntlich ſehr variabel; ebenſo 6) Tor— 
dalkeneier u. ſ. f. Selbſt unſere Haus— 


hühner legen nicht immer weiße Eier, es 


kommen auch öfters geſprenkelte vor. Wo 


im großen Ganzen keine in das Auge 
des Feindes leuchtenden Eier aufkommen 
Arten), 


konnten, wie es bei den nicht wehrhaften, in 
offenen Neſtern brütenden Vögeln der Fall 


iſt, wird alſo die Eigenſchaft der Farben- 


variation bez. Produktion unterſtützt, 
während bei den Verſtecktbrütern das 
Gegentheil ſtattfindet. Offenbrüter 


213 
haben farbige, Verſtecktbrüter 
weiße Eier! 


Erſte Abtheilung. 

Das Neſt ſteht an verborgenem Orte 
oder es verbirgt durch die Conſtruction 
ſeiner Materialien das brütende Weibchen 
und die Eier. 

Sympathiſche Schutzfärbung war in 
dieſem Falle weder für das Weibchen noch 
für deſſen Eier eine Nothwendigkeit, natür— 
liche Züchtung nach dieſer Richtung hin 
alſo ſo gut wie ausgeſchloſſen; Folge war, 
daß 1) der weibliche Vogel die auffallenden 
Prachtfarben des Männchens annehmen und 
2) das Ei meiſt die einfachſte Färbung, 
die des weißen Kalkes, entweder rein oder 
mit kleinen Farbſtoffpunkten oder einfarbig 
grün, blau oder röthlich beibehalten konnte. 

1. Rein weiße Eier legen die Mei— 
ſen (Paridae) mit verſtecktem oder kuppel— 
oder beutelförmigem Neſt; die Honigvögel 
(Nectariniae), Neſt eiförmig mit ſeitlichem 
Eingang; die Kletterdroſſeln (Pha- 
cellodomi*), Neſt ein Reiſerhaufen mit 
verſteckter Mulde; die Töpfervögel 
(Furnarii), Neſt groß backofenförmig; die 
Gähner (Eurylaemidae), Neſt oben ge— 
deckt, über Waſſer hängend; die Spechte 
(Pieidae 320 Arten), Wendehälſe (Yun- 
gidae), Bartvögel (Megalaemidae 81 
Arten), Tukans (Rhamphastidae 51 
Arten), Bananenfreſſer (Musophagidae 
18 Arten), Raken (Coraciidae 19 Arten), 
Trogons (44 Arten), die Nashorn- 
vögel (50 Arten) und Papagaien (386 
die ſämmtlich in Baumhöhlen 


brüten; mehrere gedeckt brütende Roth— 
ſchwanzarten (Rubicillae); die Bart— 
kukuke (Bucconidae), Jacamars (Gal- 
bulidae), Bienenfreſſer (34 Arten), 
Eisvögel (125 Arten), Waſſeramſeln, 


Großfußhühner (Megapodidae 20 Ar- 

ten), Höhlenenten (Cassarca fadorna), 
Sturmſchwalben (Oceanides), Sturm- 
tauder (Puffini) , Schmucktaucher 
(Phaleres) und Papageitaucher (Mor- 
mon), welche alle in Erd- oder Felshöhlen 
brüten; die meiſten Emuſchlüpfer (Sti- 
piturus), die meiſten Schmetterlings— 
finfen, die Erdkukuke (Centropus), 
die alle kuppelförmige Neſter haben; die 
Honigkukuke (Indicator), die ihre 
Eier in die Neſter von Höhlenbrütern legen; 
die Segler (Cypselidae 53 Arten), die 
in Fels- oder Baumlöchern oder an ſchwan— 
ken Aeſten oder an Felſen über Waſſer 
ihre glacirten Neſter anbringen; die Ko— 
libris (Trochilidae 390 Arten), Neſt 
tief napfförmig; die Tauben (Colum- 
bidae*) von denen allerdings nur ein Theil 
in Höhlen brütet; die Hockohühner 
(Craeidae*) wohl zum Theil Höhlenbrüter; 
die meiſt in Höhlen brütenden Eulen. 

2. Weißgrundige röthlich be— 
punktete Eier legen: die Laubſänger 
(Phyllopneustes), die Goldhähnchen 
(Regulus), einige Emuſchlüpfer (Stipi- 
turus), die Zaunkönige (Troglodytes), 
der Hängevogel (Arachnothera), die 
Baumläufer (Certhia), der Mau er— 
läufer (Tychodroma), Spechtmei— 
ſen (Sitta) und ein Theil der Schmetter— 
lingsfinken, die alle gedeckte Neſter 
haben oder in Höhlen oder Felsſpalten 
brüten. 

3. Weiß punktige oder ſonſt wie 
gefleckte Eier haben: Sittella, Eier mit 
grünlichem Fleckenkranz, Neſt ſehr verſteckt 
in Baumzweigen, und die Wiedehopfe 
(Upupidae“) mit nicht conſtanter Nift- 
weiſe, meiſt in Löchern. 

4. Einfarbig ſpangrüne oder 
blau grüne oder bläulichweiße, alfo 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


ebenfalls leicht ſichtbare Eier haben: ein 
Theil der Rothſchwänze (Rubieillae), 
die meiſten Steinſchmätzer (Saxicola), die 
Steinröthel (Petroeinelus), Trauer— 
fliegenfäng er (Muscicapa), und Staare, 
die alle in Höhlen oder gedeckt brüten. 

5. Einfarbig röthlich weiße, 
alſo ebenfalls leicht ſichtbare Eier haben: 
Schmuckvögel (Ampelidae), Neſt kugel— 
förmig in Baumlöchern oder im aufgewühl⸗ 
ten Boden ſtehend, und die Witt wen 
(Vidua colinpasser) mit ſackförmigem Neſt. 

Am ſchönſten illuſtriren unſere Theorie 
die Schwalben (Hirundinidae). Nach 
ihrer Art zu niſten — ſie bauen über 
Waſſer an Felſen, geſchützte Neſter an 
Bäumen, in Erd-, Felſen- oder Baum⸗ 
ritzen und Löcher — kann man ſie in drei 
Gruppen unterbringen: 3 

1. Neſt wenig geſchützt, doch innerhalb 
gedeckter Räume: Rauchſchwalben, 
Eier weiß, aſchgrau und roth— 
braun bepunktet. 

2. Neſt unzugänglicher, meiſt an Fel— 
ſen: Ariel, Felſenſchwalbe, Fa— 
denſchwalbe: Eier weiß, ſpärlich 
roth gefleckt. 

3. Neſt ganz kugelförmig, in einem 
Baumloche oder an ähnlichem Orte (Erd— 
loch): Mehlſchwalbe, Uferſchwalbe, 
Purpurſchwalbe: Eier rein weiß. 


Aus Obigem geht hervor, daß die 
Verſtecktbrüter in der Regel rein weiße, 
höchſtens röthlich gefleckte, jedenfalls nach ihrer 
Farbe mit der Umgegend nicht harmonirende 
Eier legen. Eine Anzahl Namen ſind mit 
bezeichnet; von den Beſitzern derſelben 
hege ich die Meinung, daß dieſelben a priori 
Höhlenbrüter geweſen ſind und entweder 
a) durch raſche Vermehrung zum Theil ge— 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


nöthigt wurden, von ihrer Gewohnheit ab— 
zuſtehen, da ſie ſelbſt nicht im Stande ſind, 
ſich eigene Höhlen darzuſtellen; b) die Ge— 
wohnheit des Brütens in Höhlen unnöthig 
wurde durch Verminderung ihrer natürli— 
chen Feinde; e) indem ſie verlorene Bruten 
höchſt leicht zu reproduciren vermögen oder 
anderen Vögeln, wie der Honigkukuk dies 
thut, ihre Eier aufbürden; oder d) wehr— 
hafte Vögel ſind, welche ihren jetzigen Brut— 
feinden Trotz bieten können, während dies 
früher vielleicht nicht in gleichem Grade 
der Fall war. Man könnte nun, auf 
dieſe Thatſachen geſtützt, wohl verſucht 
ſein zu ſchließen, ein weißes Ei gehöre 
einem Verſtecktbrüter an; doch iſt dieſer 
Satz nur in beſchränktem Grade richtig. 
Die hauptſächlichſten Ausnahmen — Vögel 
mit weißen oder doch durch ſehr helle Fär— 
bung auffallenden Eiern, welche keine Deckung 
durch die Art des Niſtens haben — wer— 
den folgende ſein: 

1. Padda oryzivora, Reisvogel, baut 
häufig Neſter, in welche eingeſehen werden 
kann; doch werden auch viele zwiſchen die 
Schmarotzer und Schlinggewächſe, welche 
die Arengapalme umkleiden, untergebracht; 
die 6—8 Eier find weiß. Die für einen 
Fink bedeutende Eierzahl zeigt, daß der 
Mangel einer günſtigeren Neſt- oder Brut- 
beſchaffenheit hier wohl durch Maſſenpro— 
duction ſeinen Ausgleich findet; zudem kann 
es zutreffen, daß die dem Blicke ausge— 
ſetzten Neſter noch jungen unerfahrenen 
Vögeln angehören und die Zerſtörung der 
Nachkommenſchaft in der Folge zur verſteckten 
Neſtanlage antreibt. 

2. Lagonostieta 


minima, kleiner 


Senegali, baut ein der Umgebung ſehr 
ähnelndes Neſtchen und legt weiße Eier 
hinein. 


2. Podargus humeralis, Rieſenſchwalm, 


215 


baut ein ſehr ſchlechtes, theilweiſe durch— 
ſichtiges Neſt auf niedere Aeſte und legt 
weiße Eier hinein. Die leichtſchnäbligen 
Verwandten dieſes Vogels ſind ſämmtlich 
Höhlenbrüter und legen weiße Eier; ich 
halte es für wahrſcheinlich, daß der Podar- 
gus ehemals gleichfalls Höhlenbrüter war. 
„Beide Geſchlechter“, heißt es in Brehm's 
Thierleben, Band 3, S. 685 f., „theilen 
ſich in das Geſchäft der Brut; das Männ— 
chen brütet gewönlich nachts, das Weibchen 
bei Tage. Erſteres ſorgt allein für die 
ausgebrütete Familie. Iſt das Neſt den 
Sonnenſtrahlen zu ſehr ausgeſetzt und ſind 
die Jungen ſo groß, daß die Mutter ſie 
nicht mehr bedecken kann, ſo werden ſie von 
den Alten aufgenommen und in eine Baum 
höhle gebracht.“ Vielleicht ſtanden die 
Schwalme von ihrer urſprünglichen Niſt— 
weiſe in Baumhöhlen ab, weil in Auſtralien, 
ihrem jetzigen Vaterlande, wenig Raub— 
thiere ſind. Geſchickte Neſtbauer ſind ſie 
in der That gewiß eben ſo wenig, als die 
Tauben. Letztere legen ſämmtlich (meiſt 2) 
weiße Eier, ſind beidergeſchlechtlich geſchmückt 
und nur in denjenigen Ländern als Offen— 
brüter häufig, wo baumkletternde Raubthiere 
und gewiſſe Raubvögel fehlen. In Deutſchland 
vermag ſich die Hohltaube, Columba oenas, 
wohl deshalb am häufigſten zu erhalten, 
weil ſie Höhlenbrüterin iſt. Aus eigener 
Erfahrung weiß ich beſtimmt, daß die Eier 
der Ringel- und Turteltaube ſehr häufig 
dem Eier ſuchenden Häher (Garrulus glan- 
darius) zum Opfer fallen. Hätten dieſe 
Tauben nicht die Fähigkeit, wiederholt, oft 
vier- bis fünfmal hintereinander, die Brut 
zu erneuern, ſo würde wohl die weiße 
Färbung ihrer Eier bei offener Niſtweiſe 
ein baldiges Ausſterben zur Folge haben. 

4. Crotophagae, Madenfreſſer, niſten 
gemeinſchaftlich, legen weiße Eier, ihre nächſten 


216 
Verwandten bauen kuppelförmige Neſter. 
Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß 
bei gemeinſchaftlichem Brüteſyſtem die Eier 
dem Blicke ſtets verborgen gehalten werden. 

5. Pezoporus formosus, Erdpapagei, 
iſt ein echter Papagei mit Kletterfüßen; 
er hat offenbar ſeine ehemalige Lebensweiſe 
geändert und legt ſeine weißen Eier auf 
die Erde. Er lebt in Südauſtralien, einem 
an Raubthieren armen Lande; ſein ähnlich 
lebender Vetter, der Kakapo (Stringops) 
niſtet noch in Höhlen, im Boden oder in 
hohlen niederen Bäumen. 

6. Gyps fulvus, Gänſegeier, Hali- 
aetus, Seeadler, Circus, Weihe, und eine 
ziemliche Anzahl anderer größerer Raub— 
vögel legen weiße, übrigens oft variirende 
Eier, ebenſo viele Störche und größere 
Schwimmvögel. Die Wehrhaftigkeit ihrer 
Beſitzer erklärt dieſen Umſtand, wie ich 
glaube, hinlänglich; außerdem werden die 
Neſter dieſer Vögel oft an den unzugäng— 
lichſten Plätzen — auf hohen Felſen, Rieſen— 
bäumen oder im Sumpfe angelegt und die 
Sumpf- und Waſſervögel brüten meiſt ge— 
ſellſchaftlich. Intereſſant iſt auch, daß 
manche Eier durch die Stärke ihrer Schale 
geſchützt ſind, z. B. dasjenige des Schwans: 
der Rohrweih (Circus rukus), ein arger 
Neſtplünderer, vermag es nicht zu zer— 
ſtören. 


Zweite Abtheilung. 

Die Eier werden in ein Neſt gelegt, 
welches oben offen iſt und können daher 
von vorüberfliegenden Eierräubern leicht 
bemerkt werden. Die nicht wehrhaften offen— 
brütenden Weibchen tragen in dieſem Falle 
eine Färbung, welche mit der Umgebung 
übereinſtimmt (z. B. die des Bodens, 


dunkler Erde oder hellen Sandes, der 
Baumäſte oder des Blattgrüns), während 


‚(Caprimulgidae), 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


die Männchen, welche entweder gar nicht 
oder nur ausnahmsweiſe, z. B. in den 
ſtillen Mittagsſtunden, brüten, ein durch 
geſchlechtliche Auswahl, fixirtes Pracht- oder 
Hochzeitsgefieder haben können. Die Eier 
ſind entweder durch ihren Grundton oder 
durch Fleckenzeichnung ſchützend gefärbt. 

1. Die Vögel, welche auf Bäume 
und Gebüſche offene Neſter ſtellen, haben 
Eier, welche ſehr häufig grün oder hellgrau 
(hellbraun ꝛc.) mit dunkleren Zeichnungen 
verſehen ſind, der Farbe der Flechten oder 
der Niſtſtoffe ſich alſo anpaſſen. Dahin 
gehören die Droſſeln (Turdidae 200 Arten), 
die meiſten Sänger (Sylviidae 640 
Arten), Finken, Ammern und Tangaren, 
die entweder in beiden Geſchlechtern oder 
wenigſtens im weiblichen auf dem Rücken 


ſchützend gefärbt ſind; ferner die Würger 


(Laniidae 145 Arten), bei denen inter— 
eſſant iſt, daß bei den ſchwächeren Arten die 
Weibchen häufiger Schutzfarben tragen, als 
bei den kräftigeren; die Raben (Corvidae), 
die theils ſchützend gefärbt, theils wehrhaft 
ſind und bei denen die verſteckt Brütenden 
(Dohle und Elſter) minder gefleckte Eier 
haben; die Kukuke (Cueulus), deren 
Eier mit der Eierfarbe der Pflegeeltern 
harmoniren; bei den Falken haben im 
allgemeinen die kleineren Arten beſſere 
Schutzfarben an ihren Eiern, als die 
großen; von den Lärmdroſſeln (Tima- 
liidae mit 240 Arten) bauen die wenigen, 
mir nach ihrer Niſtweiſe bekannten Arten 
entweder ein flaches Neſt mit ſtarkgefleckten 
Eiern oder ein kuppelförmiges mit weißen 
ſchwachgefleckten Eiern, welche mithin zur 
erſten Abtheilung gehören. 

2. Die auf der Erde brütenden Ler— 
chen (Alaudidae 110 Arten), Pieper 
(Anthus 30 Arten), Ziegenmelker 
Sandflughühner 


von Reichenau, Die Farbe der Vogeieier. 


(Pteroclidae 16 Arten) Streitlauf— 
hühner (Turnieidae), Waſſerhühner 
und Rallen (153 Arten), Schnepfen— 
vögel (121 Arten), Brachſchwalben 
(Glareolidae 20 Arten), Regenpfeifer 
(Charadriidae 101 Arten) und Trappen 
haben alle bodenfarbige Eier und die Thiere 
ſelbſt tragen eine Schutzfarbe. Beſondere Er— 
wähnung verdienen von den Bodenbrütern fol— 
gende: Bei den Tetraoniden (170 Arten) iſt 
mindeſtens das Weibchen ſchützend gefärbt 
und die Eier ſind um ſo erdfarbener, je 
erponirter das Neſt ſteht und umgekehrt; 
die Faſan hühner, (Phasianidae) und 
Steißhühner (Tinamidae) legen meiſt 
weißliche alſo unbeſchützte Eier, gehören 
alſo unter die Ausnahmen; die Kraniche 
brüten auf ſumpfigem Boden (wie es ſcheint, 
mit einigen Ausnahmen, z. B. vom 
Pfauenkranich, Balearica); das Weib— 
chen des gemeinen Kranichs ſchafft ſich zur 
Legzeit nach E. v. Homeyer's Beobachtun— 
gen, ſein röthliches Schutzgewand ſelbſt 
durch Auftragen von Sumpferde mit dem 
Schnabel, und die Eier ſind auf grün— 
lichem Grunde braun gefleckt, haben alſo 
die Farbe der Niſtſtoffe, des Schilfes und 
der Binſen; die Möven und Seeſchwal— 
ben (132 Arten) legen ſchutzfarbige Eier 
auf den Boden, aber die Färbung dieſer 
ſtreitbaren Vögel iſt nur im Jugendkleid 
bodenfarbig. 

Aus der Menge der angeführten That⸗ 
ſachen geht hervor, daß alle Offenbrüter, 
wenn nicht ganz beſondere Umſtände walten, 
ſchützend gefärbte Eier legen. Außer den 
ſchon oben angeführten Ausnahmen, deren 
ſcheinbaren Widerſpruch mit der aufgeſtellten 
Theorie ich zu erklären und zu beſeitigen 
verſucht, giebt es aber noch einige andere: 
1) Die Tyrannen-Fliegenfünger (Tyranni— 
dae) legen in offene Neſter helle Eier; die 


217 


beiden Gatten, namentlich aber das Männ— 
chen, ſind höchſt ſtreitſüchtig, greifen ſelbſt 
Habichte und Adler an, und das Weibchen 
brütet ſehr feſt. Dieſe Eigenſchaften er— 
klären, nach meiner Anſicht, die ſcheinbare Aus— 
nahme hinlänglich. 2) Nicht wenige Hühner 
aus den tropiſchen Wald- und Dſchungel— 
gegenden, zu den Phasianidae und Tina- 
midae gehörig, legen im Dickicht auf den 
Boden weiße oder doch ſehr helle Eier. An 
Raubzeug aller Art fehlt es in den dortigen 
Gegenden nicht. Das Weibchen allein brütet 
und trägt ein ſchützendes Gefieder, während 
das Männchen oft prachtvolle Putzent⸗ 
faltung zur Schau trägt. Der Niſtplatz 
wird ſehr gut gewählt, wodurch viele Feinde 
umgangen werden. Die Haupturſache, welche 
die Erhaltung der Arten ermöglichte, ſcheint 
mir indeß darin zu liegen, daß die Eier 
in Menge producirt werden. Die meiſten 
Hühner legen mindeſtens 6—18 und mehr 
Eier in ein Neſt und haben die Fähig⸗ 


keit, fehlende zu ergänzen. Wenn nun 
blos ein Gelege aufkommt, während 
acht andere ihren gänzlichen Untergang 


finden, und das gedachte Neſt wie wir im 
Durchſchnitt annehmen können, 9 Eier hat, 
ſo kommen in einem Jahre, ſelbſt wenn 
die übrigen Hennen, was ganz unwahr— 
ſcheinlich iſt, nicht mehr brüten ſollten, doch 
9 Junge auf. Da nun das durchſchnitt— 
liche Lebensalter eines Hühnervogels ſicher 
mehr als drei Jahre beträgt, ſo werden die 
alten Vögel bald mehr denn erſetzt. Die Ver— 
hältniſſe müſſen in der That äußerſt ungünſtig 
für die Hühnervögel liegen, und die Brutweiſe 
wird hier mit ſchuld ſein, denn ſonſt würde 
ihre Vermehrung in's Unglaubliche gehen. 
Die kleinen Meiſen legen ebenfalls eine große 
Anzahl Eier und bringen ihre Kinderſchaar 
meiſt zum Ausfliegen, da ſie in ſicheren Höhlen 
brüten. Bei ihnen liegt wohl eine andere 


EP PPSESSSESESSEESEESESEEEEEEE 


218 von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 


Urſache zu Grunde, daß ſie ſich nicht rapid 
vermehren können: Häher und Sperber 
nähren ſich zu Zeiten faſt allein mit den 


eine wirkliche Ausnahme von der Regel, 
daß Offen- und Erdbrüter, ſelbſt wenn ſie 
nicht wehrhaft ſind, immer ſchützendgefärbte 
ſchlechtfliegenden noch jugendlichen Thierchen. Eier legen: Die Erhaltung der Art 
In geringerem Grade, aber noch oft wird dann erreicht, wenn Maſſen— 
genug, fallen die ebenfalls ſchlecht fliegenden production an Stelle der ſchützen— 
Hühner ſtärkeren Raubthieren (Säugethieren den Aehnlichkeit tritt. 
und Vögeln) zur Beute. — Es giebt alſo 


An der unteren Grenze des pflanzlichen Gelchlechtslehens. 
Von 


Dr. Arnold Dodel- Dort. 


deren ab — lehrt uns die 


DAR 
u) . Höhere ſtammt vom Nie— 


Biologie an allen 
ſich das Zuſammengeſetzte. 
Wir ſelbſt haben uns mit der Wahrſchein— 
lichkeit vertraut zu machen, daß unſere 
älteſten Vorfahren mikroſkopiſch kleine Lebe— 
weſen darſtellten, die vor ungezählten Jahr— 
tauſenden in den Waſſern der Urmeere ihr 
Daſein friſteten. Und wenn uns im Thal 
die Blüthenpracht des Mai erfreut, wenn 
wir, im Hochſommer die Alpen durchſtrei— 
fend, die Herrlichkeiten der Gebirgsflora 
genießen, ſo müſſen wir uns daran erin— 
nern, daß alle blühenden Gewächſe von 
blumenloſen, niedrigeren Pflanzen abſtam— 
men, deren älteſte Vorfahren ebenfalls mi— 
kroſkopiſch kleine Organismen darſtellten, 
die kaum den Namen einer Zelle verdien— 
ten und ebenfalls Bewohner des Salz— 
waſſers waren. 

Auch heute noch finden wir die niedrig— 
ſten Pflanzen und Thiere im Waſſer. 
Manche derſelben ſind von ſo einfachem 


Bau, daß wir uns nach ihrer Erſcheinung 
eine gewiß annähernd richtige Vorſtellung 


Enden. 
Aus dem Einfachen entwickelte 


| 


von den erſten Lebeweſen überhaupt zu 
bilden vermögen. Ihre ganze Entwickelungs— 
geſchichte läßt ſich in zwei Worte zuſammen— 
faſſen: Wachſen ohne Gliederung und hier— 
auf folgende Zweitheilung in Hälften, die 
wieder zu derſelben Größe heranwachſen, 
um ſich wieder zu theilen. 

Die Natur iſt aber nicht auf derſelben 
Stufe ſtehen geblieben. Aus einzelligen 
Organismen bildete ſie zwei- und mehr— 
zellige, indem die durch Theilung aus einer 
Mutterzelle hervorgehenden Tochterzellen 
ſich nicht mehr von einander trennten, ſon— 
dern als Zellreihe oder Zellſchicht oder 
Zellhaufen in einer „Colonie“ vereinigt 
blieben. Hat dieſer Zellkomplex eine ge— 
wiſſe Größe erreicht, ſo beginnen die durch 
weitere Theilung entſtehenden Tochterzellen 
ſich wieder vom Ganzen abzulöſen und 
jede für ſich iſolirt ein ſelbſtſtändiges Leben 
zu führen, wachſend, ſich wiederholt zwei— 
theilend, um eine neue Colonie, einen neuen 
Zellkomplex zu bilden, der ſich wieder 
ebenſo verhält, wie die Muttercolonie. 

Die vom mütterlichen Organismus ſich 
ablöſenden, eine ſelbſtſtändige Entwickelung 
antretenden Tochterzellen ſind die auf dieſer 


NETTE 


250 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


Stufe noch ungeſchlechtlichen Fort- Weiſe, wie die vegetativen Zellen der jungen 


pflanzungszellen. Bei vielen im 
Waſſer lebenden Pflanzen ſind es kugelige 
oder birnförmige Körper, die lebhaft um— 
herſchwimmen und daher den Namen 
Schwärmſporen erhielten, wegen ihrer 
thierähnlichen Bewegungsart auch Zo o— 
ſporen genannt wurden. 
während einiger Zeit herumgetummelt, ſo 
ſetzen ſie ſich irgendwo feſt und beginnen 
entweder ſoſort zu keimen und ſich zu einer 
neuen mehrzelligen Pflanze zu entwickeln, 
oder ſie machen erſt eine kürzere oder län— 


gere Ruheperiode durch, ehe ſie ihre vege- | 


tative Entwickelung beginnen und je einer 
neuen Zellcolonie das Daſein geben. 

Auch hier iſt die ganze Entwickelungs— 
geſchichte von der Wiege bis zum Grabe 
immer noch ſehr einfach: Die Pflanze be— 
ginnt mit einer einzigen Zelle, in unſerem 
vorliegenden Falle ſpeciell mit einer zur 


Haben ſie ſich 


Colonie, einfach durch Zweitheilung. 

Aber ein kleiner Schritt führt hin— 
über an die untere Grenze des Ge— 
ſchlechtslebens. 

Die vergleichende Entwickelungsgeſchichte 
hat dem Biologen gezeigt, wie die Natur 
Schritt um Schritt, langſam vom Ein— 
fachſten zum Complicirteſten vorſchreitend, 
nach und nach jene hohe Stufe der Diffe— 
renzirung zu erreichen vermochte, die wir 
heute an den höchſten Pflanzen und Thieren 
bewundern. 

Natura non facit saltum! Die Na— 


tur macht keinen Sprung — ſo lautet ein 


Ruhe gelangten Schwärmſpore, die in der 


Folge wächſt, ſich dann in zwei Zellen 
theilt, von denen jede weiter wächſt und 
ſich ebenfalls theilt, ohne die Tochterzellen 
aus einander treten zu laſſen, und ſo fort, 
bis der Zellkomplex, alſo die neue mehr— 


zellige Pflanze, eine gewiſſe Größe erreicht 


hat, worauf dann die durch einmalige oder 
wiederholte Zweitheilung entſtehenden Toch— 


terzellen letzter Generation aus einander 


treten und als Schwärmſporen den ge— 
ſchilderten Entwickelungsgang wieder von 
Neuem beginnen. 

Hier zeigt ſich im ganzen Leben der 
Pflanze noch keine Spur von Geſchlechtlich— 
keit. Die Fortpflanzung erſcheint nur wie 
ein ſpeciell für die Vermehrung abgeänder— 
ter Vorgang, als ein Wachsthumsproceß 


über die Grenze der gewöhnlichen vegetati-⸗ 


ven Entwickelung hinaus. Die Schwärm— 


ſporen bilden ſich ſogar ganz auf ähnliche 


Ausſpruch Linné's, für welchen die 
Darwin'ſche Abſtammungslehre die Be— 
gründung nachlieferte. Die Biologen wer— 
den darum auch die Aufgabe zu löſen haben, 
an jeder Stelle im großen Lehrgebäude der 
neueren Schöpfungsgeſchichte das verbindende 
Material für die einzelnen Theile als rich— 
tig erkannte Thatſachen beizubringen. Erſt 
wenn alle Fugen und Riſſe mit gutem 
Baumaterial ausgefüllt ſein werden, können 
wir den Coloſſal-Bau der Descendenz- 
Theorie getroft allen Unbilden von Sturm 
und Wetter preisgeben. 

Die geſchlechtliche Fortpflanzung muß 
ihren Urſprung aus der ungeſchlechtlichen 
Vermehrung genommen haben. Der Ueber— 
gang von der einen zur anderen Fort— 
pflanzungsart mußte durch zahlreiche Zwi— 
ſchenſtufen vermittelt werden; ja dieſe Zwi— 
ſchenſtufen mußten ſo zu ſagen nur als 
Ergebniſſe eines glücklichen Zufalls ins 
Daſein treten, die von der überall wal— 
tenden Macht der natürlichen Zuchtwahl er— 
griffen und zur weiteren Differenzirung der 
lebenden Natur nutzbar gemacht wurden. 

Die Entwickelungsgeſchichte der leben— 
den Pflanzenwelt hat uns zwiſchen den 


zwei Extremen in der Reihe geſchlechtlicher 
Fortpflanzungsarten, zwiſchen der niedrig— 
ſten Stufe ſexueller Proceſſe — der Co— 
pulation zweier gleichartiger Zellen zur 
Bildung einer ſogenannten Jochſpore — 
einerſeits, und der höchſten ſexuellen Diffe— 
renzirung in der Bildung von Eizellen und 
Blüthenſtaubkörnern zur Erzeugung eines 
in die Samenhüllen eingeſchloſſenen Embryo 
andererſeits, zahlloſe Uebergangsformen von 
Fortpflanzungsarten eröffnet, ſo daß ſich 
heute kein Biologe mehr des Gedankens 
der Abſtammung erwehren kann, wenn er 
die ganze Reihe jener Erſcheinungen über— 
blickt. 

Aber es bleibt uns unter Anderem 
noch zu zeigen, wie wir uns den Anfang 
der geſchlechtlichen Fortpflanzung zu denken 
haben. Auch hierüber dürfte uns die lebende 
Natur die beſte Belehrung bieten. Suchen 
wir danach, ſo werden wir ſie finden. 
Einiges hat ſie uns bereits offenbart, was 
die Wiſſenſchaft dankbar regiſtrirte. 

Zu dem Wichtigſten in dieſer Beziehung 
gehört unſtreitig die von Prof. Dr. N. 
Pringsheim zuerſt entdeckte Paarung 
der Schwärmſporen bei Pandorina 
Morum, über welche Erſcheinung er im 
Spätjahr 1869 der Berliner Akademie 
berichtete. Seine Entdeckung war für die 
Erforſchung der pflanzlichen Sexualproceſſe 
wohl ebenſo fruchtbringend und anregend, 
wie ſeiner Zeit die erſte Entdeckung von 
Geſchlechtsorganen bei Farnen, die wir 
Nägeli verdanken. 

Schon im Frühjahr 1870 beobachtete 
Prof. Dr. C. Cramer die Copulation 
von Schwärmſporen auch bei der Kraushaar— 
Alge (Ulothrix zonata). Zu derſelben 
Zeit mit jener Alge beſchäftigt, ward ich 
ebenfalls auf den Paarungs-Vorgang auf— 
merkſam gemacht, ohne jedoch davon mehr 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


221 


zu profitiren als zwei colorirte Tafeln mi— 
kroskopiſcher Zeichnungen und einige wenige 
Notizen über den dort dargeſtellten Copu— 


lations-Akt. Cramer war der erſte, der 
über die Copulation der Ulothrix-Schwärmer 
einen Aufſatz publicirte (Vierteljahrsſchr. 
der naturf. Ge. zu Zürich Bd. XV.), 
während meine aus gleicher Zeit ſtam— 
menden Zeichnungen die erſten waren, welche 
über dieſen Vorgang aufgenommen wurden. 
So viel zur Richtigſtellung eines unfrucht— 
baren Prioritätsſtreites. 

Im Frühjahr 1875 ward ich neuer— 
dings veranlaßt, die Kraushaar-Alge einer 
Unterſuchung zu unterziehen, die mich wäh— 
rend 14 Monaten faſt ohne Unterbrechung 
an die intereſſante Pflanze feſſelte. Dieſe 
Arbeit brachte eine ſolche Fülle frappanter 
Reſultate, daß ich mich entſchließen mußte, 
dieſelben in Geſtalt einer Monographie 
herauszugeben (vergl. Jahrb. f. wiſſ. Bot. 
Bd. X. Engelmann, 1876). Hier ein 
kurzer Abriß der Hauptergebniſſe dieſer 
Arbeit. 

Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata) 
iſt ein weitverbreitetes Süßwaſſergewächs, 
welches in älteren Pflanzen-Syſtemen unter 
den Conferven (Fadenalgen) aufgezählt 
wurde. Sie erſcheint ſeit vielen Jahren 
regelmäßig jeden Winter in Form von 
Fadenbüſcheln an den oberen Baſſins des 
Springbrunnens vor dem Polytechnicum 
in Zürich, wo ſie oft während der kalten 
Nächte in ſtarre Eiszapfen eingefriert um 
jeweilen am Morgen wieder aufzuthauen, 
ohne in ihrer Entwicklung und Fortpflanzung 
dadurch gehemmt zu werden. Die gleiche 
Alge habe ich übrigens auch in verſchiedenen 
Brunnenbetten von Zürich und Umgebung 
in Geſellſchaft mit andern Algen angetroffen, 
ebenſo in kleineren Bächen, welche während 
der Schneeſchmelze von den Höhen des 


eh an 


222 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


Zürcherberges thalwärts fließen und auf 
ihrem Grunde oft eine vielgeſtaltige Algen- 


flora ernähren. 


Rabenhorſt giebt in 


ſeiner „Kryptogamen-Flora von Sachſen“ ꝛc. 
folgende Standorte an: In der Weiſeritz, 


Biela, bei Elſter, bei Bautzen und Leipzig, 


bei Zittau. Nach verſchiedenen anderen 
Kryptogamiſten darf angenommen werden, 
daß Ulothrix zonata in ganz Mittel- 


Europa bis zu den Alpen häufig vorkommt. 

Die Länge der ſattgrünen Ulothrix⸗ 
Fäden variirt nach Standort und Jahres- 
Während ſie in den 


zeit ungemein ſtark. 
meiſten Fällen kaum mehr als 5— 10 Eenti- 
meter erreicht, habe ich doch im März 1876 
am Springbrunnenbaſſin vor dem zürche— 
riſchen Polytechnicum Kraushaar-Algen ge— 
ſehen, welche die anſehnliche Länge von 50 
und mehr Centimeter erreichten. 

Alle Fäden von Ulothrix zonata find 
unverzweigte Zellreihen, deren einzelne Zellen 
im vegetativen Zuſtande cpylindriſche 
oder ſchwach tonnenförmig aufgetriebene Kam— 
mern darſtellen. Die Querwände zwiſchen 
den aufeinander folgenden Zellen ſtehen 
jederzeit ſenkrecht zur Längsaxe des Fadens. 
Die cylindriſche Wand iſt in den meiſten 
Fällen kürzer als der Quer-Durchmeſſer 
der Zelle; nur bei ganz jungen Zellreihen 
(Fig. 1 A & Hv) übertrifft die Länge 
der einzelnen Zelle die Fadendicke. 

Im vegetativen Zuſtand findet ſich in 
jeder Zelle ein grüner Plasmagürtel, welcher 
die Mittelzone der cylindriſchen Längswand 
einnimmt. Er enthält meiſtens auch ein 


bis mehrere „Chlorophyllbläschen“, die als 
kugelige Körper von lebhaft grüner Farbe 
in's Innere der mit farbloſer Flüſſigkeit 
erfüllten Zelle vorſpringen. Häufig erkennt 
man auch im Chlorophyllgürtel den wand— 
ſtändigen farbloſen Zellkern. Die in Fig. 1 
A & II dargeſtellten Faden und Faden— 


ſtücke zeigen die typiſche Form der Kraus— 
haaralge im vegetativen Zuſtand. Die 
hiervon abweichenden Formen habe ich an 
genannter Stelle einläßlich beſprochen; wir 
können ſie hier übergehen. . 

Die Fäden wachſen dadurch in die Länge, 
daß ſich jede einzelne Zelle ſtreckt und nach 
Erreichung einer gewiſſen Größe ſich durch 
eine horizontale Querwand in zwei gleich— 
große Tochterzellen theilt, von denen ſich 
jede wieder ebenſo verhält, wie die Mutter— 
zelle. Dieſes allſeitige Längewachsthum 
dauert ſo lange an, bis der Algenfaden 
eine beträchtliche Länge erreicht hat und ſich 
dann anſchickt, Fortpflanzungszellen, d. h. 
Schwärmſporen zu bilden. 

Während des Winters pflanzt ſich die 
Kraushaar-Alge in der Regel nur durch 
große Schwärmſporen, ſogenannte Ma— 
krozooſporen fort, die entweder einzeln, 
oder zu zwei oder zu vier in jeder Faden⸗ 
zelle entſtehen. f 

Bevor dieſe Schwärmſporen gebildet 
werden, vermehrt ſich das grüne Plasma 
in jeder Fadenzelle derart, daß die ganze 
Innenwand von demſelben bedeckt wird. 
Der grüne Gürtel breitet ſich auf die ganze 
cylindriſche Zellwand aus und ſchließlich 
werden auch die ebenen Querwände von 
demſelben bedeckt. Dann kann zweierlei 
eintreten: Entweder bildet ſich der ganze 
Zellinhalt in eine einzige große Schwärm— 
ſpore um, an welcher ſchon in der Mutter— 
zelle ein rother Pigmentfleck (r in Fig. 1 B) 
ſichtbar wird, oder es theilt ſich der Zell— 
inhalt erſt durch eine horizontale Trennungs— 
fläche in zwei gleich große Portionen, die 
entweder ſofort in Schwärmſporen ver- 
wandelt werden oder ſelbſt eine nochmalige 
Zweitheilung erleiden, wobei vier Makro⸗ 
zooſporen reſultiren. (Fig. 1 B und C, m“ 
und m4). 


A. Stück eines Fadens im 
vegetativen Zuſtand. Jede 
Zelle beſitzt ein gürtel— 

förmiges grünes Band. 


Stück eines Fadens mit 
reifen Makrozooſporen, 
die einzeln oder zu zwei 
in einer Zelle entſtanden. 
Am obern Theil dieſes 
Fadenſtücks entleeren zwei 
Zellen bereits ihren In⸗ 
halt in Form je einer 
großen Makrozooſpore. 
r rother Augenfleck. 


5 C. Stück eines Fadens, in 
deſſen Zellen ausſchließ— 
lich Makrozooſporen ent— 
ſtanden und zwar je 2 
oder 4 in einer Mutter⸗ 
zelle. g“ und g“ ver⸗ 
ſchiedene Geburtsſtadien 
je zweier Makrozooſporen. 
g“ Geburt von 4 in einer 
Zelle entſtandenen Ma⸗ 
krozooſporen. gb Geburts⸗ 
ballen einer ſoeben ent- 
leerten Zelle, zwei Mafro- 
zooſporen enthaltend, gb“ 
ein Geburtsballen mit je 
4 reifen Makrozooſporen. 


D. Vier aus einander tretende 
Makrozooſporen. uB Um⸗ 
hüllungsblaſe. eB centrale 

E Blaſe. 


E. Eine zur Ruhe gelangende 
Makrozooſpore. G dieſelbe 
ſchief von hinten geſehen. 


H. I iv Makrozooſporen u. 

die aus denſelben hervor— 
2 gehenden Pflänzchen. 
Bu, r rother Augenfleck der 
. Zooſpore. 


Fig. 1. 
Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata). 
Erſcheinungen der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. 
(Vergrößerung 400 : 1.) 2 


5 


224 


Während des Heranreifens der Schwärm— 
ſporen nehmen die Mutterzellen viel Waſſer 
auf und ſchwellen mehr oder weniger ſtark 
tonnenförmig an. Endlich öffnet ſich die 
einzelne Fadenzelle ſeitlich an der eylindriſchen 
Wand durch Zerfließen eines Membran— 
ſtückes; der raſch noch mehr Waſſer auf— 
nehmende Inhalt tritt durch die kleine Oeff— 
nung heraus (Fig. 1 B und C, g, g“, 
g“) und rundet ſich ſofort zu einem kuge— 
ligen Geburtsballen ab. Enthält der letztere 
zwei oder vier Makrozooſporen, ſo erkennt 
man leicht eine farbloſe, waſſerhelle Um— 
hüllungsblaſe (u B in Fig. 1 C, gb, g“, 
g“ und D), welche den ganzen Ballen nach 
Außen abgrenzt. Im Innern findet ſich 
nebſt den 2 oder 4 Makrozooſporen noch 
eine kleinere waſſerhelle Blaſe (e B in 
Fig. 1 D), die man im Gegenſatz zu jener 
die centrale Blaſe genannt hat. Alle Be— 
ſtandtheile des Geburtsballens nehmen 
während und nach dem Austritt aus der 
Mutterzelle ſo raſch Waſſer auf, daß die 
Umhüllungsblaſe ſowohl als auch die centrale 
Blaſe im Waſſer zerfließen und die ſich 
abrundenden Schwärmſporen vollſtändig in 
Freiheit ſetzen. Dieſe letzteren zeigen eine 


kugelig⸗birnförmige oder eiförmige Geſtalt 


und tragen am vorderen farbloſen, ſpitzeren 
Pol vier lange Cilien, die ſich lebhaft in 
der Fläche eines Kegelmantels bewegen und 


den ganzen Körper der Zooſpore alsbald 


in eine raſche Rotation verſetzen, wobei ſich 
der Schwärmer in der Richtung ſeiner 
Längsaxe auch von der Stelle bewegt. In 
geringer Entfernung vom vordern  cilten- 
tragenden Pol bemerkt man im Sporen— 
körper eine pulſirende Vacuole (py in 
Fig. 1 B m und D. E), die ſich regel— 
mäßig alle 12—15 Sekunden plötzlich con— 
trahirt, um im Verlauf der folgenden 


12—15 Sekunden vom unſichtbaren An- 


| | 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


a 


fang bis zum Maximum ihrer Größe 
wieder heranzuwachſen. Dieſe pulſirende 
Vacuole — vermuthlich ein Reſpirations— 
organ der thierähnlichen Primordialzelle — 
iſt von einem farbloſen, feinkörnigen Plasma 
umgeben, welches die Funktion der Zu— 
ſammenziehung und Ausdehnung unter ganz 
ähnlichen Erſcheinungen vollzieht, wie das 
gleichartige Gebilde in einem Infuſorium. 
Der dickere Hintertheil der Makrozooſpore 
erſcheint zum größten Theil grün gefärbt. 
An der Grenze zwiſchen dem grünen und 
dem farbloſen Sporentheil findet ſich ein 
langgeſtreckter rother Pigmentfleck, der ſo— 
genannte rothe „Augenpunkt“. . 
Sobald die Makrozooſporen aus der 
Umhüllungsblaſe in Freiheit gelangt ſind, 
treten ſie ihre Reiſe durch's Waſſer an. 
Sie ſchwärmen wie kleine Thiere lebhaft 
im Waſſer umher und gelangen erſt nach 
längerer Zeit, meiſtens nach ca. 20 Minuten 
zur Ruhe. Da ſie etwas leichter ſind als 
das Waſſer, ſo ſetzen ſie ſich meiſt an 
Körper feſt, die von der obern Waſſerfläche 
beſpült werden. Die Cilien verlieren nach 
und nach ihre Bewegungsfähigkeit, werden 
ſtarr und verſchwinden, während der vordere 
hyaline Pol ſich an der feſten Unterlage 
niederläßt. (Fig. 1 F, G und III.) 
Hierauf beginnt ſofort die Keimung 
der Makrozooſpore. Der bisher nackte 
Plasmakörper bekleidet ſich mit einer zarten 
Holzſtoffmembran, ſtreckt ſich in die Länge 
und nimmt keulenförmige Geſtalt an. Der 
vordere waſſerhelle, farbloſe Pol der Makro- 
zooſpore wird zum dünnen wurzelartigen 
Haftorgan, der hintere grüne Zooſporen— 
Pol dagegen wird zum Scheitel eines jungen 
Fadens. Die Keimpflanze ſteht alſo auf 
dem Kopf. Hat der keulenförmige Körper 
eine gewiſſe Länge erreicht, ſo theilt er ſich 
durch eine horizontale Querwand in zwei 


Zellen (Fig. 1 II m), welche ſich in der 
Folge weiter ſtrecken und ſich dann ebenfalls 
theilen (Fig. 1 H m), wobei ein vier— 
zelliges Pflänzchen reſultirt. Der rothe 
Pigmentfleck erblaßt in dieſer Zeit. Wachſen 
und Theilung der einzelnen Zellen folgen 
nun continuirlich aufeinander, bis die neue 
Pflanze ſchließlich die Länge der Mutter- 
pflanze erreicht hat und endlich — aus 
einigen oder vielen tauſend Zellen beſtehend 
— ſelbſt zur Schwärmſporenbildung ſchreitet, 
um, wie die Mutterpflanze, neuerdings un— 
zähligen jungen Individuen das Daſein 
gebend, ihr eigenes Leben einzubüßen. 


Nirgends zeigt ſich bei dieſer Fort— 
pflanzungsart Etwas, das an irgend einen 
geſchlechtlichen Vorgang erinnerte. In der 
That folgen ſich während des Winters nur 
geſchlechtsloſe Generationen, die ſich bei 
günſtiger Witterung und an geeigneten 
Standorten alle 10—14 Tage wiederholen 
können. 


Allein mit dem Frühjahr tritt eine 
neue Phaſe im Entwickelungsgang der 
Kraushaaralge auf. Es erſcheinen auch 
Ulothrixfäden, welche in ihren Zellen nicht 
ausſchließlich große Schwärmſporen bilden, 
ſondern im Theilungsproceß des Zellinhal— 
tes Schritt um Schritt weiter gehen, wobei 
kleine Schwärmſporen, ſogenannte Mikro— 
zooſporen, zu 8, 16, 32 oder noch 
mehr in einer Zelle entſtehend, gebildet 
werden. Dergleichen Algenfäden bieten ein 
eigenthümliches Bild dar. Da ſehen wir 
in der einen Fadenzelle 2 große, in 
einer benachbarten 8 kleine, in einer dritten 
Zelle 4 große, in einer vierten Zelle 32 
kleine, in einer fünften Zelle 16 kleine, in einer 
ſechsten und ſiebenten Zelle wieder zwei oder 
vier große Zooſporen u. ſ. w., am gleichen 
Faden die bunteſte Abwechslung in der 


| Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 225 


Zahl der von den einzelnen Mutterzellen 
gebildeten Makro- und Mikrozooſporen. 

In der vorgeſchrittenern Jahreszeit 
(am Ende des Frühlings oder am Ende 
des Sommers) dagegen treffen wir in der 
Regel nur noch Ulothrixfäden, die aus— 
ſchließlich kleine Schwärmſporen, zu 8, 16 
und 32 in jeder Zelle bilden. Dieſe 
Mikrozooſporen entſtehen dadurch, daß ſich 
der grüne Zellinhalt der einzelnen Faden— 
zelle wiederholt zertheilt, indem er erſt in 
zwei, dann in 4, 8, 16 oder 32 
Theile zerfällt. Es iſt ſelbſtverſtänd— 
lich, daß die einzelne Mikrozooſpore um ſo 
kleiner iſt, je größer die Anzahl der 
Schweſterſporen, mit welchen zuſammen ſie 
die Mutterzelle erfüllt. In der That va— 
riirt die Größe der Mikrozooſporen ebenſo 
ſtark als die Größe der Makrsozooſporen, 
da die Größe der Mutterzelle keineswegs 
zur Anzahl der in ihr entſtehenden Zoo— 
ſporen in Beziehung ſteht. 

Die Entſtehungsweiſe, die Form und 
Organiſation, wie die Art der Bewegung 
der Mikrozooſpooren, alle dieſe Momente 
ſtimmen mit den entſprechenden der Makro— 
zooſporen jo vollſtändig überein, daß es 
zwiſchen den Makro- und den Mikrozoo— 
ſporen von Ulothrix zonata keinen andern 
durchſchlagenden Unterſchied giebt, als die 
verſchiedene Anzahl der Cilien. Während 
die Makrozooſporen vier Cilien beſitzen, 
ſind die Mikrozooſporen nur mit zwei 
Schwingfäden ausgeſtattet; dafür beſitzen 
ſie die Fähigkeit, zu zweien eine Paarung 
einzugehen. 

Die Mikrozooſporen werden ebenfalls 
mit einer Umhüllungsblaſe (u B) und einer 
centralen Blaſe (e B in Fig. 2 K) geboren. 
Der Geburtsmechanismus und das Frei 
werden iſt bei Mikro- und Makrozooſporen 
identiſch. Der rothe „Augenpunkt“ und 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata). 
Geſchlechtliche Fortpflanzung (Vergrößerung 400 : 1). 


K Fadenſtück mit Mikrozooſporen. g Geburtsſtadien. eB centrale Bahn. gb Geburts— 

ballen. uB Umhüllungsblaſe. 

i! Vier in der Mutterzelle gefangen bleibende Mikrozooſporen. 

i Einzelne Mikrozooſporen während des Schwärmens. i“ Zwei einander gegenüber— 
ſtehende, ſich nur mit den vorderen Cilienenden berührende und gemeinſam rotirende 
Mikrozooſporen. co Zwei ſich paarende Mikrozooſporen. 

i“ Jſolirte (nicht gepaarte) Mikrozooſporen, zur Ruhe gelangend. Cilien ſtarr. 

I. Fadenſtück mit nur zum Theil entleerten Zellen. ik Keimpflänzchen aus nicht copu- 
lirten Mikrozooſporen, die in der Mutterzelle gefangen blieben. ik“ Keimpflänzchen aus 
nicht entleerten und folglich auch nicht gepaarten Mikrozooſporen (16 in einer Zelle ein— 
geſchloſſen). deg degenerirte Mikrozooſporen. 

M I. vi Auf einande folgende Copulationsſtadien. vır Eine Gruppe von ſoebeu zur Ruhe 
gelangten Zygoſporen. 

NI Auf einander folgende Wachsthumsſtadien der Zygoſporen. 
P vı-ıx Verſchiedene Zygoſporen, im Innern eine kleinere oder größere Zahl von Zoo— 
ſporen enthaltend. 2 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


die pulſirende Vakuole ſind bei den kleinen 
Schwärmern ebenſowohl vorhanden, als bei 
den großen. 


Aber wenn ſie einmal in Freiheit ge— 


langt ſind, ſo bieten uns die ſchwärmenden 


Mikrozooſporen ein Phänomen ganz eigener 
Art dar, das wir bei den Makrozooſporen 
umſonſt ſuchen würden: Es iſt die Copu— 
lation. Für den Mieroſkopiker iſt die 
Paarung (Copulation) der Mikrozooſporen 
von Ulothrix zonata jedenfalls eine der inter— 
eſſanteſten Erſcheinungen. Dieſer prämi— 
tivſte Zeugungsproceß vollzieht ſich folgen— 
dermaßen: 


An einem Faden (K in Fig. 2) 
entleeren ſich gleichzeitig oder kurz nach 
einander etliche Zellen, oder es geſchieht 
dies an zwei oder mehreren benachbarten 
Fäden zugleich. Nach dem Zerfließen der 
Umhüllungsblaſen verſchiedener Geburts— 
ballen (gb in Fig. 2) wimmelt die 
Flüſſigkeit alsbald von Dutzenden oder 
Hunderten frei und lebhaft umherſchwär— 
mender Mikrozooſporen. An verſchiedenen 
Stellen des Geſichtsfeldes ſieht man ein— 
zelne Schwärmſporen mit anderen ſcheinbar 
in Conflikt gerathen. Es kann dies z. B. 
mit den gegenſeitig ſich berührenden Cilien 
geſchehen (“ in Fig. 2 K), wobei 
beide Mikrozooſporen gemeinſam einige 
Rotationen vollziehen, um hierauf wieder 
auseinander zu weichen oder ihre gegenſei— 
tige Stellung zu verbeſſern. In einem 
anderen Fall ſehen wir eine lebhafte 
Schwärmſpore eine andere in tollem Tanze 
umkreiſen, als ob ſie dieſer die Cour 
machen wollte, bis ſie beide ſchließlich mit 
dem hyalinen Pol oder auch mit den Sei— 
ten ſich berühren. In einem dritten Falle 
prallt eine Mikrozooſpore wie ein Trunkener 
auf einen anderen Schwärmer gleicher Art 


227 
und alsbald beginnt ein gemeinſamer, anfangs 
ſehr lebhafter Tanz, der nach und nach in 
eine beſonnenere, aber unregelmäßigere Rota- 
tion übergeht. Damit hat die Copulation 
den Anfang genommen. Sobald die zwei 
birnfömigen Körper in eine ſolche Lage zu 
einander gekommen ſind, daß ihre Längs— 
axen parallel verlaufen oder in der Rich— 
tung nach vorn convergiren, beginnt der 
Verſchmelzungsproceß (Fig. 2 M ı bis Mv) 
Dieſer nimmt ſeinen Anfang am farbloſen, 
cilientragenden Pol der zwei nach gleicher 
Richtung ſchauenden, ſich innig berührenden 
Mikrozooſporen und ſchreitet von da rück— 
wärts zum grünen, abgerundeten, dickern 
Hintertheil. Die Copulationsfläche der 
beiden Zooſporen iſt in der Regel ganz 
frei von gefärbtem Plasma, die rothen 
Augenpunkte ſind einander abgekehrt. Nach 
einiger Zeit bilden die Copulations-Objekte 
einen herzförmigen Körper mit je zwei 
Cilien am vorderen Ende, zwei ſeitlich ge— 
legenen rothen Pigmentflecken und einer 
ſeichten Einbuchtung am hintern grünen 
Pole (Fig. 2. Mu und m). Die Ver⸗ 
ſchmelzung ſchreitet aber weiter bis das 
copulirte Paar nur noch einen einzigen 
birnförmigen oder eiförmigen Körper dar 
ſtellt, der ſich von einer gewöhnlichen 
Schwärmſpore nur noch durch die zwei 
rothen Pigmentflecke unterſcheidet. Die Cilien 
bewegen ſich immer langſamer, bis nach 
kürzern und längern Pauſen ſchließlich 
vollſtändig Ruhe eintritt, indem die Cilien 
erſtarren und endlich vollſtändig verſchwin— 
den (Fig. 2 M ıv bis vn). Der ganze 
Paarungs-Vorgang vollzieht ſich in der 
Regel ſehr ſchnell, vom beginnenden Schwär— 
men bis zur eintretenden Ruhe in 10—20 
Minuten. Indeſſen habe ich einmal die 
Copulation dreier zu einem Körper zu— 


ſammentretender Mikrozooſporen beobachtet, 


Y 


228 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


welcher Vorgang mehr als eine 
Stunde in Anſpruch nahm. 

Es iſt wohl zu beachten, daß die 
Paarung nur ſtattfinden kann an Schwärm⸗ 
ſporen, die aus verſchiedenen Mutterzellen 
ſtammen, alſo niemals an Schwärmſporen 
derſelben Fadenzelle, wohl aber copuliren 
ſich Mikrozoo l poren und benachbarte Zellen 
eines und deſſelben Fadens. 

In der Regel ſind die beiden ſich 
paarenden Mikrozooſporen von gleicher 
Größe und Beſchaffenheit, ſo daß wir in 
der äußern Erſcheinung der zwei Zeugungs— 
zellen keinerlei Geſchlechts-Differenzen er— 
kennen können. 

Das Produkt der Paarung nennen wir 
— entſprechend dem homologen Gebilde 
bei anderen Kryptogamen mit Copulation 
— Zygoſpore oder Jochſpore. 

Die zur Ruhe gelangenden Zygofporen 
ſetzen ſich, weil ſpeciſiſch ſchwerer als das 
Waſſer — auf dem Grunde feſt und 
zwar ſo, daß der hyaline Pol, an welchem 
die Copulation ihren Anfang nahm, ab— 
wärts gekehrt erſcheint, während der grüne, 
dickere Hintertheil ganz ähnlich wie bei den 
zur Ruhe gelangenden und keimenden 
Makrozooſporen, aufwärts ſchaut. Die 
Zuygoſpore bildet nun eine Holzſtoffmembran, 
nach 2—3 Tagen find die beiden rothen 
Pigmentflecke erblaßt. Der grüne Inhalt 
zerſtreut ſich nach und nach im ganzen 
dickern Theil der Zygoſpore, während der 
hyaline Pol als Haftorgan oft in ein 
wurzelartiges Gebilde auswächſt. Das 
ganze Gebilde — ein geſchlechtlich erzeugtes 
Pflänzchen darſtellend — wächſt nun lang- 
ſam heran (Fig. 2 N ibis ın), der grüne 
Gehalt wird regelmäßig-körnig, die Mem— 
bran verdickt ſich und wird geſchichtet. 
Mittlerweile rückt der heiße Sommer heran; 
alle Ulothrixfäden verſchwinden, von der 


ganze 


Vegetation bleiben nur noch dieſe kleinen 
Zygoſporen-Pflänzchen auf dem Grunde des 
Gewäſſers übrig. Auch dieſe ſiſtiren für 
einige Zeit ihr Wachsthum und ent— 
wickeln ſich erſt weiter, wenn die kältere 
Jahreszeit wieder heranrückt. (Fig. 2 N 
ıv und v). Haben die Zygoſporen am 
Anfang der kalten Jahreszeit eine gewiſſe 
Größe erreicht, ſo differenzirt ſich ihr 
grüner Inhalt in 2, 3, 4-10 15 
Schwärmſporen von ganz ähnlichem Bau, 
wie die Zooſporen der Fadengenerationen 
(Fig. 2 P vr bis ıx), Die reife Zygo— 
ſpore ſelbſt iſt alſo eine Schwärmſporen 
bildende Generation ohne Zweifel das An— 
fangsglied jener Kette raſch aufeinander 
folgender ungeſchlechtlicher Wintergenerati— 
onen, in deren Fadenzellen nur Makrozoo— 
ſporen entſtehen. Noch bleibt uns eine 
Frage zu beantworten übrig: Welches 
Schickſal erleiden jene Mikrozoo— 
ſporen, welche aus irgend einem 
Grunde die Paarung verfehlten, 
keine Copulation eingingen, ſon— 
dern iſolirt — ich möchte ſagen 
Cölibatäre — blieben? Die Ant— 
wort, welche uns die mühſam erforſchte 
Entwicklungsgeſchichte der Kraushaar-Alge 
auf dieſe wichtige Frage ertheilt, iſt 
nicht allein an und für ſich ſehr frappant, 
ſondern für die ganze Theorie vom Ge— 
ſchlechtsleben der Pflanzenwelt und für die 
Entwicklungslehre von eminenter Bedeutung. 
Ich theile in Kürze die von mir conſtatir— 
ten Thatſachen mit. 


Beim Schwärmen der Mikrozooſporen 


geſchieht es häuſig, daß die eine und andere 
der copulationsfähigen Schwärmſporen kein 
zweites Ich findet, um eine Paarung ein— 
gehen zu können, ſei es, daß ſie ſich zufällig 
abſeits von den übrigen Mikrozooſporen ver— 
irrt, oder daß ſie nur Schweſterzellen findet, 


— 


welche aus der gleichen Mutterzelle mit ihr 


geboren wurden und daher mit ihr keine 


Paarung einzugehen gewillt ſind, ſei es, daß 
ſie etwas länger in der Maſſe der zerflie— 


ßenden Umhüllungsblaſe eingeſchloſſen blieb | 


und erſt in Freiheit gelangte, als es zur 
Copulation zu ſpät war. Alle dieſe iſolirt 
ſchwärmenden Mikrozooſporen gelangen nach 
einiger Zeit ebenfalls auf dem Grund des Ge— 
wäſſers zur Ruhe, ganz ühnlich wie die 
Zygoſporen. Sie ſetzen ſich ebenfalls mit 
dem farbloſen Pol feſt, werfen ihre Cilien 
ab und — beginnen zu 
Sehr oft find allerdings dergleichen Mikro— 
zooſporen-Keimlinge ſo ſchwach, daß ſie früher 
oder ſpäter abſterben; häufig aber entwickeln 


ſie ſich ganz normal, im Anfang wohl etwas 


langſamer und unter mancherlei Erſcheinun— 
gen, die wir hier nicht beſprechen können 


(vergl. meine citirte Monographie), ſpäter 
aber wachſen fie ganz ähnlich wie die Keim 


pflanzen aus Makrozooſporen. Sie ver— 
mögen auch ſelbſt wieder Zooſporen zu 
bilden und verrathen alſo keinerlei Schwäche, 
trotz unterbliebener Copulation. 


Nicht ſelten findet man auch Ulothrix⸗ 


Fäden, in denen ſich Mikrozooſporen bilde— 
ten, ohne daß dieſe alle entleert wurden. 
(Fig. 1 L). Am häufigſten trifft man 


vier in einer Fadenzelle gefangen bleibende 
Grenze des Geſchlechtslebens. 


Mikrozooſporen (Fig. 2 K i)), die gar 
nicht zur Copulation gelangen und deshalb 
in der Mutterzelle ſelbſt zu keimen beginnen 


keimen. 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


229 


alle 16 Mikrozooſporen gefangen blieben und 


trotz des engen Raumes zu keimen ver— 
mochten, 16 jungen Individuen das Daſein 
gebend. Nebenan ſehen wir in einer Zelle 
16 degenerirte Mikrozooſporen, die bei unter- 
drücktem Schwärmen zu Grunde gingen. 

Durch dieſe Thatſachen iſt denn der 
ſchlagende Beweis geliefert, daß die Mikro— 
zooſporen von Ulothrix zonata, dieſe pri- 
mitipſten Geſchlechtszellen, noch nicht ſo weit 
differenzirt ſind, daß ſie durchaus und 
unter allen Umſtänden einen Sexualact ein— 
gehen müſſen, um einem neuen Individuum 
das Daſein zu geben, ſondern daß ſie, wie 
die Makrozooſporen, die Fähigkeit haben, 
auch ungeſchlechtlich an der Fortpflanzung 
theilzunehmen. 


Die Copulation erſcheint hier nur wie 


ein häufig eintretender glücklicher Zu— 


fall, der ebenſo gut unterbleiben kann, 


ohne daß die hierzu befähigten Fortpflan— 
zungszellen nutzlos zu Grunde gehen. In 
den Mikrozooſporen von Ulothrix wohnen 
gleichzeitig zwei Fähigkeiten:: Unge— 
ſchlechtlichkeit, durch Vererbung von 
den ungeſchlechtlichen Vorfahren überkommen, 
und Sexualität, letztere gleichſam erſt er— 


wachend, allmälig aufkeimend und daher 


(Fig. 2 L ik), während die übrigen, mit 
ihnen in der gleichen Zelle entſtandenen 


Schwärmſporen in Freiheit gelangten und 
eine Paarung eingingen. Dieſe letzteren 
bilden alſo Zygoſporen, während jene erſteren 
auf ungeſchlechtlichem Wege, ganz ähnlich 
wie die Makrozooſporen, neuen Fäden das 
Daſein geben. In Fig. 2 L ik“ habe 
ich eine Fadenzelle dargeſtellt, in welcher 


— — 


unbeſtimmten, unfertigen Charakters. 
Dieſe Pflanze ſteht alſo an der untern 


Ein kleiner Schritt rückwärts im natür- 


lichen Syſtem führt uns zu jenen niedrigen 


Gewächſen, die ſich blos durch Theilung 
fortzupflanzen vermögen. 

Ein kleiner Schritt vorwärts leitet da— 
gegen hinüber zu andern, etwas höher or— 
ganiſirten Pflanzen, bei denen die ſich paa— 
renden Geſchlechtszellen ſchon morphologiſch 
und phyſiologiſch ſich verſchieden verhalten 
und daher in männliche und weibliche 
Sexualzellen unterſchieden werden können. 


850 
Und das Räthſel der Partheno— 
geneſis, bei welcher unbefruchtete Ge— 
ſchlechtszellen trotz des Unterbleibens einer 
geſchlechtlichen Vereinigung zu entwicelungs- 
und fortpflanzungsfähigen Individuen her⸗ 
anwachſen können, löſt ſich mit einem Male 
ganz ungeſucht aus den Anfängen des 
Geſchlechtslebens überhaupt. Hier bei Ulo- 
thrix zonata erſcheint die Parthenogeneſis als 
Keimung einer Schwärmſpore, die eine 
Copulation mit einer andern gleichgearteten 
Zooſpore nicht eingeht. Dieſe Keimung 
von nicht⸗copulirten Mikrozooſporen vollzieht 
ſich in ganz derſelben Weiſe, wie bei den 
geſchlechtsloſen Makrozooſporen. Der Ge— 
danke liegt nahe, daß die Parthenogeneſis 
in letzter Inſtanz zurückzuführen iſt auf 
jene einfache ungeſchlechtliche Fortpflanzung 
durch ganz gewöhnliche Schwärmſporen. — 
Pringsheim hat in ſeiner epochemachen— 
den Arbeit „Ueber Paarung von 
Schwärmſporen, die morpholo— 
giſche Grundform der Zeugung 
im Pflanzenreich“ (Monatsbericht der 
Kgl. Acad. der Wiſſenſch. zu Berlin, vom 
Oktbr. 1869) eine Theorie aufgeſtellt, wo— 
nach alle die verſchiedenen Geſchlechtsprozeſſe 
der höheren Pflanzen nur mehr oder weniger 
modificirte Copulationsproceſſe urſprünglich 
gleichartiger Sexualzellen darſtellen. In der 


That bietet die vergleichende Entwickelungs— | 


geſchichte der Anhaltspunkte genug, um die 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


Copulation von Schwärmſporen, wie ſie 
heute noch an manchen niedrigen Gewächſen 
ſich vollzieht, identiſch oder doch ähnlich war. 
Wir dürfen uns die Vegetation jener Urzeit 
nur als eine ſehr niedrig organiſirte, höchſt 
primitive vorſtellen. Damals waren noch 
keine höheren Gewächſe vorhanden. Keine 
Blume öffnete dem warmen Sonnenſtrahl ihren 
farbigen Kelch; noch taumelte kein Schmetter— 
ling, keine Biene von Blüthe zu Blüthe, 
um Honig oder Pollen zu ſuchen und Fremd— 


beſtäubung zu vermitteln, noch wetteiferten 


keine Gewächſe mit einander, um durch Far— 
benpracht, Nectar und Wohlgeruch die Gunſt 
der Inſekten zu erwerben: Gott Amor war 
noch nicht geboren — das Geſchlechtsleben 
der Pflanzenwelt ſchlummerte noch in der 
ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der ſtillen 
Urmeer-Vegetation. Die Natur träumte 
noch nichts von der erſt werdenden 
Schöpfung des allmächtigen Liebelebens, das 
ſich erſt in den noch folgenden Weltzeiten 
ans dem Einerlei der ungeſchlechtlichen Fort— 
pflanzung herausdifferenziren und in den 
mannigfachſten Prozeſſen auf hunderterlei 
Weiſe entwickeln ſollte. 

Nach der Abſtammungslehre muß, wie 
wir bereits an anderer Stelle bemerkt haben, 
auch das Geſchlechts- oder Liebe-Leben der 


Pflanzen- wie der Thierwelt einmal in der 


| 


Pringsheim'ſche Anſicht, daß die Paa- 
rung der Schwärmſporen die morphologiſche 


Grundform der pflanzlichen Zeugung dar— 
ſtelle, mehr als bloß wahrſcheinlich erkennen 
zu laſſen. 

Wenn aber die Pringsheim'ſche 
Theorie wahr iſt, ſo müſſen wir den An— 
fang der Zeugung im Pflanzenreich als 
einen vor Jahrmillionen zum erſten Mal 
ſtattgehabten Proceß anſehen, der mit der 


einfachſten Form begonnen haben; denn die 
Natur macht keine Sprünge, ſondern ſchreitet 
in ihrem Vervollkommnungsproceß äußerſt 
langſam fort, unmerklich, ewig nach etwas 
Beſſerem taſtend, ſich in tauſend und millio— 
nen Verſuchen ergehend, um nur aus dem 


tauſendſten oder millionſten einen kleinen 
Nutzen zu ziehen. Aus der Summe kleinſter 


Abänderungen reſultiren die verwickelteſten 
und ſcheinbar weiſeſten Einrichtungen. 
Gelingt es uns, ein auch nur einiger— 


maßen der Wirklichkeit entſprechendes Bild 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


von dem langſamen Entwicklungsgang der | 
lebenden Natur zu entwerfen, ſo dürfen wir 
uns glücklich preiſen. 

Allein die Vergangenheit, in wel— 
cher ſich die Entwickelungsgeſchichte der Pflan— 
zen- und Thierwelt abſpielte, bleibt uns 
zum großen Theil ein verſchloſſenes Land. 
Und dennoch dürfen wir die Zuverſicht 
haben, ihr die wichtigſten Geheimniſſe nach 
und nach abzulauſchen; denn ſie ſpiegelt ſich 
— wenn auch mit ſtellenweiſe verwiſchtem 
Bild — in der Gegenwart. Die Ent— 
wickelungsgeſchichte hat uns gezeigt, daß es 
heute noch hochorganiſirte Lebeweſen giebt, 
die während ihrer individuellen Entwickelung 
in kurzen Zügen auch die Geſchichte der 
Vorfahren wiederholen. Die moderne Bio— 
logie anerkennt mehr und mehr jenen Satz, 
in welchem Häckel ſein biogenetiſches Grund— 
geſetz zum Ausdruck brachte. 

Und die vergleichende Entwickelungsge— 
ſchichte hat uns offenbart, daß unter den 
heute lebenden Pflanzen und Thieren in 


manchen Fällen die verſchiedenen Entwicke- 


lungsſtufen, welche ein höheres Thier oder 
eine höhere Pflanze der Reihe nach von der 
Eizelle an bis zur Geſchlechtsreife zu durch— 
laufen hat, lebendig repräſentirt werden 
durch niedrigere Organismen, welche auf 
jenen tieferen Stufen ſtehen geblieben ſind, 
während der höhere Organismus bei ſeiner 
Entwickelung je noch um eine Stufe wei— 
ter ſchritt. 

Haben wir daher eine ganze Reihe ſol— 
cher in faſt unmerklich verſchiedenen Ent— 
wickelungsſtufen nach einer und derſelben 
Richtung auf einander folgender, aber der 
jetzigen Lebewelt angehörender Thiere oder 
Pflanzen vor uns, ſo ſpiegelt ſich in dieſer 
Abſtufung gleichſam die in der Vergangen— 
heit liegende allmälige Vervollkommnung 
des höchſtorganiſirten Thieres oder der höchſt— 


— 


231 


organiſirten Pflanze, wie ſie ſich ſeit den 
fernſten Vorzeiten aus den niedrigſten An— 


fängen zur jetzigen Höhe der Entwickelung 
vollzogen hat. 


In dieſem Sinne können 
wir alſo behaupten, daß wir das Höhere 
erſt dann richtig erkennen und verſtehen, 


wenn wir auch die Erkenntniß des Niedri— 


macht, ſondern das wichtigſte 


geren erlangt haben. 

Darum hat die Erforſchung der niedrigen 
Lebeweſen ein ſo großes Intereſſe gewonnen. 
Es iſt keine Caprice der Zeit, welche ſich 
in der emſig betriebenen Durchforſchung der 
niederen Pflanzen- und Thierwelt geltend 
Poſtulat, 
welches die Wiſſenſchaft an die moderne Bio— 
logie geſtellt hat. 

Den Fortſchritten auf dieſem neuerdings 
mit ſo großem Erfolg cultivirten Felde 
biologiſcher Forſchung iſt es zu danken, daß 


| wir heute ſogar ſchon wagen dürfen, von 


dieſem und jenem Lebeweſen mit vieler 
Wahrſcheinlichkeit zu behaupten, daß ſeine 
Vorfahren der Reihe nach auf dieſer und 
jener niedrigen Organiſationsſtufe geſtanden 
haben. So iſt denn auch die Erforſchung 
der Fortpflanzungsweiſe niedriger Gewächſe 
und Thiere von unberechenbarer Bedeutung 
für die Erkenntniß des höheren Geſchlechts— 
lebens. 

Nur aus der vergleichenden Entwicklungs— 
geſchichte konnte Pringsheim geſchöpft 
haben, als er ſeine Theorie von der Zeugung 
im Pflanzenreich aufſtellte. 

Mit der Copulation oder Paarung von 
Schwärmſporen ſoll das Geſchlechtsleben im 
Pflanzenreich den Anfang genommen haben. 
Wenn dem ſo iſt, ſo mußten dereinſt Ge— 
wächſe exiſtirt haben, bei denen dieſelben 
Schwärmſporen ſowohl zur Copulation, als 
auch zur ſelbſtändigen Keimung ohne Paarung 
befähigt waren. Die Copulation mußte 
in ihren erſten Anfängen ein ſcheinbar ganz 


- 


©: 


232 


zufälliger Verſuch geweſen fein, eine vom 
glücklichen Zufall begünſtigte Erſcheinung, 
die ebenſo gut unterbleiben konnte, ohne 
dabei das Stattfinden der Fortpflan— 
zung durch die gleichen Schwärmſporen 
in Frage zu ſtellen, oder mit andern 
Worten: Wenn die Paarung von Schwärm— 
ſporen die morphologiſche Grundform der 
Zeugung im Pflanzenreich darſtellt, ſo 
mußten die erſten ſich copulirenden Zellen 
nicht allein unter ſich gleichwerthig erſcheinen, 
ſondern auch mit andern Schwärmſporen, 
die ſich nicht paarten und dennoch neuen 
Individuen das Daſein gaben, übereinſtimmen. 

Wir glauben, daß dieſe Schlußfolge— 
rung kaum anzufechten ſein wird. Die 
Frage iſt nur noch dahin zu ergänzen: 
Können wir Hoffnung haben, jemals den 
Nachweis zu leiſten, daß es einſtmals ſolche 
Pflanzen gab, die mit den beſchriebenen 
Schwärmſporen ausgerüſtet waren? 

Die Antwort wird entſchieden ver— 
neinend lauten; denn derartige vorwelt— 
liche Pflanzen waren zur Petrification kaum 
geeignet; welcher Palaeontologe wird zu 
hoffen wagen, jemals petrificirte Schwärm— 
ſporen zu entdecken, von denen 20—40 
Millionen auf der Fläche eines Quadrat- 
zolles Platz haben? 

Aber dafür winkt uns eine Hoffnung 
als Erſatz in der lebenden Natur. Und 
dieſe einzige Hoffnung, die wir diesfalls 
hegen durften, wäre die Entdeckung einer 
lebenden Pflanze unſerer gegenwärtigen Vege— 


tation, die Entdeckung einer Pflanze, welche | 


erſt an der Schwelle des Geſchlechtslebens 


angekommen iſt und vor unſern Augen das 
wiederholt, was vor Jahrmillionen bei der 
erſten zum Liebeleben erwachenden Pflanze 


ſich vollzog. Iſt eine ſolche Pflanze ent: 
deckt, ſo gewinnt die Theorie Pringsheim's 
einen neuen kräftigen Stützpfeiler. 


8 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


In der That haben wir dieſe Pflanze 
in unſerer Kraushaaralge (Ulothrix 
zonata) gefunden. Darin liegt die wiſſen⸗ 
ſchaftliche Bedeutung dieſer bislang unbe— 
achteten Algenfäden; denn ſie ſind zugleich 
eines der glänzendſten Belege für die Ent— 
wicklungstheorie. Sie variiren in fo hohem 
Grade, daß man früher die verſchieden— 
artigen Fäden einer und derſelben Art für 
Dutzende verſchiedener, ſelbſtändiger Species 
gehalten und ſie mit eigenen Artnamen be— 
nannt hat. Im Studium ihrer ganzen 
Entwicklungsgeſchichte, namentlich in der 
Verfolgung ihrer geſchlechtlichen und unge— 
ſchlechtlichen Fortpflanzungs-Erſcheinungen 
lernt der Biologe das Myſterium vom 
Anfang des pflanzlichen Geſchlechtslebens, 
wie in einem Spiegel feſt gehalten, zu ent- 
hüllen. 

Damit will ich keineswegs geſagt haben, 
daß die erſten Pflanzen, welche ſich aus 
der Ungeſchlechtlichkeit zur ſexuellen Fort— 
pflanzung erhoben haben, ſich genau jo 
verhielten, wie unſere Kraushaar-Alge. Nur 
der Entwickelungs-Modus bei dieſem 
Fortſchritt muß ein ähnlicher, morphologiſch 
betrachtet, in ſeinem Weſen ein identiſcher 
geweſen fein, wie wir ihn bei der Kraushaar— 
Alge nur zu deutlich ſkizzirt ſehen, um uns 
dieſes Gedankens erwehren zu können. Noch 


viel weniger möchte ich die Behauptung 


aufſtellen, das erſte geſchlechtlich ſich fort— 
pflanzende Gewächs ſei ein Organismus ge— 
weſen, der mit unſerer Kraushaar-Alge 
übereinſtimmte. Die Natur iſt überaus 


erfinderiſch und ſchafft bei übereinſtimmender 
Fortpflanzungsweiſe durch Zuchtwahl im 
Kampf ums Daſein aus den ewig ab— 
änderungsfähigen Organismen die mannig— 
faltigſten Geſtalten, wie wir dies bei jeder 
natürlichen Pflanzenfamilie oder Ordnung 
jederzeit erkennen müſſen. 


Durch ſolche Abänderungen entſtanden 
unter dem fortwährend thätigen Correktiv der 
natürlichen Zuchtwahl aus Jochſporen bilden— 
den Pflanzen jene höher differenzirten Ge— 
wächſe, welche Ei-Sporen bilden, indem 
die einen zur Paarung befähigten Schwärm— 
ſporen ruhig in ihrer Mutterzelle abwarten, 
durchaus paſſiv bleiben, bis ſie von den 
andern Geſchlechtszellen, die wirklich aus— 
ſchwärmen, aufgeſucht werden und eine 
Copulation eingehen. 

Wir nennen die den Paarungs- oder 
Befruchtungsakt abwartenden Fortpflanzungs— 
zellen Ei-Kugeln (Ooſphären). Sie 
ſind in der Regel um das Mehrfache größer, 
als die anderen allein ſchwärmenden Sexual- 
zellen, welche jene aufſuchen und gar oft 
noch unverkennbar die Organiſation von 
eigentlichen Schwärmſporen beſitzen. Dieſe 
beweglichen kleineren Fortpflanzungszellen, 
welche beim Paarungs-Akte allein aktiv find, 
nennen wir Spermatozoiden oder 
männliche Geſchlechtszellen, im Gegenſatz 
zu den paſſiven Eikugeln oder weiblichen 
Sexualzellen. 

Der Uebergang von den jochſporenbil— 
denden Pflanzen zu denjenigen mit typiſch 
geſchlechtlichen Fortpflanzungszellen, mit gro— 
ßen aber paſſiven Eikugeln und kleinen aber 
activen Spermatozoiden, iſt in der jetzt 
lebenden Vegetation ſo fein abgeſtuft, daß 


Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 


929 
233 


ſich der Biologe ſchlechterdings des Gedan— 
kens der Abſtammung nicht erwehren kann. 

Andererſeits iſt aber auch die weitere 
Entwickelung von den eiſporenbildenden 
Pflanzen an bis hinauf zu den in höchſter 
Vollendung mit prunkenden Blüthen aus— 
geſtatteten Dicotyledonen durch alle wünſch— 
baren Zwiſchenſtufen ſo deutlich vorgezeichnet, 
daß der Botaniker ſich leicht darüber Rechen— 
ſchaft zu geben vermag, wie die höchſte 
Pflanze mit allen ihren coquettirenden Liebes— 
künſten ſchließlich als Endglied in der Reihe 
der Geſchlechtspflanzen allmälig reſultiren 
mußte. 

Und dennoch welche Kluft zwiſchen 
der im Waſſer untergetauchten Fadenalge 
mit ihren thierähnlich-herumſchwärmenden 
und ſich paarenden Mikrozooſporen einerſeits 
und dem duftenden, honigabſondernden Veil— 
chen andrerſeits, das ſich alle erdenkliche 
Mühe giebt, um gelegentlich von Inſekten 
beſucht, und der Fremdbeſtäubung unter— 


zogen zu werden! 


Aber dieſe Kluft iſt vollſtändig hinrei— 
chend überbrückt. Der Biologe durchwan— 
dert den anſcheinend ſchwindligen Steg 
zwiſchen den beiden Extremen des pflanz— 


lichen Geſchlechtslebens ſo ſicher, wie der 


Aſtronom mit ſeinem Teleſkop den Weg 
zwiſchen Polarſtern und Sirius. 


Die Anſchauungen des Thomas von Aquin 
über die Grundlütze der mechaniſchen Phyſik. 


Von 


Prof. Dr. S. Bünther. 


Ir s iſt zweifellos vom höchſten 
> EN Intereſſe, von dem erhöhten 
e Standpunkt, auf welchen die 


AR’ raſtloſe Forſchungsthätigkeit der 


Jahrhunderte geführt hat, einen Rück— 
blick auf die vergangene Zeit zu werfen 
und die naiven Anſichten früherer Forſcher 
einer vergleichenden Unterſuchung zu unter— 
ziehen. Vor allem wohl dürfte es den 
Tendenzen dieſer Zeitſchrift entſprechen, 
ſolche Excurſionen in's alte romantiſche Land 
zu unternehmen, und in der That brachte 
bereits die erſte Nummer derſelben aus der 
Feder eines der Redakteure einen bemerkens— 
werthen Artikel über eine originelle Epiſode 
aus der Vorgeſchichte der Entwickelungs— 
theorie. Wie aber im Gebiete des Orga— 
niſchen ſo dürfte ſich Aehnliches vielleicht 
noch mehr im Bereiche der exakten Natur— 
wiſſenſchaft empfehlen, wo doch zu keiner 
Zeit faſt die Auffaſſung in dem Grade 
getrübt war, wie in der Lehre von der Ent— 
ſtehung und Wechſelbeziehung der Organis— 
men. Und ſpeziell die Periode des ſog. 


Scholaſticismus verdient als eine ſolche 
hervorgehoben zu werden, welche ein nähe— 
res Eingehen auf ihre eigenartigen Verhält— 
niſſe reichlich lohnt. Das alte Vorurtheil, 
als ſeien die berufenen Vertreter der ſchola— 
ſtiſchen Lehre durchweg bornirte Köpfe ge— 
weſen, deren ganze Geiſteskraft beim Nach— 
denken über die Weſenheit der Engel, über 
Entität und Übiquität und ähnliche Prin- 
cipienfragen ſich aufgezehrt habe, dieſe ganz 
unhiſtoriſche und verfehlte Meinung hat 
ſeit dem Erſcheinen von Humboldt's 
Kosmos einen gefährlichen Stoß erlitten; 
man hat ſich gewöhnt, auch das Geiſtes— 
leben des dreizehnten Jahrhunderts als 
ein in ſeiner Art berechtigtes gelten zu 
laſſen, welches noch dazu in mannigfaltiger 
Weiſe anregend und befruchtend auf die 
Folgezeit eingewirkt habe. Daß zumal in 
naturwiſſenſchaftlicher 
wie Albertus Magnus und Roger 
Bacon eifrig und erfolgreich gearbeitet 
haben, weiß wohl jeder, der ſich überhaupt 
um das hiſtoriſche Werden unſeres jetzigen 


Richtung Männer 


Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 


Wiſſens kümmert; Jeſſen hat uns des 


Erſtgenannten Verdienſt um die Begründung 


einer rationellen Pflanzenkunde, Peſchel 
die zahlreichen guten Bemerkungen geſchildert, 
welche ſich in des vielgereiſten Mannes 
Schriften über vergleichend-geographiſche 
Beziehungen vorfinden, und auch darüber 
iſt man einig, daß in der Lehre vom Lichte 
kein zweiter Gelehrter des Mittelalters 
weiter über die griechiſchen Vorlagen hinaus— 
gegangen ſei, als jener engliſche Franzis— 
kaner. Gerade des Mannes aber, den 
uns die Titelworte dieſes Verſuches nennen, 
geſchieht weit ſeltener würdigende Erwäh— 
nung. Der Grund liegt freilich nicht eben 
ferne. Denn des heiligen Thomas — 
ſchon dieſes Epitheton kennzeichnet eine 
exceptionelle Stellung — hatte ſich ſchon 
bald ausſchließend die Gottesgelehrſamkeit 
bemächtigt, kein anderer Theoſoph der ſcho— 
laſtiſchen Periode hat auf die bczügliche 
Wiſſenſchaft einen ſo nachhaltigen Einfluß 
ausgeübt, als er, den die Kirche mit 


Stolz ihren Doctor angelieus nannte, und 


ſo kam unſchwer die Meinung auf, der 
von ſo vielen anderen und nach damaligem 
Zuſchnitt unendlich bedeutſameren Aufgaben 
in Anſpruch genommene Mann habe keine 
Zeit zur Beſchäftigung mit profanen 
Dingen übrig behalten. Allein es wäre 
ein ſchwerer Irrthum, dies zu glauben. 
An und flir ſich ſtand freilich der Aqui— 
nate mit der Erforſchung der Natur in 
keinem ſo engen Contakt wie ſein Lehrer 
Albert; er vermochte den betreffenden 
Gegenſtänden keine ſo ausſchließende Thätig— 
keit zuzuwenden als jener, der es ja auch 
zu einer weit über ein Menſchenalter höheren 
Lebensdauer gebracht hat, allein an Geiſt 
und Auffaſſungsgabe ſtand er ihm in 
keiner Weiſe nach. Eine ausführliche Dar— 
ſtellung des phyſikaliſchen Lehrgebäudes der 


5 — 
235 


Scholaſtik kann und ſoll natürlich an dieſer 
Stelle nicht gegeben werden; wir werden 
uns vielmehr darauf beſchränken, zu ermit— 
teln, welche Stellung Thomas zu einigen 
Hauptfragen der Phyſik einnahm, ſpeziell 
zu ſolchen Fragen, welche zu den brennen— 
den der Neuzeit gerechnet werden müſſen. 
So reizvoll derartige Studien auch ſind, 
ſo tragen ſie doch gleichwohl in ſich den 
Keim einer gewiſſen Gefahr, denn nur all— 
zunahe liegt die Möglichkeit — und zahl— 
reiche abſchreckende Exempel laſſen ſich der 
Wiſſenſchaftsgeſchichte entnehmen die 
Ausſprüche der Vergangenheit mit allzu 
günſtigem Auge zu betrachten und da, wo 
es ſich vielleicht nur um unklare inhaltsloſe 
Redensarten handelt, ſofort Divinationen, 
wo nicht Anticipationen des Richtigen und 
Modernen zu erblicken. Mehrfache Uebung 


ſoll uns, ſo hoffen wir, davor behüten, in 


dieſen Fehler zu gerathen und nicht minder 
das andere Extrem, an welchem die neuere 
Geſchichtsſchreibung nicht ſelten krankt, zu 
vermeiden: gänzliche Mißkennung früherer 
Verhältniſſe. 

Obwohl die meiſten philojophiich-theo- 
logiſchen Werke des gelehrten Heiligen ge— 
legentliche Aphorismen über ſolche Punkte 
bieten, welche uns hier intereſſiren, ſo 
kommt doch vor Allem für unſeren Zweck 
der umfängliche Commentar in Frage, mit 
welchem er das bekannte kosmologiſche 
Werk!?) des Meiſters Ariſtoteles aus— 
geftattet hat. An dieſen Commentar wer- 
den wir uns demzufolge beſonders anzu— 
ſchließen haben, doch wird dabei ſelbſtver— 

) Jene Ausgabe, auf welche wir im 
Nachſtehenden beſtändig recurriren, iſt folgende: 
Aristotelis Stagiritae peripateticorum prin- 
eipis Libri de coelo et mundo una cum divi 


Thomae Aquinatis praeclarissimo commen- 
tario, Venetiis MDXLIII. 


EN 


236 Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 
ſtändlich auch auf andere gelegentliche | ſelben die Form als geſtaltendes Element 


Aeußerungen Rückſicht zu nehmen ſein. 
Und weiterhin werden wir eine Auswahl 
zu treffen haben betreffs der Materien, 
welche wir voranſtellen wollen. Die mecha— 
niſche Phyſik unſerer Tage legt bekanntlich 
ein Hauptgewicht auf die jetzt völlig außer 
Zweifel geſtellte Identität zwiſchen Wärme 
und Arbeit, aus welcher Thatſache dann 
unmittelbar die Unmöglichkeit einer in's 
Unendliche ſpontan ſich fortſetzenden Arbeits— 
leiſtung oder, vulgär zu reden, eines Per— 
petuum mobile, entſpringt. An dieſe Er— 
rungenſchaften des neunzehnten Jahrhunderts 
wollen wir denn auch an dieſer Stelle an- 
knüpfen; wir wollen erſtens zuſehen, wie 
ſich der heilige Thomas zu der Frage 
einer ewig⸗continuirlichen Bewegung ſtellt, 
und zweitens wollen wir ſeine Doktrinen 
über Weſen und Entſtehung der Wärme 
kennen lernen. Intereſſante Vergleichungs— 
punkte werden uns bei dieſer unſerer Ana— 
lyſe nicht fehlen können. 

Die ſcholaſtiſche Phyſik, wie ſie ſich aus 
den Schriften des Ariſtoteles allmählich 
herausbildete*) ging von dem Grundſatze 
aus, daß vom Anfang an, d. h. durch 
direkten Schöpfungsakt, die Materie als 
eine chaotiſche Maſſe exiſtire; indem zu der— 


) Das Schriftchen des Eichſtädter Lyceal— 
profeſſors M. Schneid: „Die ſcholaſtiſche 
Lehre von Materie und Form“ (Programm 
von 1873, ſeitdem aber in vielfach erweiterter Ge— 
ſtalt zum zweitenmale herausgegeben) iſt Allen 
denen auf's Beſte zu empfehlen, welche ſich 
über die charakteriſtiſche Eigenſchaft peripate— 
tiſch⸗ſcholaſtiſcher Naturkenntniß unterrichten 
wollen. Allerdings ſteht der Autor ſelbſt 
ganz auf dem Boden, den er vertheidigt, in— 
deß berückſichtigt er auch ziemlich umfaſſend 
den Standpunkt der Neueren und iſt über— 
haupt ſo unparteiiſch, als man es nur er— 
warten kann. 


hinzutrat, entſtand die Außenwelt. Vorerſt 
aber noch bewegungslos, ſtarr. Damit 
ſich auch die Veränderung erklären ließe, 
bedurfte es noch eines dritten Etwas, wel— 
ches als „Privatio“ bezichnet ward. Dieſe 
drei integrirenden Beſtandtheile nun genügten 


der Scholaſtik, um ſich mit ſämmtlichen be- 


kannten Erſcheinungen der Natur leidlich 
auseinanderzuſetzen, und es wird dieſe Art 
der Syſtematik, ſo fremdartig ſie dem 
Zeitalter der empiriſchen Naturforſchung 
immer erſcheinen mag, doch dem vagen 
Spiel mit nichtsſagenden Qualitäten vor— 
gezogen werden müſſen, in dem ſich die 
Naturphiloſophie der Hegel-Schelling'⸗ 
ſchen Schule gefiel. 

Die Frage, ob es in der Natur Be- 
wegungen von ewiger Dauer geben könne, 
hatte fich bereits Ariſtoteles vorgelegt 
und mit Nein beantwortet. Daß Thomas, 
der ſich in ſo fundamentalen Lehren ſelbſtver— 
ſtändlich gerne an ſein Vorbild anlehnt, zu 
dem gleichen Schluſſe gelangt, kann uns 
ſonach gleichgültig ſein, wohl aber iſt ſeine 
Motivirung von Intereſſe. „Es iſt nicht 
vernunftgemäß“, ſo argumentirt er (S. 38 
der genannten Edition) „irgend einen Körper 
als ewig dauernd und abſolut unveränder— 
lich anzunehmen; wenn aber dies richtig iſt, 
ſo kann auch die Bewegung, welche wir uns 
ja von dem Körper unmöglich losgelöſt zu 
denken im Stande ſind, jene Eigenſchaft 
beſitzen“. Offenbar iſt dieſer Schluß ſelbſt 
nach damaligen Forderungen noch kein völlig 
zwingender, denn es wäre ja denkbar, daß 
jeder Körper die ihm inhärirende Bewegung 
noch vor ſeinem Vergehen an einen anderen 
übertrüge, und daß ſolchergeſtalt in einer, 
unaufhörlichen Vernichtungen und Neubil- 
dungen unterworfenen, Körperwelt gleichwohl 
ein ſtetig andauernder Bewegungszuſtand 


ſich erhielte. Die Behauptung muß ſomit 
noch durch anderweite Gründe geſtützt wer— 
den. „Die ſämmtlichen Körper,“ ſo heißt es 


weiter, „beſtehen aus den vier Elementen, 
und jedem dieſer vier Urſtoffe iſt von An- 


fang an eine gewiſſe, nicht mehr zu ändernde 
Bewegungsform eingepflanzt, und zwar iſt 


dieſelbe geradlinig“. Würde jedoch ein Körper 


in gerader Linie ſich ohne Aufhören fort— 
bewegen können, ſo würde dadurch — dies 
iſt nicht formell ausgeſprochen, aber ſelbſt— 
verſtändlich — der oberſte Grundſatz von 
der Endlichkeit der Welt negirt, und es 
kann keine ſolche Bewegung geben. 

Dieſe Art zu ſchließen bedarf für Jeden, 
dem die übliche Denk- und Redeweiſe der 
peripatetiſchen Philoſophie nicht klar vor 
Augen ſteht, einer Erläuterung. Der Kos— 
mos (Makrokosmos) bildete ein einziges, 
gewiſſermaßen organiſirtes Ganzes von end— 
licher, wenn auch unbeſtimmt großer Aus— 
dehnung. Daß dem wirklich ſo ſein müſſe, 
dafür hatte der große Albert von Boll— 
ſtädt mit Aufgebot der feinſten Syllogis— 
men den „unumſtößlichen“ Beweis erbracht.“) 
Nicht minder feſt ſtand die Ueberzeugung, 
daß es fünf „Elemente“ gebe, deren vier 
ausſchließlich auf der Erde ſich fänden, wäh— 
rend das fünfte nicht minder ausſchließlich 
das Material zur Bildung der Himmels— 
körper abgegeben habe. Von jenen vier 
erſten waren zwei, Erde und Waſſer, ab— 
ſolut ſchwer, zwei andere, Luft und Feuer, 
abſolut leicht; erſtere ſtrebten nach dem 


) In ſeiner unlängſt veröffentlichten 
Schrift „Die Lehre von der Erdrundung und 
Erdbewegung im Mittelalter“ iſt der Verf. 
dieſes jener Lehre näher getreten. Es ward 
dort ferner gezeigt, wie auch der hervor— 
ragendſte unter den jüdiſchen Scholaſtikern, 
Moſes ben Maimon, ausſchließlich in 
dieſen kosmologiſchen Vorſtellungen lebte und 
webte. 


Günther, Die Anſchanungen des Thomas von Aquin. 


237 


Weltcentrum, welches ja mit demjenigen der 
| Erde identiſch war, hin, letztere ſuchten ſich 
von ihm zu entfernen; immer aber konnte 
dieſe ihnen anerſchaffene Bewegung nur in 
gerader Linie vor ſich gehen. Den Geſtirnen 
freilich auf der anderen Seite war ebenſo 
von Anfang an eine „vollkommene“ kreis— 
förmige Bewegung incorporirt, und ſie 
werden alſo von den namhaft gemachten 
Einwänden Thomas' in keiner Weiſe mit 
betroffen. 

Allein dies durfte auch nicht geſchehen. 
Denn die Körper des Himmels waren aus 
überirdiſcher ätheriſcher Materie zuſammen— 
geſetzt, eine beſonders zugetheilte Intelligenz“, 
welche ſich die frommen Scholaſtiker wohl 
am liebſten unter dem Bilde eines Engels 
dachten, regulirte ihre Bewegungen, und ſo 
war nicht abzuſehen, warum dieſe Cirkel— 
bewegung keine ewige ſein ſollte. Auf den 
Himmel erſtreckt ſich ſonach die ganze Be— 
weisführung nicht, für die Erde aber er— 
hellt: Jede Bewegung muß nothwendig 
einen Anfang und ein Ende haben, kann 
nicht ewig andauern, und ſo kann es alſo 
auch kein Perpetuum mobile geben. Stich- 


nichts beſſeres zu erlangen, und ſo dürfen 
wir es immerhin bedauern, daß man den 
an ſich richtigen Lehrſatz ſo ganz ignorirte. 
Eine große Summe von Denkkraft und 
techniſchem Genie, welche beim Verſuche, et— 
was Unmögliches zu bewältigen, darauf 
ging, wäre ſo für beſſere und realiſirbare 
Zwecke aufgeſpart geblieben. 

Vielleicht iſt es angezeigt, der Begrün— 
dung des Scholaſtikers diejenige des neun⸗ 
zehnten Jahrhunderts gegenüberzuſtellen. Von 
dem bereits vor längerer Zeit erkannten 
Hinderniß, welches Reibung und Widerſtand 
des Mittels (welch' letzterer ſich auch der 


fr 


238 


Hauptſache nach auf Reibung der bewegten 


| 
| 


Luft⸗ oder Waſſertheilchen zurückführen läßt) 


jeder Bewegung entgegenſtellen, muß dabei 


reine Principienfrage handelt. 
müſſen wir geſtehen: Erſt die letzten Jahre 
haben uns in den Stand geſetzt, a priori 
die Unmöglichkeit einer unendlich andauern— 
den — wenn auch von allen Hemmniſſen 
befreiten — Bewegung darthun zu können. 
Indem ein Körper ſich bewegt, leiſtet er 
eine gewiſſe Arbeit, und durch dieſelbe muß 
Wärme conſumirt werden; einer in Ewig— 
keit fortdauernden Arbeitsleiſtung würde 
alſo die Vernichtung des geſammten Wärme— 
vorrathes und damit abſolute Erſtarrung 
nachfolgen müſſen. Abgeſehen von dieſer 
Thatſache, welche jedoch nur beſteht, wenn 
eben durch die Bewegung zugleich mechaniſche 
Arbeit bedingt iſt, würde uns nichts hin— 
dern, einen (maſſeloſen) Punkt mit gleich— 
förmiger Geſchwindigkeit ſich ſtetig fortbe— 
wegen zu denken. Denn wir ſtellen uns 
den Raum nicht allein als unbegrenzt, ſon— 
dern auch als unendlich vor. Wer freilich 
die Möglichkeit oder doch Nothwendigkeit 
der letzteren Eigenſchaft in Abrede ſtellt, 
der muß ſelbſt einen ſolchen Bewegungs— 
modus wie den zuletzt angeführten für un— 
ſtatthaft erklären und ſich alſo im Weſent— 
lichen zu der Anſicht des Thomas Aquinas 
bekennen. Des allgemeinen Intereſſes halber, 
welches die neueren Raumtheorien vielfach 
erregten, möge noch einen Augenblick bei 
dieſem Gegenſtande verweilt werden. Be— 
kanntlich hat, geſtützt auf gelegentliche Be— 
merkungen von Ganß, der Göttinger 
Riemann die Theorie eines „unebenen“ 
Raumes ausgebildet, der zwar nirgendwo 
eine Grenze habe, in dem aber gleichmäßige 
Bewegungsfähigkeit nach allen Richtungen 
hin nicht nothwendig ſtattzuhaben brauche. 


Und da 


| 
| 
| 
| 
| 


Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 


Gerade Linien laſſen ſich in einem ſolchen 
Raume überhaupt nicht vorſtellen. Bis vor 


Kurzem mochte die Lehre vom Riemann'- 
abgeſehen werden, indem es ſich um eine 


ſchen Raum einfach als eine metamathe— 
matiſche Doctorfrage erſcheinen, um welche 
die im euklidiſchen Raume ſich wohlfühlende 
Naturwiſſenſchaft ſich nicht zu kümmern 
brauche; allein ſeit Zöllner's berühmtes 


Kometenwerk erſchien, iſt das anders ge- 


worden, denn dieſer Phyſiker hat ſich bei 
ſeinen Unterſuchungen über die Vertheilung 
und den Gleichgewichtszuſtand kosmiſcher 
Maſſen veranlaßt geſehen, die „Welt“ als 


ein Geſchloſſenes, in ſich Zurückkehrendes 


aufzufaſſen. In einer ſolchen Welt ver— 
bietet ſich die Annahme einer continuirlichen, 
niemals aufhörenden Bewegung von ſelber, 
und man erkennt ſo, daß die auf die höchſte 
Spitze getriebene Verfeinerung unſerer kos— 


mologiſchen Vorſtellungen im Weſentlichen 
wieder auf jene enge Anſchauung von einer 


endlichen Welt mit begrenzter Beweglichkeit 
der Beſtandtheile zurückführt, an welcher 
ſich das Kindeszeitalter der mechaniſchen 
Wiſſenſchaft hatte genügen laſſen. — 
Wenden wir uns nun zum zweiten Theile 


unſeres Themas und ſtellen wir uns die 


Frage: Wie dachte die Scholaſtik und ſpeciell 
deren berufenſter Vertreter Thomas über 
die Wärme und deren Verhältniß zu an— 
deren phyſikaliſchen Grundeigenſchaften? 
Der Commentar zum Ariſtoteles 
liefert uns hierüber den wünſchenswertheſten 
Aufſchluß.“) Es erhebt ſich zunächſt das 
Dilemma: Entſtehen Wärme und Licht gleich— 
mäßig aus den Geſtirnen, oder hat es mit 
ihrer Erzeugung eine andere Bewandniß. 
Dem Meiſter zufolge wäre von Erſterem 
ganz abzuſehen, und Thomas giebt ihm 


) Die Erwägungen, aus denen im Fol- 
genden eine Analyſe mitgetheilt wird, begin— 
nen auf Blatt 42 unſerer Vorlage. 


ER 
ri, 


Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 239 


theilweiſe Recht. „Die Sterne“, jagt er, „find 
an und für ſich nicht von feuriger Natur,“) 
ſondern ſie produciren Wärme und Licht 
dadurch, daß ſie bei ihrer Bewegung durch 
die Himmelsräume die Luft zuſammenpreſſen. 
Sieht man doch, daß durch Bewegung ſelbſt 
ſolche Stoffe, wie Stein und Eiſen, erhitzt 
und ſelbſt in Brand geſetzt werden können, 
welche dem Elemente des Feuers von Haus 
aus ſehr ferne ſtehen; wie viel mehr iſt 
dies alſo von dem nahe verwandten Elemente 
der Luft zu erwarten.“ Hier bezieht ſich der 
Scholaſtiker auf faktiſch beobachtete Erſchei— 
nungen, welche wir fünf Jahrhunderte ſpäter 
auch von Rumford bei der Conception 
der mechaniſchen Wärmetheorie verwerthet 
finden. Ein die Luft durchſchwirrender Pfeil, 
ſagt er, kann ſo heiß werden, daß „ex 
vehementia motus“ das Blei von feiner 
Spitze abzuſchmelzen beginnt — bekanntlich 
tritt dieſe Erſcheinung bei unſern mit ſo 
bedeutend größerer Geſchwindigkeit fortge— 
ſchleuderten Flinten-Projektilen noch weit 
eklatanter hervor, indem beim Auftreten der 
Geſchoſſe ein beträchtliches Quantum mecha— 
niſcher Arbeit mit einem male vernichtet 
und in Molekular-Arbeit oder Wärme um— 


) Principiell ſtand eben Thomas doch 
noch ganz bei der alten Lehrmeinung, welche 
in der Materie der himmliſchen Körper etwas 
Beſonderes, Extratelluriſches erblickte. Schon 
deshalb konnte ein thomiſtiſcher Philoſoph 
eigentlich an die feurige Beſchaffenheit der 
Geſtirne nicht glauben. Und doch war, wie 
wir uns gleich nachher überzeugen werden, 
der Stifter dieſer Schule ſo vorurtheilsfrei, 
fi) theilweiſe von jenen Dogmen zu eman— 
cipiren; noch weit energiſcher erklärte ſich 
dagegen ſein Gegner, der als Vater des No— 
minalismus hochberühmte Duns Scotus. 
Wir entnehmen dieſe Daten Schneid's 


intereſſanter Monographie „Ariſtoteles in der 
Scholaſtik“, Eichſtädt 1875. 


geſetzt wird. Drum hat Thomas, der 
das Auftreten der Wärme lediglich aus 
der Bewegung herleitet, unzweifelhaft den 
Hergang richtiger erfaßt, als jener Alexan— 
der,“) gegen deſſen Theorie er polemiſirt, 
und der dafür hält, die erwärmte Luft er— 
hitze erſt den Pfeil. 

Wie kommt es nun aber, ſo lautet ein 
weiterer Einwurf, daß die Wärme, welche 
uns aus dem Himmelsraume zugeführt 
wird, nicht immer quantitativ die nämliche 
iſt, ſondern ſowohl eine tägliche als jähr— 
liche Periode einhält? Die Gründe dieſes 
Wechſels liegen natürlich in der verſchiedenen 
Entfernung und Stellung der Sonne gegen 
die Erde, allein es bleibt noch unterſchieden, 
wie ſich dieſe unleugbare und augenfällige 
Thatſache aus dem früher normirten Zu— 
ſammenhang zwiſchen Wärme und Bewegung 
ableiten läßt. Averross betrachtet es ſchlecht— 
hin als eine Grundeigenſchaft des Warmen, 
zugleich ein Bewegliches zu ſein, allein die 
Troſtloſigkeit dieſer Definition und beſonders 
deren gänzliche Unzulänglichkeit für die von 
ihm aufgeworfene Frage leuchtet dem Aqui— 
naten ſehr deutlich ein. „Beweglich,“ meint 
er, „iſt jeder Naturkörper, er ſei warm oder 
kalt, und die in Kreiſen umlaufenden 
Himmelskörper haben mit Wärme oder 
Kälte ihrer Weſenheit nach gar nichts zu 
thun.“ Und zweitens iſt des Arabers Deu— 
tung ein Hyſteron Proteron; die Bewegung 
als Urgrund der Wärme betrachten, heißt 
nichts anderes als den cauſalen Zuſammen— 


) Dieſer Alexander ab Hales, ein 
Britte, gehört zu den älteren Vertretern der 
wiſſenſchaftlichen Scholaſtik. Obwohl mehr der 
theologiſchen als der philoſophiſchen Seite 
dieſer Richtung zugethan, genoß er doch als 
Doctor irrefragibilis eine große Autorität, 
und ſpeciell Thomas beruft ſich gern auf 
ihn, wiewohl nicht durchaus zuſtimmend. 


240 


hang umkehren und die Wirkung zur Ur— 
ſache ſtempeln. 


Für ihn ſelbſt, den hl. Thomas, iſt 
die Wärme eine „Alteration“ der Körper 


in Folge der Bewegung. Der eigentliche 


Begriff, der mit jenem Terminus verbunden 
wird, erſcheint nun allerdings nach unſerem 


Gefühle durchaus nicht klar geſtellt, er iſt 
viel zu ſehr mit Worten umwickelt, die 
nach heutigen Anſchauungen keinen reellen 
Inhalt repräſentiren und wohl auch damals 


nur theilweiſe repräſentirten. Indeß ſcheint 


es doch ſo ziemlich ſicher, daß jene Altera— 
tion als eine Zuſtandsänderung der den 
Körper bildenden Partikeln aufgefaßt wurde, 
welche ſich nach außen hin als Wärme— 
Erſcheinung fühlbar machte. Dafür, daß 
wir in die Worte des Autors nicht einen 
zu hohen und fremdartigen Sinn hinein⸗ 
legen, können wir aber glücklicherweiſe noch 
aus anderen Schriften desſelben einzelne 


Zeugniſſe beibringen. In ſeiner Diſputation 


„de potentia“ erklärt er ausdrücklich die 
Wärme als reine Bewegungserſcheinung, 
und in der durch ihre philoſophiſchen Aper- 
eus intereſſanten Abhandlung „von der 
Seele“ läßt er Licht und Wärme durch 
Zuſammendrückung und Expanſion eines 
den Raum erfüllenden Mediums entſtehen. 
So wenig hiſtoriſch es ſein würde, nun 
gleich den Thomas von Aquin zum 
Schöpfer der modernen Euler-Fres— 
nel'ſchen Lichtlehre zu erheben, jo verdient 
doch auf der andern Seite die Entſchieden— 
heit Beachtung, mit welcher er ſich gegen 
die grobſinnliche Emiſſionshypotheſe und die 
ſpezifiſchen Licht-Atome des Democrit er— 
klärt. In Zuſammenhang mit dieſer ſeiner 
correkteren Auffaſſung der Lichtphänomene 
mag es auch ſtehen, daß er in eben dieſem 
Commentar zum ariſtoteliſchen Werk „de 


Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 


reelle Thaͤtſache gegen die dem zuwider— 
laufenden Velleitäten des Stagiriten ver— 
theidigt *). 

Nehmen wir jetzt den Faden unferer 
Schilderung wieder auf. Thomas tritt, nach— 
dem die Art und Weiſe der Wärmewirkung 
der Geſtirne (Sonne) wenigſtens zum Theile 
feſtgeſtellt iſt, in die Discuſſion der Um— 
ſtände ein, welche eine Einwirkung der 
Sternwärme auf unſere Atmoſphäre er— 
möglichen. Angeſichts der heftigen Kämpfe 
welche in allerneueſter Zeit die Streitfrage 
der fernewirkenden Kräfte provocirt hat, 
iſt die naive und doch durchaus nicht geiſt— 
loſe Löſung des alten Forſchers recht be— 
merkenswerth. Der Fabuliſt Plinius 
erzählt uns — und der arabiſche Natur- 
hiſtoriker Kazwini betet es ihm getreulich 
nach — daß ein Fiſch, Stupor oder 
Schrecken benamſt, wenn er in's Netz ge— 
räth, dem dieſes Netz in der Hand halten— 
den Fiſcher einen Schauer einzuflößen ver— 
mag, von welchem das die Bewegung ver— 
mittelnde Garn gänzlich unberührt bleibt. 
So denkt er ſich, müſſe es auch im Kosmos 
ergehen; die z. B. von der Sonne als 
Agens ausgehende Alteration überträgt ſich 
von Sphäre zu Sphäre; dieſe ſelbſt er- 
leiden gar keine Störung, aber die letzte 
von ihnen, an welche die irdiſche Lufthülle 
angrenzt, giebt den ihr zugeführten Ein— 
druck an dieſe weiter und bewirkt ſo in 
letzter Inſtanz die mehr oder minder inten— 
five Wärme -Erregung des Luftkörpers. 
Wären dem hl. Thomas die Geſetze des 


) Für einzelne Individuen tritt, wie 
Schneid (S. 87) bemerkt, Thomas aller- 
dings der Ariſtoteliſchen Lehre bei. Jedenfalls 
bekundet er einen freieren Blick, als der in 
Fragen der Naturkunde ihm ſonſt überlegene 
Roger Bacon, der die Seintillation als 


coelo* das Funkeln der Sterne als eine eine bloße Geſichtstäuſchung anfieht. 


0 


elaſtiſchen Stoßes bekannt geweſen, er hätte 
mit allem Fug das beliebte Experiment von 
den in einer Reihe aufgehängten Billard— 
kugeln als Analogon dieſer neutralen Be— 
wegungs- Uebertragung namhaft machen 
können. — Zu einer Zeit, welche zwiſchen 
Wärmeleitung und Wärmeſtrahlung noch 
keinen Unterſchied zu machen verſtand, iſt dieſe 
Denkweiſe wohl kaum auffällig zu nennen ). 

Die Phänomene der Diathermanſie 
ſchaffen unſerem Gewährsmanne überhaupt 
viel Kopfzerbrechen; es iſt ihm nicht recht 
erklärlich, wieſo es auf hohen Bergen, die 
doch dem wärmeſpendenden Organ weit näher 
ſind, kälter ſein ſoll als in der Ebene. 
Hätte Simplicius, der Licht und Wärme 
durch die „Poren“ der Luft ſich verbreiten 
ließ, das Richtige getroffen, ſo ließe ſich 
dafür ſchon eher eine Erklärung geben, 
allein — und damit kommt Thomas auf 
ſeine Undulationstheorie zurück — der Licht— 
und Wärmeſtrahl iſt ſicherlich kein „Deflux“ 
des betreffenden Körpers. Zum Schluß 
werden auch den gegenſeitigen Wechſelbe— 
ziehungen zwiſchen Licht und Wärme einige 
Worte gewidmet, beide ſind unzertrennlich, 
und jede Lichtgattung hat die Kraft zu er— 
wärmen (vis calefactiva), ſogar das Mond— 
licht. Wie lange dauerte es, bis dieſer 
richtigen Ahnung durch die ſchönen Experi— 
mente eines Melloni und Piazzi Smith 
die erfahrungsmäßige Beſtätigung zu Theil 
ward! 

) Es ſcheint wahrſcheinlich, daß Tho— 
mas die Kryſtallſphären des Ariſtoteles 
nicht völlig billigte; denn wäre ſeine Ortho— 
doxie untadelhaft geweſen, ſo hätte die Durch— 
leitung der Kraftanregung durch die durch— 
ſichtigen, ja weſenloſen Kugelſchalen wohl 
kaum Schwierigkeiten verurſacht. So läßt 
ja auch Dante in ſeinen kosmiſchen Poeſieen 
Licht und Wärme ohne jedes Hinderniß vom 
Empyreum zur Erde wandern. 


Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 


241 


Im Allgemeinen iſt die Entwicklungsweiſe 
unſeres Philoſophen keine ſo leicht dahin 
fließende, daß es ſehr leicht wäre, ſeine 
Anſichten in kurzen, präciſen Theſen zu— 
ſammenzufaſſen. Seine Wärmetheorie jedoch 
macht eine lobenswürdige Ausnahme, denn 
mit wenigen markigen Zügen entwirft er 
von jener folgendes Bild: „Zweifach ſind 
die Quellen der Wärme; als die eine iſt 
die Bewegung der Himmelskörper zu be— 
trachten, welche Wärme erzeugt und den 
irdiſchen Körpern übermittelt, die andere 
Quelle iſt das Licht.“ — Der erhabene 
Standpunkt der modernen Thermodynamik 
hat allerdings dieſe beiden anſcheinend ver— 
ſchiedenen Urſachen einheitlich aufzufaſſen 
gelehrt, und wir wiſſen zur Zeit, daß die 
Sonnenſtrahlen gewiſſermaßen als der einzige 
Motor für alle auf unſerem Planeten 
thätigen Kräfte gelten müſſen, allein zur 
Zeit des eben erſt aus der Finſterniß der 
Kreuzfahrerzeit ſich emporſchwingenden ſcho— 
laſtiſchen Gelehrtenthums war die Erklärung 
des „engliſchen“ Lehrers eine ſolche, die 
nicht nur ſeine Zeitgenoſſen, ſondern auch 


noch manches ſpätere Jahrhundert vollauf 


zu befriedigen im Stande ſein mußte. 
Hiermit können wir denn auch unſere 
Skizze als beendigt betrachten. Die Ge— 
ſchichtsforſchung auf phyſikaliſchem wie auch 
auf philoſophiſchem Gebiete hat ſich der 
unerläßlichen Pflicht, auch die ſcholaſtiſche 
Uebergangsperiode als ein nothwendiges 
Glied in der Entwickelungsgeſchichte der 
Wiſſenſchaft eingehend zu ſtudiren, bislang 
allzuſehr entzogen; ſie wird das nachholen 
müſſen, und für junge hiſtoriſche Kräfte 
findet ſich hier reichſter Arbeitsſtoff für 
monographiſche Themata. Vorſtehende Zeilen 
ſollen wenigſtens dazu helfen, das Eis zu 
zu brechen; wir geben uns der Hoffnung 


hin, daß das Endreſultat unſerer Unter— 


8 Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. | 


ſuchung von künftigen Bearbeitern der mittel- erſt ſeit Begründung der neueren mechaniſchen 
alterlichen Wiſſenſchaftsgeſchichte nicht außer Phyſik im richtigen Lichte erſcheinen. Speciell 
Acht gelaſſen werde. Dieſes Reſultat iſt hervorzuheben iſt ſeine originale und an die 
folgendes: moderne Schwingungstheorie wenigſtens an— 
Wenn auch vielfach beengt durch | klingende Definition von Licht und Wärme 
die ſtarren Dogmen des aprioriſtiſchen als verſchiedenen Ausdrucksformen eines und 
Ariſtotelismus hat doch Thomas A qui- deſſelben intermolekularen Bewegungszu— 
nas als der Erſte richtigere Anſichten über ſtandes. 
ſolche Gegenſtände ausgeſprochen, welche uns 


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Tamarck und Darwin. 
Lin Beitrag zur Geſchichte der Enkwicklungslehre. 


Von 


Dr. Arnold Tang. 


III. 


Die „Hydrogeologie* Lamarcks. 


N 7 
RR) 
1 12 
er, 5 


ON ur forſcher, der fo allſeitige Stu— 
I dien gemacht und über das 

Q Geſammtgebiet der Natur- 
wiſſenſchaften ſo umfaſſende Studien auf— 
geſtellt hat, als Lamarck. Von ſeinem 
20. bis 49. Jahre hatte er ſich vorwie— 
gend mit Botanik beſchäftigt. Außer der 
„Flore francaise* hatte er das klaſſiſche 
„Dictionnaire de Botanique“ zur „En- 
eyelopedie methodique“ von Diderot 
und d' Alembert geſchrieben, ferner ein 
großartiges Werk unter dem Titel „Illu— 
stration des Genres“. Während dieſer 
Zeit hatte er ſich außerdem mit Phyſik, Che— 
mie und Meteorologie beſchäftigt. — Die 
Idee, daß alles, was wir beobachten kön— 
nen, geſetzmäßig und natürlich vor ſich 
gehe, hatte ſchon frühzeitig im Geiſte La— 
marck's Wurzel gefaßt. Als er, der 


A 


überhaupt ſein ganzes Leben lang mit 
Noth und Entbehrung zu kämpfen hatte, 
unter den kümmerlichſten äußeren Verhält— 
niſſen von ſeinem 20. bis 24. Lebensjahre 
in Paris Medizin ſtudirte und ein kleines 
armſeliges Dachſtübchen bewohnte, welches 
ihm nur die Ausſicht auf den Sternen— 
himmel geſtattete, gab er ſich, überzeugt, 
daß auch in den ſcheinbar ſo ungeordneten 
und zuſammenhangloſen Veränderungen der 
Atmoſphäre Geſetzmäßigkeit herrſche, der 
Beobachtung der Wolken und Witterung 
hin. Obſchon nun alle meteorologiſchen, 
chemiſchen und phyſikaliſchen Theorien La— 
marck's keinen Werth für die exakte 
Wiſſenſchaft haben, da ſie nicht auf dem 
Experiment fußen, ſo ſind ſie doch höchſt 
charakteriſtiſch für ſein Streben, im Wechſel 
der Erſcheinungen das Geſetzmäßige aufzu⸗ 
finden. Noch bis zu Anfang dieſes Jahr— 


A 


32 


hunderts beſchäftigte er ſich mit den ge— 
nannten Zweigen der Naturwiſſenſchaft. 
Er wollte ſeine ſämmtlichen Beobachtungen 


und Theorien in einem einzigen großen 


Werke zuſammenfaſſen. Dieſes Werk ſollte 


den Titel „Physique terrestre“ führen 


und in drei Theile zerfallen. Im erſten 
Theile, der „Hydrogéologie“, wollte er 


die Entſtehung der gegenwärtigen äußeren 


Erdkruſte erklären; im zweiten, der „Mé— 
téorologie“, die Atmoſphäre und ihre 
Veränderungen behandeln, und im dritten, 
der „Biologie“, ſeine allgemeinen Betrach— 
tungen und Theorien über die Organismen 
niederlegen. 

Dieſes Vorhaben hat Lamarck indeſſen 


nicht vollſtändig ausgeführt. Die „Meteo- 
Jahre 4801. 


rologie“ blieb ungeſchrieben, mehrere kleine 
Schriften über dieſe Wiſſenſchaft hat er 
um die Wende des Jahrhunderts heraus— 
gegeben. Ebenſo hat er auch die „Biologie“ 
nicht geſchrieben, hat aber in ſeinem kleinen 
Werke „Recherches sur organisation 
des corps vivans“ die Anſichten, die er 
in derſelben ausführlich darlegen wollte, 
kurz zuſammengefaßt. Wir können indeſſen 
die „Philosophie zoologique* für feine 
„Biologie“ halten, da ſich die darin nie— 
dergelegten Betrachtungen nicht blos auf 
die Thiere, ſondern zum großen Theile 
auch auf die Pflanzen erſtrecken. Von 
allen drei Theilen erſchien in der urſprüng— 
lich beabſichtigten Form nur die „Hydro- 
geologie*, die für uns von Intereſſe iſt; 
denn es iſt klar, daß Verallgemeinerungen 
über die Entſtehung der Organismen ſich 
im Einklang befinden müſſen mit den 
Thatſachen der Geologie und den durch 
ſie geſtützten Theorien. Wir werden nun 
ſehen, daß die geologischen Theorien La— 
marck's, ſo phantaſtiſch ſie zum Theil 
auch ſein mögen, die Entſtehung der Erd— 


2 


Lang, Lamarck und Darwin. 


rinde und Bildung ihrer Oberfläche durch na— 
türliche, heute noch wirkende Urſachen als eine 
zuſammenhängende, ununterbrochene Entwicke— 
lung nachzuweiſen bemüht ſind. Nur unter 
einer ſolchen Vorausſetzung konnte er auch 
die Entſtehung der heutigen Organismen— 
welt als eine zuſammenhängende, allmälige 
Entwickelung auffaſſen. So lange in der 
Geologie und Paläontologie die zu ſeiner 


Zeit allgemein angenommenen und von 


Cuvier für lange Zeit zum Dogma ge— 
machten Umwälzungstheorien herrſchend wa— 
ren, mußte man auf eine Erklärung von der 
Entſtehung der Organismen vollſtändig vefig- 
niren oder zu der Annahme ſpontaner Schö— 


| pfungen ſeine Zuflucht nehmen. 


Die „Hydrogeologie* erſchien im 
Lamarck ſtellt ſich darin 
vier Hauptfragen, deren Löſung ihm für 
eine richtige, natürliche Geologie von größ— 
ter Wichtigkeit zu ſein ſchien. Dieſe Fra— 
gen ſind ſehr gut gewählt. Lamarck be- 
gnügt ſich aber nicht damit, nur die durch 
Beobachtung erlangten Antworten darauf zu 
geben, ſondern er will ſie gleich erſchöpfend 
beantworten und dadurch das ganze Problem 
von der Entſtehung der Erdoberfläche löſen; 
daher die oft wunderlichen und abenteuer— 
lichen Gedanken, die in feiner „Hydro- 
géologie“ neben manchen wahren und be— 
gründeten Anſichten angetroffen werden. 
Die erſte Frage lautet: 

„Welches ſind die natürlichen 
Folgen des Einfluſſes und der 
Bewegungen des Waſſers auf die 
Erdoberfläche?“ 

Lamarck hält dieſe Frage mit Recht 
für ſehr wichtig, weil ſie, wie er ſagt, der 
Phantaſie am wenigſten Spielraum laſſe 


und weil ſich ihre Beantwortung nothwen⸗ 


diger Weiſe auf die Betrachtung noch heute 
geſchehender Vorgänge ſtützen müſſe. In 


Kirn 


erſter Linie unterſcheidet er die Bewegungen 
des ſüßen Waſſers auf den Continenten 
von den Bewegungen des Salzwaſſers im 
Meeresbecken. Beide bringen in letzter 
Linie entgegengeſetzte Wirkungen hervor, ſie 
halten ſich gegenſeitig das Gleichgewicht. 
Die Bewegungen des ſüßen Waſſers auf 
dem Feſtlande bewirken eine zunehmende 
Degradation und Verringerung deſſelben, 
indem ſie beſtändig Theile von ihm los— 
löſen, in das Meer tragen und deſſen 
Becken auszufüllen ſtreben. Die Bewegun— 
gen des Waſſers im Meere hingegen ſollen 
nach Lamarck, wie er bei Beantwortung 
der folgenden Frage darzulegen verſucht, 
die beſtändige Aushöhlung und Vertiefung 
des Meeresbeckens zur Folge haben. 

An den trockenen Theilen der Erde 
nagen die Winde und Orkane, löſt der 
Regen und der ſchmelzende Schnee beſtändig 
kleine Theilchen ab. 


tigkeit und die Einwirkung der Atmoſphäre 


zerbröckeln die blosliegenden Theile der Erd⸗ 


oberfläche. Nichts kann dieſem Wechſel 
widerſtehen. Alles verwittert. Die zer— 


bröckelten und losgelöſten Theile werden 
durch das von der Höhe in die Tiefe ab— 
fließende Waſſer mitgeführt. Durch dieſe 
Bewegung des Waſſers ſelbſt werden wie— 
der Theile losgelöſt. 
in Quellen hervor und ſammelt ſich zu 
Bächen, dieſe treten zu Flüſſen zuſammen, 
die Flüſſe wiederum zu Strömen, die ſich, 
immer die losgelöſten feſten Theilchen mit— 
reißend, ins Meer ergießen. Im verhält— 
nißmäßig ruhigen Meere ſinken dieſe Theil— 
chen vermöge ihrer eigenen Schwere zu 
Boden. — Dies ſind die Wirkungen, ſagt 
Lamarck, welche die Bewegungen des 
Waſſers auf dem Feſtlande noch heutzu— 
tage haben. Sie ſind für den Menſchen 


Der Wechſel von 
kalt und warm, von Trockenheit und Feuch-⸗ 


Das Waſſer tritt 


Lang, Lamarck und Darwin. 


245 


beinahe unmerklich, im Laufe der Zeiten 
ſummiren ſie ſich aber und werden höchſt 
bedeutend. 

Man ſtelle ſich, ſagt Lamarck, vor, 
daß jeder Continent urſprünglich eine un— 
geheure, ausgedehnte Ebene bildete. In dieſer 
Ebene werden dann lokale Regengüſſe Ver— 
tiefungen oder Aushöhlungen, in denen ſich 
das Waſſer anſammelte, hervorgerufen haben. 
Das Waſſer derjenigen Vertiefungen nun, 
welche ſich in der Nähe des Meeres be— 
fanden, wird ſich im Laufe der Zeiten Wege 
zu dem tiefer gelegenen Meere gebahnt haben. 
Durch dieſe Wege floß nun das Waſſer 
ab und vertiefte allmälig die urſpünglichen 
Rinnen. In dem Maße, als ſo die dem 
Meere zunächſt gelegenen Vertiefungen be— 
trächtlicher wurden, konnte ſich auch das 
Waſſer der vom Meere weiter entfernten 
Vertiefungen einen Durchbruch zu den tiefer 
gelegenen Aushöhlungen und Becken in der 
Nähe des Meeres verſchaffen und durch 
dieſe in letzteres abfließen. 

Aus den anfänglich unbedeutenden Rinnen 
und Furchen entſtanden tiefe Flußbetten, 
Thäler. Die Ränder der Furchen wurden 
zu den Ufern der Flüſſe, zu den die Thäler 
umſchließenden Höhen. Dadurch nun, daß 
ſich die Bäche, Flüſſe und Ströme ver— 
mehrten und vermannigfaltigten, entſtanden 
aus den anfänglichen Hochebenen Gräte, 
Thäler umgrenzend. Durch Aufſaugung 
von Feuchtigkeit ſammelte ſich im Innern 
der Gräte Waſſer an, welches äußerlich 
in Form von Quellen hervortrat. Durch 
die Wirkung des Regens, der Atmoſphäre 
und der aus den Quellen entſtehenden Bäche 
wurden die Gräte zerklüftet, bildeten Berge. 
In dieſer Weiſe iſt nach Lamarck die er— 
ſtaunliche Mannigfaltigkeit in der Boden— 
geſtaltung der Continente entſtanden. — 
Lamarck iſt ganz conſequent, wenn er ſagt: 


246 


„Es iſt alfo meiner Anſicht nach ganz 
evident, daß jeder Berg, welcher nicht das 
Reſultat einer vulkaniſchen Eruption oder 
irgend einer andern lokalen Kataſtrophe iſt, 
in einer Ebene gebildet wurde, in ihrer 
Maſſe zu Stande kam und früher ſelbſt 
einen Theil derſelben ausmachte, ſo daß die 
Gipfel dieſer betreffenden Berge nur Reſte 
des alten Niveau's dieſer Ebene darſtellen, 
wenn die Abwaſchungen und andere Ur— 
ſachen der Degradation nicht ſeither ihre 
Verkürzung bewirkt haben.“)“ 

Lamarck fühlt indeſſen die Unzuläng— 
lichkeit dieſer ſeiner Theorie über die Ent— 
ſtehung der Berge, hauptſächlich wenn er 
an die höhern Gebirge denkt. Er ſieht ſich 
deshalb noch nach andern Erklärungsprincipien 


um. Ein ſolches findet er in der vulkaniſchen 


Thätigkeit und beruft ſich dabei darauf, daß 
die höchſten bekannten Berge Vulkane ſeien. 


Wir werden gleich nachher noch andere 


auxiliäre Erklärungsprincipien bei ihm finden. 

Die Bewegung des ſüßen Waſſers auf 
den trockenen Theilen der Erdoberfläche 
würden, ſagt Lamarck, die fortſchreitende 


Erniedrigung der Continente zur Folge 


haben und die Erde würde ſich ſchließlich 
mit einer gleichmäßigen Waſſerhülle um⸗ 
geben, wenn nicht die Wirkungen anderer 
Urſachen dieſe Wirkung der Bewegung des 
Waſſers auf den Continenten ausgleichen 
würden. Er findet dieſe Urſachen in ge— 
wiſſen Bewegungen des Meereswaſſers, durch 
welche das Meeresbaſſin, das ſonſt durch 


die von den Flüſſen angeſchwemmten Ma- 


terialien immer mehr angefüllt und ver- 
flacht würde, beſtändig wieder vertieft und 
ausgehöhlt wird. An Hebungen und Sen— 
kungen des Bodens denkt Lamarck nicht 
und dieſer Umſtand bedingt, wie wir ſehen 


) Hydrogeologie, Seite 14. 


Lang, Lamarck und Darwin. 


werden, die größten Irrthümer ſeiner 
geologiſchen Theorien. — Ueber die von 
Lamarck ſupponirte Wirkung der Be— 
wegungen des Meereswaſſers giebt uns 
Auskunft die Antwort auf die zweite Frage: 

„Warum hat das Meer beſtän— 
dig ein Becken und beſtimmte Gren— 
zen, welche es von den immer über 
daſſelbe hervorragenden, trodes 
nen Theilen der Erdoberfläche 
trennen?“ ) 

Hat ſich Lamarck ſchon bei der Be- 


antwortung der erſten Frage keineswegs 


ſtreng an das Thatſächliche gehalten, ſo thut 
er dies noch viel weniger bei Beantwortung 
dieſer Frage. — Das Meer iſt beſtändig 
in verſchiedenartiger Weiſe bewegt. Die 
einen Bewegungen deſſelben, es ſind dies 
die unbedeutendſten, werden durch die Winde 
verurſacht. Andere werden durch unterirdiſche 
Vulkane hervorgerufen. — Ferner giebt 
es beſtimmte Strömungen im Meere. Die 
einflußreichſten Bewegungen deſſelben aber 
werden durch die Anziehungskraft des Mondes, 
zum geringen Theile auch durch die der 
Sonne hervorgerufen; es ſind dies die regel— 
mäßigen Oscillationsbewegungen des Meeres, 
die Bewegungen der Ebbe und Fluth. Alle 
dieſe Bewegungen bewirken nach Lamarck 
die beſtändige Aushöhlung des Meeres— 
beckens und verhindern ſo deſſen Verflachung 
durch die fortwährend von den Flüſſen zu⸗ 
geführten, feſten Beſtandtheile. Dieſe werden 
nämlich ſeiner Anſicht nach an den Küſten 
wieder durch das Meer ausgeworfen und 
zwar in Folge einer Urſache, die Lamarck 
bei der Beantwortung der dritten Frage 
erörtert, immer an ganz beſtimmten Küſten, 
welche vom Meere verlaſſen werden. — Die 
Erhaltung der Meeresbecken ſchreibt alſo 


) Hydrogeologie, Seite 26. 


1 


Lang, Lamarck und Darwin. 


247 | 


Lamarck hauptſächlich der Anziehungskraft dafür, daß es früher an Orten 


des Mondes, welche die Bewegung der Ebbe 


und Fluth des Meeres bedingt, zu. Wäre 


der Mond größer, ſo würden die Meeres— 


becken an Umfang abnehmen, aber eine viel 


bedeutendere Tiefe erlangen. Wäre der 
Mond hingegen kleiner, ſo würden die 
Meeresbecken im Gegentheil eine viel be— 
deutendere Ausdehnung bekommen, aber auch 
entſprechend verflachen. Wenn endlich die 
Erde gar keinen Satelliten hätte, ſo würde 
das Waſſer um die Erde herum eine gleich— 
mäßige, continuirliche Hülle bilden. 


Bei Beantwortung der zweiten Frage 


gelangt Lamarck noch zu einer anderen 
Annahme. Er ſagt, nur wenn das Waſſer 
um die Erde herum eine gleichmäßige Hülle 


bildete, würde der Mittelpunkt ihrer Geſtalt 


mit ihrem Schwerpunkt zuſammenfallen. 


Da dem nun nicht ſo iſt, ſo müſſen dieſe | 


beiden Punkte nothwendig etwas von ein— 
ander entfernt liegen, wenngleich nur ſehr 
wenig, da die Tiefe des Meeres und die 
Höhe der Berge im Vergleich zum Erd— 
radius außerordentlich klein iſt und alſo 
die Abweichung, die durch das geringere 
ſpezifiſche Gewicht des Waſſers und das 
größere ſpezifiſche Gewicht der die Gebirge 


bildenden Felsmaſſen entſteht, in Anbetracht 


der ganzen Erdmaſſe ſehr klein und unbe— 
deutend iſt. Da ſich nun nach Lamarck, 
wie wir gleich ſehen werden, die Configu— 
ration der Meere und Continente beſtändig 
verändert, ſo muß ſich auch der Schwer— 
punkt der Erde und die Rotationsachſe 
derſelben verändern. — Seine Anſichten 
über 
Lamarck nieder in ſeiner Antwort auf 
die dritte Frage, welche lautet: 

„Iſt das Meeresbecken immer 
da geweſen, wo es ſich gegenwär— 
tig befindet? Giebt es Beweiſe 


die Deplacirung der Meere legt 


war, wo es jetzt nicht mehr iſt? 
Im bejahenden Falle, welches 
waren die Urſachen, daß es ſich 
da befand und warum befindet 
es ſich gegenwärtig nicht mehr 
da 
Obſchon Lamarck annimmt, daß die 
Bewegungen des Meeres, hauptſächlich die 
der Ebbe und Fluth, das Meeresbecken, 
das ſonſt durch die von den Flüſſen ange— 
ſchwemmten Materialien gefüllt würde, 
beſtändig aushöhlen, ſo giebt er doch zu, 
daß ſich die Meeresbecken, trotz dieſer Be— 
wegungen, mit der Zeit anfüllen würden, 
wenn ſich die Lage der Meere nicht ver— 
änderte. Er behauptet nun einerſeits 
a priori, daß die Meere aus allgemeinen 
| phyſikaliſchen Gründen ihre Lage verändern 
müſſen, und anderſeits a posteriori, es ſei 
bewieſen, daß ſie dieſelbe wirklich verän— 
dert haben. Das Waſſer der Meere dreht 
ſich, wie alle Theile der Erdkugel, von 
| Weſten nach Oſten um die Erdachſe. Da 
nun das Waſſer vermöge der leichten Ver— 
ſchiebbarkeit feiner Theile der Anziehungs— 
kraft des Mondes eher gehorchen kann, 
als die übrigen, trockenen und feſten Theile 
der Erde, ſo muß daſſelbe nothwendiger⸗ 
weiſe immer ein wenig langſamer um die 
Erde rotiren, als dieſe Theile. Daraus 
muß ſich nothwendigerweiſe mit Bezug 
auf das Feſtland eine langſame Bewegung 
des Meeres nach Weſten ergeben. Dieſe 
Bewegung iſt unabhängig von den Bewe— 
gungen der Ebbe und Fluth, die fortlau— 
fend unter den aufeinanderfolgenden Meri⸗ 
dianen ſtattfinden. Die Folge derſelben iſt, 
daß die Waſſermaſſen des Meeres beſtändig 
gegen die öſtlichen Küſten der Continente 


) Hydrogèologie, S. 39. 


er 


anprallen, dieſelben alteriven und mit der 


Zeit immer mehr überfluthen müſſen, wäh— 


rend die weſtlichen Küſten der Continente 


nothwendigerweiſe allmälig vom Meere ver— 
laſſen werden. Lamarck führt zahlreiche 
Thatſachen an, die für die Richtigkeit dieſer 
ſeiner Theorie ſprechen ſollen. Wir können 
hier nicht näher auf dieſelben eingehen. — 


In Folge der allgemeinen Bewegung des 


Meeres von Oſten nach Weſten werden die 
durch die Flüſſe in daſſelbe geſchwemmten 


Materialien nicht an allen Küſten ausge 


worfen, ſondern nur an denjenigen, welche 
das Meer verläßt, d. h. insbeſondere an 


den weſtlichen Küſten der Continente, welche 


in Folge vorrücken und höher 


werden. 


deſſen 


Nachdem nun Lamarck bewieſen zu 
haben glaubt, daß die Veränderung der 
Lage der Meere eine phyſikaliſche Noth- 
wendigkeit ſei, will er noch thatſächliche 
Beweiſe dafür anführen, daß Theile des 
vom 


jetzigen Feſtlandes wirklich früher 
Meere bedeckt geweſen ſeien. 

An den meiſten Stellen der Erdober— 
fläche, ſagt Lamarck, auf ſehr hohen 
Bergen, in der Ebene, in tiefen Brunnen, 
im Innern der Felſen finden wir authen— 
tiſche Ueberreſte von Pflanzen und Thieren. 
Dieſe Foſſilien finden meiſtens ihre Analoga 
in den heute noch lebenden Formen. Durch 
ihre Vergleichung mit dieſen laſſen ſich 


Schlüſſe ziehen auf die Medien, welche die 


lebenden Organismen, von denen dieſe Foſſi— 
lien herrühren, bewohnt haben. So können 
wir, wenn wir eine verſteinerte, zwei— 
ſchalige Muſchel auffinden, nicht daran 
zweifeln, daß das dazu gehörige Thier im 
Waſſer gelebt hat, denn alle bekannten, 
jetzt noch lebenden zweiſchaligen Muſcheln 
ſind an das Leben im Waſſer gebunden. 
In gleicher Weiſe können wir feſtſtellen, 


Lang, Lamarck und Darwin. 


ob gewiſſe Organismen, die uns im ver— 
ſteinerten Zuſtande erhalten ſind, in der 
Luft (auf dem Feſtlande) oder im Waſſer, 
im ſüßen oder im ſalzigen Waſſer, in 
ſtehenden oder fließenden Gewäſſern, am 
Strande des. Meeres oder auf offener 
See gelebt haben. — Dieſe höchſt wichtige 
und richtige Unterſcheidung, beſonders der 
littoralen Foſſilien von den pelagiſchen, hat 
Lamarck, wie wohl keiner vor ihm, ſehr 
genau durchgeführt. 

Um das Vorhandenſein von Meeres— 
foſſilien auf dem Feſtlande und ſogar auf 
hohen Bergen zu erklären, hatte man da— 
mals gemeiniglich große und allgemeine 
Cataſtrophen angenommen, in Folge deren 
die Meeresorganismen oder ihre Verſteine— 
rungen aus dem Meere an dieſe Orte ge— 
langt ſeien. — Lamarck beſtreitet dieſe 
Theorie aufs heftigſte und behauptet, daß 
ſie allen bekannten Erſcheinungen, ſowie dem 
bekannten Gange der Natur widerſpreche. 
Die Organismen, die wir im verſteinerten 
Zuſtande vorfinden, haben im Gegentheil 
an den nämlichen Orten gelebt, an denen 
wir ſie vorfinden, ſagt Lamarck, und mit 
Recht bemerkt er, daß man nicht alle mög— 
lichen Arten von Foſſilien bunt zufammten- 
gewürfelt antrifft, ſondern daß eine be— 
ſtimmte Ordnung unverkennbar vorhanden 
iſt, und daß die Thatſache, daß bei den 
zweiſchaligen Muſcheln gewöhnlich noch beide 
Schalen vorhanden ſind, ſich mit der An— 
nahme allgemeiner Cataſtrophen ſchlechter— 
dings nicht vereinigen laſſe. — Wenn man 
auf dem Feſtlande Verſteinerungen von 
Meeresthieren antrifft, jo iſt dies nach La— 
marck eben ein Beweis dafür, daß die be— 
treffenden Stellen früher zum Meeresboden 
gehört haben. Hinſichtlich der Foſſilien von 
Süßwaſſer- und Landthieren müſſe man 
allerdings annehmen, daß ſie zufällig durch 


. 


i 


——ůůů———ů—ů ——ů— 


Lang, Lamarck und Darwin. 249 


die Flüſſe ins Meer geführt und dort ab- man in kalten Gegenden Ueberreſte von 


gelagert und verſteinert worden ſeien. La- 
marck ſcheint nämlich anzunehmen, daß ſich 


in Flüſſen und Seen keine Ablagerungen 
bilden und keine Organismen verſteinert 
werden können. — Wenn man an einer 
Stelle Foſſilien von Strandformen findet, 
ſo kann man nach Lamarck mit Sicherheit 
annehmen, daß die betreffende Stelle früher 
zum Meeresſtrande gehörte; findet man in 
einer Schicht Hochſeefoſſilien, ſo iſt dieſe 
Schicht gewiß am Boden des offenen Meeres 
abgelagert worden. 

Die Thatſache, daß man überall auf 
dem Feſtlande Meeresfoſſilien antrifft, hält 
Lamarck für einen Beweis dafür, daß das 
Meer in ſeiner Bewegung von Oſten nach 
Weſten wenigſtens einmal um die ganze 
Erde herumgewandert ſei. Vielleicht ſei dies, 
nach gewiſſen Funden zu urtheilen, mehr 


als einmal geſchehen. Jede Stelle der Erd 


oberfläche, wo man Foſſilien findet, muß 
alſo, wie Lamarck ſagt, nothwendigerweiſe 
zweimal zum Meeresſtrande und einmal 
zum Grunde des offenen Meeres gehört 
haben. 

Wie ſchon früher bemerkt, hält Lamarck 
mit dem Schwerpunkt natürlicher Weiſe auch 
die Rotationsaxe der Erde für veränderlich. 
Der Schwerpunkt der Erde liege nothwen— 
digerweiſe jeweilen der größten Meerestiefe 
gegenüber; daraus folge, daß der Schwer— 
punkt der Erde einen vollſtändigen Kreis— 
lauf um den Mittelpunkt ihrer Geſtalt ge— 
macht habe, wenn ſich das Meer einmal 
um die ganze Erde herum bewegt habe. 
Wie ſich die Rotationsaxe der Erde dabei 
nun eigentlich des genaueren verhalten ſoll, 
darüber giebt uns Lamarck keinen nähern 
Aufſchluß. Er ſagt nur, daß ſie ſich auch 
verändere und will damit den Klimawechſel 
erklären und dadurch die Thatſache, daß 


Irrwege. 


Organismen finde, die nur in heißen Kli— 
maten gelebt haben konnten. Er glaubt, 
daß ſich Europa gegenwärtig dem Nordpol 
nähere und daß ſein Klima in Folge deſſen 
kälter werde. Wir werden gleich ſehen, daß 
Lamarck auch die außerordentliche Höhe 
gewiſſer Berge durch dieſe Annahme zu er— 
klären ſucht. 

Die vierte und letzte Frage lautet: 

„Welches iſt der Einfluß der 
Organismen auf die Stoffe, welche 
ſich auf der Erdoberfläche vorfin— 
den und ihre äußere Kruſte zu— 
ſammenſetzen, und welches ſind die 
allgemeinen Reſultate dieſes Ein— 
fluſſes?“ “) 

Wir können Lamarck nicht in die 
Einzelheiten ſeiner Beantwortung dieſer Frage 
folgen. Von grundfalſchen chemiſchen Theorien 
ausgehend, geräth er auf immer größere 
Die Organismen haben, wie er 
ſich ausdrückt, die Fähigkeit, ihre eigene 
Körperſubſtanz ſelbſt zu bilden. Die Pflan— 
zen bedürfen dazu nur der Luft, des Waſſers, 
der Wärme und des Lichts. Die ſo ent— 
ſtandenen Organismen werden mit der Zeit 
zu Humus. Der Humus kann zu Felſen 
werden. So nehmen nach Lamarck die 
trockenen Theile der Erdoberfläche durch die 
organiſche Thätigkeit der Thiere und Pflau— 
zen beſtändig an Höhe zu, indem immer 
neue Schichten von Humus gebildet werden. 

Aus der Thatſache, daß gewiſſe mächtige 
Geſteinsſchichten beinahe auschließlich aus den 
reſiſten Theilen von Organismen gebildet 
werden, wie die Korallenriffe, Muſchelbänke, 
Torf-, Steinkohlenlager u. |. w. zieht er 
den bedeutſamen, zum größten Theil richtigen 
Schluß, daß aller Kalk auf der Erdober— 


*) Hydrogéologie, Seite 91. 


| 250 Lang, Lamarck und Darwin. 


fläche durch thieriſche, alle Arten von Kohle 
durch pflanzliche Thätigkeit entſtanden ſeien. 
Er geht aber weiter. Seine falſchen chemiſchen 
Theorien von der Umwandlung der Geſteine 
bringen ihn auf den Gedanken, überhaupt 
ſämmtliche Mineralien und Felsarten, welche 
die äußere Erdkruſte zuſammenſetzen, mit 
Ausnahme des Quarzes als des Urgeſteins, 
als direkte oder indirekte Produkte orga— 
niſcher Thätigkeit zu betrachten. 

Zum Schluſſe bringt Lamarck noch 
eine neue und zwar, wie er nunmehr ſagt, 
die wichtigſte Erklärung von der Entſtehung 
der hohen Berge. Er erinnert an die Ab— 
plattung der Erde an ihren beiden Polen 
und an die Wölbung derſelben unter dem 
Aequator. 
die Pole ihre Lage verändern, ſo müſſen 
an den neuen Polen neue Abplattungen und 
unter dem neuen Aequator eine neue Wöl— 
bung entſtehen. Gegenwärtig entferne ſich 
der Aequator von Europa, deshalb finde 
man die höchſten Berge nördlich von ihm. 
Der Erdſtrich, in welchem dieſe Berge lie— 
gen, ſei früher unter dem Aequator geweſen 
und dieſe Berge hätten damals einen Theil 
von der Maſſe der gleichmäßigen Aequa⸗ 
torialverdickung gebildet. Damals lag dieſer 
Theil der Erdoberfläche unter dem Meeres— 
ſpiegel, nachher, als er ſich vom Aequator 
entfernte, blieb die Wölbung der feſten 
Theile, das Meer aber ſank auf das ent— 
ſprechende Niveau zurück und floß von dem 
nunmehr hervorſtehenden Feſtlande ab. Durch 
die Wirkung der Atmoſpäre, der Vegeta— 
tion, der Bewegung des ſüßen Waſſers u. |. w. 
kam allmälig die jetzige Bodengeſtaltung des 
betreffenden Erdſtrichs zu Stande. 

Wir haben die Darſtellung der „Hy- 
drogéologie“ Lamarcks beendet. Ein 
kritiſcher Rückblick auf dieſelbe findet ſie 
unreif. Sie theilt mit ſeinen chemiſchen 


Wenn die Erdaxe und folglich 


und phyſikaliſchen Theorien den Grund— 
fehler, daß ſie auf Grund weniger, dazu 
oft noch ſchlecht beurtheilter Thatſachen eine 
umfaſſende Theorie aufſtellen will. Die 
vielen Widerſprüche, die phantaſtiſchen Ver— 
irrungen werden dem kundigen Leſer gleich 
aufgefallen ſein. Einerſeits überſchätzt er 
die Wirkungen gewiſſer Urſachen viel zu 
ſehr, anderſeits ſchreibt er ihnen Wirkungen 
zu, die ſie gar nicht haben. Die Tendenz, 
die überall in ſeiner Schrift hervortritt, die 
Entſtehung unſerer Erdoberfläche aus den 
uns bekannten allgemeinen phyſikaliſchen 
Kräften zu erklären, iſt ſehr anzuerkennen, 
aber jeder wird begreifen, daß ein ſolcher 
Verſuch, zumal zu ſeiner Zeit, nicht ge— 
lingen konnte; ſind wir ja doch heute noch 
nicht im Stande, alle geologiſchen Erſchei— 
nungen auf die phyſikaliſchen Kräfte zurück— 
zuführen. Vergleichen wir indeſſen La— 
marck's Hydrogéologie mit den zu ſeiner 
Zeit in Mode ſtehenden erdgeſchichtlichen 
Theorien, ſo hat ſie neben vielen andern 
beſſern Gedanken, die der Leſer leicht heraus- 
gefunden hat, hauptſächlich das große Ver— 
dienſt, zur Erklärung blos heute noch wir— 
kende Urſachen und Kräfte herangezogen und 
auf das Falſche der Lehre von den allge— 
meinen und plötzlichen Kataſtrophen hin— 
gewieſen zu haben. Darin gerade liegt 
eine fundamentale Uebereinſtimmung ſeiner 
Theorie nicht nur mit der durch Lyell 
begründeten modernen Geologie, ſondern auch 
mit der durch Darwin begründeten Ent- 
wickelungslehre. Indem ſich nun aber La- 
marck in Betreff der Erdgeſchichte gegenüber 
ſeinen Zeitgenoſſen auf den charakteriſirten 
Boden ſtellte, konnte er auch das Problem 
von der Entſtehung der jetzigen Organis— 
menwelt auf der Erde unter einem ganz 
neuen Lichte betrachten. Wir werden ſehen, 
in welcher Weiſe er dies that. 


— — —— —— 


Kleinere Mittheilungen. 


Revolutionäre Ideen eines Zoologen 
über die ſogen. Wurzelwörter 
an die Adreſſe der Philologen. 


= 


| Vekanntlich ſucht die Philologie überall | 


nach Wurzelwörtern, die eine Eigen- 
ſchaft, eine Thätigkeit u. dgl. 

IT ausdrücken ſollen und leitet von dieſen 
erſt die Wörter, die den Gegenſtand, 
die Sache bezeichnen, ab. So werden z. B. 
in der Regel auch die Thier- und Pflanzen- 
namen auf ſolche, oft nur ſupponirte Wurzel- 
wörter, die eine Eigenſchaft u. ſ. w. aus⸗ 
drücken, zurückgeführt. 

Verhält es ſich aber in der That ſo? 
Iſt es nicht eher umgekehrt? Man denke 
ſich ein Volk in ſeiner Kindheit — denn 
nur in ſeiner Kindheit ſchafft ein Volk 
wirklich neue Wörter, wie ja unſere 
Kinder heute noch —, wie wird ſich das— 
ſelbe den Wortſchatz ſeiner Sprache all— 
mälig aufbauen? Wird es etwa willkürlich 
Worte, Laute für Verbalbegriffe, die 
eine beſtimmte Thätigkeit oder dergl. aus- 
drücken, erſinnen, darüber übereinkommen 
und dann aus dieſen Begriffs worten 
erſt die Worte für die Sachen, Gegen— 
ſtände, Thiere, Pflanzen ꝛc., die zu jenen 
Begriffswörtern in Beziehung gebracht 
werden können, bilden? Iſt das pſychologiſch 


wahrſcheinlich? Die Abſtraction zuerſt und 
dann das Concrete? Wird nicht vielmehr 
ein ſolches Volk zunächſt ganz einfach 
Namen bilden für die hervorragenden, 
ihm aus irgend einem Grunde wichtigen 
Gegenſtände ſeiner Umgebung, für Sachen, 
Thiere wie Pflanzen u. ſ. f. und 
dann erſt, durch Abſtraction, aus jenen 
Namen Zeit und Eigenſchafts-Wörter, 
d. h. Begriffswörter, bilden, welche 
eben eine Haupteigenſchaft jener Sache u. |. w. 
ausdrücken? 

Ein Beiſpiel mag ſofort erläutern, was 
wir meinen. 

Ameiſe — emſig. — Was iſt das 
Erſte? Nach der philologiſchen Theorie 
ſtammt der Name „Ameiſe“ ab von 
einem ſupponirten Wurzelwort, das etwa 
„ams“, „amos“ oder ähnlich gelautet 
haben würde und den Begriff: „thätig, 
fleißig ſein“ bezeichnete. Wir aber 
glauben, daß emſig, d. h. der Begriff: 
„fleißig“ ſich erſt ſecundär ableitete von 
dem ſchon vorhandenen Namen des 
Inſects, indem es einfach deſſen Haupt 
eigenſchaft ausdrückte. Einen fleißigen Men— 
ſchen nannte man einfach einen „ameiſiſchen“ 
Menſchen. So ſpricht ein Naturvolk und 
Naturvölker haben ja urſprünglich den 


Wortſchatz aller, auch der jetzt höchſten 
Sprachen bilden müſſen. 
Freilich, es mag ſchwer halten, in den 


252 


heutigen, ſo vielfach umgeformten und wie 
alte Münzen abgegriffenen und abgeſchliffe— 
nen Worten unſerer hochgebildeten Cultur— 
ſprachen, die noch dazu eine Menge Be— 
griffswörter von ganz fremden Völkern 
aufgenommen haben, jene primitiven Wur— 
zeln, die Namen, noch als ſolche heraus— 
zufinden. Die einfachen wortarmen Spra— 
chen der ſogen. wilden Völker wären ſicher 
hierzu weit brauchbarer, aber wer kennt ſie 
genau und wer kennt genau genug die her— 
vorragenden Gegenſtände ihrer Umgebung 
und ihre Namen (Worte) für dieſelben? 
Doch glauben wir, daß es einem Philo— 
logen vom Fach nicht ſchwer ſein müßte, 
auch in unſeren modernen Sprachen bei 
vielen Worten jene alten Namen wieder 
herauszuſchälen, wenn nur einmal das 
Auge darauf gelenkt iſt. 


Uns ſei es geſtattet, nur einige Beiſpiele 
hier anzuführen, die uns beim Durchblättern 
eines Wörterbuchs der deutſchen Sprache 
auffielen. 


„Vidan“, gothiſch = „Weide“, leitet 
die Philologie ab von einem Wurzelwort 
„binden“, „umwinden“, 
Wir dagegen glauben, vidan nannte das 
ſprachbildende, deutſche Urvolk zunächſt die 
Weide und leitete davon als Begriffswort 
das Verbum vidan, (binden, umwinden) 
ab, indem es damit die für das Volk ſehr 
wichtige Haupteigenſchaft jener Pflanze, daß 
man damit binden, umwinden konnte, aus— 
drückte. Erſt kam die Anſchauung und der 
Name für das Konkrete, dann die Ab— 
ſtraction, und Alles, was ſich daran knüpft, 
— alſo auch z. B. „Vaddja“, gothiſch 
— „Wand“ (weil die alten Deutſchen 
die Wände aus Weidengeflecht und Lehm 
herſtellten) würde, nach unſerem Dafür— 
halten mittelbar auf jenen urſprünglichen 


in 


— 


Kleinere Mittheilungen. 


Pflanzen-Namen der Weide „vidan“ 
zurückzuführen ſein. 

„Seil“, ſeilen, Seile leitet die 
Philologie ab von einem Wurzelwort 
binden. Ebenſo 
derivirt ſie den Pflanzen-Namen der Sahl— 
weide von demſelben Begriffswurzelwort 


„ n, een 


„silan“ = binden. Iſt nicht die Sache 


einfacher zu erklären? Der Deutſche (oder 
das Ariſche Stammvolk, wenn man lieber 
will) bildete einen Namen für die ihm 


ſehr wichtige Sahle (Sahlweide) und 


ebenſo oder ähnlich mit einer kleinen Ab— 
änderung nannte er dann die gedrehte 
Sahlweide „Seil“ und daher salan 
— binden. 


„Lork“ (von Oken ſehr paſſend als 
„Lurch“ hergeſtellt) bedeutet im Altdeutſchen 
eine Waſſerkröte, wahrſcheinlich die Unke 


(Bombinator igneus). Dies „lork* 
wird abgeleitet von „lören“ — ſchreien. 
Wir würden dagegen vermuthen, daß 


„Lork“ nichts iſt als ein Onomatopoäti- 
con des bekannten Ruf's der Unke. Dar— 
nach benannte man zuerſt das Thier, dann 
ſein Geſchrei, „lören.“ 

„Schlange“ abgeleitet von „slan— 
gan“ — „ſchlingen“, „ſchlängelnde Be— 
wegung.“ Ebenſo das engliſche Wort für 
Schlange, „snake“, wird abgeleitet von 
„snikan“, kriechen, (ſchniekiſch, ein deut— 
ſcher Provinzialismus vou ähnlichem Sinn). 
Ebenſo das hebräiſche diy (Ariach) 
„Schlange“ wird abgeleitet von y („ar- 
ach“) ſchnell dahinfliegen. — Auch bei die— 
ſen drei Wörtern ſcheint uns die umge— 
kehrte Ableitung die natürlichere. 


Baſt (die Faſer unter der Rinde vieler 


Gewächſe) wird abgeleitet von dem althoch— 
deutſchen „bestan“ — „zuſammenſchnüren“, 
Für uns wäre es umgekehrt. 


f 


— 


„Bock“ leiten wir nicht ab von 
„»bokan“ ſtoßen (ſchwäbiſch „bocken“) ſon— 
dern umgekehrt. (In „pochen“, „Pochbrett“ 
iſt das Verbum noch Schriftſprache). 

„Miethe* = „Motte“ wird abge 
leitet von dem althochdeutſchen „meit- 
zan“ — „ſchneiden.“ — Ob die beiden 
Worte überhaupt zuſammenhängen? 

Das Beſtreben ſolche Begriffe aus— 
drückende Wurzelwörter aufzuſuchen, hat 
die Philologen, wie uns ſcheint, überhaupt 
öfters irregeführt und ſie veranlaßt, Wörter 
in Verwandtſchaft zu bringen, die ſich ſchwer— 
lich bewähren dürften, z. B.: 

„Miez“, „Miezchen“, unſer be 
kannter, freundlicher Name für die Katze 
wird abgeleitet von „mutzen“ — verſtüm— 
meln. Man habe nämlich urſprüng— 
lich nur den verſchnittenen, verſtüm— 
melten Kater ſo genannt. Uns ſcheint 
Miez, Muz, wieder nur Onomatopos— 
ticon von der Stimme der Katze, mi, 
miau, und das Wort mutzen — verſtüm— 
meln, hängt wohl gar nicht damit zu— 
ſammen. 

Natter, gothiſch „Naders“ alt 
hochdeutſch Nat ha ra wird von dem latein. 
nare — ſchwimmen, und natrix — die 
Schwimmerin, abgeleitet. Auch hier glauben 
wir an keinen Zuſammenhang, denn 
Natter, oder, wie man in Süddeutſch— 
land ſagt, Ader, Oader, iſt wohl ein 
ganz urſprünglich deutſcher Schlangen— 
Name. 

Ein Kenner der gothiſchen Sprache 
würde gewiß unſere obigen Auseinander- 
ſetzungen noch mit vielen anderen Beiſpielen 
belegen können. 

Auch das Hebräiſche, eine, wie 
uns ſcheint, in einer verhältnißmäßigen 
Urſprünglichkeit gleichſam erſtarrte Sprache, 
dürfte zu ſolchen Forſchungen nach Wur— 


Kleinere Mittheilungen. > 


53 


N 


1 


zel-Namen, wie wir ſie neunen möchten, 
ſich eignen. 

Dürfen wir bei dieſer Gelegenheit an 
die bekannte Thatſache erinnern, daß Moſes 
dem erſten Menſchen, als ihn Gott in's 
Paradies ſetzte, als allererſte Aufgabe die 
Benennung der neuerſchaffenen Thiere 
ertheilt? Geneſis 2, 19 und 20: „Denn 
als Gott, der Herr, gemacht hatte von der 
Erde allerlei Thiere auf dem Felde und 
allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte 
er ſie zu dem Menſchen, daß er ſähe, wie 
er ſie nennete; denn wie der Menſch allerlei 
lebendige Thiere nennen würde, ſo ſollten 
ſie heißen. Und der Menſch gab einem 
jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel 
und Thier auf dem Felde ſeinen Namen.“ 

Noch ehe Adam eine „Gehilfin“ hatte, 
noch ehe er mit einem menſchlichen Weſen 
ſprechen konnte, läßt Moſes ihn Namen 
bilden. 

Wir ſind weit entfernt, dies als einen 
Beweis für unſere obige Hypotheſe anzu— 
führen, aber merkwürdig bleibt es doch, 
daß hier die Thiernamengebung als etwas 
Urmenſchliches und offenbar ſehr wich— 
tiges dargeſtellt wird und die Zoologen 
hätten allen Grund, ſtolz darauf zır fein, 
daß ihre Thätigkeit nach Moſes eine ſo 
uralte, ächt menſchliche iſt. Jedenfalls glau— 
ben wir, ſowohl durch Moſes als 
durch unſere obigen Auseinanderſetzungen 
eine theilweiſe Identität des Berufsfeldes 
des Naturforſchers und des Philologen nach— 
gewieſen zu haben und nehmen dieſe voll— 
auf in Auſpruch, wenn wir ſchließlich die 
Philologen, nunmehr als Collegen, um 
nachſichtsvolle Kritik unſerer obigen Häre— 
ſien bitten. 

Wir recapituliren: Unſere Theſe 
wäre einfach die: Die Wurzelwörter 
der Sprachen ſind nicht Begriffs— 


| 254 


wörter, die eine beſtimmte Eigen— 
ſchaft, Thätigkeit u. ſ. w. aus⸗ 
drücken, ſondern die Wurzelwör— 
ter ſind urſprünglich einfache 
Namen für Gegenſtände. Nicht 
das Begriffswort wurde zuerſt gebildet, 
um die Sache danach zu benennen, ſondern 
die Sache wurde zuerſt benannt und aus 
dem Namen der Sache erſt das Wort für 
den Begriff, für die eine oder andere Haupt— 
eigenſchaft der Sache abgeleitet. 
Dr. D. J. Weinland. 


Die Ciefſee-Lotſungen 
und die verſunkene Atlantis. 


Der Umſtand, daß die Flora und 
Fauna Europas, welche gegenwärtig eng 
an diejenige des aſiatiſchen Continents 
anſchließt, in der Tertiärzeit eine weit 
größere Aehnlichkeit mit der damaligen und 
jetzigen Lebewelt Nordamerikas dar— 
bot, hat bekanntlich eine Reihe von For— 
ſchern zu dem Schluſſe geführt, daß da— 
zumal eine Feſtlandbrücke oder wenigſtens 
eine große Inſel zwiſchen den beiden jetzt 
ſo weit getrennten Continenten beſtanden 
haben müſſe, um die Ueberwanderung zu 
ermöglichen. Oswald Heer war zu 
einer ſolchen Annahme durch Vergleichung 
der Küſtenfauna von Europa und Amerika 
gelangt, Retzius durch Schädelverglei— 
chungen der Ureinwohner Nordamerikas 
und Afrikas. Am ausführlichſten hatte 
Unger dieſe Hypotheſe in einem 1860 
erſchienenen Vortrage über „die verſunkene 
Juſel Atlantis“ vorgetragen. Der Name 
lehnt an die von mehreren alten Schrift— 
ſtellern, am ausführlichſten von Plato in 
ſeinen beiden Dialogen Timäus und 


Kleinere Mittheilungen. 


Kritias berichtete Sage an, nach welcher 
in uralten Zeiten vor den Säulen des 
Herkules eine Inſel, „größer als Lybien 
und Aſia zuſammengenommen“, gelegen 
habe, von der die Seefahrer leicht nach 
einem jenſeits liegenden Feſtlande kommen 
konnten. Dieſe ganze und gewaltige Inſel 
Atlantis, deren Bewohner ganz Europa 
unterjocht haben würden, wenn Athen nicht 
ihrem, Auprall Widerſtand geleiſtet hätte, 
ſollte, wie ein Prieſter von Salis dem 
Solon erzählt hatte, in einer einzigen 
Nacht verſunken ſein. Sei es nun, daß 
dieſe Sage, wie ſo viele ihresgleichen ohne 
allen thatſächlichen Anhalt aus den Fabeleien 
von der Seichtheit des atlantiſchen Oceans 
mit ſeinen Fucusbänken entſtanden iſt, oder 
daß wirklich die Geſchichte und Erinnerung 
der Menſchen ſo weit zurückreicht (wie man 
aus dem Umſtande geſchloſſen hat, daß man 
unter den Bewohnern Mittelamerikas ähn— 
liche Sagen angetroffen hat), ſicher iſt, daß 
ſich Anhaltspunkte für das ehemalige Da— 
geweſenſein eines atlantiſchen Continents, als 
deſſen höchſte Gebirgsſpitzen die Azoren noch 
heute emporragen, durch die Peilungen der 
engliſchen Schiffe Challenger, Hydra und 
Porcupine, des amerikaniſchen Dolphin und 
der deutſchen Fregatte Gazelle ergeben haben. 
Einem Vortrage, den W. Stephen 
Mitchell am 31. März é. in South 
Kenſington (London) über die auf die At- 
lantismythe beziehbaren Ergebniſſe der Chal— 
lenger-Expedition gehalten hat, entnehmen 
wir nach einem Referate der Nature 
(XV. Nr. 391) nachſtehende Einzelheiten: 
Der atlantiſche Ozean zeigte an vielen 
Stellen zwiſchen Südamerika und Afrika 
eine über 3000 Faden hinausgehende und 
bis 3450 Faden ſteigende Tiefe. Aber 


ungefähr in der Mittellinie des Ozeans, 
über die Inſel Triſtan da Cunja nach As- 


cenfion, zieht ſich der Challenger— 
Rücken, eine Bodenerhebung, über welcher 
die Tiefe nur zwiſchen 1000 — 2000 Fa— 
den beträgt, und dieſe Erhebung ſetzt ſich 
nördlich von der letzteren Inſel, über die 
St. Pauls-Inſeln weſtlich gewendet, bis 
nach der braſilianiſchen Küſte fort, läuft 
dann, immer die Mittellinie des Meeres— 
beckens bezeichnend, nördlich, verbreitert ſich 
in der Gegend der Azoren zu einem aus— 
gedehnten ſubmarinen Hochplateau und er— 
weitert ſich nach einer kurzen Verſchmäle— 
rung zu der continentalen Hochebene, welche 
ſich zwiſchen Europa und Nordamerika aus— 
breitet. Könnte das Meer trocken gelegt 
werden, ſo würde jener, meiſt in einer 
Breite von 5 — 10 Graden von Süden 
nach Norden ſteigende und mehr als 100 
Breitengrade durchſchneidende Gebirgsrücken 
ca. 15000 Fuß über die Thalebene auf— 
ſteigen, und die Inſeln würden als Berg— 
ſpitzen von ca. 30000 Fuß Höhe erſcheinen. 
Die Kuppen dieſes den Anden vergleich— 
baren Gebirgrückens würden ſelbſt unter 
dem Aequator wahrſcheinlich mit ewigem 
Schnee bedeckt erſcheinen. In der eigent— 
lichen Atlantisgegend zwiſchen Südeuropa 
und Nordamerika beträgt die Durchſchnitts— 
erhebung des dort allerdings ziemlich be— 
wegten Terrains etwa 9000 Fuß über 
der mittleren Meerestiefe. Der Vortragende 
zeigte durch dieſe auf einer Atlantiskarte 
eingetragenen Tiefendaten, daß allerdings 
ſo zu ſagen ein ungeheurer, lang geſtreckter 
ſubmariner Continent ſich zwiſchen der alten 
und neuen Welt hinwindet, welcher bei 
einer allgemeinen Erhebung des Meeres— 
bodens um etwa 2000 Faden als zuſam— 
menhängendes Gebirgsland hervortreten 


würde, während zu ſeinen beiden Seiten 
immer noch eine Seetiefe von 1000 Faden 
Uebrigens 


und darüber verbleiben könnte. 


Kleinere Mittheilungen. 255 


verwahrte ſich Mr. Mitchell gegen das 
Mißverſtändniß, als wolle er mit ſeiner 
Darlegung wirklich das ehemalige Daſein 
eines ſo lang geſtreckten Continents, wie 
ihn ſeine Karte andeutete, behaupten. Sein 
Zweck war nur zu zeigen, wie ſich mancher— 
lei Ergebniſſe der Wiſſenſchaft begegnen, um 
der Hypotheſe von der verſunkenen Atlantis 
eine gewiſſe Stütze zu verleihen, wobei es 
aber zunächſt vollſtändig unerörtert bleiben 
muß, welche Theile dieſes ungeheuren Hoch— 
rückens, wenn überhaupt (und welche bei 
einem vorauszuſetzenden Senkungsproceſſe 
zuletzt noch), über die Meeresoberfläche 
empor geragt haben mögen. Zeigte die Mythe 
nicht jenen übertreibenden Zuſatz, daß die 
Rieſeninſel in einer einzigen Erdbeben- und 
Fluthennacht von dem Meere verſchlungen 
worden ſei, und ſpräche ſie ſtatt deſſen von 
einer allmäligen Ueberfluthung, jo würden - 
die Atlantiden bei dem Zuſammentreffen 
ſo mancher Einzelheiten gewiß mehr Sym— 
pathien bei den Forſchern unſerer Zeit 
finden, denn daß Daſein und Erinnerung 
des Menſchengeſchlechts bis zur Tertiärzeit 
zurückreichen könnte, iſt nach dem jetzigen 
Stande der Wiſſenſchaft nicht abſolut un— 
wahrſcheinlich. K. 


Die elektriſchen Kiſche 


haben ſich als vorzüglich geeignet erwieſen, 
der Darwin'ſchen Theorie Schwie— 
rigkeiten zu bereiten und als Ein— 
würfe gegen dieſelbe zu dienen. Darwin, 
der niemals irgendwie Neigung gezeigt hat, 
über die ſeiner Theorie entgegenſtehenden Be— 
denken mit Stillſchweigen hinweg zu gehen, 
oder ſie zu vertuſchen, machte vielmehr ſelbſt 
wiederholt und mit Nachdruck auf die hin— 


9 256 


ſichtlich dieſer Fiſche ſich darbietenden Räthſel 
aufmerkſam*). Denn wie ſoll man ſich die 
allmälige Entſtehung eines Organs, welches 
erſt nützlich werden kann, wenn es ganz 
vollendet iſt, durch natürliche Zuchtwahl 
vorſtellen, von der Vorausſetzung ausgehend, 
daß dieſes Organ nur vorhanden wäre, 
um elektriſche Schläge auszutheilen. Aber 
dieſe Schwierigkeit kann uns, wie Darwin 
hinzuſetzt, nicht überraſchen, da wir nicht 
einmal genau wiſſen, worin der allgemeine 
Nutzen dieſer Organe beſteht. Beim Zitter— 
aal und Torpedo dienen ſie ohne Zweifel 
als kräftige Vertheidigungswaffen, vielleicht 
auch als Mittel, ihre Jagdbeute zu lähmen 
und dadurch bequemer zu fangen. Unter 
anderen findet ſich ein analoges Organ im 
Schwanze der Rochen, welches wie Mat— 
teucci beobachtet hat, nur wenig Elektrizität, 
ſelbſt bei ſtarker Reizung des Thieres, ent— 
wickelt, und zwar ſo wenig, daß dieſelbe 
kaum den genannten Zwecken dienen könnte. 
Ueberdies liegt, wie R. M' Donnell ge 
zeigt hat, außer dem eben erwähnten Organ 
noch ein anderes in der Nähe des Kopfes, 
von dem man nicht weiß, daß es elektriſch 
wäre, welches aber das wirkliche Homologon 
der elektriſchen Batterie bei Torpedo iſt. 
Um die Schwierigkeit noch zu erhöhen, bietet 
etwa ein Dutzend verwandtſchaftlich ſehr 
weit auseinander ſtehender Fiſcharten ana— 
tomiſch ganz ähnlich gebaute Organe dar, 
die man pſeudoelektriſche Organe ge— 
nannt hat, weil ſie keine merkbaren Schläge 
austheilen, ohne daß irgend ein anderer 
Nutzen oder eine beſtimmte Funktion an 
ihnen erkannt wäre. Sie compliciren da— 
durch das Problem, weil ſie an ganz ver— 
ſchiedenen Körperſtellen liegen, alſo nicht 
untereinander und mit den wirklich elektriſchen 

) Entſtehung der Arten 5. Aufl. 
(deutſche Ausgabe.) S. 206—208. 


3 


Kleinere Mittheilungen. 


Apparaten als homolog betrachtet werden 
können, ſo daß man auch nicht annehmen 
kann, ſie wären durch Erbſchaft von einem 
gemeinſamen Vorfahren übrig geblieben, und 
in einigen Fällen durch Nichtgebrauch außer 


Thätigkeit geſetzt worden, reſp. in anderen 


Fällen ganz verſchwunden. Da die Rochen, 
unter denen ſich die meiſten elektriſchen Fiſche 
befinden, zu den älteſten Fiſchgeſchlechtern 
gehören, fo hätte man bei homologer Lage 
und Bildung leicht an ein gemeinſames Erb— 
theil der Urfiſche denken können, aber, wie 
geſagt, die elektriſchen Batterien und ihre 
unwirkſamen Abbilder treten an den ver— 
ſchiedenſten Körperſtellen auf, wozu noch 
kommt, daß nach den neueren Beobachtungen 
von Prof. Franz Boll das elektriſche 
Organ des Zitterwels weſentlich verſchieden 
konſtruirt iſt von demjenigen der Zitter— 
rohen. Man muß alſo wohl an eine un— 
abhängige Entſtehung dieſer verſchieden ge— 
bauten und gelegenen Apparate denken, und 
es würde dies darauf hindeuten, daß man 
ſowohl nach einer allgemeinen Grundlage, 
wie nach einer allgemeineren Entſtehungs— 
urſache zu ſuchen habe. Ganz ſo troſtlos, 
wie es im erſten Augenblick ſcheinen könnte, 
iſt übrigens die Darwin'ſche Theorie 
den elektriſchen Fiſchen gegenüber nicht. Zu— 
nächſt hat das Auftreten ſtarker elektriſcher 
Spannungen im thieriſchen Körper durch— 
aus nichts Auffallendes, da ſchwächere 
Ströme nach den berühmten Unterſuchungen 
Du Bois-Reymond'?s die beſtändigen 
Begleiter des Muskel- und Nervenlebens 
ſind. Dieſe Ströme aber, deren Nutzen 
wir ebenſo wenig kennen, ſtehen in einer 
ſehr beſtimmten Beziehung zu den Willens— 
akten, und der genannte Forſcher hat gezeigt, 
daß man ein Galvanometer, deſſen Draht— 
enden in zwei Gefäße mit Salzwaſſer tauchen, 
ſofort in Bewegung ſetzen kann, wenn man 


ee een EN 


in jedes Gefäß den Finger einer Hand 
taucht und den einen derſelben ſtark krümmt. 
Ja er zeigte ſogar, daß man auf dieſe 


Salzwaſſer, hundert Meilen weit telegraphi— 
ren, d. h. Ströme thieriſcher Elektricität 
durch Drähte ſo weit ſenden könnte. Da 
dieſe Fähigkeit wahrſcheinlich keinem Wirbel— 
thiere, vielleicht überhaupt keinem Thiere 
fehlt, ja ſogar den empfindlichen Pflanzen 
zukommt, ſo ergiebt ſich, daß eigentlich alle 


elektriſche Ströme zu verſenden, d. h. Zitterthiere 
zu werden. Es iſt nun ſehr verſtändlich, wa— 
rum ſich dieſe gemeinſame Anlage nur bei 
Salzwaſſerthieren in einigen Fällen aus— 
gebildet hat, denn einem Luftthiere wäre 
ihre Ausbildung ganz überflüſſig, und das 
elektriſche Inſekt aus Braſilien (Arumatia, 
eine Phasma⸗Art), von dem Maregrav 
erzählt hatte: „Si hominem feriat, aliquem 
tremorem exeitat in toto corpore,“ ge— 
hört ebenfo der Mythe an, wie die Elektri— 
citätsentwickelung der Scolopendra electrica 
und wahrſcheinlich auch diejenige eines elek— 
triſchen Strauches (Phytolacca electrica), 
welchen Herr Lewy (Hamburger Garten— 
und Blumen-Zeitung 1877, 1.) entdeckt 
haben will, und der, des Nachts ruhend, 
am Tage die Vögel, welche ſich auf dem— 
ſelben niederlaſſen, und die Menſchen, welche 
Zweige abbrechen wollen, durch ſtarke elek— 
triſche Schläge verſcheuchen, ja ſogar ohne 
Entladung den Compaß ablenken ſoll! 

Wenn man annehmen könnte, daß be— 
ſtimmte Seefiſche durch eine zufällige Ab- 
änderung in den Stand geſetzt worden 
wären, etwas ſtärkere Elektricitätsmengen 
als ſonſt willkürlich zu entſenden, ſo hätte 
ihnen dieſe Fähigkeit bereits nützlich werden 
können, wenn ſie auch vorläufig nur hin— 
reichte, ganz winzige Thiere zu lähmen, und 


Thiere eine Anlage dazu haben, willkürlich 


natürliche Zuchtwahl vorſtellen können. Dieſe 
Weiſe durch bloße Fingerbewegungen in 


Kleinere Mittheilungen. 257 


man würde ſich in der That die weitere 
Vervollkommnung dieſer Apparate durch 


Hypotheſe würde vorausſetzen, daß die 
elektriſchen Organe aus Muskeln hervor- 
gegangen ſeien, durch eine entſprechendere 
Anordnung derjenigen Gewebstheile, welche 
die Nerv-Muskelſtröme erzeugen. Es iſt 
nun in der That ganz vor kurzem Herrn 
Babuchin der wichtige Nachweis gelungen”), 
daß die nicht nervöſen, wie die bindegewe— 
bigen Beſtandtheile der elektriſchen und 
pſeudoelektriſchen Organe bis zu gewiſſen 
Entwickelungsſtufen identiſch ſind, mit in 
der Entwickelung begriffenen Muskelfaſern. 
Das elektriſche Organ der Fiſche beſteht 
aus Plattenpaaren ungleicher organiſcher 
Materie, ganz wie eine voltaiſche Säule; 
das eine Glied jedes Elementes entſteht 
aus Muskelprotoplasma, das andere nervöſe 
Glied kann als eine Ausbreitung des oder 
der in jedes Plattenpaar eintretenden Nerven 
betrachtet werden. Die einzelnen Platten— 
paare ſind durch eine dem feuchten Leiter 
der voltaiſchen Säule vergleichbare Binde— 
ſubſtanz getrennt. Der morphogenetiſche 
Hauptunterſchied zwiſchen elektriſchen und 
pſeudoelektriſchen Organen würde nach Ba— 
buchin darin beſtehen, daß bei den erſteren 
embryonale, wiewohl bereits contraktions— 
fähige, bei den letzteren aber ſchon ganz 
entwickelte und funktionirende Muskelfaſern 
zu dem metaſarkoblaſtiſchen Gliede (wie 
Babuchin die Subſtanz der nicht nervöſen 
Plattenſchicht nennt) umgewandelt werden. 
Dort geht die aniſotrope Subſtanz der 
Muskelfaſer zu Grunde, hier bleibt ſie er— 
halten.⸗In Folge deſſen zeigen die pſeudo— 
elektriſchen Organe in ihrer Subſtanz eine 


) Reichard's und Du Bois-Rey— 
mond's Archiv 1876, Heft 4 und 5. 


258 


Miſchung von einfach und doppelt brechen— 
den Elementen, wie die Muskeln, und 
bilden ſonach eine den letzteren genäherte 
Uebergangsbildung zu den elektriſchen Or— 


ganen, die eine ſolche optiſch heterogene 


Elementarzuſammenſetzung nicht zeigen und 
eben deshalb als durchaus unvergleichbar 
mit Muskeln bezeichnet worden waren. 


Kleinere Mittheilungen. 


in ſeinen erſt kürzlich“) veröffentlichten Unter— 


Durch dieſe entwickelungsgeſchichtlichen Stu- 


dien erſcheint die Frage nach dem Urſprunge 


der elektriſchen Organe gelöſt, und um dem 
Wie der Entſtehung näher zu kommen, wird 
es zunächſt darauf ankommen, ſich darüber 


klar zu werden, ob die pſeudoelektriſchen 
Organe Anfänge oder Rückbildungen der 
elektriſchen darſtellen, und ob ſie ſonſt irgend 
eine nützliche Funktion zu erfüllen im Stande 
find. Es erklärt ſich nun aus der Ent— 
ſtehungsweiſe auch, daß die elektriſchen Or— 
gane trotz ihres ſo ſehr verſchiedenen, bis 
in die Elementarbeſtandtheile ungleichen 
Baues, ſo vielfache Analogieen mit Muskeln 
darbieten. Insbeſondere hat ſich Mat— 
teucci bemüht, dieſe Uebereinſtimmungen 
im Einzelnen nachzuweiſen. Die Thätigkeit 
beider Organe ſteht unter dem Einfluſſe 
des Willens, kann aber auch ſowohl reflek— 
toriſch, als durch künſtliche Reizungen her— 
vorgerufen werden, was freilich auch von 
der Thätigkeit der Leuchtorgane, der Drüſen 
und ſelbſt des Gehirns gilt. Von beſon— 
derem Intereſſe in dieſer Beziehung war 
der Nachweis Matteucci's, daß Strych— 
nin durch Reizung des Rückenmarks re— 
flektoriſch ebenſowohl elektriſche Entladungen 
wie ſonſt Muskelzuſammenziehungen her— 
vorrief, was freilich nur für die Analogie 
der gleichen nervöſen Erregbarkeit beweiſend 
iſt. Radeliffe und Marey find noch 
weiter gegangen, und haben auf gewiſſe 
Aehnlichkeiten der Zitterrochen-Elektricität 
mit den Muskelſtrömen hingewieſen. Marey 


ſuchungen über die Entladung des Zitter— 
rochens ſagt: Wenn man die freiwillige 
oder durch einen Reiz hervorgerufene Ent— 
ladung des Fiſches theilweiſe durch ein 
Lippmann'ſches Capillar-Elektrometer gehen 
läßt, ſo ſieht man den Queckſilberfaden in 
ruckweiſer Bewegung vorwärts ſich bewegen, 
indem er ſtets weiter vorwärts rückt als 
er zurückgeht. Es hat ſomit eine Addirung 
der ſich folgenden Ströme ſtattgefunden, 
indem jeder einzelne noch nicht aufgehört 
hatte, wenn der folgende anlangte. Dieſe 
Addirung bildet eine auffallende Analogie 
zwiſchen der Entladungsweiſe des elektriſchen 
Aparates und der Contraktion eines Mus- 
kels. Elektriſche Strömungen in dem 
einen Falle, Muskelerſchütterungen in dem 
andern, folgen ſich in Zwiſchenräumen, die 


zu kurz find, als daß jeder einzelne Akt. 


Zeit hätte, abzulaufen, bevor der folgende 
ankömmt. Schon früher hatte Dr. Rad— 
eliffe hervorgehoben, daß in dem elektriſchen 
Apparate des Zitterrochens während der 
Ruhe eine Ladung vorhanden zu ſein ſcheine, 
welche derjenigen entſpricht, die in Muskel 
und Nerv während der Ruhe vorhanden 
iſt; ſo daß die Entladung bei Torpedo nur 
die Folge einer Anhäufung der ſich ſonſt 
langſam vertheilenden Elektricität ſein möchte. 
Mit dieſer Auffaſſung würde die 1858 
von Eckhard und Du Bois-Reymond 
gemachte Entdeckung, daß das elckktriſche 
Organ, im Gegenſatze zum Muskel, in der 
Ruhe ſtromlos erſcheint, nicht im Wider— 
ſpruche ſtehen. Es iſt nach alledem inter— 
eſſant, zu erfahren, daß bereits der Entdecker 
des elektriſchen Organs beim Zitterrochen, 
Franz Redi, daſſelbe mit einem Muskel 
verglichen hat. Die Vorgeſchichte der Zitter— 


) Comptes rendus. T. LXXXIV p. 354. 


Kleinere Mittheilungen. 


rochentheorie iſt überhaupt ſehr lehrreich 
und es verlohnt ſich, zum Schluße noch mit 
einigen Worten darauf einzugehen. Die 
alten Griechen und Römer wendeten be— 
kanntlich die an ihren Küſten häufigen Arten 
des Zitterrochen ziemlich allgemein als elek— 
triſche Heilapparate an, um Rheumatismus 
und ähnliche Nervenübel zu behandeln: die 
Elektrotherapie war längſt im Gange, ehe 
man eine Ahnung von Elektriſirmaſchinen 


oder gar von Induktionsapparaten hatte. 
Er⸗ 
findung der galvaniſchen Säule dem Dr. 
Volta um eine lange Reihe von Jahr— 


Die Rochen hatten aber in der 


tauſenden den Vorſprung abgewonnen. 


Im Allgemeinen glaubte man bis zu den | 


Zeiten Aldrovandi's, die Galle der 
Zitterrochen ſondere einen ſcharfen Saft 
ab, der ſich im Waſſer verbreite, und 
in ähnlicher Weiſe wie das ätzende 
Gift der Quallen und Meerneſſeln einen 
chemiſchen Reiz ausübe. Franz Redi 


bewies 1666, daß die Galle des Zitter⸗ 


rochens gar keine Schärfe beſitze und nicht 
die ihr von Plinius und Galen zu— 
geſchriebene Kraft habe: „ut flaceidum et 
imbelle reddat illud cornu, quo (ut 
Boccacius noster loquitur) homines 
arjetant“ wie er ſchalkhaft ſich ausdrückt). 
Aber die Alten hatten ſchon weitere Beobach— 
tungen gemacht und wahrgenommen, daß 
der Schlag des Zitterrochens ſich durch 
metallene Gegenſtände, ja durch feuchte 
Netze und Augelſchnuren fortpflanze, ſodaß 
der merkwürdige Fiſch ſogar den Händen 
der Fiſcher durch ſeine geheimnißvolle Kraft 
zuweilen entrann. Ein alter Mathematiker 
und Phyſiker, Heron von Alexandrien, 
hatte bereits ſeine philoſophiſchen Betrach— 


) Franeiseus Redi, Experimenta eirca 
varias res naturales. Amstelaedami 1685. 
p- 57. 


259 


tungen über ein feines Fluidum 
angeſtellt, welches ſich von dem Fiſche aus 
durch die feineren Poren der ihn berühren— 
den Körper bis zu den menſchlichen Em— 
pfindungswerkzeugen verbreite. Der ur— 
ſprünglichſte Entdecker des elektriſchen Or— 
ganes war, wie uns Athenäus erzählt, 
der alte Naturkundige Diphilus von 
Laodicea geweſen, der aus uns unbekannten 
Gründen behauptet hatte, nicht von dem 
geſammten Körper des Fiſches gehe ſeine 
lähmende Kraft aus, ſondern nur von 
einem Theile deſſelben. Dieſem wahrſchein— 
lich nur muthmaßenden Entdecker folgte 
der Vater der Anatomie, indem er das— 
jenige Organ im Innern des Rochens als 
das Schläge ausıheilende bezeichnete, welches 
er in andern Fiſchen nicht gefunden hatte. 
Er nahm die beiden ſichelförmigen Körper, 
die man beim Genuße allgemein verwirft, 
für die Erzeuger der ſchmerzenden Kraft, 
über deren Natur er ſich ein Urtheil nicht 
erlaubte: „mihi tune quidem videbatur 
in his duobus falcatis corporibus vel 
musculis, potius quam in ulla alia 
parte residere virtus dolorifica torpe- 
dinis.“ “) Dieſe Vergleichung mit Muskeln 
iſt ſeitdem, und, wie wir nun ſehen, nicht 
ohne Grund, gegen allen Schein feſtgehal— 
ten worden; Reaum ur glaubte es ſogar 
mit einem beſonderen Sprungfeder-Muskel 
zu thun zu haben, der langſam zufammen- 
gezogen, plötzlich auseinanderſchnelle und ſo 
mechauiſch den heimtückiſchen Schlag hervor— 
bringt. Nachdem Adanſon die elektriſche 
Natur des Schlages vermuthet und J. 
Walſh ſie dargethan, ſind die elektriſchen 
Fiſche unendlich oft Gegenſtand wiſſen— 
ſchaftlicher Unterſuchungen geweſen. Auch 
hier knüpfen ſich immer mehr Fragen, je 
O 


. sr 


p- 60. 


= 


260 


weiter die Wiſſenſchaft vordringt, aber als 
beſondere Einwürfe gegen die Darwin! 
ſche Theorie werden ſie kaum eine Rolle 
mehr ſpielen, ſeitdem die Entſtehung der 
elektriſchen Organe aus Muskelfaſern nach— 
gewieſen wurde. So ſchwindet eine Schwie— 
rigkeit nach der anderen. RK. 


Schmetterlingsdüfte. 


Daß die Blumen nicht darum duf— 
ten, um unſere Naſen zu erfreuen, ſondern 
um ſich kleineren Weſen trotz der Dunkel— 
heit und Unſcheinbarkeit ihrer Färbung 
bei Tag und Nacht bemerkbar zu machen, 
darauf hat unſer verehrter Mitarbeiter 
Dr. H. Müller an verſchiedenen Stellen 
ſeines Hauptwerkes ) aufmerkſam gemacht. 
Sein Bruder, Dr. Fritz Müller in 
Blumenau (Braſilien) vermuthet in einer 
vorläufigen Mittheilung“ *), daß auch die 
Blumen der Luft, wie Jean Paul ein— 


mal die Schmetterlinge genannt hat, ſich 


ebenfalls in die Ferne geſendeter Düfte 
als einer Art Blumenſprache in Liebes— 
angelegenheiten bedienen, ſofern allem An— 
ſcheine nach die Männchen durch charakte— 


riſtiſche Ausdünſtungen die Weibchen aus 


beträchtlichen Entfernungen herbeilocken. Er 
fand nämlich die Männchen verſchiedener 


Flügeln ausgezeichnet, von denen, ſogar 
den Menſchen bemerkbar, charakteriſtiſche 
Gerüche ausſtrömen. Dieſe Haar- und 


) Die Befruchtung der Blumen durch 
) 

Inſekten, S. 426—433. 

a) Jenaer Zeitſchr. f. Naturwiſſenſchaft, 

1877, Heft 1. 


Kleinere Mittheilungen. 


bilde handeln müſſe. 
dann 
Arten von Tagfaltern durch eigenthümliche 
Haar- und Schuppenbildungen auf den 


zahl der Fälle dadurch aus, daß ſie für 
gewöhnlich nicht offen der Luft ausgeſetzt 
ſind, ſondern eingeſchloſſen liegen, ſei es, 
und dies iſt der häufigſte Fall, zwiſchen 
dem Innenrand der Hinterflügel und dem 
Hinterleibe, ſei es in einem Umſchlage am 
Vorderrand der Vorder- oder am Hinter— 
rand der Hinterflügel, ſei es endlich in 
beſonderen Furchen, Schlitzen oder Taſchen. 
Zuweilen treten dieſe Gebilde auch frei auf 
der Flügelfläche auf, aber dann ſtets auf 
der oberen Seite, ſo daß ſie wenigſtens 
bei aufrechter Haltung der Flügel einge— 
ſchloſſen werden. Die Schuppen der be— 
treffenden Duftflecken pflegen ſehr dicht ge— 
drängt und aufrecht zu ſtehen, die Haar— 
büſchel und Pinſel ſcheinen ſogar eines 
freiwilligen Sträubens fähig zu ſein; 
wenigſtens war dies bei einem Haarpinſel 
auf der Mittelzelle der Hinterflügel von 
Opsiphanis Cassiae der Fall. Schon 
längſt hatte das häufige Vorkommen dieſer 
Flecke und Haarbüſchel bei männlichen Fal— 
tern der verſchiedenſten Gattungen am Vor— 
derrande der Hinterflügel zwiſchen Coſtalis 
und Subcoſtalis, wo ſie vom Innenrande 
der Vorderflügel bedeckt werden, Herrn 
Fritz Müller die Vermuthung auf— 
gedrängt, daß es ſich hier um eine 
beſtimmte, allgemeine Funktion dieſer Ge— 
Zufällig bemerkte er 
bei einem Männchen von Calli- 
dryas Argante, daß von den mähnen— 
artigen Haaren der Hinterflügel ein deut— 
licher Moſchusgeruch ausſtröme, bei Pre— 
pona Laörtes bemerkte er einen anderen 


Duft, den feine Kinder als Fledermaus— 
Schuppengebilde zeichnen ſich in der Mehr- 


Geruch charakteriſirten, bei den Männchen 
von Dircenna Xantho wurde Vanilleduft 
feſtgeſtellt, und bei Thecla Atys kehrte der 
Fledermausgeruch wieder, wobei jedesmal 
von verſchiedenen Beobachtern die erwähn— 


Kleinere Mittheilungen. 


ten Stellen als Ausgangspunkte dieſer Ge 


rüche erkannt wurden. Mancherlei Gründe 
ſprechen dafür, daß dieſe Bildungen ſpeciell 


der Geruchabſonderung und Ausbreitung 
nicht bei Abend- und Nachtſchmetterlingen 
in noch größerer Ausdehnung finden ſoll— 


angepaßt ſind. Bei der erſt- und letzt 
genannten Art, ſowie in anderen Fällen, 
zeigte ſich die Unterlage der Duftflecken 
von baumartig verzweigten 
durchzogen. Ueberdem kann man ſich kaum 
ein beſſeres Mittel denken, um ein Parfüm 
ſchnell durch die Luft zu verbreiten, als 


einen damit befeuchteten, aus einander ge- 
ſträubten und luftdurchſpülten Haarpinſel, 


und daß dieſelben für gewöhnlich der Luft 
nicht ausgeſetzt ſind, kann dieſe Auffaſſung 
nur noch unterſtützen. 
in manchen Fällen ein beſonderer Geruch 
nicht wahrgenommen werden, aber man 
kann nicht wiſſen, ob die Schmetterlings— 


naſen nicht darin empfindlicher ſein mögen. 


Uebrigens kommen, wie Herr Fritz Müller 


bemerkt, auch noch anderweite Abſonderungs⸗ 


organe für riechende Subſtanzen vor, ſei 


es, daß dieſelben als Anlockungs- oder 


Abſchreckungsmittel dienen. So fand er 
bei den Männchen der meiſten Glaucopiden 
am Ende des Hinterleibes auf der Bauchſeite 
zwei aufrichtbare und mit ſich ſträubenden 


Haaren beſetzte Hohlfäden vor, die einen 
mehr oder weniger ſtarken und widerlichen 


Geruch abſonderten, der z. B. bei Belem- 
nia inaurata an eine Miſchung von Blau— 
ſäure und Chloroform erinnert. 
ſelbe als Abſchreckungsmittel dient, mag 


Verfolgung ſchützen, auch wenn das Männ— 


chen allein ſolche Abſonderungen beſitzt und 


umgekehrt, ja die Mimicry begünſtigen, 
von welcher Wallace und Leates ſo 


merkwürdige Fälle bei Schmetterlingen bes 
Dieſe intereſſauten Mit⸗ 
Inſeln erſtreckt. 


obachtet haben. 
theilungen ſollen, wie der Verfaſſer an— 


Allerdings konnte 


Wo der⸗ 
pflichtet ſind. 
die Aehnlichkeit des Weibchens daſſelbe vor 


Luftröhren 


261 


deutet, mehr zu weiteren Beobachtungen 
anregen, als daß ſie eine feſtgeſtellte That— 
ſache behaupten wollen. Es wäre z. B. 
merkwürdig, wenn ſich ähnliche Organe 


ten. N. 


Die Verbreitung der Menſcheuraſſen 


durch Luft- und Waſſer-Strömungen. 


Am Schluſſe eines längeren Vortrages, 
welchen der Kapitän Freiherr von Schlei— 
nitz in den Sitzungen der berliner anthro— 
pologiſchen Geſellſchaft vom 11. und 21. 
April c. über die anthropologiſchen Ex— 
kurſionen der „Gazelle“ hielt, ſtellte derſelbe 
eine aus ſeinen Beobachtungen abgeleitete 
Theorie über die Richtungen auf, in denen 
die Inſeln der Südſee bevölkert worden 
ſein möchten. Es erſcheint ihm aus mancherlei 
Gründen für ſehr wahrſcheinlich, daß es 
ſich hierbei um zwei einander faſt entgegen— 
geſetzte Richtungen handeln möchte, in denen 


dieſe Bevölkerung ſtattgefunden zu haben 


ſcheint, und die mit den herrſchenden Luft— 
ſtrömungen übeinſtimmen. Es iſt klar, daß 
oceaniſche Inſeln den Winden und Waſſer— 
ſtrömungen nicht nur für die Zuführung 
von Pflanzenſamen und Flugthieren, ſondern 
auch für die unfreiwillige Zuwanderung den 
Elementen preisgegebener Kahnfahrer ver— 
Es ließ ſich nun zunächſt 
aus den Beobachtungen ein keilförmiges 
melaneſiſches Dreieck conſtruiren, deſſen 
Baſis Neu-Guinea und der Norden Auſtra— 
liens bilden, und welches ſich genau in der 
Richtung des dort während einiger Monate 
des Jahres wehenden weſtlichen Monſuns 
mit ſeiner Spitze bis nahe an die Fidſchi— 
Dieſes Dreieck iſt offen— 


bar von Neu-Guinea aus, d. h. vom Welten 
her, mit der Papua-Race bevölkert worden. 
Die Bewohner aller übrigen Inſeln ge— 
hören der helleren Polyneſier-Race an, deren 
Einwanderung von der entgegengeſetzten 
Seite her, durch den regelrechten O. S. O- 
Paſſat erfolgt ſein müſſe. Ganz deutlich 
in der Richtung dieſes Windes erſtreckt ſich 
parallel jenem melaneſiſchen Zuge eine 
Reihenfolge kleiner, faſt nur von reinen 
Polyneſiern bewohnter Inſeln; ein zweiter, 
ebenfalls rein polyneſiſcher Streifen führt, 
dem erſteren parallel, in etwas größerem Ab— 
ſtande über die Gilberts- und Marſchall— 
inſeln nach den Karolinen und andern In— 
ſeln mit malayiſcher Bevölkerung. Freiherr 
v. Schleinitz ſchließt deshalb, daß die 
Verwandtſchaft der Malayen und Polyne— 
ſier nicht durch eine direkte Bevölkerung 
von Aſien aus zu erklären ſei, ſondern 
daß ſie durch das außertropiſche Gebiet der 
Weſtwinde über Amerika ihren Weg ge— 
nommen haben müſſe, da er die Unmög— 
lichkeit einer Bevölkerung gegen Meeres— 
ſtrömung und Wind in jenen Gegenden 
kennen gelernt und als praktiſcher Seemann 
erprobt habe. Man wird der Anſicht 
eines praktiſchen Seemannes, der zugleich 
Anthropologe iſt, in dieſer Frage ein be— 
deutendes Gewicht beimeſſen müſſen, aber 
bevor man ſeiner Theorie zuſtimmt, dürfte 
es doch noch zu erwägen ſein, ob die Ver— 
ſchlagungs-Chancen nicht dennoch größer für 
geringere Strecken von Inſel zu Inſel (durch 
Ausnahmswinde), als für ungeheure ftationg- 
loſe Meeresweiten durch die herrſchenden 
Winde ausfallen? Haben in neueren Zeiten 
nachweislich jemals Landungen amerikaniſcher 
Boote an polyneſiſchen Eilanden ſtattge— 
funden? K. 


Kleinere Mittheilungen. 


Parthenogeneſis bei einer deutſchen 
Alpenpflanze. 


Herr Prof. A. Kerner in Innsbruck 
erſtattete der Wiener Akademie der Wiſſen— 
ſchaften vor Kurzem Bericht über die von 
ihm bei einer deutſchen Alpenpflanze beob— 
achtete Parthenogeneſis. 
Geburt iſt bekanntlich im Pflanzenreiche 
viel ſeltener beobachtet worden, als in der 
Zoologie und — Religionsgeſchichte, und 
jeder derartige Erkenntnißbeitrag hat An— 
ſpruch auf unſer lebhaſtes Intereſſe. Es 
handelt ſich um eine Compoſite der höhern 
Alpenregion, die eine nahe Verwandte des 
allbekannten und allbeliebten Edelweiß oder 
Löwentätzchens iſt, nämlich um das Alpen— 
Katzenpfötchen (Autennaria alpina). Dieſe 
Pflanze iſt gleich dem ſchönen Katzenpfötchen 
der Ebene (X. dioica) und anderen Schweſtern 
diöciſch, und wurden männliche Exemplare 
derſelben nur höchſt ſelten angetroffen. Prof. 
Kerner, der die weibliche Pflanze ſeit 
1874 im botaniſchen Garten von Innsbruck 
pflegte, hat die männliche Form nie zu 
ſehen bekommen. 
auch die Möglichkeit einer Befruchtung durch 
Inſekten mit Pollen der eignen oder ver— 
wandten Arten ausſchloß, die Pflanzen 
brachten dennoch eine Anzahl reifer Samen, 
die er im Frühjahr 1875 ausſäete. Von 
dieſen keimten ſechs; vier gingen ein, aber 
zwei wuchſen ebenſo üppig auf, wie die 


Mutterpflanzen, ohne ein Zeichen von Ba— 


ſtardnatur zu zeigen. Da die männlichen 


Pflanzen im Freien ſo außerordentlich ſelten 
ſind, ſo glaubt Prof. Kerner, daß ſich 
auch die wilde Pflanze für gewöhnlich ohne 
Befruchtung fortpflanze. Indeſſen wird man 
über dieſe merkwürdige Erſcheinung noch 
weitere Verſuche anſtellen müſſen, denn ſchon 
bei einfachen Blüthen iſt es oft ſchwer genug, 


Die jungfräuliche 


Aber jo forgfältig er 


die Abweſenheit aller und jeder Pollen— 
bildung feſtzuſtellen, bei ſo kleinblüthigen 
Compoſiten, wie Antennaria, erhöht ſich 
dieſe Schwierigkeit noch weſentlich. K. 


Der Formenreichthum der 
Chinabäume. 


Unter den Pflanzenfamilien, welche be— 
ſonders geeignet erſcheinen, die Schwierig— 
keiten des Artbegriffes zu erläutern, hat 
Herr Dr. W. O. Focke in ſeiner Arbeit 
im 2. Heft des „Kosmos“ mit gutem Fug 
auch auf die Cinchonen hingewieſen. Sie 
ſind in der That den Botanikern der neuen 
Welt geworden, was jenen der alten die 
Weiden, Brombeeren u. ſ. w. geweſen ſind, 
und die Pharmakologen haben einen beſon— 
deren Ausſchuß von Chinologen deputiren 
müſſen, um der ſo ſchwierigen und doch ſo 
geſchätzten Formengruppe Herr zu werden, 
was ſodann in zahlreichen Monographien 
verſucht worden iſt. Der neueſte Bearbei— 
ter dieſes edlen Geſchlechtes, Herr Dr. 
Kuntze, iſt hierbei nun zu ganz ähnlichen 
Ergebniſſen gelangt, wie der oben genannte 


Kleinere Mittheilungen. 


Naturforſcher, und führte in den diesjäh— 
rigen Januar- und Februar-Sitzungen des 
botaniſchen Vereins der Provinz Branden- 
burg aus, daß er von dem geſammten 
großen Heer anſcheinend ſo ſehr verſchiedener 
Formen nur etwa vier als wirkliche Arten 
anerkennen könne, nämlich Cinchona Wed- 
delliana Ktze; C. Pahudiana Howard; 
C. Howardiana Ktze. und C. Pavoniana 
Ktze.; alle übrigen ſeien Baſtarde. Nörd- 
lich vom Aequator kämen beinahe nur Ba— 
ſtarde vor, zu denen auch die meiſten der 
in Oſtindien, ſowohl am Himalaya wie 
auf Java angepflanzten Formen gehören, 
diejenigen nicht ausgenommen, welche man 
früher mit für Hauptarten angeſehen hat, 
wie C. officinalis, laneifolia und cordi- 
folia. Dieſe Baſtarde bilden ſich ebenfo 
leicht ſpontan, wie ſie ſich künſtlich erzeugen 
laſſen, und ſind, was am meiſten bemer— 
kenswerth erſcheint und die Verwirrung 
ſteigerte, nicht ſelten völlig fruchtbar. 
Es ſcheint, daß die Baſtarde ſich leichter 
akklimatiſiren laſſen, als die reinen Formen, 
und daß unter ihnen die unfruchtbaren 
Formen reicher an Chinin ſind, als die 
fruchtbaren. K. 


Die geſchichtliche Entwicklung des 
Farbenſinnes. 


nter vorſtehendem Titel hat Herr Dr. 


Augenheilkunde in Breslau, durch 

9 feine Forſchungen auf den Gebieten 
der Phyſiologie und Pathologie des Ge— 
ſichtsſinnes in weiten Kreiſen bekannt, 
eine kleine Schrift“) veröffentlicht, in 
welcher er von ſeinem Standpunkte aus 
die von Lazarus Geiger auf ſprachlichen 
Grundlagen ausführlich begründete Anſicht, 
daß der menſchliche Farbenſinn ſich erſt in 
hiſtoriſchen Zeiten aus einfachen Anfängen 
entwickelt habe, weiter auszuführen und 
phyſiologiſch zu rechtfertigen ſucht. Da 
die Frage ein allgemeineres Intereſſe bean— 
ſpruchen darf, und der Beifall eines ſo ge— 
wiegten Forſchers auf phyſiologiſchem Gebiete 
der ſprachlichen und hiſtoriſchen Kritik ein Ge— 
wicht giebt, welches ſie bis dahin nicht be— 
ſeſſen hat, ſo werden wir der Darlegung 
unſerer Bedenken eine ausführliche Analyſe 
des Ganges und der hauptſächlichſten Ge— 
ſichtspunkte dieſer inhaltreichen Abhandlung 
vorausſchicken. 


*) Leipzig, Veit & Co. 1877. 


61 


Literatur und Kritik. 


| der Naturmenſchen, die den Kulturvölkern 
abhanden gekommen iſt, keinen Einwand 


Hugo Magnus, Privatdocent der 


Mit Recht hebt der Herr Verfaſſer 
im Eingange hervor, daß die vielgerühmte 
und thatſächlich beſtehende Sin nesſchärfe 


gegen die Annahme, daß die Sinne durch 
die Kultur entwickelt werden, begründet. 
Denn jene gerühmte Sinnesſchärfe kommt nur 
der elementaren Thätigkeit der Organe zu, ſie 
betrifft die durch fortwährenden Gebrauch 
geübte Fähigkeit, den fernſten Punkt im Netz— 
hautbilde richtig zu deuten, das leiſeſte 
Geräuſch zu hören, wohl gar, wie die 
Thiere, mit der Naſe die Nähe oder das 
Dageweſenſein ausdünſtender animaliſcher 
Weſen zu „wittern“. Aber wie ſchon 
Geiger und Andere bemerkt haben, geht dem 
Naturmenſchen der Sinn für angenehme, 
harmoniſche Farben, Töne, Gerüche und 
Geſchmacksempfindungen mehr oder weniger 
ab; ſie würdigen weder die Leiſtungen eines 
Farbenkünſtlers noch die eines Contrapunk— 
tiſten, ja nicht einmal die Eſſenzen eines 
Parfümeurs und die Delikateſſen eines Koch— 
künſtlers. Auch bringt das Menſchenkind 
gebildeter Klaſſen nicht die Abneigung gegen 
Mißgerüche, ſchreiende Farbenzuſammen— 


ſtellungen, disharmoniſche Muſik, welche 
ſeine Eltern auszeichnet, mit auf die Welt, 
ſondern beanſprucht in feinen Sinnegempfin- 
dungen Erziehung und Ausbildung, worin 


man gewiß mit wohl verſtandener Beſchrän— 
kung eine Analogie der Sinnesentwicklung 
durch die Cultur erblicken darf. 

In einem ähnlichen Sinne glaubte nun 


Geiger nachweiſen zu können, daß die Ur- 
völker nicht für alle Farben des Spektrums 


die gleiche Empfänglichkeit uranfänglich be— 
ſeſſen hätten, daß ihnen namentlich die blaue 
Farbe kaum aus der Dunkelheit aufge— 
dämmert ſei, weshalb ſie dieſelbe häufig mit 
Schwarz verwechſelt hätten, und daß nächſt— 
dem auch Grün in gleicher Weiſe von ihnen mit 
Grau zuſammengeworfen worden ſei. Den 
Regenbogen, den wir ſiebenfarbig nennen, 
bezeichnet enophanes als eine Wolke: 
purpurn, roth und gelbgrün; Ariſtoteles 
nennt ihn ebenfalls dreifarbig: roth, 
grün und blau, bemerkt aber, daß zwiſchen 
roth und grün ein gelblicher Ton erſcheine. 
Die Edda ſchildert den Regenbogen als 
dreifarbige Brücke. Da ſchon in der 
Farbenbezeichnung des Regenbogens ſichtbare 
Auffaſſungs-Verſchiedenheiten hervortreten, 
glaubt der Verfaſſer von den beſtimmten 
Bezeichnungen abſehen zu ſollen, um die 
Farben für eine ſolche hiſtoriſche Betrach— 
tung lediglich nach ihrer Lichtſtärke zu 
klaſſificiren. Es ergiebt ſich hierbei, daß 
die Empfänglichkeit für die lichtreichen, dem 
rothen Ende des Spektrums näheren Farben, 
alſo beſonders für Roth und Gelb, ſich 
bis in die älteſten Schriftzeiten verfolgen 
läßt. In Perioden, in denen keine andren 
Farben genannt werden, begegnen wir doch 
ſtets dieſen beiden „Urfarben“. Indeſſen 
meinte Geiger, daß dieſe Bezeichnungen 
nicht ſchlechthin mit dem, was wir jetzt 
darunter verſtehen, zu verwechſeln ſeien; 


Roth diejenige von Helligkeit, Lichtfülle 


überhaupt, weshalb es in den Rigveda- Beſchränkung an, obwohl er ſtatt En 


Literatur und Kritik. 


Pythagoras, 
Gelb hatte der ſprachlichen Ableitung nach 
eher die Bedeutung von Gelbroth und 


265 


liedern häufig mit Weiß zuſammenfällt. 
Es wäre alſo nur eine Empfindung des 
Hellen überhaupt geweſen, die man im 
Gegenſatz zum Dunkel mit Roth bezeichnete. 
Nach der Anſicht von Magnus müßte 
man indeſſen annehmen, daß dieſe beiden 
Farben nicht allein ihrer Lichtſtärke, ſondern 
auch ihrer Farbenqualität nach zuerſt unter— 
ſchieden worden wären. Gladſtone hat 
bereits 1858 in ſeinen Homerſtudien zu 
erweiſen geſucht, daß in der Entſtehungszeit 
der homeriſchen Gedichte nur die lichtreichen 
Farben Roth und Gelb deutlich klaſſificirt 
wurden, während die Farben mittlerer und 
geringerer Lichtſtärke: Grün, Blau, Violett, 
im Hintergrunde blieben. Die Bezeichnung 
für Grün fiel mit dem Begriff des Fahlen, 
Gelblichen (XAwgos), für Blau und 
Violett mit dem des Dunklen (avaveos) 
zuſammen. Gladſtone hat ferner darauf 
hingewieſen, wie Homer eine Unzahl Worte 
für Helligkeitsunterſchiede verwen— 
dete und eine Anzahl anderer Philologen 
hat dieſe auffallende Armuth an Farben— 
bezeichnung der homeriſchen Schilderungen 
im Gegenſatze zu ihrer plaſtiſchen Aus— 
malung zum Gegenſtande ihrer Betrachtungen 
gemacht. Für Roth, welches am häufigſten 
vorkömmt, werden dagegen verſchiedene Be— 
zeichnungen verwendet. Der Verfaſſer er— 
innert ferner an die Erzählung des Plinius, 
daß man zuerſt nur einfarbige Ge— 
mälde und zwar rothe mit Zinnober oder 
Mennige gemalt habe, ſpäter dann vier— 
farbige, nämlich mit weißen, ſchwarzen, 
rothen und ockergelben Pigmenten. In 
ähnlicher Weiſe führten die alten Philoſophen 
Timäus Locrus und 
Empedokles nur vier Hauptfarben: 
Schwarz, Weiß, Roth und Gelb auf, ja 
ſelbſt Theophraſt ſchließt fi noch dieſer 


N 


5 


266 Literatur und Kritik. 


Gelbgrün nennt. Ewald in ſeinen neuen 
Unterſuchungen über die Farbenbewegung 
findet, daß die Vorliebe der Alten für Gelb 
eine ungemein große war, während es um— 
gekehrt bei uns mißliebig geworden iſt 
durch eine Verſchiebung des Farbengeſchmacks. 


Die Farben mittlerer Lichtſtärke, dem Grün 
entſprechend, würden kaum die Empfindung 


der älteren Kulturvölker angeregt haben. 
Die zehn Bücher der Rigveda geben nach 
Geiger der Erde ebenſowenig das uns 
ſo geläufige Beiwort grün, als ſie am 
Himmel die Bläue vermerken. Ebenſo 
werden im Zendaveſta weder die Erde noch 
die Bäume und Pflanzen jemals als grün 
bezeichnet. Geiger und Magnus ſchließen 
daraus, bei den Alten müſſe die Empfäng- 
lichkeit für die grüne Farbe noch gefehlt 
haben. Bei den Griechen glauben ſie dann wahr— 
zunehmen, wie dieſe Farbenempfindung ſich 
allmälig entwickelt und einerſeits vom Gelben, 
andrerſeits vom Grauen ſich losringt. 
Geiger und Schuſter hoben ausdrück— 
lich hervor, daß 4 ss bei Homer gelb 
bedeutet und mit 70s, ockerfarbig, als 
gleichbedeutend gebraucht wird, Heſiod 
dagegen bereits den belaubten Zweig mit 
dieſem Worten bezeichnet. Chloros bedeutete 
übrigens zunächſt immer Gelbgrün und 
Ariſtoteles ſtellte ihm ausdrücklich das 
geſättigte Lauchgrün gegenüber. Homer 
nennt den Honig und die fahle Farbe der 
Angſt IJ οο, allerdings auch einmal 
ebenſo die Saat, wodurch die Vermuthung 
entſteht, als habe dies Wort urſprünglich 
nur überhaupt einen fahlen gelblichen Ton 
bezeichnet. Allmälig aber gewann der Aus- 
druck die Bedeutung von Gelbgrün, ſo— 
dann von Grün überhaupt, als ob er ſich 
mit dem Empfindungsvermögen erſt zu 
einer beſtimmten Bedeutung entwickelt hätte. 
Aehnlich verhält es ſich mit dem egyptiſchen 


urſprünglich 


Worte tehen, welches nach Pietſchmann 
eine vage Bezeichnung wie 
chloros iſt und keineswegs bloß Gelb be— 
deutete, denn Tehennu hießen die hellfar— 


bigen Völker Lybiens und s-tehen bedeutete 


„ergrünen laſſen.“ Das ſchon erwähnte Lauch— 
grün, me«owog oder co, ſchloſſen 
die Naturkundigen phyſikaliſch an die dunklen 
Farben an, indem ſie im Gegenſatze zu dem 
an das lichte Gelb anlehnenden chloros her— 
vorheben, daß es ſehr viel Dunkelheit und 
Schwärze enthalte, wobei überall in der 
Klaſſifizirung das Beſtreben hervortritt, 
die Lichtſtärke der Farben hervorzuheben. 

Die Farben geringerer Lichtſtärke, dem 
ſpektralen Blau und Violett entſprechend, 
wären nach Geiger und Magnus noch 
ſpäter als Grün zur ſpecifiſchen Unterſchei— 
dung gelangt, denn es ſeien im grauen Alter— 
thume die Bezeichnungen für Lichtblau 
mit Grau, und für Dunkelblau mit 
Schwarz zuſammengefallen. Wir ſähen 
ſie an der Hand der Schriftunterſuchung 
faſt ſichtbarlich aus der Empfindungsnacht 
hervortreten. Der Ausdruck yAavaos, den 
man jetzt nicht ſelten mit Hellblau überſetzt, 
hätte urſprünglich ebenfalls nur die Be— 
deutung einer Helligkeitsſtufe gehabt, ein 
fahles Grau, wie es uns in den blaugrauen 
oder „glauen“ Augen entgegentritt, nicht 
aber ein reines Blau. Geiger will ent— 
deckt haben, daß in den vediſchen Büchern, 
in dem Aveſta, in der Bibel und ſelbſt 
noch in dem Koran () der Himmelsbläue eben— 
ſowenig Erwähnung geſchehe, als in den 
homeriſchen Schriften. 
auch erwähnt werde, niemals erhalte er dieſe 
Bezeichnung, ja in allen dieſen Schriften 
komme ein Wort für reines Blau über- 
haupt nicht vor. Das altnordiſche bla, 


das Stammwort für blau und black be- 
deutet ſchwarz. 


In der finniſch⸗tatariſchen 


So oft der Himmel 


7 
* — 


267 3 


Literatur und Kritik. 


| violetten Farbe gegenüber noch keine ſpezi— 


Sprachfamilie heißt kek, kök, urſprünglich 
grau, dann blau und grün. Das Ara— 
mäiſche hat ebenſowenig wie das Hebräiſche 
ein ſelbſtſtändiges Wort für die blaue Farbe 
ausgebildet, und die Bibel, welche des Him— 
mels 450 Mal erwähnt, konnte ihn nir— 
gends blau nennen. Das Wort nil, welches 
über einen großen Theil von Aſien ver— 
breitet iſt, und jetzt indigblau bedeutet, be— 
ſagte urſprünglich ſchwarz. Die romaniſchen 
Sprachen mußten ihre Bezeichnung für blau 
(biavo, bleu) von dem nordiſchen bla erbor— 
gen, welches, wie ſchon erwähnt, ſchwarz 
heißt. 

Das altchineſiſche Wort hiuan, welches 
man heute für Himmelbau gebraucht, be— 
deutete ebenfalls urſprünglich Schwarz: 
hiuan te heißt nicht blaue Tugend, ſondern 
dunkle, verborgene Tugend. 

Ebenſo bezeichnete denn auch das griechiſche 
Wort xvavsos, welches wir jetzt mit 
kornblumenblau überſetzen, beim Homer 
ſchwarz. Er nennt das Haar des Hektor, 
des Odyſſeus, der Hera und des Zeus kya- 
neos, und es fällt Niemand ein, die berühmte 
Stelle, nach welcher Phidias ſeinen Zeus 
gebildet haben ſoll, etwa zu überſetzen: „Er 
ſprach es und mit den blauen Augenbrauen 
winkte er.“ An anderen Stellen gebraucht 
Homer xvavsos und nel als völlig 
gleichwerthig, nur um abzuwechſeln, wo er 
z. B. von dem ſchwarzen Trauergewande 
der Thetis ſpricht. 


Odyſſeus mit der dunkelvioletten Hyacinthe, 
Pindar ſpricht von Veilchenflechten und 
Veilchenlocken. 


ſcheinlich hervorzugehen, daß in den homeri— 
ſchen Zeiten die Netzhaut der blauen und 


In ähnlicher Weiſe 
wird Violett mit Schwarz ſozuſagen ver- 
wechſelt. Homer vergleicht die Haare des 


Es ſcheint hieraus den er⸗ 
wähnten und anderen Kritikern als wahr- 


fiſche Empfindung beſaß, ſondern ſie ihrer 
Lichtſchwäche wegen einfach mit dem Licht— 
mangel, der Dunkelheit vermiſchte. Die— 
ſelbe ſprachliche Unbeſtimmtheit wie den 
griechiſchen Bezeichnungen für Blau, haftet 
dem lateiniſchen Worte caeruleus an, 
welches urſprünglich die ganze Tonleiter 
von Graugrün und Graublau bis Schwarz 
bezeichnete und nur allmählig die Bedeutung 
eines mehr oder weniger reinen Blau's 
gewann. Noch Virgil gebraucht Wen- 
dungen wie caeruleus puppis (der 
ſtygiſche Nachen des Charon), Valerius 
Flaccus giebt der Finſterniß, Statius 
der Nacht und dem Schatten daſſelbe Bei— 
wort, und Servius bemerkt zu einer 
Stelle des Virgil, in welcher caeruleus 
als Trauerfarbe figurirt, das Wort ſei auch 
mit niger gleichbedeutend. 

Aus den vorſtehend in ihren Haupt— 
punkten erwähnten Folgerungen vorwiegend 8 
ſprachlicher Natur, zieht Magnus 
folgende Schlüſſe, die ich wörtlich anfüh— 
ren will: 

1) „In feiner erſten und primitivſten 
Entwicklungsperiode beſchränkte ſich der 
Farbenſinn nur erſt auf die Empfänglichkeit 


für Roth; jedoch war auch dieſe Empfin— 
dung noch keine reine und deutlich ausge— 
ſprochene, ſondern fiel zum Theil noch mit 
der des Hellen und Lichtreichen zuſammen, 


ſo daß Weiß und Noth noch keine ſcharf 
geſchiedenen Begriffe waren. Da nun aber 
die Empfindung des Hellen, Lichtreichen 
und des Dunklen, Schattigen, nicht ſowohl 
eine Funktion des Farben-, als vielmehr 
des Lichtſinnes iſt, jo dürfte in dieſer Per 
riode der Lichtſinn, d. h. die Fähigkeit, 
die verſchiedenen Lichtquantitäten zu em- 
pfinden, nur erſt die einzige Funktions 


äußerung der Netzhaut geweſen ſein, und 


folglich der Farbenſinn ſich nur erſt in 


— 5 
wi. 


S 


268 


wenig charakteriſtiſchen und höchſt unter— 
geordneten Spuren bemerkbar gemacht 
haben. 

2) In der folgenden Phaſe ſeiner Ent— 
wicklung tritt der Farbenſinn ſchon in 
einen ſcharfen und deutlich ausgeſprochenen 
Gegenſatz zu dem Lichtſinn; die Empfäng— 
lichkeit für Roth und Gelb löſt ſich von 


der des Hellen, mit der ſie bis dahin ver- 


ſchmolzen war, vollſtändig los und ge- 
ſchen Phyſiker ſie ausdrücklich als Hellig— 


winnt den Charakter einer ſelbſtſtändigen 
und ſpecifiſchen Farbenempfindung. 

3) Im weiteren Verlaufe geſtaltet ſich 
die Entwickelung des Farbenſinnes derart, 
daß an die Fähigkeit, die lichtreichen Far- 
ben Roth und Gelb zu empfinden, ſich die 
Empfindlichkeit 
Lichtſtärke anſchließt. Im Beſondern ent— 
wickelt ſich die Kenntniß der hellen Töne 
des Grün aus der allgemeinen Vorſtellung 
des fahlen Gelb, während die des dunklen 


Grün aus der allgemeinen Vorſtellung 
des Dunklen und Schattenreichen her— 
vorgeht. 


4) Das Empfindungsvermögen für die 
lichtſchwachen Farben Blau und Violett 
tritt zuletzt auf, indem es ſich ganz all— 
mählig aus der Vorſtellung des Dunklen, 
in der es bis dahin vollſtändig aufging, 
loslöſt. Mithin iſt der Entwicklungsgang, 
welchen der Farbenſinn eingeſchlagen hat, 
in der Weiſe erfolgt, daß er, entſprechend 
der Reihenfolge der prismatiſchen Farben, 
bei den lichtreichſten Farben begonnen hat 
und, genau an die allmälige Lichtabſchwä— 
chung der Spectral-Farben ſich haltend, 
durch Grün zu Blau und Violett vorge— 
geſchritten iſt.“ 

In einem letzten und wichtigſten Ka— 
pitel fügt der Verfaſſer hinzu, daß jener 
erſten Stufe der Empfindung des Rothen 
nach dem Entwicklungsgeſetze noch eine 


für die Farben mittlerer 


Literatur und Kritik. 


niedrigere voraufgegangen ſein müſſe, in 
welcher die Netzhaut gar nichts von den 
Lichtqualitäten, ſondern nur ihre Quanti— 
täten, die Schattirungen zwiſchen Hell und 
Dunkel, empfand. Dieſe Phaſe würde der 


ſchriftloſen, vorgeſchichtlichen Zeit angehört 


haben und die griechiſchen Philoſophen, 
namentlich Anaxagoras, ſprachen von 
einer Zeit, in welcher noch keinerlei Farben 
exiſtirt haben ſollten, während die griechi— 


keitsquantitäten, als Miſchungen von Hell 
und Dunkel, wie ſpäter Göthe, erklärten. 
Aber ſelbſt die gegenwärtige Funktions— 
fähigkeit unſerer Netzhaut ſpricht, nach 
Magnus, ſehr deutlich für die Behaup— 
tung, daß in gewiſſen früheren Perioden die 
Empfindlichkeit für Farben noch vollſtändig 
gefehlt haben müſſe. „Denn die Fähig— 
keit, Farben zu empfinden, iſt auch heut— 
zutage noch nicht allen Theilen der Netz— 
haut in der gleichen Weiſe eigenthümlich, 
vielmehr beſchränkt ſich dieſelbe hauptſächlich 
nur auf einen mehr oder minder aus— 
gedehnten, centralen Theil derſelben, wäh— 
rend die peripheriſche Netzhautzone eine höchſt 
ausgeprägte Trägheit der Farbenempfindung 
zeigt. Die in dem mittleren Theile der 
Netzhaut ſich ſehr kräftig bemerkbar ma— 
chende Empfindung eines jeden Farbentones 
wird gegen die Netzhautperipherie hin nicht 
blos auffallend ſchwächer, ſondern ver— 
ſchwindet ſchließlich völlig und an dem 
farbigen Object wird nicht mehr deſſen 
Farbenwerth unterſchieden, ſondern daſſelbe 
imponirt dem Auge nur vermitttelſt der _ 
ihm eigenen Lichtſtärke; ſo daß daher jede 
Farbe in gewiſſen peripheriſchen Bezirken 
der Netzhaut als mehr oder minder aus— 
geſprochenes Grau erſcheint. Wenn wir 
alſo beobachten, daß der Zuſtand, welchen 
wir als den urſprünglich der geſammten 


Literatur und Kritik. 


Netzhaut eigenthümlichen vorausgeſetzt haben, 
noch heute für gewiſſe Netzhautbezirke der 


der Entwickelung begriffen 


phyſiologiſche ift: jo wird unſere Behaup- | 


tung, daß dieſer Zuſtand in früheren Peri— 


oden nicht blos auf einzelne Bezirke der 
Netzhaut beſchränkt, ſondern allen Theilen der | 


Netzhaut eigenthümlich geweſen ſei, gewiß 


erheblich an Wahrſcheinlichkeit gewinnen.“ 


Damit im Einklang hat der Verfaſſer an 
kleinen Kindern die Beobachtung gemacht, 


daß anfangs nur lichtreiche Farben, nament— 
lich Roth ihre Aufmerkſamkeit erregen, ſo⸗ 
daß man ſelbſt noch bei Kindern, die über 
ein Jahr alt ſind, eine auffallende Gleich— 
gültigkeit gegen alle unbeſtimmten Uebergangs— 
farben beobachtete. Worin dieſe Vervoll— 
kommnung der Netzhautthätigkeit nun be— 
ſteht, läßt ſich vor der Hand nur ahnen 
und als Steigerung der ſpecifiſchen Ener— 
gie des Sinnes betrachten. Vielleicht giebt 
die weitere Unterſuchung der Farben— 
blindheit, in welcher der Verfaſſer, wie 
es auch ſchon von anderen Autoren ges 
ſchehen iſt, uicht abgeneigt wäre, eine Art 
von Atavismus zu erkennen, d. h. ein 
Rückſchlagen oder Verbleiben des Sinnes 
organs auf jenen Stufen, wo die Empfäng— 
lichkeit für alle Farbentöne noch nicht aus- 
gebildet, war weiteren Anhalt. Mit dieſer Bor- 
ſtellungsweiſe im Einklange ſchließt der Ver— 
faſſer, daß die Entwicklung des Farbenſinnes 
mit der gegenwärtig erreichten Stufe 
möglicherweiſe noch keineswegs abgeſchloſſen 
ſei, „im Gegentheil, wir möchten viel eher 
glauben, daß im Laufe der kommenden 
Zeiten der Farbenſinn eine noch weitere 
Ausbildung erfahren und ſich über das 
äußerſte violette Ende des Spektrums noch 
in das Gebiet des Ultravioletten hinein 
erſtrecken werde. ..... Ohnehin möchten 
wir glauben, daß die Empfindlichkeit für 
Violett auch heute noch in dem Stadium 


269 = 


ſei; da fi 
beobachten läßt, daß das Unterſcheidungs— 
vermögen für gewiſſe Töne von Blau und 
Violett ein noch ziemlich ſchwankendes und 
ungenügend geſchärftes iſt. ..... Ja 
wir müſſen endlich ſogar auch die Möglich— 
keit zulaſſen, daß die peripheriſchen Netzhaut— 
bezirke, welche gegenwärtig für jede Farben— 
empfindung ſo gut wie unempfindlich ſind, 
in ſpäteren Perioden auf eine ähnliche 
Höhe der Farbenempfindlichkeit gelangen kön— 
nen, wie ſie heutzutage nur den mittleren 
cetzhautbezirken eigenthümlich iſt . . . .. 1 
Was im Vorſtehenden auszugsweiſe 
wiedergegeben wurde, ſind gewiß im Munde 
eines Ophtalmologen doppelt gewichtige 
Gründe für die in Rede ſtehende Auf— 
faſſung. Aber ſo ſehr dieſelben im Ein— 
klange zu ſtehen ſcheinen mit den als all— 
gemein gültig erkannten Geſetzen der Ent- 
wickelung, kann ich einer ſolchen Hypo— 
theſe, ſoweit ſie grade den Menſchen betrifft, 
keineswegs beiſtimmen, und ich werde meine 
Gegengründe nunmehr in der Kürze ent— 
wickeln, um dem geehrten Herrn Verfaſſer 
Veranlaſſung zu geben, ſie vielleicht in 
dieſen Heften zu entkräften. Meine Haupt- 
bedenken ſind von der Rangſtufe des Men— 
ſchen in der Natur hergenommen. Dar— 
win, nachdem er die den menſchlichen 
Scharfſinn quälende Zweckmäßigkeit der 
Naturdinge durch ſein Geſetz der natür— 
lichen Zuchtwahl erklärt hatte, frug ſich, 
ob man auf dieſelbe Weiſe auch die Schön— 
heit der Welt erklären könne. Er mußte 
dies verneinen und eine andere Schlußfolge 
erſinnen, und fand ſo die Geſetze der 
geſchlechtlichen Zuchtwahl, um die 
Schönheit der Thiere, den Nutzen der pflanz 
lichen Kreuzbefruchtung durch Inſekten, 
die Farbenpracht der Blumenwelt zu er— 


klären. Dieſe Hauptgeſetze, an die ſich 
einige Nebengeſetze (Mimiery u. |. w.) 
anlehnen, beruhen im Weſentlichen mit auf 
der Vorausſetzung, daß die Farben— 
empfindung eine allgemeine und 
urſprüngliche, oder ſagen wir, 
eine ſehr frühentwickelte Fähigkeit 
des Geſichtsorganes iſt. Dr. Her— 
mann Müller hat beobachtet, daß ſich 
die Honig oder Blumenſtaub ſuchenden 
Juſekten viel mehr durch die Farbe, als 
durch die Form der Blumen einladen 
laſſen, ſofern ein Infekt, welches ſich z. B. 
auf die Ausbeutung einer blauen Blume 
geworfen hat, von einer blauen Blume 
zur andern, wenn ſie auch verſchiedener 
Geſtalt iſt, fliegt. Sir John Lubbock 
hat ſich vor zwei Jahren experimentell von 
dem ausgebildeten Farbenunterſcheidungsver— 
mögen der Inſekten überzeugt. Bei den 
Reptilien und Vögeln ſcheint ſich der 
Farbenſinn bereits zu einer Würdigung 
angenehmer Farbenzuſammenſtel— 
lungen erhoben zu haben, denn ohne 
dieſe Annahme läßt ſich z. B. kaum die 
Pracht des Kolibri's, die Schönheit des 
Pfauenſchweifes erklären, auf die der Vogel 
ſo eitel iſt, und um welche Chryſippus 
das ganze Thier erſchaffen ſein läßt. Von 
den Schmetterlingen gilt wohl etwas Aehn— 
liches. Ein Vermögen aber, welches den 
ältern Wirbelthieren, ja ſogar zahlloſen 
wirbelloſen Thieren eigen iſt, ſollte dem 
Naturmenſchen bis zu den Zeiten Homers 
gemangelt haben? Unglaublich! 

Indeſſen übereilen wir uns nicht! Wa— 
rum ſollten nicht gerade die Säugethiere, 
als würdige Vorläufer des Weſens der 
grauen Theorie, die lachende Welt ſeit jeher 
Grau in Grau geſehen haben? Beinahe 


niemals hat die geſchlechtliche Zuchtwahl bei 
ihnen Kleider von lebhaften Farben erzeugt, 


Literatur und Kritik. 


grasgrüne Säugethiere ſind ebenſo unbe— 
kannt als himmelblaue, purpurrothe und 
violette, oder gar buntfarbige. Lebhafte 
und ſchöne Färbungen treten in der That 
erſt bei einigen Affen und dem Menſchen 
auf; die niedern Säugethiere kleiden ſich, 
wie der moderne Menſch, in ſtumpfe, ge— 
brochene Farben. Auch muß daran erinnert 
werden, daß jener lichtempfindliche purpur- 
rothe Farbſtoff in der Netzhaut, den Prof. 
Franz Boll erſt kürzlich im Wirbelthier- 
Auge aufgefunden hat, und der möglicher 
weiſe zum Farbenſehen in beſtimmten Be— 
ziehungen ſteht, allerdings kürzlich auch im 
menſchlichen Auge nachgewieſen worden iſt, 
daß man ihn aber ſchon viel früher und 
in größerer Menge in den Augen der 
Cephalopoden und Seekrebſe entdeckt hat, 
außerdem in den Augen der Heteropoden, 
Käfer und Schmetterlinge. Man könnte ferner 
aus den farbigen Oeltröpfchen in den Augen 
der Reptilien und Vögel, die dem Wirbel— 
thierauge fehlen, ſchließen, daß in der That 
die Wirbelthiere erſt im Kulturmenſchen 
das Vermögen erlangt haben, die Farben— 
ſchönheit der Blumen, Vögel und Schmetter— 
linge, ja der geſammten Natur zu würdigen. 

Wenn nun auch der Nachweis, daß die 
Farbenempfindung eine ziemlich allgemeine 
Fähigkeit der ſehenden Thierwelt iſt, ge— 
eignet erſcheint, die Vermuthung, daß unſre 
älteſten Vorfahren vielleicht nicht der ganzen 
Farbenſkala mächtig geweſen ſeien, lebhaft 
zu erſchüttern, ſo reicht er doch nicht aus, 
fie völlig zu widerlegen und wir müſſen 
zu andern Hilfsmitteln unſre Zuflucht 
nehmen. Ich will hierbei nur auf einen 
Punkt hinweiſen, der mir beſonders beweis— 
kräftig erſcheinen will. In dem geſammten 
graueſten Alterthume und in den älteſten 
Schriftdenkmalen wird die Schönheit eines 
Halbedelſteines, deſſen Farbe ſich der äußer— 


Literatur und Kritik. 2371 


ſten Grenze der Farbenentwickelung (nach 
Geiger und Magnus) nähert, vor der— 
jenigen aller andern Steine geprieſen, näm— 
lich diejenige des indigblauen Lapis lazuli. 
Es iſt dies der Vaidürya der alten Inder, 
der Saphir der Bibel und aller älteſten 
Schriftſteller, nicht zu verwechſeln mit dem 
Saphir unſerer Zeit. Kein Edelſtein be— 
ſaß einen ſo großen Ruf im Alterthume 
und hat ſo lebhaften Bergwerksbetrieb und 
Handel hervorgerufen, als dieſer Stein, den 
wir jetzt centnerweiſe künſtlich bereiten. Die 
Beweiskraft dieſes Steines iſt darum ſo 
groß, weil er außer ſeiner herrlichen, tief 
dunkel indigblauen Farbe gar keine Vorzüge 
beſitzt, die ihm ſonſt in den Augen der 
Menſchen hätten Werth verleihen können; 
er iſt undurchſichtig, ohne Farben— 
ſpiel, ohne bemerkenswerthe Schwere oder 
Härte, nur die Farbe an ſich konnte 
an ihm entzücken. Der Ruhm dieſes 
Steines, der einem ganzen Volke (den 
Sapiren) ſeinen Namen gab, reicht hin, zu 
beweiſen, daß die Alten faſt der geſammten 
Farbenſkala mächtig waren, und es iſt kaum 
nöthig, zu erwähnen, daß nächſt ihm ein 
ebenfalls undurchſichtiger, härteloſer, 
hellblauer oder grünlicher Stein, der Türkis, 
früh und mehr geſchätzt wurde, als die 
rothen, gelben und weißen Edelſteine, die 
erſt durch künſtlichen Schliff ihr Farben— 
ſpiel und ihre volle Schönheit erhalten. 
An vielen Stellen der Bibel, wo dieſe beiden 
Edelſteine neben andern genannt werden, 
kann man leicht erkennen, daß ſie für die 
ſchönſten galten, z. B. Hohe Lied 5, 14 
wo Türkis und Saphir allein erwähnt 
werden. Auch der violette Amethyſt wird 
in der Bibel häufig genannt. 

Nach dieſem, wie mir ſcheint, unaugreif— 
baren Beweiſe, welchen der Saphir der 
Alten an die Hand giebt, müſſen wir nun 


verſuchen, die ſprachlichen Abſonderlichkeiten 
der alten Literatur hinſichtlich der Farben— 
bezeichnung aus der Sprache ſelbſt zu 
erklären, und das iſt nicht ſo ausſichtslos 
als es erſcheinen mag. Die Gründe für 
dieſe Abſonderlichkeiten mögen theils pſycho— 
logiſcher, theils ſprachlicher, theils ſpekulativ— 
philoſophiſcher Natur geweſen ſein. Es 
wird am beſten ſein, bei dieſem erklärenden 
Commentar in der Reihenfolge des vor— 
ſtehenden Auszugs zu verfahren. Daß wir 
erſtens den Regenbogen ſiebenfarbig nennen, 
welchen die alten Völker dreifarbig fanden, 
beweiſt nur, daß man uns in der Schule 
von ſieben Hauptfarben vorgeredet hat, 
während es doch überhaupt nur vier oder 
höchſtens fünf giebt, und daß wir uns 
nunmehr einbilden, alle ſieben Farben im 
Regenbogen zu ſehen. Blau, Indigo, Violett 
und Purpur als ebenſo viele Hauptfarben 
aufzuführen, iſt eine ſchreiende Ungerechtig-— 
keit gegen Orange, Gelbgrün und Blau— 
grün. Die einzelnen Farben nehmen im 
Spektrum einen ſehr ungleichen Raum ein, 
das Blau und Violett einen ungebührlich 
breiten, das Grün und Gelb oft einen ſehr 
ſchmalen, und auf den erſten Blick kann 
man ſelten mehr als drei wirklich ausge— 
bildete Farben im Regenbogen erkennen. 
Die alte Bezeichnung iſt meines Erachtens 
viel begründeter als die neue. Daß die 
Alten zweitens Erde und Bäume ſo ſelten 
grün und den Himmel noch ſeltener als 
blau bezeichnen, hat m. E. einen pfycholo— 
giſchen Grund. Man vergeſſe nicht, daß 
die alten Schriften meiſt unter einem ewig 
blauen Himmel, in einer immergrünen 
Natur verfaßt wurden, ſo daß es keinen 
Sinn gehabt haben würde, dieſe Beiwörter, 
ſelbſt wenn ſie exiſtirt hätten, immer im 
Munde zu führen. Wenn wir vom blauen 
Himmel reden, ſo iſt blau ein Schmuckwort, 


272 Literatur 
ein ſogenanntes Epitheton ornans, weil der 
Himmel bei uns vorwiegend trübe iſt, und 
ebenſo ſteht es mit der Bezeichnung des 
Erdbodens und Baumes, wenn wir ſie 
grün nennen. Es iſt übrigens obendrein 
unwahr, wenn Geiger ſagt, in der Bibel 
werde nirgend der Himmel blau genannt. Es 
heißt z. B. von der Erſcheinung Jahve's 
(2. Moſ. 24, 10): „Unter ſeinen Füßen 
war es wie ein ſchöner Saphir und wie 
das Ausſehen des Himmels, wenn es klar 
iſt.“ Hier und an anderen Stellen wird 
doch ausdrücklich der Himmel als tief dun— 
kelblau bezeichnet. Allein dieſer Nothbehelf 
(der Vergleich des Himmels mit dem Saphir) 


und Kritik. 


führt uns zu dem Kerne der Sache, welcher 


pſychologiſch ſehr intereſſant iſt. Es ſcheint 
mir nämlich daraus hervorzugehen, daß 


unausgebildeten Sprachen die Farbenbezeich-⸗ 
nungen durchweg zu fehlen ſcheinen. In 
während Grün dem Roth an Lichtreichthum 


der That wird man bei genauerem Nach— 
denken finden, daß die Bezeichnung der 
einzelnen Farbentöne erſt dringend wurde, 
nachdem man zu einem gewiſſen Kleider— 
und Wohnungsluxus gelangt war, ſeitdem 
der Färber ſein Amt begonnen hatte. Einem 
ganz analogen Falle begegnen wir bei dem 
verwandten Sinne des Ohrs. Hier hat 
uns nichts genöthigt, den einzelnen Tönen, 
die den Farben ſo vielfach verglichen wor— 
den ſind, beſondere Namen beizulegen, wir 
unterſcheiden ſprachlich nur tiefe und hohe 
Töne, wie das Alterthum nur von dunklen 
und leuchtenden Farben redete. Ganz das 
Verhältniß, welches Geiger beim Studium 
der alten Schriftſteller in Erſtaunen ſetzte, 
fand Schweinfurth bei den nubiſchen 
Moslemin's in Afrika: ſie haben für grau 
und grün nur ein Wort (achdär) und 
ein anderes für blau und ſchwarz (äsrak) ). 

) Im Herzen Afrika's, Leipzig 1874. 
Bd II S. 175 


5 


Es würde aber für einen Reiſenden nicht 
allzu ſchwierig ſein, ſich zu überzeugen, ob 
dieſe Naturkinder blos ſprachlich oder 
thatſächlich außer Stande ſind, blau von 
ſchwarz zu unterſcheiden, und da hierüber, 
wie dieſe Zeilen beweiſen, Zweifel beſtehen, 
wäre es dankenswerth, wenn ein Reiſender 
in Zukunft ſie beſeitigen wollte. 
Hinſichtlich der Reihenfolge, in welcher 
die Farbennamen in Gebrauch gekommen 
ſind, theile ich ganz die Anſicht von Dr. 
Magnus, daß dieſe Einführung neuer 
Bezeichnungen in der Reihenfolge der Spek— 
tralfarben geſchehen ſei. Allein meine 
Gründe für dieſe Meinungsübereinſtimmung 
ſind weſentlich anderer Art. Zuvörderſt 


muß ich bemerken, daß ich der abnehmenden 
Helligkeit hierbei einen weſentlichen Einfluß 


nicht zuſchreiben kann. Im Spektrum iſt 
nicht Roth die hellſte Farbe, ſondern Gelb, 


kaum nachſteht. Ueberhaupt halte ich die 
Lichtquantität der Farben in Bezug auf 
ihre Unterſcheidung für untergeordnet gegen— 
über der Lichtqualität, der Schwingungszahl 
ihrer Wellen. Hierbei zeigt ſich nun als 
allgemeine Erfahrung, daß das Auge der 
Vögel, Säugethiere und Menſchen durch ein 
feuriges Roth am ſtärkſten erregt wird; 
ich erinnere nur an die Aufregung des Trut- 
hahns, der Stiere in den Schaugefechten durch 
rothe Tücher, und an das Gefallen der 
Landleute an brennend rothen Kleidern, der 
Kinder an rothen Bildern. Die Be— 
merkung des Plinius, daß man zuerſt 
in Roth gemalt habe, iſt durchaus pſycho— 
logiſch wahrſcheinlich, und ſollte es ſich 
dabei auch nur um die rothe Bemalung des 
eignen Körpers der Wilden handeln. Es iſt 
bis zu einem gewiſſen Grade wahrſcheinlich, 
daß dieſer erregende Reiz des Rothen in 
der langſamen, den Wärmeſtrahlen zunächſt 


len, Schattigen, Dunkeln, und nicht weniger 


Literatur und Kritik. 


verwandten Schwingungsart liegt, allein 
auch ſchon der Umſtand, daß die ganze 
Natur in blau, grün und gelb gekleidet iſt, 
mußte zur Bevorzugung der ſeltener ver— 
tretenen Zinnober- und Purpurfarbe führen. 
Dazu kommt, daß ſich die rothen und 
gelben Farbſtoffe in Thieren, Früchten, 
Blumen und Farbhölzern von ſelbſt dar— 
bieten, während die grünen und blauen in 
der Erde geſucht werden müſſen und aus 
den Pflanzen nur durch umſtändliche Prozeſſe 
gewonnen werden können. Hier ſind offen— 
bar Sprache und Färberei ſelbander ge— 
gangen; die Gewänder ſind gewiß lange 
Zeit nur roth und gelb gefärbt worden, 
bis man auch blaue und grüne Zeugfarben 
mühſam ermittelte. 

Nach alledem iſt nichts natürlicher, als 
daß das Roth auch die erſte Farbe geweſen 
ſein mag, die ihren beſondern Namen er— 
halten hat, und obwohl die Autorität 
Geiger's für mich ziemlich ſtark erſchüt— 
tert worden iſt, glaube ich ihm doch völlig, 


wenn er ſagt, daß der Begriff des Rothen 


urſprünglich mit dem des Leuchtenden, 
Weißen und Hellen faſt zuſammenfiel. Wir 
ſelbſt ſprechen beſtändig von einem glühen— 
den, brennenden, feurigen Roth, während 
wir höchſtens in übertragener Ausdrucks— 
weiſe von einem brennenden, feurigen Blau 
ſprechen würden. Die Sonne erhebt ſich 
glühendroth am Morgen, das Feuer leuchtet 
roth durch die Nacht, ſo daß ſogar die 
rothen Thiere als Symbole des Feuers 
und der Sonne gebraucht wurden. Ein 
Aehnliches aus ähnlichen Gründen gilt für 
das leuchtende, feurige Gelb. Je mehr 
nun dieſe Farben ſich dem Lichte und Feuer 
verſchmelzen, um ſo natürlicher haftete ſich 
an die gegenüberſtehenden Gruppen der blauen 
und violetten Farben der Begriff des Küh— 


273 


naturgemäß verſchmilzt ihr Begriff, fo 
lange ein beſtimmter Name nicht in Ge— 
brauch genommen war, mit dem des Dunklen 
überhaupt. Ueberall in der Natur grenzt 
Blau an die Dunkelheit. Das Licht ſchim— 
mert gelb oder roth durch den Nebel, die 
Dunkelheit aber dämmert, wenn man ſo 
ſagen darf, überall bläulich durch den 
Schleier dünner Wolken und Vorhänge, 
ſei es die Dunkelheit des Weltabgrundes, 
der Meerestiefe, der Ferne, des Auges x. 
Dazu kommt das allgemeine Verſchmelzen 
des Schattens mit dem blauen Reflexlicht 
des Himmels im Süden. Alle im Schatten 
liegenden Klüfte und Riſſe der Berge er— 
ſcheinen im Süden, je nach dem Stande 
der Sonne, blau oder violett. Ich kann 
mir nichts phyſikaliſch und pſpychologiſch 
Nothwendigeres vorſtellen, als daß ein Volk, 
welches noch kein beſonderes Wort für Blau 
gebildet hat, daſſelbe mit dem Worte „dunkel“ 
(denn jo und nicht „ſchwarz“ muß wohl kya- 
neos überſetzt werden) bezeichnen wird. Wir 
haben übrigens noch heute, trotzdem wir 
es doch nicht mehr nöthig haben, denſelben 
Sprachgebrauch. Die dunkelviolette Hya— 
cinthe, der einſt Homer, und vielleicht nicht 
weniger der lockigen Perigonzipfel, als der 
dunklen Farbe wegen, das Haar ſeines 
edlen Dulders verglich, führen unſre Gärt— 
nerkataloge als „ſchwarze“ Hyacinthe auf, 
die dunkelblaue Gewitterwolke nennen wir 
ſchwärzlich, wir ſprechen von „dunklen“ 
Veilchen u. ſ. w. 

Aus dieſen natürlichen Grundlagen bil— 
dete ſich nun jene Farbentheorie heraus, 
welche von den älteſten Griechenzeiten bis 
auf Newton die herrſchende war, und 
dann von Goethe noch einmal erweckt 
wurde, jene Theorie, welche lehrte, daß das 
Gelb und Roth aus vielem Licht und wenig 
Dunkelheit, Blau und Violett aus ne 


274 


Licht und vieler Dunkelheit gemiſcht ſeien, 
eine Theorie, welche der einfachſten Beob— 
achtungsgabe entſpricht, und für welche, jo 
weit ſie ihrem Werthe nach den religiöſen 
Mythen an die Seite geſtellt werden muß, 


Literatur und Kritik. I, 


Haupttönen ift meiſtens ein Werk der jüng— 
ſten Zeit, zum Zeichen, wie ſpät ſich die 


Goethe als Dunkelmann, trotz ſeines 
eminenten Verſtändniſſes der Farbenwirkung, 


in die Schranken trat. 
in dieſer Theorie eine eigenthümliche Mittel— 


ſtelle ein, es iſt gleichſam halb Licht und 
halb Dunkelheit, halb Weiß, halb Schwarz 
(aus der gelben Lichtfarbe und der blauen 


Dunkelheit miſchbar), daher die Verſchmel— 


zung mit grauen, fahlen Mitteltönen, fo | 


lange das beſondere Wort dafür fehlt. 
Wenn man bei Betrachtung einer grünen 


Landſchaft die grünen Strahlen durch ge | 


eignete Gläſer abblendet, was man durch 
Lommel's Erythroſcop erreicht, ſo erſchei— 
nen Raſen und Laub leuchtend zinnober— 
roth. In dieſer Färbung müßte den Alten 
die Vegetation erſchienen ſein, wenn ihnen 
das Empfindungsvermögen des Grünen 


Das Grün nimmt 


gemangelt hätte, und da fie für die Em 


pfindung und Bezeichnung des Rothen frü— 
her befähigt geweſen ſein ſollen, würden ſie 
uns das gewiß nicht verſchwiegen haben, 


wenn ihnen der Wald zinnoberroth erſchienen 


wäre. 


Der ſprachliche Entwickelungsgang war 
offenbar derart, daß man ſich mit Ver- 


gleichungsobjekten behalf, ſo lange das be— 
ſondere Wort fehlte, wie z. B. in der 
Bibel der Himmel öfter mit dem Saphir 
verglichen wird. Vielleicht ſetzten ſich einige 
dieſer Vergleichungsworte als Nenn- und 


Atavismus. 


Sprachen in dieſer Richtung vollendeten. 
Aber wenn die Farbbezeichnungen Lila, 
Violett und Penſce die allerjüngſten dar— 
unter ſind, ſo leite ich das nicht daher ab, 
daß dieſe Farben erſt in neuerer Zeit zur 
Geltung gekommen wären, ſondern daher, 
weil man erſt in unſerer Zeit die 
Flieder-, Veilchen- und Stiefmütterchenfarbe 
als Kleider- und Modefarbe zur Herrſchaft 
bringen konnte und in der Küpe ſicher zu 
treffen lernte. Der blaue Purpur der 
Alten mag etwas Aehnliches geweſen ſein. 

Doch aus der Kritik wird eine Ab— 
handlung, und ſo viel noch über dieſe Dinge 
zu ſagen wäre, muß ich mich darauf be— 
ſchränken, noch kurz zwei Punkte zu berüh— 
ren. Hinſichtlich der geringeren Farben— 
empfindlichkeit der peripheriſchen Theile der 
Netzhaut giebt Dr. Magnus ſelbſt zu, 
daß ſie wohl mehr dem Nichtgebrauch zu— 
zuſchreiben ſei. Der andere Punkt betrifft 
die Auffaſſung der Farbenblindheit als 
Wenn unſere Anſchauungs— 
weiſe richtig iſt, daß nämlich die erwähn— 


ten Ausdrücke mehr für eine Unvollkommen— 


Unterſcheidungsworte feſt, wie karmin, roſig, 
orange, indigo u. |. w., welche nur Ab 


kürzungen von Wendungen wie „roſen— 
fingrige Eos“, „ſafranfarbiger Morgen“, 


„lauchfarbiger Grund“ u. ſ. w. vorſtellen. 
Die Bezeichnung der Nüancen zwiſchen den 


heit der Sprache als des Auges der 
Naturvölker ſprechen, ſo fällt dieſe Deutung 
in ſich ſelbſt zuſammen. Damit ſteht in 
vollem Einklange, daß nicht Blaublindheit, 
ſondern Rothblindheit am häufigſten vor— 
kommt. Eine weitere Entwickelungsfähig— 
keit des Empfindungsvermögens nach der 
violetten Seite des Spectrums will ich 
nicht in Zweifel ziehen; in Wahrheit ſehen 
ſchon jetzt einige Perſonen das ſogenannte 
Lavendelgrau, was aber keine nennenswerthe 
Bereicherung unſerer Skala zu ſein ſcheint. 

Aber obwohl ich faſt alle Aufſtellungen 
dieſer kleinen inhaltreichen Schrift habe be— 
kämpfen müſſen, muß ich ſagen, daß mir 


Literatur und Kritik. 


275 


dieſelbe ſowohl wegen der darin niedergelegten ſieht, ſo hat ſicherlich dieſes liebenswürdige 
Beleſenheit, als auch durch die geiſtvolle kleine Buch einen erheblichen Antheil an 
Behandlung des Themas das lebhafteſte dieſer erfreulichen Thatſache. In der leich— 
Vergnügen gewährt hat. Und nicht allein ten und gefälligen Art Sir John Lubbock's 
Sprachforſcher, die meine Anſchauungsweiſe und mit der ausgeſprochenen Abſicht ver— 
etwa näher zu prüfen ſich veranlaßt ſehen faßt, bei ſeinen Kindern jene Liebe zur 
möchten, werden aus derſelben die ſtärkſte Naturbeobachtung hervorzurufen, der er „ſo 
Anregung erhalten, ſondern auch Natur- viele glückliche Stunden“ verdankt, eignet 
forſcher überhaupt. Denn wenn die oben es ſich vorzugsweiſe für alle diejenigen, 
mitgetheilten Sätze des Verfaſſers auch auf | welche nicht jo tief in das „entdeckte 
den Menſchen keine Anwendung finden ſoll- Geheimniß der Natur“ eindringen wollen, 
ten, ſo muß doch die Farbenempfindung wie ſie es vermittelſt der umfang⸗ 


irgendwo einmal im Thierreiche ihren An— 
fang gehabt haben, und es wäre eine ver— 
ſprechende Aufgabe für einen Forſcher, zu 


verfolgen, ob etwa die obigen Sätze hier 
ihre Anwendung fänden, und ob wirklich 
Roth nicht allein die reizendſte, ſondern 


auch die zuerſt und am allgemeinſten be- 
wundertſte Farbe in der Stufenfolge der 
Thiere iſt. K. 


Sir John Lubbock, Blumen und 
Inſekten in 
ziehung. 


ſchnitten. Berlin, 1877. 
träger (Ed. Eggers). 


Zur erſten Einführung und Orientirung 
über den Gegenſtand, welchen das vor- 


erwähnte Werk behandelt, und um die 


Luſt zur Selbſtbeobachtung, für die gerade | 


dieſes Feld unzähligen Naturfreunden reich— 


liche, angenehme und dankenswerthe Ernten 
verſpricht, zu wecken, kann es keine beſſere | 


Anleitung geben, als das vorliegende Buch, 
und wenn man in den naturwiſſenſchaft— 


lichen Zeitſchriften Englands den Bienen- 
fleiß der Beobachter auf dieſem Gebiete mit 
dem Bienenfleiße der Honigſucher wetteifern 


S. 154: 
ſtatt Samen berichtigen. Die Ausſtattung 
iſt wahrhaft ſplendid. 


ihrer Wechſelbe⸗ 
Nach der zweiten Auflage 
überſetzt von A. Paſſow. Mit 130 Holz⸗ 
Gebr. Born⸗ 


reicheren Werke von Charles Darwin 


und Hermann Müller vermögen, oder 


die einer leichteren Einleitung dazu bedürfen. 
Leider find bei der Reviſion einige recht 
ſinnſtörende Fehler unbemerkt geblieben, von 
denen wir S. 43 nämliche ſtatt männ⸗ 
liche Form, S. 121 elektriſche Ströme 
ſtatt Schläge, ebenda 1772 ſtatt 1872, 
Früchtchen der Boragineen 


Profeſſor Dr. Ernſt Häckel, Anthro— 
pogenie oder Entwicklungsge— 
ſchichte des Menſchen. Gemein— 
verſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge 
über die Grundzüge der menſchlichen 
Keimes- und Stammesgeſchichte. Mit 
15 Tafeln, 330 Holzſchnitten und 44 
genetiſchen Tabellen. Dritte umgearbeitete 
Auflage. Leipzig, Wilhelm Engelmann 
1877. 

Beim Anblick der dritten Auflage dieſes 


Buches dürften den klaſſiſch gebildeten 
Gegnern ſeines Verfaſſers jene beiden 
Schriften Plutarch's einfallen, die 


überſchrieben ſind: „Vom Glücke Alexander 
des Großen“, in denen der als Gerechtig— 
keitsmuſter berühmte Erforſcher und Ver— 


276 


gleicher der menſchlichen Werthe erwägt, 
ob Alexander ſeine Ruhmestitel mehr dem 
Glücke verdanke oder ſeiner Tapferkeit, und 
das Ergebniß dieſer Betrachtung iſt dann, 
daß eben dem Muthigen das Glück ge— 
bühre, und daß man wagen müſſe, um 
zu gewinnen. Als Häckel in ſeinem 
Werke über die Kalkſchwämme die Ga— 
ſträatheorie aufſtellte, da ſchlich ſich gar 
mancher ſeiner Mitkämpfer ob dieſer Kühn— 
heit bei Seite, und hielt es für beſſer zurück— 
zubleiben, ja ſich feierlich loszuſagen von 
dem allzukühnen Heerführer. 

Heute, wie wir aus der neuen Auflage 
der Anthropogenie erſehen können, iſt die 
Gaſträa-Theorie abgerundet, wie nur 
wenige zoologiſche Theorien es ſind und 
was ihr Urheber im Anfange kaum ſelbſt 
zu hoffen gewagt hat, iſt geſchehen, er hat 
lebende Gaſträaden aufgefunden und Andere 
haben die Gaſtrula-Form bis zu den höchſten 
Wirbelthieren hinauf in ihrer Entwicklungs— 
geſchichte nachgewieſen. Der kühnſte Hand— 
ſtreich aber, hinſichtlich deſſen ſeine Gegner 
die Fortuna des ſtärkſten Nepotismus be— 
ſchuldigen, wurde in der erſten Auflage 
der Anthropogenie ſelbſt ausgeführt. Für 
eine beſtimmte Entwicklungsperiode des 
Menſchen ließen den Verfaſſer nämlich 
alle bisherigen Beobachtungen im Stiche. 
Man hatte niemals feſtſtellen können, wie 
die kindliche Placenta urſprünglich ausſieht, 
und Häckel mußte daher ſeinen Spiritus 
familiaris, d. h. den Genius der ver— 
gleichenden Anatomie citiren, um ſich das 
Niegeſehene im Spiegel der Wiſſenſchaft 
zeigen zu laſſen. Sofort große Aufregung 
unter den lauernden Gegnern. Endlich 
hat man ihn bei einem Recognoscirungs— 
Zuge ergriffen! Hochnothpeinliche Anklage: 
Prof. His, Vorſitzender der heiligen 


Literatur und Kritik. 


Vehme. Aber Fortuna verläßt die 
Muthigen nicht. Sie ſendet zur Zeit der 
höchſten Bedrängniß das Niegeſehene dem 
Prof. Krauſe in Göttingen zur Prüfung, 
und ſiehe da, die Erſcheinungsform iſt 
genau ſo, wie ſie Häckel entworfen hatte. 
Es ſteifen ſich nun zwar die Ankläger auf 
einen alten Paragraphen der heiligen 
Vehme, in welchem es heißt, daß Wahrſagen 
deb dee Aber es ſcheint, daß das 
ein Schreibfehler iſt, und daß in der 
Wiſſenſchaft vielmehr das Unwahrſagen 
eine üble Nachrede nach ſich zieht. Bei 
einer vorherverkündeten und wohlberechneten 
Sonnenfinſterniß, ſtehen die Zweifler am 
ärgſten im Schatten, und vorſichtige Zoo— 
logen, welche eine wortſpielende Vergleichung 
mit einem gewiſſen Zoilus vermeiden wollen, 
ſchmähen daher immer erſt, wenn ſie ihrer 
Sache böllig ſicher ſind, und die Rechnung 
ſich ſchon als falſch erwieſen hat. Wir 
rechnen dieſe Entdeckung der urſprünglichen 
menſchlichen Allantoisform keineswegs zu 
denjenigen Entdeckungen, welche amerikaniſche 
Ingenieure mit dem Beinamen „Eclipſe“ zu 
bezeichnen pflegen, weil, fie alle andern zu 
verdunklen geeignet ſind, aber lehrreich iſt 
ihre Geſchichte ſehr für diejenigen, die ſie 
angeht. Auch glauben wir, daß in der An- 
thropogenie noch mehrere ſolcher über— 
raſchenden Vorgreiflichkeiten ſchlummern, 
denn wenn es auch im praktiſchen Leben 
und nach der materiellen Seite wahr ſein 
mag, daß den Dummen immer die größten 
Kartoffeln wachſen, in der Geſchichte der 
Wiſſenſchaften hat man keine verbürgten 


Beweiſe für die Wahrheit dieſes Sprich 


wortes finden können. In der Wiſſenſchaft 
haben nur diejenigen Glück und Erfolge 
zu verzeichnen, die dieſelben wirklich ver— 
dient haben. K. 


— — —́uq—k—— 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 4 


Aeber Philoſophie der Darwin'lchen Lehre 


von 


Otto Caspari. 


1. Was iſt Darwinismus im 
Gebiete der Philoſophie? 


über die Verhältniſſe und Be— 
ER ce wegungen des organiſchen Lebens, 
wie ſie durch die Theorien Dar— 


* 
win's angebahnt wurde, kann nicht ohne 


Rückwirkung ſein auf die allgemeinen 
Grundſätze der Philoſophie, und mit Recht 
erheben wir daher die Frage: Was ver— 
ſtehen wir vom Geſichtspunkte der Philo— 
ſophie unter Darwinismus? 

Um dieſe Frage aufzuhellen, erſcheint es 
räthlich, von vornherein auf beſtimmte 
philoſophiſche Grundanſchauungen hinzu— 
weiſen, mit denen ſich die moderne Lehre 
der Biologie im Sinne Darwin's und 


jede ſog. Descendenzlehre in keinem Falle 


verträgt. 

Die Darwin'ſche Lehre vereinigt ſich 
nicht mit der Anſicht, nach welcher ein 
über das ganze Univerſum hinauslie— 


gender Weltſchöpfer als deus ex 
machina das Weltall künſtlich und über- 


weltlich leitet und gängelt. Dieſer 
abſolute Schöpfer, den man, um ihn zu 


illuſtriren, oft mit einem Regiſſeur ver⸗ 
glichen hat, ſtände hinter den Decorationen 


* des Welttheaters, ſähe unter die Verſenk— 
Nine ſo tief eingreifende Lehre 
ſion), und hätte außerdem das ſchon vor 
Aufgang des Vorhangs (ante rem) 


ungen (die Zöllner'ſche vierte Dimen— 


fertig geſchriebene Drama (den Welt— 
plan und den unfehlbaren hiſtoriſchen Ver— 
lauf, d. i. die Teleologie) ſtets in der Hand, 
um die Acteurs richtig hiernach durch den 
Souffleur (d. i. die höhere ſpiritiſtiſche In— 
ſpiration) zu unterrichten. Nach dieſer 
kindlichen Weltanſchauung fällt das All 
künſtlich auseinander, das natürliche Welt⸗ 
getriebe wird zerriſſen. Hier auf der 
einen Seite der myſtiſche Führer des Alls, 
auf der anderen die todte paſſive Welt mit 
ihren übernatürlichen Eingriffen von oben. 
Es iſt überflüſſig, dieſen unmöglichen Dua⸗ 
lismus näher zu kritiſiren. Ein Schöpfer 
hinter und über dem Univerſum, dort 
wo es nichts mehr zu denken giebt, hebt 
ſich ſelbſt auf. Dieſer in ſich zwieſpaltigen 


278 


Anſicht gegenüber iſt der Darwinismus 
Einheitslehre (Monismus). Nach dieſer 
moniſtiſchen Lehre giebt es keinen ſog. Welt— 
ſchöpfer und keinen ſchon vor dem All ge— 
zeichneten Weltplan (Weltzweck), die Con— 
ſtructionen ante rem jedweder Art find 
(ſo ideal ſie mit Plato ausgedacht wer— 
den mögen) daher zu verwerfen. Dieſer 
teleologiſche Weltplan für Bau und Drama 
der Bühne des Univerſums beſteht auch 
nicht in re, wie man ſich mit Rückſicht 
auf Ariſtoteles ausdrücken darf. Das 
will ſagen: Man kann den Regiſſeur hin— 
ter den Couliſſen fortlaſſen, meinetwegen 
auch den Souffleur und kann nun ver— 
ſuchen, das Stück dennoch nach allen Kunſt— 
regeln abzuſpielen. Die Schauſpieler kön— 
nen alle ihre Rollen gut auswendig, ſie 
erſcheinen zur rechten Zeit auf der Bühne, 
ohne des Anſtoßes vom Regiſſeur zu be— 
dürfen, ſie haben ihre Sache gut im Kopfe; 
indem ſie ſo alle richtig ſpielen, iſt das 
Stück unter ihnen im ariſtoteliſchen Sinne 
in re. Sie ſpielen, und da ſie nichts 
Sinnloſes ſpielen dürfen und können, ſpielt 
ſich eben nothwendig das Weltdrama 
ab. Ein anderes Beiſpiel: Es ſoll ein 
Haus gebaut werden. Hierzu kann man 
vorher einen Plan fertigſtellen, den die 
Bauleute nicht genau überſehen und kennen, 
ſo wird ein Bauführer nöthig, der 
künſtlich leitet; oder die Bauleute, die alle 
beſtändig gewöhnt ſind zu bauen und ſchon 
viel und immer gebaut haben, können 
dieſen Bauingenieur entbehren, haben 
alle Regeln der Baukunſt ſo feſt in ſich, 
daß ſie ſtets bauen und nothwendig bauen 
müſſen, als ſei ein Plan und ein Plan— 
macher vorhanden, obwohl er ihnen allen 
eben nur im Kopfe ſteht. Indem fie 
nun pünktlich und kunſtgerecht in einander 
greifend bauen, entſteht ein Haus nach 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


den Regeln der Kunſt, feſt gefügt mit ein 
für allemal fixirten und am beſtimmten 
Orte feſtſtehenden Wandungen, Zimmern 
und Etagen. Dieſe Wände und Zimmer— 
räume (Klaſſen, Gattungen u. ſ. w.) können 
nicht beliebig verſetzt werden in— 
nerhalb dieſes Baues, denn damit ginge 
das feſt geordnete Gefüge (der teleologiſche 
Plan ante rem oder in re) in Stücke, ja 
das ganze Gefüge ginge völlig zu Grunde. 
Mit beiden teleologiſchen Grundanſichten, 
möge man ſie zu ſerviren verſuchen à la 
Plato oder à la Ariſtoteles, läßt 
ſich der Darwinismus, wie leicht zu erſehen 
iſt, nicht mehr vereinigen. Denn in 
dem Darwiniſtiſchen Hauſe des Weltalls 
ſteht eben keine einzige Zimmer— 
wand für immer feſt. Im Gegen— 
theil, die Bauleute ſcheinen hier gar keinen 
abſolut feſten Plan zu kennen, denn indem 
ſie zugleich den Bau bewohnen, werden ſie 
mit ewigen Abänderungen und Umformungen 
darin gar nicht fertig. Hier führen ſie 
jetzt eine Wand auf und trennen ſich von 
ihren Nachbarn (weil dieſe unverträglich 
wurden), dort find die Nachbarn mit Rück⸗ 
ſichten für größere Geſelligkeit und Annehm— 
lichkeit übereingekommen, gemeinſchaftlich ihre 
Zwiſchenräume niederzureißen, um inniger 
zuſammen ſein zu können. Malt man ſich 
dieſes Bild weiter aus, ſo kommt man zu 
durchgreifend anderen Anſchauungen. 
Ging dort alles ſtreng, ſteif und regelrecht 
zu, alles dem Plane gemäß, ſo ſchie— 
nen ſich dennoch die Bauleute einander 
fremd zu ſein, ſie arbeiteten zwar genau 
einander in die Hände (entweder weil es 
fo vom Ingenieur commandirt wurde 
nach Plato, oder weil fie auf den Plan 
dreſſirt waren [nah Ariſtotelesl), 
dennoch ſchienen ſie nur Automaten und 
Streber des Planes zu ſein. Mindeſtens 


Plato's 


waren ſie alle Schauſpieler, die ihre Rolle 


kannten und folgerecht ſpielen mußten. Da- 
mit aber waren dieſe Glieder keine Faktoren 
mehr, die natürlich auf einander 
wirken konnten, um ſich einander dem 
Moment gemäß, d. h. improviſirend, an— 
zupaſſen oder zu bekämpfen und zu reiben, 
zu ſtören, zu reizen, oder aber ſich zu er— 
gänzen und zu vertragen u. ſ. w. Die 
Begriffe: Störung, Hemmung, Kampf — 
damit haben wir getroffen, was die An— 
hänger des Weltplaus ſchreckt. Wer den 
Plan (die Teleologie) behauptet, im Sinne 
ebenſo wie im Sinne des 
Ariſtoteles, wird es niemals erklärlich 
finden können, daß dem Ingenieur als 
Führer des Ganzen plötzlich durch eine 
Revolte der Arbeiter ins Handwerk ge— 
pfuſcht wird. Sein Plan iſt unfehlbar. 
Auch die Schauſpieler im Sinne des A ri— 
ſtoteles müßten aus der Rolle fallen, 
wenn Mephiſto nicht vorgeſehen wäre 
im Weltdrama. Wie aber, wenn Me— 
phiſto, der im Stücke nothwendig wird, 
von den Acteurs vorzeitig hinausgeworfen 
würde, dann wäre doch offenbar das Stück 
geſtört, die Schauſpieler wären aus der 
Rolle gefallen, hätten improviſirt und hier— 
mit den Plan vernichtet. Mephiſto, der Ent- 
zünder des Streites, der offenbar wird, und 


nur deshalb Mephiſto ift, weil er ab- und 


zugehen kann, ohne daß er vermuthet wird, 
iſt eben die ſchwierige Perſon, die mit keiner 
Unfehlbarkeit und Allwiſſenheitsteleologie 
verträglich erſcheint. Wir wiſſen, daß die 
verneinende Macht im Weltdrama als die 
Erſcheinung des Uebels auftritt und ſchon 
hier ſei vorab bemerkt, daß die Teleologie 
(und das überſehen meiſtens die ihr an— 
hängenden Theologen) keine genügende Theo— 
rie des Uebels und der ſich hieran anknüpfen— 


2 den Erſcheinungen von extremen Störungen, 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


Dieſe Anſicht 


Hemmungen und verneinenden zerſtörenden 
Gewalten (als welche Uebel erſcheinen) zu 
geben im Stande iſt. Es bleibt mit 
Rückſicht auf den unverbrüchlichen Welt— 


plan immer nur die Wahl zwiſchen Regie, 


Präſtabilismus und Drama, in welchem 
mit Hülfe typiſch feſtſtehender Figuren 
(darunter muß alsdann auch Mephiſto fein) 
ſich alles ſo nothwendig abſpielt, wie es 
im vorgeſehenen Ausgange des Stückes 
veranlagt iſt. Mitten im Stück darf alſo 
unter ſolcher Anſchauung Mephiſto nicht 
hinausgeworfen werden, er iſt vor Aus— 
gang des Stückes un entbehrlich. 
aber bietet keine richtige 
Theorie des Uebels: Das Uebel (mögen 
wir es im Gleichniß Mephiſto nennen) 
muß zu beſeitigen fein noch vor Aus— 
gang des Stückes; denn das Welt— 
drama ſpielt ewig. 
immer auf der Bühne, um bald mit 
einander ſich zu ſtreiten, bald nur gegen 
einander zu agitiren, bald ſich zu vertragen, 
bald ſich zu hemmen, bald ſich zu fördern, 


wie es die Umſtände des hiſtoriſchen Ver⸗ 


laufes mit ſich bringen. Die Acteurs (die 
Kräfte) ſind eben keine Automaten oder 
präſtabilirte Nußknacker, ſondern natürliche 
Kräfte, die auf einander wirken. Durch 
dieſe den Umſtänden angemeſſene Aufeinander— 
wirkung der Kräfte geſchieht es eben, wie 


wir im Folgenden zu zeigen gedenken, daß 


ſich Uebel (näher charakteriſirt als extremſte 
Unluſtzuſtände) erzeugen, die unter an— 
deren (näher zu unterſuchenden) Umſtänden 
wieder beſeitigt werden können. 
Wir ſehen, daß nur die cauſal-mechaniſche 


Grundanſchauung, welche alle Teleologie 
perhorrescirt, das Problem über das Uebel 


zu löſen im Stande iſt. 


Die Acteurs find . 


er 
5 du 
we a FE 


85 


* 
280 


2. Kampf, Agitation und canjal- 
mechaniſche Wirkung. 


Wiederholentlich iſt es ausgeſprochen 


worden, und mit Nachdruck muß man es 
immer von neuem wiederholen, daß die 


biologiſche Weltanſchauung, wie ſie durch 
den Darwinismus zur Geltung gekommen 


iſt, nur deshalb ſo raſch und ſo vielen 


Beifall bei den Naturforſchern fand, weil 
es ſehr bald einleuchtete, daß die ausge— 
ſprochenen Lehren über den genealogiſchen 
Zuſammenhang alles Organiſchen, über 
Bewegung und Transmutation aller Dr- 
ganismen und organiſchen Theilchen eine 
Auffaſſung zuließen, die mit den Grumd- 
annahmen mechaniſcher Regeln vereinbar 
war. Die Geſetze der Vererbung und An— 
paſſung im Hinblick auf die beſtändige 
gegenſeitige Reibung der Individuen und 
Arten gegen einander, und im Kampfe 
ferner gegen die äußeren Exiſtenzmittel von 
Nahrung, Boden, Klima und kosmiſche 
Bedingungen, waren hergeleitet aus jener 
Grundanſchauung, welche das Spiel der 
Kräfte mit allen ſeinen mechaniſchen Er— 
ſcheinungen von Kraft und Gegenkraft 
(Widerſtand) deutlich ins Auge zu faſſen 
weiß. Centrifugal und centripetal wirkende 
Kräfte ließen ſich feſtſtellen, die Gravita— 
tion ſchien deutlich erkennbar in den Wir— 
kungen und Nachwirkungen der Ver— 
erbung, und die von außen eingreifen— 
den Anſtöße der Naturumgebung als Rei— 
bungen und Hemmniſſe aller Art (ſogen. 
natürliche Zuchtwahl) wirkten dem entgegen 
als tangentiale Kräfte und manifeſtirten 
ſich in den Formen der Anpaſſung. Die 
äußere geographiſche Verbreitung der Arten 
und Gattungen, die Wanderungen der Spe— 
cies, die Lebensweiſe, die Struktur und 


Bauart der Organismen ließen ſich hier— 
5 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


mit dem großen, erhabenen Bilde einver— 


leiben, das wir uns über den Bau unſeres 
Planeten und über das mechaniſch-phyſika⸗ 


kaliſche Leben und Wirken der innewohnen— 
den Kräfte zu machen verſuchen. — Im 
äußeren Leben der Individuen unter 
einander ſehen wir Erſcheinungen zu Tage 
treten, die wir uns gewöhnt haben in ver— 
geiſtigter Weiſe anzuſchauen, da ſie dem 
von uns erlebten Staats- und Familien⸗ 
leben nahe treten. Für ſolche ſind wir 
gewöhnt, Bezeichnungen zu wählen, die rein 
pſychologiſcher Natur ſind. Wir ſprechen 
hier von Haß und Liebe, Abſcheu und 
Verehrung, Hingabe und Entziehung, Ver— 
träglichkeit und Unverträglichkeit, Schutz 
und Verfolgung, Lüſternheit und Ekel! ), 
Einſchmeichelung und Annäherung gegen— 
über von Anwiderung und Trennung u. |. w. 
Wenn wir nun die Individuen zu organi⸗ 
ſchen Theilchen zerlegen, ſo ſtoßen wir 
zunächſt immer wieder auf kleinſte Individuen 
(Zellen), die in ihrem Leben und Daſein 
Erſcheinungen aufweiſen, die in eine ver— 
ſtändliche Verbindung zu bringen 
ſind mit den hervorgehobenen pſychologiſchen 
Phänomenen des äußeren hiſtoriſchen Lebens 
der Individuen unter einander. Wie die 
Individuen in Staaten, Gruppen, Horden 
und Familien, ſo treten die Zellen ver— 
einigt auf in Organen, Organſyſtemen und 
Geweben; Auswanderungen und Einwan— 
derungen finden auch unter ihnen ſtatt, 
fortwährende Veränderungen, bedingt durch 
veränderte Nahrungszufuhr, und demgemäße 


Anpaſſungen, treten auch im mikroſkopiſchen 


Kleinleben auf. 


Verträglichkeit und 


) Siehe Heft 1 dieſer Zeitſchr. S. 17 ff. 
Jäger, Phyſiologiſche Briefe. I., und ver— 
gleiche hierzu: Caspari, Die Urgeſchichte 
der Menſchheit. I. 2. Auflage. Leipzig, 1877. 
S. 55 ff. 


Brockhaus. 


— 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


Un verträglichkeit find daher Erſchei— 
nungen, die auch im Innern eines Orga— 
nismus eine hervorragende Rolle ſpielen. 
Auch im inneren Leibe der Individuen 
herrſcht ſomit ein ähnliches Leben wie unter 
den Individuen gegen einander. Das Ab— 
ſterben und Sichauflöſen der Stoffe, plasma— 
tiſche Neubildung und Rückbildung, mit 
einem Worte der ſog, chemiſch-phyſikaliſche 
Stoffwechſel, der alle Zellen und deren 
Theilchen (die ſog. Plaſtidulen) durchdringt, 
läßt leicht erkennen, daß ſich in den feinſten 
organiſchen Theilchen nur wiederholt 
und widerſpiegelt, was im Groben uns 
vor Augen tritt im Leben der Individuen 
unter einander. Mit Recht kann man da— 
her cum grano salis von einem Kampfe 
ums Daſein auch der Zellenwelt im Kleinen 
reden. Doch iſt bei dieſer an ſich nicht 
unberechtigten Anſchauung wohl zu beach— 
ten, daß der Begriff „Kampf“ nur im 
Allgemeinen das Grundverhältniß von Kraft 
und Widerſtand ausdrücken ſoll. Es iſt 
daher wohl zu bedenken, daß der Kampf 
in dieſem Sinne ſeine verſchiedenen Grade 
hat. Gemildert iſt dieſer Effekt eben nur 
eine bloße natürliche Reaction von Bewe— 
gung und Reibung der Zellen und Plaſti— 
dulen gegen einander. Unter dieſer Form 
drückt der ſog. „Kampf“, wie erwähnt, 
nur die natürlichen, 
Aufeinanderwirkungen der Factoren 
aus, die unaufhörlich und nothwendig mit 
der Exiſtenz aller Einzelnen verbunden ſind. 
Sollen die Theilchen nicht erſterben und 
ſich auflöſen, ſo müſſen ſie ſtets dieſe 
Reactionen der Selbſterhaltung vollziehen, 


ſich aneinander reiben, bewegen, reizen und 


in chemiſch-phyſikaliſcher Weiſe auf einander 
wirken. In dieſer ihrer Wirkungsweiſe 
beſteht alles Leben überhaupt, das 
eben kein Leben mehr wäre, wenn dieſe 


cauſal-mechaniſchen 
und Umformungen aller Art im großen 


Betheiligten eine Reihe von heftigen Schä— 


n 


281 


Bedingungen fortfielen, um dem Stillſtande 
und der Veränderungsloſigkeit Platz zu 
machen; denn letztere bedeutet den Tod. 
Selbſt wenn wir die Zellentheilchen als 
ſog. Plaſtidule noch weiter zerlegen, um 
zu der Ordnung der Moleküle überzugehen, 


würden wir auch hier dieſelben 
Bedingungen des Lebens, Veränderns, 


Reizes u. ſ. w. wiederfinden müſſen. In 
allen Verhältniſſen ſuchen daher die Theil— 
chen auf einander zu reagiren, und dieſe 
ihre gegenſeitige chemiſch-phyſikaliſche Reac— 
tivität und Reizbarkeit weiſt hin auf den 
Kampf um die Exiſtenz, welchen fie führen. 
Faſſen wir den ſog. Kampf ums Daſein 
der Moleküle daher als chemiſch-phyſikaliſche 
Selbſterhaltung und Aufeinanderwirkung 
auf, ſo haben wir bei dieſer Vorſtellungs— 
weiſe nicht durchaus nöthig an die For— 
men eines Kampfes zwiſchen menſchlichen In- 
dividuen zu denken, wie er etwa ſich unter 
Völkern im Kriege abſpielt. Die einheit— 
liche Weltbetrachtung zwingt uns freilich 
auch dieſe Erſcheinungen des Kampfes 
ins Auge zu faſſen. Nur wolle man be— 
denken, daß ſich dieſe Erſcheinungen dadurch 
verändern, daß hier ſtets große Maſſen 
und Einzelne unter außergewöhnlichen Be— 
wegungen und Anreizungen auf einander 
ſtürzen, um hiermit ebenſo außerge— 
wöhnliche Folgen von Veränderungen 


Maßſtabe herbeizuführen, die für die daran 


digungen an ihrer Exiſtenz und eine große 
Summe von Unluſtzuſtänden in der Ab— 
wickelung ihrer Lebensverhältniſſe mit ſich 
bringen. Man darf ſich der Betrachtung 
nicht verſchließen, daß es Umſtände aller 
Art giebt, die im Zuſammenleben der In— 
dividuen dahinwirken, daß ſich die Reibun— 
gen, Ungleichheiten und Unverträglichkeiten 


— 


8 


282 


in hohem Maße mehren; damit verknüpfen 
ſich tiefgehende Verſtimmungen und Unluſt⸗ 
zuſtände der Weſen, die man ſich gewöhnt 
hat als „Uebel“ zu bezeichnen. Alle 
hierher gehörigen Erſcheinungen bilden das 
tiefere Studium des Ethikers. Derſelbe 
verſucht durch genaueren Einblick in die 
pſychologiſchen Grundverhältniſſe von Luft 
und Unluſt die Urſachen zu erforſchen, die 
zur Anſammlung von Unverträglich— 


keiten und hiermit verknüpften Unluſtreac⸗ 


tionen führen; er überblickt die Folgen 
dieſer Wirkungen und erkennt wie ſich, um 
ihnen zu entgehen, hieran Lageverſchiebungen 
außergewöhnlicher Art anlehnen. Er weiſt 
nach, wie ſich neue Parteiungen zwiſchen 
Verträglichen und Unverträglichen bilden 
und die natürlichen Reactionen der Indi— 
viduen und Theile hiermit extreme und 
krankhafte Grade annehmen. Hand in Hand 
mit dieſer Steigerung der Reactionen und 
Bewegungen geht eine neue 
Vertheilung der unterliegenden Subſtanzen 
und Theilchen, und mit dieſer außergewöhn— 
lichen Umformung treten dem Ethiker ebenſo 
ſehr wie dem Pathologen alsdann alle die 
Mißformen entgegen, die er deshalb als 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


und Bewegung) erfordert, zwingt daher, 
die extremen Grade des Kampfes als 
anormale (vorübergehende) Ausnahme— 
zuſtände zu betrachten.“) Wenn wir 
daher im darwiniſtiſchen Sinne an dem 
Satze feſthalten, daß wir allerwegen im 
Kosmos den Kampf ums Daſein gewahren, 
ſo ſoll das eben mit Rückſicht auf das 
Vorausgeſchickte zunächſt nur bedeuten, daß 
ſich alle Theilchen reagirend und affi— 
cirend (veränderungsfähig und aufernander- 


wirkend im mechaniſchen Sinne) verhalten. 


veränderte 
Inhalt 


Dieſe cauſal-mechaniſche (kämpfende) Auf⸗ 
einanderwirkung (die Afficirung) der Theil- 
chen finden wir allerdings ausnahmslos im 
ganzen All, von ihr kann nicht abgeſehen 
werden, — ſie bildet die lebendige Wir- 
kungsweiſe der Einzelnen unter einander 
und die Bewegung der Parteien und Maſ— 
ſen gegen einander, ſie bildet die natürliche 
Agitation, die wie das All ſelbſt un— 
endlich ſein muß, da ſie den erlebnißvollen 
deſſelben bildet. Mangelt dieſe 
Agitation der Dinge, Atome und Weſen 
gegen einander, dächte man ſich aus dem 


Weltall alle wechſelwirkenden Reizeinflüſſe, 


Uebel bezeichnet, weil die an ihnen betheis 


ligten Träger ſich naturgemäß danach ſehnen, 


dieſen extremen, außergewöhnlichen Zuftän- 


den und Unluſtverhältniſſen ein Ende zu 
machen. Wie erwähnt, werden die auf— 
tretenden Formen und Erlebniſſe, welchen 
die darau gebundenen Weſen hiermit unter— 
liegen, als tiefe Unluſt, als Schmerz und 
Uebel empfunden, und fo arbeiten alle daran 
theilnehmenden Weſen und Theilchen darauf 
hin, dieſen Zuſtänden keine Dauer zu 
ſichern, ſondern ſie raſch zu beenden. 
Selbſterhaltung und das natürliche Luſt— 
ſtreben des Einzelnen, das ein beſtimmtes 


Durchſchnittsmaß von Veränderung (Ruhe 


Die 


alle Affektionen überhaupt fort, jo man- 
gelte alles Bewegen und Leben, wir hätten 
einen todten Kosmos vor uns, den vorzu— 
ſtellen wir nicht im Stande ſind. 


3. Das Uebel 
und die Allbarmherzigkeit eines 
überweltlichen Regenten. 


Die Agitationen und Selbſterhaltungs— 
maßregeln der Einzelnen zu ihrer Exiſtenz 
haben je nach Umſtänden die verſchiedenſten 
Grade und können übergehen in jene 


) Vegleiche hierzu: Caspari, Die Ur- 
geſchichte der Meuſchheit. 2. Aufl. Theil. I. 
S. 61. er 


Extreme, die ſich leicht als ſolche gegen- 
über dem dauernden Durchſchnittszuſtande 
aller übrigen Bewegungen charakteriſiren. 
— Um das zu erkennen ein Beiſpiel: 
Betrachtet man die Witterungsverhältniſſe 
der verſchiedenen geographiſchen Breiten und 
Klimate, ſo überſieht man mit der Zeit, 
daß die Durchſchnittsmenge an atmoſphäri— 
ſchen Niederſchlägen ſich berechnen läßt, auch 
die durchſchnittlich vorhandenen Wind— 
ſtrömungen ſind nach Wahrſcheinlichkeits— 
angaben annähernd für die verſchiedenen 
Jahreszeiten zu beſtimmen; außergewöhn— 
liche meteorologiſche Ereigniſſe hingegen, 
wie Cyclone, Orkane und ähnliche hervor— 
ragende Störungen treten den angenommenen 
Durchſchnittsverhältniſſen gegenüber als Aus— 
nahmen auf. Ließen ſich alle Einzel— 
urſachen in einem gegebenen Moment 
von einem über alle Thatſachen hinaus- 
liegenden Punkte überſehen, und gäbe es 
für irgend ein Theilchen einen ſolchen 
außer- oder überuniverſellen Standpunkt, 
den Punkt des Archimedes, ſo würde 
die abſolute Vorausſage auch dieſer 


ſein. Aber man bedenke wohl, welche 
Conſequenzen dieſe Betrachtung (die von 


in ſeinem bekannten Vortrag über die Gren— 
zen der Naturerkenntniß angeſtellt hat) nach 
ſich ziehen müßte. 


verſums auf jenem Punkte des Archimedes!) 
ſtände, um alle Ereigniſſe überhaupt nach 
Regel und Ausnahme allwiſſend voraus zu 


u 
) Bekanntlich ift das jener überwelt— 
liche Punkt, von dem man künſtlich mit 
einem Hebel das ganze Univerſum aus den 
Angeln heben könnte. 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


Ausnahmeverhältniſſe allerdings ermöglicht 


= 


0 * 
283 


erkennen, hätte ein Intereſſe daran, die von 
ihm überſehenen Weſen vor Uebeln und 
extremen Unluſtzuſtänden, unter deren un— 
ſäglichen Qualen ſie entſetzlich leiden, zu 
bewahren, ſo würde eben dieſes allbarm— 
herzige Weſen einzugreifen verpflichtet ſein, 
um dieſe Zuſtände abzuwenden, die Uebel 
wären hiernach unmöglich. Die That— 
ſachen hingegen lehren, daß Uebel im oben— 
bezeichneten Sinne als weitgreifende Unluſt— 
zuſtände vieler Weſen vorkommen, woraus 
folgen muß, daß kein ſolches warmherziges, 
intereſſevolles Weſen ſich irgendwo auf dem 
abſoluten Punkte des Archimedes befand oder 
befindet, um von hier aus inhibirend zu 
wirken. Man muß ſich daher zu der Ein— 
ſicht bequemen, daß wenn Uebel lals tief— 
gehende und weitgreifende Unluſtzuſtände 
u. ſ. w.) Thatſachen ſind, die cauſal— 
mechaniſche Aufeinanderwirkung der Factoren 
dieſelben unter Umſtänden herbeiführt, und | 
die Allwiſſenheit und Allbarmherzigkeit eben 
als keine Thatſache erſcheint. Wir ſehen, 
die Transmutationsanſchauung lehrt mit 
Rückſicht auf eben dieſe Thatſachen nichts 
anderes, als daß die cauſale Wechſel— 


wirkung, die ſich als gegenſeitige Reaction 
und Affection der Theilchen darſtellt, zu 


rein materialiſtiſchen Geſichtspunkten aus 
erſt vor kurzem Du Bois-Reymond 


Angenommen nämlich, 
dieſes Weſen, das als Beſchauer des Uni 


erhöhten Graden der Reibung und 
Veränderung übergehen kann, ſo daß ſich 
die natürlichen durchſchnittlichen Agitationen - 
zum Kampfe im engeren Sinne mit ſeinen 
unäſthetiſchen Folgen erheben. Nun drängt 
ſich die Frage auf: Hat der Anhänger der 
cauſal-mechaniſchen Weltanſchauung, wie ſie 
der Darwinismus anſtrebt, die Formen der 
höchſten Unluſt und Uebel als nothwen— 
dige oder zufällige zu betrachten, oder 


aber hat er überhaupt gar kein Recht, dieſe 


Formen von ethiſch-äſthetiſchen Geſichts— 
punkten anzuerkennen, ſondern find fie in 


ihren Unterſchieden ganz abzuleugnen, 


255 N N 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


ähnlich wie es die Vertreter der Büch— 
ner-Mo leſchott'ſchen Schule vielfach 
verſucht haben? Sieht man die Theil— 
chen als todte Kugeln an, die als Corpus— 


die Theorie des Uebels von dieſem Geſichts— 
punkte aus zu entſcheiden. 


J. Die Conftructionen des Kosmos 


keln im leeren Raume ſchwimmen, ohne 
jedes innere Gefühl und Leben, 


jo mögen ſich dieſelben in irgend einer Lage 
gegen einander bewegen, gleichgültig in welcher, 


alle ſind abſolut einflußlos für das innere 
Gefühl, ſowie für lebensvolle Selbſterhal 
tung und erlebte Luſt oder Unluſt der 


Theilchen; denn alle Corpuscular-Atome find | 


eben nichts als todte Stoffabſoluta, getrennt 
durch den abſolut leeren Raum. Wohl und 
Wehe, Güte und Uebel als ſolche werden 
hier nicht wahrgenommen und empfunden, 
alle Conſtellationen ſind daher den in ſich 
indifferenten Corpuskeln abſolut gleich- 
gültig, unter allen Lagen giebt es hier 
keine Uebel. Erheben wir indeſſen, ähn 
lich wie Leibniz und ſeine Schüler dies 


thaten, die Corpuscular-Atomtheorie zu einer 
tonadologie oder Animulartheorie, d. h.“ 


ſehen wir alle Theilchen als pſychiſch 
belebte (Monaden) an, begabt mit inne— 
ren Zuſtänden der Selbſterhaltung, die ein 
beſtimmtes Maß innerer Veränderung nö— 


lebniſſe von Luſt und Unluſt in ihnen rich— 
ten, ſo ſtellt ſich dieſe Weltanſchauung zur 
Theorie des Uebels völlig anders. 
hätten in dieſem Falle eine Art von An— 
ſchauung vor uns, die man mehrfach Pan— 
pſychismus genannt hat. Das heißt alle Theil— 
chen dieſes Panpſychismus ſind irgendwie 
ſeeliſch belebt, erſcheinen reizbar und pſychiſch— 
reagirend, ſomit Luſt und Unluſt empfin— 
dend. Nun wird aber alles darauf an— 
kommen, den Panpſychismus richtig zu 
conſtruiren; denn nur wenn dies geſchieht 
und den Thatſachen Rechnung getragen 


Wir 


als Panpſychismus und die 
Zöllner'ſche vierte Raum 
dimenſton. 


Man kann ſich nun den Panpſychismus 
in zweierlei Art zurecht legen. Ein— 
mal kann das geſchehen, daß feine Einzel- 
theilchen, aus denen er ſich conſtituirt, 
unter die natürlichen Wirkungen der cauſal— 
mechaniſchen Grundanſchauung fallen, daß 


ſie mit einem Worte einen Kraftconſtitu— 
tionalismus) repräſentiren, innerhalb deſſen 
die relativ ſelbſtſtändigen Einzel— 


theilchen nicht künſtlich und hyper— 
mechaniſch durchdrungen und ſomit durch— 
griffen ſind von einem prädominirenden 
Weſen, das über den Mechanismus als 
Conſtitution und deren Geſetzesverfaſſung 
hinausgeſtellt iſt. Andererſeits kann 
man ſich aber den Panpſychismus als ein 
Syſtem des Abſolutismus vorführen. Dieſes 
hat dem gegenüber folgende Form: Die 


Einzeltheichen werden völlig ihrer relativ 
thig haben, nach deſſen Inhalt ſich die Er 


ſelbſtſtändigen cauſal-mechaniſch wirkenden 
Exiſtenz entkleidet. Sie ſinken herab 
zu bloßen Scheinträgern cauſaler Kraft und 
müſſen nun aufgefaßt werden als ſog. 
Modi und Modificationen des einen Ab— 
ſoluten (des All-Einen), aus dem das Sy— 
ſtem im Grunde beſteht. Alle dieſe Modi ſind 
hier aber im Grunde nur Scheintheile; 
denn ſie ſind trotz ihrer Theilung mit 
einander identiſch, weil ein und daſſelbige Weſen, 
ſie ſind daher eins und im ſelben Athem 
nicht=eing, folglich Pſeudoweſen. Beſten— 
falls kann man in dieſen Schattenweſen nur 
Vergleiche Heft 1 dieſer Zeitſchrift 


wird, kann man es verſuchen wollen über S. 16. 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


die willenloſen Diener des omnipotenten 
Grundweſens erblicken, das eben in allen 
Theilen ſteckt; nur dieſes lebt wahrhaft, 
alle Theile und Einzelweſen führen ſomit 
ein unſelbſtſtändiges Scheinleben. 
Dieſe ſo conſtruirten Theile ſind Schein— 
theile, die automatiſch vom Grundweſen, 
das in ihnen ſteckt, bewegt werden. Alle 
dieſe Theilchen erſcheinen daher nicht als 
coordinirte Theile, um Wechſelwirkungen 
auszuüben, ſondern ſie ſind vielmehr künſt— 
lich eingeſchachtelt in einer höheren Sphäre, 
welche die natürliche Grundcoordinirung 
hindert, und ſie zu Gunſten der Ein— 
ſchachtelung aufhebt. (Vergleiche hierzu 
des Verfaſſers Aufſatz: Philoſophie und 
Transmutationsphiloſophie in der Zeitſchrift 
„Das Ausland“, Jahrg. 1874, Nr. 32, 
S. 630 ff.) So, ſehen wir, entſteht die 
Pſeudo⸗ Vielheitsauffaſſung. Mit Hülfe 
einer ſolchen conſtruirt ſich neuerdings bei— 
ſpielsweiſe von Hartmann ſeinen Pan— 
pſychismus, und alle diejenigen, welche in 
den Neu-Platonismus und in ähnliche 
mittelalterliche ſcholaſtiſche Lehren zurück— 
fallen, werden ihm leicht hierin folgen. 
Dies thut im ausdrücklichen Hinweis auf 
Plato in der That neuerdings ſelbſt 
Zöllner in Leipzig. Es iſt verwunder— 
lich, wie dieſer in den Grundregeln der 
Mechanik wohlgeſchulte Kopf, aller Mechanik 
zum Trotz, dennoch ſich eine ſog. vierte 
Raumdimenſion zurecht macht, durch welche 
er ſich offenbar in ein Gebiet des Myſti— 
ſchen und Hypermechaniſchen erhebt. 
Selbſt wenn wir Zöllner zugeben woll— 
ten, daß die Zahl der Dimenſionen für die 
raum zeitlichen Weſen vielfach wechſeln 
könnte, ſelbſt wenn wir annehmen (und 
der Verfaſſer dieſer Zeilen ſtimmt in dieſer 
Anſicht mit Zöllner überein), daß im pan— 
pſychiſtiſchen Univerſum Weſen auf irgend 


einem verödeten Geſtirn nur Flächenwahrneh— 
mung beſitzen und daher nur zwei Raumdimen— 
ſionen erkennen, während anderswo, etwa 
auf einem ſehr hell leuchtenden Geſtirn, 
die Weſen durch ſtarken geiſtigen Glanz 
innerlich tiefer erhellt ſind, um an allen 
wahrnehmbaren Objekten mehr als drei 
Raumdimenſionen zu erfafſen, ſo könnte 
die hiermit weitergreifende äußere Durch— 
dringung, die ein tieferes Ineinander 
der Weſen ermöglichte, doch niemals ſo weit 
führen, daß die in ihrem äußeren Zu— 
ſammenhange tiefer durchſchauten Theil— 
chen zu bloßen unſelbſtſtändigen Schein— 
und Schattengeſtalten herabſänken für das— 
jenige Weſen, dem die Sonne des 
vierten Dimenſionserkenntniſſes aufgegan— 
gen wäre. Hier iſt zu bedenken, daß bei 
der Zu- und Abnahme der räumlichen 
Dimenſionsverhältniſſe für die Auffaſſung 
zwar ſelbſtverſtändlich auch eine Zu- und 
Abnahme der Wahrnehmung und Erkennt— 
niß eintreten müßte, ſich alſo auch der 
geiſtige Horizont mit der räumlichen Di— 
menſions-Anſchauungsweiſe der wahrnehmen— 
den Weſen verengert und erweitert. Aber 
niemals wird dieſe Ab- und Zunahme der 
Erkenntniß jenen Sprung herbeiführen, 
auf den Zöllner hinweiſt, indem er das 
bekannte Beiſpiel des göttlichen Plato 
herbeizieht über die Erſcheinung der Schatten— 
geſtalten in der dunklen Höhle gegenüber 
dem klaren Schauen der Geſtalten in der 
lichten Sonne. Mögen in der That Weſen 
exiſtiren, die nur zwei Dimenſionen erken— 
nen, während wir uns ſelbſt bewußt ſind, 
drei Dimenſionen von den Dingen zu 
erkennen, ſo wiſſen wir ja aus der Er— 
fahrung an Blindgeborenen, die operirt 
wurden, welche Zunahme die Erkenntniß 
erfährt, indem wir Einſicht gewinnen in 
eine neue Raumdimenſion. Dieſe Zunahme 


286 — 


iſt gegenüber von vielen Sinnestäuſchungen, 
denen man bei Unkenntniß von anderen Di— 
menſionen ausgeſetzt iſt, gewiß nicht zu 


unterſchätzen, aber es iſt andererſeits 
auch zu warnen vor einer Ueberſchätz- 


ung dieſer Zunahme. Hier bei dieſer 
Zunahme iſt zu beachten, daß auf Grund 


derſelben die Dimenſionen der Rauman- 


ſchauung (mit der ja die Grundregeln der 
Mechanik gegeben ſind) nur eine Erweite— 
rung des Grades erfahren, nicht aber ein 
Wechſel der Qualität in der Erkenntniß 
dieſer empiriſchen Grundverhältniſſe herbei— 
geführt wird. — Weſen und Theilchen, 
die ſich gegenſeitig nur in zwei Dimenſionen 
wahrnehmen, mögen vielfach in ihren 
Gegeneinanderbewegungen mit einander col— 
lidiren, weil ſie ſich eben vielfach gegen— 
ſeitig täuſchen. Dies mag leichter ab— 
gehen und mit viel weniger Täuſchungen 
verknüpft ſein bei ſolchen Weſen, die ſich 
gegen einander in ſehr vielen Dimenſionen 
wahrnehmen. Das Ineinander ihrer Be— 
wegungen mag hier daher feiner und in— 
niger, vielleicht ſelbſt harmoniſcher ſein, aber 
immer müſſen dieſe Bewegungen ſtattfinden 
auf Grund der erſten gegebenen räumlichen 
Grundlagen, auf welchen die Grundregeln 
der Mechanik ruhen. Dieſe mechaniſchen 
Grundregeln würden ſich aber aufheben bei 
der etwaigen Annahme nur einer 
Dimenſionz denn wären alle Weſen nur in 
dieſer gelegen, ſo könnten ſie alle nicht 
einander völlig ausweichen, folglich könnten 
auch hiermit ſehr weſentliche mechaniſche 
Grundunterſchiede der Richtung von Kraft 
und Widerſtand nicht exiſtiren. Dieſe Grund- 
regeln der Mechanik würden ſich ferner aber 
auch aufheben bei der Annahme von irgend 
welchen überempiriſchen Dimenſionen und 
Richtungen, die der Qualität nach den em— 


piriſchen widerſtreiten und ſie aufheben. Von 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


dieſer Art aber iſt die poſtulirte vierte 
Dimenſion Zöllner's. Dieſelbe liegt 
nicht in der gegebenen denkbaren Skala der 
erſten drei geſetzten Raumdimenſionen, ſon— 
dern durch einen salto mortale verſucht 
Zöllner ſich einzubilden, daß mit Ein- 
tritt dieſer Dimenſion ſo ſehr neue Ver— 
hältniſſe eintreten, daß die hier im Irdi— 
ſchen angeſchauten ſinnlichen, mechaniſchen 
Grundverhältniſſe ſich zu bloßen Schemen 
verflüchtigen gegenüber einer neuen Art von 
Beziehungen, in welchen die Dinge ſich 
ſpiegeln. Mit dieſen ſollen die vorher ge— 
ſetzten natürlich-mechaniſchen Bedingungen 
des dreidimenſionalen Raumes überboten 
werden durch eine völlig über natürlich 
neue. Während die natürlichen Grund— 
regeln der Mechanik beiſpielsweiſe bedingen, 
daß die Dinge von Theilchen zu Theilchen 
wirken, weil fie bei ihrem relativen Wider- 
ſtand nicht völlig durchdringlich ſind und 
durchgriffen werden können, wird hier die 
übernatürliche, höhere, hypermechaniſche 
Fernwirkung angenommen, die keinerlei 
mechaniſche Widerſtände von Zwiſchenglie— 
dern kennt, ſondern das Entfernteſte mit 
dem Nahen hypermechaniſch vermittelt, gleich— 
ſam durch eine Leere hindurchgreifend, in— 
nerhalb deren alle mechaniſchen Widerſtände 
geſchwunden ſind. Durch dieſe Annahmen 
thut ſich hier eine weite Kluft auf zwiſchen 
den Grundverhältniſſen der Gliederung der 
Dinge unter dem Licht der erſten drei 
Raumdimenſionen (wie ſie uns ſinnlich ge— 
geben find) und derjenigen der hinzukom⸗ 
menden vierten, die wie mit einem Zauber⸗ 
ſchlage die Situation verändert. In dieſer 
Kluft eben liegt, wie hervorgehoben, der 
Widerſpruch. Mit ihm zerfällt das All 
in unvereinbare Hälften. Das Ganze ſinkt 
in klaffenden Dualismus. Auf der einen 
Seite die hohlen Schattenbilder der Welt, 


3 


die als bloße Erſcheinungen kein Weſen 
an ſich haben, ſondern den Seifenblaſen 
gleichen, welche der erſte Hauch zerreißt. 
Auf der anderen Seite hingegen das Weſen 


an ſich, von dem man nicht abſieht, wie es 
erkannten Gegenſtände zu bloßen zuſammen— 


jemals Erſcheinung werden kann unter ſo öden 


hinfälligen Formen, die einander derartig 
reiben, daß ſie beſtändig ſich verflüchtigen 


und aufheben. Wir können an dieſem Orte 
den überſchraubten und falſchen erkenntniß— 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


theoretiſchen Gegenſatz zwiſchen Weſen und 


Erſcheinung nicht kritiſiren.) Ein We | 
fen an ſich, das hinter den Erſcheinungen 


liegt, ohne ſich mit ihnen und durch ſie völlig 
zu offenbaren, hat offenbar keinen cauſalen 
Zuſammenhang mehr mit alle dem, was 
wir in den Erſcheinungen erleben. Ferner 


aber nehmen wir die unumſtößliche That⸗ 


ſache wahr, daß gewiſſe Erſcheinungen ſo 
conſtant und wiederholentlich in 
der beſtimmteſten, für uns unverrückbaren 
Weiſe auftreten, daß wir ihnen ein 
Weſen ſelbſt in der Erſcheinung nicht 
abſprechen dürfen. Können aber Erſchei— 
nungen ihr Weſen beſitzen, ſo muß auch 
das Weſen erſcheinen und cauſaliter ſich 
mit den Erſcheinungen vermitteln. Ver⸗ 
folgen wir dieſe Argumentationen weiter, 
ſo erkennen wir, daß eine Unterſcheidung 
toto genere zwiſchen Erſcheinung und Weſen 
an ſich und daran anknüpfend zwiſchen Sein 
und Schein überhaupt (wie es die griechi— 
ſchen Philoſophen thaten und mit ihnen 
viele Scholaſtiker aus der alten und neuen 
Zeit) nicht geſtattet iſt. So viel Schein, 
ebenſo viel Hinweis auf ein Sein und um⸗ 
gekehrt. Nehmen wir nur dieſen Satz ernſt 
genug, wozu erkenntniß⸗theoretiſch alle Be— 
rechtigung vorliegt, ſo werden wir leicht 


) Vergleiche hierüber: Caspari, Die 
Grundprobleme der Erkennißthätigkeit (Berlin 
1876, bei Theobald Grieben). 


287 


dahin gelangen einzuſehen, daß die Zöll— 
ner'ſche Zerfällung des Alls in drei an— 
ſchauliche (erſcheinbare) Dimenſionen und 
eine Dimenſion, welche die erſten geſetzten 
dermaßen überbietet, daß alle unter ihnen 


hängenden Schattengeſtalten herabſinken, un— 
denkbar erſcheint. Es iſt überhaupt auffällig 
und verwunderlich, wie neuerdings einige 
Philoſophen in Leipzig die Raumlehre be 
handeln. Nicht als ſei ihnen im Sinne 
eines Kant der Raum ein nur ideales 
Phänomen im Innern der raumanſchauen⸗ 
den Weſen, ſondern als ſei derſelbe viel— 


mehr etwas an ſich ſelbſt, d. h. ein 


reales Gefäß, das aus drei Dimenſionen 
beſteht. Nun aber nach Zöllner wird 
uns mitgetheilt, daß dieſer reale Behälter 
als Unterlage des Dinges an ſich (Hyper— 
weſen) ſogar vier concrete Dimenfionen 
beſitzen ſoll. Das heißt allerdings Kant 
mißverſtehen, und man muß wohl dem 
geiftvollen Kant-Interpreten in Graz Recht 
geben, wenn er durchblicken läßt, daß man 
in Leipzig hier und da mit Kant im 
Kriege lebt. Mit Rückſicht auf die kriti⸗ 
ciſtiſche Raumlehre (miemann-Helm— 
holtz), der übrigens Schreiber dieſer Zeilen 
ebenfalls anhängt,*) muß man daher unter- 
ſcheiden zwiſchen Möglichem und Unmög⸗ 
lichem. Unmöglich erſcheint aber dieſe Raum⸗ 
lehre in der überſinnlichen Form jenes pla— 
toniſchen panpſychiſchen Abſolutismus, wie 
ihn Zöllner ausführt.) Ein ſolcher 
Pſychiker tritt auf als myſtiſcher Hellſeher und 
ſchaut das Univerſum an als ein durchſichtiges 
Glockenſpielwerk, das gefertigt iſt aus Glas 
und Kryſtall. Alle einzelnen Glocken find 
klar durchſichtig, alle werden in ihren Be— 


) Siehe: Grundprobleme der Erkenntniß⸗ 
thätigkeit S. 99. 
%% Vergl.: Zöllner, Elektrodynamik. 


288 


wegungen völlig durchſchaut vom Ding an 
ſich, das über dieſe durchſichtige Welt ſich 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


erhebt. Dieſes höchſte Abſolutum beherrſcht 
und durchdringt die Glasglocken und bes 
dient ſich ihrer wie ein Spielmann, 
der ſich eines paſſiven Werkzeuges bedient | 


und hypermechaniſch handhabt. 


Kunſt wie in der Naturforſchung, erkannte 
ſehr raſch den Unterſchied, der hier bezüg- 
lich des Begriffs hypermechaniſch deut 
lich gemacht werden ſoll. In ſeinem be— 
rühmten Traktate über die Malerei ſagt 
er Folgendes: „Man ſagt, daß eine Kennt⸗ 
niß mechaniſch ſei, welche von der Er— 
fahrung erzeugt iſt, daß eine Kenntniß 
wiſſenſchaftlich ſei, welche in dem Geiſte 
entſpringt und 
eine Kenntniß halbmechaniſch (in un⸗ 
ſerem angedeuteten Sinne hypermechaniſch) 


ſei, die in dem Denken entſpringt 
und mit einer Ausübung durch die 


Hand endigt. Aber mir ſcheint, die 


ſind, und die nicht in der Erfahrung 


endigen.“ Wir ſehen, der ſcharfſinnige 


ſtand, den uns Kunſtobjekte leiſten, die wir 
menſchlich mit den Fingern und durch die 
Hand bewegen, kein vollgültiger activer 


Widerſtand im mechaniſch-empiriſchen Sinne 


ſei. Er nennt dieſen Widerſtand halb— 
mechaniſch, richtiger aber iſt hypermechaniſch; 
denn die hier angewandte Mechanik tritt in 
den höheren Dienſt eines künſtlichen Zwi— 
ſchenmittels, das keine eigenen Bethä— 
tigungen ausübt, ſondern nur arbeitet wie 


Hammer und Meißel in der Hand ihres 


ee 


endigt, und daß 


Leo⸗ 
nardo da Vinci, ein Mann, der ebenſo 
ſehr zu Hauſe war in der Ausübung der 


1 
| 


Lenkers. Fügen wir die anuthropomorphi— 
ſtiſche Betrachtung, die ſich hier bezüglich 
des paſſiven Arbeitens der Werkzeuge er— 
giebt, in den Grundzuſammenhang des me— 
chaniſchen Ganzen nicht ein, ſondern be— 
ſchränken wir dieſe Betrachtung hinſichtlich 
des Beginnens und Endigens der mechani— 
ſchen Arbeit zwiſchen dem menſchlichen Kopf 
bis zur Hand und umgekehrt, ſo hebt ſich 
dieſer Zirkel der Betrachtung in das von 
uns ſcharf betonte Gebiet des Hyper— 
mechaniſchen. Wir ſehen aus dieſen Be- 
trachtungen, daß wir einen Panpſychismus 
nicht im Sinne ſolcher Anthropomorphismen 
und nach dem Muſter obiger Beiſpiele con⸗ 
ſtruiren dürfen. Leicht aber wäre es, den 


„Nachweis zu liefern, daß ſchon vor Jahr— 


tauſenden ein Plato ebenſo ſehr wie in 
neueſter Zeit Zöllner, nicht minder auch 
Hartmann, der Philoſoph des Unbe— 
wußten und ſeine Anhänger, ſich einen 


Panpſychismus zurechtlegten, der auf das 


oben gegebene Beiſpiel des Hypermechaniſchen 


zurückzuführen iſt. — Wollen wir uns 
Wiſſenſchaften ſeien eitel und voller Irrthü⸗ 
mer, die nicht aus der Erfahrung, 
der Mutter aller Gewißheit, entſprungen 


einen klaren Panpſychismus auf Grund des 
Kraftconſtitutionalismus, d. h. auf Grund 
der natürlichen, cauſal-mechaniſchen Lehre 
vor Augen führen, fo muß jeder Abſolu— 


tismus, der ins hypermechaniſche Gebiet 
Verſtand Leonardo da Vinci's erkennt 
hier klar, daß der bloße paſſive Wider- 


überſpielt, vermieden werden. Der leben— 
dige Mittelpunkt des conſtitutionellen Sy⸗ 
ſtems beſitzt keine durchbohrende omnipotente 
Gewalt an ſich, mit der aller Widerſtand der 
untergebenen Theile zum Pſeudowider— 
ſtande herabſinkt. So gewinnen hier die 


Theilchen jene natürliche Autonomie, 
welche die alltägliche Erfahrung lehrt und 
den Thatſachen, ſowie den Grundregeln der 
Mechanik gemäß für ſie in Anſpruch ge— 
nommen werden muß. Was die Theilchen 
hier an der Abſolutheit ihrer Durchdring— 
lichkeit verlieren, gewinnen ſie ſelbſt an 


— 


Aprilheft.) 


relativer Selbſtſtändigkeit, vermöge deren 
fie allein ſich unter einander mechaniſch— 


activen, natürlichen Widerſtand leiſten kön- 


nen. Nur dadurch erheben ſich alſo die 


Theilchen des Panpſychismus zu realen me- 


chaniſchen Factoren, daß ſie ſelbſt für den 
höchſt gelegenen Punkt im Syſtem 
etwas relativ Undurchdringliches 
(Selbſtſtändiges, Eigenartiges, 
Individuelles) an ſich behalten. 


Wer 


daher den Begriff der Individuation 


gebraucht, muß ſich die Alternative zwiſchen 
den Syſtemen eines Spinoza und Leib— 
niz genau klar gemacht haben. Es gilt 
hier einzuſehen, daß der Accent des Indi— 
viduellen die relative Undurchſichtig— 
keit der Einzelnen gegen einander be— 
dingt. 
Aller gegen Alle iſt eben die wirkliche In— 
dividuation, ſie fordert eine eigenartige Auto— 
nomie für alle Einzelnen, ſelbſt dem der 
Lage nach höchſten Punkte im Syſtem ge— 
genüber. Dieſe Autonomie der Individuen 


ſchauen, ein völliges Durchgreifen und ein 


| ift es ſomit, welche ein abſolutes Durch— | 


hypermechaniſches Durchbohren durch die 


Exiſtenz der anderen hindurch vom höchſten 
Punkte aus unmöglich macht. Alle an 


den Spinozismus anſtreifenden Grundan- 


ſichten, welche ſogar verlangen, daß die 
Vielheit und Mannigfaltigkeit der äußeren 
Erſcheinungen ſich decken muß mit der Ein— 
heit, welche ihnen von innen parallel geht, 


um fie fo durchdringend zu umfaſſen, müſſen 
Gleichen im 


daher aufgegeben werden.“) 


) Hartmann ſchmeichelt ſich, die In— 
dividuationslehre mit Hinblick auf den Leib— 


nizianismus verbunden zu haben mit der 


abſoluten Einheitslehre (Spinozismus). (Siehe 
Zeitſchrift: Die Gegenwart, Jahrgang 1877, 
Offenbar beweiſt Hartmann, 
indem er dieſe Einbildung hegt, daß er nicht 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


289 


Panpſychismus nach dem Muſter des Ab— 
ſolutismus die ſog. Individuationen und 
Einzeltheilchen todten', hohlen Seifenblaſen, 
welche die Strahlen des Mittelpunktes wie 
die Leere abſolut durchdringen und durch— 


| bohren, jo gleichen die Individuationen des— 


jenigen Panpſychismus, den wir zu charak— 


teriſiren unternommen haben, nach dem 


Dieſe relative Undurchdringlichkeit 


Muſter des Conſtitutionellen, den bewegten, 
lebendigen Wellen, welche das Licht nicht 
völlig hindurchlaſſen, ſondern einen Theil 
deſſelben in feinen Formen reflectiren, um 
hiermit das Product jenes wunderbaren 
Farbenſpieles hervorzurufen, in deſſen Be— 
wegungen und Erſcheinungen Weſen und 
Atome in ihren Erlebniſſen ſich erquicken. 
Durch tiefere Ausführung dieſes letzteren 
Gleichniſſes wird die Auſchauung des Kos— 
mos eine völlig andere. Die indi— 
viduellen Theilchen des Ganzen gewinnen 
durch den Accent der Autonomie, die ihnen 
mit ihren ſelbſtſtändigen Reactionen zuge— 
ſprochen werden muß, nun jene Prägnanz, 
die fie zu thatſächlichen, mechaniſchen Fac— 
toren macht, während ſie in jeder Art von 
Spinozismus (als Modi) im Grunde nur 
Scheinfactoren ſind, die gegen einander 


genug ermeſſen hat, warum es ſich hier han— 
delt. Die Antinomie zwiſchen Einheit und 
Vielheit wird ſo leichten Schrittes nicht ge— 
löſt, es ſei denn, daß man vorgebe, das Un— 
vereinbare vereinigen zu können. Das Räth— 
ſel: wie Gott zugleich ſein Teufel ſein kann 
(vergleiche unten S. 292), wußte Hartmann 
allerdings zu löſen, die rationale Anſchaulichkeit, 
wie 1 im ſelben Athem 3 ſein kann, wäre 
durch ihn noch zu erweiſen. In obigen Aus— 
führungen ſoll zunächſt nur darauf hinge— 
wieſen werden, daß ſog. Zwittereinheiten, wie 
etwa ſiameſiſche Zwillinge oder Drillinge, 
gegen einander mechaniſch ſtets nur 
paſſiv, nicht aber (ohne ſich aufzulöſen) im 
vollen Sinne activ auftreten können. 


N 
S 


290 


Spiegelfechterei treiben. 
philoſophiſche Abſolutismus zur Selbſt— 
beſpiegelung, weil ſich alles nur um 
den Mittelpunkt oder das abſolute All-Eine 
dreht, ſo vertheilen ſich die Spiegelungen 
im Syſtem des philoſophiſchen Conſtitutio— 
nalismus unter die Summe der autonomen 
Einzeltheile als conſtitutive Glieder des 
Ganzen. Die Selbſtbeſpiegelung des ab— 
ſoluten All-Einen geſtaltet ſich hier zur 
Widerſpiegelung und zum gegenſeitigen Aus— 
tauſch, ſowie zur Ergänzung aller Glie— 
der unter einander. Dort ſind die Ein— 
zelnen nur ephemere Scheinexiſtenzen der 
vergänglichſten Art, gleichſam nur Seifen— 
blaſen, die aus dem Sumpfe des Ur-Einen 
aufſteigen, hier hingegen ſind die Einzelnen 
Glieder von wirklicher Selbſtſtändigkeit, 
gleichſam ſolide Tropfen, in denen ſich die 
Erſcheinungen nicht nur flüchtig, ſondern 
beſtändig und dauernd widerſpiegeln müſſen. 
Iſt jene Gliederung des Abſoluten im beſten 
Falle eine ſolche, wie ſie an den ſiameſiſchen 
Zwillingen (um jenes vielfach gebrauchte 
Beiſpiel herbeizuziehen) zur Geltung kommt, 
ſo iſt die Gliederung des Conſtitutionellen 
geordnet nach dem Vorbilde einer in ſich 
verträglichen Familie. Dort ſind die Glie— 
der unſelbſtſtändige Zwittergebilde, hier 
ſind ſie harmoniſch geordnete, ſelbſtſtändige 
Theile des Ganzen. Ein Panpſychismus, 
wie ihn Hartmann conſtruirt, im Hinter- 
grunde das Ur-All-Eine, nämlich das Un— 
bewußte, fällt unter die von uns charak— 
teriſirte Kategorie des philoſophiſchen Ab— 
ſolutismus. 


5. Abſolutismus 

und Conſtitutionalismus des 
Panpſychismus. 

Der Abſolutiſt, der das Spiel der 


5 auflöſt in ein mechaniſches Schein— 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


Führt jeder 


manöver, muß in Verlegenheit gerathen, 
wenn es ſich darum handelt, die phyſika— 
liſchen Thatſachen zu erklären, er wird hier 
ſtets myſtiſch und die tangentialen Bewegun- 
gen zerfließen ihm neben den Gravitationen 
unter der Hand. Unſchwierig wird es dem 
Conſtitutionaliſten, paſſende Beiſpiele für 
ſeine phyſikaliſche Grundanſchauung zu lie⸗ 
fern. Der Naturforſcher, der die Reflexionen 
der Farben und Lichter, den Grundſtreit 
der elektro-magnetiſchen Kräfte, die Summe 
der mechaniſchen Vermittelungen und der 
mit ihnen verknüpften Vorgänge von An- 
ziehung und Abſtoßung in den Natur- 
erſcheinungen unterſucht, hat Beiſpiele zu 
dieſer Weltanſchauung ſtündlich vor ſich und 
zur Genüge vor Augen. Seinem Forſchungs— 
geiſte thut ſich die Grundconſtitution der 
Kräfte auf von den tiefſten Gliederungen 
bis zu den allerhöchſten. In der Gravi— 
tation fühlt er das Schwingen tangen— 
tialer und feſtknüpfender Kräfte, er erkennt 
centripetal und centrifugal wirkende Gewal— 
ten, er ſieht wie unter dieſen Einflüſſen 
die Theilchen und Maſſen in der Verthei— 
lung ſich verſchieben, um ſich zu nähern 
und zu entfernen. So löſt ſich ihm das 
myſtiſche Weſen der unvermittelten Fern— 
wirkungen auf in die cauſal-mechaniſche 
Aufeinanderwirkung durch überall nachweis— 
bare Vermittelungen und cauſale Beziehun- 
gen der Dinge, die unter einander Ketten- 
glieder bilden, welche an keiner Stelle ab— 
ſolut durchbrochen ſein können. 

Die Wirkungen, die wir im phyfifa- 
liſchen Leben Gravitation nennen, finden 
wir von neuem wieder im Staate und in 
der Familie; auch hier ſehen wir die Kräfte 
ſich geſtalten nach den gleichen Grundregeln 
der kosmiſchen Geſetzesverfaſſung. Auch 


unter dieſen Formen höherer Ordnung be— 
merken wir, wie die Weſen zu einander 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


gravitirend ſich an einander ſchließen und 
ſich in Liebe und Freundſchaft verketten, 
oder aber ſich in Gleichgültigkeit, in Haß 
und Verfolgung von einander abſtoßen 
und entfernen. Selbſt der eentralſte 
und höchſte Lagepunkt dieſes conſtitutionellen 
Syſtems, deſſen weitgreifender Intellect 
immerhin ſo vorgeſtellt werden kann, daß 
ihm mehr, weitreichende und eigenartigere 
Sinne als uns Menſchen zu Gebote ſtehen 
(wenn wir hierbei nur immer im Auge 
behalten, daß auch dieſen höchſten Sinnen 
wiederum gewiſſe empiriſche Schranken ge— 
zogen ſind), iſt nicht im Stande die Geſetz— 
gebung, die ſich das Ganze gegeben, um— 
zuſtoßen. Dieſer höchſte Intellect nähme 
daher nur als erſter Diener des kosmiſchen 
Geſammtſtaates theil an der Grundform, 
in welche ſich das Ganze gegliedert hat. 
Kann dieſer höchſte Intelleet die Glieder 
dieſes Syſtems, ſo weit ſie autonom und 
ihm ſomit relativ fremd ſind, nicht abſo— 
(ut durchſchauen, um fie zu gängeln, 
ſo kann er bei höherem Ueberblick dennoch 
recht wohl eine Lage einnehmen, die ihm 
die Möglichkeit gewährt, in ſehr hohem 
Grade für die Selbſterhaltung des Ganzen 
einzutreten und die Einzelnen in Bezug auf 
ihr Verhalten zu den Grundformen und 
Geſetzen zu ſchätzen und zu beurtheilen. 
Aber wir erkennen leicht, daß der 
Schwerpunkt des Syſtems nach dem Muſter 
des Conſtitutiven, ſobald die Theile mit einan- 
der ſtreiten, nicht abſolut fixirt iſt. In 
jedem Syſtem muß es einen realen Schwer— 
punkt geben, ſo auch hier. Da derſelbe 


aber im Conſtitutiven zugleich gebunden 
iſt an die Form und Verfaſſung als höheren, 
idealen Mittelpunkt, an welchem auch die 
Uebrigen theilnehmen, ſo kann ſich der 
reale Schwerpunkt, hier gezogen von den 
Anderen, bewegen und übertragen, und wird 


291 


ſich jeweils bei demjenigen „erſten“ Diener 
des Ganzen thatſächlich befinden, der es den 
übrigen Parteien und Einzelnen gegenüber 
am tiefſten verſteht, Form und Verfaſſung 
des Ganzen zu ſchützen gegen die Schwan— 
kungen, denen ein in ſich durch und durch 
bewegliches Syſtem variabler Kräfte fort— 
an ausgeſetzt iſt und ausgeſetzt ſein muß, 
wenn es nicht zu einem todten Schema 
erſtarren will. Die Theile, die im Syſtem 
des Abſoluten als todter Cadaver oder flüch— 
tiger, ſelbſtloſer Schatten dem einzig leben— 
den Mittelpunkte gegenüber erſcheinen, treten 
hier im Conſtitutiven alſo mit eigener beweg— 
licher Selbſtſtändigkeit auf, die ihnen 


wirkliches Leben und die Möglichkeit 
verleiht, den Trieben zur Transmuta— 
tion und Adaption thatſächlich zu ge— 


horchen. Iſt der höchſte Lagepunkt im con— 
ſtitutiven Weltſyſtem ſeiner Natur nach nicht 
abſolut vorauswiſſend (er könnte ja ſonſt 
durch die Parteilage nicht gewechſelt werden) 
und ſomit nicht unfehlbar, bleibt ihm 
vielmehr der Natur der Dinge nach vieles 
Einzelne verborgen, ſo weit dieſe Vor— 
gänge ſich nämlich innerhalb der autonomen 
Theilchen vollziehen, die für den conſtitu— 
tiven Mittelpunkt nicht mehr abſolut 
durchdringlich (undurchſichtig) ſind, ſo 
trägt dieſer höchſte Lagepunkt, als perſön— 
liches, individuelles Weſen aufgefaßt, auch 
hiermit nicht mehr die völlige Verantwort— 
lichkeit in ihrer ganzen ertödtenden und er- 
drückenden Laſt für das Zuſtandekommen 
aller derjenigen Formen, die als extreme 
Unluſtzuſtände, als Diſſonanzen und Aus— 
geburten des Teufels, wie ſie der Volks— 
mund nennt, d. h. als Thatſachen des Uebels 
das Welt- und Parteigetriebe der Weſen 
und Kräfte zuweilen durchziehen. 

Der ſog. Pſychismus, der, wie beiſpiels— 
weiſe der des Herrn von Hartmann, 


— 


. 292 


mit der Form des Abſolutismus identiſch 
iſt, hat, wie früher dargethan, keine Er— 
klärung für die mechaniſchen, 
Grundverhältniſſe von Kraft und Wider— 
ſtand. Ferner ſetzt derſelbe ſeinen höchſten 
Schwerpunkt,“) als geiſtiges Weſen aufgefaßt, 
abſolut vorauswiſſend, die Weltgeſchichte 
anticipirend und ſomit unfehlbar. Da- 
mit ſinkt das geſchichtliche Weltdrama der 
Parteien zur bloßen Farce herab; denn alle 
Spieler ſind alsdann nur Marionetten mit 
einſtudirten Rollen. Ja, mehr noch, alle 


) Man bemerke wohl: Innerhalb der 
Form der Conſtitution fällt der ideale Mittel— 
punkt der Form in die ſog. Verfaſſung, 
der reale Schwerpunkt in den jeweiligen 
höchſten Vertreter derſelben, ſei dieſer nun Fürſt, 
Miniſter oder Präſident u. ſ. w. In der 
Form des Abſolutismus hingegen fällt der 
ideale Mittelpunkt der Form (Verfaſſung) 
zuſammen mit der Perſon des abſolut 
regierenden Fürſten. Im Abſoluten iſt daher 
die Perſon des Tyrannen die verkörperte 
Verfaſſung ſelbſt. Es verhält ſich hier me— 
chaniſch wie mit einem Syſtem von Körpern, 
die alle von abſolut gleicher Dichte ſind; 
hier (aber nur in ſolchen) fällt alsdann der 
ideale Mittelpunkt der Form mit dem realen 
Schwerpunkt zuſammen. Wir ſehen, die 
Abſolutheit ſetzt die völlige Gleichheit im 
Weſen der Theile voraus, welchſelbige die 
Individuation eben ausſchließt. 


Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 


tharſächlichen 


dieſe Unfehlbarkeitstheorien des Spiritualis- 
mus, die ſich auf der Unterlage einer ſpi— 
ritualiſtiſchen, hypermechaniſchen Einheits— 
lehre aufbauen, kommen in conſequenter 
Weiſe hinſichtlich der Erſcheinungen des 
Uebels zu dem Schluß, daß das höchſte 
Urweſen (ſei es eine Gottheit oder ein Un— 
bewußtes) ſein eigener Mephiſtso iſt. 
Sehen wir dieſem Nonſens gegenüber im 
Folgenden zu: ob es uns gelingt, dieſer 
Hypereinheitslehre als Abſolutismus gegen— 
über, eine Lehre über den Zuſammenhang 
der Dinge zu entwickeln, die ſich beſſer mit 
den Thatſachen in der Naturlehre (veip. 
der Darwin'ſchen Lehre), beſſer mit un⸗ 
ſeren modernen Staats- und Rechtsanſchau⸗ 
ungen, und endlich beſſer mit einer philo— 
ſophiſchen Doktrin über den Verlauf der 
Geſchichte verträgt. Alle tiefer durchgeiſtig— 
ten Lehren von Seite der Abſolutiſten 
münden genauer betrachtet dem praktiſchen 
Zeitgeiſte zuwider in jene Unfehlbarkeit, 
die zugleich im Widerſpruch mit ſich da- 
hin führen muß, in dem ſchöpferiſchen, gött— 
lichen Weſen ſeinen eigenen Mephiſto zu 
ſuchen. Weder die wahre Religion, weder 
die wahre Ethik, noch die wahre Philofo- 
phie kann den modernen ae und 
dieſe Conſequenzen dulden. 
(Fortſetzung folgt.) 


Bathybins und die Moneren. 


Von 


Ernft Häckel. 


er vielbeſprochene Bathybius 
5 exiſtirt nicht; ſeine Annahme 
beruhte auf Täuſchungen. 
So werden auch die übrigen 
Moneren nicht exiſtiren; auch 
dieſe angeblichen Urorganismen werden das 
Erzeugniß irrthümlicher Beobachtungen ſein. 
Mithin iſt einer der wichtigſten Grund— 
pfeiler der modernen Entwickelungslehre 
gefallen; und ſo werden auch ihre übrigen 
Stützpfeiler auf Täuſchungen und Irrthum 
gegründet ſein. Der ganze Darwinismus 
iſt ein großes Luftſchloß, die Selections— 
theorie eine Seifenblaſe, und die Ab— 
ſtammungslehre iſt überhaupt nicht wahr.“ 
So ungefähr iſt der Gedankengang 
zahlreicher Artikel, denen wir ſeit einem 
Jahre in den verſchiedenſten Zeitſchriften 
begegnen. Einzig und allein auf die an— 
gebliche Nichtexiſtenz des Bathybius ge— 
ſtützt, behauptet man kurzweg, daß es 
überhaupt keine Moneren gebe, und daß 
damit die ganze Entwickelungslehre den 
ſchwerſten Stoß erhalten habe. Am lieb— 
ſten wird dieſe Behauptung natürlich von 
den Gegnern der Entwickelungslehre vor— 
getragen und in den mannigfaltigſten Ton— 


arten variirt. Der Clerus triumphirt bereits 
über den völligen Untergang der Deſcen— 
denztheorie. Aber ſelbſt bei vielen An— 
hängern der Entwickelungstheorie gilt die 
Nichtexiſtenz des Bathybius als ausgemacht 
und es wird daraus eine Reihe von Schluß⸗ 
folgerungen gezogen, die als mehr oder 
minder gewichtige Einwürfe gegen hervor— 
ragende Hauptpunkte des Darwinismus 
Bedenken erregen. Dieſe Umſtände, ſowie 
die Unklarheit, in welcher ſich der größte 
Theil des dafür intereſſirten Publicums 
über den eigentlichen Thatbeſtand befindet, 
beſtimmt uns, hier die Moneren-Frage mit 
beſonderer Rückſicht auf den Bathybius 
zu erörtern. Ich ſelbſt erſcheine zu 
dieſer Erörterung inſofern beſonders be— 
rechtigt, ja ſogar verpflichtet, als ich das 
zweifelhafte Glück genieße, bei dem „be— 
rüchtigten Urſchleim der Meerestiefen“ Ge— 
vatter geſtanden zu haben. Als mein 
Freund Thomas Huxley 1868 ihm 
bei der Taufe den Namen Bathy b ius 
Haeckelii beilegte, konnte er freilich 
nicht ahnen, daß der arme Täufling, einem 
Icarus gleich, in kürzeſter Zeit zu einer 
biologiſchen Celebrität werden, die Sonnen— 


294 


höhe irdiſcher Berühmtheit erlangen und 
noch vor Ablauf ſeines erſten Decenniums 
in den dunkeln Hades der Mythologie hin— 
abſtürzen werde! Sehen wir denn zu, ob 
er wirklich todt iſt, ob er überhaupt nicht 
exiſtirt hat. Und wenn wir wirklich ſeine 
bloß mythologiſche Schein-Exiſtenz zugeben 
müßten, ſehen wir weiter zu, was daraus 
für die Moneren folgt! 


1. Zur Geſchichte der Moneren. 


Im Frühling des Jahres 1864 be— 
obachtete ich im Mittelmeere bei Villafranca 
unweit Nizza ſchwimmende winzige Schleim— 
kügelchen von ungefähr einem Millimeter 
oder einer halben Linie Durchmeſſer, die 
mein höchſtes Intereſſe erregten. Vorſichtig 
unter das Mikroskop gebracht, erſchien näm— 
lich jedes dieſer Kügelchen wie ein kleiner 
Stern, deſſen Mitte aus einem viel kleineren 
ſtructurloſen Kügelchen beſtand, während 
von der Oberfläche ringsum mehrere Tauſend 
äußerſt feine Fäden ausſtrahlten. Die ge— 
naue Unterſuchung bei ſtarker Vergrößerung 
lehrte, daß der ganze Körper des ſtern— 
förmigen Weſens aus einfacher eiweißartiger 
Zellſubſtanz, aus Sarcode oder Proto— 
plasma beſtehe, und daß die Fäden, 
welche allenthalben von der Oberfläche aus— 
ſtrahlten, keine beſtändigen Organe ſeien, 
ſondern ihre Zahl, Größe und Geſtalt be— 
ſtändig ändern. Sie erwieſen ſich als 
ebenſo wechſelnde und unbeſtändige Fort— 
ſätze des centralen Protoplasma-Körpers, 
wie die längſt bekannten „Scheinfüßchen 
oder Pſeudopodien“, welche die einzigen 
Organe der Wurzelfüßler oder Rhizo— 
poden darſtellen. Während aber bei 
dieſen letzteren Zellenkerne im Protoplasma 
zerſtreut ſind und ihre Körper ſomit den 
Formwerth von einer oder mehreren Zellen 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


beſitzt, iſt das bei jenen in Nizza be— 


obachteten Protoplasma-Kügelchen nicht der 
Fall. Im Uebrigen war kein Unterſchied 
hier und dort zu finden bezüglich der Be— 
wegungsform der fließenden Schleimfäden 
und der Art und Weiſe, in welcher die— 
ſelben als Taftorgane zum Empfinden, als 
Contractionsorgane zum Kriechen, und als 


Ernährungsorgane zur Nahrungsaufnahme 


benutzt wurden. Um die Naturgeſchichte 
des kleinen Protoplasmakügelchens von Nizza, 
das 
zu vervollſtändigen, fehlte es nur noch 
an der Beobachtung ſeiner Fortpflanzung. 
Auch dieſe glückte ſchließlich. Nach eini— 
ger Zeit zerfiel das kleine Weſen durch 
einfache Theilung in zwei Hälften, von 
denen jede ihr eignes Leben in der— 
ſelben Weiſe weiterführte, wie das erſtere. 
Ich hatte ſomit den vollſtändigen Lebens— 
cyclus eines denkbar einfachſten Organismus 
erkannt, und nannte denſelben in Anerkennung 
ſeiner fundamentalen Bedeutung Proto- 
genes primordialis, den „Erſtge— 
bornen der Urzeit.“ 
ſchreibung gab ich im XV. Bande der Zeit- 
ſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie (S. 360, 
Taf. XXVI., Fig. 1, 2). 


Schon im folgenden Jahre wurden zwei 


verſchiedene, dem Protogenes ſehr ähnliche, 
höchſt einfache Organismen von dem aus— 
gezeichneten Mikroſkopiker Cienko wski 
beſchrieben. Im erſten Bande des Archivs 
für mikroſkopiſche Anatomie (S. 203, 
Taf. XII. - XIV.) veröffentlichte derſelbe 
ſehr intereſſante „Beiträge zur Kenntniß 
der Monaden.“ Unter den verſchiedenen 
Protiſten, die Cienkowski hier unter 
dem alten, vieldeutigen und daher ſehr 
unſicheren Begriffe der „Monaden“ zu- 


ſammenfaßt, befinden ſich zwei mifvoffopi- 
ſche Bewohner des ſüßen Waſſers, welche 


ich auf das Genaueſte unterſuchte, 


Seine genaue Ber 


— 


ö Fr re 


in der vollkommen einfachen und ſtructur— 
loſen Beſchaffenheit ihres kernloſen, ſtrahlen⸗ 
den Protoplasma-Körpers dem Proto— 
genes gleichen, die Gattungen Proto- 


monas Monas amyli) und Vampy- 


rella (letztere mit drei verſchiedenen Arten). 
Sie unterſcheiden ſich aber von dem erſteren 
durch die Art und Weiſeihrer Fortpflanzung. 
Während der Protogenes, nachdem er durch 


Wachsthum ein gewiſſes Größenmaß er 


reicht hat, dieſes nicht weiter überſchreitet, 
ſondern ohne Weiteres in zwei Stücke zer— 
fällt, ziehen Protomonas und Vampyrella 
ihre Strahlen ein und gehen in einen 
Ruhezuſtand über, in welchem ſich die 
kleine Protoplasmakugel einkapſelt oder 
encyſtirt, mit einer Hülle („Cyſte“) um⸗ 
giebt. Innerhalb dieſer kleine Hülle zerfällt 
die Protomonas in ſehr zahlreiche Kügelchen, 
die Vampyrella in vier Stücke (Tetraſporen). 
Alle dieſe Theilſtücke werden ſpäter frei 
und entwickeln ſich durch einfaches Wachs⸗ 
thum zu der reifen Form. 

Inzwiſchen hatte ich ſelbſt eine vierte 
ähnliche Gattung von höchſt einfachen Or⸗ 
ganismen im ſüßen Waſſer bei Jena be⸗ 
obachtet, welche einer gewöhnlichen Amoebe 
ganz gleich ſich verhält, aber von dieſer 
letzteren durch den Mangel eines Zellkerns 
und einer contractilen Blaſe unterſcheidet. 
Ich nannte ſie daher Protamoeba 
primitiva. Während bei den drei erſt— 
erwähnten Schleimkügelchen (Protogenes, 
Protomonas, Vampyrella) überall zahlreiche 
Fäden aus der Oberfläche des centralen Proto— 
plasma⸗Körpers ausſtrahlen, ſehen wir ſtatt 
deren bei Protamoeba — ganz wie bei der 
gewöhnlichen Amoeba — wenige kurze, 
fingerförmige Fortſätze ausſtrecken, welche 
ihre Geſtalt beſtändig ändern; ſie werden 
eingezogen und an einer andern Stelle 
wieder vorgeſtreckt. Hat die Protamoeba 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


295 


durch Nahrungsaufnahme (die ebenfalls 
wie bei Amoeba erfolgt) eine gewiſſe Größe 
erreicht, ſo zerfällt fie durch Theilung iu 
zwei Hälften. Ich machte die erſte Mit⸗ 
theilung darüber in meiner generellen Mor⸗ 


phologie (Bd. I. S. 133). Später habe ich 
von Protamoeba primitiva Abbildungen 


gegeben, welche u. A. in die „Natür⸗ 
liche Schöpfungs geſchichte“ (VI. Aufl. S. 
167) und in die Anthropogenie (III. Aufl. 
S. 414) aufgenommen ſind. 

Geſtützt auf dieſe Beobachtungen, die 
ſpäterhin durch die Unterſuchungen an— 
derer Forſcher, wie durch meine eigenen noch 
beträchtlich erweitert wurden, gründete ich 
1866 in der „Generellen Morphologie“ 
für alle dieſe Organismen von ein— 
fachſter Beſchaffenheit eine beſondere Claſſe 


unter dem Namen der Moneren, d. h. 


der „Einfachen“. Im erſten Bande 
(S. 135) ſagte ich damals: 5 

„Um dieſe einfachſten und unvoll⸗ 
kommenſten aller Organismen, bei denen 
wir weder mit dem Mifroffop, noch 
mit den chemiſchen Reagentien irgend 
eine Differenzirung des homogenen Plas⸗ 
makörpers nachzuweiſen vermögen, von 
allen übrigen, aus ungleichartigen Theilen 
zuſammengeſetzten Organismen beſtimmt zu 
unterſcheiden, wollen wir fie ein für alle 
mal mit dem Namen der „Einfachen oder 
Moneren“ belegen. Gewiß dürfen wir 
auf dieſe höchſt intereſſanten, bisher aber 
faſt ganz vernachläſſigten Organismen be— 
ſonders die Aufmerkſamkeit hinlenken und 
auf ihre äußerſt einfache Formbeſchaffen⸗ 
heit bei völliger Ausübung aller weſent⸗ 
lichen Lebensfunctionen das größte Gewicht 
legen, wenn es gilt, das Leben zu er— 
klären, es aus der fälſchlich ſogenannten 
„todten Materie“ abzuleiten, und die 
übertriebene Kluft zwiſchen Organismen 


296 


und Anorganen auszugleichen. Indem bei 
dieſen homogenen belebten Naturkörpern von 
differenten Formbeſtandtheilen, von „Or⸗ 
ganen“ noch keine Spur zu entdecken iſt, 
vielmehr alle Moleküle der ſtructurloſen 
Kohlenſtoffverbindung, des lebendigen Ei— 
weißes, in gleichem Maaße fähig erſcheinen, 
ſämmtliche Lebensfunctionen zu vollziehen, 
liefern fie klar den Beweis, daß der Be— 
griff des Organismus nur dynamiſch oder 
phyſiologiſch aus den Lebensbewegungen, 
nicht aber ſtatiſch oder morphologiſch aus 
der Zuſammenſetzung des Körpers aus 
„Organen“ abgeleitet werden kann.“ 

In den folgenden Jahren wurde der 
Kreis unſerer Erfahrungen über dieſe 
wunderbaren „Organismen ohne Organe“ 
weſentlich erweitert. Auf meiner Reiſe 
nach den canariſchen Inſeln (1866 und 
1867) richtete ich natürlich meine ganze 
Aufmerkſamkeit auf dieſelben und war denn 
auch ſo glücklich, noch mehrere neue Moneren— 
Formen zu entdecken. Auf den weißen 
Kalkſchalen eines merkwürdigen Cephalopoden 
(Spirula Peronii), die zu Tauſenden 
an den Küſten der canariſchen Inſeln an⸗ 
getrieben zu finden find, bemerkte ich zu— 
weilen zahlreiche rothe Pünktchen, welche 
ſich unter der Lupe als zierliche Sternchen 
und bei ſtarker Vergrößerung als orange— 
rothe Protoplasma -Scheiben oder Kugeln 
zu erkennen gaben, von deren Umfange zahl— 
reiche baumförmig veräſtelte Fäden aus— 
ſtrahlten. Die genauere Unterſuchung zeigte, 
daß auch dieſe (verhältnißmäßig coloſſalen) 
Protoplasmakörper kernlos und ſtructurlos 
waren und ſich in ähnlicher Weiſe wie Pro— 
tomonas fortpflanzten, nämlich dadurch, 
daß der kugelig zuſammengezogene und ein— 
gekapſelte Körper in zahlreiche kleine Stücke 
zerfiel. Ich nannte dieſe intereſſante neue 
Moneren-Gattung Protomy xa auran— 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


Bi: 


tiaca und habe fie auf Taf. I. der 
„Natürl. Schöpfungsgeſchichte“ abgebildet. 
Eine ähnliche ſtattliche Monerenform ent— 
deckte ich ſodann in demſelben Jahre (1867) 
im Schlamme des Hafenbeckens von Puerto 
del Arrecife, der Hafenſtadt der canari- 
ſchen Inſel Lanzarote und bezeichnete ſie als 
Myxastrum radians. Sie iſt da⸗ 
durch ausgezeichnet, daß die Theilſtücke oder 
Sporen, in welche der kugelige Körper 
bei der Fortpflanzung zerfällt, ſich radial 
gegen den Mittelpunkt der Kugel ordnen 
und ſpindelförmige Kieſelhüllen ausſchwitzen, 
aus denen ſpäter das junge Moner aus— 
ſchlupft. 

Geſtützt auf alle dieſe Beobachtungen, 
veröffentlichte ich 1868 in der „Jenaiſchen 
Zeitſchrift für Naturwiſſenſchaft“ eine aus— 
führliche Monographie der Moneren. 
(Bd. IV, S. 64, Taf. II und III). 
Hier ſind alle eigenen und fremden Be— 
obachtungen ausführlich zuſammengeſtellt 
und erläutert. Es ergaben ſich damals 
ſieben verſchiedene Gattungen von Moneren. 
Durch ſpätere Beobachtungen iſt die Zahl 
der Arten auf 16 geſteigert worden, worüber 
ich in den „Nachträgen zur Monographie 
der Moneren“ berichtet habe. (Jenaiſche 
Zeitſchr. für Naturw. 1877. Bd. VI. S. 23) 
Die Unterſchiede aller dieſer Moneren beruhen 
nur darauf, daß die weiche ſchleimige Körper— 
maſſe in verſchiedener Form ſich ausbreitet 
und bewegt, und daß die ungeſchlechtliche 
Fortpflanzung (durch Theilung, Sporen— 
bildung u. ſ. w., auf verſchiedene Weiſe 
geſchieht. 


2. Zur Geſchichte des Vathybius. 


Das hohe Intereſſe, das die Moneren 
in morphologiſcher ſowohl, als phyſiologiſcher 
Beziehung darbieten, wurde noch geſteigert, 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


als 1868 der erſte Zoologe Englands, 


der berühmte Thomas Huxley, eine 
neue, ganz eigenartige Moneren Gattung 
unter dem Namen Bathybius Haeckelii 
beſchrieb (im Journal of mieroscop. 
ee, von r, N. 8. p. 1% Fl. 
IV). Abweichend von den übrigen Moneren 
ſollte dieſer Bathybius eigenthümlich 
geformte mikroſkopiſche Kalkkörperchen ein— 
ſchließen: Coceosphaeren und Coccolithen 
(Diseolithen und Cyatholithen); die 
formloſen Protoplasma-Klumpen deſſelben 
aber, von ſehr verſchiedener Größe, ſollten 
in ungeheuren Maſſen die tiefſten Abgründe 
des Meeres bedecken, unterhalb 5000 Fuß 
bis zu 25,000 Fuß hinab. Mit dieſem 
formloſen Ur-Organismus einfachſter Art, 
der zu Milliarden vereinigt den Meeres— 
boden mit einer lebendigen Schleimdecke 
überzieht, ſchien ein neues Licht auf eine 
der ſchwierigſten und dunkelſten Fragen der 
Schöpfungsgeſchichte zu fallen, auf die 
Frage von der Urzeugung, von der 
erſten Entſtehung des Lebens auf unſerer 
Erde. Mit dem Bathybius ſchien der 
berüchtigte „Urſchleim“ gefunden zu 
ſein, von dem Oken vor einem halben Jahr— 
hundert prophetiſch behauptet hatte, daß 
alles Organiſche aus ihm hervorgegangen, 
und daß er im Verfolge der Planeten-Ent— 
wickelung aus anorganiſcher Materie im 
Meeresgrunde entſtanden ſei. 

Der Tiefſeeſchlamm, welcher die Bath y— 
bius⸗Maſſen enthält, wurde zuerſt bei 
Gelegenheit der großartigen Tiefgrundunter— 
ſuchungen entdeckt, die ſeit dem Jahre 1857 
behufs Legung des transatlantiſchen Tele— 
graphen-Kabels angeſtellt wurden. Man 
fand ſchon damals das „atlantiſche Tele— 
graphen-Plateau“, jene mächtige Tiefſee— 
Ebene, welche ſich in einer durchſchnitt— 
lichen Tiefe von 12,000 Fuß von Irland 


297 


bis Neufundland erſtreckt, allenthalben mit 
einem eigenthümlichen, grauen, äußerſt fein— 
pulverigen Schlamme bedeckt: Derſelbe 


zeichnete ſich durch zähe, klebrige Beſchaffen— 


heit aus und zeigte bei mikroſkopiſcher Unter— 
ſuchung Maſſen von kleinen kalkſchaligen 
Rhizopoden, insbeſondere Globigerinen, und 
ferner, als Hauptbeſtandtheile, die ſehr kleinen, 
als Coccolithen bezeichneten Kalkkörperchen. 
Aber erſt elf Jahre ſpäter, als Huxley 
1868 mittelſt eines ſehr ſcharfen Mikroſkops 
eine erneute genaue Unterſuchung deſſelben 
Schlammes, auch in chemiſcher Beziehung 
vornahm, entdeckte er darin die nackten, 
freien, formloſen Protoplasma-Klumpen, 
welche neben den genannten Theilen die 
Hauptmaſſe des Schlammes bilden. „Dieſe 
Klumpen ſind von allen Größen, von 
Stücken, die mit bloßem Auge ſichtbar ſind, 
bis zu äußerſt kleinen Partikelchen. Wenn 
man fie der mikroſkopiſchen Analyſe unter— 
wirft, zeigen ſie — eingebettet in eine durch— 
ſichtige, farbloſe und ſtructurloſe Matrix 
— Körnchen, Coccolithen und zufällig 
hineingerathene fremde Körper.“ 
Lebender Bathybius wurde zuerſt 
1868 von Sir Wy ville Thomſon 
und Profeſſor William Carpenter, 
zwei ebenſo erfahrenen als ſcharfſichtigen 
Zoologen, während ihrer nordatlantiſchen 
Tiefſee-Expedition auf dem Kriegsſchiffe 
„Porcupine“ beobachtet. Sie berichten über 
den friſch heraufgeholten lebendigen Tiefſee— 
Schlamm: „Dieſer Schlamm war 
wirklich lebendig; er häufte ſich 
in Klumpen zuſammen, als ob Eiweiß 
beigemiſcht wäre; und unter dem Mikroſkope 
erwies ſich die klebrige Maſſe als lebende 
Sarcode.“ (Annals and magaz. ot nat. 
hist. 1869, Vol. IV, p. 151). Ferner 
ſagt Sir Wyville Thomſon in ſeinem 
höchſt intereſſanten Werke über die Meeres— 


tiefen (The depths of the Sea II. Edit. 
1874. p. 410): „In dieſem Schlamm 
(Globigerinen-Schlamm aus 2,435 Faden 
— oder ca. 14,600 Fuß Tiefe, aus der 
Bay von Biscaya), wie in den meiſten 
anderen Schlamm-Proben aus dem atlantiſchen 
Ocean-Bett, war eine beträchtliche Quantität 
einer weichen, gallertigen, organiſchen 
Materie nachweisbar, genug, um dem 
Schlamme eine gewiſſe Klebrigkeit zu geben. 
Wenn der Schlamm mit ſchwachem Wein- 
geiſt geſchüttelt wurde, fielen feine Flocken 
nieder, wie von geronnenem Schleime; und 
wenn ein Wenig von demjenigen Schlamme, 
an welchem die klebrige Beſchaffenheit am 
deutlichſten hervortritt, in einem Tropfen 
Seewaſſer unter das Mikroſkop gebracht 
wird, können wir gewöhnlich nach einiger 
Zeit ein unregelmäßiges. Netzwerk von 
eiweißartiger Materie ſehen, unterſcheidbar 


durch ſeine beſtimmten Umriſſe und nicht 


mit Waſſer miſchbar. Man kann ſehen, 
wie dieſes Netzwerk feine Form allmählig 
ändert, und die eingeſchloſſenen Körnchen 
und fremden Körper ihre relative Lage 
darin verändern. Die Gallert-Subſtanz 
iſt daher eines gewiſſen Grades 
von Bewegung fähig, und es kann 
kein Zweifel ſein, daß ſie die Er— 
ſcheinungen einer ſehr einfachen 
Lebensform zeigt.“ So wörtlich Sir 
Wyville Thomſon (a. a. O. S. 411). 

Meine eigenen Unterſuchungen des Bathy— 
bius-Schlammes betrafen, ebenſo wie die— 
jenigen von Huxley, nur todtes, in Wein— 
geiſt conſervirtes Material. Das Fläſchchen, 
in welchem ich denſelben von den Far-Oer⸗ 
Inſeln zugeſandt erhielt, trug die Aufſchrift: 
„Dredged of Professor Thomson und 
Dr. Carpenter with the Steamer Poreupine 
on 2435 fathoms. 22. July 1869. Lat. 
47038“. Long. 124 “.“ Es war alſo 


ve Sa Er 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


dieſer Bathybius-Schlamm derſelbe, an 
welchem die genannten Forſcher ihre Beobach- 
tungen über amöboide Bewegungen angeſtellt 
hatten. Die Reſultate meiner Unterſuchung 
habe ich ausführlich in meinen „Beiträgen 
zur Plaſtiden-Theorie“ mitgetheilt 
(2. Bathybius und das freie Protoplasma 
der Meerestiefen. Jen. Zeiſchr. für Naturw. 
1870. Bd. V. S. 499. Taf. XVII.) 
Die 80 Figuren, welche ich daſelbſt (auf 
Taf. XVII) von den verſchiedenen formloſen 
Protoplasma-Stücken des Bathybius und 
den geformten Kalkkörperchen, die er einſchließt, 
gegeben habe, find bei ſehr ſtarker Ver— 
größerung mit Hülfe der Camera lueida . 
ganz genau gezeichnet. Einige dieſer Figuren 
find auch iu den Aufſatz über „das Leben 
in den größten Meerestiefen“ übergegangen, 
welchen ich 1870 in Virchow-Holzendorff's 
Sammlung publicirt habe. (Nr. 110). 
Indem ich dieſen, in ſtarkem Alkohol 
ſehr gut conſervirten Bathybius⸗Schlamm 
mit Hülfe der neueſten Methoden möglichſt 
genau unterſuchte, und namentlich die vor— 
theilhafte (von Huxley früher nicht ange— 
wandte) Methode der Färbung mit Carmin 
und Jod übte, ſuchte ich vor Allem die 
Quantität und Qualität der formloſen 
Protoplasma-Stüde näher zu beſtimmen, 
die überall in Maſſe zwiſchen den geformten 
Kalktheilchen ſich vorfanden. Dieſe eiweiß— 
artigen, durch Carmin roth gefärbten Stücke 
waren ſehr gleichmäßig durch den ganzen 
Schlamm verbreitet und ſchienen in den 


meiſten unterſuchten Proben mindeſtens ein 


Zehntel bis ein Fünftel des geſammten 
Volums zu betragen; in manchen Präparaten 
ſelbſt die größere Hälfte. Dieſelben Maſſen, 
welche durch Carmin ſich mehr oder minder 
intenſiv roth färbten, nahmen durch Jod — 
und ebenſo durch Salpeterſäure — eine 
gelbe Färbung an und zeigten auch im 


Häckel, Bathybius 


Verhalten gegen andere chemiſche Reagentien 
ganz dieſelben Eigenſchaften, wie das gewöhn— 
liche echte Protoplasma der Thier- und 
Pflanzenzellen. Die Form der meiſten 
Stückchen war unregelmäßig, rundlich oder 
mit ſtumpfen Fortſätzen, einer Amoebe 
ähnlich; andere Stückchen bildeten unregel— 
mäßige kleine und größere Sarcode Netze, 
ähnlich denen der Myxomyeeten. 


Ob die kleinen geformten Kalktheilchen, 
die Coccolithen und Coccoſphaeren, welche 
in fo großen Maſſen im Bathybius-Schlamme 
vorkommen, — und zwar ebenſo wohl 
zwiſchen den Protoplasma-Stückchen, als 
innerhalb derſelben, von ihnen umſchloſſen, 
— wirklich zu ihnen gehören, oder nicht, 
dieſe Frage mußte ich um ſo mehr offen 
laſſen, als ich ſchon vorher ganz ähnliche 
Kalkkörperchen in dem Körper mehrerer 
pelagiſchen, an der Oberfläche des canariſchen 
Meeres ſchwimmenden Radiolarien gefunden 
hatte („My xobrachia von Lanzerote“). 
Dieſe ſonderbaren Kalkkörperchen, welche 
bald die Geſtalt einer einfachen, concentriſch 
geſchichteten Scheibe, bald eines Hemd— 


zuſammengeſetzten Kugel u. ſ. w. hatten, 
konnten ebenſowohl Ausſcheidungen der Bathy— 


bius⸗Sarcode ſein, als fremde Körper, die 


zufällig (oder bei der Nahrungsaufnahme) 
in das Protoplasma hinein gelangt waren. 
In neueſter Zeit hat ſich die größere 
Wahrſcheinlichkeit zu Gunſten der letzteren 
Annahme herausgeſtellt und die meiſten 
Biologen nehmen jetzt an, daß alle dieſe 


Körperchen mikroſkopiſche Kalk-Algen ſeien, 


verkalkte einzellige Pflanzen. 
Durch dieſe Unterſuchungen, die von 


299 


und die Moneren. 


Tiefen zwiſchen 5000 und 25000 Fuß, 
ein feinpulveriger Schlamm ſich findet, 
welcher u. A. große Mengen einer eigen— 
thümlichen, noch kaum individualiſirten Mo— 
neren-Art enthält. Der Fehler, den wir 
nun begingen, beſtand darin, daß wir die 
Reſultate dieſer nordatlantiſchen Tiefſee-Un⸗ 
terſuchungen allzuraſch generaliſirten und 
überall den Boden des tiefen Oceans mit 
ähnlichen Moneren bedeckt zu ſehen erwar— 
teten. Dieſe Erwartung wurde vollſtändig 
getäuſcht. Die ſehr genaue und umfaſſen— 
de Unterſuchung der großartigen Chal— 
lenger-Expedition, welche in 3½ Jahren 
die Erde umkreiſte und in den Tiefen der 
verſchiedenen Oceane ſorgfältig nach dem 
Bathybius ſuchte, hat ihn nirgends wieder— 
gefunden und erzielte nur negative Reſul— 
tate. Wir haben keinen Grund, in die 
Sorgfalt und Genauigkeit der ausgezeichne— 
ten Naturforſcher der bewunderungswürdi— 
gen Challenger - Expedition irgend einen 
Zweifel zu ſetzen, um ſo weniger, als ja 


der vorzügliche Direktor derſelben, Sir 
Wyville Thomſon, ſelbſt zuerſt die 
5 4 | B Y ' = 
de viele Sheibihen. | ewegungen am lebenden Bathybius wahr 

genommen hatte. 


annehmen, daß an den vom Challenger 


Wir müſſen alſo wohl 


unterſuchten Stellen des tiefen Meeresbo— 
dens die Bathybius-Moneren wirklich fehl— 
ten. Folgt aber daraus, daß alle jene 
früheren Beobachtungen und Schlüſſe un— 
richtig waren? 

Wie es ſehr häufig in ſolchen Fällen 
| zu gehen pflegt, fo ging auch jetzt plötzlich 
die einſeitig übertriebene Anſicht in das 
entgegengeſetzte Extrem über. Vorher hatte 
man gehofft, überall im Schlamme des 
tiefen Meeresbodens die Protoplasma-Klum⸗ 


mehreren andern Forſchern beſtätigt wur-“ pen des Bathybius in Maſſe zu finden; 


den, ſchien feſtgeſtellt, daß auf dem Boden 
des nordatlantiſchen Oceans, und zwar in 


jetzt wollte man fie mit einem Male nir- 
gends mehr anerkennen. Suebefonterch 


Häckel, Bathybius 


300 


glaubte man ſich zu der Annahme berech- 


tigt, der früher in Weingeiſt unterſuchte 
Bathybius-Schlamm ſei weiter nichts, als 
ein feiner Gyps-Niederſchlag, wie er über— 
all bei der Miſchung von Weingeiſt mit 
Seewaſſer entſteht. 


hin widerrief Profeſſor Huxley — wie 
mir ſcheint, zu frühzeitig — ſeine frühere 
Anſicht vom Bathybius. In der „Nature“ 


(vom 19. Aug. 1875) und im „Quarter- 


ly Journal of microscop. science“ 


(1875, Vol. XV. p. 392) ſagt derſelbe 
wörtlich: „Profeſſor Wyville Thom 
fon, theilt mir mit, daß die beſten Be⸗ 


mühungen der Challenger-Forſcher, lebenden 
Bathybius zu entdecken, fehlſchlugen, und 
daß ernſtlich vermuthet wird, das Ding, 
dem ich dieſen Namen gab, ſei wenig mehr 
als ſchwefelſaurer Kalk, in flockigem Zu— 
ſtande aus dem Seewaſſer durch den ſtar— 
ken Alkohol niedergeſchlagen, in welchem 
der Tiefſeeſchlamm aufbewahrt wurde. Das 


Sonderbare iſt aber, daß dieſer unorgas | 


niſche Niederſchlag kaum von einem 
Eiweißniederſchlag zu unterſchei— 
den iſt, und er gleicht, vielleicht noch mehr, 
dem keimführenden Häutchen an der Ober— 


fläche fauliger Aufgüſſe, das ſich unregel- 
mäßig, aber ſehr ſtark, mit Carmin färbt, 


Stücke von beſtimmtem Umriß bildet und 
in jeder Weiſe ſich wie ein organiſches Ding 
verhält. Profeſſor Thomſon ſpricht 
ſehr vorſichtig und ſieht das 
Schickſal des Bathybius noch nicht 
als ganz entſchieden an. Aber 
da ich hauptſächlich für den eventuellen 
Irrthum verantwortlich bin, dieſe merk— 
würdige Subſtanz in die Reihe der leben— 
den Weſen eingeführt zu haben, ſo glaube 
ich richtiger zu verfahren, wenn ich ſeiner 


Dieſe Anſicht wurde 
zuerſt von einigen Naturforſchern der Chal- 
lenger-Expedition ausgeſprochen und darauf 


und die Moneren. 


oben mitgetheilten Anſicht größeres Gewicht 
beilege, als er ſelbſt.“ 

Dies find die Worte des Profeſſor 
Huxley, welche ſo großes Aufſehen erreg— 
ten, und nach weit verbreiteter Anſicht dem 
armen Bathybius den Todesſtoß verſetzt 
haben. Je mehr aber hier die eigentlichen 
Eltern des Bathybius ſich geneigt zeigen, ihr 
Kind als hoffnungslos aufzugeben, deſto 
| mehr fühle ich mich als Taufpathe verpflichtet, 
ſeine Rechte zu wahren und womöglich ſein 
erlöſchendes Lebensfünkchen wieder zur Gel— 
Und da finde ich denn 
glücklicherweiſe einen werthvollen Bundes— 
genoſſen in einem vielgereiſten deutſchen 
Naturforſcher, der erſt in neuerer Zeit 
wieder lebenden Bathybius, und zwar 
| an der Küſte von Groenland, beobachtet hat. 
Der bekannte Nordpolfahrer Dr. Emil 
Beſſels aus Heidelberg, 
Schiffbruche der Polaris glücklich zurück— 
kehrte, macht bei Gelegenheit ſeiner Beſchrei— 
bung der Haeckelina gigantea 
(eines coloſſalen Rhizopoden, der vielleicht 
mit der früher von Sand ahl beſchriebe⸗ 
nen Astrorhiza identiſch iſt) folgende 
wichtige Angaben: „Während der letzten 
amerikaniſchen Nordpol-Expedition fand ich 
| in 92 Faden Tiefe in dem Smith-Sunde 

große Maſſen von freiem, undifferenzirtem 
homogenen Protoplasma, welches auch keine 
Spur der wohlbekannten Coccolithen ent— 
hielt. Wegen ſeiner wahrhaft ſpartaniſchen 
Einfachheit nannte ich dieſen Organismus, 
den ich lebend beobachten konnte, Proto- 
bathybius. Derſelbe wird in dem 
Reiſewerk der Expedition abgebildet und 
beſchrieben werden. 
wähnen, daß dieſe Maſſen aus reinem 


tung zu bringen. 


der von dem 


Ich will hier nur er⸗ 


Protoplasma beſtanden, dem nur zu 


fällig Kalktheilchen beigemiſcht waren, aus 
welchen der Seeboden gebildet iſt. Sie 


4 


er 


N 
a ** 


ſtellten äuß erſt klebrige, maſchenar— 
tige Gebilde dar, die prächtige 
amöboide Bewegungen ausführ— 
ten, Carminpartikelchen ſowie 
andere Fremdkörper aufnahmen 
und lebhafte Körnchenſtrömung 
zeigten. 
1875. Bd. IX. S. 277. Vgl. auch: 
Annual Report of the Secret. 
of the navy for 1873). An einem an— 
deren Orte, in den von Packard publi- 
cirten „Life histories of ani— 


mals“ (New- York, 1876 p. 3) iſt eine 


Abbildung der Protoplasma-Netze des 
Protobathybius von Dr. Beſſels 
publicirt. Hiernach möchte ich annehmen, 
daß derſelbe von unſerm echten Bathybius 
nicht verſchieden iſt. Der Unterſchied, daß 
letzterer gewöhnlich viele geformte Kalkkör— 
perchen (Coccolithen ꝛc.) umſchließt, der er— 
ſtere dagegen nicht, verliert ſeine Bedeutung 
durch die immer wachſende Wahrſcheinlich— 
keit, daß dieſe Kalkkörperchen einzellige, 


als Nahrung aufgenommene Kalkalgen ſind. 


3. Zur Kritik des Bathybius. 


Nachdem wir jetzt die hiſtoriſchen An— 
gaben über den Bathybius zuſammengetra— 
gen und die wichtigſten wörtlich angeführt 
haben, wenden wir uns zur Kritik deſſelben. 
Verſuchen wir, aus einer unpartheiiſchen 
Würdigung jener Angaben uns ein ſelbſt— 
ſtändiges unbefangenes Urtheil über den 
vielverſchrieenen und jetzt faſt aufgegebenen 
Urſchleim der größten Meerestiefen zu bil— 
den! 

Bezüglich des todten Bathybius, 
des in Weingeiſt conſervirten Tiefſeeſchlam— 
mes aus dem nord⸗atlantiſchen Ocean, find 
alle Beobachter, die denſelben genau unter— 
ſucht haben, einig, daß derſelbe mehr oder 


(Jenaiſche Zeitſchr. f. Naturw. 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


301 


minder anſehnliche Mengen von geronnenem 
Protoplasma enthält, welche im mor— 


phologiſchen und chemiſch-phyſikaliſchen Ver— 


halten die größte Aehnlichkeit mit gewiſſen 
Moneren beſitzen. Die Reſultate, welche 
Huxley an feinem „Porcupine“ -Material 
erhielt, und die ich ſelbſt beſtätigen und 
ergänzen konnte, ſind von allen anderen Be— 
obachtern, die denſelben Schlamm unter— 
ſuchten, als richtig anerkannt worden. 

Bezüglich des leben den Bathybius 
liegen poſitive Angaben über die cha— 
rakteriſtiſchen rhizopoden-artigen Bewegungen 
deſſelben von drei bewährten Beobachtern 
vor, von Sir Wyville Thomſon, Pro- 
feſſor William Carpenter und Dr. 
Emil Beſſels. Alle drei ſtellten dieſe 
Beobachtungen an Tiefſeeſchlamm aus dem 
nord⸗atlantiſchen Ocean an. Dagegen 
lieferten die Bemühungen der Challenger— 
Forſcher, in verſchiedenen Meeren jene äl— 
teren Beobachtungen über Bewegungs-Er- 
ſcheinungen zu wiederholen und zu beſtäti— 
gen, nur negative Reſultate. 

Was folgt nun aus allen dieſen An— 


gaben, denen wir ſämmtlich dieſelbe Glaub— 


würdigkeit zuerkennen müſſen, und die ſich 
doch theilweiſe zu widerſprechen ſcheinen? 
Angenommen, daß alle dieſe Angaben rich— 
tig ſind, ſo folgt daraus einfach weiter gar 
nichts, als daß der Bathybius-Schlamm 
eine beſchränkte geographiſche 
Verbreitung beſitzt, und daß es eine 
voreilige Verallgemeinung war, alle tiefen 
Meeres-Abgründe mit demſelben zu bevöl— 
kern. Daraus aber, daß die Challenger- 
Expedition den lebenden Bathybius nicht 
wieder finden konnte, iſt doch wahrlich 
nicht zu folgern, daß die an anderen 
Orten angeſtellten Beobachtungen der 
Porcupine⸗Expedition über lebenden Bathy⸗ 
bius unrichtig waren! Oder ſollen wir da— 


40 


= 

302 
raus, daß die Challenger-Expedition den 
merkwürdigen „Radiolarien-Schlamm“ nur 


finden konnte, den Schluß ziehen, daß der— 
ſelbe überhaupt nicht exiſtirt? Wir wiſſen, 
daß die 
einen beſchränkten Verbreitungs-Bezirk haben. 


tung des Bathybius beſchränkt ſein? 

Ich bekenne daher, nicht zu begreifen, 
wie Huxley ſeine Anſicht über den Ba— 
thybius ſo raſch und ſo vollſtändig ändern 
konnte. Noch viel weniger freilich begreife 
ich die Art und Weiſe, wie auf der letzten 
Deutschen Naturforſcher-Verſammlung in 
Hamburg (im September 1876) der Ba— 
thybius öffentlich zu Grabe getragen wer— 
den konnte. Ich finde darüber in der Ber— 
liner Nationalzeitung folgende merkwürdige 
Mittheilung (datirt Hamburg 21. Sep⸗ 
tember), betreffend einen, von Profeſſor 
Möbius aus Kiel gehaltenen trefflichen 
Vortrag über die Marine Fauna und die 
Challenger-Expedition: „Ueber dieſe Ebenen 
(— Tiefſee-Ebenen von 3700 bis 4000 
Meter Tiefe —) ſollte ſich der geheimniß— 
volle Urſchleim, der Bathybius, ausbreiten, 
den der berühmte Huxley zu Ehren ſeines 
genialen Freundes in Jena Bathybius 
Haeckelii genannt hat. Leider aber paſ— 
ſirte der Naturforſchung ein böſes Mißge— 

ſchick. Der Bathybius, der ſo gut zu den 
modernen Anſchauungen von dem Beginne 
des organiſchen Lebens paſſte, erwies ſich 
als ein Kunſtprodukt, als Niederſchlag von 
im Meere gelöſtem Gyps, in Folge des 
den Proben zugeſetzten Alkohols. Ueberall 
wo man die friſchen Proben an Bord un— 
terſuchte, war keine Spur von ihm zu ent— 
decken. Es machte einen geradezu erſchüttern— 


auf einen verhältnißmäßig engen Verbrei- 
tungs-Bezirk des pacifiſchen Oceans bee 
ſchränkt fand, und ſonſt nirgends wieder- 


allermeiſten Organismen-Arten 
Weingeiſt conſervirte Bathybius-Schlamm 
Warum ſoll denn nicht auch die Verbrei- 
weisführung macht auf alle Mitglieder 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


den Eindruck auf die Zuhörer, als Herr 
Möbius den Bathybius nach einem ſo 
einfachen Recepte vor ihren Augen in 
einem mit Meerwaſſer gefüllten Glaſe 
durch Alkohol-Zuſatz erſcheinen ließ!“ 

In der That eine merkwürdige Logik! 
Weil Weingeiſt in Seewaſſer einen Gyps— 
Niederſchlag erzeugt, deshalb iſt der in 


nur ein Gyps⸗Niederſchlag! Und dieſe Be— 


einer deutſchen Naturforſcher-Verſammlung 
„einen geradezu erſchütternden 
Eindruck!“ Daß ſtarker Weingeiſt in 
Seewaſſer einen dünnen flockigen Gyps— 
Niederſchlag erzeugt, weiß Jeder, der See⸗ 
thiere in Weingeiſt geſammelt hat. Ebenſo 
weiß aber auch Jeder, der den Bathybius⸗ 
Schlamm der Porcupine-Expedition gleich 
Huxley und mir genau unterſucht hat, 
daß die darin maſſenhaft enthaltenen mo— 
neren-artigen Eiweißkörper wirklich aus 
einem eiweiß artigen Körper und nicht 
aus Gyps beſtehen. Sie färben ſich in 
Carmin roth, in Salpeterſäure und in Jod 
gelb, werden durch concentrirte Schwefel— 
ſäure zerſtört und geben alle übrigen Re— 
actionen des Protoplasma, was be— 
kanntlich beim Gyps nicht der Fall iſt. 
Wenn man gewiſſe Kreide-Arten oder 
kreidigen Mergel fein pulveriſirt, ſo erhält 
man ein feinkörniges, weißes Mehl, welches 
zum Verwechſeln dem merkwürdigen „Ra- 
diolarien-Schlamm“ ähnlich iſt, den die 
Challenger-Expedition in einem beſchränkten 
Bezirke des Paeifiſchen Oceans (und nur 
hier!) in einer Tiefe von 12,000 — 26,000 
Fuß gefunden hat. Dieſer „Navdiolarien- 
Ooze“, den ich eben jetzt unterſuche, beſteht faſt 
ausſchließlich aus den zierlichſten und man— 
nigfaltigſt geformten Kieſelſchalen von zahl— 
loſen Radiolarien. Mit bloßem Auge aber 


7 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


iſt dieſer getrocknete Schlamm — ein wun- 


dervolles, mikroſkopiſches Radiolarien-Mu— 
ſeum — nicht zu unterſcheiden von jenem 
pulveriſirten Kreide-Mergel, der nicht eine 
einzige Radiolarien-Schale enthält. Ich 
ſchlage nun vor, auf der nächſten deutſchen 
Naturforſcher-Verſammlung (im September 
1877 in München) den experimentellen Be— 
weis zu führen, daß jene coloſſalen und 
höchſt merkwürdigen, vom Challenger ent— 
deckten Radiolarien-Lager in den Tiefen des 
Pacifiſchen Oceans nicht exiſtiren. „Das 
Recept iſt höchſt einfach.“ Man zer— 
ſtößt in einem Mörſer vor den Augen der 
verſammelten Naturforſcher einen von jenen 
Kreide-Mergeln, die keine Radiolarien ent— 
halten. Das ſo erhaltene weiße Pulver 
enthält kein einziges Radiolar — alſo exi— 
ſtirt auch der pacifiſche (blos aus Radio— 
larien beſtehende) Tiefſee-Schlamm nicht — 
denn beide ſind mit bloßem Auge nicht zu 
unterſcheiden. Quod erat demonstran— 
dum! Wir ſind überzeugt, das ſchlagende 
Experiment wird auf alle Zuſchauer „einen 
geradezu erſchütternden Eindruck machen“ — 
und der Radiolarien-Schlamm exiſtirt nicht 
mehr! 


4. Zur Kritik der Moneren. 


Wir glauben in Vorſtehendem gezeigt 
zu haben, daß die Nicht-Exiſtenz des 
Bathyb ius nicht erwieſen iſt. Viel⸗ 
mehr bleibt es ſehr wahrſcheinlich, daß die 
Beobachtungen von Wy ville Thom- 
ſon, Carpenter und Emil Beſſels 
über die Bewegungen des lebenden Bathy— 
bius richtig ſind. Wir wollen nun aber 
einmal das Gegentheil annehmen und wol— 
len zugeben, daß Bathybius kein Moner 
und überhaupt kein Organismus ſei. Folgt 
daraus, — wie jetzt ſehr oft gefolgert 


303 


wird, — daß auch die Moneren über— 
haupt nicht exiſtiren? Oder dürfen 
wir daraus, daß die bekannte Rieſen-See— 
ſchlange der Fabel nicht exiſtirt, den Schluß 
ziehen, daß es überhaupt keine Seeſchlangen 
giebt? Bekanntlich giebt es deren eine 
Menge, die Familie der lebendig gebären— 
den, ſehr giftigen Hydrophiden (Hy- 
drophis, Platurus, Aepysurus ete.), 
welche meiſtens im indiſchen Ocean und 
Sunda Archipel leben, aber keine beträcht— 
liche Größe erreichen. 

Es würde unnütz ſein, hier nochmals 
darauf hinzuweiſen, daß meine eigenen, viele 
Jahre ſpeziell auf dieſen Gegenſtand ge— 
richteten und möglichſt ſorgfältigen Unter— 
ſuchungen die Exiſtenz von mehr als einem 
Dutzend verſchiedener Moneren-Arten theils 
im Süßwaſſer, theils im Meere nachge— 
wieſen haben. Um ſo mehr will ich aber 
hervorheben, daß dieſe Beobachtungen ſeit- 
dem von einer Anzahl bewährter Forſcher 
wiederholt und beſtätigt worden ſind. 
Einige von dieſen Moneren ſcheinen ſogar 
im ſüßen Waſſer ſehr verbreitet zu ſein, 
ſo namentlich die Gattungen Protamoeba 
und Vampyrella. P. agilis und V. spi- 
rogyrae kommen in Jena faſt jeden Some 
mer gelegentlich zur Beobachtung. P. pri— 
mitiva und V. vorax ſind von mehreren 
verſchiedenen Beobachtern in ſehr entlegenen 
Gegenden geſehen worden. Andere neue 
Moneren-Formen ſind erſt ganz neuerdings 
von Cienkowski und Oskar Grimm 
beobachtet. Wenn erſt die allgemeine Auf— 
merkſamkeit der Mikroſkopiker ſich mehr 
dieſen höchſt einfachen Organismen zuwen— 
det, ſteht zu erwarten, daß unſere Kennt— 
niß derſelben ſich noch beträchtlich erweitern 
und vertiefen wird. 

Ganz abgeſehen alſo davon, ob Bathy— 
bius ein echtes Moner iſt oder nicht, kennen 


9200 


wir jetzt bereits mit Sicherheit eine An— 
zahl echter Moneren, deren fundamen— 
tale Bedeutung von erſterem ganz unab— 
hängig iſt. Wir wiſſen, daß noch heute 
eine Anzahl von niedrigſten Lebensformen 
in den Gewäſſern unſeres Planeten exiſtiren, 
welche nicht nur die einfachſten unter allen 
wirklich beobachteten Organismen, ſondern 
überhaupt die denkbar einfachſten 
lebenden Weſen ſind. Ihr ganzer Körper 
beſteht in vollkommen entwickeltem und 
fortpflanzungsfähigem Zuſtande aus nichts 
weiter als aus einem ſtrukturloſen Proto— 
plasma⸗Klümpchen, deſſen wechſelnde, form— 
veränderliche Fortſätze alle Lebensthätigkeiten 
gleichzeitig beſorgen, Bewegung und Em— 
pfindung, Stoffwechſel und Ernährung, 
Wachsthum und Fortpflanzung. Morpho- 
logiſch betrachtet iſt der Körper eines ſol— 
chen Moners ſo einfach wie derjenige 
irgend eines anorganiſchen Kryſtalls. Ver— 
ſchiedene Theilchen ſind darin überhaupt 
nicht zu unterſcheiden; vielmehr iſt jedes 
Theilchen dem anderen gleichwerthig. Dieſe 
wichtigen Thatſachen und die daraus ſich 
ergebenden weitreichenden Folgerungen gelten 
für alle Moneren ohne Ausnahme — 
mit oder ohne Bathybius! — und es iſt 
daher für die Theorie ganz gleichgültig, ob 
der Bathybius exiſtirt oder nicht. 

Wenn wir dieſe Moneren als „abſolut 
einfache Organismen“ bezeichnen, ſo iſt da— 
mit natürlich nur ihre morphologiſche 
Einfachheit, der Mangel jeder Zuſam— 
menſetzung aus verschiedenen Organen, aus— 
geſprochen. In chemiſch-phyſikaliſcher Be- 
ziehung können dieſelben noch ſehr zuſam— 
mengeſetzt ſein; ja wir werden ihnen ſo— 
gar auf alle Fälle eine ſehr verwickelte 
Molecular - Structur zuſchreiben 
müſſen, wie allen eiweißartigen Körpern 
überhaupt. Viele betrachten den ſchleim— 


Häckel, Bathybius und die Moneren. 


artigen Eiweißkörper dieſer Moneren als 
eine einzige chemiſche Eiweißverbindung, 
Andere als ein Gemenge von mehreren 
verſchiedenen ſolchen Verbindungen, noch 
Andere als eine Emulſion oder ein feinſtes 
Gemenge von eiweißartigen und fettartigen 
Theilchen. Dieſe Frage iſt für unſere Auf— 
faſſung und für die allgemeine biologiſche 
Bedeutung der Moneren von untergeord— 
neter Bedeutung. Denn auf alle Fälle — 
mag dieſe oder jene Anſicht richtig ſein — 
bleiben die Monereu in anatomiſcher 
Hinſicht vollkommen einfach: Orga⸗ 
nismen ohne Organe. Sie beweiſen un— 
widerleglich, daß das Leben nicht an eine 
beſtimmte anatomiſche Zuſammenſetzung des 
lebendigen Körpers, nicht an ein Zuſam— 
menwirken verſchiedener Organe, ſondern 
an eine gewiſſe, chemiſch-phyſikaliſche Be— 
ſchaffenheit der formloſen Materie gebunden 
iſt, an die eiweißartige Subſtanz, welche 
wir Sarcode oder Protoplasma nennen, 
eine ſtickſtoffhaltige Kohlenſtof f— 
verbindung in feſtflüſſigem Aggre— 
gatzuſt ande. 

Das Leben iſt alſo nicht Folge 
der Organiſation, ſondern um— 
gekehrt. Das formloſe Protoplasma 
bildet die organiſirten Formen. Da ich 
die außerordentlich hohe Bedeutung, welche 
die Moneren in dieſer Beziehung wie in 
vielen anderen Beziehungen beſitzen, bereits 
in den früher angeführten Schriften aus— 
führlich erörtert habe, kann ich hier einfach 
darauf verweiſen. Nur die fundamentale 
Bedeutung, welche die Moneren für die 
hochwichtige Frage von der Urzeugung 
behaupten, ſei hier nochmals ausdrücklich 
hervorgehoben. Die älteſten Orga— 


nismen, welche durch Urzeugung 


aus anorganiſcher Materie ent- 
ſtanden, konnten nur Moneren ſein. 


ER 


e eee e ne EL RE Bazar 
R d 
5 5 ER 


Gerade dieſe allgemeine Bedeutung der 
Moneren für die Löſung der größten bio— 
logiſchen Räthſel iſt es, welche ſie zu einem 
beſonderen Steine des Anſtoßes und Aerger— 
niſſes für die Gegner der Entwickelungs— 
lehre macht. 


rühmten Eozoon canadense geſchah, 
jener vielbeſtrittenen älteſten Verſteinerung 
der laurentiſchen Formation. Die erfah— 
renſten und urtheilsfähigſten Kenner der 
Rhizopoden-Klaſſe — an ihrer Spitze Pro— 
feſſor Carpenter in London und der 
verſtorbene berühmte Anatom Max 
Schultze in Bonn — haben überein— 
ſtimmend die feſte Ueberzeugung gewonnen, 
daß das echte nordamerikaniſche Eozoon 
(aus den laurentiſchen Schichten in Canada) 
ein wirklicher Rhizopode, und zwar ein 
dem Polytrema nächſtverwandtes Po- 
lythalamium iſt. Ich ſelbſt habe mich 
viele Jahre hindurch ganz ſpeciell mit dem 
Studium der Rhizopoden beſchäftigt. Ich 


Häckel, Bathyhius und die Moneren. 


Natürlich benutzen die Letz 
teren jede Gelegenheit, ihre Exiſtenz zu be- 


ſtreiten, ähnlich wie es auch mit dem be | 


habe die zahlreichen, ſchönen Eozoon-Prä— 
parate von Carpenter und von Max 
Schultze ſelbſt genau unterſucht und hege 
danach nicht den mindeſten Zweifel mehr, 
daß daſſelbe wirklich ein echtes Polythala— 
mium und kein Mineral iſt. 

Aber gerade wegen der außerordent— 
lichen principiellen Bedeutung des Eozoon, 
weil dadurch die Zeitdauer der organiſchen 
Erdgeſchichte um viele Millionen Jahre hin— 
auf gerückt, die uralte ſiluriſche Formation 
als verhältnißmäßig junge erkannt und 
ſo der Entwickelungslehre ein großer 
Dienſt geleiſtet wird, deshalb fahren die 
Gegner der letzteren fort, unbeirrt zu be— 
haupten, daß Eozoon kein organiſcher Reſt, 
ſondern ein Mineral ſei. Wie aber die 
hohe Bedeutung des Eozoon durch dieſe 
fruchtloſen Angriffe unkundiger Gegner erſt 
recht in ihr volles Licht geſetzt worden iſt, 
ſo gilt daſſelbe auch von den Moneren — 
mit oder ohne Bathybius! Die echten Mo— 
neren bleiben ein feſter Grundſtein der 
Entwickelungslehre! 


Phyſiologiſche Briefe 


von 


Prof. Dr. Guſtav Jäger. 


II. Ueber Vererbung. 


3 
Fr 


J aben wir uns im erſten Briefe 
7 die Bedeutung der ſpezifiſchen 
7 g u Stoffe für den Nahrungstrieb 
> und den Aſſimilationsvorgang 
in das nüthige Licht zu ſtellen 
geſucht, ſo ſoll im heutigen Briefe daſſelbe 


für das Fortpflanz ungsweſen. ge 


ſchehen. Ich knüpfe hierbei an die intereſ— 
ſante Mittheilung von Dr. Fritz Müller 
über Schmetterlingsdüfte an, über 
die im dritten Hefte des Kosmos S. 260 
Bericht erſtattet wurde. 

Stellt man ſich im Mai in einem lich— 
ten Buchenwalde zur Seite eines Stammes 
auf, an welchem man ein Weibchen des 
Buchenſpinners entdeckt hat, ſo wird man 
bald beim Ausſpähen dieſes oder jenes 
Männchen da oder dort in gaukelnd revie— 
rendem Fluge dahineilen ſehen. Nähert es ſich 
auf ſeinem Wege nicht zufällig auf geringere 
Diſtanz als 20—30 Schritt dem Stamme, 
ſo zieht es vorüber. Hat es dagegen ſein 
Flug näher herangebracht — und wenn 
es unter den Wind kommt, ſo genügt auch 
eine Diſtanz von über 40 Schritten — 


ſo ändert es plötzlich ſeine Flugrichtung 
und ſtürzt ſchnurgerade auf den Stamm 
los, umkreiſt ihn ſuchend und gaukelnd ein 
und das andere Mal, bis es das Weib— 
chen entdeckt hat, um ſich dann bei ihm 
niederzulaſſen. Daß das Männchen nicht 
durch den Geſichtsſinn auf die angegebene 
Entfernung von der Anweſenheit des Weib— 
chens Kunde erhält, wird durch die Fälle 
bewieſen, in welchen das Weibchen auf der 
entgegengeſetzten Seite des Stammes ſitzt. 
Es kann alſo auf der einen Seite nur 
der Geruchsſinn, auf der andern nur der 
Beſitz eines ſpezifiſchen, auf jo weiten Ab- 
ſtand wirkenden Ausdünſtungsgeruches die 
Vereinigung herbeiführen. 

Auch noch in anderer Weiſe erhält der 
Schmetterlingsſammler Beweiſe hiefür. Hat 
man ein friſchgefangenes Weibchen eines 
Schmetterlings in eine Umhängſchachtel ge— 
ſteckt, ſo kann es einem begegnen, daß ſich 
ein Männchen der gleichen Art zudringlich 
auf die geſchloſſene Schachtel ſetzt: es hat 
das Weibchen durch den Deckel hindurch 
gewittert. 


Hat man das Weibchen eines Schwär— 
mers gefangen, ſo kann man, ſelbſt mitten 
in Städten, entfernt von jeder Vegetation, 
Männchen und zwar oft in ſtaunenswerther 
Zahl fangen, wenn man das lebende Weib— 
chen Nachts im Zimmer an einem Faden 
um den Leib aufhängt; die Männchen ſtür— 
men ins Zimmer herein, und zwar nur 
ſolche der gleichen Art, und man macht dabei 
die Erfahrung, daß der Anflug zum Weibchen 
erſt tief in der Nacht, in der Regel erſt nach 
Mitternacht beginnt, die Zeit der Dämme— 
rung wird nur zum Nektarſchmaus auf 
Blüthen benutzt. Hat man nun auch den 
größten Reſpekt vor der Befähigung der 
Nachtthiere, im Dunkeln zu ſehen, ſo wäre 
es doch eine ſtarke Zumuthung, zu glauben, 
daß es etwa dem dahinſtürmenden Männ— 
chen eines Liguſterſchwärmers gelinge, ein 
vielleicht ebenfalls in raſchem Flug vorbei— 
eilendes Weibchen ſeiner Art von dem ihm 
jo ähnlichen Windigweibchen in ſtockfinſtrer 
Nacht zu unterſcheiden, oder die Unterſchei— 
dungsmöglichkeit zwiſchen ſo ähnlich gefärb— 
ten Arten anzunehmen, wie es Wolfsmilch— 
und Labkrautſchwärmer, oder die Wein— 
ſchwärmer ſind. Selbſt bei Tagſchmetter— 
lingen beſteht für mich kein Zweifel da— 
rüber, daß der Geruchsſinn die Zuſammen— 
führung der Geſchlechter vermittelt, denn 
bei Betrachtung der einander ſo äußerſt 
ähnlich gefärbten und gezeichneten Arten 
der Bläulinge, der Perlmutterfalter, Scheck— 
falter und Augfalter muß man doch billiger— 
weiſe zweifeln, daß ſich die Arten mittelſt 
des Geſichtsſinns unterſcheiden. 
Hierzu kommt noch folgende Erwägung: 
das Schmetterlingsmännchen hat ja bezüg— 
lich Farbe und Zeichnung des zu ihm ge— 
hörigen Weibchens lediglich keine Er— 
fahrungen. Weder als Raupe, noch als 
Puppe ſieht es dasſelbe und wenn es nach 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


5 7 
307 
dem Ausſchlüpfen das Weibchen erblickt, 
woher ſoll es dann wiſſen, daß dieſer oder 
jener winzige Unterſchied in Farbe und 
Zeichnung das Kennzeichen ſeines Weibchens 
iſt? Dies würde Detailkenntniſſe voraus— 
ſetzen, die nur auf dem Wege langer Er— 
fahrung und comparativer Beobachtung zu 
gewinnen ſind. Im Gegentheil, es iſt nur 
das Werk des chemiſchen, durch den 
Geruchsſinn vermittelten Inſtink— 
tes, der chemiſchen Wahlverwandtſchaft 
der ſpezifiſchen Stoffe. 

Als letzter Grund iſt für mich dabei 
noch maßgebend, daß ich nach dem Bau 
ihrer Augen die Inſekten, ich will zwar nicht 
ſagen für kurzſichtig im Sinne menſchlicher 
Kurzſichtigkeit, jedoch für nicht befähigt 
halte, aus der Ferne ſolche Einzelheiten 
wahrzunehmen, wie es nöthig wäre, um 
auch nur auf einige Meter Diſtanz das 
eigene Weibchen von anderen ähnlichen zu 
unterſcheiden. 

Sehen wir uns bei anderen Thier— 
gruppen um, fo treten uns überall That— 
ſachen entgegen, welche den Ausdünſtungs— 
geruch zum Träger. des Paarungsinſtinktes 
ſtempeln. 

Unter den Wirbelthieren ſind es am un— 
verkennbarſten die Säugethiere, die 
im eminenten Sinne Riechthiere ſind. 
Bei allen Säugethieren, die ich in der 
betreffenden Lage im Wiener Thiergarten 
zu beobachten Gelegenheit hatte, geht der 
Paarung ausnahmslos ein Beſchnüffeln 
voraus. Hier läßt ſich auch noch ein 
anderer Umſtand als Beweis für die Rolle 
der Riechſtoffe bei der Fortpflanzung bei— 
bringen. 

Die Paarung iſt bei den meiſten Säu— 
gethieren an eine ganz beſtimmte Zeitperiode, 
die Brunſtzeit, geknüpft. Es zeigt ſich nun 
deutlich, daß in dieſer Periode eine Varia— 


Br 


308 


tion des Ausdünſtungsgeruches und zwar 


ohne Zweifel in qualitativer Weiſe auftritt. 
Am leichteſten beobachtet man die Sache beim 
Hund. Der männliche Hund verhält ſich ge— 
gen die Fährte eines nichtbrünſtigen Weib— 
chens ziemlich gleichgültig, nimmt dagegen 


die einer brünſtigen Hündin ſofort auf, 
und dasſelbe gilt von allen Säugethieren. 


Der Hund belehrt uns darüber, daß 
auch der Menſch in dieſer Beziehung ſich 
wie die Säugethiere verhält. Zunächſt 
muß ich bemerken, daß nicht blos zwiſchen 
den beiden Geſchlechtern einer und derſelben 


Art Sympathiebeziehungen beſtehen, ſondern 
auch zwiſchen denen verſchie dener Arten. 


Am leichteſten kann dies der Menſch an ſich 
ſelbſt beobachten. 
lingt die Zähmung des Männchens einer 
Frau leichter, 


Bei wilden Thieren ges 


| 
| 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


ſame kann nur der Ausdünſtungsgeruch 
ſein. Dies zeigt ſich denn auch am Hund 
ganz deutlich in dem Umſtand, daß die 
männlichen Hunde in der Menſtruations— 


periode ihren Herrinnen gegenüber viel lie— 


die eines Weibchens dem 


Manne; meine beiden zahmen Wölfinnen 


z. B. waren an mich und meine Kinder 
anhänglich wie Hunde, für Frau und 
Magd hatten ſie nur Knurren und böſe 
Blicke. Eine Hündin attachirt ſich viel 
inniger und leichter einem Manne, als ein 
Rüde, während es ſich bei der Frau um— 
gekehrt verhält. Mancher Hundefreund würde 
viel lieber eine Hündin halten, da die 
Frau aber nicht mit ihr auskommt, muß 
er ſich mit dem Rüden begnügen. Daß 
die männlichen Stiere von einer Magd 
ſich viel leichter behandeln laſſen, als von 
einem Knechte, iſt eine nicht minder bekannte 
Thatſache. Meine Erfahrungen erſtrecken 
ſich über Marder, Füchſe, Bären, Antilo— 
pen, Hirſche, Katzenarten, Zibethkatzen und 
Papagaien, bei welchen letzteren die kreuzweiſe 
Sympathie oft ganz eklatant ſich kund giebt. 

Daß dieſe Thatſachen auf die dem Ge— 


ſichtsſinne zugänglichen morphologiſchen Un 


terſchiede der Geſchlechter beim Menſchen 


ſpielt. 
weibliche Perſonen, denen er, auch bei Abwe— 


benswürdiger ſind und in demſelben Falle 
auch anderen weiblichen Weſen nachziehen, 
die ſie ſonſt ganz unbeachtet laſſen. Auf 
der anderen Seite iſt daſſelbe ein Beweis 
dafür, daß auch beim menſchlichen Weibe 
während der Brunſtzeit (denn als ſolche iſt 
die Menſtruation aufzufaſſen) der Ausdün— 
ſtungsgeruch variirt wird. Uebrigens giebt 
es auch ſehr viele Männer, welche dieſe 
Variation ebenfalls wahrnehmen. 

Bezüglich der internen ſexuellen Be— 
ziehungen beim Menſchen läßt ſich leicht 
conſtatiren, daß trotz des überwältigenden 
Einfluſſes rein pſychiſcher Faktoren der Aus— 
dünſtungsgeruch noch immer ſeine Rolle 
Es begegnen dem Manne oft genug 


ſenheit jeder etwa durch Unreinlichkeit ent— 
ſtehenden Emanation, einen abſtoßendeu Aus— 
dünſtungsgeruch zuſpricht. Dieſe Erfahrung 
läßt ſich namentlich auf Bällen machen, wo 
die durch Körperbewegung vermehrte Haut— 
ausdünſtung einen intenſiveren Eindruck 
bewirkt. Ueber einen Kretinen wurde mir 
mitgetheilt, daß derſelbe öfters eine junge 
Dame feiner Umgebung, die ſich feiner be— 
ſonderen Zuneigung zu erfreuen hatte, mit 
wohlgefälliger Miene beſchnüffelte und da— 
zu ſagte: „Riekele, du ſchmeckſt (riechſt) ſo 
gut!“ — Wenig Sprichwörter bergen ſo viel 
naturwiſſenſchaftliche Wahrheit als das, daß 
die Liebe blind ſei, ich möchte aber 
daſſelbe dahin ergänzen, daß die Liebe 
eine ſehr feine Naſe hat und daß 
bei einer großen Zahl ſogenannter Nei— 
gungsehen, ohne daß die Betreffenden 


u beziehen wären, iſt undenkbar, das wirk- nur eine Ahnung davon hätten, das wahre 
3 zieh ‚ . ) ‚ 


u. 


Motiv die in dem individuellen Ausdünſtungs— 
geruch gegebene chemiſche Wahlverwandtſchaft 
iſt, und umgekehrt, daß das Verunglücken 
mancher Vernunftehen nur auf das 
Fehlen der richtigen chemiſchen Wahlver— 
wandtſchaft zurückzuführen iſt. 

Die Rolle, welche die Kosmetik beim 
Menſchen ſpielt, iſt deshalb meiner Anſicht 
nach eine zweifache: Einmal wirken die mei— 
ſten angenehmen Gerüche allgemein und da— 
mit auch geſchlechtlich anregend, dann aber 
dienen dieſe Fremdgerüche zur Maski— 
rung der Individualgerüche, wo— 
durch ſich das Gebiet, auf welchem ein 
weibliches Weſen erotiſch zu wirken vermag, 
vergrößert. Dem entſpricht auch durchaus die 
Anwendung, welche das weibliche Geſchlecht 
von der Kosmetik macht. Den größten 
Conſum an Kosmetika haben die im Dienſte 
der Venus vulgivaga ſtehenden Frauen— 
zimmer, dann kommen die heiratsluſtigen 
Mädchen und gefallſüchtigen Frauen, 
während die ſittſame Ehefrau mit völlig 
richtigem Gefühl die kosmetiſchen Künſte 
verſchmäht und verachtet. 

Ueber die enorme individuelle Differen- 
zirung des Ausdünſtungsgeruchs beim Men— 
ſchen, für welche dieſe interſexuellen Wahl— 
verwandtſchaftsverhältniſſe mir ein eben ſo 
guter Beweis ſind als die Thatſache, daß 
der Hund mittelſt des Geruchsſinns das Ju— 
dividuum ſo ſcharf unterſcheidet, wie wir 
mittelſt der phyſikaliſchen Sinne, will ich 
mich hier nicht äußern, ich behalte mir das 
für einen ſpätern Brief vor. Wohl aber 
muß ein Punkt, der aus den oben mitgetheil 
ten Thatſachen hervorgeht, conſtatirt wer— 
den. 

In meinen früheren Auslaſſungen über 
die ſpezifiſchen Stoffe habe ich nachgewieſen, 
daß ein ganz genauer Zuſammenhang zwi— 
ſchen der Verſchiedenheit der Riech- und 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


_ 


309 


Schmeckſtoffe ſowie der durch die Syſtema— 
tik zum Ausdruck gebrachten morphologi— 
chen Differenz der Thierarten beſteht. Hierzu 
tritt die neue Thatſache, daß auch die zwi— 
ſchen den beiden Geſchlechtern einer und der— 
ſelben Thierart beſtehende morphologiſche 
Differenz von einer Differenz im Bereich 
der ſpezifiſchen Stoffe, ſpeziell der Riech— 
ſtoffe, begleitet ift, jo daß meine Behaup— 
tung, alle und jede morphologiſche 
Differenz ſei von einer chemiſchen 
begleitet, auch von dieſer Seite geſtützt 
wird. 

Ferner ſcheint mir die hohe Bedeutung 
der ſpezifiſchen Stoffe für die Vererbung 
ganz außerordentlich durch die Thatſache 
geſtützt zu werden, daß die ſpezifiſchen Ge— 
ſchlechtsgerüche der verſchiedenſten Thierarten 
etwas Gemeinſchaftliches haben, 
denn das geht unwiderleglich aus den oben 
mitgetheilten Thatſachen über die inter— 
ſexuelle Anziehung hervor, die jo verſchie— 
dene Thiere wie Menſch und Papagai ver⸗ 
kuüpft. Dem Satze, daß jede morphologiſche 
Verſchiedenheit von einer Verſchiedenheit 
des Ausdünſtungsgeruches begleitet iſt, wird 
der ergänzende Satz an die Seite geſtellt, 
daß jeder morphologiſchen Aehnlichkeit — 
denn eine ſolche beſteht zwiſchen den Weibchen 
verſchiedener Thiere — auch eine Aehnlich— 
keit im Ausdünſtungsgeruch entſpricht. 

Wir müſſen nun aber der Geruchs- 
differenz zwiſchen Männchen und Weibchen 
noch etwas näher treten. Aus dem Obigen 
folgt, daß der Riechſtoff einer jeden Spezies 
in zwei Modifikationen exiſtirt, als männ- 
licher und als weiblicher. Die männliche 
Modifikation wirkt als Aphrodiſiacum 
auf das weibliche Thier, die weibliche als 
eben ſolches auf das männliche Thier; wir kön⸗ 
nen alſo die Differenz aus Mangel einer 
exakt chemiſchen Definition ex effeetu die 


— 


aphrodiſiſche Differenz nennen und uns 
die Frage vorlegen: Was lehrt uns die 
biologiſche Beobachtung über die 
Natur der Differenz? Wir werden 
am leichteſten zur Beantwortung dieſer Frage 
gelangen, wenn wir ſie mit der im erſten 
Briefe beſprochenen Aſſimilations diffe— 
renz vergleichen. Damals mußten wir bei 
den ſpezifiſchen Schmeck- und Riechſtoffen 
zwei einander gegenüberſtehende, aber in 
einander überzuführende chemiſche Modifi— 
kationen eines und deſſelben Spezifikums 
annehmen: Es iſt der Lüſternheits— 
ſtoff, welcher die Nahrung dem Thiere an— 
genehm und begehrenswerth macht. Bei 
der Aſſimilation aber verwandelt das Spezi⸗ 
fikum ſich in den Ekelſtoff, welcher be— 
wirkt, daß der Pflanzenfreſſer das Raub— 
thier flieht. Wir ſahen weiter, daß der 
Ekelſtoff dem Lüſternheitsſtoff chemiſch über— 
legen iſt. Die Frage iſt nun: 

Sind Anzeichen vorhanden, 
daß es ſich bei der aphrodiſiſchen 
Differenz um etwas Aehnliches 
handelt wie bei der Aſſimilations— 
differenz? Dieſe Frage iſt zu bejahen, 
wenn eine Ungleichheit in Bezug auf 
chemiſche Wirkung, ein chemiſches Sub— 
ordinationsverhältniß beſteht, und wenn der 
anziehenden Wirkung des chemiſch ſchwächeren 
Stoffes (Lüſternheitsſtoffes), eine gewiſſe 
abſtoßende Wirkung des ſtärkeren Stoffes 
(Ekelſtoffes) gegenüberſteht. Prüfen wir 
die Thatſachen. 

Beim Säugethier ſteht unbedingt feſt, 
daß der weibliche Ausdünſtungsgeruch auf 
das männliche Thier eine ganz entſchieden 
ſtärkere Anziehung ausübt als der des 
Männchens auf des Weibchen: Während das 
männliche Säugethier ſofort die Fährte 
des brünſtigen Weibchens aufnimmt, ignorirt 
das letztere die Fährte des Männchens 


310 Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


vollſtändig. Beim Schmetterling verhält 
es ſich ebenſo: Während man mit einem 
weiblichen Schmetterling die Männchen her— 
beilocken kann, gelingt das Umgekehrte nicht. 
Daß bei den Käfern dasſelbe Verhältniß 
beſteht, trage ich hier nach. Hat man z. B. 
das Weibchen eines Hirſchkäfers gefunden, 
ſo kann man damit Männchen anlocken, 
während das Umgekehrte nicht gelingt. 

Es liegen aber auch auf der andern 
Seite Anhaltspunkte genug dafür vor, daß 
die inſtinktive Wirkung des Männchens 
auf das Weibchen eine gewiſſe Ab- 
ſtoßung iſt. Jedermann hat ſchon 
beobachtet, wie eine läufige Hündin den ſie 
verfolgenden Rüden entflieht und nach ihnen 
beißt. Bei den Füchſen ſieht man zur 
Ranzzeit Fuchs und Füchſin tagelang ums 
her ſchnüren: ſie voraus fliehend, er dicht 
hinter drein verfolgend. Jeder Jäger 
kennt das Sprengen bei Reh und Hirſch: 
das weibliche Thier flieht, das männliche 
verfolgt — dasſelbe Verhältniß wie zwiſchen 
Raubthier und Beute. Mir iſt kein Thier 
bekannt, bei welchem das weibliche Ge— 
ſchlecht das verfolgende, überwältigende, 
das männliche das verfolgte und Wider- 


ſtand leiſtende wäre, es iſt ſtets umgekehrt, 


auch in ſolchen Fällen, in denen, wie bei 
den Spinnen, das weibliche Thier das 
ſtärkere iſt und nach der Begattung ſogar 
oft genug das Männchen auffrißt. 

Trotz aller Maskirung, die der In— 
ſtinkt beim Menſchen durch erzieheriſche Ein— 
flüſſe erfährt, verläugnet ſich dasſelbe auch bei 
ihm nicht: die Sprödigkeit iſt eine Eigen— 
ſchaft des Weibes, die Zudringlichkeit kommt 
dem Manne zu. 

Die Aehnlichkeit der aphrodiſiſchen Diffe— 
renz mit der Aſſimilationsdifferenz tritt 
ſogar noch ausgeſprochener in dem Umſtande 
hervor, daß das Männchen ſehr häufig 


das Weibchen in der Wollufterregung beißt, 
daß alſo von dem Ausdünſtungsgeruch — fo 
glaube ich es auffaſſen zu müſſen — in 
ähnlicher Weiſe ein indirekter Reflexreiz 
zu den Beißmuskeln geht, wie vom 
Nahrungsgeruch. Ich habe dieſes Beißen 
geſehen bei Pferden, Eſeln, Quagga, Katzen— 
arten, Mardern, Enten, Hühnern ꝛc., wenn 
es auch freilich in manchen Fällen nur ein 
Halten des Weibchens mit den Beißwerk— 
zeugen iſt. Dabei iſt das Charakteriſtiſche, 
daß das Beißende immer das Männchen, 
nie das Weibchen iſt. Eine weitere Aehn— 
lichkeit beſteht in der Wirkung auf die 
Speicheldrüſen: In der Wolluſt— 
erregung geifern die männlichen Säugethiere, 
ſo weit ich es kenne, mehr oder weniger 
deutlich. 


Eine andere Aehnlichkeit beſteht darin, 


daß das Weibchen überhaupt ſtets das Er— 
griffene, Gehaltene, Umklammerte, Gerittene 
oder ſonſt wie durch Muskelkräfte phyſiſch 
Ueberwältigte iſt, und es iſt mir kein Fall 
bekannt, in dem das Umgekehrte ſtatt 
findet. R 

Damit kommen wir zur zweiten Parallele 


zwiſchen aphrodiſiſcher und Aſſimilations- 


differenz: Es beſteht offenbar ein chemiſches 
Subordinationsverhältniß. Bei der Aſſimi— 
lation zeigt ſich dies, wie wir ſeiner Zeit 
ſahen, darin, daß der Efelftoffträger den 
Küſſternheitsſtoffträger chemiſch überwältigt. 
Auf dem Gebiet der ſenſitiven Beeinflußung 
iſt dies allerdings bei der aphrodiſiſchen 


Differenz nicht ſo deutlich, wie auf dem 


ſpäter zu beſprechenden Gebiet der Be— 
fruchtungswirkung, allein es iſt doch auch auf 
dem erſteren nicht zu verkennen. Schon 


der Ausdruck „das Weibchen ergiebt 


ſich dem Männchen“ iſt ganz bezeichnend, 
denn warum ſagt man nicht umgekehrt? 
Es geht eben vom Männchen ein den 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


Widerſtand des Weibches lähmender in— 


ſtinktmäßiger Einfluß aus, der dadurch ſeine 
Bedeutung erhält, daß der aphrodiſiſche Ein— 
fluß, den das Weibchen auf das Männchen aus— 
übt, gerade das Gegentheil von 
Lähmung und Bewegungshemmung, näm 
lich Beſchleunigung und Anregung, zu den 


heftigſten Kraftentfaltungen iſt. 


Haben wir im Bisherigen die Aehn— 
lichkeit zwiſchen der Aſſimilationsdifferenz 


und der aphrodiſiſchen Differenz der Spezifika 


beſprochen, ſo müſſen wir jetzt auch die 
Unterſchiede hervorheben. 

Auf dem Gebiete der ſinnlichen Be— 
einfluſſung, das wir bisher allein beſprochen 
haben, tritt als ein Hauptunterſchied hervor, daß 
die aphrodiſiſche Differenz in ihren Wirkungen 
geringer iſt als die Aſſimilationsdifferenz. 
Dies zeigt ſich nach beiden Seiten hin: Die 
aufregende, anziehende, Bewegung auslöſende 
Wirkung des weiblichen Sexualgeruchs auf 
das Männchen iſt geringer als die des 
Nahrungsgeruchs, er treibt dasſelbe zwar 
zur Ueberwältigung, aber nicht zur Ver— 
nichtung des Weibchens, und die abſtoßende, 
lähmende Wirkung des männlichen Sexual— 
geruchs auf das Weibchen erreicht nie die 
Höhe der Tödtlichkeit. 

Ein weiterer Unterſchied iſt qualitativer 
Natur. Bei der Aſſimilationsdifferenz 
löſt der Lüſternheitsſtoff Thätigkeit der Er- 
nährungsapparate (Freß-, Kau- und Ber- 
dauungsarbeit) aus, der Ekelſtoff wirkt 
auf dieſe Apparate gerade entgegengeſetzt. 
Bei der aphrodiſiſchen Differenz geht die 
Wirkung auf einen andern Organapparat, die 
Geſchlechtswerkzeuge, über, und auf dieſem 
Gebiet iſt die Wirkung auf die beiden in 
Betracht kommenden Theile nicht entgegen— 
geſetzt (d. h. bei dem einen hemmend, beim an— 
dern beſchleunigend), ſondern gleichartig, d. h. 
beſchleunigend, die Organthätigkeit erhöhend. 


312 


ſeun müſſen wir uns aber einem an- 
dern Punkte, nämlich den Befruchtungs⸗ 


vorgängen zuwenden. 
behandelte, 
Gebiet der Sinnesempfindungen, 
akte und Reflex-Erſcheinungen iſt in mancher 
Beziehung ein ſchlüpfriger Boden, 


Das bis jetzt 
vom Nervenleben beeinflußte 
Willens⸗ 


weil 


hier die durch Erziehung geſchaffene pſychiſche | 


Beeinflußung ein ſehr ſchwer zu berechnen— 
der, weil gar zu unbekannter Faktor iſt. 
Bei der Befruchtung, d. h. der Einwirkung 
des männlichen Samens auf das weibliche 
Ei, liegen die Verhältniſſe viel einfacher. 
Nur erhebt ſich hier der andere Uebelſtand, 
daß dieſe Verhältniſſe noch viel zu wenig be— 
obachtet ſind, theils weil die Wiſſenſchaft ſie 
in dieſer Richtung allzu ſehr ignorirt, 
theils weil hier die Beobachtung mit viel 
größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat. 
Ich hatte beabſichtigt, in den nächſten Herbſt— 
ferien hierüber Beobachtungen anzuſtellen 
und erſt dann mich darüber zu äußern, 
wenn ich die nöthige empiriſche Grundlage 
mir verſchafft. Da ich mich aber ſchon jetzt 


an der Ausführung dieſes Vorhabens verhin— 


dert ſehe, ſo lege ich hier mein Raiſonnement, 
von dem ich bei den Unterſuchungen aus— 
gegangen wäre, in der Hoffnung nieder, 
daß ein glücklicher ſituirter College die An— 
regung aufnimmt und die nöthigen Ver— 
ſuche und Beobachtungen anſtellt. Ich 
richte jedoch dieſe Einladung nicht nur an 
die Zoologen, ſondern auch an die Botaniker, 
weil bei den Pflanzen die nöthigen Ver— 
ſuche unendlich viel leichter anzuſtellen ſind 
als bei den Thieren. 

Die eine Frage iſt die: Kommt dem 
männlichen Samen eine gewiſſe 
Diſtanzwirkung auf das Ei zu, 
die auf die Emanation ſpecifiſcher 
Schmeck- und Riechſtoffe zurück— 
zuführen iſt? 


u 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


Hier iſt zuerſt die Thatſache zu erwähnen, 
daß der männliche Samen einen ſehr leb— 
haften, ganz eigenthümlichen Ausdünſtungs— 
geruch hat, der zwar bei den Thierarten, die 
ich darauf prüfen konnte (Menſch, Schwein, 
Pferd, Kaninchen, Hund), entſchieden ähnlich, 
aber auch deutlich verſchieden iſt; der erſtere 
Punkt iſt ein Seitenſtück zu der Aehnlichkeit der 
Hautausdünſtung der weiblichen Thiere, 
die wir oben kennen lernten. 

Der Geruch iſt ſo auffallend, daß be— 
kanntlich vor der Keber'ſchen Entdeckung 
vom Eindringen der Samenfäden in das Ei 


dieſer Samengeruch, „Aura seminalis“, von 


vielen für das befruchtende Princip ge— 
halten wurde. So wenig es mir einfällt, dieſe 


| jedenfalls einſeitige Befruchtungstheorie wieder 


nöthig halte ich es, 


aufleben laſſen zu wollen, für ſo dringend 
die der Vergeſſenheit 
anheim gefallene aura seminalis wieder 
aufs Tapet zu bringen und die Behauptung 
aufzuſtellen, daß ſie der Träger des Be— 
fruchtungsinſtinktes iſt, und zwar ſo: 

Daß überhaupt eine Befruchtung ſtatt— 
findet, iſt die Folge der Vermiſchung der 
Ei⸗ und Samenſubſtanz, allein daß dieſe 
Vermiſchung zu Stande kommt und zwar 
nur zwiſchen den Geſchlechtsprodukten der— 
ſelben oder nahe verwandter Arten, halte 
ich für die Wirkung der aura seminalis — 
und einer aura ovalis, wenn ich dieſen 
Ausdruck gebrauchen darf. 

Bei denjenigen Thieren, bei welchen 
die Befruchtung im Innern des Körpers ſtatt— 
findet, iſt die Conſtanz des Befruchtungsver 
hältniſſes Schon durch den von der Hautaus⸗ 
dünſtung getragenen Begattungsinſtinkt ge— 
ſichert und bei Inſtinktverirrungen, 
die ja bekanntlich vorkommen, werden ſchon 
durch die morphologiſchen Differenzen 
Hinderniſſe geſchaffen. Allein bei den 
zahlreichen Thieren, bei denen die Befruch— 


Ks 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


tung äußerlich vor ſich geht, fällt dieſe 


Sicherung gegen Mesallianz vollſtändig fort: 
Man hat darauf aufmerkſam gemacht, daß 


313 


1) Kann er die Quellung des Eiproto— 
plasmas beſchleunigen. Daß die Quellung 
auf eine mechaniſche Anziehung der Samen— 


die Oeffnung der Eizelle (Mikropyle) hier | fäden hinausläuft, kann man bei den 
ſtets genau den gleichen Durchmeſſer habe wie 
der Kopf des Samenfadens. Daß dies aber 


eine höchſt unvollkommene Sicherung iſt, 
liegt auf der Hand, inſofern hier nur 
die größern, nicht aber auch die ſchmächtigeren 
Samenfäden ausgeſchloſſen wären, und die 
erſteren nur, wenn die Köpfe der Samen— 
fäden völlig unelaſtiſch wären. Es kann ſich 
mithin nur um chemiſche Wirkungen handeln, 
die wiederum nur von den ſpezifiſchen Be— 
ſtandtheilen der chemiſchen Miſchung ausgehen 
können, denn die gegenſeitige Befruchtungs— 
fähigkeit iſt ſtreng an die ſpezifiſche Zuſammen— 
gehörigkeit geknüpft. 

Auch aus einem allgemeinen Grunde 
müſſen wir die Unterſuchung der aura 
seminalis wieder aufnehmen, denn daß 
eine fo conſtante Erſcheinung ein lediglich gleich— 
gültiges Begleitungsphänomen ſei, iſt von 
vornherein höchſt unwahrſcheinlich, fie muß 
einen Zweck oder, anders geſagt, eine 
wichtige phyſiologiſche Wirkung haben. 

Wie ſoll man ſich nun, ehe das 
Experiment ſein entſcheidendes Wort geſprochen 
hat, die Wirkung des Samen— 
geruches auf das Ei denken? 

(Dabei möchte ich auf einen formalen Ein 
wand antworten: Manche Forſcher ſtellen das 
Experiment voran und ſparen ſich das 
Nachdenken auf nachher. Ich halte das 
nicht für richtig; wer ſich die Frage, die 
ihm das Experiment beantworten ſoll, nicht 
zum voraus klar legt, hängt vom Zufall ab.) 

Wenn der Samengeruch überhaupt eine 
Wirkung auf das Ei hat, ſo muß es eine 
die Befruchtung d. h. die Vermiſchung 
von Samen und Ei vorbereitende ſein. 
Hier iſt folgendes möglich: 


Forelleneiern deutlich ſehen, denn die Be— 
fruchtungsfähigkeit des Eies iſt erloſchen, 
ſobald die ſehr bedeutende Quellung des 
aus dem Körper ins Waſſer gelangten Eies 
vorüber iſt. Hier hätten wir alſo zu be— 
obachten, ob das Ei eines ſolchen Thieres 
bei Anweſenheit von Samen raſcher aufquillt 
als bei Abweſenheit deſſelben, und ob, wenn 
dem ſo iſt, dieſe Beſchleunigung nur Wirkung 
der aura iſt, alſo auch eintritt, wenn Samen 
und Ei durch eine, zwar die aura, nicht aber 
die Samenfäden durchlaſſende Scheidewand 
getrennt ſind. Dann muß die Prüfung mit 
einem fremden Samen gemacht und 
unterſucht werden, ob eine fremde aura die 
Quellung hemmt oder ganz verhindert oder 
aber übertreibt. 

2) Kommt es darauf an, ob neben den 
paſſiven noch aktive Quellungsbewegungen, 
d. h. Contraktionen im Protoplasma des Eies 
durch die aura ausgelöſt werden und wie 
ſich die adäquate und die fremde aura in 
dieſer Beziehung verhalten. 

Wir können uns z. B. hinſichtlich die— 
ſer zwei Punkte folgende Vorſtellung machen. 

Auf dem ſenſitiven Gebiete haben wir 
geſehen, daß der vom männlichen Thiere 
ausgehende Geruch auf das Weibchen einen 
lähmenden, widerſtandsbrechenden, über— 
wältigenden Einfluß ausübt. Das Ranke'- 
ſche Imbibitionsgeſetz lehrt uns, daß jede 
Schwächung der Lebensenergie die Quellungs— 
fähigkeit des Protoplasmas ſteigert, daß 
alſo der Quellung ein aktiver Widerſtand 
von den contraktilen Elementen des Proto- 
plasmas entgegengeſetzt wird. Dadurch iſt 
die Vermuthung äußerſt nahe gelegt, daß 
die Wirkung der adäquaten aura auf 


- 


Ü Maar 


r 


314 


das Eiprotoplasma eine lähmende und 
dadurch die Quellung befördernde iſt. Iſt 
dem ſo, ſo kann die Erfolgloſigkeit der 
Einwirkung einer fremden aura zweierlei 
Urſachen haben: 

Entweder iſt der lähmende Einfluß zu 
ſchwach: Das Eiprotoplasma giebt ſeinen 
Widerſtand gegen die Imbibition nicht auf 
und ſo fällt die in der Quellung liegende 
Anziehung der Samenfäden weg, ſolche 
Samenfäden aber, die trotzdem heran— 
kommen, finden die Poren des Protoplasmas, 
welche bei der Quellung ſich öffnen, geſchloſſen; 
hierbei denke ich nämlich nicht blos an die 
Mikropyle, deren Weite von der Quellung 
beeinflußt werden muß, ſondern auch an 
die Strukturporen des Protoplasmas ſelbſt. 

O der der lähmende Einfluß der fremden 
aura auf das Ei iſt zu ſtark: Es wird 
(durch Ueberquellung oder ſonſt wie) 
getödtet — die— 
Differenz iſt zur Aſſimilations— 
differenz geworden. Hier wären 
namentlich künſtliche Befruchtungsverſuche 
zwiſchen Raubthieren und ihren Beutethieren 
zu machen, um feſtzuſtellen, ob die aura der 
Raubthiere eine ebenſo überwältigende, ver— 
nichtende Wirkung auf das Ei der Pflanzen— 
freſſer beſitzt, wie die andern Riechſtoffe 
derſelben. Und wenn man dann die Wirkung 
der Raubthier-aura auf das Pflanzenfreſſer— 
Ei mit der Wirkung der Pflanzenfreſſer— 
aura auf das Raubthier-Ei vergleicht, fo 
muß ſich ein tiefer Einblick, nicht nur in 
die Phyſiologie der Befruchtung, ſondern 
gerade in den Theil der Phyſiologie 
eröffnen, der die räthſelhafteſten Erſchein— 
ungen birgt. 

Wir können uns auch noch einen weiter— 
gehenden Einfluß des Samengeruchs denken, 
der uns der alten Befruchtungstheorie von 
der aura seminalis allerdings noch näher 


aphrodiſiſche 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


brächte. Hierbei muß ich jedoch Einiges 
vorausſchicken: 

Warum entwickelt ſich ein Ei 
nicht, wenn es unbefruchtet bleibt? 


Meiner Anſicht nach geſchieht es deshalb: 


Das Ei beſteht aus zweierlei Beſtandthei— 


len, aus aktivem, amöboid contraftilem _ 


Protoplasma — gebrauchen wir für das— 
ſelbe den Namen Bildungsdotter — 
und einem paſſiven, nicht erregbaren 
Material, das eine Verbindung von Ei— 
weiß und Lecithin, eine ſogenannte Nu— 
cleinverbindung (Vitellin, Emydin, 
Ichthidin ꝛc.) iſt. Dieſes Material — nen⸗ 
nen wir es Nahrungsdotter oder 
Dotterkörner — iſt inaktiv und dem 
Bildungsdotter gegenüber Hemmungs— 
material, jo daß wir es auch Hem— 
mungsdotter und im Gegenſatz dazu 
den andern Theil den Beſchleunigungs— 
dotter nennen können. Iſt Vertheilung 
und Mengeverhältniß der beiden antagoni- 
ſtiſchen Dotterarten derart, daß der Be— 
ſchleunigungsdotter die Oberhand hat, dann 
entwickelt ſich das Ei parthenog ene— 
tiſch, d. h. ohne vorgängige Befruchtung. 
Halten ſie ſich dagegen die Wage oder 


überwiegt die Hemmung die Beſchleunig⸗ 


ung, ſo iſt Befruchtung nöthig, und dieſe 
beſteht darin, daß der aktive Beſchleunig— 
ungsdotter die Oberhand gewinnt. 

Hierbei liegen aber zweierlei Möglich— 
keiten vor: Entweder wird vom Befrucht— 
ungsanſtoß ein Beſchleunigungsreiz auf den 
aktiven Dotter ausgeübt, oder es wird, 
was mir angeſichts der lähmenden Wirk— 
ung der aura masculina wahrſcheinlicher 


dünkt, die Hemmung durch Zerſtörung (des 


miſche Zerſetzung) des paſſiven Dotters 

vermindert. 3 
Wir haben nun bei Beſprechung der 

Aſſimilationsdifferenz gefunden, daß die Er- 


ſcheinungen uns zur Annahme zwingen, es 
handele ſich um zwei ſpezifiſche Stoffe, von 
denen der eine (Ekelſtoff) eine überlegene 
Anziehungskraft für den Eiweißkern beſitzt. 
Wir ſahen oben, daß bei der aphrodiſiſchen 
Differenz eine ähnliche chemiſche Ueberlegenheit 
des männlichen Ausdünſtungsgeruches drin— 
gend vermuthet werden darf. Könnte es 
nun nicht ſein, daß der aura die Fähigkeit 
zukäme, den Nucleinförper des Eiprotoplas— 
mas in Lecithin und Eiweiß zu ſpalten 
und ſo wahrhaft befruchtend zu wir— 
ken, aber vielleicht mit der Einſchränkung, 
daß der von der aura ausgehende Anſtoß 
nicht ausreicht? 

Wir können durch das Experiment hie— 
rüber ſehr wohl Aufſchluß erhalten, wenn 
es uns gelingt, eine Verſuchsmethode zu 
finden, bei welcher nur die aura auf das 
Ei wirken kann, nicht aber die Samenfä— 


an dieſen nur von der aura beeinflußten 
Eiern mit ſolchen, die mit Samen in toto 
in Berührung kamen, ſowie mit an— 
dern, die ganz unbefruchtet blieben, ſo muß 
ſich ergeben, ob an meiner Vermuthung et— 
was richtiges iſt. 

Beſtätigt ſie ſich — das wäre der Fall, 
wenn an den nur „auratiſch“ befruchteten 
Eiern ein Theil wenigſtens die erſten Ent— 
wickelungsſtadien durchmachte, während alle 
unbefruchteten dies unterließen — ſo han— 
delte es ſich bei dem Mißerfolg der 
Fremdbefruchtung dann entweder da— 
rum, daß die aura unfähig iſt, die Spal- 
tung der Eiernucleine in Eiweiß und 
Lecithin zu bewirken oder — bei Aſſi— 
milationsdifferenz — darum, daß nicht nur 
dieſe Spaltung, ſondern auch noch die 
Spaltung des Eiweißes in Pepton und 
Spezifikum, gewiſſermaßen Zerſtörung durch 
Verdauung, eintritt. 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


den. Vergleicht man dann die Veränderungen 


315 


Nun müſſen wir uns aber auch noch 
in Betreff des Ei's die Frage ſtellen, ob 
nicht auch von ihm eine ähnliche Fern wir— 
kung auf die Samenfäden ausgeht, wie es 
bei dem Ausdünſtungsgeruch des Geſammt— 
thieres in ſo hohem Maße ſtattfindet. 

Davon, daß die Eier der verſchiedenen 
Thiere verſchieden ſchmecken, kann ſich jeder 
leicht überzeugen und zwar iſt dabei dreierlei 
aus einander zu halten: 

1) das Ei eines Thieres ſchmeckt ſtets 
anders als das Fleiſch deſſelben; 

2) die Eier verſchiedener Thiere ſchmek— 
ken ſtets deutlich verſchieden, auch bei ſehr 
nahe verwandten Thieren, und um ſo ver— 
ſchiedener, je größer die morphologiſche Ver— 
ſchiedeuheit der Thiere iſt, aber die Unter— 
ſchiede ſind ganz entſchieden geringer als 
beim Ausdünſtungsgeruch; 

3) die Eier verwandter Thiere haben 
bei aller Verſchiedenheit des Geſchmacks 
doch auch eine ganz entſchiedene Aehnlichkeit. 
Es wird Niemandem die Geſchmacksähnlichkeit 
der Vogeleier, der Fiſcheier, der Schildkrö— 
teneier oder die Aehnlichkeit des Geſchmacks 
von Spinneneiern und Krebseiern entgehen. 

Bezüglich des Geruchs weiß ich nur 
anzugeben, daß die Eier viel ſchwächer auf 
unſere Geruchswerkzeuge wirken als der 
männliche Samen, daß ſie aber keinenfalls 
geruchlos ſind, davon kann man ſich am 
Dotter jedes Hühnereies überzeugen. 

Da bei den Thieren die Befruchtung 
ſtets in einem wäſſrigen Medium vor ſich 
geht, in welchem die Geſchmacksſtoffe ſich 
ebenſo verbreiten können, wie die Stoffe, 
welche bei uns nur auf den Geruchsſinn 
wirken, ſo iſt die Möglichkeit einer chemi— 
ſchen Fernwirkung des Eies auf den männ— 
lichen Samen nicht in Abrede zu ſtellen. 
Kommt nun dieſer aura ovalis, wie ich fie 
nennen will, ein Antheil an der Spezifität 


r 


5 


316 


der gegenſeitigen Befruchtungsfähigkeit zu, 


fo muß ſich das bei künſtlichen Befruchtungs- 


verſuchen zeigen. Am beſten wird man von 


Kreuzbefruchtungsverſuchen zwiſchen Naub- | 


thier und Beutethier ausgehen. Wenn z. B. 


Beutethierſamenfäden bei Contakt mit einem 


Raubthier-Ei früher abſterben, als wenn man 
ſie getrennt hält, ſo würde das ganz ent— 
ſchieden für eine chemiſche Fernwirkung 
ſprechen. 
quater Befruchtung das Benehmen der Sa— 
menfäden in der nächſten Umgebung des 


als in weiterer Entfernung davon, würde 
für einen vom Ei ausgehenden, in die Ferne 


wirkenden Beſchleunigungsreiz ſprechen und 


es würde ſich weiter beſtätigen, wenn bei 
inadäquater Zuſammenſtellung dieſe Er— 
ſcheinung ausbliebe oder in ihr Gegentheil 
umſchlüge. 

So viel ſteht für mich jedenfalls feſt: 
Wenn auch nur ein kleiner Theil der Thä— 
tigkeit, welche die jetzigen Zoologen der zur 
Modeſache gewordenen Unterſuchung der 
Dotterfurchung und Embryonalentwickelung 
widmen, auf die Anſtellung künſtlicher Be— 
fruchtungsverſuche in der angedeuteten Rich— 
tung verwendet würde, ſo würde damit 
der biologiſchen Wiſſenſchaft auf ihrem gegen— 
wärtigen Standpunkt entſchieden mehr ge— 
nützt, als durch die nahezu langweilig 
gewordene, immer und immer ſich widerho— 
lende Unterſuchung der morphologiſchen 
Embryonalentwickelung. 

Ich ſchließe dieſen Brief mit dem Ab— 
druck eines Schreibens, das mir in Folge 
des erſten phyſiologiſchen Briefes zuging 
und eine andere Rolle der ſpezifiſchen Di— 
ſtanzſtoffe bei der Fortpflanzung, nämlich 
bei der Jungenpflege, behandelt, zu— 
gleich auch den Gegenſtand meines dritten 
Briefes vorbereitet, der von der Rolle der 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


Auch der Fall, wenn bei adü- | 


— 


ſpezifiſchen Stoffe bei der individuellen Va— 
riation handeln wird: 
Sehr geehrter Herr Profeſſor! 

Soeben habe ich den Auszug Ihrer 
Arbeit über „die Geſchmack- und Geruchſtoffe 
in ihrer Bedeutung für die Biologie“ 
(Ausland Nr. 2, 1877) geleſen und will, 
ſelbſt auf die Gefahr hin, etwas in dem 
mir nicht zur Hand befindlichen Original 
Stehendes zu erwähnen, Ihnen Thatſachen 
mittheilen, welche genügend für das Vor— 


handenſein individueller Geruchseigenthüm— 
Eies deutlich anders z. B. lebhafter iſt, 


lichkeiten bei Wiederkäuern ſprechen und 
mir in meiner vieljährigen landwirth— 
ſchaftlichen Laufbahn wiederholt bemerkbar 
geworden, wie auch jedem Schäfer be— 
kannt ſind. 

Bei Beginn der Weidezeit im Früh— 
jahr werden ſehr häufig die Mutterſchafe 
von ihren Lämmern getrennt und allein 
zur Weide getrieben, während letztere im 
Stalle bleiben. Kommt die Mutterheerde 
Mittags oder Abends nach Hauſe, ſo 
werden die Lämmer wieder dazwiſchen ge— 
laſſen und nun beginnt ein allſtimmiges 
Geblöke, wärend deſſen die Mütter und 
Lämmer durch einander laufen, um ſich 
zu finden. Die Lämmer laufen ſehr 
häufig auf das nächſte beſte Schaf zu 
und verſuchen zu ſaugen, werden aber 
von demſelben ſofort abgeſtoßen, wenn 
dieſes nach dem vorgewandten Hintertheil 
gerochen und das Lamm als nicht ihm 
gehörig erkannt hat. Die Schafe laufen 
und beriechen jedes begegnende Lamm, bis 
ſie das ihrige gefunden haben und ihm 
das Euter bieten können. Näſcher, d. h. 


fremde Lämmer, werden ſtets abgeſtoßen. 

Ferner: Oft kommt es vor, daß ein 
Lamm ſtirbt; um dann nicht die Milch— 
periode ſeiner Mutter ungenützt vorüber— 
gehen zu laſſen und Mutterſchafe mit Zwil— 


Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 


lingen zu entlaſten, ſucht man eines der 
letzteren von der lammloſen Mutter adop- 
tiren zu laſſen. Oft gelingt dies ſchon durch 
mehrtägiges Zuſammenſperren, ſicher und 
ſofort aber, wenn man das dem todten 
Lamme abgezogene Fell dem zu adop— 
tirenden Lamm überbindet und dieſes dann 
zu jener Mutter ſetzt. 

Mit dieſer vielleicht willkommenen 
Mittheilung den Ausdruck meiner Hoch— 
achtung verbindend, zeichne 

ergebenſt 
Dr. F. Rehm, 
k. Lehrer f. Naturgeſchichte u. Landwirthſchaft. 
Lichtenberg bei Nürnberg. 


Dieſer Mittheilung, die für mich aller— 
dings nur in dem Stücke neu war, als ich 
die Manier des Verwitterns des Jungen 


317 


durch das übergezogene Fell bisher nicht 
kannte, iſt deshalb ſo beweiskräftig für 
das von mir behauptete allgemeine Vor— 
kommen von individuellen endogenen, d. h. 
dem Organismus des Thieres ſelbſt ent— 
ſtammenden Gerüchen, da hier die dem 
Menſchen ſo ſehr nahe liegende Vermuthung 
wegfällt, als handele es ſich bei den Indi— 
vidualgerüchen um äußerliche Zufälligkeiten, 
alſo z. B. darum, daß zwei Menſchen in 
Folge ihrer verſchiedenen Aufenthaltsorte, 
verſchiedener Ernährung und Kleidung ſich 
äußerlich mit verſchiedenartigen Geruchſtoff— 
miſchungen umgeben, die ihnen eine Unter— 
ſcheidbarkeit für einen ſo feinen Geruchsſinn 
wie den des Hundes ſichern. An derartiges 
kann bei den Lämmern einer und derſelben 
Heerde, die unter faſt abſolut gleichen 
äußeren Verhältniſſen leben und ſich nähren, 
nicht gedacht werden. 


Carus Sterne. 


> lich tiefſehendſte Pſychologe 
gl unter den Seelenmalern un— 
HR ſerer Zeit, hat in einem 
— kleinen — übrigens tragiſch 
endenden — Idyll, „das Glück des Brül— 
lerthals“ betitelt, mit ſeiner wunderbaren 
Plaſtik geſchildert, wie die Geburt und erſte 
Erziehung eines alsbald verwaiſten Kindes 
eine Bande von Lumpen und Verbrechern, 
welche die Geſellſchaft ausgeſtoßen hat, und 
die in Spielſucht, Rauferei und Rohheit 
jeglicher Art leiſten, was man in ſo einer 
culturvergeſſenen Goldſucherſchlucht irgend 
leiſten kann, plötzlich zu zärtlichen Adoptiv- 
vätern macht, die nur noch dem einen Ge— 
danken nachgraben, das Glück ihres „Glücks“ 
denn jo haben fie bedeutſam die kleine Bes 
ſcheerung getauft — durch ihrer Hände 
Arbeit zu ſichern. Nicht ganz ſo draſtiſch, 
aber mit demſelben genialen Zuge illuſtrirte 
der californiſche Dichter das Paradoxon: 
„Wie Erwachſene durch Kinder erzogen 
werden“ in mehreren Kapiteln ſeines Ro— 
mans Gabriel Conroy, deſſen Held durch 


eu 


Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 
Eine Betrachtung über Selbſterziehung in der Natur 


von 


feine Kinderliebe zu einem förmlich auf- 
opferungswüthigen Menſchen wird, während 
er auf der anderen Seite den Militärarzt 
Duchesne, einen ledigen Spieler, den ſein 
nervenerregendes Geſchäft krank gemacht 
hat, durch Kinderumgang kuriren läßt. „Ich 
habe Sie wenigſtens einen Monat hindurch 
mit keinem Kinde reden ſehen“, ſagt dieſer 
praktiſche Arzt zu dem profeſſionellen Spie⸗ 
ler Jack Hamlin, „und ich hätte große 
Luſt, Sie nach einem Findelhauſe zu ſchicken, 
zum Nutzen und Frommen der Ba⸗ 
bies, wie zu Ihrem eigenen Vortheil. 
Suchen Sie einen armen Ranchero mit 
einem Dutzend Kinder ausfindig zu machen. 
und geben Sie letzteren Singftunde. .... 
dann wird dieſe Mattigkeit bald aufhören, 
Sie werden ſchmerzensfrei werden und ſich 
wieder ſo wohl und munter fühlen, wie je 
zuvor.“ 

Dieſe mir erſt kürzlich vor Augen ge— 
kommenen Anſichten eines großen Herzens⸗ 
kündigers geben mir den Muth, eine Mei- 
nung auszuſprechen, die ich ſtets gehegt 
habe, und die darin beſteht, daß jedes 


8 


Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 319 


Kind einen großen Theil der Liebe, die 
ihm ſeine Eltern erweiſen, ſchon dadurch 
zurückvergilt, daß es ſie ſelbſt zu beſſeren, 
vollkommneren Weſen macht, als ſie vor 
ſeinem Eintritt in die Familie waren. In 


der That, die Menſchen erhalten den letzten 


Schliff und die glänzende Politur ihrer 
Bildung nicht in ihrem Elternhauſe, noch 
in der Schule oder Kirche, ſondern erſt 
von ihren eigenen Kindern, und ſollten ſie 
das Unglück haben, keine zu bekommen, ſo 
werden ſie Mühe haben, den durch dieſe 
Lücke hervorgebrachten Mangel ihrer Her— 
zensbildung anderweitig zu ergänzen. 
Sehen wir uns z. B. einen jungen 
Mann an, der, nachdem er eine vorzügliche 
Erziehung im Elternhauſe genoſſen, eine 
glänzende Schul- und Univerſitätsbildung 
erworben hat, in's Leben tritt, und deſſen 
Bildung nunmehr, wie die Poeten ſagen, 
die Liebe vollenden ſoll. Auf die Gefahr 
hin in poötieis der Ketzerei geziehen zu 
werden, muß ich dagegen ſagen, daß meiner 
Erfahrung nach glückliche Liebe eher über— 
müthig, roh, ja gefühllos und blind für 
die daraus entſpringenden Leiden macht, als 
beſſer. Oder wäre jenes allerwärts ge— 
übte frevle Spiel mit den Herzen unerfah— 
rener Mädchen, welches unſre Kulturwilden 
alle Tage in Scene ſetzen, nicht, wie unſre 
geſellſchaftlichen Verhältniſſe nunmehr lie— 
gen, der Gipfel aller Schlechtigkeit? Dieſe 
jungen Männer find fo wohl erzogen und 
barmherzig, daß ſie einem Wurme auf 
ihrem Wege ausweichen, aber ſie ſchrecken 
nicht davor zurück, ein Weſen ihres Glei— 
chen unter dem Deckmantel der Liebe und 
Zärtlichkeit für's Leben unglücklich zu machen, 
ja ſie halten in achtzig von hundert Fällen 
nicht einmal den Verſuch angebracht, den 
Geſchädigten irgend einen Erſatz zu ge— 
währen. Es übt alſo die Geſchlechtsliebe 


offenbar an ſich keine veredelnde Wirkung 
auf das Gemüth; ſie verleitet eher zur 
Gemüthsverhärtung, Grauſamkeit und Zer- 
ſtörungsſucht, wie nicht blos die ſogenann— 
ten Don Juan's beweiſen. Eine gute Nach⸗ 
wirkung der Geſchlechtsliebe tritt vielmehr 
nur in denjenigen Fällen ſicher ein, in de— 
nen ſie zu einem feſten, gegenſeitige Ent— 
äußerung und Aufopferung bedingenden 
Bunde geführt hat. Indeſſen wird dieſer 
Erſatz auch dann nur mit einiger Sicher⸗ 
heit erreicht, wenn Nachkommenſchaft leben⸗ 
dige Unterpfänder dafür liefert. In kinder— 
loſen Ehen hält der Enthuſiasmus der 
Aufopferung nicht immer vor, ſobald aber 
die Mittler da ſind, werden aus den Kul— 
turwilden Menſchen im edleren Sinne, 
welche die Schlechtigkeiten des ledigen Stan— 
des verabſcheuen und ſchwerlich zu beſchö— 
nigen geneigt find, was ſie ſelbſt in dieſer 
Richtung auf dem Gewiſſen haben. 
Worin liegt dieſe gewaltige Macht eines 
ohnmächtigen Kindes? Zunächſt offenbar 
mehr in feiner Schwäche und Hilflofigfeit 
als in ſeinem Aeußern, welches oft mehr 
einem geſottenen Krebſe als einem Kauka⸗ 
ſier bez. Neger gleicht. Bei der Mutter 
kommen vielleicht in der Nothwendigkeit, 
ihren Nahrungsüberfluß abzugeben, körper— 
liche Zuſtände hinzu, die ihr den kleinen 
Abnehmer angenehm machen. Jedenfalls 
iſt es mehr die Ahnung künftiger Freuden, 
als die perſönliche Liebenswürdigkeit des 
kleinen Ankömmlings, welche, die Eltern 
einnimmt, und bei Raubthieren wird der 
erſte Wurf nicht ſelten — aber kaum aus 
Liebe — gefreſſen! Nachdem jedoch die 
kleinen Weſen aus der erſten Unbeholfen— 
heit heraus ſind und die erſten Zeichen 
der erwachenden Pſyche geben, nachdem man 
ihnen halb mit Gewalt das erſte Lächeln 
entlockt hat, entfalten fie eine Liebenswür— 


320 


digkeit, eine Anmuth des Mienenſpiels und 
der Bewegungen, daß die Eltern von 
ihren Miniaturbildern förmlich bezaubert 
werden, und die Mutter alles, was ſie 
als Kind am Phantome d. h. an der 
Puppe gelernt hat, mit Entzücken an einem 
lebendigen Spielzeuge in's Praktiſche über— 
ſetzen kann. Es iſt ein Kurſus der ſelbſt— 
loſeſten Hingebung, welcher damit beginnt. 

Der Vater, welcher dem Kinde zunächſt 
ferner ſteht, und in der Thierwelt oftmals 
ſo ferne bleibt, daß die Mutter ſeine eignen 
Nachkommen vor ihm ſchützen muß, wird 
bei den Menſchen nicht allein durch ſeine 
Vernunft, ſondern noch durch andere Um- 
ſtände unmerklich in dieſen Zauberkreis mit 
hineingezogen. Zunächſt iſt es wohl jener 
Heiligenſchein der Wöchnerin, jener unbe— 
ſchreibliche Ausdruck glückverklärter Mattig— 
keit, wie ihn Rubens in ſeinem dem 
Leben der Maria von Medicis gewidmeten 
Bildereyklus und Jordan in einem Genre— 
bilde von der Zuyderſee zum vollendeten 
künſtleriſchen Ausdruck gebracht haben, und 
womit die Kette jener Gemüthswandlungen 


eingeleitet wird, durch welchen das Baby 


aus ſeines Vaters Nebenbuhler auch zu 
ſeinem Herrn und damit zum unbeſchränk— 
ten Gebieter des Hauſes wird. 

Hiermit beginnt zugleich und wahrlich 
mit ganz anderer Eindringlichkeit als durch 
den Katechismus und die Kanzel die re— 
ligiöſe Erziehung des Menſchen. 
Aus der Eltern- und Kinderliebe erblüht, 
ſelbſt in noch wenig vorbereiteten Gemüthern, 
die Frucht der allgemeinen Menſchenliebe: 
Das Kind wird zum Erlöſer; der leibliche 
Vater zum Vorbilde eines allgütigen, vor— 
ſorglichen Vaters im Himmel. Und darum 
iſt es ein tiefempfundenes und pſychologiſch 
wohl gerechtfertigtes Moment der Entwicke— 
lung chriſtlicher Dogmatik, daß ſie früh 


Sterne, Die Zähmung der 


Alten durch die Jungen. 


die Mutter in den Kreis des Göttlichen 
hineinzuziehen ſtrebte und die Mutter mit 
dem Säugling auf ihrem Schoße endlich 
als Madonna zum Mittelbilde der Altäre 
erhob. Die „heilige Familie“, welche durch 


Raphael zu ihrem tuypiſchen Ausdruck 


gebracht wurde, gewinnt noch jetzt die Her— 
zen auch in proteſtantiſchen Ländern, wie 
man ſehr überzeugend auf der letzten Ber— 
liner Kunſtausſtellung beobachten konnte. 
Die von geflügelten und ungeflügelten 
Kindergeſtalten umſpielte Madonna von 
Knaus, deſſen Genius eine glückliche 
Kreuzung von Correggio und Murillo mit 
einer Doſis Rembrandt zu Stande gebracht 
hatte, entzückte mit Recht auch die, welche 
nur Gefühl an Stelle des Kunſtgeſchmacks 
beſitzen. Und gewiß iſt die „heilige Fa— 
milie“ ihres Ehrenplatzes am Altare wür— 
dig, denn fie bezeichnet mit Grund die Kin— 
derſtube als das Heiligthum, von welchem 
die keuſche Flamme der Nächſten- und 
Gottesliebe ausgegangen iſt, und aus wel— 
chem ſie beſtändig ihre Nahrung empfängt. 

Faſt alle unſere glücklich machenden, 
oder vielmehr über das Unglück hinweg— 
helfenden, religiöſen Verheißungen: der 
Glaube an die Unſterblichkeit, an die Auf- 
erſtehung und das Wiederſehen nach dem 
Tode, ſie beruhen auf der Familie und 
dieſe ihrerſeits auf der Nachkommenſchaft. 
Es geht aus dieſen Betrachtungen ohne 
Weiteres hervor, einen wie großen Kultur- 


fortſchritt die monogamiſche Ehe vorſtellte, 


indem ſie auch dem männlichen Geſchlechte 
die veredelnden Einflüſſe der Kindererziehung 
zugänglich macht, und wie die Geſellſchaft 
alle Urſache hat, gegen das Evangelium 
der ſogenannten freien Liebe anzukämpfen, 
welches jenſeits des Oceans ſo begeiſterte 
Propheten und Prophetinnen findet. Die 
erwähnten Segnungen der Einzelehe ſind 


nimmt. 


vielmehr ſo groß, daß ich es für keinen 
legislatoriſchen Mißgriff halten würde, 
wenn der Staat das Hageſtolzenthum be— 
ſonders beſteuern wollte, wie es einzelne 
römiſche Kaiſer mit der Fettleibigkeit ge— 
than haben ſollen. 

Was obige ſentimentale Betrachtungen 
in einem darwiniſtiſchen Journale zu ſchaffen 
haben? Vielleicht doch mehr, als es im 
erſten Augenblick den Anſchein hat. Mir 
will es nämlich ſcheinen, als ob der thie— 
riſche Egoismus, der im Menſchen alle 
Schranken zu überſteigen droht, eine cen— 
trifugale Tendenz äußert, die ſich ins Un— 
endliche ſteigern müßte, wenn ihr nicht eine 
centripetale Kraft das Gleichgewicht hielte, 
und den Alles für ſein Eigenthum erklä— 
renden Menſchen ſo weit verinnerlichte, daß 
er ſich dem Ganzen wieder freiwillig unter— 
ordnet. Bei allen Thieren, welche lebendig 
gebären, oder ihre Eier ausbrüten, begeg— 
nen wir dieſem veredelnden Verkehr mit 
den Jungen, der z. B. bei der wegen ihres 
Egoismus geradezu verſchrieenen Hauskatze 
ſo weit geht, daß ſie in der Zeit, in wel— 
cher ſie eigene Junge ſäugt, ohne daß der 
Milchandrang dazu nöthigte, auch fremde 
Junge, als Füchſe, Kaninchen, Häschen, 
ja die ſonſt von ihr eifrig verfolgten, jun- 
gen Ratten und Mäuſe an ihre Bruſt 
Das Raubthier im verwegenſten 
Sinne, die Tigerin, wird zu einem harm— 
los ſpielenden, jeder Aufopferung fähigen 
Weſen, ſobald ſie die in der Unzurechnungs— 


fähigkeit der Geburtsſtunde vielleicht das 


erſte Mal aufgefreſſenen Jungen nach Er— 
kenntniß ihres Irrthums beim nächſten 
Male als ihre verjüngten Ebenbilder er— 
kannt und an die Bruſt genommen hat. 
Freilich giebt es denn auch nichts drollige— 
res, als junge Thiere aller Gattungen; der 
Zauberreiz der täppiſchen Kindheit läßt in 


Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 


unſeren Augen ſogar die Kleinen der häß— 
lichſten Beſtien liebenswürdig erſcheinen. 
Und auch die Mutterthiere gewinnen 
bei aller ſonſtigen Antipathie unſer Herz, 
wenn wir Zeugen ihrer Aufopferung ſein 
können. Wir ſehen die Mutterthiere ihre 
Bruſt der Haare und Federn berauben, 
um den Kleinen ein warmes und weiches 
Lager zu bereiten, ja der lebendig gebärende 
Skorpion, dem man gewiß keine zärtlichen 
Triebe zuſchreibt, läßt ſich allem Anſcheine 
nach von ſeinen zahlreichen Jungen den 
Lebensſaft ausſaugen, denn er ſchwindet 
ſichtlich im Kreiſe der ſchnell wachſenden 
Brut dahin. In ähnlichem Sinne wurde 
der Pelikan, von dem man glaubte, daß 
er ſeine Jungen mit dem eigenen Herzblut 
tränke, zum Symbol der göttlichen Liebe 
erwählt. Daß Raubthiermütter ihre Jun⸗ 
gen mit Heldenmuth ſelbſt gegen den Gat- 
ten vertheidigen, finden wir natürlich, aber 
wie ſelbſt ſcheue und friedfertige Thiere 
durch Gefahren, die ihren Jungen drohen, 
zu Heldinnen werden, muß unſere Bewun⸗ 
derung erwecken. Kaum iſt die Gefahr 
abgewendet, ſo erſcheint die Heldin-Mutter 
wieder ein Kind unter Kindern; ſie ſpielt 
mit ihnen, wie man mit Puppen ſpielt, 
und ſo iſt denn auch das menſchliche Kind 
das Spielzeug der Spielzeuge, welches die 
verknöcherten Herzen öffnet, die Alten zu 
Kindern macht, denen das Himmelreich 
offen ſteht. Dem Vater geht im Thier- 
reiche dieſer veredelnde Einfluß der Kinder— 
erziehung in allen den Fällen verloren, wo 
er nicht ſelber Theil daran nimmt, und das 
iſt der häufigere Fall. Aber für die Ge- 
ſammtheit iſt dieſer Verluſt nicht groß, 
denn wenn die verinnerlichende Kraft der 
Kindererziehung überhaupt dauernde Folgen 
beim Weibchen zurückläßt, woran man 
kaum zweifeln kann, 


ſo wird ſie dieſelbe 


2 


322 


auch auf ihre männlichen Jungen übertragen, 
ſo daß auch ſie des regulirenden Einfluſſes 
der Kinderpflege nicht verluſtig gehen. 

In meinem Buche: „Werden und Ver— 
gehen“ habe ich dem Nutzen, welchen der 
Verkehr der Jungen mit den Alten für 
beide Theile abwerfen muß, einen weſent— 
lichen Antheil an dem rapiden Aufſchwunge 
zugeſchrieben, welchen das Denkorgan bei 
den höheren Wirbelthieren nimmt. Bei 
den niederen Thieren beſchränkt ſich die 
Sorge um die Nachkommenſchaft meiſtens 
auf eine geſchickte Bergung der von ſelbſt 
auskommenden Eier an einem paſſenden, 
Schutz und Nahrung bietenden Ort, ein 
Vorgang, dem wir kaum bewußte Abſicht— 
lichkeit beilegen möchten, vielmehr in einem 
ebenſo zwingenden Triebe zu ſuchen geneigt 
ſind, wie er den übrigen Aeußerungen des 
Fortpflanzungstriebes zu Grunde liegt. 
Die meiſt in einer unausgebildeten Form 
heraustretenden Jungen müſſen ohne weitere 
Unterſtützung ſeitens der vielleicht längſt 
verweſten-Eltern den zu ihrer körperlichen 
Ausbildung erforderlichen Nahrungsſtoff 
ſelbſt ſuchen, und im Durchſchnitt mögen 
dabei neunzig Prozent und darüber zu 
Grunde gehen. So iſt der Hergang noch 
bei den meiſten Fiſchen und Amphibien, 
obwohl ſich bei ihnen die Fälle weitergreifen— 
der Fürſorge mehren. Die Reptilien und 
die Vögel verſorgen jeden Einzelnen ihrer 
jungen Nachkommen im Ei mit ſo viel 
Nahrungsſtoff, daß ſie ohne weiteres Nah— 
rungsbedürfniß alle ihre Verwandlungen 
durchmachen können, um in nahezu voll— 


endeter Geſtalt, nur noch eines weiteren 
Wachsthums bedürftig, hervor zu treten. 


Allein wenn die Eier an einem paſſenden 
Orte abgelegt ſind, ſo kümmern ſich die 
Reptilien häufig nicht weiter um dieſelben. 
Die älteſten Vögel werden es nicht viel 


Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 


FR 
anders gemacht haben, wie ſich ſchon dar— 
aus ſchließen läßt, daß einige der älteren 
Abtheilung angehörige Vögel noch immer 
die Wirkung der Erd- oder Sonnenwärme 
beim Brüten in Anſpruch nehmen. Schließ— 
lich wurde indeſſen das Brüten zur allge— 
meinen Gewohnheit, aber auch hierbei laſſen 
ſich noch Unterſchiede erkennen, ſofern bei 
der tiefer ſtehenden Abtheilung der ſogen. 
Neſtflüchter das Junge bald ſelbſtſtändig 
wird, nachdem es das Ei verlaſſen hat, 
während bei den unleugbar höher ſtehenden 
Neſthockern die Jungen einer wochenlangen 
Pflege bedürfen, ehe ſie das Neſt verlaſſen 
können. 

Mit dieſer durch die Unbehilflichkeit der 
Neſthocker in Anſpruch genommenen ſtren— 
geren Pflegepflicht ſtehen ganz gewiß die 
vielfachen Aeußerungen von Barmherzigkeit 
und Mitgefühl gegen fremde Junge, die 
man bei ihnen antrifft, im Zuſammenhange. 
Die Singvögel haben einen wahren Drang 
der Aufopferung und man hat beobachtet, 
daß Junge, denen ihre Eltern geraubt wur- 
den, zwei bis drei mal im Wiederholungs- 
falle von Nachbarn adoptirt und groß— 
gefüttert wurden, ja einige lockere Vögel 
nützen bekanntlich dieſe Pflegeſucht der gut— 
herzigen Singvögel regelmäßig in der un— 
verſchämteſten Weiſe aus. Ebenſo hat man 
erblindete Vögel von ihresgleichen füttern 
ſehen, kurz eine Anzahl von Handlungen 
bei ihnen beobachten können, für welche die 
Menſchen Ehre auf Erden und Wohlge— 
fallen im Himmel beanſpruchen, auch eine 
innere Befriedigung nicht eher empfinden, 
als bis außen ein Orden die betreffende 
Stelle der Bruſt markirt. N 

Ich glaube nicht, daß man ähnliche 
Handlungen bei niederen Thieren, die nicht 
gewöhnt find, ihre Jungen zu pflegen, be 
obachten wird, und hier wäre es mithin, 


wo man den Beginn jenes Kampfes mit 
dem Egoismus beobachten könnte, der 
ſchließlich zur Selbſtaufopferung und Selbſt— 
überwindung, die man den ſchwerſten Sieg 
genannt hat, führt. Aus dieſem Kampfe 
den höchſten Nutzen zu ziehen, blieb den 
Säugethieren vorbehalten, nachdem bei ihnen 
die Vereinigung von Mutter und Kind 
immer weitere Fortſchritte gemacht hatte, 
bis ſie jene an Uebertreibung grenzende 
Stufen erreichte, die man den Müttern als 
„Affenliebe“ vorwirft. Nicht blos körper— 
lich verwächſt das Kind mit der Mutter, 
ſondern auch im geiſtigen Sinne wächſt es 
ihr ans Herz, und bekanntlich um ſo feſter 
und inniger, je mehr Sorgen und Mühe 
ihr ſeine Pflege verurſachte. 

Als große Hauptſache erſcheint, daß in 
dieſem Verhältniſſe die Pädagogik wurzelt. 
Die niedern Thiere ſind ſämmtlich Auto— 
didakten, und höchſtens die geſelliglebenden 
unter ihnen, die Termiten, Ameiſen, Bienen 
u. ſ. w. mögen etwas für den Jugend— 
unterricht thun, wie fie ja auch einer aus- 
gebildeten Brutpflege obliegen. Nun kann 
aber ein Autodidakt doch nur in ſeltenen 
Ausnahmefällen das leiſten, was ein Schüler 
leiſtet, der ſich ſorgſamer Lehrer erfreut, 
eine Thatſache, die man alle Tage, bei 
von Ihresgleichen oder menſchlichen Lehrern 
geſchulten Singvögeln beobachten kann. Ich 
habe mich ſchon an obengenanntem Orte 
dahin ausgeſprochen, daß ich mir theilweiſe 
durch die Einführung des regelmäßigen 
Jugendunterrichts bei den Säugethieren, das 
wahrhaft erſtaunliche Wachsthum des Ge— 
hirns in dieſer Thierklaſſe erkläre. Man 
darf nur eine Katze beobachten, wie ſie 
ihre Jungen unterrichtet, und faſt fyfte- 
matiſch vom Spiel zur Arbeit, vom Leich⸗ 
teren zum Schwereren übergeht. 
es die Schwanzſpitze, mit der ſie, die eine 


Erſt iſt. 


Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 


| 


299 
32 


Hälfte ihres Wurfes ſäugend, die andere 
zum Beobachten und Feſthalten lebender 
Dinge anregt. Dann weiß ſie lebendige 
Thiere einzufangen, um den Kleinen die 
Elemente der niedern Jagd beizubringen. 
Die höhere auf Vögel und Kletterthiere 
dürfte einer letzten Stufe vorbehalten ſein. 

Aber — ich komme immer wieder darauf 
zurück — nicht blos lernen die Jungen 
von der Alten, ſondern dieſe lernt bei der 
Pflege der Jungen den eitlen Lebensgenüſſen 
zu Gunſten Anderer entſagen, und tiefer 
nachwirkenden Genüſſen nachzujagen. Wie 
weit das führt, kann man an Charakterzügen 
aller höheren Thiere ſtudieren. Wir wollen 
den Elephanten als Beiſpiel nehmen. Nicht 
um ſeines Fleiſches willen, mit demſelben 
der Menſchen Nothdurft zu befriedigen, 
ſondern wegen eines geckenhaften Gefallens 
an Kleinigkeiten, die aus den Stoßzähnen 
dieſes edlen Thieres geſchnitzt und ge— 
drechſelt werden, erſcheint ſeine ſchleunige 
Austilgung beſchloſſene Sache. Um es 
deſto ſicherer und müheloſer zu erlegen, 
zündet man die Ufergebüſche an, in denen 
das Thier ſich verbirgt. Rings von der 
Lohe umſpült, liefert es, dem ſicheren Ber- 
derben preisgegeben, Proben eines erſchüttern— 
den Heroismus. Es achtet nicht der fein 
Fell röſtenden Hitze, ſondern ſaugt, wie 
Schweinfurth erzählt, den Rüſſel voll 
Waſſer und beſpritzt ſein Junges über und 
über, um wenigſtens dies dem drohenden 
Verderben zu entreißen. Ich wünſchte, daß 
man dieſe Geſchichte in allen Schulen er⸗ 
zählte, um wenigſtens einem Bruchtheil der 
künftigen Generation den Geſchmack an 
elfenbeinernen Knöpfen, Stock- und Regen⸗ 
ſchirm-Griffen zu verleiden. Wir gewahren 
in dieſem Falle deutlich, wie die Jungen— 
liebe ein Thier erfinderiſch macht, wie es 
das Kühlungsmittel, welches es im afrikani— 


= 


— — 


394 


ſchen Sonnenbrande ausprobirt hat, in der 
unvorhergeſehenen Gefahr anwendet, wie 
ein Funken höherer Triebe entzündet wurde, 
dem ohne dieſe Verbindung alle Nahrung 
und anfängliche Entſtehungsurſache gemangelt 
haben würde. Und ſo ſchließe ich denn auch, 
daß die Regungen des Gemeinſinnes, die 
wir bei geſellig lebenden Thieren beobachten, 
urſprünglich aus ihrer Kinderzucht empor— 
geſproßt ſind, wie der Menſch ſelbſt für 
die höhere Religion der werkthätigen Men— 
ſchenliebe erſt in ſeiner Kinderſtube die 
rechte Weihe empfängt. Ohne Zweifel iſt 
ein gut Theil davon längſt in Fleiſch und 
Blut übergegangen, wie man aus den in— 
ſtinktwven Regungen des Gemeinſinnes und 
der Hilfsbereitſchaft erkennt, die nicht ſelten 
vorkommen, wenn z. B. Jemand, der gar 
nicht ſchwimmen lann, einem Ertrinkenden 
ins Waſſer nachſtürzt. 

Der hier beſchriebene Regulator des 
thieriſchen Egoismus giebt vielleicht die 
höchſten Proben ſeiner Leiſtungsfähigkeit, 
wenn die Eltern verſuchen, dasjenige, was 
gewöhnlich erſt die Kinderſtube und das 
Leben lehrt, die Unterdrückung natürlicher 
Neigungen, ihren Kindern zwangsweiſe 
beizubringen. Gewiß leiden bei ſolchen für 


Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 


wohlthätig erachteten Züchtigungen die Eltern 
in der Regel mehr als die Kinder; es 
handelt ſich um eine Ausführung des 
Kampfes mit ſich ſelber auf der edel— 
ſten Stufe, wenn nicht etwa Zorn und 
Entrüſtung die Sache erleichtern. Aber 
die eminent moraliſche Bedeutung ſolcher 
Handlungen hat der Menſchenfreund tief 
gewürdigt, der dieſes Erziehungsmittel ſo— 
gar auf ſein höchſtes Ideal, auf Gott, 
übertrug und ausrief: Wen Gott lieb hat, 
den züchtiget er! Es will mir erſcheinen, 
als wenn dieſer unerſchöpfliche Quell reli— 
giöſer Gefühle, welcher im Familienleben 
aufſprudelt, bei unſeren Pſychologen — den 
einzigen Caspari ausgenommen — nicht 
in dem Maße Beachtung gefunden hätte, 
wie er ſie verdient, und vorſtehende kurze 
Skizze wird das Höchſte erreicht haben, 
was ſie anſtreben konnte, wenn ſie die 
Ahnung zu erwecken vermag, daß auch die 
Religion der Liebe im Grunde eine Natur⸗ 
erſcheinung iſt, die nach allen ihren Ent- 
wickelungsformen, bis zur Verehrung des 
ewig Weiblichen im Madonnenkultus, im 
Familienleben die ſtarken Wurzeln ihrer 
Kraft gefunden hat. 


as jo überaus dunkle Problem 
über den Urſprung der Sprache 
iſt in den letzten Monaten 
wiederholt Gegenſtand der Er— 
* örterung in fachmänniſchen 
Kreiſen geweſen. Die nachſtehenden Betrach— 
tungen — ich ſchicke dies zur Beruhigung 
des geneigten Leſers ſogleich voraus — ſollen 


anſtreben. Ich bin nicht Sprachforſcher, 
habe daher kein Recht in ausſchließlich lin— 
guiſtiſche Dinge dreinzureden, maße mir 
demnach auch nicht an, neue Pfade auf 
fremdem Gebiete betreten zu wollen. Da— 
gegen wird Jeder, der anthropologiſchen 
und ethnologiſchen Studien obliegt, von 
den Reſultaten der Sprachforſchung Notiz 
nehmen, ja nothgedrungen ſich damit ver— 
traut machen müſſen und mit hohem Juter— 
eſſe ihrer Entwickelung folgen, dort wo fie 
noch nicht zu feſten Anſichten gelangt iſt. 
Niemandem ſage ich Neues damit, daß ge— 


Meinungen der Linguiſten noch lange nicht 
geklärt ſind. 
ſchenden Anſichten muß aber auch den Nicht— 
linguiſten um fo mehr geſtattet fein, als 


indeß keine neue Löſung dieſer heiklen Frage 


Eine Prüfung der herr 


Der ſprachlole Armeulch. 


Fr. von Hell wal. 


das gedachte Problem ſtreng genommen 
gar nicht der Entſcheidung der Linguiſtik 
anheimfält. Sehr richtig ſagt in einem 
Aufſatze, auf den ich in der Folge, wenn 
auch nur ſelten wie jetzt beipflichtend, zu⸗ 
rückkommen werde, Prof. E. Trumpp: 
„Die Sprachwiſſenſchaft hat es nur mit 
den gegebenen Sprachen zu thun; wo ihr 
keine ſprachlichen Documente mehr vorliegen, 
hört ihre exacte Forſchung auf. Die Frage 
nach dem Urſprunge der menſchlichen Sprache 
gehört daher an und für ſich gar nicht in 
ihr Gebiet, und wenn ſie ſie ſtellt, ſo be— 
tritt fie damit das Gebiet der philoſophi— 
ſchen Speculation und der Naturwiſſen— 
ſchaften, denen dieſe Frage, weil ſie nur 
im Zuſammenhange mit der Frage nach 
dem Urſprunge des Menſchen zu löſen, ſpe— 
ziell zuzuweiſen iſt. Die Sprachwiſſenſchaft 
kann allerdings zur Löſung dieſes Problems 
einen nicht unwichtigen Beitrag liefern; ſie 
kann das Reſultat ihrer Forſchungen über 


rade über die Entſtehung der Sprache die die gegebenen Sprachen, das fie auf induc— 
| tiven Wege gewonnen hat, zuſammenfaſſen 


und daraus einen Rückſchluß auf den Ur- 
ſprung und die Entwickelung der Sprache 
machen; etwas Poſitives aber kann ſie 


\ 


—— — 
326 


darüber nicht ausſagen, weil es ihr an Sprachen hinlänglich erklärt wäre. 


jedem feſten Anhaltspunkte fehlt.“) Dies 


müſſen wir feſt im Auge behalten, weil’ 


ſich daraus auch für den Nichtſprachgelehrten 
die Berechtigung einer eigenen Meinung 
auf das Evidenteſte ergiebt. 

Als bekannt darf ich wohl die An— 
nahme des homo alalus, des ſprachloſen 
Urmenſchen, vorausſetzen. Angeſichts der 
klaffenden Verſchiedenheit der auf dem Erden— 
rund geſprochenen Idiome iſt bisher jeder 
Verſuch, die Spuren eines Urquells menſch— 
licher Rede zu entdecken, negativ ausgefallen. 
Die einſt allgemein gehegte Idee einer all— 
gemeinen menſchlichen Urſprache fand, je 
mehr man in der vergleichenden Sprach— 
forſchung fortſchritt, immer weniger An— 
hänger, und jede Möglichkeit einer ehema— 
ligen Sprachgemeinſchaft ward und wird 
auch heute noch geleugnet. Es lag nahe, 
ſagt ein ſich mit unſerem Thema befaſſen— 
den Schriftſteller, daß man aus dieſer fun⸗ 
damentalen Verſchiedenheit der Sprachen den 
mächtigſten Beweis gegen den einheitlichen 
Urſprung des Menſchengeſchlechts zimmerte. 
Da trat Darwin auf mit ſeiner Lehre, 
deren nothwendige Conſequenz die Einheit 
des Menſchengeſchlechtes iſt. Natürlich mußte 
in Folge dieſer Erkenntniß die Sprach— 
forſchung mit ihren negativen Reſultaten 
ins Gedränge kommen. Jetzt war nur ein 
aut-aut möglich: Entweder haben ſich aus 
der Sprache jenes erſten Menſchenvereines die 
ſämmtlichen heute geſprochenen Idiome, trotz 
aller Verſchiedenheit, entwickelt, oder aber 
jener erſte Menſchenverein beſaß noch keine 
Sprache, dieſe iſt vielmehr erſt nach den 
Wanderungen in den getrennten Gebieten 
entſtanden, womit die Verſchiedenheit der 


) Die moderne Sprachwiſſenſchaft und 
der Urſprung der Sprache (Beilage zur All— 
gemeinen Zeitung vom 28. April 1877). 


alalus, 


dieſem Sinne 


nere. 
3 8 N X 


Die 
Unmöglichkeit des erſten Satzes galt für 
erwieſen, jo erübrigte nichts als die Hypo— 
theſe eines ſprachloſen Urmenſchen, des homo 
den zuerſt Häckel, aber auch 
zunftmäßige Sprachforſcher erſten Ranges 
wie Schleicher und Friedrich Mül- 
ler, poſtulirten.“) 

Dieſer ſprachloſe Urmenſch fängt nun an, 
allen Jenen im hohen Grade unbequem zu 
werden, welchen die Darwin'ſche Descen— 
denzlehre ein Dorn im Auge iſt; denn ſie 
erkennen, daß es eine mächtige Stütze für 
die neue Lehre wäre, wenn ſich in dem 
homo alalus ein Mittelglied nachweiſen 
ließe zwiſchen dem richtigen, ſprechenden 
Menſchen und dem menſchenähnlichen, aber 
ſprachloſen Affen. Es gilt daher den ſprach— 
loſen Urmenſchen wieder zu beſeitigen, was 
nur möglich iſt, indem man die alte Idee 
einer gemeinſchaftlichen Urſprache wieder ein⸗ 
mal aufnimmt. Nicht weniger denn drei in 
ſich erhebende Stimmen, 
darunter zwei, deren Namen Beachtung 
gebieten, haben ſich in der letzten Zeit ver— 
nehmen laſſen, und ſie ſind es, welche die 
folgenden Bemerkungen veranlaſſen. Den 
Reigen eröffnet Prof. Dr. G. Gerland, 
welcher diesmal in Behm's neueſtem „Geo⸗ 
graphiſchem Jahrbuch“ (1876) den „Be 
richt über den Stand der anthropologiſch— 
ethnologiſchen Forſchung“ an Stelle Fried- 
rich Müller's, des früheren Referenten, 
verfaßt hat und in dem Abſchnitt, welcher 
die Sprache und deren Urſprung behandelt, 
zu dieſem in ziemlich ſchroffen Widerſpruch 
geräth, was ſich im „Geographiſchen Jahr— 
buch“ etwas ſonderbar ausnimmt. Daran 
ſchließe ich den ſchon oben erwähnten Auf- 


*) Joſeph Kuhl, Darwin und die 
Sprachwiſſenſchaft. Leipzig u. Mainz, 1877 
80. S. 8.10. 


von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 


von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 


atz des Tübinger Prof. Dr. E. Trumpp 
9 


in der mit Vorliebe antidarwiniſtiſchen 
Tendenzen huldigenden „Beilage zur All— 
gemeinen Zeitung“; 
Friedrich Müller's großes, epoche— 
machendes Werk: „Grundriß der Sprach 
wiſſenſchaft“ (Wien, 1876) an und po 


lemiſirt gegen den homo alalus, ſowie 


natürlich gegen die ſich daraus ergebenden 
Schlüſſe. Eine eigene Schrift: „Darwin 
und die Sprachwiſſenſchaft“ widmete der 
nämlichen Frage endlich Herr Dr. Joſeph 
Kuhl, Rektor in Jülich. 


tragen und muſtern. 
Nach Gerland iſt die Sprache kein 


Organismus für ſich, vielmehr nur als 


organiſches Produkt eines Organismus 
organiſchen Geſetzen unterthan. 
folgt ihm, daß Müller's Schluß nach 
allen Seiten hin völlig falſch ſei, wenn 
dieſer ſagt: „Wir müſſen annehmen, daß 
es einmal eine Zeit gegeben hat, in welcher 
zwar Racen aber keine Völker exiſtirten. 
Es gab alſo damals noch kein Volksthum, 
mithin auch nicht die daſſelbe begründenden 


Faktoren, Sprache und Sitte.“ Sobald es 


Racen gab, menſchliche Racen, meint 
der Straßburger Ethnologe, gab es auch 
Sprachen, denn mit der Menſchennatur iſt 
auch Sprache — nicht bloße Lautung — 
gegeben; nur daß freilich bei der erſten 


Entſtehung der Racen Race und Volk zu- 


ſammenfallen. „Natürlich, fügt Gerland 
hinzu, ſind auch die ſogenannten Alalen man— 
cher Forſcher eine völlig haltloſe Annahme.“ 
Nun, ſo ganz natürlich iſt die Sache eben 
doch nicht, wie ſich ſpäter zeigen wird. 
Dann wendet ſich Gerland zu der Frage, 
ob es einen genctiſchen Zuſammenhang für 
alle oder nur für einige Sprachen gebe, 
und wenn er exiſtirt, wie er ſich nachweiſen 


Ich will in 
Kürze die Anſichten der Genaunten vor 


| 


derſelbe kuüpft an 


laſſe. Da er den Alalen ſchon für eine 
„völlig haltloſe Aunahme“ erklärt, ſo erüb— 
rigt ihm ſelbſtverſtändlich nichts anderes, 
als einen ſolchen genetiſchen Zuſammenhang, 
der nur eine Umſchreibung für „menſchliche 


Urſprache“ iſt, zu ſupponiren. Er kehrt ſich 


Daraus 


deshalb wieder gegen Prof. Müller, wel— 


cher ſich auf's Strengſte für vielheitlichen 
Urſprung der Sprache ausſpricht, und ge— 
gen Schleicher, deſſen Annahme einer 
viel größeren Zahl von Urſprachen, als 
wir heute Sprachen haben, gleichfalls als 
„völlig haltlos“ bezeichnet wird. Er erklärt, 
die Ungleichheit der Sprachwurzeln könne 
nie gegen urſprüngliche Verwandtſchaft der 
betreffenden Sprachen zeugen, und die Be— 
hauptung, die Verſchiedenheit der älteſt er— 
kennbaren Sprachſtämme — welche er ſcharf 
von den erſten Sprachelementen ſcheidet — 


mache eine urſprüngliche Einheit der Spra— 


Alles. 


chen unmöglich, ſei hinfällig. So findet er 
in ſeinen Unterſuchungen nichts, was für 
eine Verſchiedenheit der ſprachlichen erſten 
Anfänge ſpräche, wohl aber die Mög— 
lichkeit, ja Wahrſcheinlichkeit, daß die Ur— 
ſprache des Menſchengeſchlechts eine einheit— 
liche war. 

Was nun dieſe letztere Anſicht anbelangt, 
ſo muß ich bekennen, daß deren „Wahr— 
ſcheinlichkeit“ nach keiner Seite hin durch 


Gerland's Ausführungen mir erwieſen 


däucht. Die einfache Möglichkeit einer ein— 
heitlichen Urſprache will ich dagegen nicht 
beſtreiten; in abstracto können wir uns 
eine ſolche wohl denken, das iſt aber auch 
Dies geht aus den Worten des 
Profeſſor Trum pp ſelbſt hervor, der doch 
gewiß dem Alalen nicht wohl will: „Ueber 
die letzte Form der Sprache, und ob es 
nur eine oder mehrere Urſprachen gegeben 
hat, kann die Sprachwiſſenſchaft aus nahe— 
liegenden Gründen nichts ausſagen; es gilt 


328 
hier ein ehrliches: non liquet. Die Sprach- 
wiſſenſchaft kann ſich negativ nur dahin 
ausſprechen, daß von ihrer Seite kein Hin— 
derniß im Wege ſteht, eine gemeinſame Ur— 
ſprache anzunehmen, die wahrſcheinlich ein— 
ſilbig geweſen iſt. Wenn die moderne dar— 
winiſtiſche Sprachphiloſophie aus der theil— 
weiſe nicht mehr nachweisbaren Verwandt— 
ſchaft einzelner Sprachen und Sprachſippen 
den Schluß gezogen hat, daß dieſer Umſtand 
die Suppoſition einer gemeinſamen Urſprache 
unmöglich mache, ſo iſt dagegen einfach zu 
erwidern, daß wir die Mittelglieder der 
Sprachentwickelung nicht mehr kennen; 


würden dieſe uns vorliegen, ſo dürfte der 


Schluß vielleicht ganz anders ausfallen.“ 
Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, d. h. 
mit anderen Worten: Wir wiſſen nichts da— 
rüber, und für die Urſprache iſt nichts 
weiter als die Möglichkeit, keine Spur einer 
Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen dargethan. 


Da uns alſo die Sprachforſchung die Lö- 


ſung des Problems nicht bieten kann, ſo 


von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 


bleibt nichts anderes übrig, als ſie auf 


einem anderen Wege zu ſuchen, und wird 


ſie auf dieſem gefunden, ſo iſt es klar, daß | 


die Sprachwiſſenſchaft ſich vor dem ander— 
weitig geſicherten Reſultate zu beugen, das— 
ſelbe rückhaltslos anzunehmen hat, da ſie 
ja ſelbſt ohnmächtig iſt den Gegenbeweis 
zu liefern. Gleichviel ob man ſich für eine 
oder für verſchiedene Urſprachen entſcheide, 
wer immer an ſprachwiſſenſchaftliche Stu— 


dien herantritt, wird dies nur auf Grund 


einer dieſer beiden Annahmen thun können, 
ſonſt hängt ſein ganzer Bau einfach in der 
Luft. Trumpp thut daher ſehr Unrecht, 
zu beklagen, daß „Sprachforſcher ihre vor— 
gefaßten darwiniſtiſchen Ideen auf die Sprach— 
wiſſenſchaft übertragen und a priori den 
verſchiedenen Urſprung des Menſchenge— 
ſchlechts und der Sprachen behaupten.“ 


Urſprung der Sprachen wird behauptet, 


Denn wenn ſie nicht dieſe Ideen, ſo müſſen 
ſie jene von der Urſprache haben, und 
dieſe iſt eben jo gut, eine „vorgefaßte“ a 
priori-Behauptung wie jene. Da nun ein 
ſprachwiſſenſchaftliches Syſtem unter allen 
Umſtänden auf einer außerhalb der Sprach— 
wiſſenſchaft gewonnenen Anſchauung fußen 


muß, ſo wirkt es einigermaßen erheiternd, 
wenn Prof. Trumpp „im Intereffe un⸗ 


ſerer Wiſſenſchaft und einer exacten Forſchung 
dieſen Bund ein für alle mal ablehnen“ 
zu müſſen glaubt, den Bund natürlich „mit 
den vorgefaßten darwiniſtiſchen Ideen.“ 
Liegt da nicht der Gedanke ungemein nahe, 
daß der Bund mit anderen als darwini— 
ſtiſchen Ideen, etwa mit der Annahme einer 
Urſprache ihm weniger ablehnenswürdig dün— 
ken möchte? Uebrigens ſcheint der Tübinger 
Sprachgelehrte in die Geheimniſſe des Dar— 
winismus nicht ſehr tief eingedrungen zu 
ſein, ſonſt würde er nicht den groben Ver— 
ſtoß begehen und dieſem zumuthen, den ver— 
ſchiedenen Urſprung des Menſchengeſchlechts 
und der Sprachen zu lehren. Die Descen— 
denztheorie predigt vielmehr, wie wir alle 
wiſſen, den einheitlichen Urſprung des 
Menſchengeſchlechts; nur der verſchiedene 


was ſehr zweierlei iſt. Deshalb iſt Trump p 
auch in einem tiefen Irrthume befangen, 


wenn er behauptet, daß Friedrich Mül⸗ 


ler verſchiedene Urmenſchen vorausſetze, 
„weil er die Einheit des Menſchengeſchlechts 
auf ſeinem philoſophiſchen Standpunkt ſchlecht— 
hin negirt“! — Ganz im Gegentheile ent— 
ſcheidet ſich Müller mit Darwin für 
die Anſicht, daß der Menſch nur eine 
Species bilde und die Racen den Werth 


von Subſpecies haben, eine Anſicht, welche 


er in ſeiner „Allgemeinen Ethnographie“ 
durch Thatſachen zu erhärten ſucht. Auf 
die Feage: Bildete der Menſch von Anfang 


an mehrere diſtincte oder nur eine Race? — 
giebt Müller die von dieſem Standpunkte 
einzig mögliche Antwort: „Nachdem wir 
uns für die Einheit des Menſchen als 
Species ausgeſprochen und die einzelnen 


von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 


Racen als Subſpecies bezeichnet, ferner auch 


die allmählige Entſtehung der Arien mit 


Darwin angenommen haben, müſſen wir 
uns auch ſolgerecht zur Anſicht einer all— 


mähligen Entwicklung der menſchlichen Ra⸗ 
cen aus einer ihnen zu Grunde liegenden 


Urform bekennen.“) Dies, fügt er hinzu 
iſt auch die Anſicht Häckel's, welcher die 
verſchiedenen Racen auf eine Stammart, 
den ſogenannten ſprachloſen Urmenſchen 
(homo priwigenius alalus) zurückführt. 


Es fällt alſo Müller nicht im Traume 
ein an verſchiedene Urmenſchen ) zu denken. 


Die Erklärung, wieſo aus dieſem 


ſprachloſen Urmenſchen der ſprechende Menſch 


ſich entwickelt habe, das iſt das große 
Problem, worüber die Gelehrten ſich die 
Köpfe zerbrechen. Trumpp fragt ſich, 
ob das Alles, was die höchſte Vernunft be— 
kundet, von einem homo priwigenius alalus 
ſeinen Urſprung genommen haben kann, 
und beruft ſich auf den bekannten Satz in 
der alten indiſchen 
Wirkung kann nicht größer ſein als ihre 
Urſache“, wobei er nur die umgekehrt 
) Friedrich Muller, 
Ethnographie. S. 23. 


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N 2 Aa: „ 

a f aus dem Alalen vor ſich gehen! Daß das 


damit nicht die Abſtammung von nur Einem 


Paare zu verſtehen iſt, bedarf wohl keiner 


beſonderen Erwähnung. Unter Einheit ift 


natürlich Einheit der Gattung, nicht Einheit 


des Individuums gemeint. Es gab alſo 
nicht verſchiedene, wohl aber mehrere oder 
viele Exemplare der einen Species: Urmenſch, 


— genau jo wie bei jeder anderen zoologiſchen 


Species. 2 


Philoſophie: „Die 


Allgemeine 


lautende deutſche Weisheitsregel vergißt: 
kleine Urſachen, große Wirkungen. Und 
Hr. Kuhl, der im Weſentlichen die bisher 
vorgetragenen Ideen vertritt, ſagt gar mit 


Emphaſe: „Die Sprache, d. h. die Ver— 
bindung bewußter Vorſtellung mit be— 


wußten und beſtimmten Lauten gehört ſo 
ſehr zum Weſen des Menſchen, daß wir 
uns keinen Menſchen denken können ohne 
die Sprache, und daß wir dem Weſen, 
welchem dieſe Fähigkeit fehlte, den Namen 
Menſch verſagen müßten. Wir wollen auch 
nicht das Wort des franzöſiſchen Philo— 
ſophen hier wiederholen: homme a tou- 
jours parle, ou il n’aurait jamais parlé. 
Ein Weſen, welches ohne Sprache (d. h. 
ohne das, was wir Sprache, nicht bloße 
Gefühlsäußerung nennen) war, war nicht 
Menſch, ſondern Thier, und hätte nie die 
Fähigkeit erlangt, ſich zur Menſchlichkeit 
emporzuarbeiten.““) 

Ich habe ſchon eingangs erklärt, daß 
es nicht meine Abſicht ſein kann, zur Löſung 
der Frage nach der Sprachentſtehung einen 
neuen Beitrag zu liefern; wie alſo die 
Sprache aus dem Alalen entſtanden, unter— 
ſuche ich nicht; daß ſie aber aus dem 
Alalen wenigſtens entſtanden ſein kann, 
ſollte nicht mit ſo viel Geräuſch in Abrede 
geſtellt werden. Wohl darf man mit Goethe 
fragen: „Wozu der Lärm? was ſteht dem 
Herrn zu Dienſten?“ Sehen wir doch alle 
Tage un ſer unſeren Augen an unſerer leib— 


veugeborne Menſchenkind im vollſten Sinne 
ſyrachlos iſt, jo ſprachlos, wie nur je der 
Urmenſch gedacht werden kann, wird wohl 


Niemand läugnen wollen. Nach Hru. 
Kuhl's oben entwickelter Anſiche 


iſt das 


) Kuhl. A. a. O. S. 11. 


„ 


329 \ 


Mn 


330 


ſprachloſe Kind kein Menſch, ſondern ein 
Thier, wogegen ich nichts einzuwenden 
habe, ſo wenig als dagegen, daß man 
den homo alalus der Urzeit für ein Thier 
halte, aber für ein Thier in durchaus 


menſchlicher Geſtalt, gerade jo wie unfere | 


Kinder auch. Ja, ich bin mit dem Ge— 
nannten der Anſicht, daß das Kind Menſch 
erſt werde mit der Erlernung der Sprache, 
was wiederum erſt mit der Erlernung des 
aufrechten Ganges möglich iſt. Guſtav 
Jäger und Otto Caspari haben wohl 
zur Evidenz bewieſen, daß die aufrechte 


Gangart das erſte Erforderniß zur Sprach- 
entwickelung ſei, und ich finde das Thier 


homo alalus ſogar nur unter der Vor— 
ausſetzung begreiflich, daß daſſelbe auf allen 


Vieren kroch — gerade ſo wie unſere heutigen 


Kinder. Nur lernen dieſe das Aufrecht— 
gehen und das Sprechen freilich erſt mit 
Hülfe ihrer Nächſten. Zweierlei Thatſachen 
ſtehen aber doch jedenfalls feſt: Einmal, daß es 
ſprachloſe Menſchenthiere wirklich giebt, dann, 
daß ſich aus dieſen ſprachloſen Menſchenthieren 
die ganze gebildete und hochgeſittete Menſch— 
heit mit ihrer Sprache entwickelt. Aber 
nicht blos unſere Säuglinge ſind ſolche 
ſprachloſen Menſchenthiere, ſondern es iſt be— 
kannt und durch genügende Beiſpiele be— 
glaubigt, daß das ohne Erziehung in der 
Wildniß, ohne menſchlichen Umgang auf— 
wachſende Menſchenthier ſprachlos bleibt, 
es höchſtens zu unartikulirten Lauten, zu 
einfachen Gefühlsäußerungen bringt. Ja 
noch mehr; Sprach- und vernunftbegabte 
Menſchen, welche der vollſtändigen Iſolirung 
preisgegeben werden, büßen allmählich das 
Sprachvermögen ein. Solche Fälle von 
offenbarer Verwilderung ſind in jüngſter 
Zeit wiederholt beobachtet worden. Von 
den Taubſtummen, die nur eine anormale 
Erſcheinung ſind, rede ich gar nicht. Aber 


8 


von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 


Thatſache iſt es, daß es in der Gegenwart 


Alale giebt und geben kann, und es iſt 
gar nicht einzuſehen, warum ſolche Zu— 
ſtände nicht in der Urzeit geherrſcht haben 
ſollen. Ja nach meinem Dafürhalten iſt 
die Sprachloſigkeit der Kinder einer der 


ſchlagendſten Beweiſe zu Gunſten der Dar⸗ 


win' ſchen Theorie und zugleich der noth— 
wendigen Annahme eines einſtigen homo 
alalus. Sowie die Ontogenie die abgekürzte 
Wiederholung der Phylogenie iſt, ſo muß 
auch — ich habe dieſen Satz in meiner 


„Culturgeſchichte“ aufgeſtellt und vertreten — 


jetzt noch jedes einzelne Individuum in 
ſeiner geiſtigen Entwickelung in abgekürz— 
ten Zügen die ganze geiſtige Entwickelungs— 
geſchichte der Menſchheit durchlaufen. Der 
Spruch des franzöſiſchen Philoſophen: 
homme a toujours parlé ou il n aurait 
parlé, iſt gelinde gejagt ein 
Nonſens, denn unſere Kinder ſind wiederum 
da, um das Gegentheil ad oeulos zu beweiſen. 
Wäre aber die Sprache an ſich ein un— 
lösliches Attribut der Menſchheit, hätte es 
nie einen ſprachloſen Urmenſchen gegeben, ſo 
müßten wir uns von deſſen Gegnern eine ganz 
präciſe Erklärung für die Sprachloſigkeit 
der Kinder ſprechender Eltern, für die Sprach— 
einbuße bei completter Verwilderung aus— 
bitten. Hie Rhodus, hie salta. Ich bin 
der Anſicht, daß über den homo alalus ſo 


jamais 


lange nicht zur Tagesordnung geſchritten - 


werden kann und darf, bis die erwähnten 
Phänomene eine beſſere Erklärung gefunden 
haben. Die Sprachloſigkeit der Kinder 
lehrt uns auch, was von Kuhl's Meinung 
zu halten iſt, daß der ſprachloſe Urmenſch 
nie die Fähigkeit erlangt hätte, ſich zur 
Menſchlichkeit emporzuarbeiten, und beant- 
wortet Trumpp's Frage, ob Alles was 
die höchſte Vernunft bekundet, von einem 
homo primigenius alalus ſeinen Urſprung 


5 


Ka a BT Nr 


genommen haben könne. Sicher ift, das die 
größten Genien der civiliſirten Menſchheit 
aus ſolch einem ſprachloſen Menſchenthiere 
ſich entwickelten und Niemand bei einem 
neugeborenen vernunftloſen Kinde 
entwickelnde Menſch dereinſt erklimmen 
werde. 


So wie die Dinge jetzt liegen, haben 


wir demnach — ich recapitulire in Kurzem 
Weiſe aus dieſer Urſprache ſich die verſchiedenen 
Sprachwiſſenſchaft zu Grunde gelegt werden 


das Geſagte — zwei Theorien, welche der 


können: Eine einheitliche Urſprache oder den 
homo alalus, der erſt ſpäter an verſchiedenen 
Planetenſtellen ſich zum ſprechenden Menſchen 
emporſchwang, womit zugleich die Verſchieden— 
heit der Sprachen befriedigend erklärt iſt. 
Weder die gemeinſame Urſprache, noch der 
homo alalus der Vergangenheit iſt uns 
bekannt. Sollen wir aber zwiſchen beiden 
Möglichkeiten wählen, ſo werden wir zweifels— 
ohne die höhere Wahrſcheinlichkeit jener 
Hypotheſe beimeſſen, für welche wir nicht 
blos negative, ſondern auch poſitive Anhalts— 
punkte beſitzen. Die Urſprache iſt, wie 
geſagt, eine Möglichkeit, aber weiter nichts; 
für die Wahrſcheinlichkeit ihrer einſtigen 


Exiſtenz liegen keine Gründe vor; für den 


ſprachloſen Urmenſchen tritt die Sprachloſigkeit 


ſagen 
kann, welche geiſtige Höhe der ſich daraus 
ſprache zur Wahrſcheinlichkeit zu erheben, 


von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 


331 


der Kinder wirkſam in die Schranken. Dieſen 
poſitiven Zeugen vermag die Urſprach— 
theorie kein, auch nur halbwegs gleichwerthiges 
Argument gegenüberzuſtellen. Ihren An— 
hängern liegt demnach nicht blos die Ver— 
pflichtung ob, die ehemalige einheitliche Ur— 


indem ſie die bisher dagegen vorgebrachten 
linguiſtiſchen Bedenken hinwegräumen und 
den klaren Nachweis führen, auf welche 


Sprachſtämme herausdifferenzirten, ſondern 
ſie müſſen noch obendrein für unſere ſprachloſe 
Kindheit eine genügende Erklärung beibringen. 
Geſetzt aber ſogar, es gelänge Alles dieſes, 
ſo iſt damit das Problem der Sprachent— 
ſtehung noch keineswegs gelöſt, ſondern nur 


um ein Kettenglied hinausgerückt; denn die 


Folge erhebt ſich dann: Wie iſt denn die 
einheitliche Urſprache entſtanden? Und wenn 
wir uns nicht der Myſtik in die Arme 
werfen wollen, indem wir die Sprache als 
eine dem Menſchen nothwendig inhärente 
Fähigkeit betrachten — und anderes als 
Myſtik, weil nichts erklärend, iſt eine ſolche 
Auffaſſung der Sprache nicht — ſo werden 
wir am Ende doch wieder auf einen ſprach— 
loſen Urmenſchen zurückgeführt. 


Die Entſtehungsgelchichte der Kodkunk. 
Ein Vortrag, gehalten im Winter 1874/75 im Roſenſaale zu Jena 


von 


Prof. Dr. Fritz Schultze. 


enn einer unſerer größten ſchen der Philoſophie und der Kochkunſt 
V deutſchen Denker, Immanuel nicht eben fehlt an Berührungspunkten, 
ya Kant, in den Geſchäften des welche, auch ganz abgeſehen von der 
Kochens und den Angelegen- ſocialen Wichtigkeit des Gegenſtandes, 
Ge heiten der Küche fo ſehr be- einen Philoſophen bewegen können, dieſes 
wandert war, daß ſein Freund Hippel Gebiet menſchlicher Thätigkeit ſeiner Be— 
jagen konnte, Kant könne ebenſo gut eine trachtung zu unterziehen. Ich glaube daher, 
„Kritik der Kochkunſt“ ſchreiben, wie eine daß ich mein Unternehmen rechtfertigen kann, 
„Kritik der reinen Vernunft; — wenn wenn ich es wage, einmal von dem höhe- 
ein bekanntes Buch „Der Geiſt der Koch- ren Kothurn platoniſcher Ideen und aus 
kunſt“, wie ſchon der Titel zeigt, dieſer den lichten Wolken des Abſoluten herabzu— 
Kunſt ſelbſt das Höchſte, was wir kennen: ſteigen zu dem nicht ganz unintereſſanten 
Geiſt zuſchreibt, und ein Brillat-Sa- Zwiſchenſpiel einer kleinen anthropologiſchen 
varin ſie ſogar, was mehr ſagen will, Topfguckerei. 

mit Geiſt in philoſophiſcher Weiſe behan— Die Entwickelungsgeſchichte des Kochens 
delt; — wenn die phyſiologiſche Pſychologie iſt ein Theil der Entwickelungsgeſchichte der 
bemüht iſt, den Zuſammenhang zwiſchen Menſchheit. Wer ſich mit der letzteren 
der Verſchiedenheit der Nahrungsmittel und beſchäftigt, darf auch die erſtere nicht ver— 
den verſchiedenen Stimmungen des Gemüthes nachläſſigen, wer das Ganze haben will, 
nachzuweiſen; — wenn endlich eine materia; muß es aus den auch noch ſo gering ſchei— 
liſtiſche Philoſophie dieſen Zuſammenhaug | nenden Theilen aufbauen, oder er verſtößt 
ſo weit übertrieben hat, daß ſie zu dem gegen den induktiven Charakter moderner 
in ſeinen Conſequenzen höchſt fatalen Satze | Wiſſenſchaft. Auch die Methode der 
kam: „Der Menſch iſt, was er ißt“: — Wiſſenſchaft verlangt alſo, daß ſich der 
jo können wir aus alledem wenigſtens jo | Philoſoph dieſem Gegenftande zuwende. 
viel mit Sicherheit ſchließen, daß es zwi- Das Kochen iſt die Zubereitung der 


Nahrungsmittel mit Hülfe des Feuers zum 
Zwecke leichterer Aſſimilation. Das Kochen 
iſt alſo ein künſtlicher Proceß; es erfordert 
Feuer, Geſchirre, künſtliche Werkzeuge. Aber 
eben weil es ſo vielen künſtlichen Apparat 
vorausſetzt, ſo werden wir vermuthen kön— 
nen, daß die Menſchen nicht von Uranfang 
an gekocht haben, daß mithin das Kochen 
erſt Erzeugniß einer höheren Entwickelungs— 
ſtufe iſt. Daß die Menſchen ohne Koch— 
kunſt leben konnten, ja, daß Menſchen noch 
heute ohne ſie, alſo von rohem Fleiſch und 
Früchten, leben könnten, beweiſen die That— 
ſachen. Es würde mich indeſſen zu weit 
von meinem eigentlichen Thema abführen, 
wenn ich dieſe hier erörtern wollte. In 
Oskar Peſchel's Völkerkunde findet ſich 
das Beweismaterial dafür in reicher Fülle 
zuſammengeſtellt. 

Das erſte, zum Kochen nothwendigſte 
Hülfsmittel iſt das Feuer. Hätte es je 
eine Zeit gegeben, wo der Menſch das 
Feuer überhaupt noch gar nicht verwendete, 
ſo wäre damals ja auch vom Kochen noch 
keine Rede geweſen. Haben wir Gründe, 
eine ſolche Zeit anzunehmen? In der That 
beſitzen wir ältere und neuere Berichte von 
Menſchen, denen das Feuer noch nicht be— 
kannt geweſen ſein ſoll. Hören wir dieſe 
Angaben und prüfen wir fie.) 

Der Miſſionar Pater Lafiteau ſagt 
in feinem Buche: „Moeurs des sauvages 
Américains“ vom Jahre 1724 ſchlechthin, 
daß es in Amerika feuerloſe Menſchen gebe. 
Einen Beweis dafür liefert er nicht. Der 
Pater Lombard von der Geſellſchaft Jeſu, 
der im Jahre 1730 aus Kourou in Fran— 
zöſiſch-Guyana ſchreibt, ſchildert den Stamm 
der Amikuanen vom Fluſſe Oyapok. 
„Dieſes Volk,“ ſagt er, „das bisher un— 

) Vergl.: Edw. Tylor, Urgeſchichte, 
deutſch von Mülker, S. 292 ff. 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


333 


bekannt geweſen, iſt äußerſt wild; es hat 
keine Kenntniß vom Feuer.“ Auch dieſe 
Angabe bleibt unbewieſen. Ebenſo wenig 
Beweiskraft können wir der Ausſage Plu- 
tarch's: daß es Menſchen ohne Feuer gebe, 
zuerkennen. 

Die nun ausgeſtorbenen Ureinwohner 
der Canariſchen Inſeln, die Guanches, ver— 
ſtanden zur Zeit der europäiſchen Expedi— 
tionen im 14. und 15. Jahrhundert Feuer 
zu machen und zu benutzen. Dennoch er— 
klärt Antonio Galvano in einem um 
die Mitte des 16. Jahrhunderts geſchrie— 
benen Buche, „daß ſie in vergangenen Zei— 
ten aus Mangel an Feuer rohes Fleiſch 
aßen.“ Derſelbe Schriftſteller weiß noch 
eine andere Geſchichte von feuerloſen Men— 
ſchen zu erzählen. Als im Jahre 1529 
Alvaro de Saavedra von den Mo— 
lukken nach der Weſtküſte Mexikos ſegelte, 
entdeckte er unter dem 10. oder 12. n. B. 
eine Menge kleiner, ebener Inſeln, bewach— 
ſen mit Gras und Palmen, die er „Los 
Jardines“, die Gärten, nannte. „Die Ein— 
geborenen hatten keine Hausthiere, ſie waren 
in ein weißes Zeug aus Gras gekleidet, 
aßen ſtatt des Brotes Kokosnüſſe und rohe 
Fiſche, die ſie in den Praus, ihren Fahr— 
zeugen, fingen, welche ſie aus Treibholz 
mit ihren Muſchelwerkzeugen verfertigten. 
Sie fürchteten ſich vor dem Feuer, denn 
ſie hatten es nie geſehen.“ Dieſe Schil— 
derung ſteht, bis auf die Angabe hinſicht— 
lich des Mangels an Feuer, mit dem, was 
wir ſonſt von den Bewohnern der Korallen— 
inſeln des ſtillen Oceans wiſſen, durchaus 
im Einklang und rührt alſo wohl von 
einem Augenzeugen her. Wir dürften da— 
her dieſe Angabe nicht ohne Weiteres für 
eine Erdichtung erklären, wenn nicht, wie 
wir gleich ſehen werden, alle anderen 
Zeugniſſe unter dem ſcharfen Blick der 


44 


334 


Kritik ſich als unrichtig erwieſen hätten, 
und dieſe Angabe demnach ganz vereinzelt 
daſtände. 

Im Jahre 1700 erzählt der Jeſuiten— 
pater Le Gobien in ſeinem Buche „Hi- 
stoire des Isles Marianes“ von den Bes 
wohnern der Marianen Folgendes: „Was 
am erſtaunlichſten war und was man kaum 
glaublich finden wird, iſt, daß ſie niemals 
Feuer geſehen hatten. Dieſes ſo nothwen— 
dige Element war ihnen gänzlich unbekannt. 
Sie kannten weder ſeinen Nutzen, noch ſeine 
Eigenſchaften; und fie waren aufs höchſte 
überraſcht, als ſie es zum erſten Male bei 
Magelhaens' Landung auf einer ihrer 
Inſeln ſahen, wo jener etwa fünfzig ihrer 
Häuſer verbrannte, um dieſe Inſulaner 
für die Beunruhigung zu ſtrafen, die ſie 
ihm verurſacht hatten. Anfangs betrachte— 
ten ſie das Feuer als eine Art Thier, das 
ſich an das Holz klammerte, wovon es ſich 
nährte. Weil die erſten, die ihm zu nahe 
kamen, ſich verbrannt hatten, waren die 
anderen eingeſchüchtert und wagten es nur 
noch von ferne anzuſehen, aus Furcht, ſagten 
ſie, von ihm gebiſſen zu werden, und da— 
mit dieſes ſchreckliche Thier ſie nicht mit 
ſeinem heftigen Hauche verletzen möchte. ..“ 
— Woher hat denn Le Gobien dieſe 
Angaben? Die Marianen nebſt den Phi— 
lippinen wurden 180 Jahre früher im 
Jahre 1521 von Magelhaens entdeckt. 
Magelhaens' Gefährte Antonio Pi— 
gafetta hat die Sitten und Gebräuche 
der Eingeborenen ausführlich beſchrieben, 
hat aber nirgends auch nur eine Andeu— 
tung, daß das Feuer ihnen fremd geweſen 
ſei. Eine ſo merkwürdige Thatſache würde 
ihm ſicher nicht entgangen ſein, und er 
würde ſie gewiß mitgetheilt haben. Aber 
im Jahre 1652, alſo 130 Jahre nach 
Pigafetta, führt Horn in einem 


F 
— nn 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


Werke über die amerikaniſchen Urzuſtände 
die Menſchenſtämme an, welche des Feuers 
entbehren. Er erwähnt die vorhin bereits 
berührten, von Galvano verdädtigten 
Bewohner der Canariſchen und der Garten- 
Inſeln und fügt dann auf eigene Fauſt 
die Bewohner der Philippinen hinzu. Nun 
hatte ja aber Magelhaens Philippinen 
und Marianen zuſammen entdeckt. Was 
alſo von den Philippinen gilt, ſo ſchließt 
Le Gobien, muß auch von den Marianen 
gelten, und ſo ſetzt denn 50 Jahre nach 
Horn der Pater auch die Marianen auf 
die Liſte. Alſo auch dieſer Bericht löſt 
ſich in eine Fiction auf. Ja, wir können 
hier ſogar nachweiſen, woher der Jeſuit die 
einzelnen Züge ſeiner Dichtung genommen 
hat. „Anfangs“, hieß es bei ihm, „bes 
trachteten die Bewohner das Feuer als eine 
Art Thier, das ſich an das Holz klammerte, 
wovon es ſich nähre.“ Dieſer Zug führt 
ſich auf Herodot's Bericht über die 
Aegypter zurück: „Die Aegypter haben 
auch geglaubt, das Feuer ſei ein lebendiges 
Thier und verſchlinge alles, was es ergrei— 
fen könne; nachdem es ſich aber mit Nah— 
rung gefüllt, ſterbe es an dem, was es 
verſchlungen habe.“ Der andere Zug, daß 
die Bewohner ſich dem Feuer zuerſt ohne 
Furcht und voller Staunen nähern und 
erſt zurückweichen, nachdem fie von ihm ge- 
biſſen ſind, erinnert an die Erzählung des 
alten Geographen Pomponius Mela: 
„In Aethiopien giebt es Leute, denen Feuer 
vor der Ankunft des Eudoxus ſo gänz— 
lich unbekannt war, und die ſich ſo außer— 
ordentlich freuten, als ſie es ſahen, daß es 
ihnen das größte Vergnügen machte, die 
Flammen zu umarmen und brennende Dinge 
in ihrem Buſen zu bergen, bis ſie verletzt 
waren.“ 5 

Die letzte Angabe, die uns vorliegt, 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 335 


ſtammt erſt aus den dreißiger Jahren die— 
ſes Jahrhunderts. In dem Werke über 
die Forſchungsexpedition der Vereinigten 
Staaten unter Commodore Wilkes leſen 
wir in der Schilderung der Inſel Fakaa— 
fo: „Es fand ſich keine Spur von Stel— 
len zum Kochen, auch war nichts von Feuer 


zu ſehen und man glaubt, daß ſie alle 


ihre Lebensmittel roh eſſen. In dieſer An— 
ſicht wurde man beſtärkt durch die Beſorg— 
niß, welche die Eingeborenen blicken ließen, 
als ſie ſahen, wie aus Stahl und Stein 
Funken ſprangen, und wie Rauch aus dem 
Munde derjenigen hervorging, die Cigarren 
rauchten.“ Gleichwohl werden in demſel— 
ben Werke Angaben gemacht, welche be— 
weiſen, daß die Einwohner mit dem Feuer 
vertraut waren. Hale, der Ethnograph 
der Expedition, erwähnt nicht blos das 
Erſcheinen von Rauch auf der benachbarten 
Duke of Vork-Inſel als Zeichen, daß fie 
bewohnt ſein müſſe, ſondern giebt auch in 
ſeinem Vocabularium der Sprache von 
Fakaafo das Wort für Feuer: ali. Ja, 
einige Jahre ſpäter erzählt uns der Miffio- 
nar George Turner ſogar einen unter 
den Eingeborenen verbreiteten Mythus über 
den Urſprung des Feuers, der an die grie⸗ 
chiſche Prometheusſage erinnert, und den 
wir nachher mittheilen werden. Er ſpricht 
ferner von merkwürdigen Verordnungen 
hinſichtlich des Feuers, aus denen ſich dann 
auch erklärt, wie Wilkes in den Irrthum 
verfallen konnte, den Fakaafoanern die 
Kenntniß des Feuers abzusprechen. Die 
religiöſen Gebräuche geſtatten nämlich den 
Eingeborenen nicht, Nachts in den Häuſern 
Licht oder Feuer anzuzünden; zum Kochen 
diente ferner ein gemeinſames Kochhaus, 
ſo daß in den Wohnungen ſelbſt allerdings 
die Spuren des Feuers gänzlich fehlten. 


Dieſe Umſtände, dazu das Eſſen roher 


Fiſche, das Staunen der Eingebore— 
nen über das Rauchen der Fremden und 
über die Eigenſchaften des ihnen unbekann— 
ten Feuerſteins und Stahls erweckten in 
Wilkes die Vorſtellung, die Inſulaner 
kennten das Feuer überhaupt nicht. 

Wenn wir ſomit die Erzählungen von 
Menſchen, welche ſelbſt in neuerer Zeit 
noch gar nicht im Beſitze des Feuers ſein 
ſollten, als unrichtig zurückweiſen können, 
ſo ſind wir nicht im Stande, daſſelbe zu 
thun bei einigen Berichten, welche uns von 
einem eigenthümlichen Uebergangszuſtande 
erzählen: von Menſchen, welche das Feuer 
zwar kennen und benutzen, es aber nicht 
ſelbſt zu entzünden verſtehen. 

Backhouſe hörte von einem Einge— 
borenen von Vandiemensland, daß ſeine 
Vorfahren vor ihrem Bekanntwerden mit 
den Europäern kein Mittel gehabt hätten, 
das Feuer ſelbſt zu entzünden; ſie hätten 
daſſelbe als ein Geſchenk vom Himmel be— 
kommen, hätten auf ihren Wanderungen 
ſtets Feuerbrände mit ſich herumgetragen, 
und ſeien dieſe durch einen unglücklichen 
Zufall erloſchen, jo hätten ſie dieſelben ent- 
weder an der noch glühenden Aſche des 
letzten Lagerplatzes wieder entzündet oder, 
wenn das nicht mehr möglich geweſen ſei, 
ſich neues Feuer von einem anderen Stamme 
geholt. Dieſer ſeltſame Bericht wird von 
einem anderen Forſcher Milligan völlig 
beſtätigt. Nach ihm haben die Vandiemens— 
länder den Mythus, daß das Feuer gleich 
einem Sterne durch zwei Eingeborene vom 
Himmel geworfen ſei; die Feuerbringer 
ſtehen jetzt ſelbſt am Himmel; es ſind die 
von uns Caſtor und Pollux genannten 
Zwillingsſterne. So ſind die Tasmanier 


zwar im Beſitze des Feuers, können es 
aber nicht ſelbſt erzeugen, ſondern tragen 
es von einem Lagerplatz mit ſich zum 


EN 


336 


andern. — Und in der Verſammlung der 
Britiſh Aſſociation vom Jahre 1864 ev 
klärte Mac Donall Stuart, die Ein- 
geborenen Süd -Auſtraliens könnten Feuer 


durch die Reibung von zwei Stücken Holz 


über einem Häufchen dürren Graſes erzeu— 
gen, im Norden ſei aber dies Verfahren 
unbekannt, die Eingeborenen trügen die 
Feuerbrände ſtets mit ſich, und wenn die— 
ſelben verlöſchten, ſo hätten ſie oft eine 
weite Reiſe zu unternehmen, um von einem 
anderen Stamme Feuer zu erbitten. 

Für uns, die wir vermittelſt unſerer 
Reibhölzer im Nu Feuer zu machen ver— 
ſtehen, klingen nun dieſe Berichte, obgleich 
ſie von durchaus glaubwürdigen Beobachtern 
herrühren, unglaubhaft. Wenn wir aber 
bedenken, daß unſer Zündholz nur deshalb 
uns blitzſchnell mit Feuer verſieht, weil es 
die complicirte, vorbereitende Arbeit un— 
zähliger Hände, eine ganze Induſtrie be— 
reits in ſich trägt; daß noch vor 50 Jahren 
bei uns die Erzeugung des Feuers durch 
Stahl und Stein eine langwierige Arbeit 
war, ſo daß man vorzog, das Feuer Nachts 
Rauf dem Herde unter der Aſche fortglim— 
men zu laſſen, wie es noch heute auf dem 
Lande vielfach Sitte iſt; wenn wir wei— 
ter in Rechnung ziehen, daß bei wilden 
Völkern die Feuererzeugung durch Reibung 
zweier Holzſtückchen noch viel ſchwieriger 
iſt und oftmals ſtundenlange Arbeit meh— 
rerer kräftiger Männer erfordert; daß 
deshalb auch viele andere wilden Stämme 
das Feuer beſtändig glimmend zu erhalten 
ſuchen, z. B. die Andamanen in hohlen 
Baumſtämmen, ähnlich die Sioux und 
viele andere Indianer Amerikas; daß wegen 
dieſer Schwierigkeit „Feueranmacher“ 
der Name für die Prieſter der Muskoge— 
Indianer war; daß eben deshalb bei den 
rohen Damaras in Afrika die Töchter des 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


Häuptlings fortwährend ein als heilig 
verehrtes Feuer in Brand erhalten 
mußten; wenn wir bedenken, daß hier 
ſich uns der wahre Urſprung der Veſta— 
linnen des heidniſchen Tempels, wie der 
ewigen Lampe in der katholiſchen Kirche 
entdeckt; wenn wir ſomit die Rudi— 
mente jener Periode, wo das Feuer jo 
zu ſagen erſt halb vom Menſchen gezähmt 
war, ſelbſt heute noch vor uns haben, ſo 
daß demnach zu der Unantaſtbarkeit jener 
Gewährsmänner noch viele Gründe beſtä— 
tigend hinzutreten, ſo wird uns dann auch 
ein ſolches Uebergangsſtadium wie das eben 
geſchilderte weniger zweifelhaft erſcheinen. 

Aber wir ſind dann auch berechtigt, 
noch weiter zu ſchließen, nämlich wirklich 
auf eine Zeit, wo die Menſchen vom Feuer 
überall noch keinen Gebrauch machten. Was 
ſpricht dafür? 

Erſtens alles, was für die moderne 
Entwickelungstheorie ſpricht. Hat dieſelbe 
Recht, ſo iſt die Annahme feuerloſer Men— 
ſchen in der Urzeit eine nothwendige Fol— 
gerung aus der Theorie. 

Zweitens ſpricht für eine ſolche Zeit 
der Umſtand, daß die Feuerzündung bei 
allen Völkern, die höchſt civiliſirten nicht 
ausgenommen, eine wirklich ſchwierige, com— 
plicirte Kunſt iſt, deren Verfahren mit 
ſeinen roheren oder feineren Werkzeugen 
irgend einmal irgendwo erfunden ſein muß, 
wie das einer jeden anderen Kunſt. 

Drittens ſpricht dafür die Heilig— 
haltung des Feuers, die wir bei allen 
Völkern auf geringer Entwidelungsftufe 
finden, und die bei dieſen keineswegs erſt 
eine ſecundäre Folge der Verehrung der 
Sonne iſt. Je vertrauter nämlich und 
bekannter der Menſch mit irgend einer ihm 
zuerſt imponirenden Naturerſcheinung wird, 
um ſo mehr verliert er das ihn beängſti— 


gende Grauen oder das ihn erhebende 
Staunen, welches ihn anfangs mit heiliger 
Scheu vor der Erſcheinung erfüllte und ihn 
zu religiöſer Verehrung derſelben trieb. Je 
neuer aber und fremder dieſe Erſcheinung 
ihm noch iſt, um ſo mehr ehrerbietige 
Scheu flößt ſie ihm ein. So beweiſt uns 
denn gerade die Allgemeinheit der religiöſen 
Verehrung des Feuers in früheſter Zeit, 
daß dieſe Erſcheinung dem Menſchen noch 
verhältnißmäßig neu war, daß alſo die 
Zeit, wo das Feuer anfing, dem Menſchen 
wohlthätig zu werden, verhältnißmäßig noch 
nicht ſo weit zurücklag, d. h. aber, daß es 
eine Zeit gab, wo der wilde Menſch das 
Feuer noch nicht benutzte. 

Viertens ſprechen für eine ſolche Zeit 
alle jene Berichte von feuerloſen Menſchen, 
die wir oben anführten. Aber haben wir 
nicht vorhin dieſelben alle als unrichtig 
zurückgewieſen? Allerdings! Jeder einzelne 
Bericht in ſeiner Anwendung auf dieſen 
oder jenen heute noch lebenden Stamm 
erwies ſich als falſch. Aber wenn wir 
fragen, was denn der Entſtehungs— 
grund aller dieſer Berichte ſei, die im 
Alterthum wie in der Neuzeit an allen 
Orten der Erde aufgetaucht ſind, da erhal— 
ten dieſelben plötzlich eine ganz andere Be— 

deutung. Werfen wir zur Erklärung einen 
Blick auf Verwandtes! Die über die ganze 
Erde verbreiteten Sagen von Drachen und 
Lindwürmern ſind Märchen: es giebt ja 
keine Drachen. Aber dieſe Sagen ſind 
überall auf der Erde aufgefunden. Und 
haben nicht die aus der Erde gegrabenen 
verſteinerten Funde uns gezeigt, daß es in 
Wirklichkeit früher ſolche ungeheuere Thier— 
geſtalten gab? Dieſe Sagen enthalten 
alſo doch etwas Hiſtoriſches, die Erinne— 
rung an jene Thierformen. Wir 


wollen ſelbſtverſtändlich nicht damit 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


337 


behaupten, daß dieſe Sagen direkt ſich 
herleiteten aus jener Secundärzeit, welche 
von den Sauriern bevölkert war — eine 
ſolche Behauptung ſchlüge allen Ergeb— 
niſſen der Paläo-Anthropologie ins Geſicht. 
Aber daß in der That eine Menge jener 
Sagen in allen Erdtheilen veranlaßt 
find durch Auffindung von Saurier-Ueber— 
reſten in früherer Zeit, hat bereits der ſcharf— 
ſinnige und überaus vorſichtige Edward 
Tylor unanfechtbar in ſeiner vortrefflichen 
Abhandlung über hiſtoriſche Traditionen 
und Beobachtungsmythen bewieſen. Wie 
mit dieſen Sagen, die in ihrer Anwendung 
auf das Zeitalter eines drachentödtenden 
Dietrichs von Bern u. ſ. w. alle falſch 
find, und in ihrer Geſammtheit doch auf 
thatſächlich in der Vorzeit Beſtehendes zu— 


rückweiſen — wie mit dieſen Sagen iſt es 


auch mit jenen Berichten über feuerloſe 
Wilde. In ihrer vereinzelten Anwendung 
auf heute oder in hiſtoriſcher Zeit noch 
lebende menſchliche Weſen ſind ſie alle falſch, 
— in ihrer Geſammtheit aber ſind ſie der 
verhallende Nachklang aus jener Zeit, wo 
das Feuer noch nicht des Menſchen Diener 
geworden war. 

Mit dieſen inſofern wahren Berich— 
ten hängen fünftens eng zuſammen die 
Mythen über das Feuer, welche die— 
ſelbe Bedeutung haben wie jene Be— 
richte, ja die man als eine Unterart 
derſelben betrachten könnte. Ich erinnere 
nur an Prometheus oder an den Feuer— 
vogel, Mythen, wie wir ſie nicht blos bei 
den Griechen, ſondern in China, in In— 
dien, bei den ariſchen Völkern überhaupt 
finden; aber ebenſo, wie wir oben ſchon 
ſahen, bei den Vandiemensländern und in 
der Mythologie der polyneſiſchen Inſeln. 
Auch in dieſen Mythen finden wir bei 
allen Völkern die Vorausſetzung einer feuer— 


loſen Zeit, und inſofern können wir auch 
ſie als eine von Geſchlecht zu Geſchlecht 
durch die Jahrtauſende hindurch getragene 
Erinnerung an dieſelben betrachten. 

Wann dieſe Zeit geweſen ſei, darüber 
kann natürlich gar nichts Beſtimmtes 
ausgeſagt werden. Aeſchylus legte in 
dem verlorenen Schlußſtücke ſeiner Trilogie 
dem Prometheus die Worte in den Mund: 
„Dreißig Jahrtauſende habe er in Feſſeln 
geſchmachtet.“ Der Feuerraub, um deſſent— 
willen Prometheus gefeſſelt wurde, wird 
alſo ſchon hier weit über die Grenzen 
menſchlicher Zeitrechnung hinaus verlegt. 
Aber an der Schuſſenquelle in Schwaben 
ward ſchon zur Eiszeit künſtlich von Men— 


ſchen Feuer erzeugt, alſo noch Jahrzehn- 


tauſende vor dem von dem Aeſchyleiſchen 
Prometheus angegebenen Zeitpunkte. 

Wie kam denn der Menſch zum Feuer? 
Die Frage ſcheint leicht beantwortet werden 
zu können, findet ſich doch Feuer an ſo 
vielen Stellen der Erde vor. Der Blitz 
ſchlägt in den Baum, dieſer geht in Flam— 
men auf. Indeß die vergleichende Pſycho— 
logie lehrt uns, daß der wilde Menſch 
ſeinem Charakter nach der Art iſt, daß er 
wie das wilde Thier vor einer ſolchen 
plötzlich auflodernden Flammenerſcheinung 
vielmehr erſchreckt entfliehen als ſich der— 
ſelben furchtlos nähern wird. Angenom— 
men aber er näherte ſich auch derſelben, 
ſo würde er, bisher völlig unbekannt mit 
den Eigenſchaften des Feuers, gar nicht 
daran denken, es ſich zu bewahren — und 
bewahrte er es auch, ſo würde es doch 
wieder verlöſchen, ohne daß er ſelbſt im 
Stande wäre, es wieder zu entzünden — 
aber gerade dies iſt ja die Hauptſache, daß 
er ſelbſt die Kunſt, es zu erzeugen, ausübe. 

Vielerwärts auf der Erde finden ſich 
ſogen. Feuerquellen, d. h. Erdölbrunnen, 


Be 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


welche entzündliche Luftarten, nämlich Kohlen— 
waſſerſtoffgas, aushauchen. Ich erinnere 
nur an derartige Erſcheinungen in den 
Vereinigten Staaten, in China, in Italien, 
vor allem aber an die heiligen Feuer der 
Halbinſel Abſcheron bei Baku am Caspi⸗ 
ſee, zu denen die frommen Parſi wall— 
fahrteten, „um ihrer Flammengottheit ins 
Antlitz zu Schauen“. Endlich wird ja unſer 
Erdball umzogen von einem Gürtel feuer— 
ſpeiender Berge, deren Lavaergüſſe den 
Menſchen mit den Wohlthaten des Feuers 
bekannt machen konnten. Alexander 
von Humboldt berichtet, daß man noch 
zwanzig Jahre nach dem Ausbruche des 


Jorullo in feinen Hornitos oder Miniatur- 


kratern Späne an der glühenden Lava ent— 
zünden konnte. — Wenn nun auch viel- 
leicht ein Menſchenalter hindurch die Lava 
ſtets neues Feuer ſpendete, zuletzt erkaltete 
ſie doch und ließ den Menſchen im Stich. 
Die Kunſt, das Feuer ſelbſt zu entzün⸗ 
den, worauf Alles ankommt, konnte alſo 
der Menſch auch hier nicht lernen. Das— 
ſelbe gilt aber von den flammenden Naphta— 
quellen. 

Betrachten wir, um der Löſung des 
Räthſels näher zu kommen, die primitiven 
Methoden des Feuermachens, wie ſie bei 
Naturvölkern noch jetzt gebräuchlich ſind 
und auch bei unſeren Altvorderen überall 
im Schwange waren. Das verbreitetſte 
Verfahren iſt das Aneinanderreiben zweier 
Holzſtücke von verſchiedener Härte, ſei es 
nun, daß das härtere von beiden einfach 
auf dem weicheren gerieben wird, oder 
daß das härtere in das weichere hinein— 
gebohrt und quirlartig darin herumgedreht 
wird, bis das weichere ſich entzündet. Neben 
dieſem Verfahren findet ſich ein anderes, 
aber nur in Amerika, nämlich bei den 
Feuerländern, einigen nordamerikaniſchen 


Indianern und 


manchen Eskimos: 
nämlich ein Feuerſtein und ein Stück Eiſen— 
pyrit an einander geſchlagen und ſo Funken 
erzeugt werden, die dann, mit dürrem Gras 
oder Moos als Zunder aufgefangen, die 
Flamme erzeugen. Endlich hat man in 
Weſtafrika beobachtet, daß Neger einen 
Feuerſtein und ein Stückchen Holz, nachdem 
ſie etwas Sand dazwiſchen geſtreut, auf 
einander rieben und ſo Feuer entzün⸗ 
deten. Stein und Holz ſind alſo bei 
allen Naturvölkern die zur primitiven Feuer- 
zündung benutzten Stoffe, und zwar in 
der dreifachen Verbindung von Holz 
mit Holz, von Stein mit Stein 
und von Holz mit Stein. 

Nun wiſſen wir, daß dem Metall— 
zeitalter das Steinzeitalter voranging, 
d. h. eine Zeit, wo die Menſchen die Ver— 
wendung und Bearbeitung der Metalle noch 
gar nicht kannten, ſondern alle ihre primi⸗ 
tiven Geräthe lediglich aus Stein und 
Holz und aus thieriſchen Knochen und Horn 
verfertigten. Innerhalb der Steinzeit 
unterſcheiden ſich aber deutlich die beiden 


Perioden der ungeſchliffenen und ge— 


ſchliffenen Steingeräthe — erſtere die 
Zeit, wo der Menſch den Stein ſo roh als 
Geräth verwendete, wie die Natur ihn dar- 
bot, und ihm höchſtens durch das Abſchla— 
gen ſeiner Kanten und Ecken eine brauch— 
bare Form gab; letztere die Zeit, wo 
ſeine Geſchicklichkeit bereits beträchtlich ge— 
ſtiegen war, und wo er die Steine durch 
Aufeinanderreiben zierlich ſchliff und polirte 
und aus ihnen Waffen und Geräthe von 
zierlicher Form herſtellte. Nun beſteht die 


überwiegende Mehrzahl gerade der frühe⸗ 
ſten Steingeräthe aus Feuerſtein, theils 
wegen der weiten Verbreitung deſſelben, 
theils wegen der Leichtigkeit, mit der man 
ihn durch einen bloßen Schlag in ziemlich 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


daß 


und Holzwerkzeuge; auch im Holze konn— 


339 


regelmäßige, klingenartige, meſſerſcharfe 
Späne und Splitter zerſpalten kann. Aus 
dieſen unzweifelhaften Thatſachen ergiebt ſich 
nun die Hypotheſe, welche uns die Feuer— 
erfindung völlig erklärt. Bei dem Zer— 
ſpalten und Zerſchlagen der Steine ſpran— 
gen bereits Funken hervor. So wurde 
der Urmenſch aufmerkſam gemacht auf dieſe 
leuchtende Erſcheinung; auch konnte er ja 
dieſelbe herſtellen nach Belieben, ſo oft er 
wollte. Aber man ſpaltete nicht blos 
die Steine, ſondern ſpäterhin ſchliff man 
ſie in der einfachſten Weiſe, d. h. man 
rieb ſie an und auf einander. Nun braucht 
man nur zwei Quarzkieſel feſt gegen ein— 
ander zu reiben, um ſich auf der Stelle 
zu überzeugen, daß ſie zu leuchten beginnen. 
Steinſchleifereien zeigen dieſes Leuchten 
der Steine im höchſten Grade und je 
nach der Verſchiedenheit der Steinart in 
mannigfachem Wechſel prächtiger Farben— 
ſpiele, worüber u. a. der Mineraloge Nög— 
gerath ausführlich berichtet hat. Man 
braucht ferner nur einen Blick auf die ſchön 
gearbeiteten Steinwaffen zu werfen, um zu 
erkennen, daß man denſelben einen großen 
Arbeitsaufwand von Reiben und Schleifen 
widmete, denn alle Form konnte ja damals 
lediglich durch Schlagen und Reiben her— 
geſtellt werden. So rieb und ſchliff man 
denn Stein auf Stein, und ſo erzeugte 
man das Leuchten. Man bearbeitete ja 
aber auch das Holz entweder mit Stein 
oder auch eine weichere Holzart mit einer 
härteren, denn man hatte ja nur Stein- 


ten feinere Formen, wie die Abrundung 
oder ein Bohrloch, nur durch Schleifen und | 
Reiben hergeſtellt werden. So rieb man 
alſo Holz mit Stein oder weicheres Holz 
mit härterem — da ward aber aus blo— 
ßem Leuchten das Glimmen, und dieſem 


ar 


bung die Flamme. 
Feuerzündung faſt nur noch hartes Holz 
auf weichem rieb, geſchah deshalb, weil 
man die Erfahrung machte, daß ſich da— 
durch thatſächlich am leichteſten und ſicher— 
ſten Feuer machen ließ. So kam alſo 
der Menſch bei der Bereitung ſeiner erſten 
Werkzeuge auf die Bereitung des Feuers, 
und ſo allein erklärt ſich die Hauptſache bei 
der Feuerfindung, daß nämlich der Menſch 
nicht mehr vor dem Feuer wie vor der 


oder des donnernd ſpeienden Vulkans zu— 
rückſchreckte, ſondern ſich allmälig daran 
gewöhnte, indem er zuerſt nur die kleinſte 
Erſcheinung des Feuers, das bloße Funken— 
ſprühen, dann das Leuchten, darauf das 
Glimmen, zuletzt die Flamme entdeckte; daß 
er zweitens dies Element hervorzaubern 
konnte, wann und wo er wollte; daß er 
drittens alſo wirklich Herr und Ge— 
bieter des Feuers wurde, was alles jene 
früher gegebenen Erklärungsverſuche ganz 
unerklärt ließen. Die Entdeckung der 
Feuerzündung fällt alſo chronologiſch nach 
der Zeit des erſten Gebrauches der Steine 
und Hölzer als primitiver Werkzeuge. Ein 
Blick auf die Natur zeigt uns ein Ana- 
logon, das zu weiterem Beweiſe dafür 
dienen könnte, nämlich den Umſtand, daß 
die anthropoiden Affen das Feuer natür— 
lich nicht verwenden, wohl aber bereits 
Steine und Hölzer gebrauchen, theils als 
Werkzeuge, z. B. zum Aufknacken von 
Nüſſen, theils als Waffen zur Vertheidig— 
ung. Ehe nun der Menſch alle Eigen— 
ſchaften des Feuers kennen und ehe er 
es ſo mannigfach verwenden lernte, wie 


wir es jetzt thun, darüber verſtrich ohne 


Zweifel noch ein ungeheurer Zeitraum. 
Aber daß dieſe Erfindung der Feuerzün— 


entſprang naturgemäß bei fortgeſetzter Rei- 
Daß man zuletzt zur 


Flamme des plötzlich auflodernden Baumes 
ſcheräh 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


dung zu den größten Erfindungen über— 
haupt gehört, ja daß ſie geradezu einen 
Wendepunkt in der Geſchichte der Menſch— 
heit bildete, das kann eine einfache Betrach— 
tung klar machen. Denken wir uns plötz— 
lich der Benutzung des Feuers beraubt; 
die Folge wäre, daß alle unſere Induſtrie, 
unſer Handel, unſer Verkehr, unſere Künſte 
und Wiſſenſchaften, alle Bequemlich— 
keiten und Nothwendigkeiten eines 


civiliſirten Lebens aufhörten, und daß wir 


nach wenig Jahren auf eine Stufe zurüd- 
gelangt wären, welche unter der des Pe— 
läge, denn dieſer benutzt ja das 
Feuer. — — — 

Auf der oben erwähnten Inſel Faka⸗ 
afo lautet die einheimiſche Prometheusſage 
folgendermaßen: Das Feuer war im Beſitz 
einer alten blinden Frau, die in den unter⸗ 
irdiſchen Regionen wohnte. Talangi, der 
Prometheus, ging zu ihr hinab und bat 
ſie, ihm etwas von ihrem Feuer zu geben. 
Sie weigerte ſich. Als er aber drohte, ſie 
zu tödten, gab ſie nach. Zugleich ließ er 
ſich ſagen, welche Fiſche mit dem Feuer zu 
kochen und welche roh zu eſſen ſeien. „Und 
nun,“ ſchließt die Sage, „begann die 
Zeit, wo man Speiſen kochte.“ 

Um nun die Geſchichte der Kochkunſt, 
deren Beginn dieſe Südſeeſage richtig an 
die Feuerfindung anſchließt, darzulegen, 
müſſen wir zunächſt zwei Arten der Speiſe— 
bereitung mittelſt des Feuers unterſcheiden, 
nämlich das Röſten oder Braten und 
das Kochen oder Sieden. 

Zum Sieden gehören Geſchirre, in 
denen man ſiedet. Die Töpferkunſt iſt aber 
eine verhältnißmäßig ſpäte Erfindung. Des- 
halb iſt das bloße Röſten, d. h. das Er- 
hitzen und Erweichen des Fleiſches unmit— 


telbar an oder über dem Feuer ohne Ge— 


ſchirre das ältere und urſprüngliche. Dies 


geht noch daraus hervor, daß die niedrig— 
ſten Menſchenſtämme, nämlich die Auſtralier, 
die Feuerländer nebſt einigen anderen ſüd— 
amerikaniſchen Stämmen und die Buſch— 
männer, noch nichts vom Sieden und 
Kochen wußten, auch nicht im Beſitz von 
irgend welchem Töpfergeſchirr waren, als 
die Europäer ſie zuerſt kennen lernten. So 
erzählt uns Lichtenſtein von den Buſch— 
männern, daß ſie Stücke Fleiſch einige 
Minuten lang unmittelbar in die glühende 
Aſche legten und ſie dann bedeckt mit Aſche 
und geronnenem Blute, halb verbrannt und 
halb roh, gierig hinunterſchlangen. Einen 
Fortſchritt über dieſe Buſchmannsart hinaus 
ſehen wir bei den Auſtraliern, welche die 
Fleiſchſtücke auf Stäbe ſteckten und ſo ins 
Feuer hielten und brieten. Sie hatten mit— 
hin die Erfindung des primitiven Brat- 
ſpießes gemacht. Man kann nicht ſagen, 
daß ſelbſt dieſe beiden roheſten Arten zu 
braten un mittelbar mit der Feuerfindung 
gegeben geweſen ſeien. Irgend ein glück— 
licher Zufall mußte erſt lehren, daß Fleiſch, 
vom Feuer erhitzt, weicher und ſchmackhaf— 
ter wird, und dann erſt begann man mit 
Abſicht zu braten. 

Aus dem Röſten über dem Feuer ver— 


Form das ſogen. Bucaniren entwickelt. 
Wenn nämlich Fleiſch viele Stunden lang 
über einem gelinden Feuer bleibt, ſo wird 
es zugleich geröſtet und geräuchert. Es 
kommt dadurch in einen Zuſtand, worin 
es ſich ſelbſt in den Tropenländern lange 
Zeit hält. Dieſes Verfahren fand ſich in 


ſchatka, in Afrika, im indiſchen Archipel 
und auf den Pelew-Inſeln. Der Name 
„Bucaniren“ kommt von 
einem Worte einer braſilianiſchen Indianer⸗ 
ſprache. So nannten nämlich nach Jean 


\ 


mittelſt des Bratſpießes hat ſich als dritte 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


Nord- und Südamerika, in Aſien in Kamt- | 


Feuer entzündete. 
boucan, 


I 


341 


de Lery's Bericht vom Jahre 1557 die 
Indianer ein aus Stöcken geflochtenes Git 
ter, einen hölzernen Roſt, der auf vier 
ſenkrecht in die Erde geſteckten, gabelförmi— 
gen Pfählen lag. Auf dieſen Roſt wurde 
das Fleiſch gelegt, und unter demſelben das 
Feuer zum Bucaniren angezündet. Die 
franzöſiſchen Jäger von San Domingo, 
welche ſich deſſelben Verfahrens bedienten, 
erhielten daher den Namen Boucaniers, 
und von hier aus bekam dieſes Wort all— 
mälig die Bedeutung eines unſtät umher— 
ſchweifenden Jägers und Räubers und 
wurde endlich, wie bekannt, ſpezielle Benen— 
nung der ſpaniſchen Seeräuber des Oceans. 
Auf Haiti war der Name für jenen höl— 
zernen Roſt barbacoa, und dieſem Namen 
verdankt das engliſche Wort to barbecue 
ſeinen Urſprung, welches im heutigen Eng— 


S 


liſch freilich ſo viel heißt wie „ein ganzes 


Thier auf einmal braten“. 

Daß auch bei der Urbevölkerung Euro— 
pas das Bucaniren im Schwange geweſen 
ſei, könnte man aus dem noch heute bei 
uns gebräuchlichen Verfahren des Räu- 
cherns des Fleiſches ſchließen, welches 


ja nichts anderes iſt, als eine weiter ent— 


wickelte Form des Bucanirens. 
Eine fünfte, bei weitem höhere Form 


des Bratens, als die am primitiven Spieß, 


und die deshalb von größter Bedeutung 
iſt, weil von ihr aus der Uebergang zum 
eigentlichen Kochen gemacht wurde, iſt die, 
daß man ein Loch in die Erde grub, das 
ſelbe z. B. bei den Polyneſiern mit Blät- 
tern auskleidete, dann das Fleiſch oder die 
Pflanzenkoſt hineinlegte, die Grube wieder 
zuſchüttete und nun über derſelben ein 
Dieſe Art, das Fleiſch 
in einem Loch in der Erde zu braten, in 
dem primitiven Erdofen, wie man es be 
zeichnen könnte, fand ſich (abgeſehen von 


vielen anderen Völkern) z. B. bei den Gu- 
anchen der Canariſchen Inſeln und bei den 
Auſtraliern. Auf Sardinien verfährt man 
bisweilen ähnlich noch heutigen Tages. 


der natürlich das Fleiſch oben ſtärker als 
weiter nach unten gebraten wurde, war 
dann ſechstens die, daß man in die 
Grube ſelbſt unter und zwiſchen das 


durch ein gleichmäßigeres Durchbraten er— 
zielt wurde. Dieſe Verbeſſerung des 
„Steinbratens“, wie ich es nennen 
will, wandten an die Südſee-Inſulaner, die 
Bewohner von Madagaskar, Süd- und 
Nordamerikaner, viele Auſtralier und ſogar 
heute noch oftmals die Beduinen. 

Daß in Afrika manchmal die Eingebo— 
renen einen großen Ameiſenbau ausräumen, 
die Ameiſen tödten und dann die Lehm— 
wände des Baues durch Feuer glühend 
heiß machen, um zwiſchen denſelben 
wie in einem Backofen ihre Rhinozeros— 
keulen zu braten, iſt nur ein gelegentliches 
Auskunftsmittel und im Prinzip von dem 
bisher geſchilderten Verfahren nicht verſchie— 
den, wie denn auch unſere Backöfen im 
Prinzip nichts anderes ſind als die beſtän— 
dig gemachten „primitiven Erdöfen“. 

Die Entwickelung des Röſtens oder 
Bratens hat demnach ſechs Stufen durch— 
laufen: 1) das Röſten in der Aſche; 2) das 
Röſten am primitiven Bratſpieß; 3) das 
Bucaniren; 4) das Räuchern; 5) das Bra— 
ten im Erdofen; 6) das Steinbraten. 

Bei weitem intereſſanter als dieſe kurz 
ſtizzirte Geſchichte des Röſtens iſt nun die 
des eigentlichen Kochens, welche uns nach 
den verſchiedenſten Seiten hin ungeahnte 
Perſpectiven eröffnen wird. Wir werden 
ſehen, wie die Kunſt, in einem Topfe zu 
kochen, die uns jetzt ſo ſelbſtverſtändlich 


L 


Eine Verbeſſerung dieſer Methode, bei | 


Fleiſch glühend gemachte Steine legte, wo- | 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


erſcheint, erſt das letzte Glied einer längeren 
Entwickelungsreihe iſt, die langſam und 
continuirlich, ohne Sprung und Eile, durch 
kleinſte Unterſchiede hindurch endlich bis zu 
jener höchſten Form des Kochens im 
Topfe und damit zur Entwickelung von 
Induſtrie und Kunſt uns führt. 

Das Kochen iſt hervorgewachſen aus 
jener Stufe des Röſtens, die ich das 
Braten in einem Loch in der Erde nannte. 


Wir ſahen, wie man zum gleichförmigeren 


Durchbraten des Fleiſches heiße Steine mit 
in die Erdgrube legte. Daraus entſtand 
nun die niedrigſte Art des Kochens, 
die auf der Erde überall verbreitet geweſen 
iſt, und die in der Anthropologie den 
Namen des „Steinkochens“ erhalten 
hat. Um das Verfahren des Steinkochens 
deutlich zu machen, will ich den Bericht 
eines directen Beobachters mittheilen. In 
Nord-Amerika giebt es einen Indianerſtamm, 
mit Namen Aſſiniboins. Dieſer Name 
bedeutet „Steinkocher.“ Catlin hat aus 
eigener Beobachtung ihr Verfahren folgender- 
maßen beſchrieben: Man gräbt ein Loch 
in den Boden. An die Wände desſelben 
wird ein hinlänglich großes Stück von der 
friſchen Haut des zu kochenden Thieres an— 
gedrückt. In dieſe ſo ausgekleidete und 


nunmehr waſſerdichte Grube gießt man 


Waſſer und legt das Fleiſch hinein. In 
einem Feuer daneben werden Steine 
glühend gemacht und dieſe ſo lange in die 
Grube geworfen, bis das Waſſer ſiedet und 
das Fleiſch gekocht iſt. — Das nicht eben 
reinliche Verfahren iſt nach Catlin „unge— 
ſchickt und langwierig.“ Als die Aſſiniboins 
von den Europäern Töpfe kennen lernten, 
gaben ſie es daher auf, „ausgenommen“, 
wie Catlin ſagt, „bei öffentlichen Feſten, 
wo ſie wie andere Glieder der menſchlichen 
Familie Vergnügen daran zu finden ſcheinen, 


ihre alten Gebräuche mit Vorliebe zu hegen 
und zu verewigen.“ Nur bei den Auſtraliern 
am untern Murray hat man beobachtet, 
daß fie die Grube, ftatt fie mit der Haut 
auszukleiden, mit Thon ausſtrichen. Um 
des Vortheiles einer kurzen Bezeichnung 
willen nenne ich dieſe unterſte Stufe des 
Steinkochens 
Grube.“ 

Der nächſte Fortſchritt, der gemacht wurde, 
beſtand in der Einſicht, daß, da ja das 
eigentliche, das Waſſer haltende Gefäß die 
Haut in der Grube war, man eine Grube 
gar nicht mehr zu graben brauchte. Wenn 
man die Haut zwiſchen vier in den Boden 
befeſtigten Pfählen muldenartig aufhing 
und in dieſe Waſſer, Fleiſch und glühende 
Steine legte, ſo erſparte man ſich die Mühe 
des Grabens und kam raſcher zum Ziel. 
Dieſes „Steinkochen in der Haut“ war 
Brauch unter den Sioux- oder Dacota- 
Indianern, die den Aſſiniboins nahe verwandt 
ſind. Sie bedienten ſich zwar, als ſie mit 
den Europäern zuerſt bekannt wurden, bereits 
einer um einen Grad höheren Form des 
Steinkochens, — die wir gleich kennen lernen 
werden — indes ihre eigene Tradition 
berichtete, daß ihre Väter das Steinkochen 
in der Haut ausgeübt hätten. 
in Aſien bei den Oſtiaken, den Renthier— 
Koriaken und den alten Schythen dieſes 
Verfahren urſprünglich im Schwange war, 
geht aus den weiter unten mitzutheilenden 
Berichten mit großer Wahrſcheinlichkeit 
hervor. 

Die höchſte Form des Steinkochens 
entſtand folgendermaßen. Die älteſten Ge— 


fäße, lange vor der Erfindung von Thon— 


gefäßen, waren die Schalen von kürbis⸗ 
und melonenartigen Früchten, wie ſie als 
Kalebaſſen in ganz Afrika noch heute in 
Gebrauch ſind, dann auch die Schalen von 


„das Steinkochen in der 


Daß auch 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


343 


Kokosnüſſen oder ſelbſt von Straußeneiern. 
Allmählich traten hinzu korbartige Ge— 
fäße, die aus Wurzeln und biegſamen Zweigen 
ſo feſt geflochten waren, daß ſie ſogar als 
waſſerdichte Gefäße dienten. Solche z. B. 
aus den eng verwebten Wurzeln der Pech— 
tanne geflochtenen Töpfe fertigten noch vor 
wenig Jahren viele Indianerſtämme Nord— 
Amerikas und heutzutage noch die Betſchu— 
anen und Kafirn Süd-Afrikas. Endlich 
bereitete man ähnliche Geſchirre aus zu— 
ſammengenähter Baumrinde in Aſien und 
Amerika, aus Palmenſpathen in Süd⸗ 
Amerika, aus geſpaltenem Bambus in Indien 
und dem indiſchen Archipel, und natürlich 
überall auch aus Holz, welches man napf— 
artig aushöhlte. 

Statt nun in der Erdgrube oder in 
der Haut des Thieres mit Steinen zu 
kochen, nahm man die bequemeren und 
dauerhafteren Holzgefäße und warf in dieſe 
die glühenden Steine hinein. Dieſe höchſte 
Art des Steinkochens hat man nun als 
die verbreitetſte in allen Erdtheilen entdeckt. 
So an der Weſt-Küſte und in der ganzen 
Nordhälfte von Nord-Amerika bei Indianern 
und Eskimos; in Aſien bei den Kamtſchadalen, 
welche, auch nachdem die Ruſſen ſie bereits 
mit eiſernen Töpfen bekannt gemacht hatten, 
noch lange Zeit hindurch das Steinkochen 
in Holztrögen beibehielten, weil ſie der 
Anſicht waren, die Speiſen geriethen ſchmack⸗ 
hafter, wenn ſie nach der alten Weiſe 
bereitet würden. Auch Neuſeeländer und 
die Bewohner vieler polyneſiſcher Inſeln 
wie Tahiti, Anamuka, Huaheine, Mar- 
queſasinſeln waren Steinkocher. Ja, die 
Funde, welche man in Frankreich in der 
Landſchaft Perigord, Departement Dordogne, 
in der Cro-Magnon-Höhle gemacht hat, 
laſſen nach Oscar Peſchel vermuthen, daß 
auch die Bewohner Frankreichs zur Zeit, 


344 


als noch das Renthier in der Nähe der 
Pyrenäen ſtreifte, alſo vor vielen Jahrtau— 
ſenden, Steinkocher dieſer Art waren. Ja, 
Ueberreſte dieſes uralten Verfahrens fanden 
fi) ſogar noch in Europa im vorigen Jahr— 
hundert. So machte Linné während ſeiner 
berühmten lappländiſchen Reiſe im Jahre 1732 
die Bemerkung, daß in Oſt-Bothland „das 
finniſche Getränk, genannt Lura, wie anderes 
Bier bereitet, jedoch nicht gekocht wird, 
denn ſtatt deſſen wirft man glühende Steine 
hinein.“ In Irland wurden noch um das 
Jahr 1600 glühende Steine zum Er— 
wärmen von Milch angewendet. Und 
Edward Tylor meint, daß die große Menge 
verkalkter Steine, die man in Europa an 
den Stätten ehemaliger uralter Wohnſitze 
findet, möglicherweiſe zum Steinkochen 
gedient und daher ihren Kalküberzug hätten. 
Das Steinkochen iſt in allen Fällen 
eine langwierige Operation. Konnte man 
denn nicht das Fleiſch mit Waſſer in 
einem Gefäße unmittelbar über das 
Feuer ſetzen, wie wir es jetzt thun? Aber 
man hatte ja noch keine unverbrennbaren 
Gefäße, weder von Thon, noch gar von 
tetall. Nun kann aber jeder leicht ein 
einfaches und lehrreiches Experiment machen. 
Wir biegen die Ränder eines Kartenblattes 
aufwärts, gießen Waſſer hinein und halten 
dies ſo gefüllte Käſtchen über die Flamme 
eines Lichtes. Die Flamme umzüngelt das 
Kartenblatt; ſchnell beginnt das Waſſer 
zu ſieden, ohne daß das papierne Keſſelchen 
verbrennt. Wir nehmen ein Stückchen 
Leder und verfahren mit ihm in gleicher 
Weiſe: Der Verſuch gelingt auch da — 
endlich kochen wir ſogar in einer Schachtel 
aus dünnem Holz. Es verſteht ſich von 
ſelbſt, daß dieſe Gefäße wenig dauerhaft 
ſind, aber bis zu einem gewiſſen Grade, 
vorzüglich wenn man ſie nicht unmittelbar 


Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


der Flamme, ſondern nur der Hitze derſelben 
oder der Gluth von Kohlen ausſetzt, ſind 
ſie doch haltbar. 

Nun, der erſte Fortſchritt, den der 
Menſch vom Steinkochen aus machte, war 
der, daß er ſeine Gefäße unmittelbar über 
oder an das Feuer ſetzte. Dieſe Gefäße 
waren aber bisher nur die zum Gtein- 
kochen benutzten, alſo keine andren als die 
muldenförmig aufgehängte Haut des Thieres 
und hölzerne Gefäße. Daß ich Ihnen 
kein Märchen erzähle, werden die Berichte 
beweiſen. Von den Bewohnern der Heb— 
riden erzählt George Buchanan im Jahre 
1528: „In Nahrung, Kleidung und allen 
häuslichen Dingen beobachten ſie die 
Sparſamkeit der alten Zeit. Jagd und 
Fiſcherei verſorgt ſie mit Fleiſch. Das 
Fleiſch kochen ſie mit Waſſer im Wanſte 
oder in der Haut des geſchlachteten 
Thieres; auf der Jagd eſſen ſie es bis— 
weilen roh, nachdem das Blut ausgepreßt 
iſt.“ Die Oſtiaken Sibiriens kochten 
das Blut in dem Wanſte des Thieres; 
daſſelbe thaten die Renthier-Koriaken, und 
Herodot erzählte uns von den Scythen, daß fie, 
wenn ſie keinen geeigneten Keſſel hatten, 
das Fleiſch des geopferten Thieres in deſſen 
eigenem Wanſte zu kochen pflegten. 

Von denſelben Oſtiaken, die wir ſoeben 
als Hautkocher kennen gelernt haben, erzählt 
der holländiſche Gefandte YJsbraud Ides 
im Jahre 1710: daß er unter ihnen Keſſel 
von zuſammengenähter Rinde geſehen habe, 
„worin ſie über den glühenden Kohlen, 
jedoch nicht in der Flamme des Feuers, 
Speiſen kochen können.“ Madenzie erzählt 
von einem, in der Nähe des Felſengebirgs 
am Unijah oder Friedensfluße wohnenden 
Indianerſtamm, daß ſie zum Steinkochen 
Körbe gebraucht hätten, geflochten aus den 
Wurzeln der Pechtanne, — „doch hatten 


no 
* 


Schultze, 


ſie auch Keſſel, aus Tannenrinde gefertigt, 
die ſie über das Feuer hingen, jedoch in 
einer ſolchen Entfernung, daß ſie die Hitze 
empfingen, ohne von den Flammen erreicht 
zu werden. Eine ſehr langweilige 
Operation,“ fügt Mackenzie hinzu. 
So werden noch heute in Süd-Amerika 
Speiſen in Palmenſpathen gekocht; die 
Bewohner von Sumatra und die Stiens 
von Combodja kochen ihren Reis in geſpaltenen 
Bambusſtücken; auf den Radakinſeln kocht 
man in Kokosſchalen und ebenſo auf 
Tahiti, nach Cool's Bericht. 

Dieſe Holzgefäße waren natürlich nicht 
feuerfeſt. Wie konnte man ſie vor dem 
zu leichten Verbrennen bewahren? Dieſe Frage 
trieb nun zu einem Fortſchritt, zwar einfach 
in ſeiner Art und ſehr nahe liegend, wie 
wir denken möchten, und doch gewaltig 
und großartig in ſeinen Folgen. Wenn 
man die korbartigen und die Holzgefäße 
ringsum mit Thon beſtrich, ſo wurden ſie 
ja durch dieſen Ueberzug gegen den verzehrenden 
Einfluß der Flamme geſchützt, und eben 
dieſe kleine Verbeſſerung, die nun ſchnell 
zu einer neuen, bisher unbekannten Kunſt 
führen ſollte, brachte man an. Im Jahre 
1503 ſegelte Capitain Gonneville von 
Honfleur ab, er landete an einer ſüdatlan— 
tiſchen Küſte, wahrſcheinlich in Braſilien. 


Dort fand er ein freundliches Volk fe: | 
von Jagd, Fiſcherei und ein wenig Ackerbau 
lebte; er beſchreibt ihre Mäntel aus Matten 


und Häuten, ſchildert ihr Federwerk, ihre 
Bogen und Pfeile, ihre Betten von Matten, 
ihre Dörfer von 30—80 aus Pfählen 
und Flechtwerk gebauten Hütten u. ſ. w. 
Dann ſagt er: „Ihre Hausgeräthe ſind 
von Holz, ſelbſt ihre Kochtöpfe, aber einen 
guten Finger ſtark mit einer Art Thon 
bedeckt, welcher das Feuer verhindert, ſie 
zu verbrennen.“ 


Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


345 


Daß wir nun in dieſem Beweis nicht 
eine bloß vereinzelte Thatſache, ſondern 
einen Hinweis auf den urſprünglichen Zuſtand 
überhaupt beſitzen, haben die ſonſtigen 
anthropologiſchen Forſchungen über die 
Eutſtehung der Töpferei bewieſen. Goguet 
war wohl der erſte, der im vorigen Jahr— 
hundert die Anſicht aufſtellte, man ſei zur 
Töpferei gelangt, indem man jene verbrenn— 
lichen Gefäße, um ſie zu ſchützen, mit 
Thon beſtrich, bis man fand, daß ja der 
Thon allein genüge, und man nun die 
Gefäße bloß aus Thon formte. Dieſe 
Anſicht wurde beſtätigt durch die Unter— 
ſuchungen, welche der Reihe nach Price, 
Squierund Davis, PrinzMaximilian 
von Neuwied, Klemm und Carl Rau 
anſtellten, wobei es ſich ergab, daß auf der 
erſten Stufe der Töpferei, wie ſie auf den 
Fidſchi-Inſeln, bei den fortgeſchritteneren 
Indianern Nord-Amerikas und anderwärts— 
noch in hiſtoriſcher Zeit beſtand, die Geſchirre 
weder aus freier Hand, noch gar mit der 
Töpferſcheibe hergeſtellt wurden, ſondern 
daß man den Thon über die Außenſeite 
von Fruchtſchalen und von geflochtenen Körben 
formte, oder auch die Innenſeite dieſer 
Schalen und Körbe mit Thon ausſtrich, 
und dann dieſelben entweder zuerſt an der 
Sonne trocknete und darauf in's Feuer 
ſetzte oder auch ſie gleich in's Feuer ſetzte. 
In beiden Fällen verbrannten dann die 
Schalen und Holztheile, alſo das eigentliche 
Modell, während das bloße Thongeſchirr 


blieb — und an dieſem blieben natürlich 


die Eindrücke des Flechtwerks der 
Korbmodelle, die nun als eine regelmäßige 
Ornamentik das Thongefäß umgaben. Als 
man ſpäter die Korbmodelle nicht mehr 
gebrauchte, ſondern bereits aus freier Hand 
formte, ahmte man gleichwohl noch die alte 
Flechtwerk-Ornamentik nach, indem man 


346 Schultze, 


Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 


flechtwerkartige Reihen von Nägeleindrücken alles ſich Entwickelnde auch der menſchliche 


an der Außenſeite des Gefäßes eingrub. 
So erklärt ſich das häufige Vorkommen 
dieſer flechtwerkartigen Zierrathe auf den 
älteſten Urnen und Geſchirren. French 
hat, indem er das angegebene Verfahren 
einſchlug, ſowohl Geſchirre als die Orna— 
mentik davon ganz den alten Geſchirren 
und ihren Ornamenten ähnlich hergeſtellt. 
Die Entwickelung war alſo dieſe: Von 
bloßen verbrennlichen Fruchtſchalen und 
Holzgefäßen kam man zu Holzgefäßen mit 
Thon überzogen — dann zu bloßen Thon— 
gefäßen. Dieſe wurden zuerſt über Modelle 
geformt, ſpäter aus freier Hand gebildet, 
bis endlich durch die Erfindung der Töpfer— 
ſcheibe ein Werkzeug gewonnen wurde, 
das nun die Herſtellung der vollendetſten 
Gefäße ermöglichte. 

Um nun auf die Kochkunſt zurückzu- 
kommen, ſo durchlief dieſe demnach die 
folgenden ſechs Stufen: Der Uebergang 
vom Braten zum Kochen wurde gebildet 
durch das „Braten mit heißen Steinen in 
der Erdgrube.“ Die erſte Stufe des Kochens 
war dann „das Steinkochen in der mit 
der Haut des Thieres ausgekleideten Grube.“ 
Die zweite Stufe war: „Das Stein— 
kochen in der Haut allein.“ Die dritte 
Stufe: „Das Steinkochen in geflochtenen 
oder gehöhlten Holzgefäßen.“ Die vierte: 
„Das Kochen ohne Steine unmittelbar 
über oder an dem Feuer in der Haut oder 
in Holzgefäßen.“ Die fünfte: „Das 
Kochen in den mit Thon beſtrichenen Holz— 
gefäßen.“ Die ſechſte Stufe: „Das 
Kochen in bloßen Thongefäßen,“ an die 
fi viel ſpäter dann die Metallgefäße 
anſchließen. 

Wenn die Ihnen vorgeführte Ent— 
wickelung ſchon pſychologiſch intereſſant iſt, 
inſofern ſie das Geſetz beſtätigt, daß, wie 


Bedürfniß des Lebens dienten. 


Geiſt ganz langſam und allmählig, aus 


den kleinſten Anfängen heraus, ganz ohne 
jähe Sprünge ſich entfaltet, ſtets anknüpfend 
an das Vorhergehende, zur Zeit immer 
nur ein wenig durch kleinſte Unterſchiede 
hindurch fortſchreitend, und daß ſo aus 
dem kleinen Keime zuletzt jenes wunder— 
bare Geiſtesweſen bis zum Genius hin ſich 
erhebt, ſo erweckt doch dieſe Entwickelung 
noch mehr Intereſſe, wenn wir den weitern 
Verlauf und die ſecundären Folgen derſelben 
einmal raſch beleuchten. 

Der Ausgangspunkt der ganzen ee 
wickelung des Kochens war das Loch in 
der Erde, in dem man zuerſt nur briet, 
dann mit Steinen briet, zuletzt mit Steinen 
kochte. Das Ende der Reihe iſt das 
erſte fertige Töpfergeſchirr. Aber dieſes 
erſte Töpfergeſchirr iſt wieder nur der Anfang 
einer anderen gewaltigen Reihe. Aus dem 
erſten rohen Topfe wurden allmählig feinere 
Gefäße, Schalen, Urnen bis hin zu jenen 
prächtigen Vaſenformen, die das Alterthum 
auf der Höhe ſeiner Kunſtentwickelung 
hervorbrachte und die Neuzeit mit Geſchick 
nachbildet. Zuerſt formte man den Thon 
nur zu Gefäßen, die dem unmittelbaren 
Aber in 
dieſer Arbeit um das tägliche Brot wurde 
die Hand allmählig geſchickter, das Auge 
geübter. Man ſah der Natur neue Formen 
ab, man begnügte ſich nicht mehr nur 
Töpfe zu formen, man bildete aus dem 
Thon nun auch Geſtalten von Thieren und 
Menſchen. Und ſo ſehen wir zuletzt aus 
dem Töpfer den Thonmodelleur, aus ihm 


den Bildhauer werden, der uns endlich jene 


wonnigen Göttergeſtalten hervorzaubert, vor 
denen wir noch jetzt mit andächtiger Be— 
wunderung als vor unerreichbaren Meiſter— 
werken der Kunſt uns beugen. Es iſt kein 


wurde ihm die Haut abgezogen. 


Schultze, Die Entſtehungsge 


Paradoxon, es iſt eine Thatſache: Einer 
der Ausgangspunkte für die Entſtehung 
der höchſten Formen der plaſtiſchen Kunſt, 
abgeſehen natürlich von allen anderen, iſt 
jenes „Loch in der Erde.“ So hat die 
Kochkunſt nicht bloß den phyſiſchen Hunger 
geſtillt, ſondern auch mitgeholfen an der 
Befriedigung der aeſthetiſchen Bedürfniſſe 
des Menſchen. 

Aber noch eine andere Perſpective können 
wir in dieſer Hinſicht eröffnen. Bei der 
Zubereitung eines Thieres zum Kochen 
Wenn 
man nun dieſe Haut wieder in der Weiſe 
zuſammenlegt, wie ſie den Körper des Thieres 
bekleidet und ſie mit irgend einem Stoff 
z. B. Moos ausfüllt, in der Art, wie unſere 
Thierausſtopfer verfahren, ſo ſtellt ſich die 
Geſtalt des Thieres wieder her. Wenn 
man nun die Haut des Thieres auf dem 
Boden ausbreitet und ein Stück dünnes, 
biegſames blechartiges Metall, etwa Gold— 
blech, genau nach den Umriſſen dieſer Thier— 
haut zuſchneidet und darauf dieſes Blech 


ſo zuſammenlegt wie vorher die Haut beim 
Ausſtopfen, ſo erhält man natürlich in 
Blech nachgebildet die Geſtalt des Thieres 


wieder, die ſich auch ohne 
durch die Elaſticität des Metalls in pla— 
ſtiſcher Wölbung erhält. Daß es nun eine 
Stufe der Kunſt gegeben hat, wo man 


nach dem Modell der Thierhaut die Thier 


geſtalten bildete, bewieſen die ganz ohne 
Zweifel auf die beſchriebene Art herge— 


ſtellten, noch vorhandenen rohen Thiernach- 


bildungen, wie z. B. das germaniſche Mu— 
ſeum in Jena eine aufbewahrt. 


noch einen Einblick in die Entſtehung eines 


Zweiges der plaſtiſchen Kunſt. Ob man 


etwa auch den Fortſchritt machte, die er— 
haltene hohle, blecherne Form zum Eingießen 


Füllung 
können wir alſo auch ſie als wahrhaft 


So ge | 
währen uns die Manipulationen der Küche 


flüſſigen Metalls und alſo zur Herſtellung 
ſolider, gegoſſener Thiergeſtalten zu be— 
nutzen, iſt mir nicht bekannt, iſt aber an 
ſich nicht unwahrſcheinlich. 

Ein anderes: Unſer modernes Leben 
in der Eigenthümlichkeit, die es von dem 
aller vorhergehender Zeiten unterſcheidet, 
baſirt auf unſerer wunderbaren Induſtrie 
und dem ſtaunenerregenden Handels- und 
Verkehrsweſen. Dieſer ganze großartige 
Aufſchwung iſt aber erſt entſtanden durch 
die Erfindung der Dampfmaſchine und des 
Dampfkeſſels, und dieſe Erfindung führt 
die Sage zurück auf einen Kochtopf, deſſen 
hüpfender Deckel jenen erſten Erfinder auf 
den Gedanken brachte, die Kraft des 
Dampfes zu techniſchen Zwecken zu ver— 
werthen. Ein Kochtopf war es, der 
die Welt völlig veränderte, iſt doch auch 
der heutige Dampfkeſſel nichts anderes als 
ein großer Kochtopf. 
topf, wiſſen wir, führt ſeinen Urſprung 
zurück auf jene primitive Kochgrube im 
Boden, ſodaß wir in etwas paradoxer 
Redewendung ſagen könnten, „jenes Loch 
in der Erde“ ſei einer der Keimpunkte 
unſerer Induſtrie und unſeres modernen 
Lebens. Wie vorhin die plaſtiſche Kunſt, 


Erdgeborne betrachten. 

Daſſelbe Schlaglicht ſehen wir auf die 
Chemie fallen. Die Retorte, dieſes Univerſal— 
inſtrument des Chemikers, iſt auch nur ein 
Abkömmling des Kochtopfes, welchen der 
Alchemiſt, 

„Der in Geſellſchaft von Adepten 

Sich in die ſchwarze Küche ſchloß,“ 
allmählich zu der heutigen Retortenform 
umbildete. Und ſo kann auch die Chemie 
ihr Autochthonenthum nicht leugnen. 

Ja, ſelbſt die Muſik hat der Küche 
etwas zu verdanken. Ich meine nicht die 


Aber dieſer Koch- 


5 
348 


lieblichen Weiſen, die der ſiedende Keſſel 
ſummt, und die ſo reizend von Dickens 
in ſeinem herzigen „Heimchen am Heerd“ 
beſchrieben ſind, — es iſt ein roherer Klang, 
ein roheres Inſtrument, das der Küche 
entnommen und heute der Muſik unent— 
behrlich geworden iſt, ich meine die Trommel. 
In der That iſt die Trommel urſprünglich 
nichts geweſen als ein Holzgefäß, mit einer 
Thierhaut überſpannt. Beweis dafür die 
noch heute in Afrika gebräuchlichen trommel— 
artigen Lärminſtrumente bei Eskimos und 
vielen Indianern. 


der Keſſelpauken, 
ihren plebejiſchen Urſprung hin. 
Die Wiſſenſchaft hat uns gelehrt, daß 


wunderbaren Formen entſtehen, 
Organismen nennen, und deren complicirtes 


Der Unkundige entdeckt zwar 
einem entwickelten Organismus 


vorlegt. 
zwiſchen 


er findet es wohl gar unglaubhaft, daß 
jene complicirten Gebilde aus mikrofkopi— 
ſchen Körperchen erwachſen ſein ſollen. Aber 


Schultze, Die Entſtehungs 


Ja, der Name der 
höchſten Ariſtokratie in der Trommelwelt, 
deutet noch heute auf 


aus einfachen Zellen heraus allmählig jene 
die wir 


Weſen dem Forſcher ſtets neue Probleme 


und der einfachen Zelle keine Aehnlichkeit; 


geſchichte der Kochkunſt. 


der kundige Forſcher zeigt ihm Stufe für 
Stufe der Umbildung und ſtellt ſomit den 
Zuſammenhang zwiſchen der einfachſten 
Geſtalt der Zelle und dem verwickelten 
Organenkomplex als eine unleugbare That- 
ſache feſt. Jenes „Loch in der Erde“ iſt 
auch eine ſolche einfache Zelle. Wir haben 
die Entwickelung derſelben verfolgt, und 
wenn es auch unſere Bewunderung erregt, 
ſo wird es uns nun doch nicht mehr Wun— 
der nehmen, daß großartige Culturgebilde 
einen ihrer Keimpunkte, abgeſehen natür- 
lich von vielen anderen Keimpunkten, in 
jener einfachen Zelle haben, welche der 
Menſch in Urzeiten zur Stillung ſeines 
Hungers in die Erde grub, und die ſeine 
erſte Küche bildete. 

Unter dem forſchenden und keine Er— 
ſcheinung gering achtenden Blicke der mo— 
dernen Anthropologie wirft die Kochkunſt 
ihr von Rauch und Ruß geſchwärztes 
Aſchenbrödelgewand plötzlich ab, und phönix— 
artig hebt ſie ſich zu einer mächtigen 
Königin empor. Wer wollte aber einer 
Königin den Zutritt in den Tempel der 
Wiſſenſchaft verſagen?! — 


Kleinere Mittheilungen. 


Die Lücken der Kant'ſchen 
Weltbildungs-Theorie. 


* 


| 


ieſe Theorie zeigt, wie Freiherr du 
rel im vorigen Hefte nachwies, 
eine Reihe weſentlicher Lücken, von 

denen keine ſo empfindlich erſcheint, als 

die Ungewißheit, durch welche Kraft der erſte 
Anſtoß zur Rotation der einzelnen Syſteme 
hervorgebracht ſein könnte. Der Referent 
hatte ſeine Meinung ſchon früher dahin ausge— 
ſprochen, daß dieſe Kraft in einem durch 
die Anziehungskraft hervorgerufenen excen— 
triſchen Stoße geſucht werden müſſe, und 


freut ſich, eine ausführliche Begründung 


dieſer Meinung in einer Abhandlung zu 
finden, die von Mr. Jacob Ennis im 
Philosophical Magazine (Vol. III. Nr. 18. 
April 1877) veröffentlicht worden iſt, und 
von der wir im Folgenden einen kurzen 
Auszug geben. 

Durch Zuſammenziehung des in dem un— 
endlichen Raume vertheilt geweſenen gas— 
förmigen Weltſtoffes mußte eine unendliche 
Anzahl getrennter, nebelförmiger Maſſen ſich 
bilden und, ähnlich den Wolken in unſerer 
Atmoſphäre, mußten ſie von ungleicher Größe 
und Geſtalt ausfallen, und ſich in unregel— 
mäßigen Entfernungen von einander befin— 
den, wie dies ſchon Newton erörtert hat. 


Durch die Wirkung der Gravitation werden 
ſodann diejenigen, welche einander nahe waren, 
in einander gefallen ſein, bis die entſtandenen 
Maſſen ſoweit von einander entfernt wa— 
ren, daß ſie außerhalb der Grenzen merk— 
licher Gravitation gegen einander lagen. 
So lange aber ein Nebel in einen andern 
fiel, konnte er niemals in der Richtung 
des Gravitationscentrums fallen, weil er 
ſich gleichzeitig unter dem Einfluſſe anderer 
benachbarter Nebel befand, welche ihn von. 
der direkten Richtung abzogen, und Vverur- 
ſachten, daß er ſchräge auffiel. Wenn wir 
eine ſchwebende Kugel in der Richtung des 
Mittelpunktes anſchlagen, ſo fliegt ſie ge— 
radeaus vorwärts, wenn wir ſie aber ſchräg 
anſchlagen, dann wird ſie ſich drehen. Ein 
ähnlicher Effekt muß durch das ſchräge 
Gegeneinanderfallen der Nebel entſtehen, 
nur daß die Drehung ſich hier nicht ſo— 
gleich der ganzen Maſſe gleichmäßig mit— 
theilen, ſondern vielleicht ſehr langſam von 
außen nach innen dringen wird, ſo daß erſt 
ſehr ſpät dieſe Anfangsbewegung auf die 
geſammte Maſſe vertheilt und natürlich ent— 
ſprechend verlangjamt werden wird. 

Wie langſam aber auch dieſe Rotation 
dadurch geworden ſein mag, daß ſie auf 
die geſammte Maſſe übergegangen iſt, durch 
die Gravitationskraft wird ihre Geſchwin— 
digkeit wieder beſchleunigt werden, bis an 
der Aequatorialzone die Centrifugalkraft 


Kleinere Mittheilungen. 


der centripetalen gleich geworden. Bei der 
Zuſammenziehung der langſam rotirenden 
Nebelkugel wird nämlich jedes Oberflächen— 
theilchen ſich in der Richtung einer geneig— 
ten Ebene bewegen, und die Gravitation 
wird ſeine Bewegung beſchleunigen. Die 
Zunahme der Geſchwindigkeit für jeden 
einzelnen Punkt der Oberfläche iſt gleich 


der, welche er bei einem direkten Fall von 


dem früheren Abſtande vom Mittelpunkte zu 
dem neuen Abſtande erreichen würde. Wenn 
z. B. von der Drehungsgeſchwindigkeit unſres 
Sonnennebels, als er ſich noch bis zur 


Neptunsbahn erſtreckte, ausgegangen wird, 
Geſchwindigkeitsvermehrung, 


ſo wird die 
welche durch die Zuſammenziehung bis 


zur Uranusbahn erzielt wird, dieſelbe ſein, 


wie die, welche durch einen direkten Fall 
durch den zwiſchen dieſen beiden Bahnen 
befindlichen Raum erzeugt werden würde. 
Die Rechnung ergiebt, daß die reſpektiven 
Geſchwindigkeiten des Neptun und Uranus 
ziemlich genau in dieſem Verhältniſſe ſtehen, 
nur iſt die des letzteren etwas geringer, 
weil beſtändig ein Theil der äußeren Ge— 
ſchwindigkeit durch Reibung gegen die lang— 
ſamer rotirende innere Maſſe 
ging. 

Man findet 
daß dieſe Beſchleunigung groß genug iſt, 
und ſogar mehr als ausreichend, um in 
dem äußern Theile einer Nebelmaſſe eine 
ſolche Rotationsgeſchwindigkeit zu erzeugen, 
daß die Centrifugalkraft der centripetalen 
gleich wird, ſodaß ſich Nebelringe von der 
Aequatorialzone loslöſen. Indeſſen wird 
dieſe Beſchleunigung immer mehr durch die 
Reibung gegen die innere Maſſe verzehrt, 
je mehr man ſich dem nicht rotirenden 
Centrum der ganzen Maſſe nähert. Daher 
kommt es, daß die Sonne, deren Aequa— 
torialgeſchwindigkeit,, als fie ſich noch bis 


ferner durch Rechnung, 


| 


verloren 


Mondringe abgeſchleudert haben; 


zur Merkursbahn erſtreckte, 110000 engl. 
Meilen pro Stunde betrug, jetzt nur noch 
4500 Meilen beträgt, und es erklärt ſich 
ferner dadurch leicht, weshalb kein neuer 
Planetenring innerhalb der Merkursbahn 
abgeſchleudert worden ſein kann. Dieſe dem 
urſprünglichen Zuſtande entſprechende Ruhe 


im Innern der Nebelmaſſen bildet, wie man 


ſieht, ein wichtiges Moment dieſer nach 
vielen Richtungen fruchtbaren Vertiefung 
der Nebeltheorie. 

Da die Theile des abgelöſten planeta— 
riſchen Ringes eine ungleiche Geſchwindig— 
keit beſitzen, ſo erklärt ſich wohl im All— 
gemeinen, wie durch die Zuſammenziehung 
derſelben zu einer Kugel eine Rotation der 
geſchwinder bewegten Theile um die langſame— 
ren, alſo des Weltkörpers um ſich ſelbſt, ent— 
ſtehen mußte, aber der Umſtand, daß aus 
jedem Ringe nur ein Planet entſtand, 
ſcheint noch nicht hinreichend erklärt zu 
ſein. Sehr wohl aber erklärt ſich aus die 
ſer Theorie, weshalb nur die größeren 
Planeten zum Theil in häufiger Wiederholung 
die Ne⸗ 
belmaſſe der Erde reichte gerade noch aus, 
um durch ihre eigene Zuſammenziehung die 


dazu nöthige Aequatorialgeſchwindigkeit zu 


erzeugen; bei Mars, Venus und Merkur 
fand dieſer Prozeß nicht mehr ſtatt, weil die 
Maſſe nicht hinreichend groß genug war. 
Die Venus iſt zwar nur etwa um die 
Mondmaſſe kleiner, als die Erde war, da 
der Mond ihr noch zugehörte, aber dieſer 
Unterſchied reichte gerade aus, um uns den 
Mond zu geben, der ihr fehlt. 

Am Schluſſe ſeiner Abhandlung ſtellt 
Jacob Ennis noch folgende, für die Kos— 
mogenie im weiteren Sinne wichtige Sätze 
auf. 5 

1. Ein ſehr ausgedehnter Nebel, 
deſſen urſprüngliche Rotation ſeine ganze 


e 


Maſſe durchdringt, kann eine Centrifugal— 
kraft erlangen, um faſt alle ſeine Materien 
weit ab von ſeinem Centrum zurückzulaſſen; 
und wie die Contraktion fortſchreitet, werden 
ſeine Ringe zerbrechen, und ſich zu Sternen 
kondenſiren, die ein ringförmiges Syſtem 
bilden, ähnlich dem in der Leyer, oder 
ähnlich unſerem eigenen Fixſternſyſtem, deſſen 
Sterne hauptſächlich in dem Milchſtraßen— 
ringe liegen. 


2. Ein Nebel mit einem anfänglich 
geringeren Rotationswerthe in ſeinem 


Innern wird ſeine hauptſächlichſten Maſſen 
nicht ſo weit vom Centrum zurücklaſſen. 
Aber es konnte dann eine gleichmäßigere 
Vertheilung vom Mittelpunkte zum Um— 
fange ſtattfinden, und ein Sternſyſtem ent— 
ſtehen, welches aus großer Entfernung als 
ſogenannter planetariſcher Nebel erſcheint. 
3. Ein Nebel mit einer noch geringe- 
ren Größe urſprünglicher Rotation in ſei— 
nem Innern wird eine noch geringere 
Maſſe ſeiner Subſtanz an der Peripherie, 
eine größere Menge hingegen in der Nähe 
des Centrums zurücklaſſen, und wird ein 


Sternſyſtem mit ſehr vielen, gegen das Cen- 


trum dichter ſtehenden Sternen bilden. 


Wird ein ſolches Syſtem ſchräge von uns | 


geſehen, jo wird es ein „elliptiſcher Nebel“ 
genannt. 
4. Ein Nebel mit einer nur ſeichten 


Oberflächen-Rotation im Anfange wird den | 


größten Theil feiner Maſſe in einem gro— 
ßen Centralkörper ſammeln. Seine zurück— 
gelaſſenen Ringe können zwar Millionen 
von Sternen bilden; aber aus ſehr großer 
Entfernung werden ſie als Nebelmaſſe 
rings um einen großen Centralkörper er— 
ſcheinen. Ein ſolches Sternſyſtem werden 


wir einen „Nebelſtern“ nennen. 
Nicht alle Sternſyſteme, die durch die 
Wirkung der Gravitation auf langſam ſich 


Kleinere Mittheilungen. 


351 


Nebelmaſſen 


zuſammenziehende 
wurden, brauchen regelmäßige runde oder 


gebildet 


elliptiſche Formen zu haben. So kön— 
nen Millionen von einzelnen Sonnen um 
ihr gemeinſames Gravitationscentrum krei— 
ſen, aber unregelmäßig liegen, gerade ſo 
wie unſer Sonneuſyſtem aus der Entfer— 
nung als ein ſehr unregelmäßiger Stern— 
haufen erſcheinen muß. Zum Schluſſe er— 
klärt ſich Ennis als Anhänger der 
Lockyer'ſchen Hypotheſe, nach welcher die 
urſprünglichen Nebel für ungeheure chemiſche 
Laboratorien angeſehen werden müſſen, in 
denen ſich die Modifikationen der Materie, 
die wir als die ſogenannten Elemente be— 
trachten, erſt bilden. 


Ein neues Schnabelthier auf 
Neu-Guinea. 


Die bisher aus nur drei Vertretern 
gebildete Klaſſe der niederſten Säugethiere 
iſt durch die Ermittlung einer neuen, auf 
Neu⸗Guinea vorkommenden Art durch Herrn 
Bruijn auf der Inſel Ternate um ein 
Haupt vermehrt worden. Herr Bruijn 


hat zwar das Thier weder lebend, noch todt 


geſehen, aber ſeine Sammler haben von 
den Gebirgs-Papua's zwei Schädel er— 
halten, von denen dem einen noch Reſte 
verrotteten Fleiſches anhafteten, zum Be— 
weiſe, daß das Thier nicht etwa bereits 
ausgerottet iſt. Auch verſicherten die Ein— 
gebornen, daß das hundegroße, rauhhaarige 
Thier in den Höhlen der Arfak-Berge nicht 
ſelten ſei, und von ihnen ſeines Fleiſches 


wegen zuweilen gejagt werde. Auf Grund 
des freilich etwas defekten und der untern 


Kinnlade entbehrenden Schädels, deſſen Ab— 
bildung wir nachfolgend derjenigen des auſtra— 


„% wer 


Kleinere Mittheilungen. 


. 
. 


>> 


Schädel des auſtraliſchen 
Landſchnabelthieres. 


liſchen Landſchnabelthieres gegenüberſtellen, Thieres mit den neuholländiſchen Landſchnabel— 
haben Dr. W. Peters und Marquis G. thieren feſtgeſtellt, daſſelbe aber wegen der 
Doria in Genua die Verwandtſchaft des ſchon bei oberflächlicher Vergleichung hervor— 


Kleinere Mittheilungen. 303 


tretenden Abweichungen als beſondre Art | 
unterſchieden und Tachyglossus (Echidna) 
Bruijnii getauft: Sie verwerfen nämlich 
den Namen Echidna, weil derſelbe bereits 
1778 von Foſter einer Fiſchgattung bei— 
gelegt worden war. Die wiſſenſchaftliche 
Beſchreibung iſt im neunten Bande der 
Annalen des ſtädtiſchen naturhiſtoriſchen 
Muſeums von Genua enthalten. Die Ent— 
deckung iſt nicht allein für die vergleichende 
Anatomie von hohem Intereſſe, ſofern es 
ſich um ein neues Glied der ſo ſehr dezi— 
mirten Thiergruppe handelt, welche Reptile, 
Vögel und Säugethiere mit einander zu 
verknüpfen ſcheint und möglicherweiſe be— 
merkenswerthe Aufſchlüſſe für die Trans— 
mutations⸗Theorie liefern kann, ſondern noch 
ganz beſonders für die Thiergeographie. 
Von den drei bisher bekannten Kloaken— 
thieren lebt das Waſſerſchnabelthier im 
Südoſten Auſtraliens, das langſtachlige 
Landſchnabelthier ebendaſelbſt und das kurz— 
ſtachlige auf Vandiemensland. Während 
alſo aus dem Innern, dem Norden und 
Weſten Auſtraliens kein hierher gehöriges 
Thier bekannt geworden iſt, ſchließt ſich 
dreißig bis vierzig Grade nach Norden den 
ſüdlichen Arten eine nördliche an und er— 
weckt Hoffnungen, daß auf dem großen 
Zwiſchengebiete in Zukunft noch ein oder 
das andere Mitglied des zuſammenge— 


ſchmolzenen Uebergangsſtammes anzutreffen 


ſein möchte. Außerdem iſt obiger Fund 
ein weiterer eklatanter Beweis für die 
Richtigkeit der Auffaſſung, die Auſtra— 
lien mit Neu-Guinea und den benachbarten 
kleineren Inſeln längſt als ein beſondres 
zoologifches Reich betrachtet hatte, welches 
ſich merkwürdig ſcharf gegen das der (zum 
Theil ſehr nahen) Sunda⸗Inſeln abgrenzt. 


Die Grannen von Ariſtida. 


Das Hochland der Provinz Santa 
Catharina iſt reich an Gräſern mit dreh— 
baren Grannen. Auf zwei Ausflügen da— 
hin, im Vorſommer (November, December) 
des vorigen und im Nachſommer (Februar, 65 
März) dieſes Jahres habe ich gegen zwan— 
zig Arten ſolcher Gräſer geſehen. Indem 
die Grannen je nach der wachſenden oder 
abnehmenden Feuchtigkeit der Luft ſich rechts 
oder links drehen, bohren ſich die unten 
mit harter, ſcharfer Spitze und einem ſchief 
aufwärts gerichteten Barte ſteifer Haare 
verſehenen Aehrchen in den Boden ein, 
wie es Francis Darwin vor kurzem 
bei Stipa ausführlich beſchrieben hat 
(Trans. Linn. soc. vol. I. part. 3. 
p. 149. 1876). — Unter dieſen Gräſern 
unſeres Hochlandes finden ſich auch mehrere 
Arten der Gattung Aristida, bei wel- 
chen die das Einbohren in die Erde ver— 


| mittelnden Einrichtungen den höchſten Grad 


der Vollkommenheit erreichen. Es iſt näm— 
lich bei ihnen die Granne mehr oder we— 
niger tief, bisweilen faſt in ganzer Länge, 
in drei Aeſte geſpalten, die ſich beim Trock⸗ 
nen ziemlich wagerecht ausbreiten (den Sa— 
men ſenkrecht ſtehend gedacht). So kann 
das trocken zu Boden fallende Aehrchen 
niemals flach auf denſelben zu liegen kom— 
men, was natürlich das Einbohren erleich- 
tert. Je länger im Verhältniß zur Frucht 
und zum ungeſpaltenen Theile der Granne 
deren Aeſte ſind, um ſo ſteiler wird ſich 
daſſelbe ſtellen müſſen; faſt ſenkrecht ſteht 
es bei einer Art, deren Grannenäſte etwa 
Spannenlänge (0,2 M.) erreichen. Man hat 
oft Gelegenheit, die in den Boden einge— 
bohrten Früchte dieſer Art zu ſehen. Am 
7. März kam ich auf der nordwärts nach 
der Provinz Parana führenden Straße in 


354 Kleinere Mittheilungen. 


der Nähe des Rio das Pedras an einen 
kahlen, dürren Abhang, der faſt ausſchließ— 
lich mit dieſer Aristida bewachſen war. 
In Folge anhaltender Dürre war der 
Boden ungewöhnlich hart und ſeit Monaten 
nicht von Regen benetzt worden, und doch 
war — ein ganz eigenthümlicher Anblick — 
die Erde zwiſchen den Grasbüſchen wie beſät 
mit eingebohrten Früchten, die alleſammt ſenk— 
recht ſtanden und die langen Grannenäſte 
wagerecht ausbreiteten. Hier und da ſproß— 
ten ſchon die jungen, grünen Grasblättchen 
an der Seite der Grannen hervor. Auf 
der Erde liegend würden an ähnlichen 
Stellen bei trockenem Wetter die Samen 
nie keimen können, während der Thau der 
Nacht genügt, ſie in die zum Keimen hin— 
reichende Feuchtigkeit bietende Erde einzu— 
ſenken. Unſerem feuchten Küſtengebiete 
ſcheinen Samen mit Drehgrannen ganz zu 
fehlen. Dagegen iſt wohl die ganze Gat— 
tung Stipa vorzugsweiſe in übertrockenen 
Gegenden und an übertrockenen Standorten 
heimiſch. 

Merkwürdig iſt es, daß eine der Ari— 
ſtida-Arten die hochentwickelten Formen zum 
Einbohren der Früchte wieder verloren und 
ſich in ganz eigenartiger Weiſe der Ver— 
breitung durch den Wind angepaßt hat. 
Der dünne Halm dieſes Graſes wird etwa 
ſpannenhoch und trägt vom erſten Drittel 
ſeiner Höhe ab paarweiſe geſtellte, in ver— 
ſchiedenen Richtungen ſich ausſpreizende, 
gegen 0,1 M. lange, haardünne Aeſte, 
welche ihrerſeits in gewöhnlich zwei bis 
drei Zweige ſich theilen. Jeder Zweig 
trägt ein dünnes Aehrchen, das Aehrchen 
gegen 12 Millim. lang, eine ungefähr 
gleich lange, ungedrehte, gerade Granne 
mit ſeitlichen, nur etwa ein Viertel dieſer 
Länge erreichenden Aeſten, die mit dem 


mittleren Aſte einen ganz ſpitzen Winkel von 


nur wenigen Graden bilden. Im Ganzen 
ſind etwa ſechs Hauptäſte des Halmes und 
24 bis 30 Aehrchen vorhanden. Zur Zeit 
der Reife fällt nun der ganze Halm ab 
und wird vom Winde über die Grasfluren 
(Campos) hingetrieben. In Fußpfaden 
fand ich hier und da völlige Heuſchichten 
dieſer ſparrig veräſtelten Ariſtida-Halme zu⸗ 
ſammengeweht. Die Aehrchen ſcheinen ſich 
nie von den Halmen zu löſen. Bricht 
man fie ab, jo ſieht man noch die für 
bohrende Samen ſo bezeichnende Spitze 
mit dem Barte ſchief aufwärts gerichteter 
Haare, als Beweis, daß die Vorfahren 
auch dieſer Ariſtida einſt das Vermögen 
ſich einzubohren beſaßen. 

Itajahy, April 1877. 

Fritz Müller. 


Ueber den Mutzen der Blattdrüfen 
für die Pflanzen 


hat Herr Francis Darwin in jüng⸗ 
ſter Zeit in verſchiedenen engliſchen Jour⸗ 
nalen eine Reihe intereſſanter Studien und 
Betrachtungen veröffentlicht, aus denen wir 
zuſammenfaſſend das Folgende entnehmen. 
Durch die Unterſuchungen ſeines Vaters 
über inſektenfreſſende Pflanzen auf dieſes 
noch viele Ausbeute verſprechende Feld ge— 
lenkt, hatte es ſein Erſtaunen erregt, daß 
der Adlerfarn (Pteris aquilina), der in 
England äußerſt wenig Feinde zu beſitzen 
ſcheint, an der Baſis ſeiner jungen Wedel 
reichlich mit Honig ausſondernden Drüſen 
beſetzt iſt, welche Ameiſen, insbeſondere 
Myrmica-Arten, anlocken, ohne daß dadurch 
irgend ein Vortheil für das Gewächs er— 


reicht zu werden ſcheint.?) Der Nutzen, 


) Linnean Society's Journal Bd. XV. 


Kleinere Mittheilungen. 


einer ſolchen Einrichtung kann indeſſen oft 
ſehr verſteckt ſein, wie das klaſſiſche, von 
Obriſt Newmann aufgeſtellte Beiſpiel 
des Nutzens der Hauskatze für das Samen— 
tragen des rothen Klees (durch Vertilgung 
der Feldmäuſe als Hauptfeinde der die 
Befruchtung vermittelnden Hummeln) be— 
weiſt. In der That theilte Dr. Fritz 
Müller dem Genannten hinſichtlich des 
auch in Brafilten einheimiſchen Adlerfarns 
mit, daß die Honigausſchwitzungen deſſel— 
ben ohne Zweifel dazu dienen, die jungen 
Wedel vor den Angriffen einer blattzer— 
freſſenden Ameiſe (Oecodoma) zu ſchützen, 
wie etwas Aehnliches bei der Paſſions— 
blume, der Luffa und vielen anderen Pflan 
zen nach den Beobachtungen von Delpino, 
Belt und Fritz Müller ſtattfindet. 
Die Drüſen des braſilianiſchen Adlerfarns 
werden nämlich eifrig von einer kleinen, 
ſchwarzen Ameiſe (Crematogaster) beſucht, 
mit welcher die Erſtgenannte auf dem 
Kriegsfuße lebt. Dr. Fritz Müller 
beobachtete ſelbſt, daß wenn jene für den 
geſpendeten Honig anſcheinend Wächter— 
dienſte verrichtende Ameiſe nicht auf dem 
Poſten war, die Oecodoma erſchien und 
das junge Laub zernagte. Hier wie in 
ähnlichen Fällen iſt es nur das junge 
Laub, welches eines ähnlichen Schutzes 
bedarf, der ältere Wedel kann ohne Gefahr 
feine Drüſen einbüßen, weil er keine Lieb— 
haber mehr findet. Francis Darwin, 
indem er dieſen Brief mittheilt*), bemerkt, 
daß ſich allerdings annehmen laſſe, der 
Adlerfarn könne in einem Lande zuerſt 
aufgetreten ſein, wo er der Ameiſen oder 
anderer Thiere als Schutzwachen bedurfte, 
aber er hält es mit feinem Vater!“) für 


) Nature No. 397, June 1877. 
) Die Wirkungen der Kreuz- und Selbſt— 
befruchtung. Deutſche Ausgabe, 1877, S. 389. 


wahrſcheinlicher, daß die Abſonderung von 
Zuckerſäften durch die Blätter und Stengel 
mit irgend einem unbekannten Ernährungs- 
vorgange in Verbindung ſtehe und ſich 
allerdings einigemale zur Anlockung von 
Thieren bewährt habe, welche höchſt eifer— 
ſüchtig ihre Nutzpflanzen vor Angriffen 
aller Art ſchützen, wie es insbeſondere bei 
der von Belt ſo ſchön beſchriebenen Aca- 
cia sphaerocephala und der von Fritz 
Müller ſtudirten Ceeropia peltata der 
Fall iſt. 

Zu der eben angedeuteten Auffaſſung, 
nach der die Drüſen des Adlerfarns eine 
Erbſchaft aus früheren Zeiten ſein könnten, 
bemerkt Mr. Thomas Belt“): „Prof. 
Heer hat gezeigt, daß in den miocänen 
Pflanzen-Ablagerungen von Oeningen und 
Radoboj die Ameiſen unter den foſſilen 
Inſekten die größte Zahl ausmachen, und 
im Jahre 1849 konnten bereits mehr als 
66 Arten von dieſen beiden Fundſtellen 
beſchrieben werden. . . . . Unter den foſ— 
ſilen Ameiſen von Radoboj befinden ſich 
Arten der jetzt im tropiſchen Amerika vor— 
kommenden Gattungen Atta und Ponera, 
insbeſondere eine, die der ſeltſamen Atta 
cephalotes Südamerikas in dem Flügel— 
Geäder wie in der allgemeinen Geſtalt 
ähnlich iſt. Da nun jetzt überhaupt nur 
40 Ameiſen-Arten in ganz Europa exiſtiren, 
ſo iſt deutlich, daß ſie in der Miocän— 
Epoche eine wichtigere Rolle geſpielt haben 
als jetzt. Es mögen alſo damals Pflau— 
zen den Angriffen von Feinden ausgeſetzt 
geweſen ſein, die mit der allgemeinen Ver— 
armung der Flora und Fauna, welche in 
den nachpliocänen Zeiten ſtattfand, unter— 
gegangen ſind. Damals aber mag die 
Beſchützung der jungen, unentfalteten und 


) Nature No. 398, June 1877. 


356 


zarten Blatttriebe durch von Nektardrüſen 
herbeigelockte Ameiſen einigen Pflanzen in 
Europa ebenſo wichtig geweſen ſein, wie ſie ſich 
heute noch manchen Pflanzen der inſekten— 
reicheren Gegenden Südamerikas erweiſt. 
Bezüglich der Ausdauer der Nektardrüſen 
bis zur Jetztzeit in Europa muß bemerkt 
werden, daß viele Pflanzen identiſch ſind 
mit ſolchen, die ſchon in der Miocän-Zeit 
lebten, und die weltweite Verbreitung der 
Pteris aquilina deutet in der That dar— 
auf hin, daß ſie eine ſehr alte Art iſt. 
Wenn aber eine Pflanze nicht anderweitig 
abgeändert hat, ſo beſteht auch kein aus— 
reichender Grund, warum ſie es hinſichtlich 
der ihr poſitiv nicht ſchädlichen Honigabſon— 
derung gethan haben ſollte. Ich habe 


kürzlich in meinem Garten beobachtet, daß 


die Ameiſen, welche die Drüſen an dem 


Blattgrunde der Kirſchen, Pflaumen, Pfir— 
ſiche und Aprikoſen ausbeuten, mit ihren 
Antennen diejenigen Drüſen 
welche ſie bei ihrer Ankunft nicht fließend 
finden, gerade wie ſie bei den Blattläuſen 
verfahren. 
ken können, ob fie damit eine Nektarabſon— 
derung erzielten, aber ſeit ich ein Schüler 
Darwin's geworden bin, habe ich mich 
überzeugt, daß der unbedeutendſte Neben— 
umſtand der Beachtung werth iſt, und es 
mag ſein, daß die leichte Reizung der 
Drüſen hinreichen mag, eine wenn auch 
nutzlos gewordene Einrichtung weiter zu 
erhalten. Es iſt indeſſen vielleicht zu kühn, 
anzunehmen, daß die Drüſen europäiſcher 
Pflanzen überhaupt nutzlos wären. Dar— 
win weiſt vielmehr auf die große Wahr— 
ſcheinlichkeit hin, daß die Abweſenheit der 


Drüſen an den Blättern von Pfirſichen, 


Nektarinen und Aprikoſen zu Mehlthau— 
bildung Anlaß gäbe.“ So weit Th. Belt 
in ſeinem Briefe vom 9. Juni 1877. 


ſtreicheln, 


Ich habe nicht wirklich bemer- 


Kleinere Mittheilungen. 


Eine 


andere 


Unterſuchung, 
Francis Darwin über eine beſondere 
Art von Drüſenhaaren der gewöhnlichen 


welche 


Kardendiſtel (Dipsacus silvestris) au- 
ſtellte, lieferte höchſt merkwürdige Reſul— 
tate.“) Die gegenüberſtehenden Blätter 
dieſer Diſtel bilden nämlich durch Ver— 
wachſung ihrer Ränder, im zweiten 
Jahre, in welchem die Pflanze zum Blühen 
kommt, Waſſerbehälter, in denen ſich die 
atmbſphäriſchen Niederſchläge ſammeln, von 
welcher Eigenthümlichkeit die Pflanze ihren 
uralten Namen Dipsaeus (divaxog, die 
Durſtige) erhalten hat. Man nannte ſie 
auch wegen der in mehreren Abſätzen des 
Stengels ſich wiederholenden Becken La- 
brum Veneris, d. h. Venus' Waſchbecken. 
Wir haben ſchon früher im Kosmos **) 
der ſehr wahrſcheinlichen Meinung von 
Prof. Kerner erwähnt, nach welcher 
dieſe Waſſerbecken dem Stengel vor dem 
Emporkriechen flügelloſer Infekten Schutz 
gewähren. Mit dieſer Meinung verträgt 
ſich ganz vortrefflich eine weitere Bildungs— 
eigenthümlichkeit des mit Stacheln beſetzten 
Stengels. Seine Stacheln enden nämlich 
plötzlich über dem Spiegel des Waſſers 
in den Tellern und verhindern ſomit, daß 
die ertrinkenden Opfer eine Leiter zum 
Entweichen finden. Ganz dem an letzt— 
genannter Stelle erwähnten Falle bei Po— 
lygonum amphibium entſprechend, ſind 
die im erſten Jahre, in welchem ſie kein 
Waſſer auffangen können, von langen, 
ſcharfen Haaren rauhen Blätter nunmehr 
faſt völlig glatt, ſo daß die Inſekten, 
welche den abſchüſſigen Rand eines Beckens 
erreicht haben, dadurch um ſo ſicherer 
ihrem naſſen Grabe zugeführt werden. 


Quarterly - Journal 


of microscop. 


0 


Science, April 1877. 


**) Heft 1, 1877, S. 80. 


Kleinere Mittheilungen. 357 


Auf denſelben Beckenblättern finden ſich 
aber 0,01 Millim. lange Drüſenhaare, die 
auf einer cylindriſchen Hohlzelle ein viel— 
zelliges, birnförmiges Köpfchen tragen, aus 
deſſen domförmiger Wölbung zu Zeiten 
ein zitternder, bis einen Millimeter langer 
Protoplasma-Faden bis in das Waſſer 
hervorſchießt, ſich zu einem Häkchen biegt, 
oder in mehrere Fäden mit Knötchen ver— 
theilt, dabei unausgeſetzt die zitternden 
Brown'ſchen Bewegungen zeigt. Die Maſſe 
dieſer Fäden iſt gallertartig, durchſichtig, 


ſtark lichtbrechend und körnchenfrei, dagegen 


zeigen die chemiſchen Reactionen, daß ſie 
ſuspendirte Harztheile enthält. Die merk— 
würdigſte Eigenthümlichkeit dieſer Fäden iſt 
ihre Fähigkeit, lebhafte Einſchnürungen an 
einer Reihe von gleich abſtehenden Punk— 
ten, die in der Nähe des freien Endes 
beginnen, auszuführen, worauf der Inhalt 
des Fadens ſich, wie es in der Kriegs— 
ſprache heißt, rückwärts concentrirt und auf 


dem Knöpfchen der Drüſe anſammelt. Da 


abgebrochene Fäden ihre Vitalität behalten 
und fähig bleiben, ſich zuſammenzuziehen, 
ſo muß man ſchließen, daß dieſe Lebens— 
äußerungen der Protoplasma-Maſſe ſelbſt 
angehören. Dieſelben konnten außerdem 
künſtlich hervorgerufen und geſteigert wer— 
den durch Anwendung der verſchiedenſten 
chemiſchen und phyſikaliſchen Reizmittel, 
ohne daß es ſich um ein Gerinnen des 
Protoplasmas handelte. Beſonders merk— 
würdig war das Verhalten gegen die 
kohlenſauren Salze des Ammonium, Ka— 
lium und Natrium in ſehr verdünnten, 
viertel- bis halbprocentigen Löſungen, ſo— 
wie gegen eine kalt bereitete Fleiſchbrühe. 
In dieſen Flüſſigkeiten nämlich, über deren 
Einwirkung auf die Drüſen des Sonnen— 
thaus Darwin ſo ergebnißreiche Verſuche 
angeſtellt hat, ziehen ſich die Protoplasma— 


Fäden der Kardendiſtel nach den Unter— 
ſuchungen ſeines Sohnes zuſammen, wer— 
den dann von Neuem hervorgeſchleudert 
und verwandeln ſich ſchließlich in eine 
ballon- oder wurſtförmige Maſſe von ſehr 
durchſichtiger und ſtrahlenbrechender Sub— 
ſtanz, in der man merkwürdige, freiwillige 
Formveränderung und gleichſam amöben— 
artige Bewegungen beobachtet. 
Fleiſchaufguß hat denſelben 
bewirkt das Entſtehen ganz erſtaunlicher 
Mengen dieſer durchſichtigen Subſtanz. 
Da nun dieſe Fäden ſich in das ſtets 
Ammoniakſpuren enthaltende Thau- und 
Regenwaſſer der ſogenannten „Venus— 
Waſchbecken“ der Kardendiſtel erſtrecken, 
deſſen ſalziger Geſchmack bereits den alten 
Naturforſchern“) aufgefallen war, und in 
denen meiſt auch die Körper ertrunkener 
Inſekten verweſen, ſo liegt es nahe, anzu— 
nehmen, daß dieſe Fäden einem Ernährungs- 
prozeſſe, einer Aufnahme der ſtickſtoff— 
haltigen Subſtanzen dieſer kleinen, ſich in 
den verſchiedenſten Höhen des Stengels 
wiederholenden Waſſerbecken angepaßt haben. 
Daß ſie dagegen urſprünglich ausſondernde 
Drüſen der verbreiteten Art waren, darauf 
ſcheint der Harzgehalt des ausgeſonderten 
Schleimes hinzudeuten, wie denn dieſe 
Drüſen ganz analog anderen Harzdrüſen 
mit einer Schicht Harz bedeckt zu ſein 
pflegen, in welcher ſich Spuren der ab— 
geſtorbenen Protoplasmaſubſtanz befinden. 
Man darf alſo etwa annehmen, daß ur— 
ſprünglich bloßen Abjonderungs- 
prozeſſe dienende Drüſen ſich hier der 
Nahrungsaufnahme bis zu einem ge— 
wiſſen Grade angepaßt haben. Indeſſen 
finden ſich genau ähnliche Fäden empor— 
ſchleudernde Drüſen auch an den Samen— 
blättern von Dipsacus silvestris und 
Plinius, h. n. XXVII. S. 43. 


Verdünnter 
Effekt und 


einem 


47 


er 


De rm m 


358 


D. pilosus, und da in keinem dieſer beiden 


Fälle Becken gebildet werden, ſo können 
dieſe Fäden kaum in Zuſammenhang ge- betreffenden Gegend die Oberhand gewinnen 
bracht werden mit der Aufnahme anima- 


Die einzige 


liſcher Verweſungsprodukte. 
Auſicht, welche ſich hier aufdrängt, iſt, daß 
die Fäden aus den dieſe Blätter treffenden 
Thau- und Regentröpfchen Ammoniak ab- 
ſorbiren. Neuere Unterſuchungen haben 
gezeigt, daß manche Blätter die Fähigkeit 
beſitzen, unendliche Mengen von Ammoniak 
zu abſorbiren, und man kann ſich dann 
allerdings wohl vorſtellen, daß dieſe An— 
paſſung in den Drüſenhaaren der Becken 
weitere Fortſchritte gemacht hat. Die 
wilde Karde unſrer Wälder iſt durch dieſe 
Unterſuchungen zu einem höchſt intereſſanten 
Verſuchsobjekte der Wiſſenſchaft geworden, 
während die durch die Kultur aus ihr 
hervorgegangene Schweſter, die Weberkarde, 
ihre praktiſche Bedeutung eingebüßt hat. 


Schleunige Vervielfältigung einer 
Mißbildung durch Erbſchaft. 
In der Sitzung der Pariſer Akademie 

der Wiſſenſchaften vom 30. April dieſes 

Jahres lenkte Herr Martinet die Auf— 

merkſamkeit der Mitglieder auf einen bemer— 

kenswerthen Fall von Erblichkeit einer Miß— 
bildung. Im Jahre 1871 zeigten mehrere 

Hühner einer Pachtung eine Polydactylie, 

die ſie von einem fünfzehigen Hahn geerbt 

hatten, bei dem dieſelbe freiwillig aufge— 
treten war. Die Mißbildung pflanzte ſich 
rapide fort, bis im Jahre 1873 eine Epi⸗ 
demie den Geflügelhof verwüſtete. 
konnte nur einen einzigen Hahn und einige 

Hennen der anormalen Sorte retten. Heute 

aber iſt, ohne irgend eine Auswahl, dieſe 

Abänderung bereits wieder ſehr zahlreich 

vertreten, ja ſie hat ſich in Folge eines 


— ——— —E—— ũ-— 


Kleinere Mittheilungen. 


Man 


Eier-Austauſches auf mehrere benachbarte 
Pachtungen ausgedehnt, ſo daß ſie in der 


wird, wenn nicht irgend ein natürliches 
oder künſtliches Hinderniß dazwiſchen tritt. 


Die Lebenszähigkeit des menfd)- 
lichen Embryo. 


Bei Gelegenheit einer neueren Beobach⸗ 
tung von A. Zuntz über die auffallende 
Lebenszähigkeit der Keime des ſpäter 
ſo „anſtößigen“ Menſchen, erzählt Profeſ— 
ſor Pflüger in ſeinem Archiv für 
Phyſiologie (Band XIV. S. 628), 
daß ihm an einem Novemberabend des 
Jahres 1861 ein vor einigen Stunden 
gebornes Menſchenei gebracht worden ſei, 
welches nach ſeiner Größe etwa achtzehn 
bis zwanzig Tage alt ſein mochte. Er 
legte es zwiſchen zwei Uhrgläſer in die 
Schublade einer in einem kalten Zimmer 
ſtehenden Kommode, um es erſt am näch⸗ 
ſten Morgen zu unterſuchen. Bei der Er- 
öffnung des Eies auf der Objektplatte fei- 
nes Mikroſkopes bemerkte der Beobachter 
plötzlich zu ſeinem nicht geringen Erſtaunen, 
daß das einen 8 förmig gekrümmten 
Schlauch darſtellende Herz ſich in Pauſen 
von zwanzig bis dreißig Sekunden regel— 
mäßig zuſammenzog, wie er es an andern 
Thierembryonen in dieſer Periode oftmals 
geſehen hatte. Dieſe, wie die entſprechende 
Beobachtung von A. Zuntz zeigen, „daß 
ein ſo verletzbares Geſchöpf wie der Menſch, 
in feinen allerjüngſten Zuſtänden an Lebens⸗ 
zähigkeit kaum den niedern Thieren oder 
gar deren Keimen nachſteht, — wie in 
morphologiſcher Entwickelung, ſo auch in 
der funktionellen Entfaltung ſeinen Stamm⸗ 
baum bezeugend.“ 


Darwin versus Galiani.“) 


s war vor hundert Jahren“ — «> 


al 
U zählt Du Bois-Rey mond — 
AR un Tiſch im Salon des Grand-Val. 
Da war beiſammen jene geiftreich-über- 
müthige Geſellſchaft, die wir aus Diderot's 
Briefen an Mlle. Voland kennen, als wären 


auch wir Gäſte unter dem Holbach'ſchen Dache 


geweſen. Da war Diderot ſelber, der 
deutſcheſte der Franzoſen, und Grimm, 
der franzöſiſchſte der Deutſchen, der gräm— 
liche Schotte Hoop und der kleine neapo— 
litaniſche Abbé Galiaui, deſſen luſtige 
Beweglichkeit oft tiefen Sinn barg. Da 
waren jene Frauen, deren gefährlichen Rei⸗ 
zen Rouſſeau's „Confessions“ Unfterb- 
lichkeit verliehen, wie Ilias und Odyſſee 
denen der Helena. 

Man ſprach nach der Gewohnheit jener 
guten Zeit, in der die Feſſeln des Aber- 
glaubens zerſprengt ſchienen — und die, Sonne 
des ſchönſten Tages die geiftige Welt“ erleuch— 
tete und erwärmte — viel von dem großen 


) Rede, in der öffentlichen Sitzung der 
königl. preuß. Akademie der Wiſſenſchaften zur 
Feier des Leibniz'ſchen Jahrestages am 
6. Juli 1876 gehalten, von Emil Du Bois- 
Reymond. Berlin, Verlag von A. Hirſch— 
wald. 


Titeratur und Kritik. 


Friedrich und dem allerwärts angebeteten 
Voltaire. Trotz aller Anbetung aber 
konnte man's nicht verwinden, daß er 
eigentlich ein „unverbeſſerlicher Deiſt ſei“. 
„Um's Himmelswillen keine Metaphyſik!“ 
rief eines Tages Galiani, als dieſe Anſicht 
wieder erörtert wurde, dazwiſchen, und er— 
zählte von einem Taſchenſpieler, der in 
ſeiner Anweſenheit gewettet habe, mit ſeinen 
Würfeln jedesmal einen Sechſerpaſch zu. 
werfen — und die Wette gewonnen hätte. 
„Ihr habt uns zum Beſten!“ rief es 
von allen Seiten. „Oder die Würfel 
waren falſch!“ N 
„Natürlich waren fie falſch — und 
das war ja eben der Spaß. Der Taſchen e. 
ſpieler hatte gar nicht geſagt, daß er mit 
richtigen Würfeln jedesmal einen Sechſer— 
paſch werfen werde. Wer ſeine Sinne 
beiſammen hatte, konnte im Voraus rathen, 
daß die Würfel falſch ſeien, und die, welche erſt 


darauf kamen, nachdem ihnen ihr Geld 


abgenommen war, wurden tüchtig ausge 
lacht. Aber da habt Ihr's! Fallen zwei 
Würfel einmal nach einander auf dieſelbe 
Seite, ſo haltet Ihr es, denn Ihr ſeid keine 
Lazzaroni, für unmöglich, daß dies Zufall 
ſei. Ihr ſchließt mit zweifelloſer Gewißheit, 
daß eine geheime, auf dieſe Wirkung be— 
rechnete Urſache in Geſtalt von etwas Blei 
den Würfeln einverleibt wurde. Seht Ihr 


aber um Euch her dies Weltall mit feinen 
unzählbaren Sonnen, Planeten und Mon— 
den, die im Leeren aufgehangen, rhythmi— 
ſchen Schwunges Jahrtauſende lang ihre 
Bahn vollenden, ohne je einander zu treffen; 
ſeht Ihr auf dieſem Erdballe Veſte, Meer 
und Luft, Sonnenſchein und Regen ſo ver— 
theilt, daß tauſend Pflanzen, Land-, Waſſer⸗ 
und Luftthiere fröhlich wimmelnd gedeihen; 
ſeht Ihr den Wechſel von Tag und Nacht, 
von Winter und Sommer allen dieſen 
Weſen genau mit den nöthigen Bedingungen 
zu Thätigkeit und Ruhe, zu Stillſtand und 
Wachsthum ſegensreich begegnen; ſeht Ihr 
in Eurem eigenen Körper jedes Theilchen 
ſeines unſagbar verwickelten Baues gerade 
das leiſten, was des Ganzen Wohl erheiſcht, 
wie umgekehrt es allein im Ganzen zu be— 
ſtehen vermag; ſeht Ihr in Euren Glied— 


Literatur und Kritik. 


Ihr die Biene, trotz dem gelehrteſten Aka— 
demiker, ihr Zellenproblem löſen, die 
Spinne ihr Seilpolygon ſpannen, den 
Maulwurf ſeine Minenhöhlen, den Biber 
ſeine Deiche ziehen; ſeht Ihr noch dazu in 
dem Allem mit dem Nützlichen das Ange— 
nehme verbunden, Pracht, Zier und An— 
muth verſchwenderiſch darüber ausgegoſſen; 
Flora's Kinder lieblich ſich ſchmücken, den 
Schmetterling ſchimmernd ſie umgaukeln, 
den Pfau ſein Rad ſchlagen; zeigt Euch 
endlich Herr Needham unter ſeinen Linſen 


jeden Tropfen Eſſig oder Kleiſter wieder 


von ſo viel Weſen belebt, wie Herr von 
Caſſini mit feinem Rohre Welten Euch 


erblicken ließ, ſo ſagt Ihr getroſt, es iſt 


maßen, Eurem Auge, Eurem Ohre, des 


Mechanikers, des Optikers, des Akuſtikers 
tiefſte Weisheit ſo weit überflügelt, daß 
Freund d' Alembert, daß dort in 
Petersburg der große Euler e tutti 
quanti wie Narren davor ſtehen; ſeht 
Ihr dieſe Maſchine, neben welcher Eures Le 
Roy's feinſte Uhr wie ein plumpes Mühl— 
werk, Vaucanſon's ſinnreichſte Androide 
wie eine armſelige Spielerei ſich ausnehmen, 
durch Uebung ſich ſelber vervollkommnen, und 
wenn beſchädigt, ſelber ſich ausbeſſern; ſeht Ihr 
ſie gar ſich ſelber vervielfältigen, Mann 
und Weib auf das Reizendſte, Mutter und 
Kind auf das Liebevollſte einander ange— 
paßt; zeigt Euch im Jardin du Roi Herr 
von Buffon in hundert Thiergeſtalten, 
vom Elephanten bis zur Spitzmaus, eben— 
ſoviele Ebenbilder Eurer eigenen Organiſa— 
tion, alle in ihrer Weiſe befähigt, ihr 
Leben zu genießen, ihrer Beute nachzuſtellen, 
ihrer Feinde ſich zu erwehren, ſich fortzu— 
pflanzen und ihre Brut zu pflegen; ſeht 


Zufall. Und doch bietet uns die 
Natur dasſelbe Schauſpiel, als würfe einer 


mit unendlich viel Würfeln jeden Augen- 


blick einen vorher angekündigten Paſch. 
Ich, meine Damen und Herren, urtheile 
anders. Ich ſage, die Würfel der 
Natur ſind gefälſcht, und dort 
oben ſpottet unſer der größte der 
Taſchenſpieler!““) 

„Der Apolog der des pipés machte 
einen gewaltigen Eindruck auf die Encyklo— 
pädiſten, wie aus einer Stelle im Systeme 
de la nature zu erſehen iſt, wo ſich Hol— 
bach vergebens von demſelben zu befreien 
ſucht, die Molekeln der Materie ſelbſt mit 
falſchen Würfeln vergleicht und endlich zum 
Schluſſe kommt, daß der Kopf Homer's 
und Virgil's nichts als Aggregate von 

) In den Memoires (inedites) de ’Abbe 
Morellet ift die Geſchichte von Galiani's 
Apolog, und dieſer ſelber etwas anders er— 
zählt. Kenner der damaligen Zuſtände, die 
über die geſchichtliche Genauigkeit der Erzäh— 
lung rechten möchten, ſeien in aller Beſchei— 
denheit auf Schiller's Anmerkung zu ſeinem 
„Graf von Habsburg“ verwieſen. 

E. D. B-R. 


N 


Molekeln, d. h. derart gefälſchten Würfeln 


waren, daß ſie die Ilias und Aeneis her— 
vorbringen mußten. Er betont alſo, 
daß es in der Natur wie in einer Spiel— 
hölle nicht mit rechten Dingen zugehe — 
ſo ſehr er ſich vorher gegen Galiani 


Literatur und Kritik. 


361 


Natur. So heißt es an einer Stelle: 
„Die wenn auch nur von ferne gezeigte 
Möglichkeit, die ſcheinbare Zweckmäßigkeit, 
aus der Natur zu verbannen, und überall 


blinde Nothwendigkeit an Stelle von End— 


ſträuben mochte — ſtatt darzulegen, wie 


„nicht für einen beſtimmten Zweck vorge— 
richtete materielle Theilchen dennoch zu die— 
ſem Zweck zuſammenwirken.“ 

„Hier iſt der Knoten“, — ſagt darüber 
Du Bois-Reymond — „hier die unge— 
heure, den Verſtand, der die Welt begrei— 


fen möchte, auf die Folter ſpannende 
Schwierigkeit. Denn einen Mittelweg 
giebt es nicht... Wer der Teleolo— 


gie nur den kleinen Finger reicht, langt 


ral Theology“ an.“ 
5 Sind die Würfel der Natur gefälſcht? 
Wirft ſie wirklich mit ungezählten fal— 
ſchen Würfeln jeden beliebigen Paſch? Sind 
ihre Würfel, d. h. die Molekel wirklich 
„präformirt“, um einen alt hergebrachten 
Ausdruck zu gebrauchen? Giebt es in ihr 
Vorherbeſtimmung, Vorbereitung zu ganz 
beſtimmten Zwecken; giebt es in ihr ein 
höheres Regiment, das Alles zu beſtimmten 
Zwecken zurechtlegt, eine Art „Hochdruck 
von Oben“, oder jene Teleologie, um deren 
Beweis ſich die Gelehrſamkeit von Jahr— 
tauſenden nicht ohne Erfolg abgemüht hat? 
Dieſe Fragen legt uns Herr Du Bois— 
Reymond, an den Apolog der des 
pipes von Galiani anknüpfend, vor, 
und beſchäftigt ſich mit dieſer brennenden 
Frage der heutigen Philoſophie in ſeiner 
Schrift „Darwin versus Galiani“. 
Vor Allem bekämpft er nun den ein— 
gewurzelten Glauben an End-Urſachen und 
tritt ein für die blinde Nothwendigkeit 


gegen die ſcheinbare Zweckmäßigkeit in der 


urſachen zu ſetzen, erſcheint deshalb als 
einer der größten Fortſchritte in der Ge— 
dankenwelt, von welchem in der Behandlung 
dieſer Probleme ſich eine neue Epoche her— 
ſchreiben wird. Jene Qual des über die 
Welt nachdenkenden Verſtandes in etwas 
gelindert zu haben, wird, ſo lange es 
philoſophiſche Naturforſcher giebt, Charles 
Darwin's höchſter Ruhmestitel ſein.“ 
Mit wenigen treffenden Zügen charak— 
teriſirt Hr. Du Bois-Reymond den 


| Zuſtand der Naturwiſſenſchaften unmittelbar 
folgerichtig bei William Paley's „Natu- | 


vor dem Auftreten Darwin's und es 
wird ihm wohl niemand beſtreiten wollen, 
daß deſſen „Origin of species! Zoologie, 
Botanik und Palaeontologie in einer „ge— 
wiſſen doctrinären Erſtarrung“ traf, daß, 
während die Kenntniß organiſcher Geſtalten 
in geradezu „ſinnverwirrender Weiſe“ wuchs, 
an Deutung der aufgeſpeicherten Thatſachen 
und Umſtoßung der alten Dogmen kaum 
gedacht wurde. Schon hatte man ſich ge— 
wöhnt zu glauben, daß das Problem auf 
natürlichem Wege unlösbar ſei. An Hand— 
langern der Wiſſenſchaft fehlte es nicht, aber 
die ſtille Gemeinde der Zweifler an den 
alten untrüglichen Dogmen wurde von dem’ 
Leuten der Schule verketzert. Da trat 
Darwin auf. 

„Es war ein Schlag, wie die Ge— 
ſchichte der Wiſſenſchaft noch keinen ſah: ſo 
lange vorbereitet und doch ſo plötzlich, ſo 
ruhig geführt und doch ſo machtvoll treffend; 
an Umfang und Bedeutung des erſchütterten 
Gebietes, an Wiederhall bis in die fernſten 
Kreiſe menſchlicher Erkenntniß eine wiſſen— 
ſchaftliche That ohne Gleichen. Wie nach 


77 855 Literatur und Kritik. 


dem Umſturze von Königreichen in deren 
Grenzlanden noch lange Erregung und 
Wirrſal herrſchen, wenn im Erſchütterungs— 
herde ſchon neue Geſtaltungen ſich zu be— 
feſtigen anfangen: ſo iſt in Folge der 
Darwin'ſchen Bewegung der ſtets unſichere 
Grenzſtrich zwiſchen Naturwiſſenſchaft und 
Philoſophie noch in wilder Gährung be— 
griffen, welche faſt täglich in den trüglichen 
Farben dünner Blättchen ſchillernde Literatur- 
blaſen aufwirft. Im Lager der Wiſſenſchaft 
iſt indeſſen die erſte Beſtürzung ruhigerer 
Ueberlegung gewichen. Schon beginnt ein 
neues, inmitten der Umwälzung erwachſenes 
Geſchlecht friſchen Muthes die Führung zu 
übernehmen.“ 
Du Bois-Reymond beſtreitet im 
folgenden die weitverbreitete Anſicht, daß 
Darwin's eigentlichſte Leiſtung ſei, den 
Sieg der Abſtammungslehre-erfochten zu 
haben, und ſagt, daß das Ziel, welches jener 
uns zeigt, weit über dieſelbe hinausliege, 
inſofern uns durch dieſelbe, inſofern ſie die Ent— 
wickelung der organiſchen Natur allein durch 
ihre Bildungsgeſetze erklären will, nur wenig 
geholfen wird. Ueberhaupt ſeien die Geſetze 
der Morphologen bloße Regeln, die nach 
Art grammatikaliſcher Regeln vermöge eines 


daß auch den beſten organiſchen Bildungs— 


ſcheinlichkeit zuſtehe. Der Grund iſt, daß 
ſie reine Erfahrungsſätze ſind, in denen 
kein ſolcher „in den letzten Gründen wur— 
zelnder, logiſch zwingender Inhalt erkannt 


iſt, wie in phyſikaliſch-mathematiſchen Ges | 


ſetzen.“) Daher komme es, daß im Ab— 
weichen der Natur von jenen Regeln nichts 
Widerſinniges und Unmögliches liege. (?) 


) Daß ein zureichender Grund auch hier 
vorhanden ſein müſſe, leuchtet wohl Jedem 
ein, und es ſcheint ſehr gleichgiltig für das 


* 


geſetzen nur größere oder geringere Wahr 


Indem Herr Du Bois-Reymond 
gegen die Anwendung des ſogenannten 


biogenetiſchen Grundgeſetzes im einzelnen 


Falle eifert, eine ſolche, „wenn auch 
das Princip im Allgemeinen zugegeben ſein 
möchte“, ſehr bedenklich findet, und den 
Schlüſſen der Ontogenie auf Phylogenie 
größere Wahrſcheinlichkeit abſpricht, überläßt 
er es gleichzeitig dem ſubjektiven Meinen, 
ſich den Weg „im Gewirr unzähliger ſich 
verzweigender Möglichkeiten“ nach Belieben 
zu wählen und ſich das Werden der orga— 
niſchen Natur ſo oder ſo zu denken. 

Wenn es mir ſchon ſcheinen will, daß 
Herr Du Bois-Reymond im Laufe 
dieſer Spekulation ſich widerſpricht und die 
bedeutende Nachwirkung und Folgerichtigkeit 
der Abſtammungslehre in einem Athem 
verficht und anficht, ſo muß ich gegen das 
letztere Toleranzedikt einwenden, daß ich 
daſſelbe nur ſchwer mit dem ſonſt bis zur 
Härte decidirten Weſen Du Bois-Rey⸗ 
mond's reimen kann. 

Merkwürdigerweiſe wird das Anathema 
der Gelehrſamkeit ganz unvermittelt dem 
Toleranzedikt der Wiſſenſchaft angereiht. 
Denn unmittelbar darauf folgt der inhalts— 


ſchwere Satz: „Jene Stammbäume unſeres 
Cirkelſchluſſes dienen. Ebenſo ſei gewiß, 


Geſchlechtes, welche eine mehr künſtleriſch 
angelegte als wiſſenſchaftlich geſchulte Phan— 
taſie in feſſelloſer Ueberhebung entwirft, 
ſie ſind etwa ſo viel werth, wie in den 
Augen der hiſtoriſchen Kritik die Stamm⸗ 
bäume homeriſcher Helden. Will ich aber 
einmal einen Roman leſen, jo weiß ich mir 
etwas Beſſeres als Schöpfungsgeſchichten.“ 

Allerdings wird uns gleich darauf ge— 
ſagt, daß dies nicht der Punkt ſei, auf den 
es hier ankomme. Dennoch muß es uns 


Beſtehen einer Geſetzmäßigkeit, ob ſie von 
den Menſchen begriffen wird oder nicht. 
' Anm. d. Red. 


ſcheinen, als wäre nur zu gern die Gelegen— 
heit benützt worden, um den Bannſpruch 
in einer ſchicklichen Weiſe (?) an den Mann 
zu bringen. Scheint es doch, als ob auch 
höher organiſirte Gelehrte es nicht 
laſſen könnten, ins Horn der überaus zahl— 
reichen Handlanger unſerer Naturalienka— 
binete, Muſeen und Katheder zu ſtoßen, die 
als verknöcherte Specialiſten es für ihre 
heiligſte Pflicht halten, einen ernſten Forſcher, 
der ihnen, was die Verbreitung und Fort— 
entwickelung der Darwin'ſchen Lehren be— 
trifft, weit den Rang abgelaufen und in hervor— 
ragender Beziehung zum Aufbau einer moder— 
nen Naturphiloſophie beigetragen hat, ja, 
inſoweit als eine ſolche ſchon gleichſam im 
Rohprodukt exiſtirte, und nur auf den Be— 
arbeiter, Ordner und Vollender wartete, 
ſogar als Ausbilder derſelben zu betrachten 
iſt, — ſo lange zu verketzern und zu läſtern, 
bis nichts mehr von ihm übrig bleibt als 


ein Marktſchreier und falſcher Prophet, der 


die größten Errungenſchaften der Wiſſenſchaft 


Literatur und Kritik. 


in ſelbſtbereiteten Mixturen auf den Jahr 
markt getragen hat, um ſie dort als Wun⸗ 


der ſeines Erfindungsgeiſtes anzupreiſen. 


Entdeckungen Darwin's und die 


Herr Du Bois-Reymond ſagt uns 


des Weiteren, daß, ſelbſt wenn wir das 


Schema der Abſtammungslehre als aus— 
gefüllt annehmen, gleichzeitig aber nur 
Bildungsgeſetze die Entwickelung beſtimmen 
laſſen, das Räthſel der Geſtaltung der 
organiſchen Natur ſo ungelöſt bleibt wie 
vordem. „Durch Bildungsgeſetze allein er— 
klärt ſich kein zweckmäßiges, organiſches 
Werden. 


Das alte, der Menſchheit auf- 


gegebene Räthſel bleibt alſo auch bei ganz 


fertiger Abſtammungslehre, wenn nicht noch 
etwas Anderes hinzutritt, in unveränderter 
Dunkelheit beſtehen. Unbezwungen dräut 


nach wie vor von ihrer Klippe die Sphinx 
der Teleologie. .. 


Wir ſind alſo in der 


363 


Hauptſache um nichts gebeſſert, ſondern haben 
nur das Problem umgeformt, ohne es 
ſeiner Löſung näher zu bringen.“ 

Was iſt es alſo mit dem urewigen Räth— 
ſel? Sind die Würfel der Natur gefälſcht? 

Dieſelbe Frage hat kürzlich Moriz 
Carriere, durch die Du Bois ' ſche 
Schrift dazu angeregt, erörtert und ſich 
in ganz anderem Sinne entſchieden, als der 
Verfaſſer der letzteren. Herr Du Bois— 
Reymond findet nämlich in der natür— 
lichen Zuchtwahl eine „einigermaßen an— 
nehmbare“ Auskunft. „In Verbindung 
mit den Bildungsgeſetzen würde ſie mit 
einem Schlage verſtändlich machen, warum 
die organiſchen Weſen einander und der 
Außenwelt ſo bewunderungswürdig ange— 
paßt ſind; warum ſie in ſich ſelber zweck— 
mäßig ſind und doch ſo manche Zweck— 
widrigkeit aufweiſen; warum ſie gruppen— 
weiſe, ſcheinbar unbeholfen, aus ſtets denſelben 
Stücken gefügt, dieſe aber dem jedesmaligen 
Zweck entſprechend umgeformt ſind.“ Sehr 
richtig werden dem Satz Maupertuis' 
von der kleinſten Wirkung die intereſſanten 
des 
Herrn Wallace auf dem Gebiete der ge— 
ſchlechtlichen Zuchtwahl insbeſondere entgegen 
geſtellt. „Mit einem Worte, an Stelle der 
Endurſachen in der organiſchen Natur träte 
zwar eine höchſt verwickelte, aber blind 
wirkende Mechanik, und das Weltproblem 
wäre auf die beiden Räthſel zurückgeführt: 
was ſind Materie und Kraft, und wie 
vermögen fie zu denken.“ . . . Ob er im 
deſſen mit dieſer Einführung von » und 
W in die Gleichung, für das vorherige x 
und y, viel zur Verdeutlichung oder nur 
etwas zur Auflöſung beiträgt, müſſen wir 
doch dahingeſtellt ſein laſſen. Es ſcheint über— 
haupt, als ob es Herr Du Bois-Rey⸗ 
mond nach Art der Algebraiker manchmal 


en 


© 364 


mit den ſogenannten Kunſtgriffen 
Transformation einer Gleichung hielte, eine 
Operation, die bekauntlich große Vorſicht 
erheiſcht, um nicht zu einer identiſchen Glei— 
chung geführt zu werden. Wer weiß übrigens, 
ob die identiſche Gleichung nicht wirklich 
das Ende des alten Liedes iſt, was beſagen 
will, daß man mit all dem Problemiſiren 
zu keiner neuen Größe, zu keiner frucht— 
baren Erkenntniß kommt. Dann freilich 
hätte Herr Du Bois-Reymond Recht, 
den Caſus für ſehr einfach zu halten, wenn man 
das Weltproblem auf die von ihm einge— 
ſetzten unbekannten Größen zurückführte. 
Wenn aber auch Herr Du Bois— 
Reymond auf der einen Seite keinen ge— 
nügenden Erſatz für das bietet, was er uns 
nimmt, ohne dieſe Hinwegnahme vollſtändig 
zu motiviren, ſo widerlegt er auf der andern 


zur 


Seite ebenſo kurz als treffend die Ein- | 


würfe gegen die natürliche Zuchtwahl, unter 
denen der gegen das Ausſterben der Zwiſchen— 
formen von Ch. Darwin ſelbſt auf das 
Beſte widerlegt wurde. 
es, zu fordern, daß die natürliche Zucht— 


Literatur und Kritik. 


wahl alle Bildungen erkläre und hier weiſt 
Herr Du Bois-Reymond mit größerem 


Scharfſinn nach, wie nur der Compromiß 
zwiſchen den Forderungen der Bildungs— 
geſetze und den Wirkungen der natürlichen 
Zuchtwahl eine befriedigende Erklärung für 
die Bildung der Organismen geben könne. 
Ebenſo weiſt er ganz richtig nach, daß, ſo— 


= 


verlangt er, daß der Naturforſcher jeden 


Weg einſchlage, um nur die Zweckmäßigkeit 
aus der Natur zu verbannen und ſich daher 
an die Lehre von der natürlichen Zucht— 
wahl wie der Ertrinkende an die Plane, 
anklammere. 

Was iſt's aber mit der oben aufgeworfene 
Frage? Sind die Würfel der Natur ge— 
fälſcht oder nicht? „Wir könnten jetzt Ga— 
liani darauf antworten“, meint Herr Du 
Bois-Reymond, „denn Herr Darwin 
hat uns verſtehen gelehrt, warum auch mit 
nicht gefälſchten Würfeln die Natur meiſt 
(nicht immer) ihren Paſch wirft.“ Es iſt 
ſehr richtig zu ſagen, daß der Name 
„Zweckmäßigkeit“ nichts Unheimliches mehr 
für uns hat. Mir ſcheint nur, als ver— 
geſſe er das erlöſende Wort, das all dieſem 
Zwieſpalt auf die kürzeſte Weiſe ein Ende 
macht. Wir wollen ihm gerne beipflichten, 
wenn er die Teleologie aus der Natur 
verbannt, inſoweit es ſich um eine Präformi— 


rung des Gegebenen zu beſtimmten Zwecken 
Ebenſo irrig iſt 


der Menſchheit oder eines beſtimmten Lebe— 
weſens handeln würde, wie denn von den 
Meiſten Teleologie in dieſem ſehr engher— 
zigen Sinne verfochten wird. Iſt aber die 
Zweckmäßigkeit oder „Zielſtrebigkeit“ wie 


ſie Ernſt von Bär, dem verhaßten teleo— 


bald die Lehre von der natürlichen Zucht 
wahl als aus richtigen Vorderſätzen richtig 


abgeleitet erkannt wird, das Wirken der— 
ſelben im einzelnen Falle nachzuweiſen nicht 
mehr nöthig ſei. Indem er ferner zeigt, 
daß es Abſicht des theoretischen 
Naturforſchers iſt, die Natur zu begreifen, 
die Zweckmäßigkeit der Natur ſich aber 
nicht mit ihrer Begreiflichkeit vertrage, 


die 


zelnen zur Erhaltung des Ganzen. 


logiſchen Loſungsworte ausweichend, nannte, 
nichts anders als das Wirken von Kräften 
im Sinne und zum Zweck des organiſchen 
Lebens im Großen und Ganzen, ſo wird 
es uns ſelbſt in den Augen des radicalſten 
Anti⸗Teleologen, nicht erniedrigen können, 
wenn wir von Zwecken der Natur ſprechen, 
ſo lange wir überhaupt den Namen der 
letzteren noch im Munde führen, und von 
einem großen Zweck, der da iſt Erhaltung, 
Entwicklung und Fortſchreitung des Ein— 
Ich 


möchte das, inſofern wir unter Natur den 


Literatur und Kritik. 


Inbegriff aller uns bekannten organiſchen (und 
unorganiſchen) Lebenserſcheinungen und Kräfte 
verſtehen, bildlich als Selbſterhaltungstrieb der 
Natur bezeichnen, und damit ſagen, daß es 
dem menſchlichen Erkennen und Forſchen 
nicht möglich iſt, weiter zu gelangen als 
bis zu einer Anerkennung jener in allen 
Einzelheiten wirkenden und von Herrn Du 
Bois- Reymond verfochtenen Cauſalität 
aus Naturnothwendigkeit, daß aber auch 
dieſe nicht anders als „zum Zwecke eines un- 
beſchadeten Beſtehens des Weltganzen“ gedacht 
werden könne. 

Inwiefern Leibniz mit den Reſultaten 
der neueren Forſchung übereinſtimmt, hat 
Herr Du Bois-Reymond mit großem 
Verſtändniß in einer anderen akademiſchen 
Rede dargeſtellt, die in den Abhandlungen 
der königl. Akademie der Wiſſenſchaften zu 
Berlin (1859. 40. S. 128 ff.) erſchienen 
iſt. Daß auch der Standpunkt des Natur⸗ 


forſchers gegenüber dem letzten Grunde 


der Dinge nur Entſagung ſein kann, wird 
ihm nicht ſobald jemand ganz widerlegen 
können. Nur das Eine möchte ich dem 
conſequenten Bekämpfer jeder Zweckmäßigkeit 
entgegenhalten, daß unbeſchadet und unge— 
achtet der vorkommenden Zweckwidrigkeiten 
und Ueberflüſſigkeiten, von denen doch 
Niemand, auch Herr Du Bois-Rey— 
mond nicht, behaupten kann, daß ſie noch 
als einem beſtimmten Zwecke dienend, er— 
kannt worden ſind, alle Kräfte zu einem nahe— 


liegenden, meiſt leicht erkennbaren Zwecke 


wirken, und daß auch ein Endzweck denkbar 
iſt, wenn wir darunter eben nur das 
Wirken der einzelnen Lebenserſcheinung zum 
Ganzen und nicht umgekehrt verſtehen. 
Vielleicht wird es mir in nicht allzulanger 
Zeit möglich ſein, was ich hier nur halb 
und dunkel den lichtvollen Darſtellungen 
des Herrn Du Bois-Reymond, denen 


365 


ich in vielen Dingen, ja vielleicht — indem 
über dem berührtem Punkt vielleicht nur ein 
Mißverſtändniß waltet — im Großen und 
Ganzen beipflichte, entgegenhalten konnte, 
in einem ausführlichen Werke darzulegen. 
Vorher aber hoffen wir, daß Herr M. 
Carriere ſein Verſprechen, in einem Werke 
über die ſittliche Weltordnung neue Geſichts— 
punkte zu dieſer Frage zu eröffnen, erfüllen 
werde. 
Friedrich von Bärenbach. 


Dr. Martin Schultze, Altheidniſches 
in der Angelſächſiſchen Poeſie, 
ſpeziell im Beowulfsliede. Ber⸗ 
lin, S. Calvary u. Co., 1877. 


Der bewährte Sprach- und Mythen⸗ 
forſcher hat in dieſer intereſſanten kleinen 
Schrift die hauptſächlichſten heidniſchen Ueber— 
bleibſel in der von chriſtlichen Schrift⸗ 
ſtellern herrührenden altangelſächſiſchen Poeſie 
überſichtlich zuſammengeſtellt, indem er die 
Vorſtellungen von den Schickſals- und den 
elementaren Mächten, die heidniſchen Sitten 
in Bezug auf die Lebenden und Todten in 
vier Kapiteln behandelt. Um die Reich- 
haltigkeit der Anregungen zu erläutern, die 
von ſolchen Studien ausgehen, wollen wir 
kurz dasjenige hervorheben, was der Ver— 
faſſer über den Urſprung des Namens eines 
Seeſternes anführt, der in der Darwin’ 
ſchen Theorie eine hervorragende Rolle ſpielt, 
der Gattung Brisinga. In der heutigen 
Welt ſtehen die echten Seeſterne und die 
ſogenannten Schlangenſterne einander ſo un— 
vermittelt gegenüber, daß man ein vollſtän— 
diges Ausſterben zahlreicher Mittelformen 
annehmen mußte, bis vor ca. 20 Jahren 
der ſchwediſche Naturforſcher As björnſen 
aus einer großen Tiefe des Hardanger 


366 


Fjords einen elfarmigen Seeſtern emporzog, 
der eine deutliche Uebergangsform zwiſchen 
beiden Familien 


er nur in der fernſten Vorwelt Verwandte 
beſaß. 
welches man aus ſogleich zu erörternden 


Gründen Brisinga taufte, iſt vor zwei 


Jahren von G. O. Sars, dem Sohne 
des berühmten norwegiſchen Naturforſchers, 
der den Generationswechſel der Quallen 
entdeckte, eine Monographie erſchienen, in 


welcher er zu der einzigen bisher bekannten 
Art eine zweite, Brisinga coronata, fügt, | 


die er in der Nähe der Lofoten, in einer 


Tiefe von 250 bis 300 Faden entdeckt 


hat. Beide Arten ſind aber durch die 
neueren Tiefeforſchungen auch in anderen 
Bezirken des nordatlantiſchen Ozeans, Br. 
coronata zwiſchen Schottland und den 


Faröer-Inſeln (500 Faden), ferner bei 


Irland (800 Faden), die ſüdlicher gehende 
Br. endecacnemos ſogar an der Küſte 
von Portugal 
worden. Der Verfaſſer betrachtet Brisinga 
als eine Urform im Sternthierreiche, hebt 
die Aehnlichkeit mit den älteſten foſſilen 
Seeſternen (Protaster) hervor, und ſtellt 


darſtellt und daher in 
keiner von ihnen unterzubringen war, weil 


Ueber dieſes merkwürdige Thier, 


} 


Literatur und Kritik. 


win'ſche Theorie genommen ift, und Herrn 


| Dr. Schultze dankbar für den Nachweis 


ſein, den wir deshalb wörtlich wiedergeben 
wollen. Nachdem der Vortragende von 
den Schwertern Siegfried's und Wittich's 
geſprochen, fährt er fort: „Ein anderes Elfen⸗ 
werk wird Beowulf 1199 erwähnt. Unter 
den Geſchenken, die Beowulf in Heorot er— 
hält, wird daſelbſt ein Halsring beſonders 


hervorgehoben und für das ſchönſte Kleinod 


dieſer Art erklärt: „ſeitdem Heime entführte — 
Zu der glänzenden Burg den Broſinger 
Schmuck“ (Brösinga mene). Dieſer Bro⸗ 
ſinger Schmuck iſt längſt mit dem Briſin⸗ 
ger Geſchmeide (Brisinga men), d. h. der 
Halskette Freyjas, verglichen worden, deren 
Verfertiger, wie wir aus der Edda wiſſen, 
vier Zwerge, alſo Elfen, waren. Sie 
wurde dann durch Loki weggeführt, gerade 


wie das Broſinger Gold durch Heime, den 


(1000 Faden) gefunden 


dieſe Gattung damit ziemlich an den Anfang 
eines Stammbaumes, deſſen Verzweigung 


zu den übrigen Klaſſen der Strahlthiere 
er kurz darſtellt. Nebenbei bemerkt, glaubt 


Brisinga die Arme ſehr leicht ablöſen und 
zuſammen einen weit größeren Theil des 
Körpers, als die verhältnißmäßig kleine 


Scheibe bilden, eine Stütze für Häckel's 
Hypotheſe, nach welcher die Echinodermen 


urſprünglich zuſammengeſetzte Thiere, Thier- 
ſtöcke, ſeien, zu finden. 
logen werden wiſſen, woher der Name 


9 


nern 
Sars in dem Umſtande, daß ſich bei 


Waffenbruder Wittichs, der alſo mit deſſen 
Vater, dem Schmied Wieland, in gewiſſem 
Zuſammenhange ſteht. — Was ſind nun 
die Broſinge oder Briſinge, die den 
berühmten Schatz verfertigen oder hüten? 
Doch wohl die Leute des Bris-Gaues, 
die bei Bris-ach, Breiſach, das Gold aus 
dem Rheinſand waſchen. Der Name erklärt 
ſich aus dem angelſächſiſchen brys -an, 
zertrümmern, bros - nian, ſich zerbröckeln. 
Das Rheingold findet ſich in kleinen Kör— 
oder „Bröſelchen“ (Broſame ahd. 
pros-amo, aſ. bros-mo, gehört ebenſo zu 
agſ. brys-an, brechen) und jene Bröckchen— 
form war gewiß diejenige, in der das Edel— 
metall den Germanen zuerſt bekannt wurde.“ 
Dieſe Ableitung des vielbeſungenen Bri- 
singa-men erſcheint glücklicher, als diejenige 


Grimm's von dem mhd. brisen, breis, 


Nur wenige Zoo⸗ 
| bohrten Gelenken verfertigt gedacht wird. 
dieſes wichtigen Zeugen für die Dar⸗ 8 


durchſtechen, ſofern die Halskette aus durch⸗ 


K. 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


nn m on 
F GR NEN N 


Biographiſche Skizze eines Kleinen 


Rindes 


von 


Charles Darwin. 


* 


er ſehr intereſſante Bericht, 
welchen Herr Taine über 
die geiſtige Entwickelung eines 
Kindes veröffentlichte,) hat 
mich veranlaßt, ein Tagebuch 
. welches ich vor ſiebenund— 
dreißig Jahren über eines meiner eigenen 
Kinder führte. Ich hatte ausgezeichnete 
Gelegenheit zu genauen Beobachtungen 
und ſchrieb, was beobachtet wurde, ſofort 
nieder. Mein Hauptaugenmerk war der 

) Der Artikel von Taine erſchien in 
der Revue philosophique (1876, Nr. 1) und 
beſchäftigt ſich hauptſächlich mit der Ent- 
wickelung der Sprache und Ideenwelt eines 
kleinen Mädchens. Als erſter artikulirter 
Laut wurde ein mim mit geſchloſſenen Lippen 
beobachtet, dann ein kraaaan in tiefen Gut- 
turalen, endlich papapapapa in unendlichen 
Wiederholungen. Im Alter von vierzehn 
Monaten und drei Wochen waren ihm fol— 
gende Worte zugleich als Begriffe geläufig: 
bebe (Kind), papa, tete (Amme), oua-oua 
(Hund), koko (Hühnchen), dada (Wagenpferd) 
und mia (Katze). Sehr intereſſant im Ver— 
gleiche zu den mythologiſchen Vorſtellungen 
der Kindheitsvölker ſind die Beobachtungen 
Taine's über die Gewohnheit des Kindes, 


Ausdruck, und meine Notizen haben in 
meinem Buche über dieſen Gegenſtand Ver— 
wendung gefunden; da ich aber gleichzeitig 
auf mehrere andere Punkte achtete, dürften 


meine Beobachtungen möglicher Weiſe für 


einen Vergleich mit denen des Herrn 
Taine einiges Intereſſe bieten, ſowie mit 
den Beobachtungen, die zweifelsohne ſpäter 
noch werden gemacht werden. Nach dem, 


0 


was ich an meinen eigenen Kindern ge- 


ſehen, bin ich gewiß, daß die Zeit der 
Entwickelung der einzelnen Fähigkeiten bei 
verſchiedenen Kindern verſchieden iſt. 


alle Dinge zu perſonificiren. Es frug unauf— 
hörlich: „Was ſagt das Pferd? Was ſagt der 
große Baum?“ u. ſ. w. Das ſchimmernde 
Waſſer feſſelte ſtets ſeine Aufmerkſamkeit, 
und als man ihm ſagte, der Mond, den 
es ebenfalls mit den Blicken verfolgte, ſo 
lange er da war und „mitſpazierte“, gehe 
unter (da lune se couche), frug es ſogleich, 
wo die Bonne des Mondes ſei? Die deutſche 
Literatur beſitzt ebenfalls eine derartige Arbeit 
(„Das Kind“, Tagebuch eines Vaters. Leip— 
75 H. Hartung u. Sohn, 1876), in welchem 
ſich ſchätzenswerthe Beobachtungen in dieſer 

Richtung befinden. 
An merk. der 


Redaction. 


368 


Während der erſten ſieben Tage wur— 
den von meinem Kinde verſchiedene Reflex— 
thätigkeiten, nämlich Nießen, Schlucken (d. 
h. Aufſtoßen), Gähnen, Sich-recken und 
natürlich Saugen und Schreien gehörig 
vollzogen. Am ſiebenten Tage berührte 
ich die nackte Sohle ſeines Fußes mit 
einem Papierſchnitzel, welches es wegſchleu— 
derte, indem es ſeine Zehen gleichzeitig ein— 
zog, wie wenn ein älteres Kind gekitzelt 
wird. Die Vollkommenheit dieſer Reflex— 
bewegungen zeigt, daß die äußerſte Un— 
vollkommenheit der willkürlichen Bewegun— 
gen nicht dem Zuſtande der Muskeln 
oder der vermittelnden Centren, ſondern 
dem des Sitzes des Willens beizumeſſen 
iſt. Schon zu derſelben Zeit, ſchien es 
mir klar zu ſein, daß, wenn man ihm 
eine warme, weiche Hand auf das Geſicht 
legte, in ihm der Wunſch zu ſaugen rege 
wurde. Es muß dies als eine Reflex— 
oder inſtinctive Thätigkeit betrachtet werden, 


denn man kann unmöglich glauben, daß fo, 


frühe ſchon Erfahrung und die Verknüpfung 
mit dem Gefühlseindruck von ſeiner Mut— 
ter Bruſt in Thätigkeit getreten wären. 
Während der erſten vierzehn Tage fuhr es 
oft auf, wenn es ein plötzliches Geräuſch 
hörte und zwinkerte mit den Augen. Der- 
ſelbe Umſtand wurde während der erſten 
vierzehn Tage auch bei einigen meiner 
anderen Kinder beobachtet. Als es 66 Tage 
alt war, nießte ich einmal zufällig, worauf 
es heftig zuſammenfuhr, das Geſicht verzog, 
ganz erſchreckt ausſah und laut zu ſchreien 
anfing; eine ganze Stunde lang befand 
es ſich in einem Zuſtande, den man bei 
einer ältern Perſon nervös nennen würde, 
indem es bei jedem geringen Geräuſche 
zuſammenfuhr. Wenige Tage vorher fuhr 
es zum erſten Male bei einem plötzlich 
geſehenen Gegenſtande zuſammen; dagegen 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


ließen es Töne noch lange nachher weit 
häufiger zuſammenfahren und mit den 
Augen blinzeln, als es Geſichtseindrücke 
vermochten; ſo ſchüttelte ich z. B., als es 
114 Tage alt war, eine Pappſchachtel mit 
Zuckerwerk nicht weit von ſeinem Geſichte, 
und es fuhr zuſammen, während, wenn 
man dieſelbe Schachtel leer oder irgend 
etwas Anderes ebenſo nahe oder noch näher 
an ſeinem Geſichte ſchüttelte, dies keine 
Wirkung hervorbrachte. Wir dürfen aus 
dieſen einzelnen Thatſachen ſchließen, daß 
das Zwinkern mit den Augen, welches offen— 
bar dazu dient, fie zu ſchützen, nicht durch. 
Erfahrung erworben war. Obwohl fo 
empfindlich gegen Geräuſche im Allgemeinen, 
war es jedoch ſelbſt im Alter von 124 
Tagen noch nicht im Stande hinreichend 
leicht zu unterſcheiden, woher ein Laut kam, 
um ſeine Augen nach der Quelle des Ge— 
räuſches zu richten. f 

Was das Geſicht betrifft, ſo hefteten 
ſich die Augen des Knaben ſchon mit dem 
neunten Tage auf ein (brennendes) Licht 
und bis zum 45. Tage ſchien nichts An— 
deres ſie in gleicher Weiſe zu feſſeln; am 
49. Tage wurde aber ſeine Aufmerkſamkeit 
durch eine lebhaft gefärbte Troddel ge— 
weckt, was ſich daran zeigte, daß ſeine 
Augen ſtarr wurden und die Bewegungen 
ſeiner Arme ſich einſtellten. Es war er— 
ſtaunlich, wie langſam er die Fähigkeit 
erlangte, mit den Augen einem nur einiger— 
maßen ſchnell ſchwingenden Gegenſtande zu | 
folgen; denn er vermochte dies kaum, als 
er ſchon achtehalb Monate alt war. Im 
Alter von 32 Tagen gewahrte er die 
Bruſt ſeiner Mutter, wenn er drei bis 
vier Zoll derſelben nahe war, wie ſich daran 
zeigte, daß er ſeine Lippen vorſtreckte und 
ſeine Augen ſtarr blickten; ich zweifle aber 
ſehr, ob dies irgend etwas mit dem Geſichte 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


zu thun hatte; jedenfalls hatte er die Bruſt 
nicht berührt. Ob er nun durch den Geruch, 
oder das Gefühl der Wärme, oder durch 
die natürliche Aſſociation mit der Lage, in 
der man ihn hielt, geleitet wurde, will 
ich allerdings nicht entſcheiden. 

Die Bewegungen ſeiner Glieder und 
ſeines Körpers waren lange Zeit hindurch 
unbeſtimmt und zwecklos und wurden ge— 
wöhnlich zuckend ausgeführt; jedoch fand 
bei dieſer Regel eine Ausnahme ſtatt, 
die nämlich, daß er von ſehr früh an und 
jedenfalls lange ehe er noch 40 Tage alt 
war, ſeine Hände nach dem Munde führen 
konnte. Im Alter von 77 Tagen nahm 
er die Flaſche (mit der er zum Theil ge— 
ſtillt wurde) in feine rechte Hand, gleich— 
viel, ob ihn feine Wärterin auf dem rech— 
ten oder linken Arme hielt, und war, trotz 
wiederholter Verſuche, während der nächſten 
acht Tage nicht dazu zu bringen, ſie in 
die Linke zu nehmen; ſo war alſo die rechte 
Hand um eine Woche der linken voraus. 
Dennoch ſtellte ſich ſpäter heraus, daß dieſes 
Kind linkshändig war, ohne Zweifel nach 
ererbter Neigung — ſein Großvater, ſeine 
Mutter und ein Bruder waren oder ſind 
ebenfalls „links“. Als er 80 bis 90 Tage 
alt war, zog er allerhand Gegenſtände nach 
ſeinem Munde und konnte dies nach zwei 
bis drei Wochen mit einem gewiſſen Ge— 
ſchicke thun; oft aber berührte er mit dem 
Gegenſtande erſt ſeine Naſe und zog ihn 
dann erſt nach ſeinem Munde herab. Meinen 
Finger packte er und wollte ihn in den 
Mund nehmen, ſeine eigene Hand hinderte 
ihn aber daran zu ſaugen; als er jedoch 
am 114. Tage auf dieſe Weiſe verfuhr, 
glitt er mit ſeiner Hand herab, ſo daß er 
meine Fingerſpitze in den Mund bekommen 
konnte. Dieſes Verfahren wiederholte er 
verſchiedene Male, und offenbar war es 


369 


nicht Zufall, ſondern vernünftige Abſicht. 
Die abſichtlichen Bewegungen der Hände 
und Arme waren alſo denen des Körpers 
und der Beine weit voraus, obwohl die 
zweckloſen Bewegungen der letzteren von 
ſehr früh an wechſelweiſe wie beim Gehen 
geſchahen. Als er vier Monate alt war, 
richtete er den Blick oft feſt auf ſeine Hände 
und andere ihm ganz nahe Gegenſtände, 
wobei ſeine Augen ſtark nach innen ge— 
richtet waren, ſo daß er dabei entſetzlich 
ſchielte. Vierzehn Tage ſpäter (d. h. im 
Alter von 132 Tagen) bemerkte ich, daß 
wenn ein Gegenſtand ſeinem Geſichte auf 
Aermchenslänge nahe gebracht wurde, er 
ihn zu ergreifen ſuchte, aber oft verfehlte, 
daſſelbe verſuchte er jedoch nicht mit weiter 
entfernten Gegenſtänden. Ich denke, man 
kann kaum zweifeln, daß ihm die Conver— 
genz ſeiner Augen den Schlüſſel gab und 
ihn reizte, feine Arme zu bewegen. Ob— 
wohl nun aber dieſes Kind ſchon ſo frühe 
ſeine Hände zu brauchen angefangen, zeigte 
es ſpäter in dieſer Beziehung doch keine be— 
ſondere Geſchicklichkeit, denn im Alter von 
2 Jahren und 4 Monaten hielt es Blei— 
ſtifte, Federn und andere Sachen weit un— 
geſchickter und unſicherer, als ſeine damals 
erſt 14 Monate alte Schweſter, die übri— 
gens große angeborne Geſchicklichkeit in 
Handhabung alles Möglichen zeigte. 
Zorn. — Es war ſchwer zu entſcheiden, 
wie früh der Knabe Zorn empfand; den 
achten Tag zog er, bevor er ſchrie, die 
Augenbrauen zuſammen und runzelte die 
Haut um ſeine Augen; dies mag indeſſen 
eher aus Schmerz oder aus Unbehagen, als 
gerade aus Zorn geſchehen ſein. Als er aber 
einmal, ungefähr zehn Wochen alt, etwas 
zu kalte Milch bekam, behielt er die ganze 
Zeit über, während er ſaugte, die Stirn 
gerunzelt, wie etwa ein Erwachſener, der ſich 


darüber ärgert, daß er zu etwas gezwun— 
gen wird, was er nicht gerne thut. Als 
er beinahe vier Monate zählte und viel— 
leicht noch früher, konnte man, nach der 
Art, wie das Blut nach Kopf und Antlitz 
ſtrömte, nicht daran zweifeln, daß er leicht 
in heftigen Zorn gerieth. Ein kleiner An— 
laß reichte dazu hin; ſo ſchrie er, kaum 
ſieben Monate alt, vor Wuth, weil ihm 
eine Citrone entglitt und er ſie nicht mit 
ſeinen Händen greifen konnte. Wenn man 
ihm, als er elf Monate alt war, ein fal— 
ſches Spielzeug gab, pflegte er es fortzu— 
ſtoßen und zu ſchlagen; ich vermuthe, dieſes 
Schlagen war ein inſtinktives Zeichen von 
Zorn, wie das Schnappen mit den Kinn— 
laden bei einem eben aus dem Ei gekom— 
menen Krokodil, und nicht etwa, daß er 
dachte, er könne dem Spielzeug dadurch 
etwas zu Leide thun. Im Alter von 2½ 
Jahren war er gleich bei der Hand, 
wenn es Jemand bei ihm verſah, mit 
Büchern oder Stöcken und dergleichen nach 
dem Betreffenden zu werfen; und daſſelbe 
war bei mehreren meiner anderen Söhne 
der Fall. Andererſeits habe ich nie eine 
Spur dieſer Fertigkeit bei meinen Töchtern 
wahrnehmen können, ſo daß ich mich zu der 
Meinung veranlaßt ſehe, daß Knaben eine 
Neigung mit etwas zu werfen angeboren iſt. 

Furcht. — Dieſes Gefühl wird wahr— 
ſcheinlich mit am früheſten von Säuglingen 
empfunden, wie aus ihrem Zuſammen— 
fahren mit darauf folgendem Schreien bei 
einem plötzlichen Geräuſche, wenn ſie kaum 
einige Wochen alt ſind, hervorgeht. Noch 
ehe der in Rede ſtehende Knabe fünftehalb 
Monate alt war, pflegte ich dicht in ſeiner 
tähe mancherlei laute Geräuſche hervorzu— 
bringen, die ſämmtlich als vortreffliche 
Späße aufgenommen wurden. Um dieſe 
Zeit aber fing ich eines Tages, was ich nie 


. 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


zuvor gethan, laut an zu ſchnarchen; er 
wurde ſofort ſehr ernſt und brach dann in 
Thränen aus. Zwei oder drei Tage dar— 
auf vergaß ich mich und machte daſſelbe 
Geräuſch, was wiederum dieſelbe Wirkung 
hatte. Um dieſelbe Zeit (am 137. Tage) 
kam ich rückwärts auf ihn zu und blieb 
dann regungslos ſtehen: er ſchaute ſehr 
bedenklich drein, ſchien verwundert und 
würde bald geſchrieen haben, hätte ich mich 
nicht umgedreht, worauf ſich die Spannung 
ſeines Geſichtes augenblicklich in ein Lächeln 
verlor. Es iſt wohlbekannt, wie ſehr ältere 
Kinder durch die Furcht vor dem Unbe— 
ſtimmten, wie z. B. der Dunkelheit, leiden 
können, oder wenn ſie an einem finſtern 
Winkel in einer großen Halle vorbei müſ— 
ſen u. ſ. f. Ich könnte als ein Beiſpiel 
anführen, daß ich denſelben Jungen, als 
er 24, Jahre alt war, in den zoologiſchen 
Garten mitnahm, wo er ſich ſehr über 
alle Thiere, die den ihm bekannten 
glichen, wie Hirſche, Antilopen u. ſ. w., 
ſowie über alle Vögel und ſelbſt den 
Strauß freute, vor den verſchiedenen grö— 
ßeren Thieren in Käfigen ſich aber fürch— 
tete. Er ſagte ſpäter oft, daß er wieder 
hingehen aber nicht „die Thiere in Häuſern“ 
ſehen möchte, und wir konnten uns dieſe 
Furcht auf keine Weiſe erklären. Dürfen 
wir nicht muthmaßen, daß bei Kindern eine 
in ſo vielen Fällen unerklärliche, aber ſehr 
beſtimmte Furcht, die mit ihrer eigenen 
Erfahrung in keinem Zuſammenhange ſteht, 
eine ererbte Folge von wirklichen Gefahren 
und tiefem Aberglauben aus frühen Zeiten 
eines wilden Urzuſtandes ſei? Mit dem, 
was wir von der Vererbung eines früher 
gut entwickelten Typus wiſſen, ſtimmt es 
ganz, daß dieſe Furcht eben in einem 
früheren Lebensabſchnitt erſcheint und ſpäter 
wieder verſchwindet. 


Empfindungen der Luſt. — 
Man darf annehmen, daß die Kinder 
beim Saugen Luſt empfinden, und der 
Ausdruck, wie ſie dabei die Augen ver— 
drehen, ſcheint zu zeigen, daß dies der Fall 
iſt. Dieſer Knabe lächelte, als er 45 Tage, 
ein zweites Kind, als es 46 Tage alt war, 
und es war dies ein wirkliches Lächeln, 
wie es die Luſt ausdrückt, indem ihre 
Augen leuchteten und die Lider ſich leicht— 
hin ſchloſſen. 
zugsweiſe ein, wenn ſie ihre Mutter an— 
ſahen, und war ſonach wahrſcheinlich geiſti— 
gen Urſprungs; auch lächelte der Junge 
einige Zeit hindurch aus einem innern 
Luſtgefühl, denn es geſchah Nichts, was 
ihn irgendwie hätte erregen oder beluſtigen 
können. Als er 110 Tage alt war, be— 
luſtigte es ihn ausnehmend, wenn ein 
Tuch über ſein Geſicht geworfen und dann 
ſchnell weggezogen wurde, und ebenſo, wenn 
ich bei demſelben Spiel plötzlich mein Ge— 
ſicht entmummte und auf ihn zufuhr. Er 
ſtieß dabei leiſe Töne aus, die der An— 
ſatz zum Lachen waren. Hier war Ueber— 
raſchung die Haupturſache zur Beluſtigung, 
wie dies in überwiegendem Maße auch bei 
dem Witze Erwachſener der Fall iſt. Drei 
oder vier Wochen, glaube ich, vor der 
Zeit, wo er ſich freute, wenn man plötz— 
lich ein Geſicht entmummte, nahm er es 
als einen guten Spaß auf, wenn man 
ihm die Naſe oder die Backen kniff. Ich 
war zuerſt überraſcht, daß Scherz von 
einem kaum drei Monate alten Kinde ver— 
ſtanden würde; wir dürfen jedoch nicht ver— 
geſſen, wie ſo frühzeitig junge Hunde 
und kleine Katzen zu ſpielen anfangen. 
Als er vier Monate alt war, zeigte er 
unzweideutig, daß er gern Klavier ſpielen 
hörte, womit alſo das erſte Anzeigen 
einer äſthetiſchen Empfindung vorzuliegen 


Das Lächeln fand ſich vor- 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


371 


ſcheint, wenn man nicht etwa die viel 
früher gezeigte Freude an lebhaften Farben 
dafür nehmen will. 

Zuneigung. — Dieſe entſtand wahr— 
ſcheinlich ſchon ſehr früh im Leben des 
Säuglings, wenn wir danach urtheilen 
dürfen, daß er, noch nicht zwei Monate 
alt, diejenigen, welche mit ſeiner Pflege be— 
traut waren, anlächelte; obwohl ich deutliche 
Beweiſe davon, daß er irgend Jemanden 
unterſchied und erkannte, erſt bekam, als 
er faſt vier Monate alt war. Im Alter 


von fünf Monaten zeigte er entſchieden, daß 


er zu ſeiner Wärterin wollte. Er war 
aber ſchon etwas über ein Jahr alt, als 
er aus eigenem Triebe Zuneigung in offen— 
kundigen Handlungen an den Tag legte, 
indem er wiederholentlich ſeine Wärterin 
küßte, die kurze Zeit fortgeweſen war. 
Was das verwandte Gefühl der Sympa- 
thie betrifft, ſo zeigte ſich daſſelbe klar im 
Alter von 6 Monaten und 11 Tagen 
durch ſein trauriges Geſicht mit deutlich 
niedergezogenen Mundwinkeln, ſobald ſeine 
Wärterin that, als ob ſie weinte. Eiferſucht 
erſchien deutlich, als er 15½ Monate alt 
war, wenn ich mit einer großen Puppe 
ſchön that oder ſein kleines Schweſterchen 
im Arme wiegte. Da bei jungen Hun— 
den Eiferſucht ein ſo ſtarker Affekt iſt, 
würden ſie wohl auch Kinder in einem weit 
früheren als dem eben angeführten Alter 
zeigen, wenn man ſie in angemeſſener 
Weiſe reizte. 

Ideenaſſociation, Vernunft x. 
— Der erſte Akt, der nach meiner Beob— 
achtung eine Art praktiſcher Ueberlegung 
aufwies, iſt bereits angeführt worden, wo 
er nämlich mit ſeiner Hand an meinem 
Finger entlang glitt, um ſo deſſen Ende 
in ſeinen Mund zu bringen; und zwar fiel 
dies auf den 114. Tag. Als er fünfte— 


Darwin, Biographifche Skizze eines kleinen Kindes. 


halb Monate alt war, lächelte er wieder— 
holentlich über mein und ſein Bild in 
einem Spiegel und ließ ſich ohne Zweifel 


täuſchen, ſo daß er ſie für wirkliche Gegen- 


ſtände hielt; er zeigte aber Verſtand, in— 
dem er offenbar überraſcht war, daß meine 
Stimme von hinter ihm herkam. Wie 
alle Kinder ſah er ſich ſehr gerne im Spie— 
gel und verſtand in weniger als zwei Mo— 
naten vollkommen, daß das ein Bild war; 
denn wenn ich ganz lautlos irgend ein 
ſonderbares Geſicht ſchnitt, verfehlte er 


nicht, ſich auf einmal umzudrehen und mich 
Er war, im Alter von ſieben 


anzuſehen. 
Monaten, jedoch in Verlegenheit, als er 
mich von draußen durch eine große Spiegel— 
fenſterſcheibe ſah und ſchien zweifelhaft, ob 
es ein Bild ſei oder nicht. Eins von 
meinen anderen Kindern, ein Mädchen, 
war bei weitem nicht ſo klug und ſchien 
ganz verblüfft über das Spiegelbild einer 
von hinten auf ſie zu kommenden Perſon. 
Die höheren Affen, bei denen ich mit 
einem kleinen Handſpiegel Verſuche anſtellte, 
benahmen ſich anders; ſie fuhren mit der 
Hand hinter den Spiegel und zeigten fo 
Verſtand, aber weit entfernt, ſich mit Ver— 
gnügen anzuſehen, wurden ſie böſe und 
wollten nicht mehr hineinſehen. 

Als der Knabe fünf Monate alt war, 
ſetzten ſich in ſeiner Seele mit einander 
verbundene Vorſtellungen feſt, die un— 
abhängig von irgend welcher Anleitung 
entſtanden; ſo z. B. wurde er, ſobald 
er ſeinen Hut und ſein Mäntelchen um 
bekam, ſehr ungehalten, wenn man nicht 
ſofort mit ihm hinausging. Als er genau 
ſieben Monate zählte, that er den großen 
Schritt, ſeine Wärterin mit ihrem Namen 
zu verbinden, ſo daß er, wenn ich ihren 
Namen rief, ſich ſofort nach ihr umſah. 
Einer von den anderen Jungen pflegte zum 


VV 


Scherz ſeinen Kopf zeitweiſe zu ſchütteln; 
wir lobten es und ahmten ihm nach, in— 
dem wir dabei ſagten: „Schüttle mit dem 
Kopf“, und als er ſieben Monate alt war, 


that er es manchmal, wenn man es ihm 


knüpfte 


ſagte, auch ohne alle andere Anleitung. 
Während der nächſten vier Monate ver- 
dann das in Rede ſtehende 
Kind viele Dinge und Handlungen mit 


Worten; ſo ſtreckte er ſtets, wenn man von 


ihm ein Küßchen verlangte, die Lippen vor 
und hielt ſtill; oder er ſchüttelte mit dem 
Kopfe und ſagte in ſcheltendem Tone „Ah“ 
zum Kohleneimer, oder wenn ein Tropfen 
Waſſer vergoſſen war, u. ſ. w., weil man 
ihn gelehrt, dies als garſtig anzuſehen. Ich 
kann noch hinzufügen, daß er im Alter 
von neun Monaten weniger ein paar Ta— 
gen ſeinen eignen Namen mit ſeinem Bilde 
im Spiegel verknüpfte und ſich, gerufen, 
nach dem Spiegel umdrehte, ſelbſt wenn er 
weiter davon entfernt war. Einige Tage über 
neun Monate alt, merkte er ſelbſtändig, daß er 
eine Hand oder einen anderen Gegenſtand, 
der ſeinen Schatten auf die gegenüberliegende 
Wand warf, hinter ſich ſuchen mußte. 
Als er noch nicht ein Jahr alt war, 
reichte es hin, irgend einen kurzen Satz 
in Zwiſchenräumen zwei oder dreimal zu 
wiederholen, um in ſeiner Seele eine ge— 
wiſſe Verknüpfung von Vorſtellungen ſicher 
zu befeſtigen. Bei dem von Herrn Taine 
beſchriebenen Kinde ſcheint die leichte Ver— 
knüpfung von Vorſtellungen erſt in einem 
beträchtlich vorgerückteren Alter ſtattgefunden 
zu haben, wenn nicht etwa die früheren 
Fälle überſehen worden ſind. In der 
Leichtigkeit, mit welcher die einer Anleitung 
verdankten und andere, ſelbſtändig entſprun⸗ 
gene Ideen-Aſſociationen erworben wurden, 
ſchien mir der bei Weitem am ſtärkſten 
ausgeprägte Unterſchied zwiſchen der Kin⸗ 


Av 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


desſeele und der des klügſten erwachſenen 
Hundes zu liegen. Welchen Gegenſatz bietet 
die Seele eines Säuglings gegenüber der 
des von Prof. Möbius (die Bewegungen 
der Thiere, 1873. S. 11.) beſchriebenen 
Hechtes, der volle drei Monate lang bis 
zur Betäubung gegen eine Glaswand ſchoß, 
die ihn von einigen Elritzen ſchied, und 
der dann, als er gelernt hatte, daß er dieſe 
nicht ungeſtraft angreifen konnte, wieder zu 
jenen in das Aquarium geſetzt, ſinnlos be— 
harrlich jeden weiteren Angriff unterließ. 
Neugier wird, wie Herr Taine be— 
merkt, von Säuglingen ſehr früh gezeigt 
und iſt höchſt wichtig für ihre geiſtige Ent: 
wickelung; ich habe jedoch keine beſondere 
Beobachtung über dieſen Gegenſtand ge— 
macht. Nachahmung greift ebenfalls ein. 
Als unſer Junge erſt vier Monate alt 
war, glaubte ich, daß er Laute nachzuah— 
men ſuche; ich mag mich aber wohl ge 
täuſcht haben, denn erſt als er zehn Mo— 


nate alt war, konnte ich mich vollkommen | 


davon überzeugen. Im Alter von 111%, 
Monaten hatte er eine gewiſſe Fertigkeit 
in der Nachahmung von allerlei Handlungen, 
wie mit dem Kopfe ſchütteln und „Ah“ jagen 
bei etwas Garſtigem, oder ſorgſam und ſachte 
den Zeigefinger in die Mitte des andern 
Handtellers legen zu den Kinderreimen: 
„Pat it and pat it and mark it with 
T.“ Es war unterhaltend den wohlge— 
fälligen Ausdruck zu ſehen, wenn er ein 
derartiges Kunſtſtück erfolgreich ausgeführt 
hatte. 


Ich weiß nicht, ob es erwähnenswert) 


iſt, inſofern es etwas über die Stärke des 


Gedächtniſſes bei einem Kinde erkennen 


ließe, daß dieſer Junge im Alter von 3 
Jahren und 23 Tagen, als man ihm ein Bild 
ſeines Großvaters zeigte, denſelben augenblick— 
lich erkannte und eine ganze Reihe von Bege— 


benheiten erwähnte, die ſich zugetragen 
hatten, während er das letzte mal bei ihm 
war, und die in der Zwiſchenzeit thatſäch— 
lich nie erwähnt worden waren. 
Sittliches Gefühl. — Das erſte 
Anzeichen von ſittlichem Gefühl wurde im 
Alter von beinahe 13 Monaten bemerkt. 
Ich ſagte: „Doddy (ſein Schmeichelname) 
will dem armen Papa keinen Kuß geben, — 
böſer Doddy“. Dieſe Worte ſchienen ihm 
ohne Zweifel ein leichtes Unbehagen zu 
verurſachen; und endlich, als ich zu meinem 
Stuhl zurück gegangen war, ſtreckte er 
ſeine Lippen vor, als ein Zeichen, daß 
er bereit wäre, mich zu küſſen; dann 
ſchüttelte er ärgerlich ſeine Hand, bis ich 
kam und ſeinen Kuß empfing. Nahezu 
derſelbe kleine Auftritt wiederholte ſich we— 
nige Tage darauf, und die Verſöhnung 
ſchien ihm eine ſolche Genugthuung zu ge— 
währen, daß er in der Folge mehrere mal 


that, als ob er böſe wäre, mir einen 


Schlag gab und dann dararauf beſtand, 
mir einen Kuß zu geben. Hierin haben 
wir einen Zug jener Schauſpielerkunſt, 
die bei den meiſten Kindern ſo ſtark aus— 
geſprochen iſt. Um dieſe Zeit wurde es 
leicht, auf ſeine Gefühle zu wirken und 
ihn, wozu man wollte, zu beſtimmen. Als 


er 2 Jahre und 3 Monate alt war, gab er 


ſeinen letzten Biſſen Pfefferkuchen ſeiner 
kleinen Schweſter und rief dann mit hoher 
Selbſtbilligung: „O guter Doddy, guter 
Doddy“. Zwei Monate ſpäter, wurde er 
äußerſt empfindlich gegen Spott und war 
ſo argwöhniſch, daß er oft dachte, Leute, 
die ſich lachend unterhielten, lachten über 
ihn. Ein wenig ſpäter (im Alter von 2 Jah- 
ren 7½ Monaten) begegnete ich ihm, als er 
mit ungewöhnlich leuchtenden Augen aus dem 
Speiſezimmer kam. Da er dabei ein 
ſonderbares, unnatürliches oder erregtes 


Weſen zeigte, ſo ging ich in das Zimmer 
mich, und jede Spur von Schüchternheit 


um zu ſehen, wer darin wäre, und fand, 
daß er daran geweſen war, geſtoßenen Zu— 
cker zu nehmen, was man ihm verboten 
hatte. Da er nie irgend wie beſtraft wor— 
den war, rührte ſein ſonderbares Weſen 
ſicher nicht von Furcht her, und ich glaube, 
daß es eher eine angenehme Aufregung im 


Kampfe mit dem Gewiſſen war. Vierzehn 
handen iſt. Nach einiger Zeit iſt der Laut 
je nach der Urſache verſchieden, wie bei 


Tage darauf traf ich ihn, wie er aus demſelben 
Zimmer kam; er beſah ſein Lätzchen, das 
er ſorgfältig zuſammengerollt hatte. Sein 
Weſen war wiederum ſo ſeltſam, daß ich 


nachzuſehen beſchloß, was in ſeinem Lätzchen 
wäre, ungeachtet er ſagte, es wäre nichts 
nach Willkür ſchreien zu lernen, oder je— 


darin, und mir wiederholentlich „zu gehen“ 
befahl. Ich fand es mit Pickleſauce befleckt, 


ſo daß hier eine ſorgfältig überlegte Täuſchung | 


vorlag. Da dieſes Kind einzig durch Ein- 
wirkung auf ſeine guten Gefühle erzogen 
wurde, wurde es bald ſo wahrheitsliebend, 
offen und zärtlich, als nur irgend Jemand 
wünſchen konnte. 

Unbewußtheit, Schüchternheit. 
— Niemand kann ſich mit kleinen Kindern 
befaßt haben, ohne daß ihm die unbefan— 
gene Art aufgefallen wäre, mit der ſie, ohne 
mit den Augen zu blinken, feſt und ſtarr 
in ein neues Geſicht ſehen; ein Erwachſe— 
ner kann auf dieſe Weiſe nur ein Thier 
oder einen lebloſen Gegenſtand anſehen. 
Es kommt dies, glaube ich, daher, das 
kleine Kinder durchaus nicht über ſich den— 
ken, und daher gar nicht ſchüchtern ſind, 
obwohl ſie ſich bisweilen vor Fremden 
fürchten. Ich ſah bei meinem Kinde die 
erſten Zeichen von Schüchternheit, als es 
faſt 2¼ Jahre alt war: ſie zeigte ſich 
mir gegenüber nach einer zehntägigen Ab— 
weſenheit von Hauſe, hauptſächlich dadurch, 
daß ſich ſeine Augen um ein Geringes 
von mir abgewandt hielten; bald kam er 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


aber, ſetzte ſich auf mein Knie und küßte 


verſchwand. 

Mittel der Mittheilung. — 
Das Geräuſch des Weinens oder vielmehr 
Schreiens, da lange Zeit hindurch keine 
Thränen vergoſſen werden, wird natürlich 
in inſtinktiver Weiſe ausgeſtoßen, dient 
aber dazu, um anzuzeigen, daß Leiden vor— 


Hunger oder bei Schmerz. Dies wurde 
bemerkt, als der Knabe elf Wochen alt war 
und, wie ich glaube, noch früher bei einem 
anderen Kinde. Uebrigens ſchien er bald 


nachdem ſein Geſicht zu verziehen, um 
dadurch anzuzeigen, daß er etwas wolle, 
Als er 46 Tage alt war, gab er zum 
erſten Male leiſe Laute von ſich, ohne Bedeu— 
tung, zu feinem Vergnügen, und dieſe wur⸗ 
den bald mannigfach. Ein Anſatz zum 
Lachen wurde am 113. Tage, bei einem 
anderen Kinde aber weit früher beobachtet. 
Zu der Zeit glaubte ich, wie ſchon be— 
merkt, daß er anfinge, zu verſuchen, Laute 
nachzuahmen, wie er es zu einer beträcht— 
lich ſpäteren Zeit ſicher that. Im Alter 


von 5½ Monaten ließ er ein artiku⸗ 


lirtes „da“ hören, aber ohne irgend 
welche Abſicht damit zu verbinden. 
Als er etwas über ein Jahr war, ge— 
brauchte er Geberden, um ſeine Wünſche 
zu erklären; ſo las er, um ein einfaches 
Beiſpiel zu geben, ein Stückchen Papier 
auf und wies, indem er mir es gab, auf 
das Feuer, da er oft hatte Papier ver— 
brennen ſehen und dies gerne ſah. Ge— 


rade im Alter von einem Jahre that er 
den großen Schritt ein Wort für Eſſen zu 
erfinden, nämlich „mum“, was ihn aber 


Wenn 


darauf brachte, entdeckte ich nicht. 


ik 


a Aare 
7 7 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 


er nun hungrig war, brauchte er, ſtatt 
zu weinen, dieſes Wort in einer de— 
monſtrativen Weiſe als ein Verbum, das 
da ausdrückte „Gieb mir Eſſen“. Dieſes 
Wort entſpricht alſo dem „ham“, das Herrn 
Taine's Kind in dem ſpätern Alter von 
14 Monaten gebrauchte. Er gebrauchte je— 
doch „mum“ auch als ein Subſtantiv von 
weiter Bedeutung, z. B. nannte er Zucker 
ſhu-mum, und etwas ſpäter, als er das 
Wort „black“ gelernt hatte, nannte er Lak— 
ritzen black-ſhu-mum, ſchwarzes 
Zucker-Eſſen. a 
Es fiel mir beſonders der Umſtand 


auf, daß wenn er nach Eſſen mit dem 
Worte „mum“ verlangte, er dieſem (ich will 


die damals niedergeſchriebenen Worte ab— 
ſchreiben) „einen ſehr ſtark ausgeprägten 
fragenden Ton am Ende“ gab. Auch dem 


„Ah“, das er zuerſt vorzugsweiſe brauchte, 


wenn er irgend Jemand oder ſein eigenes 
Bild in einem Spiegel erkannte, gab er 
einen Ton des Ausrufs, wie wir ihn ge— 
brauchen, wenn wir überraſcht ſind. In 
meinen Notizen bemerkte ich, daß der Ge— 
brauch dieſer Betonungen inſtinktmäßig ent— 
ſtanden zu ſein ſcheine, und ich bedaure, 
daß über dieſen Gegenſtand nicht mehr 
Beobachtungen gemacht wurden. Ich be— 
richte dagegen nach meinen Notizen, daß er 


zu einer ſpäteren Zeit, im Alter von 18 bis 


21 Monaten, wenn er etwas durchaus 


nicht thun wollte, ſeine Stimme durch ein 


trotziges Winſeln modulirte, um jo aus— 
zudrücken, „das will ich nicht“; und an— 
drerſeits drückte ſein zuſtimmendes „Hm“ 
aus „Ja gewiß“. Herr Ta ine legt eben— 
falls großen Nachdruck auf die höchſt aus— 
drucksvollen Betonungen der Laute, die fein 
Töchterchen brauchte, ehe ſie hatte ſprechen 
lernen. Der fragende Ton, welchen mein 
Junge dem Worte „mum“ gab, wenn er 


Eſſen verlangte, war beſonders merkwür— 
dig; denn wenn Jemand ein einzelnes 
Wort oder einen kurzen Satz in dieſer 
Weiſe brauchen will, wird er finden, daß 
die muſikaliſche Höhe ſeiner Stimme am 
Schluſſe beträchtlich ſteigt. Ich ſah damals 
nicht, daß dieſe Thatſache die Anſchauung 
ſtützt, die ich anderswo aufgeſtellt habe: 
daß der Menſch, ehe er ſich artikulirter 
Rede bediente, Töne in einer wahrhaft mu— 
ſikaliſchen Tonleiter ausſtieß, wie dies der 
Menſchenaffe Hylobates thut. 

Es machen ſich alſo die Bedürfniſſe des 
Kindes zuerſt durch inſtinktive Schreie kund, 
die nach einiger Zeit modificirt werden, 
theils unbewußt, theils, wie ich glaube, will— 
kürlich als ein Mittel der Mittheilung, durch 
den unbewußten Ausdruck der Geſichtszüge — 
durch Geberden, und in einer ausgeprägten 
Weiſe durch verſchiedene Betonungen — 
endlich durch von ihm ſelbſt erfundene 
Wörter allgemeiner Art, dann von be— 
ſtimmterer Beſchaffenheit, die denen nach— 
gemacht ſind, die er hört; und zwar werden 
dieſe letzteren mit wunderbarer Schnelligkeit 
erworben. Ein Kind verſteht innerhalb 
gewiſſer Grenzen und, wie ich glaube, in 
einem ſehr frühen Lebensabſchnitt, die Ab— 
ſicht oder die Gefühle derer, die es warten, 
an dem Ausdruck ihrer Geſichtszüge. Es 
kann hierüber, ſoweit es das Lächeln betrifft, 
kaum ein Zweifel walten, und es ſchien 
mir, daß das Kind, deſſen Biographie ich 
hier gegeben, im Alter von etwas über 
fünf Monaten einen theilnehmenden Ausdruck 
verſtand. Als es 6 Monate 11 Tage 
alt war, zeigte es ſicher Mitgefühl mit 
ſeiner Wärterin, wenn ſie that, als ob ſie 
weinte. Wenn ſich der Knabe, als er faſt ein 
Jahr alt war, freute, wenn er ein neues 
Kunſtſtück ausgeführt, ſtudirte er augen— 
ſcheinlich den Ausdruck ſeiner Umgebung. 


Wahrſcheinlich rührte es auch von Verſchie— 
denheiten im Ausdruck und nicht blos in 
der Form der Geſichtszüge her, daß ihm 
gewiſſe Geſichter offenbar viel beſſer als 
andere gefielen, ſelbſt ſchon in dem frühen 
Alter von etwas über 6 Monaten. Ehe 
er ein Jahr alt war, verſtand er Betonun— 
gen und Geberden, wie auch mehrere Wör— 
ter und kurze Sätze. Er verſtand ein 
Wort, nämlich den Namen ſeiner Wärterin, 
genau fünf Monate, bevor er ſein erſtes 
Wort „mum“ erfand; und es ließ ſich dies 
auch erwarten, da wir wiſſen, daß die 
niederen Thiere geſprochene Wörter leicht 
verſtehen lernen! 


In Bezug auf die in dieſer Zeitſchrift 
begonnene und im vorliegenden Hefte fort— 
geſetzte Kritik der Geiger'ſchen Farben— 
theorie, hatte der Verfaſſer des obigen Ar— 
tikels die Güte, uns brieflich noch folgende 
Beobachtungen über die Entwickelung des 
Farbenſinnes bei ſeinen Kindern mitzu— 
theilen, um zu ferneren Beobachtungen dar— 
über anzuregen: 

„Während ich ſorgſam die geiſtige Ent— 


wickelung meiner kleinen Kinder verfolgte, 


war ich erſtaunt, bei zweien oder, wie ich 
glaube, bei dreien, bald nachdem ſie in das 


Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 
* 


Alter gekommen waren, in welchem ſie die 
Namen aller gewöhnlichen Dinge wußten, 
zu beobachten, daß ſie völlig unfähig er— 
ſchienen, den Farben colorirter Stiche die 
richtigen Namen beizulegen, obgleich ich 
wiederholentlich verſuchte, ſie dieſelben zu 
lehren. Ich erinnere mich beſtimmt, erklärt 
zu haben, daß ſie farbeublind ſeien, aber 
dies erwies ſich nachträglich als eine grund— 
loſe. Befürchtung. Als ich dieſe Thatſache 
einer andern Perſon mittheilte, erzählte mir 
dieſelbe, daß ſie einen ziemlich ähnlichen 
Fall beobachtet habe. Die Schwierigkeit, 
welche kleine Kinder, ſei es hinſichtlich der 
Unterſcheidung oder, wahrſcheinlicher, hin— 
ſichtlich der Benennung der Farben empfin— 
den, ſcheint daher eine weitere Unterſuchung 
zu verdienen. Ich will hinzufügen, daß 
es mir ehemals ſchien, als wenn der Ge— 
ſchmacksſinn, wenigſtens bei meinen eigenen 
Kindern, als ſie noch ſehr jung waren, 
von demjenigen erwachſener Perſonen ver— 
ſchieden geweſen ſei; dies zeigte ſich dadurch, 
daß ſie Rhabarber mit etwas Zucker und 
Milch, welches für uns eine abſcheuliche, 
ekelerregende Miſchung iſt, nicht zurück— 
wieſen, und ebenſo in ihrer ſonderbaren 
Vorliebe für die ſauerſten und herbſten 
Früchte, wie z. B. unreife Stachelbeeren 
und Holzäpfel.“ 


Rritilches über die Arzengume. 


Von 


Profeſſor M. Preyer. 


u der Zeit, als noch die Lehre 
von der Wechſelwirkung der 
Naturkräfte ihre wiſſenſchaftliche 
Begründung nicht gefunden hatte, 
galt das Suchen nach 
Perpetuum mobile für vollkommen be— 
rechtigt auch in wiſſenſchaftlichen Kreiſen. 
Vorzügliche Köpfe verwendeten ihren ganzen 
Scharfſinn darauf, Maſchinen zu erfinden, 
die ohne erneuerte Kraftzufuhr von außen 
ununterbrochen Arbeit leiſten ſollten. Ja 
noch heute verſteht es ſich keineswegs von 
ſelbſt bei Laien, daß eine Uhr nicht erfun— 
den werden kann, die durch den eigenen 
Pendelſchlag ſich ſelbſt aufzöge. Die Er— 
kenntniß der Tragweite des Geſetzes von 
der Erhaltung der Kraft nicht allein, ſon 
dern ſchon das Verſtändniß deſſelben wird 
erſt in Zukunft, ſo ſcheint es, in den 
Schulen Wurzel faſſen. 

Ganz ähnlich verhält es ſich mit dem 
Geſetz der natürlichen Entwickelung. Heute 
noch gilt es bei ſehr vielen, auch in wiſſen 
ſchaftlichen Kreiſen, nicht für thöricht, Expe— 
rimente zum Beweiſe einer Urzeugung au 


einem 


ſpruch mit der Continuität des Lebens ſteht. 
Einige Forſcher beſchäftigen ſich in der 
That exuſtlich damit, unter Ausſchluß der 
Vermittelung alles Lebenden etwas Leben— 
diges künſtlich herzuſtellen. Und wenn auch 
immer wieder und wieder Andere die Fehler— 
quellen ihrer vermeintlich zu poſitiven Er— 
gebniſſen führenden Verſuche aufdecken, jene 
laſſen nicht ab, fahren vielmehr mit einer 
Beharrlichkeit fort, die an die Geduld des 
nach dem Stein der Weiſen ſuchenden Al— 
chymiſten erinnert. Es ſcheint, daß zu 
allen Zeiten ein Bruchtheil der denkenden 
Männer in eigenthümlicher Verblendung 
mit eiſernem Fleiße thätig ſein muß, um 
durch Irrthümer, die den Widerſpruch und 
Einſpruch anderer wecken, einen wiſſenſchaft— 
lichen Fortſchritt herbeizuführen. 

So ſteht es zur Zeit mit der Lehre 
von der Urzeugung. Ich habe bereits ge— 
zeigt“), daß die Wahrſcheinlichkeit, ein leben— 
des Weſen ohne Eltern entſtehen zu ſehen, 
verſchwindend klein iſt, nämlich ſo gering 
wie die Wahrſcheinlichkeit eines lebenden 

) Deutſche Rundſchau, April 1875: Die 
Hypotheſen über den Urſprung des Lebens. 


378 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


Weſens, das nicht ſtürbe. 
des Todes jedes einzelnen Organismus be— 
zweifelt Niemand, obſchon ſie nur inductiv 
iſt. Die Thatſache der Entſtehung (der 
Geburt) jedes einzelnen Organismus aus 
anderen Organismen iſt durch mehrtauſend— 
jährige Erfahrung gefunden worden, 
ſie iſt gleichfalls inductiv feſtgeſtellt, da 
noch niemals ein lebendes Weſen beobachtet 
wurde, welches nicht von anderen lebenden 
Weſen abſtammte. Es iſt ſogar im letzteren 
Falle die Zahl der Einzelweſen, welche der 
inductiven Generaliſation unterliegen, noch 
größer, als im erſten; nämlich um die Ge— 
ſammtzahl aller noch jetzt lebenden Orga— 
nismen größer, alſo die Wahrſcheinlichkeit 
der Urzeugung ſtreng genommen noch gerin— 
ger als die Wahrſcheinlichkeit eines unſterb— 
lichen Organismus. 

Nichts deſto weniger wird immerzu 
experimentirt, um niedere Thier- oder 
Pflanzenformen ohne Vermittelung von 
Lebensproceſſen entſtehen zu laſſen. 

Um ſo auffallender iſt dieſes Verfah— 
ren, als man gemeiniglich nur dann in 
einer Wiſſenſchaft etwas Unbewieſenes an— 
zunehmen oder zu dulden pflegt, wenn da— 
durch Thatſachen mit einander in einen na— 
türlichen Zuſammenhang gebracht werden, 
die ſonſt unvermittelt daſtänden. Bei den 
Urzeugungs-Experimenten trifft dieſes aber 
ganz und gar nicht zu. Denn ſelbſt wenn! 
in einem der von dem Engländer Charl- 
ton Baſtian, oder dem Franzoſen Oni— 
mus, oder dem Holländer Huizinga 


angeſtellten Verſuche — ſetzen wir einen 
Augenblick den unmöglichen Fall — Leben— 


diges entſtanden wäre, ſo würde doch das 
eigentliche Problem vom Lebensurſprung 
um nichts gefördert ſein, weil die von den 
genannten Forſchern beobachteten Mikrozoen 
in der Natur nicht in dieſer Weiſe zum 


Die Gewißheit 


erſten Male entſtanden ſein können. Käſe, 
Fleiſch, Blut, Peptone gab es damals noch 
nicht. Auch wäre es viel ſchwieriger, das 
Eutſpringen der fertigen, ſchon ſehr com— 
plicirten Bakterien, Vibrionen u. dgl. aus 
unlebendigem Material zu begreifen, als 
eine Erklärung ihres Urſprungs ohne die 
Urzeugung zu verſuchen, wie ich es vorſchlug. 

Höchſtens dürften alſo die erwähnten 
Verſuche zum Beweiſe der Urzeugung den 
Werth beanſpruchen, zu zeigen, daß einzelne 
niedere Lebensformen bei Miſchung von 
Kohlenſtoffverbindungen auch ohne Eltern 
auftreten, nicht daß ſie einſtmals in der 
freien Natur ſo entſtanden ſein können. 
Da aber eine ſolche elternloſe Zeugung in 
der Gegenwart eine überflüſſige Annahme 
iſt und im Widerſpruch mit der Erfahrung 
ſteht, ſo ſind derlei Experimente unberech— 
tigt. Es verhält ſich mit ihnen alſo fol— 
gendermaßen: | 

1. Ein poſitives Ergebniß können Die 
Verſuche, mit Ausſchluß alles Lebenden Le— 
bendes zu erzeugen, nicht liefern, weil aus 
logiſchen Gründen die Unwahrſcheinlichkeit 


des Vorkommens einer elternloſen Geburt 


jo groß iſt, daß man ſie praktiſch der Un— 
möglichkeit gleichſetzen muß. 

2. Selbſt wenn die Verſuche der ge— 
nannten Experimentatoren ein poſitives Er- 
gebniß liefern könnten, würde die erſte na— 
türliche Entſtehung der künſtlich erzeugten 
Weſen nicht begreiflicher ſein, weil die zu 
den Verſuchen verwendeten Ingredientien, 
ſelbſt Producte von höheren Organismen, 
zur Zeit des erſten Auftretens jener Mikro— 
zoen nicht exiſtirten, demnach, jo wie im Ya- 
boratorium die betreffenden niederen Lebens— 
formen, ſicher nicht entſtanden ſein können. 

Ich muß ſomit überhaupt dieſe Ver— 
ſuche, Lebendiges darzuſtellen, von vornherein 
für verfehlt erklären. Solche Experimente 


nützen nur 
anderer Richtung unſere Kenntni erweitern 
können, namentlich in Betreff der Lebens 
zähigkeit und Verbreitung niederer Orga— 
nismen. 

Unter dieſen Umſtänden hat es ein be 
ſonderes Intereſſe, die Anſichten hervor 
ragender Denker über die Urzeugung mit 
einander zu vergleichen. 

Ich will hier nur einige wenige zuſam 
menſtellen, in der Hoffnung, daß die bei 
gefügten Bemerkungen ausreichen, ſolche 
jüngere Forſcher, die ſich mit Experimenten 
zum Beweiſe der Urzeugung abgeben wollen, 


davon abzuhalten und fie zu veranlaſſen, 
ihre Kraft und Zeit rationeller zu ver— 


werthen. 

Es ſei nur noch die Bemerkung voraus— 
geſchickt, daß in der Gegenwart namhafte 
Forſcher, die durch ihre Leiſtungen ſich als 
auf der Höhe wiſſenſchaftlicher Kritik 
ſtehend zeigen, nur inſoweit mit Experi— 
menten an der Discuſſion über die Ur— 
zeugung ſich betheiligen, als ſie die Fehler 
quellen nachweiſen, die den Vertheidigern 
der Selbſtzeugung entgangen waren. 

In Deutſchland befaßt ſich kein Forſcher 
erſten Ranges mit Anſtellung von Experi- 
menten zum Beweiſe der Urzeugung. 

Hören wir nun einige von denjenigen 
Denkern, welche nicht ſelbſt zu Gunſten 
derſelben experimentirten, aber für ſie ein— 
traten. 

Zöllner ſagt in feinem Buche über 
die Natur der Kometen (S. XXVII): „Da 
bei der hohen Temperatur des primitiven 
Gluthzuſtandes organiſche Keime in unſerem 
heutigen Sinne nicht beſtehen konnten, ſo 
muß es auf unſerem Planeten einſt eine 
Zeit gegeben haben, in welcher ſich aus 
unorganiſcher Materie Organismen ent— 
wickelten.“ | 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. ü 379 


indirect, ſofern fie nach 


art ausgeſchloſſen wäre. 


„Der Streit über die Exiſtenz einer 
generalio aequivoca und die neuerdings 
zu ihrer Widerlegung angeſtellten Verſuche 
zeigen . . . ., daß wir bei der Beſchränktheit 
unſerer Mittel und unſeres Verſtandes 
gegenwärtig nicht im Stande ſind, 
die erforderlichen Bedingungen zur ſpon— 
tanen Bildung organiſcher Zellen aus 
unorganiſcher Materie derartig zu realiſiren, 
daß jede Möglichkeit einer anderen Zeugungs 
Daß aber einſt 
wirklich eine generatio aequivoca ſtatt— 
gefunden habe, kann für den menſchlichen 
Verſtand nicht anders, als mit Aufhebung 
des Cauſalitätsgeſetzes geläugnet werden.“ 

Alſo Urzeugung iſt nach Zöllner 
ſpontane Bildung von organiſchen Zellen 
aus anorganiſcher Materie und wird vom 
Cauſalitätsgeſetz poſtulirt! Somit verlangt 
ihm zufolge das Cauſalitätsgeſetz etwas 
Spontanes, d. h. etwas Freiwilliges, was 
mit unſeren Mitteln und unſerem Verſtande 
z. Z. nicht erzielt werden kann. Sollte 
in Zukunft etwa der Verſtand ſo weit 
kommen, ſein Cauſalitätsgeſetz lieber als 
die ſpontane Entſtehung der Zelle zu 
opfern? Oder wird er es lernen, dieſe 
ſpontane Bildung als eine nothwendige 
Folge eben des Geſetzes der Cauſalität zu faſ— 
ſen, welches gerade alles Spontane in der 
Natur ausſchließt? Der Widerſpruch iſt 
ſtarl. Er beruht auf dem Irrthum: Die 
Generatio, spontanea ſei nicht realiſirbar, 
aber ſie ſei nothwendig. Ebenſo könnte 
man ſagen: Das Perpetwum mobile fe 
nicht realiſirbar, aber nothwendig. Zöll— 
ner meint, daß das Leben der Pflanzen 
und Thiere, alſo das Leben des gegen— 
wärtigen Protoplasma, das einzig mögliche 
Leben ſei. Daher der kraſſe Dualismus, 
daher die Zerreißung der Continuität des 
Lebens und die willkürliche Annahme, daß 


vor dem Erſcheinen des erſten gegenwärti— 
gen Protoplasma alles anorganiſch war. 

Weniger entſchieden tritt Brücke für 
die Urzeugung ein, nicht die gegenwärtige, 
aber die einſtmalige Entſtehung von Or— 
ganismen aus „unbelebten und anorganiſchen 
Dingen“, wenn er bei Beſprechung der 
vermeintlichen Unterſchiede der Organismen 
und Maſchinen (in ſeinen „Vorleſungen 
über Phyſiologie“, Wien 1874, II. Bd. 
S. 2) ſagt: 

„Vielleicht mit mehr Glück hat man 
als Kriterium aufzuſtellen verſucht, daß 


jeder Organismus von ſeinesgleichen erzeugt, 


ſein, oder doch von ſeinesgleichen abſtammen 
muß. Das iſt ein Kriterium, das aller— 
dings auf alle jetzt exiſtirenden Organismen 
paßt. Das iſt aber nicht genug. Das Kri 
terium, welches wir ſuchen, ſoll auf alle 
Organismen paſſen, nicht nur auf diejeni 
gen, die jetzt exiſtiren, ſondern auch auf 
alle, die exiſtiren werden und auf alle, die 
exiſtirt haben. Auf dieſe letzteren aber 
können wir dieſes Kriterium nicht anwen 
den, denn wir würden dadurch zu 
dem Schluſſe gelangen, daß alle 
Arten von Organismen, die jetzt exiſtiren, 
auch von Ewigkeit her exiſtirt hätten, eine 
Annahme, welche aller Erfahrung wider 
ſpricht, und zu welcher keine der Schöpfungs— 
theorien von den älteſten bis auf die neue— 
ſten gelaugt iſt.“ 

Wie man durch die Annahme des au 
gegebenen Kriterium zu dem erwähnten 
Schluſſe gelangen muß, iſt nicht erſichtlich. 
Vielmehr zeigt die Thatſache, daß die Eltern 
den Kindern niemals gleichen, ſondern nur 
ähneln, alſo in mancher Hinſicht von ihnen 
verſchieden ſind, die Nothwendigkeit, daß 
durch Summirung der vielen Unähnlichkeiten 
von Generation zu Generation rückwärts 
ſchließlich von den jetzt lebenden Organis— 


5 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.“ 


men durchaus abweichende Formen exiſtirt 
haben müſſen, womit die Erfahrung über— 
einſtimmt. Man gelangt alſo nicht zur 
Conſtanz, ſondern zur Variabilität der Art 
und damit zur Entſtehung der gegenwärti— 
gen Arten aus anderen früheren. Das 
Kriterium iſt vollgültig. Es führt zu 
keiner unmöglichen Conſequenz, bildet viel— 


mehr die Baſis meiner Hypotheſe vom Ur— 


ſprunge des thieriſchen und pflanzlichen Lebens. 
Aber es ſchließt die Urzeugung ein für 
allemal aus. Wer indeß ſich ſcheut, es 
anzuerkeunen — hierin nicht der Erfahrung, 
die eben das Kriterium gab, folgend — 
verfällt nothwendig dem Urzeugungsglauben. 
Dem ſtreng inductiv verfahrenden Empi 
riker kaun die Wahl, ob das Kriterium 
gültig ſei oder nicht, keine Schwierigkeit 
bereiten, aber wie, wenige verfahren auf 
dieſem Gebiete correct inductiv wie auf 
anderen Gebieten ihrer Forſchung! 

Selbſt Virchow nicht. Ohne Bei 
ſpiel iſt die Stellung, die er in dieſer 
Frage einnimmt. Einmal kann er ſich von 
der vermeintlichen Nothwendigkeit einer einſt— 
maligen plötzlichen Entſtehung lebender 
Körper aus anorganischen Stoffen nicht be— 
freien, dann wieder verwirft er die Ur— 
zeugung. Für ihn muß ſie früher einmal 
ſtattgefunden haben, als er ſchrieb: 

„War nun damals eine Spontaneität 
der Erregung? wurde damals, am fünften 
und ſechſten Tage unſeres Weltkörpers das 


„Es werde“ der Schöpfung geſprochen?“— 


und folgerte: PS 

„Wenn es richtig iſt, was man von 
der Conſtanz der Materie und von der Con— 
ſtanz der Kraft geſagt hat, ſo folgt dar— 
aus auch die Conſtanz der Bewegung, und 
es bleibt uns dann nichts weiter übrig, 
als anzunehmen, daß bei den großen Re— 
volutionen der Erde Momente eingetreten 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


1 


find, wo die bis dahin beſtandene Beweg- Abhandlungen zur wiſſenſchaftlichen Medi— 


ung, vielleicht durch die Beziehungen, welche 


der Erdkörper zu anderen Theilen unſeres 
Sonnenſyſtems erlangte, plötzlich große 
Veränderungen erfuhr, wo die Bedingungen 
zur Manifeſtation der chemiſchen und phy— 


ſikaliſchen Eigenſchaften der Körper in einer 


ganz neuen Weiſe auftraten und“ . . . „das 
Wunder d. h. die momentane Offen— 
barung des ſonſt latenten Geſetzes geſchah.“ 
Virchow fährt fort: 
„Es iſt damit keineswegs geſagt, daß 


die Perioden der Schöpfung geſchloſſen ſind 

. f el 
oder daß es .. niemals gelingen werde, dieſe 
kleinen 


ungewöhnlichen Bedingungen im 
Maßſtabe willkürlich zu ſetzen, wirklich ein— 
mal produktiv zu werden und Eiweiß, 
Stärke oder Zellen zu „machen“. Aber 


es iſt damit wohl geſagt, daß bis jetzt die 
neue Zelle aufbauen könne. Wo eine Zelle 


Bedingungen für das Umſchlagen der 
gewöhnlichen mechaniſchen Bewegungen in 
vitale vollkommen unbekannt ſind, daß die 
ungewöhnlichen Bedingungen, unter denen 


in den Zeiten der gewaltigſten Erdrevolu⸗ 


tionen die zu neuen Verbindungen zurück- 
tretenden Elemente in statu nascente die 
vitale Bewegung erlangten, jetzt nirgend 


vorhanden ſind und daß alles Leben, das 
uns gegenwärtig erkennbar wird, nur ein 
mitgetheiltes, von Einheit zu Einheit ſich 
fortpflanzendes iſt.“ 

Dieſer Auffaſſung zufolge fand alſo 
irgend einmal plötzlich die Entſtehung 
lebendiger Körper aus anorganiſchen ſtatt, 
indem die „mechaniſche“ Bewegung in „rvi— 
tale“ umſchlug. Bemerkenswerth iſt da— 
bei namentlich, wie das „Wunder“ der 
Urzeugung als eine Folge der Conſtanz 
der Materie und Kraft aufgeſtellt wird. 
Dieſes geſchah in der im Jahre 1862 in 
Berlin veranſtalteten zweiten Ausgabe der Ab- 
handlung „Das Leben“ (in den geſammelten 


« 


ein von Rudolf Virchow, S. 25). Und 
in demſelben Jahre ſtellt derſelbe Vir— 
cho w in der 13. Auflage ſeiner Cellular— 
pathologie (Berlin 1862, S. 22) es als 
allgemeines Princip hin, „daß überhaupt 
keine Entwicklung de novo beginnt, daß 
wir alſo auch in der Entwicklungsgeſchichte 
der einzelnen Theile, gerade wie in der 
Entwicklung ganzer Organismen, die Ge- 
neratio aequivoca zurückweiſen. So we— 
nig wir noch annehmen, daß aus ſaburra— 
lem Schleim ein Spulwurm entſteht, daß 
aus den Reſten einer thieriſchen oder pflanz— 
lichen Zerſetzung ein Infuſorium oder ein 
Pilz oder eine Alge ſich bilde, ſo wenig 
laſſen wir in der phyſiologiſchen oder pa— 
thologiſchen Gewebelehre es zu, daß ſich 
aus irgend einer unzelligen Subſtanz eine 


entſteht, da muß eine Zelle vorausgegangen 
fein (Omnis cellula e cellula), ebenſo 
wie das Thier nur aus dem Thiere, die 
Pflanze nur aus der Pflanze entſtehen 
kann. Auf dieſe Weiſe iſt, wenngleich es 
einzelne Punkte im Körper giebt, wo der 
ſtrenge Nachweis noch nicht geliefert iſt, 
doch das Princip geſichert, daß in der 
ganzen Reihe alles Lebendigen, dies mögen 
nun ganze Pflanzen oder ganze thieriſche 
Organismen oder integrirende Theile der— 
ſelben fein, ein ewiges Geſetz der continnir— 
lichen Entwicklung beſteht.“ 

Man wird es gewiß einem Natur- 
forſcher nicht zum Vorwurf machen, wenn 
er, durch Erfahrung und Denken belehrt, 
ſeine Anſichten ändert — ich ſelbſt habe 
noch im Jahre 1869 in einem populären 
Vortrage mich zu Gunſten der Urzeugung 
beiläufig ausgeſprochen — hier aber wer— 
den von demſelben Forſcher zu gleicher Zeit 


in zwei feiner bedeutendſten wiſſenſchaftlichen | 


Werke über eine fundamentale Frage zwei 
ſich völlig ausſchließende Anſichten behaup— 


tet. In dem einen Werk wird unter der 
Ueberſchrift: „Mechaniſcher Urſprung des 


Lebens (S. XI)“ die Urzeugung verlangt, 
in dem anderen die Urzeugung geleugnet. 
Der berühmte Ausſpruch Harvey's: 


„Vos autem asserimus omnia ommno 


animalia .. ex 0v0 progigni; primosque 

eorum conceptus, e quibus foetus fiunt, 
ova quaedam esse, ut el semina plan- 
tarum ommium“ (Exercitationes de ge- 
neratione animalium , exerc. J.) iſt vor 
nun beinahe einem Vierteljahrhundert, ge- 
rade von Virchow zu dem obigen epoche— 
machenden Satz erweitert worden: Ommis 
cellula e cellula. 

Da jedoch unmöglich angenommen wer- 
den kann, daß die Zellen von Ewigkeit 
her als ſolche exiſtiren, wie es dieſem 
Satze zufolge ſein müßte und wirklich von 
Einzelnen verlangt wurde, obwohl es keine 


Befriedigung giebt — ſagte doch nament- 
lich H. E. Richter 1865: Omne vivum 
ab aeternitate e cellula — fo muß 


der Satz noch mehr verallgemeinert werden 
und heißen: Omne vivum e vivo. 

Vor den Zellen gab es Protoplasma, 
d. h. ein Gemenge von Stoffen in leb— 
hafter Wechſelwirkung begriffen, welches, 
ohne thieriſche oder pflanzliche Organiſation 
zu zeigen, lebte. Vor ihm war ein ähn- 
liches Gemenge da und ſo fort. Sehr 
wohl können zu jeder Zeit an der Erd— 
oberfläche ſolche Gemenge, je nach den 
Temperaturzuſtänden verſchiedenartig, exiſtirt 
haben. Man nennt ſie nur dann nicht 
mehr Protoplasma oder Bioplasma, ob— 
wohl man die Flamme nicht mit anderen 
Namen nennt, je nachdem Kohle und 
Waſſerſtoff oder Eiſen und Kieſel ver— 
brennen. Das Verbrennungsmaterial iſt 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


ein anderes, ohne daß das Feuer aufhört 
feurig zu ſein. So iſt auch das dem 
Lebensproceß unterworfene Material einſt 
ein anderes geweſen, aber das Leben ſelbſt, 
d. h. ein Complex gewiſſer, in hohem 
Grade von der Temperatur abhängiger 
Bewegungserſcheinungen blieb beſtehen. 
Demnach kommt es darauf an, nicht 
Protoplasma künſtlich aus Unorganiſchem 
ohne Lebensfähiges zu erzeugen — das iſt 
ebenſo unmöglich wie ein Feuer aus Aſche 
ohne brennbares Material zu erzeugen — 
ſondern darauf, zu erforſchen, welche Be— 
ſchaffenheit die Vorſtufen des Protoplasma 
und ſeine Urahnen auf dem feurigflüſſigen 
Erdball gehabt haben können, als ſie noch 
lebten. N 
Ganz anders freilich E. du Bois— 
Reymond. Er ſagt vom Leben (Gren— 
zen des Naturerkennens 1872. S. 13): 
„Wo und in welcher Form es zuerſt er— 
ſchien, ob auf tiefem Meeresboden als 
Bathybius -Urſchleim, oder unter Mitwir⸗ 
kung der noch mehr ultraviolette Strahlen 
entſendenden Sonne bei noch höherem par- 
tiärem Drucke der Kohlenſäure in der At- 
moſphäre, wer ſagt es je? .. . Es iſt da- 


her ein Mißverſtändniß, im erſten Erſchei⸗ 


nen lebender Weſen auf Erden etwas 
Supranaturaliſtiſches, etwas Anderes zu 
ſehen, als ein überaus ſchwieriges mechani— 
ſches Problem.“ 

Alſo auch hiernach zuerſt eine anorga— 
niſche Natur ohne das geringſte Leben, 
dann Eintritt jener myſteriöſen Bedingungen, 
die ſich hinter dem ultravioletten Licht und 
der Kohlenſäure-Spannung verbergen, und 
der todte Staub wirbelte ſich zuſammen, 
ſodaß das Lebendige aus ihm entſtand. 

Im März 1848 ſcheint du Bois— 
Reymond ſogar die gegenwärtige Ur⸗ 
zeugung noch für möglich gehalten zu ha— 


ben, da er ſchrieb (Unter. üb. thieriſche 
Elektricität, Berlin 1848. I. S. XLVIII): 
„So wird es wohl auch Umſtände gegeben 
haben, unter welchen die organiſchen Weſen 
entſtanden, und wer darf ſagen, daß wir 
nicht vermöchten, dergleichen zu verfertigen, 
wenn wir vermögend wären, jene Umſtände 
herzuſtellen? Gegen ſolche freilich, die es 
vorziehen, ſich die Entſtehung der Orga— 
nismen zu erklären durch einen willkürlichen 
Eingriff in die Naturgeſetze wie ſie noch 
heute ſind, gegen ſolche iſt mit Gründen 
nichts auszurichten.“ 

Ich will nun zeigen, daß gerade der— 
jenige, welcher die Urzeugung verlangt, einen 
willkürlichen Eingriff in die Naturgeſetze, 
wie ſie noch heute ſind, verlangt, alſo mit 
ſeinem Verlangen abzuweiſen iſt. 

Ein Naturgeſetz mag wie immer defi— 
nirt werden, ſämmtliche Naturgeſetze, wie 
ſie heute beſtehen, ſind nichts als kurze 
Ausdrücke für allgemeine Thatſachen *). 
Eine ſolche allgemeine Thatſache iſt die, 
daß jedes bis jetzt beobachtete lebende Weſen 
von einem anderen lebenden Weſen direct 
abſtammt. Das Gegentheil iſt unſerer 
Beobachtung niemals vorgekommen, wir 
ſchließen alſo, daß es überhaupt nicht vor— 
kommt, und daß es auch nicht vorkommen 
wird, und ſagen: Wer die Reihe der auf— 
einanderfolgenden Generationen der Orga— 
nismen durch die Setzung einer Geueration 
ohne vorhergegangene Eltern unterbricht, 
wer alſo die Continuität des Lebens leug— 
net, macht ſich einer Willkür ſchuldig, an— 
erkennt nicht das jetzt beſtehende Naturge— 
ſetz, einerlei, ob es ein Gott geweſen ſein 
ſoll, der ſchuf, oder ein anderes nicht an— 
gebbares räthſelhaftes Agens, Urzeugung 


) Preyer, Ueb. d. Aufgabe der Na— 
turwiſſenſchaft. Ein Vortrag. Jena, Dufft, 
1876. 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 383 


genannt. Eine Schöpfung der lebenden Na— 
turkörper aus nicht Lebendem liegt in dem 
einen wie in dem anderen Falle vor. 

In vollkommenem Einklang mit der 
Beobachtung, mit dem Geſetz, ſteht dagegen 
die Annahme einer natürlichen Entwicklung. 
Da iſt keine Unterbrechung, keine Schöpfung, 
keine Urzeugung nöthig. Man muß ſich 


nur freimachen von den in der Schule in 


früher Ingend eingeimpften Lehren, als 
wenn die Moſaiſche Legende wenigſtens 
den Sinn hätte, daß das Lebende nicht von 
Ewigkeit her exiſtirt. Wie kann Todtes 
ſein, wo nicht vorher Leben war? Das 
Anorganiſche iſt aber todt, iſt das Uebrig— 
gebliebene, Erſtarrte, von der Zeit her, 
als noch der heißere Erdball ein viel in— 
tenſiveres Leben zeigte. Und wenn man 
mir einwendet: die natürliche Entwicklung 
zugegeben, ſo muß doch das Protoplasma, 
aus dem die gegenwärtigen Organismen 
ſchließlich herzuleiten ſind, zu einer gewiſſen 
Zeit aus Körpern, die nicht Protoplasma 
waren, ſich zuſammengeſetzt haben, ſodaß 
die Urzeugung wieder da iſt, dann ant— 
worte ich: Das Protoplasma der Ge— 
genwart entſtand nicht aus Körpern, die 
nicht Protoplasma waren, ſondern aus Pro— 
toplasma, das ihm ähnlich war. Aehnliche 
Dinge unterſcheiden ſich aber von einander 
in Einzelheiten, und ſo gelangt man auch 
hier, wie oben bei der Organismenreihe 
immer weiter rückwärts die Geſchichte un— 
ſeres Planeten verfolgend, ſchließlich zu 
Stoffgemengen, die erheblich vom Proto— 
plasma abweichen, darin aber ihm gleichen, 
daß ſie leben. Ich kann hierfür als ſchlagend— 
ſtes Analogon unſere eigene Entwicklung 
anführen. Unſer Zuſtand in jedem gegebe— 
nen Zeitmoment unſeres intra- wie extra— 
uterinen Lebens iſt ſehr ähnlich unſerem 
Zuſtande in dem unmittelbar vorhergegan— 


384 


genen Zeitmoment. Wenn wir aber von 
der Gegenwart an rückwärts blicken, immer 
den einzelnen ſpäteren Zuſtand mit dem 
unmittelbar vorhergegangenen, ihm ſehr ähn— 
lichen vergleichend, ſo gelangen wir zu er— 
heblich verſchiedenen Zuſtänden. Zwiſchen 
dem Manne in ſeiner Vollkraft und dem 
Säugling iſt die Aehnlichkeit noch groß, 
aber worin ſtimmt das Ei und der Held, 
der aus ihm ſich entwickelt, überein — 
abgeſehen davon, daß beide Naturkörper 
ſind — wenn nicht allein darin, daß 
beide leben? 

Wende ich mich nun zu den Forſchern, 
welche in der Gegenwart aus wiſſenſchaft— 
lichen Gründen ohne Einmiſchung irgend 
welcher religiöſen Momente, die hier ſo we— 
nig wie an irgend einem andern Platz der 
Biologie berechtigt ſind, die Urzeugung ver— 
werfen, ſo iſt es namentlich H. E. Richter 
geweſen, der zuerſt ſich mit Entſchiedenheit 
gegen die gegenwärtige und vergangene 
Generatio primitiva ausſprach und etwas 
anderes an die Stelle ſetzte, nämlich die 
Einwanderung fertiger Zellen aus dem 
Weltraum vermitteſt der Aörolithen und 
Weltwinde. Richter veröffentlichte ſeine 
Anſicht, die ich in etwas kritiſcherer Form 
als die kosmozoiſche Hypotheſe vom 
Lebensurſprung bezeichnete, an ſo verſteckten 
Stellen (m Schmidt's Jahrbüchern der 
geſammten Medicin, 1865. Leipzig 126. 
Bd.: „Zur Darwin'ſchen Lehre“ S. 248, 
249, ſowie 148. Bd. S. 60 in dem „Be⸗ 
richt über mediciniſche Meteorologie und 
Klimatologie“ 1870, zweiter Nachtrag, 
endlich 151. Bd. S. 321 u. 322 in dem 
3. Artikel über „die neueren Kenntniſſe von 
den krankmachenden Schmarotzerpilzen“ 
1871), daß der Ruhm der genialen Idee 
noch ſechs Jahre, nachdem er ſie ausgeſpro— 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


Thomſon und Helmholtz zufiel, welche 
ſie beide ſelbſtändig im Jahre 1871 noch 
einmal ausſprachen, letzterer gleichfalls zu— 
erſt in einem Werk, wo man am wenig— 
ſten etwas über Urzeugung zu leſen erwar— 
ten würde, nämlich in dem Handbuch der 
theoretiſchen Phyſik von W. Thomſon 
und P. G. Tait (Autoriſirte deutſche 
Ueberſetzung von Dr. H. Helmholtz und 
G. Wertheim, Braunſchweig, 1. Bd. 
2. Theil, 1874, S. XI bis XIII). Dieſe 
Stelle wurde zum Theil ſpäter wieder ge— 
druckt in einem Zuſatz zu einem 1871 
gehaltenen, damals nicht veröffentlichten Vor— 
trage (Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge 
von H. Helmholtz 3. Heft. Braunſchw. 
1876 S. 138 u. 139), In dem Vor⸗ 
trage ſelbſt, der vom Urſprung des Pla— 
netenſyſtems handelt, heißt es (S. 135): 
„Die Meteorſteine enthalten zuweilen Koh— 
lenwaſſerſtoffverbindungen; das eigene Licht 
der Kometenköpfe zeigt ein Spectrum, 
welches dem des elektriſchen Glimmlichtes 
in kohlenwaſſerſtoffhaltigen Gaſen am ähn— 
lichſten iſt. Kohlenſtoff aber iſt das für 
die organiſchen Verbindungen, aus denen 
die lebenden Körper aufgebaut ſind, charak— 
teriſtiſche Element. Wer weiß zur jagen, 
ob dieſe Körper, die überall den Weltraum 
durchſchwärmen, nicht auch Keime des Le— 
bens ausſtreuen, ſo oft irgendwo ein neuer 
Weltkörper fähig geworden iſt organiſchen 
Geſchöpfen eine Wohnſtätte zu gewähren? 
Und dieſes Leben würden wir ſogar viel— 
leicht dem unſerigen im Keime ver— 
wandt halten dürfen, in ſo ab— 
weichenden Formen es ſich auch 
den Zuſtänden ſeiner neuen Wohn— 
ſtätte anpaſſen möchte.“ 

Ich habe (a. a. O.) gezeigt, daß dieſe 
von Hermann Eberhard Richter zuerſt 


chen hatte, nicht ihm, ſondern Sir William ausgeſprochene Hypotheſe keine Thatſache 


8 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


gegen ſich hat. Der beſcheidene Mann 
dankte mir noch kurz vor feinem Tode,“) 
daß ich ihr Anerkennung angedeihen ließ, 
ſchrieb auch noch mehreres darüber, ohne 


aber den urſprünglichen Gedanken weſent⸗ 
lich zu ſtützen oder ihm neues Hinzuzufii- 
Das haben aber auch Helmholtz 
Und es iſt 


gen. 
und Thom ſon nicht gethan. 
zu verwundern, daß in einer ſo fundamen— 


talen Frage es bei den wenigen Sätzen ge- 


blieben iſt. Uebrigens iſt die Hypotheſe, 
wenn auch zuläſſig, doch unzulänglich. 

Sollen die kosmiſchen „Keime“ den 
jetzigen pflanzlichen und thieriſchen Keimen 
ähnlich ſein, ſo iſt die Frage nach dem 
Urſprung des Lebens nicht beantwortet, 
ſondern nur vertagt, wie auch Zöllner 
richtig bemerkt. 

Ich behaupte daher (1872), da weder 
die Annahme der Kosmozoen, noch die der 
Urzeugung ausreicht, den Fragetrieb zu be— 


ruhigen, daß die Frageſtellung umzukehren ift | 


und frage: wie iſt das Anorganiſche ge— 
worden? und ſetze voraus, daß, ehe es war, 
Lebensthätigkeit es bildete. 

Hierbei muß ich ſtehen bleiben. Es ſcheint 
mir in der That dieſe Auffaſſung nicht 
nur zuläſſig, ſondern die einzige befriedi— 
gende zu ſein, wenn ſie auch als phanta— 
ſtiſch von manchen verworfen wird. Denn 
ſchon allein der eine Ausſpruch von Helm— 
holtz: „Die richtige Alternative iſt offenbar: 
organiſches Leben hat entweder zu irgend 
einer Zeit angefangen zu beſtehen, oder es 
beſteht von Ewigkeit“ — zeugt davon, 
daß die allerſtrengſte Wiſſenſchaftlichkeit es 
zuläßt, daß nicht zu allen Zeiten das Le— 
ben gerade nur an Thieren und Pflanzen 
und deren Zwiſchenformen haftete. 

Sodann ſind die eigenthümlichen Ans 
ſichten Fechners in Einzelheiten im Ein— 
Richter ſtarb am 24. Mai 1876. 


385 


klang mit meiner Auffaſſung, ſoweit ſie 
z. B. den einen Hauptpunkt betreffen, daß 
das Leben nicht nothwendig ausſchließlich 
uns das Dutzend der gegenwärtigen organi— 
ſchen Elemente allezeit gebunden geweſen 
ſei; aber es iſt im Ganzen mehr die Un— 
befriedigung über die Annahme der Urzeu— 
gung, was Fechner und mich vereinigt, 
als eine Uebereinſtimmung in dem, was 
an ihre Stelle geſetzt wird. 

Eher iſt, was Tyndall geltend macht, 


mit meiner Hypotheſe im Einklang. Er 


verwirft die Generatio spontanea und die 
Nothwendigkeit einer radicalen Reform 
deſſen, was wir Stoff nennen, betonend 
ſpricht er die Möglichkeit aus, daß die le— 
benden Weſen dem Feuer entſtammen. Von 
der Hypotheſe der natürlichen Entwicklung 
redend ſagt Tyndall („Fragmente aus 
den Naturwiſſenſchaften“ überſ. v. A. H. 
Braunſchweig 1874, S. 187 fg.): 

„Worin beſteht der eigentliche Kern 
und das Weſen dieſer letzteren Hypotheſe? 
Eutkleidet man ſie ihrer ſämmtlichen Hül— 
len, ſo bedeutet ſie nichts Anderes, als daß 
nicht allein die roheren Formen des infuſo— 
ſoriſchen oder des thieriſchen Lebens, nicht 
allein .. der wunderbar verfeinerte Mecha— 
nismus des menſchlichen Körpers, nein, daß 
auch der Geiſt des Menſchen, Empfindung, 
Verſtand, Willen in allen ihren Erſchei— 
nungen einſt latent in einer feurigen 
Wolke enthalten waren.“ 

Dieſer Ausſpruch, ſo paradox er klingt, 
iſt nicht ſo unberechtigt wie die ihm ent 
gegengeſtellte Archibioſe. Denn wie Tyn— 
dall (a. a. O. S. 568) treffend ſagt: 
„Das Leben iſt eine Welle, die niemals 
im Laufe ihrer Exiſtenz auch nur während 
zwei aufeinanderfolgender Momente aus 
deuſelben Theilchen beſteht.“ 

Mit derartigen Aeußerungen iſt ſachlich 


— 


386 


allerdings wenig gewonnen, aber ſie zeigen, 
wie auch exacte Forſcher ſich mit der An— 
nahme einer Urzeugung im bisherigen 
Sinne nicht mehr zufrieden geben und ſich 
bemühen, etwas anderes an ihre Stelle zu 
ſetzen, ohne dem Myſticismus auch nur 
die geringſte Annäherung zu geſtatten. Lie— 
ber die ganze Wiſſenſchaft vom Stoffe und 
vom Leben revolutioniren und neugeſtalten, 
als zugeben, daß ein göttlicher Schöpfungs— 
act ſtattgefunden habe, oder daß die Con— 
tinuität der natürlichen Entwicklung einen 
Riß durch eine Urzeugung erhalte, das 
iſt der bewegende Gedanke. 

Seine nächſte Conſequenz iſt das Auf— 
geben des ſtarren Vorurtheils, als wenn 
das Leben nur an dem Protoplasma wie 
es jetzt iſt hängen könne, als wenn nicht 
auch noch andere Organismen außer den 
Pflanzen und Thieren vor dieſen gelebt 
haben könnten. Was iſt überhaupt Proto— 
plasma? Was iſt Eiweiß? Jedenfalls et— 
was höchſt Veränderliches, jedenfalls keine 
chemiſche Verbindung, ſondern ein überaus 
complicirtes Gemenge von feſten und flüſ— 
ſigen Körpern, die in fortwährender Zer— 
ſetzung, in ſtets wechſelnden Diſſociationen, 
Subſtitutionen, Syntheſen begriffen ſind. 
Wer weiß, ob nach Subſtitution eines 
Theiles des Kohlenſtoffs im Protoplasma, 
etwa durch Silicium, eines Theiles des 
Waſſerſtoffs durch Metalle, nicht ein ande— 
res Protoplasma erhalten werden kann, 
ein anderes exiſtirt hat, welches auch lebte? 
Das Eiweiß iſt in jedem Ei ein anderes, 
es iſt nicht durch ſeine Kohlenſtoff-, Waſ— 
ſerſtoff-, Stickſtoff-, Sauerſtoff- und Schwe— 
fel-Atome fähig beim Erwärmen ſich in 
den Organismus umzuwandeln, ſondern 
durch ſeine moleculare Bewegung. 


Bewegung dieſer und anderer Elemente, 


Wes⸗ 
halb ſoll nun nicht eine ähnliche moleculare 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


ehe das Eiweiß beſtehen konnte, bei höhe— 
rer Temperatur zu Vorſtufen deſſelben ge— 
führt haben? 

Wenn man lebendes Protoplasma in 
größerer Menge beſchaffen könnte, würde 
ſich wohl eine Modification deſſelben künſt— 
lich durch Einführung neuer Radicale in 
einige ſeiner integrirenden Beſtandtheile 
herſtellen laſſen, die auch bei der Tempe⸗ 
ratur des noch glühenden Erdballs ſich wie 
unſer jetziges Protoplasma bewegte, athmete, 
ernährte, theilte, die mit einem Worte 
lebte. So ſchwer es iſt, am lebenden Pro— 
toplasma chemiſche Eingriffe vorzunehmen 
ohne es zu tödten — ich habe wenigſtens am 
Myxomycetenprotoplasma bis jetzt vergeb— 
lich expperimentirt — die Möglichkeit bleibt 
beſtehen. Und wenn man ſich über ſeine 
erſte Entſtehung aufklären will, ſo müſſen 
jene chemiſchen Eingriffe, ſeine ſogenannten 
Eiweißmoleküle zu verändern, gemacht wer— 
den. 

Der einzige einſtweilen vorliegende 
Verſuch, wiſſenſchaftlich ſich darüber 
Rechenſchaft zu geben, wie dasjenige Ei— 
weiß, ohne welches wir in jetziger Zeit 
uns kein Leben anſchaulich machen können, 
entſtanden fein kann, iſt der von Pflüger. 
In ſeiner Abhandlung über die phyſiolo— 
giſche Verbrennung in den lebendigen Or— 
ganismen, welche Anfang April 1875 in 
ſeinem „Archiv für die geſammte Phyſiolo— 
gie des Menſchen und der Thiere“ erſchien, 
finde ich in einer mir höchſt erfreulichen 
Weiſe viele Betrachtungen und Thatſachen 
angegeben, die in vollem Einklang ſtehen 
mit meiner in akademiſchen Vorträgen ſeit 
1872 vorgetragenen und Ende März 1875 
veröffentlichten Anſicht vom Urſprung der 
gegenwärtigen Lebensprozeſſe. Mit Recht 
ſagt Pflüger: „Man ſieht, wie ganz 
außerordentlich und merkwürdig uns alle 


Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 


Thatſachen der Chemie auf das Feuer 


hinweiſen, als die Kraft, welche die Con- 
ſtituenten des Eiweißes durch Syntheſe 
Das Leben entſtammt 
von der Beſchaffenheit des gegenwärtigen 


erzeugt hat. 
alſo dem Feuer, und iſt in ſeinen 
Grundbedingungen angelegt zu einer Zeit, 
wo die Erde noch ein glühender Feuerball 
war. 

Pflüger zweifelt jedoch an der Ge- 


tige Zeit. Wenn man aber ſich losmacht 
von dem ganz und gar willkürlichen und 
factiſch durch nichts wahrſcheinlich gemachten 
Gedanken, als wenn nur Protoplasma 


leben könnte, jo wird man den einen gro— 
ßen Schritt weiter nicht ſcheuen, auch die 


einſtmalige Urzeugung fallen zu laſſen und 


neratio spontane nur für die gegenwär— | 


die Anfangloſigkeit der Lebensbewegung 
anerkennen. Omne vivum e vivo! 


Beobachtungen an braſilianilchen Achmetterlingen 


von 


Dr. Fritz Müller. 


J. Die Flügeladern 
der Schmetterlingspuppen. 


n Schmetterlingspuppen, die 


ſtreift haben, ſieht man häufig 
durch die noch weichen Flügel— 
decken die zarten, weißen Luft— 
röhren durchſchimmern, welche die erſte 
Anlage des Adergerüſtes der Vorderflügel 
bilden. Bisweilen laſſen ſich auch die tiefer 
liegenden Luftröhren der Hinterflügel er— 
kennen, doch vielleicht nie deutlich genug, 
um ein vollſtändiges, zuſammenhängendes 
Bild ihres Verlaufes zu gewinnen. Mit 
dem Erhärten der Puppenhaut pflegt dieſes 
Adergerüſt der Puppenflügel undeutlich 
oder völlig unſichtbar zu werden; ſelten 
nur, beſonders bei grünen Puppen mit 
glatten Flügeldecken, z. B. Siderone Ide, 
bleibt es für eine Reihe von Tagen ſicht— 
bar. 

Der Verlauf der Luftröhren in den 
Flügeln der jungen Puppen pflegt nun 


nicht unerheblich abzuweichen von dem ſpä⸗ 
teren Adergerüſt der Schmetterlingsflügel, 
und wie jo häufig Jugendzuſtände Auf- 
klärung geben über die Stammesgeſchichte, 
ſo iſt unverkennbar auch in dieſem Falle 
der Aderverlauf des Puppenflügels weit 
urſprünglicher, dem des Urſchmetterlings 
weit näher ſtehend, als das Adergerüſt des 
Schmetterlingsflügels. 

Gerade für die Ordnung der Schmet— 
terlinge muß aber jeder neue Anhalt zur 
Feſtſtellung ihrer verwandtſchaftlichen Be— 
ziehungen unter einander und zu anderen 
Inſekten und ſomit ihres Stammbaumes 
hoch willkommen ſein. Sagte doch ſchon 
Latreille: „Lepidopterorum ordo en- 
tomologorum scopulus“, und daß dieſer 
Ausſpruch noch heute gilt, beweiſt unter 
Anderem die geringe Uebereinſtimmung 
zwiſchen den der neueſten Zeit angehörenden 
Anordnungen der Tagfalter von Herrich— 
Schäffer, von Kirby und von 
Butler. 

Doch beſſer als durch allgemeine Betrach— 
tungen veranſchauliche ich wohl durch Vor— 
führen einiger Beiſpiele die Bedeutung des 
Flügelgeäders der Puppen. 


Ich zeichne zu- 
nächſt in Fig. 1 den 
Vorderflügel der 
Castnia Arda- 
lus und ſtelle in 
Fig. 2 den der Si- 
derone Ide da⸗ 
runter. Die große 
Verſchiedenheit des 
Adergerüſtes ſpringt 2. 
ſofort in die Augen. derone eine ein— 
Bei Siderone zige einfache Innen— 
eine einfache Mittel- a SI vandsader (1b), 
zelle und die von ihr während Castnia 
nach dem Rande des deren drei beſitzt 
Flügels gehenden Längsadern, alle anſchei- | (La, 1b, Le), von denen die beiden hinte— 
nend aus zwei Stämmen entſpringend, und ren (la und 1b) durch einen Queraſt 

zwar 2 bis 4 aus der Mediana, 5 bis 11 verbunden find. 

aus der Subcoſtalis. Bei Castnia Welches der beiden Adergerüſte iſt nun 
dagegen entſpringen nur 2 und 3 aus der das urſprüngliche, dem des Urſchmetterlings 
Mediana, 7 bis 11 aus der Subcoſtalis, näherſtehende? — Gerſtäcker, welcher 
während die dazwiſchen liegenden 4 bis 6 dem Flügelgeäder der Kleinſchmetterlinge 
als Aeſte der bei der Siderone fehlen- wegen der drei Innenrandsadern der Hinter— 
den Discoidalis erſcheinen, durch welche die | flügel größere „Vollkommenheit“ zuſchreibt, 


Mittelzelle der Länge 


Außerdem wird durch 
einen Queraſt zwi— 
ſchen 8 und 9 eine 
kleine Nebenzelle ge— 
bildet. Zwiſchen 
Mittelzelle und In— 


verläuft bei Side- 


Fig. 2. Vorderflügel von Siderone Ide. (2 : 1.) 


nach getheilt wird. 


nenrand der Flügel 


. 


390 Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. 


würde wohl das weit einfachere Adergerüſt 
der Siderone für unvollkommener und 


daher wohl auch für älter erklären, als 


das viel verwickeltere der Castnia. — 


Dr. A. Speyer, der den Saturnien, 


mit nur einer Innenrandsader der Hinter— 
flügel, hoch entwickelten Flügelbau zuſchreibt, 
und den Weidenbohrer (Cossus), deſſen 


Fig. 3. 


Flügelgeäder der Puppe von 


Siderone Ide. (3: J.) 

Das Flügelgeäder der Puppe von Si— 
derone Ide (Fig. 3), das ich am erſten 
Tage nach der Verpuppung (10. Juni 1876) 
zeichnete, entſcheidet ſofort die Frage. Das— 
ſelbe gleicht weit weniger dem des Schmet— 
terlings, der aus der Puppe hervorgeht, 
als dem der Castnia. Wie bei dieſer 
finden ſich drei Innenrandsadern (1a, 1b, 
le), eine Mediana mit zwei (2 und 3), 
eine Discoidalis mit drei (4 bis 6) und 
eine Subcoſtalis mit fünf (7 bis 11) Aeſten. 
Queradern fehlen noch. — Nach einigen 
Tagen verſchmelzen, jenſeits des Urſprungs 
der Ader 11, die beiden Hauptäſte der 
Subcoſtalis auf eine kurze Strecke, ſo daß 
dann auch die von den Aeſten der Sub— 
coſtalis umſchloſſene Nebenzelle der Cast- 
nia Ardalus nicht fehlt. Später ver- 
einigt ſich dieſe Nebenzelle mit der Mittel— 
zelle, indem die ſie trennende Ader ver— 
kümmert und ſchwindet. An den Flügeln 


Vorderflügel im Adergerüſt ſich kaum von 
denen der Castnia unterſcheiden, als eine 
Form bezeichnet, deren Flügelgeäder dem 
der Haarflügler (Phryganiden) und fo- 
mit wahrſcheinlich der Urform der Schmet— 
terlinge beſonders nahe ſteht, wäre ohne 
Frage entgegengeſetzter Meinung. 


1% 
Fig. 4. Flügelgeäder der Puppe von 
Callidryas Argante. (3 : 1.) 


verſchiedener Schmetterlinge iſt dieſes ver— 


kümmerte Stück des hinteren Hauptaſtes 


der Subcoſtalis noch deutlich wahrzunehmen, 
häufiger noch der verkümmerte Stamm der 
Discoidalis und die vordere Innenrands— 
ader (Ic). 

Als zweites Beiſpiel gebe ich (Fig. 4) 
das Flügelgeäder einer jungen Puppe von 
Callidryas Argante; von dem der 
Siderone Ide unterſcheidet es ſich da— 
durch, daß, wie bei dem Schmetterling, die 
beiden hinteren Innenrandsadern (la und 
1b) nahe der Wurzel ſich vereinigen, daß 
die beiden Hauptäſte der Subcoſtalis ſchon 
zur Zeit der Verpuppung verſchmolzen ſind 
und ebenſo faſt bis ans Ende die Aeſte 8 
und 9; endlich dadurch, daß die Discoida— 
lis nur zwei Aeſte hat. Es iſt alſo ſchon 
in der Puppe, wie beim Schmetterling und 


wie bei vielen anderen Pieriden, eine Ader 


weniger vorhanden, als bei Siderone. 


Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. 


So viel ich weiß, nimmt man bis jetzt 
allgemein an, daß die fehlende Ader ein 
Aſt der Subcoſtalis ſei; Doubleday 
wenigſtens beſchreibt die Subeoſtalis als 
nur vieräſtig und bezeichnet die Ader 7 
als erſte Discoidalader. Ein Blick auf 
die Puppe widerlegt dieſe Annahme und 


zeigt, daß die Subcoſtalis ihre gewöhn- 


lichen fünf Aeſte vollzählig beſitzt, daß da— 
gegen ſtatt der beiden vorderen Aeſte der 
Discoidalis (5 und 6) nur ein einziger 
vorhanden iſt. 

Ich hoffe, dieſe wenigen Beiſpiele wer— 
den genügen, dem Verlaufe der Luftröhren 


in den Flügeln junger Schmetterlingspuppen 
Düfte. 


die verdiente Beachtung zuzuwenden. 


2. Die Duftſchuppen 
der männlichen Maracujäfalter. 


Der Geruchsſinn ſpielt im geſchlecht— 
lichen Verkehr vieler Thiere eine wichtige 


Rolle. Zu dieſen gehören auch die Schmet- 


terlinge. Männchen mancher Schwärmer 
und Nachtſchmetterlinge riechen auf unglaub— 


liche Entfernung ihre der Begattung har 


renden Weibchen. Aber auch ihrerſeits ver— 
breiten viele Schmetterlingsmännchen Ge— 
rüche, die jedenfalls den Weibchen angenehm 
ſind und ihre Geſchlechtsluſt reizen. Von 
den Männchen des Liguſter- und des Win— 
denſchwärmers weiß man ſeit lange, daß 
ſie einen im Fluge beſonders ſtark hervor— 
tretenden Moſchusgeruch entwickeln, ohne 
daß man bisher die Stelle, von der dieſer 
Geruch ausgeht, ermittelt hätte. Die En— 
tomologen in Europa haben eben Wichtigeres 
zu thun. Die Männchen einer Motte der 
Gattung Cryptolechia und die der 


Glaucopiden, den deutſchen Blutflecken 


(Zygaeniden) verwandter Schmetterlinge, 
ſtülpen am Ende des Hinterleibes ein Paar 


391 


hohle, behaarte Fäden aus, bisweilen von 


Körperlänge, von denen ein oft ſehr ſtar— 
ker, für uns bald widerlicher, bald ange— 


nehmer (3. B. wie aus Chloroform und 
Bittermandelöl gemiſchter) Geruch ausgeht. 
Ebbenſo können bei den prächtigſten der ſüd— 


amerikaniſchen Schmetterlinge, den rieſigen 
Morpho, die Männchen am Ende des 


Hinterleibes jederſeits eine behaarte, riechende 


Wulſt hervortreten laſſen; bei dem im 


prachtvollſten Blau ſchillernden M. Adonis 
und dem ähnlichen M. Cytheris iſt der 
Geruch vanilleähnlich. — Weit häufiger 


als der Hinterleib ſind die Flügel der 
Sitz der das Männchen auszeichnenden 
Um nur einige wenige der durch 
beſonders ſtarken Geruch ausgezeichneten 
Arten zu nennen, ſo iſt bei dem Männchen 
des Papilio Protesilaus, eines dem 
Segelfalter ähnlichen Falters mit ſchuppen— 
armen, durchſichtigen Flügeln, der Innen- 
oder Hinterrand der Hinterflügel breit nach 
oben umgeſchlagen; werden dieſe Flügel 
ſtark nach vorn gezogen, jo öffnet ſich der 
Umſchlag und es kommt ein ſich ſträuben— 
der, dichter Bart aus langen ſchwarzen 
Haaren zum Vorſchein, und zugleich wird 
ein lebhafter Geruch bemerkbar. In der 
Familie der Weißlinge (Pierinen) zeich— 
nen ſich in dieſer Beziehung aus Lepta- 
lis Thermesia und der durch leicht ge— 
ſchwänzte Hinterflügel merkwürdige Gelb 
ling Callidryas Cipris; bei beiden 
geht der Geruch aus von einem mit eigen— 
thümlichen Schuppen bedeckten Fleck, der 
auf der Oberſeite der Hinterflügel nahe 
dem Vorderrande liegt und bei Calli- 
dryas Cipris noch von einer Mähne 
langer Haare bedeckt wird. Bei den Männ- 
chen faſt aller Braſſoliden, großer, 
den Morpho ähnlicher, aber minder 
glänzend gefärbter Falter, die beſonders am 


392 


find die Hinterflügel mit ſehr verſchieden— 
artig gelegenen und gebildeten Duftwerk— 
zeugen ausgeſtattet. Einen ungewöhnlich 
ſtarken Biſamgeruch bemerkte ich bei einer 
auf der Höhe der Serra gefangenen Da- 
syophthalma; hier trägt das Männ— 
chen auf der bläulich ſchwarzen Oberſeite 
der Hinterflügel einen eirunden, ockergelben 
Fleck, welchen die Discoſtalader durchſchnei— 


Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. 


frühen Morgen und gegen Abend fliegen, ungemein große Verdunſtungsfläche ent— 


| 


falten. 

Man iſt wohl berechtigt, allen ähnlichen 
unter den Tagfaltern ſehr verbreiteten Vor— 
richtungen dieſelbe Deutung zu geben, auch 
wenn bis jetzt ein Geruch noch nicht be— 


obachtet wurde und ſelbſt wenn ein ſolcher 


für menſchliche Naſen überhaupt nicht wahr- 


nehmbar wäre. 


det, und dahinter in der Mittelzelle einen 
Schmetterlinge nicht plötzlich in ihrer jetzigen 


langen Pinſel lehmgelber Haare, den der 
Falter willkürlich aufrichten und ausſpreizen 


kann. Bei den Männchen vieler Thecla- 
Arten findet ſich auf der Oberſeite der 
Vorderflügel am Ende der Mittelzelle ein 


meiſt dunkler Fleck, aus ſehr feſt haftenden, 


abweichend geſtalteten Schuppen gebildet; 


bei größeren Arten pflegt ein von dieſem 
Fleck ausgehender Geruch wahrnehmbar zu 
ſein; ſehr ſtark (fo daß er auffällt, ſobald 
man das Thier in den Käſcher bekommt) 
und dabei widerlich, fledermausähnlich, iſt 
derſelbe bei der prachtvollen Thecla 
Atys. 

Gemeinſam iſt allen dieſen und anderen 
Duftwerkzeugen, daß ſie, ſo lange der 
Schmetterling ruht, wohl geborgen und 
vor Verdunſtung geſchützt ſind, ſei es zwi— 
ſchen den Flügeln, oder zwiſchen Flügel 
und Hinterleib, ſei es in beſonderen Rin— 
nen oder durch Umſchlag des Randes ge— 
bildeten Taſchen der Flügel (dahin z. B. 
der ſogenannte „Coſtalumſchlag“ am Vor— 
derrande der Vorderflügel bei vielen Dick— 
köpfen), ſei es im Innern des Leibes, wie 
die ausſtülpbaren Wülſte und Fäden der 
Morpho und der Glaucopiden. 
Beſonders wirkſame Räuchervorrichtungen 
bilden die Pinſel und Mähnen, die wäh— 
rend der Ruhe mit Riechſtoff ſich ſättigen 
und dann plötzlich, ſich ausſpreizend, eine 


| 


Natürlich find dieſe überaus mannig— 
faltigen Duftvorrichtungen der männlichen 


Vollkommenheit zu Tage getreten; ſie haben 
ſich aus einfacheren Zuſtänden entwickeln 
müſſen. Und da nun viele derſelben ver— 
hältnißmäßig junge Bildungen ſind, wie 
ihre ſehr abweichende Geſtaltung in nahe 
ſtehenden Gattungen, oder ſelbſt innerhalb 
derſelben Gattung (z. B. Papilio) be— 
weiſt, ſo dürfte die Hoffnung nicht unbe— 
rechtigt erſcheinen, noch ſolche einfachere Zu— 
ſtände aufzuſinden. Da bisweilen ſelbſt 
wohlentwickelte Duftflede (3. B. bei Calli- 
dryas Philea c') oder Haarbüſchel (z. B. 
Mechanitis Lysimnia c') keinen für 
uns ſicher wahrnehmbaren Geruch verbrei— 
ten, ſo mußte man ſelbſtverſtändlich von 
vornherein bei derlei einfachen Formen auf 
Erkennen durch die Naſe verzichten und 
ihre Deutung anderweitig ſicher ſtellen. Es 
laſſen ſich nun in der That auf den Flü— 
geln verſchiedener Schmetterlinge Schuppen— 
bildungen nachweiſen, die man mit Wahr— 


ſcheinlichkeit als einfachere, urſprünglichere 


Duftwerkzeuge betrachten kann. Unter dieſen 
ſind beſonders merkwürdig, weil ihre Deu— 
tung als ſolche wohl kaum einem Zweifel 
unterliegen kann, die Duftſchuppen der 
männlichen Maracujafalter. 

Die Maracujafalter, wie ich ſie 
nach den Pflanzen nenne, an welchen, ſo— 
weit bekannt, die Raupen aller Arten le— 


Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. 


ben,) bilden eine auf das wärmere Südame— 
rika beſchränkte Gruppe engverwandter Ar— 
ten. 
ihnen ein ganz eigenartiges Ausſehen, ihre 
meiſt ſchönen, reinen, ſatten Farben machen 
fie, wie die Morpho, zu einer wahren 
Zierde ſüdamerikaniſcher Landſchaften. Man 
hat aus ihnen vier Gattungen gebildet, 
Heliconius, Eueides, Colaenis und 
Dione (-Agraulis) und dieſe Gattun 


gen bisher allgemein — unbegreiflicherweiſe 


möchte man ſagen, wenn bei der landläu— 
figen Syſtematik überhaupt etwas unbe— 
greiflich wäre, — in zwei verſchiedene Un— 
terfamilien oder Familien, die Heliconinen 
und die Nymphalinen vertheilt; man 
hat Colaenis und Dione oder ſelbſt 
Eueides von dem nächſtverwandten He- 
liconius losgeriſſen, um ſie mit Age— 
ronien, mit Apaturen, mit Sidero— 
nen zuſammenzuwerfen! Unter ſich durch 
ihre geographiſche Verbreitung, durch den 
Bau der Raupen wie der Falter, ja ſelbſt 
durch ihre Liebhaberei für beſtimmte Blu— 
men**) auf's Engſte verbunden, ſcheinen 
ſie keiner anderen Tagfaltergattung beſon— 
ders nahe verwandt zu ſein. Am nächſten 


) Von den hieſigen Arten wurden auf 
Maracuja (Passiflora) gefunden die Raupen 
von Heliconius Eucrate, EueidesIsa- 
bella und Aliphera, Colaenis Julia 
und Dido, Dione Vanillae und Juno 

) Poinsettia pulcherrima wurde 
im vorigen Jahre in meinem Garten außer 
von zahlreichen Theela- Arten und einigen 
Eryeiniden nur ſelten und zufällig von 
anderen Tagfaltern beſucht, mit Ausnahme 
der Maracujäfalter; dieſe fanden ſich 
regelmäßig ein und verweilten andauernd 
bei der Pflanze, und zwar faſt alle hieſigen 
Arten. Es fehlten nur Eneides Pavana, 
den ich überhaupt erſt drei- oder viermal, 
ſowie Dione Moneta, den ich erſt einmal 
geſehen habe. 


Ihre langen ſchmalen Flügel geben 


dachziegelartig deckt. 


393 


ſteht wohl noch Acraea, deren Raupen 
in allem Weſentlichen mit denen der Ma— 
racujafalter übereinſtimmen. 

Bei allen darauf unterſuchten Mäun— 
chen der Maracujafalter nun finden ſich 
auf der Oberſeite der Hinterflügel nahe 
dem Vorderrande, beſonders zahlreich längs 
der Coſtal- und Subcoſtalader, zwiſchen 
den gewöhnlichen Schuppen einzelne andere 
von ſehr auffallender Geſtalt, wie ich ſie 
ähnlich nur bei den Männchen eines Weiß— 
lings der Gattung Hesperocharis 
geſehen habe. Ihr meiſt ziemlich ſtark gewölbter 
Endrand iſt dicht mit Franzen beſetzt, welche 
wie durch einen fremden Stoff mehr oder 
minder mit einander verklebt ausſehen. 
Faſt noch rein erſchienen die Franſen bei 
einem Männchen von Eueides Ali- 
phera, das ich dieſer Tage aus der 
Puppe erhielt und im Laufe des erſten 
Tages tödtete. — Die Schuppen erſcheinen 
bis auf einen hellen Saum längs des befran— 
ſten Randes trüb und undurchſichtig; ihr 
Stiel iſt, im Gegenſatze zu dem gewöhn— 
licher Schuppen, dünn, dünnhäutig, und 
ſchlaff; das Grübchen, dem er eingefügt 
iſt, iſt mehrfach größer als bei den anderen 
Schuppen, kuglig und dabei breit und dun— 
kel gerandet, als enthielte es einen ſtark 
lichtbrechenden Stoff. Im Uebrigen iſt, 
wie nachſtehende Figur zeigt, die Geſtalt der 
Schuppen eine ziemlich wechſelnde. 

Bei den Männchen von Colaenis 
Dido kommen dieſe Schuppen auch ander— 
wärts auf der Oberſeite der Flügel vor. 


Genauer habe ich ihre Anordnung erſt bei 


Heliconius Besckei mir angeſehen. Wie 
bekannt, bilden die Schuppen der Tagfalter 
Querreihen, von denen jede der Flügelwurzel 
nähere die Einfügungsſtellen des folgenden 
In jeder Ouerreihe 
wechſeln zweierlei Schuppen miteinander ab, 


0 


Müller, Beobachtungen 


Fig. 5 


a, Heliconius Apsendes. 


Duftſchuppen männlicher Maracujaäfalter. 
b Heliconius Besckei. 


(Vergrößerung 180 : 1.) 
ce Eueides Aliphera. d Colaenis Dido. 


e Dione Juno. 


die einen, der Flügel— 
haut aufliegenden 
(Unterſchuppen), ſind 
meiſt breiter und 
kürzer, die anderen 
darüberliegenden 
(Deckſchuppen) ſchmä— 
ler und länger. Wo 
nun an der bezeich— 
neten Stelle dieſe 
regelmäßige Schup- 
penſtellung vollſtändig ausgeprägt iſt, pfle— 
gen die Duftſchuppen den Ort von Deck— 
ſchuppen einzunehmen. Doch liegen ihre 


Fig. 6. 
a Unterſchuppen. b Deckſchuppen. e Duftſchuppen. 


Linie mit denjenigen der anderen Schup— 
pen, vielmehr meiſt der Flügelwurzel näher. 
Namentlich längs der Coſtalader, wo die 
Duftſchuppen am dichteſten ſtehen, iſt die 
Anordnung der Schuppen eine minder 
regelmäßige und hier ſind auch die Duft— 
ſchuppen anſcheinend ganz regellos zwiſchen 
die anderen eingeſtreut. 

Was nun die Deutung als Duftſchup— 
pen betrifft, ſo ſpricht dafür: 

1) ihre Beſchränkung aaf das männ⸗ 
liche Geſchlecht; 

2) ihr Vorkommen an der Stelle, die 
vor allen anderen häufig von Duftvorrich— 
tungen eingenommen wird. Hier, d. h. 
auf dem vom Hinterrande der Vorderflü— 
gel bedeckten Theile der Oberſeite der Hin— 
terflügel, finden ſich unter den Danaiden 


. I e 
A m a cc 0 1 NN] 
0 | I ı | HIN) 

| | 


Anordnung der Duftſchuppen bei 


Heliconius Besckei. 


unter den Morphinen: 


die Duftvorrichtun— 
gen bei Arten von 
Euploea, hier die _ 
langen Haarpinſel 
von Ithomia, 
Mechanitis und 
den meiſten heliconier⸗ 
ähnlichen Danatden; 
unter den Satyri⸗ 
nen: der große 
weiße Duftfleck von 
Haar⸗ 


Gnophodes Morpena, der 


büſchel verſchiedener Mycalesis-Arten; ein 
Fleck mit langeu ſchwarzen ſeidenartigen Haaren 
Einfügungsſtellen nur ſelten in derſelben 


bei Bia Actorion; unter den Elym— 
niinen: der Haarbüſchel von Elymnias; 
der eirunde le—⸗ 
derbraune Fleck von Zeuxidia, ſowie ein 
Haarbüſchel von Tenaris, Clerome 
und Thaumantis; unter den Braſſo— 
linen: der eirunde Fleck von Das yo— 
phthalma, unter den Nymphalinen: 
der Fleck von Lachnoptera; unter den 
Pierinen: der Duftfleck verſchiedener Ar— 
ten von Leptalis, Callidryas, Na- 
thalis u. ſ. w.; unter den Heſperiden 
der Haarbüſchel von Caeeina; endlich 
unter den Motten (Hyponomeutiden) 
der lange graublonde Haarbuſch von 
Trichostibas. x 

3) die Franſen am Endrande, welche, 
wie andere Duftvorrichtungen, ſowohl die 
Anſammlung von Riechſtoffen begünſtigen, 


fo lange die Flügel auf einander liegen, 
als auch eine raſche Verdunſtung derſelben, 
ſobald die Flügel ſich von einander ent— 
fernen; 

4) das Grübchen, in welchem der Stiel 
ſitzt, und welches man von ganz ähnlichem 
Ausſehen in unzweifelhaften, ſtarken Geruch 
verbreitenden Duftflecken antrifft. 

Von Gattungen, die man in die Nähe 
der Maracujafalter zu ſtellen pflegt, habe 
ich nur Acraea, Arg ynnis und Me— 
litaea (von letzteren beiden alpine Arten, 
die mein Bruder Hermann geſammelt 
hat) unterſucht, aber an den Flügeln der 
Männchen nichts den Duftſchuppen von 
Heliconius, Eueides, Colaenis und 
Dione Aehnliches finden können. Selbſt 
dieſes ſo unſcheinbare Merkmal beſtätigt 
auf's Neue die enge Verwandtſchaft unter 
ſich und die Abgeſchloſſenheit der Maracu— 
jafaltergruppe. 

Außer den Düften, durch welche männ— 
liche Schmetterlinge dem umworbenen Weib— 
chen ſich angenehm machen, erzeugen manche 
Schmetterlinge Gerüche, die Inſecten freſſen— 
den Vögeln oder anderen Feinden zuwider 
ſind und dadurch gegen deren Verfolgung 
ſchützen. Man kann ſie von erſteren leicht 
dadurch unterſcheiden, daß ſie bei beiden 
Geſchlechtern in gleicher Weiſe auftreten und 
daß der Schmetterling ſie losläßt, ſobald 
er in Gefahr kommt, ſobald er alſo z. B. 
angefaßt wird. Auch die Maracujafalter 
beſitzen einen ſolchen, und zwar einen recht 
ſtarken ſchützenden Geruch. Fängt man ir— 
gend eine Art, fer es Männchen oder Weib: 
chen ſo erſcheinen am Ende des Hinterleibes 
gelbe Wülſte, je nach dem Geſchlechte ver— 
ſchieden geſtaltet und gelegen, aber bei Männ— 


Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.“ 395 


chen und Weibchen genau denſelben wider— 
lichen Geruch verbreitend. Es könnte dieſer 
Umſtand gegen die eben gegebene Deutung 
der Duftſchuppen Bedenken erregen; es 
könnte befremden, daß das Männchen neben 
dem ſehr ſtarken, die Feinde abſtoßenden, 
noch einen anderen ſehr ſchwachen, für uns 
völlig unmerklichen, die Weibchen anlocken— 
den Geruch erzeugen ſollte. Darauf läßt 
ſich ſagen, daß man bereits wenigſtens 
einen Fall kennt, in welchem gleichzeitig 
und noch dazu dicht bei einander die bei— 
derlei Gerüche vorkommen. Didonis 
Biblis, ein hübſcher, mittelgroßer, ſchwar— 
zer Falter mit breitem rothen Bande längs 
dem Saume der Hinterflügel, beſitzt in beiden 
Geſchlechtern auf dem Rücken des Hinter— 
leibes, zwiſchen viertem und fünftem Ringe, 
eine ſchwärzlich behaarte Doppelwulſt, die 
hervorgeſtülpt wird, wenn man das Thier 
ergreift; außerdem beſitzt das Männchen 
eine dem Weibchen vollſtändig fehlende 
weißbehaarte, von dem ſchwarzen Hinter— 
leib grell abſtechende Doppelwulſt zwiſchen 
dem fünften und ſechſten Hinterleibsring, 
die das gefangene Thier niemals freiwillig 
hervortreten läßt. Man kann mit einiger 
Vorſicht bald die vordere, bald die hintere 
Wulſt allein hervordrücken und ſich ſo von 
der Verſchiedenheit der Gerüche überzeugen, 
von welchen auch für uns der der vordern 
Wulſt unangenehm, der der hintern ange— 
nehm iſt. Durch dieſen Fall verliert die 
überdies kaum zu umgehende Deutung der 
Duftſchuppen auf den Flügeln der männ— 
lichen Maracujafalter das Befremdliche, 
was ſie für einen vereinzelt ſtehenden Fall 
haben könnte. 


Ueber Turbeupracht und Größe der Alpenblumen“) 


von 


Dr. Arnold Dodel- Port. 


Cr die moderne Naturwiſſenſchaft 
* ER erheben, ift wohl feine begrün⸗ 

deter und wahrer als diejenige, 
daß die neuere Biologie mit den Göttern 
in der Natur aufgeräumt habe, aber zu— 
gleich kein Vorwurf ungerechter, als der, 
daß die ſtrenge Wiſſenſchaft ſich mit einer 
äſthetiſchen Naturanſchauung nicht ver— 
trage und gleichſam darauf ausgehe, die 
Menſchheit um den Sinn für das Natur— 
ſchöne zu bringen. Mit dieſer Anklage 
ſteht in direktem Widerſpruch die That 
ſache, daß in keinem Zeitalter mehr als 
in der Gegenwart die Freude am Natur— 


* Wir dürfen über dieſes anziehende 
Problem hoffentlich bald genauere Aufſchlüſſe 
erwarten, da der gründlichſte Kenner der 
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und 
Inſekten, Oberlehrer Dr. H. Müller in 
Lippſtadt, ſeit einer Reihe von Sommern die 
Hochalpenflora in dieſer Richtung ſtudirt, und 
eben wieder auf ſeinem Beobachtungsfelde 
weilt. Schon im nächſten Hefte werden wir 
einige diesbezügliche Specialbeobachtungen 
mittheilen können. Anm. d. R. 


„ 


genuß ihren intenſiven Ausdruck gefunden 
hat im Aufſuchen der ſchönſten Himmels— 


ſtriche unſeres Planeten. Und heute mehr 
als je find es gerade die exacten Natur- 
forſcher, welche an der Spitze jener Co— 
lonnen marſchiren, deren Streben im Auf- 
finden neuer Punkte für erhabene Natur⸗ 
genüſſe gipfelt. Freilich verfolgt hierbei 
der ernſte Forſcher ſtets auch ſeine ernſten 
wiſſenſchaftlichen Zwecke. Er hat vor allen 
anderen Naturfreunden noch das voraus, 
daß er an tauſend Enden die unzähligen 
Lettern zu erkennen vermag, durch welche 
die Natur dem Eingeweihten ihre Offen— 
barungen, ihre ewigen Wahrheiten enthüllt. 
Bei ihm geſellt ſich zum Genuß am Natur- 
ſchönen auch der Genuß der Erkenntniß 
— und die Freude an letzterer wird ſtets 
größer ſein, als die Erregung, welche das 
Naturſchöne allein in uns hervorzubringen 
vermag. Beiderlei Genüſſe ſchließen ſich 


gegenſeitig keineswegs aus, ſondern ſie er— 
gänzen und erhöhen ſich beim Naturkenner 
eben zu jenem einzigen Hochgenuß, der die 
Miſeĩre unſeres eigenen Daſeins vergeſſen 
Naturwiſſenſchaft 


macht. Die moderne 


empfindet die Aufgabe, mehr und mehr 
in weiteren Kreiſen das richtige Natur— 
erkennen auszubreiten, wie eine Pflicht und 
zu jenen geiſtigen Genüſſen, welche bis 
heute faſt ausſchließlich den Männern der 
Wiſſenſchaft vorbehalten blieben, alle Welt 
einzuladen. 

Für heute mag uns eine Alpenwan— 
derung auf die Blumen aufmerkſam machen, 
welche bei einer Beſteigung des Pilatus 
ſeit den mittelalterlichen Zeiten, in denen 
dieſer Berg zuerſt das Wallfahrtsziel from— 
mer Seelen wurde, bis heute, wo er auch 
bei den Weltkindern in die Mode gekom— 
men iſt, von Tauſenden an ihrem Wege 
erblickt worden ſind, aber gewiß nur bei 
den Wenigſten tiefere Betrachtungen ange— 
regt haben. 

Ein Dampfboot führt uns auf dem 
Spiegel des Sees hinüber an den Fuß des 
ſteinernen Domes. Auf einſamem Feldweg 
erſteigen wir leicht den dunkeln Tannen— 
wald, der den Rieſen vom Fuß an bis 
über die halbe Höhe hinauf umgürtet. 
Waldbäche rauſchen in felſigem Bett her— 
nieder, Hummeln und Bienen ſchweben von 
Blume zu Blume, Schmetterlinge wiegen 
ſich taumelnd durch die Lüfte. 

Der Weg wird ſteiler, beſchwerlicher, 
bald kühl ſchattig, bald brennend heiß von 
der hochſtehenden Juli-Sonne. Ja, es iſt 
Sommer, das ſagt uns nicht allein die 
hohe Temperatur am Bergabhang, das 


ſagen uns vielmehr die Tauſende aufge⸗ 
ſcheuchter Inſekten, die Honigſammelnden 


und Blutſaugenden. Ihr Tiſch iſt reich 
gedeckt. Da blühen ſie, die unzähligen 
Kinder Floras, im reichſten Schmuck, am 
Fuße des Berges in wahrhaft üppigem 
Wuchs. Klee in mehreren Arten, Akelei, 


Eiſenhut, Labkräuter, Sternmieren, Min— 
zen, Thymian, Johanniskraut und wie ſie 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


397 


alle heißen, die wilden Flachland- und 
Vorderalpen-Pflanzen. Weiter oben führt 
uns der Weg zwiſchen verwetterte Tannen, 
in deren Schatten zahlloſe Farnwedel ihre 
Millionen Sporen zur Reife bringen; da 
blüht der Alpendoſt, der Bergwohlverleih, 
die Bergminze, der ſilberglänzende Alpen— 
frauenmantel, mehrere Hahnenfuß- und 
Vergißmeinnicht-Arten. — Bald erreichen 
wir — ſteiler und ſteiler anſteigend — die 
Region der Alpenroſen. Wie's da leuchtet 
an allen Enden, an den rauhen Felswän— 
den, von dieſen rothen Blumenbüſchen! 
Und dort das gelbe Veilchen, dann ver— 
ſchiedene Enziane, Glockenblumen, Horn— 
kräuter, Mannsſchild (Androsace); das 
zierliche Alpenglöcklein hat für uns nur noch 
Samenkapſeln, dagegen blüht hier oben noch 
— mitten im Sommer! — die bekannte 
große Schlüſſelblume (Primula elatior) in 
einigen wenigen Nachhinkern und eine ganze 
Menge von Kopfblüthlern und Dolden— 
gewächſen. 

Blumen an allen Enden und auch 
reichlich Inſekten. Die Natur hält hier 
oben, einige tauſend Fuß über dem blauen 
Seeſpiegel, erſt im Juli ihre Hochzeitstage. 
Aber welch intenſives Leben erwacht da 
mit einem Schlag! Da iſt kein feuchter 
Felsblock, kein abgeſtorbener Baumſtamm, 
keine zerriſſene Steinwand, an denen nicht 
das grüne Leben in vollen Zügen erwachte. 
Drunten am See und draußen im Hügel— 
land ſchimmern die reif gewordenen Ernte— 
felder, hier oben iſt erſt der Frühling ein— 
gezogen. 

Der angehende Botaniker, der den Pi- 
latus zum erſten Mal im Juli beſucht, 
wird durch die Fülle des Dargebotenen 
höchlichſt überraſcht. Er weiß in den erſten 
Stunden kaum, wo er eigentlich mit ſeinen 
Studien beginnen ſoll. 


— 


398 


Wir kommen ins Gebiet der Wetter— 
tannen: zu Füßen ein arg zerriſſenes Erd— 
reich; verwitterte Felsblöcke rechts und 
links am ſteilen Bergpfad. 


Ein ſchmäch— | 


tiger Raſen, ſaftgrün, über und über mit | 


Blumen bedeckt, bekleidet die weniger ſteil 
abfallenden Halden und Terraſſen. 
Gräſer ſind kurzblätterig, gedrungen, mit 
vielen Ausläufern verſehen, die ganze 


Pflanzendecke dem Erdboden dicht ange- 


ſchmiegt, die Sträucher — an geſchützten 
Stellen noch kräftig entwickelt — nehmen 
hier oben, allen Unbilden einer rauhen 
Witterung ausgeſetzt, eine zwerghafte, ver— 
krüppelte Geſtalt an. Die Laubbäume ſind 


Die 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


blumen, Rapunzelarten (Phyteuma), Augen- 
troſt, Ehrenpreis, Veilchen, Hahnenfuß, 
Anemonen, Fahnenwicken (Oxytropis), Berg— 
linſen (Phacea), Schwarzſtändel, der Alpen- 
mohn, der goldgelbe Pipau (Crepis aurea), 


die Habichtskräuter und hundert andere 
Geſchlechter der blühenden Alpenflora, die 
uns faſt ohne Ausnahme durch die leb— 
haft gefärbten, weithin ſchimmernden Blü— 
then auffallen. Man erſtaunt über dieſe 


Verſchwendung in der Blüthenregion ſo 


verſchwunden; Nadelhölzer allein behaupten 


noch einige Zeit das Feld; allein auch ihre 
Reihen werden immer lichter. Sturm und 
Hagel, Blitzſchlag und Geröllefall, Kälte 
und Feuchtigkeit, Nebel, Reif und Schnee— 
geſtöber während neun Monaten im Jahre: 
all dieſe feindlichen Elemente haben den 
ſchlanken Bäumen mit ihrer dunkeln Blätter— 
krone den Charakter des Kummers und 
Elends aufgedrückt. Wie ſtruppig, borſtig 
ſtehen die halbdürren Aeſte mit den Nadel— 
büſcheln! Da und dort ein abgedorrter 
Aſt, im Nebel vermodernd, von grauweißen 
Flechten ganz bedeckt; drüben ein abgeſtorbener 
Baum, als Leiche noch aufrecht ſtehend, 
entblättert, zum Theil auch entrindet, oben 
im Aſtwerk mit zahlloſen Bartflechten, die 
herniederhängen, wie die Graubärte der 
Patriarchen: ein Bild des Zerfalles! Und 
doch wie ſo reich an hehrer Naturſchönheit! 
Die Natur zerſtört das Leben fortwährend, 
um Leben zu ermöglichen. 


Aber mehr als dieſe verwetterten Ge 


ſellen mit ihren maleriſchen Phyſiogno— 
mien überraſcht uns die Pflanzenwelt zu 
unſeren Füßen: Enzianen, Primeln, Andro— 
ſace, Soldanella, Pedicularis, die Glocken— 


zwerghafter Pflanzen, die oft kaum den 
Muth oder die Kraft zu beſitzen ſcheinen, 
ihren prächtigen, großen Blumen einen 
entſprechend langen Stengel zu bilden, 
gleichſam als fürchteten ſie ſich, die Organe 
der Fortpflanzung den Unbilden der ewig 
bewegten Bergluft auszuſetzen. 

Sehen wir uns dieſe Blumenwelt etwas 
genauer an, ſo muß uns auffallen, daß 


überall, bei allen Gattungen der blühenden 


Alpenpflanzen, die ſicherſten Vorkehrungen 
getroffen ſind, um die Befeuchtung der 
eigentlichen Geſchlechtsorgane jeder Blüthe 
vor der Verſtäubung, reſpective vor der 
Befruchtung zu verhindern. 
ſind es die männlichen Sexualorgane, die 
Staubblätter, 
Blumenkrone oder durch irgend einen an— 
deren Theil der Pflanze vor dem Zutritt 
von Regen, Schnee, Thautropfen u. dergl. 
geſichert werden. 5 

Bei ſehr vielen Alpenpflanzen ſind die 
Blüthen zur Zeit, da der Pollen entleert 
und die Befruchtung vollzogen werden ſoll, 
nickend, alſo abwärts geöffnet, nach oben 
gegen den Einfall der Regentropfen durch 
die Kron- und Kelchblätter wie mit einem 
Dach geſchützt. Ich erinnere an die in un— 
ſeren Alpen und Voralpen ſehr verbreitete 
niedere Glockenblume (Campanula pusilla) 
und andere Arten derſelben Gattung, an 


Namentlich 


welche entweder durch die 


8 


die Drottelblume (Soldanella), an manche 
Primeln und Veilchen. 

Bei anderen Blüthen iſt die nach oben 
geöffnete Blumenkrone abwärts ſo verengt, 
daß nur ein enger Garal zu den Geſchlechts— 
organen führt. Ein Regen- oder Thau— 
tropfen, der die offene Blüthe trifft, kann 
dort liegen bleiben, ohne durch den Canal 
abwärts dringend den Pollen oder die 
Narbe zu erreichen, ſo bei den prächtigen 
Mannsſchildarten (Androsace), welche mit 
zu den ſchönſten Erzeugniſſen der Pflanzen— 
welt unſerer Berge gehören. Wieder an— 
dere Pflanzen beſitzen in der Blüthenregion 
periodiſch bewegliche Blätter, welche bei 
dunkler Witterung (Regen, Nebel) gewiſſe 
Bewegungen ausführen, die zum Schutze 
des Pollens dienen. 

Es wird für Jedermann ein Leichtes 
ſein, ſich an ein Dutzend Pflanzen zu er— 


innern, die ihre Blüthen abwechſelnd öffnen 


und ſchließen, je nach dem Charakter der 
Witterung. Wozu denn aber das Oeffnen 
der Blume überhaupt? — Die nahe 
liegende Antwort: „Damit die Sonne in 
die Blüthe hinein ſcheinen könne“, iſt leider 
nicht ſtichhaltig. 

Denn — ſo fragen wir — was ſoll 
denn der Sonnenſchein in der Blume aus— 


richten? Giebt es nicht eine Menge Pflan— 


zen, die ohne Sonnenſchein blühen und 
fructificiren? Ein Jeder kennt ja Blumen, 


die ſich erſt nach Sonnenuntergang öffnen 


und nur während der ſtillen Sommernacht 
ihre Schönheit entfalten. 

Wir wiſſen, daß bei der Befruchtung 
der großblumigen Pflanzen nicht die Sonne, 
wohl aber die geſchäftigen Inſekten eine 
Hauptrolle ſpielen. Aber erſt wenn der 
Zutritt zum Honigſaft ermöglicht iſt, kann 
das Inſekt die Beſtäubung vermitteln. 
Von Regen triefende Blüthen werden von 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


399 


den Inſekten meiſt übergangen, weil der 


Honig in ſolchen verwaſchenen Blumen ſehr 


wäſſrig oder gar gänzlich ausgewaſchen iſt. 
Es liegt alſo im Intereſſe der Blüthe, 
reſpective der Samenbildung, daß die honig- 
bereitenden Blumen ſich nicht allein wegen 
ihrer empfindlichen, zarten Geſchlechtsorgane 
vor Befeuchtung ſchützen, ſondern auch um 
der Fremdbeſtäubung durch Inſekten willen. 
Dieſe letzteren ſchwärmen zum Theil wohl 
auch aus dieſem Grunde nicht während 
ſanfterer atmoſphäriſcher Niederſchläge, die 
ſie ſonſt am Fliegen nicht behindern wür— 
den. 

Ja ſie leben in einer böſen Welt, dieſe 
herrlich blühenden Alpenpflanzen. Früh⸗ 
ling, Sommer und Herbſt ſind für ſie in 


drei Monate zuſammengedrängt, und ge— 


rade in dieſer Zeit des Blühens und 
Fruchtbildens müſſen fie die meiſten atmo- 
ſphäriſchen Niederſchläge ertragen. Triefen- 
der Thau, ſonnige Morgen, neblige Vor— 
mittage, Gewitter und Platzregen am Nach- 
mittag, Abends Nebel oder auch Sonnen— 
ſchein, oft beides raſch mit einander ab— 
wechſelnd, Nachts wieder klarer Himmel 
und froſtiger Thau oder gar Reif und Eis 
— das ſind die Ringe in jener Kette, 
welche in buntem Wechſel ohne vermittelnde 
Bindeglieder in den ſchroffſten Gegenſätzen 
einander berühren und das goldene Zeit— 
alter der Alpen-Vegetation repräſentiren. 
Keine Pflanze mit ſchnell vergänglichen 
Blüthen vermag ſich wegen dieſer ungün— 
ſtigen Witterungsverhältniſſe auf die Dauer 
hier oben zu erhalten. Jede Alpenblume muß 
vielmehr tage-, ja wochenlang ausſchauen, 
um die günſtige Stunde der Beſtäubung 
abwarten zu können. Oft ſind es während 
eines Sommermonats bloß einige wenige 
Stunden des trockenen Sonnenſcheins, da 
ſich die Blüthenkelche öffnen können, um 


400 Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


die ebenfalls nur bei trockener Luft ſchwär— 
menden Inſekten anzulocken. Und dieſe 
wenigen Stunden ſollen hinreichen, um 
den Honigſammlern zu ermöglichen, alle 
die tauſend einladenden Blüthen zu beſuchen, 
Fremdbeſtäubung zu vermitteln und den 
unzähligen, in hunderterlei Farben ſchim— 
mernden Kindern der Flora Nachkommen— 
ſchaft zu ſichern. Hierin aber liegt allem 
Anſchein nach der Schlüſſel zu jenem My— 
ſterium von der Blüthenpracht 
der Alpenpflanzen. 

Wir ſind bereits über der Baumgrenze 
angelangt; es umgeben uns nur noch die 
niedrigen Kräuter und Gräſer, welche — 
dem Erdboden ſich dicht anſchmiegend — 
die vielbeſungene Sammetdecke der Berg— 
weiden bilden. Drüben am Fuße der 
allmälig in Trümmer zerfallenden Fels— 


wand, auf dem in ewiger Bewegung be 


griffenen Brockengeſtein der Schutthalde, 
ſind es nur wenige Pflanzen, die den Kampf 
ums Daſein an wüſter Stätte der Ver— 
witterung zu beſtehen vermögen: etliche 
großblühende Veilchen, der Alpenmohn, 
einige Wucherblumen, Anemonen und 
Hahnenfußgewächſe. Aber wie hell leuch— 
ten ihre Blumen heraus aus dem fahlen 
Geſtein! 

Hier oben, in der baumloſen Region 
der allmälig in Ruinen zerfallenden rauhen 
Welt geborſtener Felskoloſſe überraſcht uns 
die Natur mit den ſchärfſten Gegenſätzen. 
In der grauſigen und öden Umgebung tre— 
ten die Effecte der Blüthenwelt um ſo 
ſchimmernder hervor. 

Wohl erſcheint es uns natürlich, daß 
eine armſelige Nahrung und ein rauhes 
Klima die Vegetation nieder- und zuſam⸗ 
mendrückt wie ein Häuflein frierender Kin⸗ 


der. Der gedrungene Wuchs der Alpen- 


pflanzen iſt wie geſagt ſo ſelbſtverſtändlich, 


wie derjenige der nahe verſchwiſterten Polar— 
pflanzen. Deſto mehr muß der Luxus in 
der Blüthen-Ausſchmückung überraſchen. 

Es iſt alſo das pflanzliche Geſchlechts— 
leben, welches uns dieſen draſtiſchen Gegen— 
ſatz zwiſchen der kümmerlichen vegetativen 
und üppigen Blüthen-Entwickelung der 
Gebirgsflora erklärt. 

Wir wiſſen heute, Dank dem befruch— 
tenden Einfluß der Darwin'ſchen Zucht— 
wahltheorie auf alle Zweige der botaniſchen 
und zoologiſchen Forſchung, daß die meiſten 
farbigen, wohlriechenden und honigabſon— 
dernden Blüthen durchaus von Inſekten 
beſucht und mit fremdem Blüthenſtaub be— 
fruchtet werden müſſen, wenn ſie kräftige, 
entwickelungsfähige Samen bilden ſollen. 
Der Inſektenbeſuch wird bei dieſen Pflan— 
zen zur Exiſtenzfrage der Nachkommenſchaft; 
bleibt er aus, ſo ſtirbt das Individuum 
ohne Nachkommen dahin; trifft dieſe Ca— 
lamität alle Individuen derſelben Art, fo 
ſtirbt die ganze Pflanzenſpecies aus, um 
nie wieder auf dem Schauplatz der Schö— 
pfung zu erſcheinen. Im Wettlauf um die 
Gunſt der Inſekten iſt aus der zum größ— 
ten Theil ausgeſtorbenen Schöpfung nicht 
luxurirender Blüthenpflanzen vor Zeiten die 
ſchöne Welt der buntblühenden Gewächſe 
hervorgegangen. Die damals ſo beſcheide— 
nen, meiſt grünlichen Blüthen fingen an, 
mit bunten Farben zu coquettiren, Honig 
abzuſondern und Gerüche zu verbreiten. 

Erinnern wir uns nun der Thatſache, 
daß der Inſektenbeſuch und die dadurch be— 
wirkte Fremdbeſtäubung für ſo unendlich 
viele Pflanzen ſich als Wohlthat erwies, 
wie er es auch heute noch iſt, ſo leuchtet 
ein, daß von den tauſend und tauſend um 
denſelben Platz kämpfenden Pflanzen nicht 
wenige ihren Sieg gerade dem Umſtand 
zuzuſchreiben hatten, daß fie durch Farben— 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 401 


pracht, Honig und Aroma ihrer Blüthen 
die Mitbewerber im Kampf ums Daſein 
überboten und darum am eheſten und 
ſicherſten ſich der Wohlthat des Inſekten— 
beſuches ausſetzten. 3 

Nun ergiebt ſich auch von ſelbſt die 
weitere Schlußfolgerung: 

Da die Alpenpflanzen in der Regel 
viel größere und intenſiver gefärbte Blüthen 
beſitzen, als ihre Vettern und Baſen im 
Thale — mit denen ſie auf einen gemein— 
ſamen Stammvater zurückzuführen ſind — 
ſo muß dort oben der Wettbewerb um den 
Inſektenbeſuch ſeit alten Zeiten ein viel in— 
tenſiverer geweſen ſein als in der Ebene, 
zumal die Inſekten hier oben mit weniger 
zufrieden ſind als unten im Flachland. 

Es dürfte demnach ſofort einleuchten, 
daß diejenigen Alpenpflanzen, welche nur 
unter Mithül fe der Inſekten durch Fremd— 
beſtäubung Samen zu bilden vermögen, 
zur Blüthezeit als die heftigſten Rivalen 
um die Gunſt der wenigen in dieſer Ge— 
birgsregion ſchwärmenden Honigſammler 
einander gegenüberſtehen; wer ſich dann 
nicht aufs glänzendſte mit bunten und 
großen, oder mit weithin duftenden Blüthen 
auszuſtatten vermöchte, würde eben von den 
wenigen dort ſchwärmenden Inſekten über— 
ſehen und ſeine Nachkommenſchaft wäre 
unmöglich geworden. 

Nun giebt es in der That eine Anzahl 
ganz hervorragender Botaniker, welche die 
Alpen aus mehrjährigem Beſuch hinlänglich 
kennen, um in dieſer Frage ein gewichtiges 
Wort mit zu reden, und wirklich haben 
mehrere derſelben es auch ausgeſprochen, 
daß die honigſuchenden Inſekten in den 
Gebirgsgegenden thatſächlich relativ ſchwä— 
cher vertreten, in kleinerer Anzahl vorhan— 
den ſind, als in der Ebene. Die Theorie 
von der Schönheit der Alpenflora ſchien 


ſomit hinlänglich bewieſen, was mich denn 
auch veranlaßte, in der „Alpenpoſt“ 
(1874, 25. Januar) etliche kurze Notizen 
niederzulegen und die ganze Frage einem 
weiteren Publikum, hauptſächlich den vielen 
Laien unter den begeiſterten Alpenfreunden, 
nahezubringen. Allein wie überall, ſo fand 
auch hier der Jünger unſerer Abſtammungs— 
lehre nebſt den Freunden richtiger Natur- 
erkenntniß zähe Anhänger der alten Zweck— 
mäßigkeitslehre, wonach der liebe Gott die 
Bäume grün gemacht hat, „weil grün gut 
für die Augen des Menſchen iſt“, jener 
Zweckmäßigkeitslehre, welche hinter allem 
Nützlichen das Uebernatürliche erkennen will, 
die weisheitsvolle Güte, welche die Blumen 
zur Freude der Menſchen erſchaffen hat. 
Das fromme Gemüth, welches aus dieſer 
kindlichen Weltanſchauung ſpricht, ſträubt 
fi) gegen jeden Fortſchritt der Wiſſenſchaft, 
ſobald dieſer auch dort den Vorhang zu 
lüften beginnt, wo bisher der menſchliche 
Verſtand vor einem ungelöſten Räthſel 
ſtehen blieb und daher dem „Glauben“ 
vollen Spielraum ließ. 

Ich conſtatire hierzu folgende That— 
ſachen: 

Es war im Sommer 1868, als ich 
mit einem Studiengenoſſen von einer deut— 
ſchen Univerſitätsſtadt aus für zehn Tage in 
ein einſames, ödes, vom Fremdenſtrom ge— 
miedenes Hochgebirgsthal des Graubündtner— 
landes flüchtete, um dort — fern vom 
großen Weltlärm — eine Urwelt kennen 
zu lernen, wie man ſie eben nur in ent- 
legenen, faſt ausgeſtorbenen Bergthälern 
finden kann. Unſer Wanderziel war Cani— 
cül im ſtillen Aversthal, links der Splügen— 
ſtraße, jenſeits der gigantiſchen Via mala. 
Dort im armen Bergdörfchen, das nur 
von wenigen Geishirten bewohnt wird, zu 
dem keine Straße, kein Saumpfad, ſondern 


402 


nur ein elender Gebirgsfteig führt, herrſcht 
noch die ſeltene, auf den Ausſterbe-Etat 
geſetzte romaniſche Sprache. Dagegen iſt 
die Sprache der Blumenwelt in dieſen 
Höhen eine gemeinverſtändliche, dem Bo— 
taniker jeder Zunge ſich leicht erſchließende. 
An einem Julitage brachen wir mit Bota— 
niſirdoſen und munterer Lebensluſt am 
frühen Morgen auf, um die nächſtgelegenen 
Felskämme zu erſteigen und fleißig einzu— 
ſammeln. Der Morgen war ſonnenhell 
und klar, der Vormittag wurde heiß; wir 
ſtiegen von Fels zu Fels, hoch über die 
Baumgrenze hinauf; da waren Pflanzen, 
Blumen und Inſekten immer noch in 
reichlicher Menge anzutreffen. Auf einem 
Schneefeld nahmen wir unſer Frühſtück 
und ſtiegen dann bis Nachmittags 2 Uhr 
höher und höher über Schutthalden und 
Felskämme. Die Pflanzen wurden ſeltener, 
auch die Inſekten traten zurück, bis oben, 
etwa 10,000 Fuß über dem Meer, nur 
noch an geſchützten Stellen einige wenige 
Blüthenpflanzen anzutreffen waren. Dort 
machten wir Halt auf einem ſchmalen Fels— 
kamm zwiſchen dem Val di Lei und dem 
Val d' Emet. Die Sonne ſchien — aber 
lange Zeit war auch nicht ein einziges 
Inſekt mehr zu entdecken, obſchon die At- 
moſphäre ſo ruhig lag wie in der Region 
der Calmen. Und doch prangten neben 
uns an ſonniger Stelle zwiſchen zwei Fels— 
trümmern, auf einer Hand voll Erde ihr 
Daſein friſtend, ein Dutzend ſtielloſer Blü— 
then im zierlichſten Raſen einer zwerghaften 
Vergißmeinnicht-Art, die den poetiſchen 
Namen „Himmelsherold“ trägt (Erithri- 
chium nanum, Schrad. = Myosotis 
nana L.). Endlich trug ein warmer Wind- 
hauch, der von den unter uns liegenden 
Schutthalden bis zu uns heraufſtieg, einen 
taumelnden Schmetterling daher. Es war 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


als habe ſich dieſer Bote des Sommers in 
unſere Höhe verirrt. In längeren Zwiſchen— 
räumen ließ ſich auch das Geſumme einer 
Diptere erkennen, die hier oben — in der 
Region des ewigen Schnees — nach den 
wenigen Blüthen ſpähte. Wir weilten dort 
eine volle Stunde, die Sonne ſtand hoch 
am Himmel und doch bemerkten wir an 
dieſem Juli-Nachmittag nur wenige Inſek— 
ten. Wir dürfen daraus ſchließen, daß in 
dieſen Höhen in der That ebenſo 
wohl wenige Inſekten, als auch 
wenige Blüthenpflanzen vorhan— 
den ſind. 

Aus dieſer Beobachtung folgt aber mit 
Nothwendigkeit, daß ſich die natür— 
liche Zuchtwahl geltend machen muß. 

In der Region der öden, zerriſſenen 
Felswände und auf den Todtenfeldern der 
langſam verwitternden Schutthalden über 
der Grenze des ewigen Schnees iſt das 
Pflanzenleben auf ein Minimum reducirt. 
Das Gleiche gilt von der Inſektenwelt, 
denn dieſe iſt doch wohl unbedingt von der 
Vegetation abhängig. Wie nun, iſt es 
nicht ſelbſtverſtändlich, daß die wenigen 
zwerghaften Blüthenpflanzen, die unter dem 
Geſetz der nothwendigen Fremdbeſtäubung 
des Inſektenbeſuches abſolut bedürfen, nur 
dann ihre Gattung zu erhalten vermögen, 
wenn fie alle möglichen Mittel in Anwen- 
dung zu bringen im Stande ſind, welche 
die Aufmerkſamkeit der wenigen, in ihrer 
Umgebung ſchwärmenden Inſekten auf ſich - 
lenken? i 

Hier haben wir den ſchroffſten Gegen- 
ſatz zu den Repräſentanten der Mimicry 
in der Thierwelt, zu jenen Schmetterlingen, 
Blattläuſen, kleinen und ſchwachen und doch 
ſo ſehr verfolgten Thieren aller Klaſſen, 
die ſich nur dadurch vor ihren ſtärkeren 
Verfolgern, den Raubthieren aller Art, 


— 


ſchützen, daß ſie die Farbe der Unterlage 
annehmen, auf der ſie ſich bewegen. Unſer 
Schneewieſel, im Sommer von bräunlicher 
Farbe, beſitzt im Winter einen weißen 
Pelz, um ſich dem Blicke ſeiner Verfolger 
zu entziehen, d. h. das Schneewieſel hat 
allgemein durch natürliche Zuchtwahl im 
Verlauf der vielen Generationen jenen 
ſchützenden, periodiſchen Farbenwechſel an— 
genommen, weil diejenigen, die dieſen 
Kleiderwechſel nicht vollführten, ausgerottet 
wurden. Den Gegenſatz hierzu bilden 
jene großblühenden, weithin ſchimmernden 
Blumen unſerer zwerghaften Alpenpflanzen, 
die auf den öden Trümmerfeldern zerfallen- 
der Gebirge nur in wenigen Individuen 
vertreten ſind und doch von den wenigen 
Inſekten ihres Wohnortes beſucht werden 
müſſen, wenn ſie fruchtbare Samen reifen ſollen. 

Wer vermöchte hier die natürliche Zucht 
wahl zu verleugnen? Hier blüht in den 
glänzendſten Farben der zwerghafte Him— 
melsherold (Erithrichium nanum, Schrad.); 
ſeine himmelblauen Blüthen auf blaß— 
grünem Raſen werden von den wenigen 
Honigſammlern ſeines Reviers alsbald be— 
achtet und die Fremdbeſtäubung iſt geſichert; 
— dort drüben aber blüht ein anderer 
kleiner Raſen in viel beſcheidenerem Schmuck: 
er wird von den Inſekten nicht beachtet, 
Fremdbeſtäubung unterbleibt und ſeine 
Nachkommenſchaft iſt in Frage geſtellt. 
Während auf dieſe Weiſe ganz natürliche 
Verhältniſſe den Ausjätungsproceß der we— 
nig luxurirenden Pflanzenindividuen in Per⸗ 
manenz erhalten, ſehen wir gleichzeitig die 
beſſer ausgeſtatteten Individuen zahlreiche 
Nachkommenſchaft hinterlaſſen, unter welcher 
ſich im folgenden Jahr derſelbe Proceß der 
natürlichen Ausleſe, das Geſetz der natür— 
lichen Zuchtwahl geltend macht. 

Ich meine, daß es kaum ein günſtige— 


| Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 40: 


res Feld gibt, um das Prinzip der Na- 
turausleſe an lebenden Pflanzen zu demon— 
ſtriren, als dieſe Hochalpenregion, wo auf 
großen Trümmerfeldern fahlen Geſteines 
und an ſterilen Felswänden nur da und 
dort, in ſehr weiten Abſtänden, einige we— 
nige Blüthenpflanzen ihr Daſein zu er— 
kämpfen vermögen und nur dann entwick— 
lungsfähige Samen zu bilden im Stande 
ſind, wenn ſie durch weithin ſchimmernde 
Blumen ihre beſten Freunde und größten 
Wohlthäter, die honigſuchenden Inſekten, 
anzulocken wiſſen. Das Gleiche gilt von 
den durch intenſive aromatiſche Gerüche aus— 
gezeichneten Blüthenpflanzen. Hier vermag 
oft das weithin duftende Aroma daſſelbe 
zu bewirken, wie eine brillante Blumen— 
krone. Die Pflanzenwelt iſt unter dem 
Correctiv der natürlichen Zuchtwahl auf 
verſchiedene Mittel gerathen, um ſich das— 
ſelbe Reſultat zu ſichern. Wir verſtehen 
demnach auch jene Thatſache, daß manche 
Alpenkräuter ſich durch intenſivere Gerüche 
auszeichnen, als die Verwandten im Thale. 
Und was von den Alpenpflanzen, das gilt 
auch von den erſten Frühlingsblumen des 
Tieflandes. Wir verſtehen, warum das 
erſte Veilchen, daß an ſonniger Halde und 
am Waldesrande blüht, während unten 
am ſchattigen Abhang der Schnee erſt zu 
ſchmelzen beginnt, eine wohlriechende Art, 
das wohlriechendſte Veilchen des ganzen 
Jahres iſt. Wir verſtehen, warum die 


erſten, aus kaum aufthauender Erde her— 


vorſproſſenden Frühlingsboten, die Anemo— 
nen, Primeln, Winterlinge (Eranthis), 
Crocus- und Seilla-Arten ſo unverhältniß— 
mäßig große Blumen darbieten. Alle dieſe 
Pflanzen der Ebene und Voralpen ſtehen 
zur Blüthezeit unter ähnlichen Verhält— 
niſſen, wie die großblühenden oder ſtark— 
duftenden Hochalpenpflanzen. 


404 


Wir ſehen alſo, daß unſere Theorie 
von der Blüthenpracht der alpinen Pflan- 
zenwelt wenigſtens für die öden Gegenden 
über der Schneegrenze, für die Region 
der inſektenarmen eigentlichen Hochalpen— 
flora gerettet iſt. Für dieſe wunderbare 
Welt der extremſten Gegenſätze ſteht unſere 
Theorie unantaſtbar feſt. 

Sehen wir zu, wie wir mit den Ein- 
wänden eines bewährten Entomologen auch 
für jene Regionen der Alpenwelt fertig 
werden, in welchen zur Blüthezeit wirklich 
auch unzählige Inſekten zur Dispoſition 
geſtellt ſind; daß nämlich da, wo die Mut⸗ 
ter Natur mit einem Male ihr reiches 
Füllhorn der bunteſten Alpenblumen über 
die Sammetgründe der Weiden, Triften 
und Abhänge unſerer Berge ausgeſchüttet 
hat, die Welt auch von Inſekten in glei- 
chem oder gar in günſtigerem Verhältniſſe 
belebt ſei, wie unten im Flachlande, wenn 
der Frühling erwacht iſt und Hain 
und Flur, Feld und Wald im Blüthen- 
ſchmuck erglänzt. — Selbſt wenn wir dies, 
jedoch mit der Einſchränkung, die wir in 
obiger Betrachtung gegeben, zugeſtehen 
wollten, ſind wir doch weit entfernt, daraus 
zu folgern, daß unſere Theorie blos für 
die eigentliche Hochalpenflora zutreffe und 
in etwas tieferen Bergregionen keine Au— 
wendung finden könne. Wir werden im 
Gegentheil den Beweis zu leiſten vermögen, 
daß jene Theorie von der Farbenpracht 
der alpinen Blüthenpflanzen für die ganze 
Alpenflora Geltung beanſpruchen kann und 
muß. Wir ſtützen uns auf folgende That— 
ſachen: Einmal iſt die eigentliche Frühlings⸗ 
zeit der Alpenpflanzen, in den Gebirgs— 
Thälern ſowohl als auf den Höhen, in 
einen ſehr kurzen Zeitabſchnitt zuſammen— 
gedrängt; die ganze Vegetationsperiode, 
Frühling, Sommer und Herbſt, umfaßt 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


nur die drei Monate Juni, Juli und 
Auguſt. Häufig erwacht der Frühling auf 
den höhern Alpenweiden erſt dann, wenn 
bereits die längſten Sommertage hinter 
uns liegen. Der Pilatus, deſſen höchſte 
Spitze (das Tomlishorn) ſich nicht mehr 
als 6565 Fuß über das Meer erhebt, 
alſo noch anderthalbtauſend Fuß unter der 
Schneelinie der Alpen liegt, wird von den 
meiſten Botanikern erſt im Juli, höchſt 
ſelten ſchon um die Zeit des längſten Ta— 
ges beſucht. Vier oder ſechs Wochen nach— 
her hat hier meiſtens das Blühen ein 
Ende. Was aber vom Pilatus geſagt 
wird, das gilt von den meiſten Gebirgen 
diesſeits der Waſſerſcheide. Hier ſind die 
Flitterwochen der Vegetation wie der In⸗ 
ſektenwelt ſehr kurz zugemeſſen. Aber welch 
ein Bild entfaltet ſich da beim Erwachen 
der lebenden Natur, wenn der Lenz über 
die Höhen ſchreitet und die Bergthäler aus 
ihrer Ruhe weckt! Wie auf ein mächtiges 
Zauberwort werfen ſich Triften und Wäl— 
der in den ſchönſten Schmuck. „Alles will 
ſich mit Farben beleben.“ — Und da ſoll 
die Inſektenwelt mit einem Mal allen An⸗ 
forderungen gerecht werden! Gewiß thun 
fie ihr Möglichſtes, dieſe fleißigen Honig— 
ſammler, ebenſo gut als ihre Verwandten 
im Flachlande les während des blühenden 
Mai gethan haben. 

Aber hier in der Gebirgswelt wirken 
andere Faktoren erſchwerend auf die ruhige 
Abwickelung des ungeheuren Prozeſſes der 
Fremdbeſtäubung an den Millionen und 
Milliarden Blüthen und Blümchen. Oft 
verſtreicht eine ganze Woche, oft ſogar ein 
halber oder ganzer Monat, ehe die Berge 
ihren Schleier abwerfen, ehe die Nebel 
und Regenwolken weichen, ehe der erſehnte 


Augenblick herbeikommt, in welchem die 


Fortpflanzung geſichert wird. 


7 


WWW . 


Jeder Alpen-Reiſende, der bei ſonſt 
heiterm Wetter die Bergſpitzen nur zu oft 


im Nebel gehüllt erblicken muß, kann ſich 


ſagen, wie viel ſeltener dort oben die Ho— 
nigtage blühen werden, als im ſonnigen 
Thale. Ebenſo ſparſam wie dort oben Tage 
mit ſchöner Ausſicht blauen, ebenſo ſelten 
lächelt, da Reiſe- und Blüthezeit zuſammen— 


fallen, den Blumen eine „ſchöne Ausſicht“, 


und die ſparſam zugemeſſenen Stunden 
müſſen eben ausgenutzt werden. 


der Tagesordnung. Dazu kommt, daß kalte 
Morgen und kühle Abende in den Gebir— 
gen auch während des Sommers nicht zu 
den Seltenheiten gehören. Sie ſind, ſelbſt 


wenn fie ſonnig und heiter ſich geſtalten, 


dem Schwärmen der Inſekten nicht zu— 
träglich. 

Weiterhin iſt, wie bekannt, auch der 
Wind ein Freund der Alpenregion. Iſt 
aber die Atmoſphäre ſehr bewegt, ſo ver— 
laſſen manche Inſekten, ſelbſt bei hellem 
Wetter, ihre Schlupfwinkel nicht und unter— 
laſſen jeden Beſuch bei Blumen, bis die 
Luft ruhig iſt. 

Faſſen wir das Alles zuſammen, ſo 
ergiebt ſich, daß die Inſekten der 
Alpenwelt eine ungleich größere 
Aufgabe in ungleich kürzerer Zeit 
zu bewältigen haben, als ihre 
Verwandten im Flachlande. 

Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe an, 
daß in der Alpenregion während der Blü— 
thezeit dortiger Vegetation die Stunden 
lachenden Sonnenſcheines, die Zeitabſchnitte, 
während welcher die Blüthenpflanzen wirk— 
lich ihre Blumenkronen öffnen und der 
Fremdbeſtäubung ausſetzen konnen, doppelt 
ſo kurz zugemeſſen ſind, wie im Tiefland, 
ſo muß daraus geſchloſſen werden, daß 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


Die Nie⸗ 
derſchläge find dort oben grade im Hoch- 
ſommer, wo im Thale Dürre herrſcht, an 
größere, als in der Ebene. 


ai; 


dort entweder doppelt jo viele Inſekten nö— 
thig ſind, als in der Ebene, wenn das 
Verhältniß zwiſchen „Angebot und Nach— 
frage“ in Sachen der Frembeſtäubung an 
beiden Orten ein ungefähr gleiches ſein ſoll, 
oder aber: daß in den Alpen viel mehr 
blühende Pflanzen von honigſuchenden In— 
ſekten nicht beſucht, alſo der Fremdbeſtäu⸗ 
bung entzogen werden, als im Flachland. 
Die Anzahl der nach Inſektenbeſuch ver— 
langenden Blumen iſt faktiſch in den Al— 
penthälern während warmer, ruhiger Som— 
mertage eine ebenſo große, wenn nicht viel 
Iſt aber zur 


Bewältigung der Aufgabe eine doppelt 


kleinere Stundenzahl eingeräumt, ſo folgt 


mit mathematiſcher Gewißheit, daß eine 
doppelt größere Zahl von Inſekten auf 
dem Arbeitsfelde thätig ſein muß, wenn 
derſelbe Effekt erzielt werden ſoll wie dort, 
wo den Honigfreunden doppelt ſo viel Zeit 
für die Ernte zugemeſſen iſt. 

Ferner wird die Durchſchnittszeit, wäh- 
rend welcher die Alpenpflanzen ihre Blüthen 
entfalten und dem Inſektenbeſuch ausſetzen, 
durch den Umſtand noch weiter herabge— 
drückt, daß ein großer Bruchtheil dieſer 
Pflanzen, vielleicht die Hälfte, zum minde— 
ſten ein Drittel, während ſonniger Tage 
entweder am Vormittag oder am Nach— 
mittag im kühlen Schatten, an Felswän— 
den oder an den von benachbarten Bergen 
beſchatteten Abhängen ſteht, woſelbſt ſie 
entweder gar nicht von den ſonnenfreund— 
lichen Inſekten beſucht werden, oder den 
Beſuch nicht zulaſſen wegen Mangel an 
trockener Luft, Licht und Wärme. 

Man denke den ſchroffen Gegenſatz hin— 
zu: die meilenweite Haide, die ausgedehn— 
ten Sümpfe, die monotone Hochebene des 
Lechfeldes oder die üppige lombardiſch ve— 
netianiſche Tiefebene, wo vom frühen Mor- 


406 


gen bis zum ſpäten Abend, jeden Tag 
12-16 Stunden lang, die Sonne für alle 
Creaturen leuchtet. 

Schließlich erinnern wir auch an die 
Thatſache, daß hauptſächlich die an wüſten, 
felſigen Orten, nicht in großen Beſtänden, 
ſondern meiſt iſolirt ſtehenden Alpenpflan— 
zen es ſind, welche ſich durch großen Luxus 
in der Entfaltung der Blüthen auszeichnen. 
Wer ſie einmal an Ort und Stelle geſe— 
hen hat, der vergißt ſie nicht ſo leicht; die 
Steinbrecharten, Antherieum, Linaria al- 
pina, Lilium bulbiferum, jene große weit— 
hinleuchtende Feuerlilie, die im Klönthal 
an den ſterilen, faſt unzugänglichen Fels— 
wänden ihr Daſein friſtet, die Sedum- und 
Sempervivum- Arten, die wilden Nelken 
und alle jene gefeierten Repräſentanten der 
Alpenflora, die um ſo größern Glanz ent— 
falten, je größer die todte Stein- oder 
Felswüſte, welche ſie rings umgibt. Hier, 
in den tieferen Gebirgsregionen, machen 
ſich an den wüſten Standorten ganz ähn— 
liche Verhältniſſe geltend, wie wir ſie eben 
über der ewigen Schneegrenze kennen ge⸗ 
lernt haben. Die Inſekten, welche bei die— 
ſen zerſtreuten, weit von einander abſtehen— 
den Alpengewächſen Frembeſtäubung zu 
vermitteln haben, müſſen bei dieſem Ge— 
ſchäft die weiten unwirthbaren Felswände 
und Schutthalden nach allen Richtungen 
durchmuſtern, wenn ſie ihrer Aufgabe ge— 
recht werden ſollen. 

Dieſes Abſuchen nimmt Zeit in Anſpruch. 
Die honigſuchenden Inſekten ſind aber wäh— 
rend ihrer Erntezeit ſehr haſtige Sammler, 
die ſich keineswegs auf ein gemüthliches 
Schlendern einlaſſen, ſondern emſig und 
unausgeſetzt ihrem Geſchäfte nachgehen: 
was iſt nun natürlicher, als daß gerade 


dort, im Revier tuypiſcher Alpenpflanzen, 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


riechenden Gewächſe von den Blumenfreun— 
den der Inſektenwelt nicht beachtet und da— 
her dem Ausſterben preisgegeben werden. 

Auch gehört das Abſuchen großer 
Trümmerfelder und himmelanſtrebender, 
ſpärlich bewachſener Felswände nicht zu den 
Paſſionen jedes geflügelten Honigfreundes; 
denn je ſteiler und unwirthlicher das dies— 
fallſige Excurſionsgebiet, deſto launenhafter 
das tückiſche Spiel des Windes. Selten 
wagt ſich ein Schmetterling hinauf an die 
ſenkrechte Felswand, jeder Windhauch fegt 
ihn weg und entführt ihn der Region 
ſeiner geliebten Blumenwelt. 

Und drunten, an ſonniger, ſaftiggrüner 
Halde, wo Pflanze an Pflanze dicht ge— 
drängt in tauſend Blumen die unzähligen 
Lieblinge der Inſekten, ihren bunten Teppich 
ausbreiten, dort muß ſich der Wettbewerb 
um die Gunſt der flatterhaften, honigſam— 
melnden, haſtigen Geſellen nicht minder 
inteuſiv geltend machen, als droben an 
öder Felswand. Es mag dort unten von 
Inſekten wimmeln, ſie haben auch nur we— 
nige Stunden zum Einſammeln des Honigs; 
ſie ſind um ſo hungriger, je länger ſie auf 
den lachenden Sonnenſchein warten mußten. 
Darum iſt ihre Eile und Verlangen ſo groß, 
daß ſie gewiß zuerſt den leuchtenden, ſtark 
duftenden Blumen zueilen, ehe ſie ſich Zeit 
nehmen, auch den kleinern oder weniger 
duftenden Blüthen Beſuche abzuſtatten. Auch 
hier, auf dem blumenreichen Teppich der 
tieferen Alpenweiden, werden die luxurirenden 
Blüthen viel eher befruchtet, als die min— 
der günſtig ausgeſtatteten; es kann nicht 
ausbleiben, daß ſich auch hier ein heftiger 
Wettbewerb um die Gunſt der Inſekten 
geltend macht, eine Zuchtwahl, die um 
ſo rigoroſer eingreift, je größer die Anzahl 
gleichzeitig blühender Pflanzen und je kür— 


die unſcheinbar blühenden bez. ſchwach | zer die Anzahl der Stunden, in welchen 


die Inſekten — und wären es ihrer noch 


jo viele — ihre Honig-Ernten feiern. 

Man könnte uns entgegenhalten, daß 
die Blüthenpracht der Alpenpflanzen ebenſo 
gut durch die reinere Luft und das damit 
zuſammenhängende intenſivere Sonnenlicht 
in den Gebirgsgegenden erklärt werden könne. 
In der That hat dieſe Anſicht bis in die 
neueſte Zeit ſehr viele Anhänger gefunden; 
ſie iſt aber unhaltbar. 

Wohl beſteht eine Beziehung zwiſchen 
dem Sonnenlicht und dem Blattgrün der 
vegetativen Pflanzenorgane. Bekanntlich 
bildet ſich das Chlorophyll (mit einigen 
wenigen Ausnahmen) nur unter der Ein— 
wirkung des Sonnen- oder diffuſen Tages— 
lichtes. Allein die Blumenfarben ent— 
wickeln ſich auch im tiefſten Dunkel; das 
lehren uns alljährlich im Frühling die tief— 
blauen Veilchen und Enzianen, die violet— 
ten und goldgelben Blüthen mancher Cro— 
cus-Arten und Hahnenfußgewächſe, die ihre 
Farben in völliger Dunkelheit zu bereiten 
wiſſen, um beim erſten ſonnigen Lenzes— 
morgen damit die erſten wenigen Inſekten 
anzulocken. Und ebenſo bilden Tauſende 
der brillant blühenden Sommergewächſe 
ihre Blumenfarbſtoffe im dunkeln Innern 
mehrfach eingehüllter Knospen. 

Alpenpflanzen, die aus der reinen Berg⸗ 
luft in die Ebene verſetzt werden, behalten 
durch zahlreiche Generationen hindurch ihre 
wunderbar glänzenden Blüthen bei, obſchon 
ſie in ganz andere Beleuchtungs- und At— 
moſphären-Verhältniſſe gebracht wurden. 
Das bezeugen die Kunſtgärtner, welchen es 


Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 


407 N 


gelungen iſt, die reizendſten Bergpflanzen mit 
Erfolg zu züchten. (Man vergl. Verlot, 
les plantes alpines. Paris 1873). 

Und was hat die reine Bergluft, das 
intenſive Sonnenlicht mit der Größe der 
Blumenblätter zu ſchaffen? Die Phyſiolo— 
gie hat zur Evidenz dargethan, daß das 
Sonnenlicht dem Wachsthum der Zellen 
und dem Zelltheilungsprozeß hemmend ent— 
gegentritt. — Die längſten Pflanzenzellen 
bilden ſich im Dunkeln, die Bildung neuer 
Zellen findet zumeiſt während der Nacht 
ſtatt. Nicht durch das intenſive Sonnen— 
licht, ſondern durch die Dunkelheit wird 
das Wachſen der Pflanzenorgane begünſtigt. 
Das iſt eine Thatſache, welche der 
uns entgegengeſetzten Theorie direkt wider— 
ſpricht. 

Auch Aroma und Honigbildung ſteht 
zur reinen Atmoſphäre und zum grelleren 
Sonnenlicht in keinem cauſalen Verhältniß. 
Das wohlriechende Frühlingsveilchen bildet 
ja ſeine ätheriſchen Oele und ſeine Zucker— 
ſäfte in nebeligkalter Frühlingsluft, im 
Schatten einiger dürrer Blätter, die im 
Herbſt von der Hecke fielen. 

So ſehen wir denn, daß alle Einwände, 
welche gegen obige Theorie von der Far— 
benpracht alpiner Blüthenpflanzen laut ge— 
worden ſind, durch unzählige Thatſachen 
widerlegt werden, während anderſeits alle 
bis jetzt bekannt gewordenen Erſcheinungen 
nur für die eine Anſicht ſprechen, die wir 
in dem vorliegenden Verſuch auseinander 
geſetzt haben. 


Sr Pape KO 


54 


Lamarck und Darwin. 


Lin Beitrag zur Geſchichle der Enkwicklungslehre. 


NG ach der Darſtellung der Phi— 
loſophie und Geologie La— 
N 1 marck's wenden wir uns 
Fer nun zu der Betrachtung feiner 
biologiſchen Verallgemeinerun— 
gen und betreten das Gebiet, auf welchem 
dieſer Forſcher ſich ſo glänzend ausgezeichnet 
hat. Seine ſyſtematiſchen Arbeiten in der 
Zoologie und Botanik haben Lamarck 
den Namen des franzöſiſchen Linné ein— 
gebracht, und in der That ſind er und 
dieſer große ſchwediſche Naturforſcher die 
einzigen, welche ſowohl in der Zoologie 
wie in der Botanik umfaſſende und höchſt 
wichtige, ſyſtematiſche Arbeiten geliefert haben. 
Während ſich aber Linné mit der Be 
ſchreibung und überſichtlichen, aber künſt— 
lichen Claſſification der verſchiedenen Thiere 


| und Pflanzen begnügte, war das für La— 


IV. 


Lamarck's Anſichten über das Verhälkniß der organiſchen zur 
unorganifchen Natur. — Seine Annahme der Urzengung. 
— Pflanzen und Chiere. 


Von 


Dr. Arnold Rang. 


mard nur ein Mittel zu einem anderen 
höheren Zweck. Zu wiederholten Malen 
betont er, daß der Naturforſcher nicht nur 
darauf ausgehen ſolle, neue Arten zu ent— 
decken, ſie genau zu beſchreiben, abzubilden 
und in das Syſtem einzureihen, ſondern 
daß er auch unabläſſig beſtrebt ſein ſolle, 
den inneren Bau der Organismen, ihre 
Beziehungen zu einander und zu den übri— 
gen Naturkörpern zu erforſchen, die man— 
nigfaltigen Erſcheinungen, die ſie uns dar— 
bieten, zu erklären und die Urſachen ſowohl 
ihrer Exiſtenz und Mannigfaltigkeit, als 
ihrer zweckmäßigen Organiſation zu ergrün— 
den. „Man weiß, daß jede Wiſſenſchaft 
ihre Philoſophie haben muß. Nur dann 
macht ſie wahre Fortſchritte. Vergebens 


werden ſonſt die Naturforſcher ihre ganze 


Zeit darauf verwenden, neue Arten zu 


2 Ra: * 
„„ 
0 BIS 


„ 


logiſchen Aufgaben zu machen. 


Lang, Lamarck und Darwin. 


409 


beſchreiben, alle Nüancirungen und die ge- ſtellt.“) Mit Recht beſtreitet Lamarck 


ringſten Eigenthümlichkeiten ihrer Abände— 


rungen aufzufinden, um die ungeheure Liſte 
A 1 
nach, daß naturgemäß den Mineralien 


dd 


der verzeichneten Arten zu vermehren. . . 
Lamarck war nun gewiß zu ſeiner Zeit 
gerade der Mann dazu, einen Anfang zur 
Löſung der angedeuteten allgemeinen bio— 
Mit einem 
immenſen Schatz von Kenntniſſen in Zoo 
logie und Botanik, mit dieſer nothwendigen 
Vorbedingung zur Aufſtellung biologiſcher 
Verallgemeinerungen, verband er einen die 
Probleme ſcharf erfaſſenden, klaren Geiſt, 
verband er das Beſtreben, ſich von dog— 
matiſchen Ueberlieferungen jeder Art mög⸗ 
lichſt vollſtändig loszureißen. Wir dürfen 
uns daher nicht wundern, wenn er auf 
dem Gebiete der Biologie ſchon Anſichten 
von weitreichender Bedeutung klar und 
deutlich ausſprach, zu deren Anerkennung 
man erſt in der neueſten Zeit durch die 
überwältigende Macht der Thatſachen g 
zwungen wurde. Anderſeits werden wir 
in Anbetracht des in der Einleitung kurz 
charakteriſirten damaligen Standes der 
Wiſſenſchaft und des allzugroßen Beſtre— 


02 
. 


0 
i 


bens Lamarck's, gleich alles zu erklären, 
ein Beſtreben, das nicht ganz ohne Begrün— 


dung „Originalitätsſucht“ genannt wurde, 
zum Voraus erwarten können, daß er ſich 
auch in der Biologie vielfach in große 
Irrthümer verwickelte. 

Wir beginnen unſere Darſtellung natur— 
gemäß am beſten mit der Erörterung der 
Lamar ck'ſchen Anſichten über das Ber- 
hältniß der organiſchen zur unorganiſchen 
Natur. Linné hatte in ſeiner bekaunten 
Diagnoſe „Lapides ereseunt; plantae» 
vivunt et erescunt, animalia vivunt et 
erescunt et sentiunt“ die Mineralien, die 
Pflanzen und die Thiere einander als 
gleichwerthige Naturreiche gegenüber ge— 


dieſe Eintheilung der Körperwelt in drei 
gleichwerthige Reiche und weiſt überzeugend 


als lebloſen Körpern die Orga— 
nis men als belebte Körper gegen— 
über geſtellt werden müſſen. Erſt in 
zweiter Linie zerfallen die Organismen 
wieder in zwei große Hauptabtheilungen, 
die Thiere und Pflanzen. — Nicht minder 
enſchieden tritt Lamarck einer anderen 
Anſicht entgegen, die insbeſondere von Ari— 
ſtoteles, Leibniz, Bonnet und vie 
len Anderen vertreten wurde, nämlich der 
Anſicht, daß ſich alle Naturkörper in eine 
einzige ungetheilte Reihe bringen laſſen, 
welche mit den Mineralien beginnend, ſich 
durch die einfachſten Pflanzen zu den voll— 
kommenſten fortſetze und durch dieſe zu 
den unvollkommenſten Thieren übergehe, 
um mit den vollkommenſten unter dieſen 
Geſchöpfen ihren Abſchluß zu finden. Dieſe 
Anſicht, an der merkwürdiger Weiſe noch 
heute von grob teleologiſchen, ſpeculativen 
Philoſophen feſtgehalten wird, obſchon ſie 
allen bekannten Thatſachen, allen Ergeb- 
niſſen der Naturforſchung Hohn ſpricht, 
weiſt Lamarck auf's Entſchiedenſte zurück. 
Ausdrücklich leugnet er das Vorhandenſein 
von Uebergängen zwiſchen den höchſten 
Pflanzen und den niederſten Thieren und 
bemerkt, wie wir ſehen werden, ganz rich— 
tig, daß der Zuſammenhang zwiſchen beiden 
Organismenreichen, wenn ein ſolcher über— 
haupt exiſtire, ganz anders zu denken ſei. 
Nicht nur fehlen ſeiner Meinung nach dieſe 
Uebergänge zwiſchen Pflanzen und Thieren, 
ſondern ſie fehlen auch vollſtändig zwiſchen 


) Später ſtellte Linné die Steine als 
Congesta den Pflanzen und Thieren als 
Organisata gegenüber, eine Unterſcheidung, 
die jedoch keine Verbreitung fand. 


410 


den Organismen und Mineralien und ſpe— 
ciell, wie obige Anſicht behauptet, zwiſchen 
den Pflanzen und Mineralien. Die Welt 
der Organismen hält er durch eine große 
Kluft, einen gewaltigen Abſtand, von der 
Welt der Mineralien, der Anorgane, ge— 
ſchieden. Wir müſſen indeſſen gleich hier 
betonen, daß Lamarck nicht eine abſo— 
lute Verſchiedenheit in der Natur der 
Organismen und der Anorgane behauptet. 
Der Unterſchied ſei zwar ſehr groß, aber 
nur relativ. Das materielle Subſtrat der 
Organismen ſei das nämliche wie das der 
Anorgane, nur ſeien die chemiſchen Verbind— 
ungen bei den Organismen unendlich viel 
complicirter. — Es exiſtirt alſo nach 
Lamarck kein beſonderer Lebens- 
ſtoff. — Auch die Geſetze ſind nach La— 
marck für die Organismen wie für die 
Anorgane die nämlichen, allgemein gülti⸗ 
gen, unveränderlichen; die Kräfte dieſelben. 


„Man hat in der That behauptet, daß die 
Organismen die Fähigkeit haben, den Ge— 
ſetzen und Kräften, denen alle lebloſen oder 
todten Körper unterworfen find, zu wider- 
ſtehen, und daß ſie durch beſondere Geſetze 


regiert werden. Nichts iſt unwahrſchein— 
licher und in der That unbegründeter, als 
dieſe vorgebliche Fähigkeit der Organismen, 
den Kräften, denen alle anderen Körper 
unterworfen ſind, zu widerſtehen. Dieſe 
ziemlich allgemein angenommene, in allen 
neueren, einſchlägigen Werken dargelegte 
Anſicht ſcheint mir aufgeſtellt worden zu 
ſein, einerſeits in Folge der Verlegenheit, 
in welcher man ſich bei der Erklärung der 
verſchiedenen Lebenserſcheinungen befunden 
hat, anderſeits in Folge der innerlich ge— 
fühlten Betrachtung der Fähigkeit der Or— 
ganismen, ihre eigene Körperſubſtanz ſelbſt 
zu bilden, die Verluſte, welche die ihre 
Theile bildenden Stoffe erleiden, wieder 


Lang, Lamarck und Darwin. 


zu erſetzen und endlich Verbindungen her— 
vorzubringen, welche ohne fie nie exiſtirt 
hätten. So hat man in Ermangelung 
anderweitiger Mittel die Schwierigkeit durch 
die Annahme beſonderer Geſetze, die man 
nicht einmal zu beſtimmen bemüht war, 
beſeitigt.““) Es giebt alſo nad La— 
marck keine beſondere Lebens- 
kraft. Daß diejenigen Bewegungen und 
Vorgänge, die man allgemein unter dem 
Collectivnamen Leben zuſammenfaßt, den 
fundamentalen Unterſchied zwiſchen den Or— 
ganismen und Anorganen bilden, das be— 
hauptet natürlich auch Lamarck. Allein 
das Leben iſt nach ihm eine ganz natür— 
liche, den allgemeinen Naturgeſetzen unter- 
worfene Erſcheinung. — Bei Betrachtung 
der philoſophiſchen Anſichten Lamarck's 
haben wir geſehen, daß derſelbe mit dem 
Worte „Natur“ die an ſich unveränder— 
liche Geſammtſumme der immer geſetz— 
mäßigen Bewegungen der Materie verſteht. 
Das Leben iſt nun ſeiner Anſicht nach eine 
beſchränkte Summe beſtimmter geſetzmäßiger 
Bewegungen innerhalb der Geſammtſumme, 
der Natur, und von dieſer abhängig, alſo 
recht eigentlich ein Stück Natur, eine „na- 
tura naturata“ im Sinne Spinoza's. 
— Die Principien, die Lamarck beim 
Verſuche der Löſung der Frage nach dem 
Weſen des Lebens leiten, ſind ſehr richtig 
und bezeichnend. Es herrſchen zwar, ſagt 
er einleitend, überall in der Natur dieſelben 
Geſetze und Kräfte, aber eine und dieſelbe 
Urſache bringt nothwendiger Weiſe verſchie— 
dene Wirkungen hervor, wenn ſie auf Ge— 
genſtände einwirkt, die ihrer Natur und 
den Verhältniſſen nach, in denen ſie ſich 
befinden, verſchieden find.” **) Ferner: 
„Die Natur complicirt ihre Mittel niemals, 
) Zool. Philoſ. S. 286. 
% Zool. Philoſ. S. 284. 


Lang, Lamarck und Darwin. 411 


wenn es nicht nöthig iſt; wenn ſie alle 
Erſcheinungen der Organiſation, mit Hülfe 
der Geſetze und Kräfte, denen alle Körper 
allgemein unterworfen ſind, hat hervor— 
bringen können, ſo hat ſie dies ohne Zwei— 
fel gethan und hat nicht, um einen Theil 
ihrer Erzeugniſſe zu regieren, Geſetze und 
Kräfte geſchaffen, die denen, welche ſie an— 
wendet, um den anderen Theil zu regieren, 
entgegengeſetzt ſind.“?) Lamarck ſpricht 
hier als conſtitutiven Grundſatz daſſelbe 
aus, was ja auch insbeſondere Kant als 
regulativen Grundſatz, als Maxime der 
Vernunft ausdrücklich hervorhebt, „Prin— 
cipia praeter necessitatem non sunt 
multiplicanda.“ 

Von der Ueberzeugung der Einheit der 
Geſetze, Kräfte und des materiellen Sub— 
ſtrats in der anorganiſchen wie in der or— 
ganiſchen Natur geleitet, machte nun La- 
marck Erwägungen über das Weſen des 


Lebens, indem er zuerſt ſich über die da— 
bei zu verfolgende Methode ins Klare zu 


ſetzen ſuchte. „Wir müſſen bei der aller— 
einfachſten Organiſation unterſuchen, worin 
in Wahrheit das Leben beſteht, welches 
ſeine nothwendigen Exiſtenzbedingungen ſind, 
aus welcher Quelle daſſelbe die beſondere 
Kraft ſchöpft, welche die ſogenannten Lebens— 
bewegungen erregt. Man kann in der 
That erſt nach der Unterſuchung der ein— 
fachſten Organiſation wiſſen, was wirklich 
für die Exiſtenz des Lebens in einem Kör— 
per weſentlich iſt; denn bei einer complicir— 
ten Organiſation iſt jedes hauptſächliche 
innere Organ derſelben für die Erhaltung 
des Lebens nothwendig, wegen ſeiner inni— 
gen Verknüpfung mit allen anderen Theilen 
des Organſyſtems und weil dieſes Syſtem 
nach einem Plane gebildet iſt, welcher dieſe 
Organe erfordert. Daraus folgt aber 


J Zool. Philoſ. S. 286. 


nicht, daß dieſe Organe für die Exiſtenz 
des Lebens in jedem Organismus noth— 
wendig find.” *) Indem nun Lamarck 
dieſen richtigen Weg einſchlägt, gelangt er 
dazu, das Leben, wie oben bemerkt, als 
eine Summe beſtimmter, ſehr complicirter 
Bewegungen der Beſtandtheile eines Orga— 
nismus aufzufaſſen und dieſe complicirten 
Bewegungen zurückzuführen auf die phyfi- 
kaliſche und complicirte chemiſche Beſchaffen— 
heit des materiellen Subſtrats des Orga— 
nismus. Etwas Näheres und Beſtimm— 
teres über die Lebensbewegungen vermag 
uns Lamarck ebenſo wenig zu ſagen, als 
unſere heutige Phyſiologie. — Zu einem 


höchſt fruchtbaren Ergebniß gelangt er aber, 


indem er gewiſſe phyſikaliſche Eigenſchaften 
des materiellen Subſtrats, zunächſt der ein— 
fachſten Organismen, vergleicht mit ent— 
ſprechenden phyſikaliſchen Eigenſchaften der 
anorganiſchen Körper. „Ein anorganiſcher 
Körper,“ ſagt Lamarck, „bildet entweder 
eine vollſtändig trockene, feſte Maſſe, oder 
eine vollſtändig flüſſige Maſſe, oder ein 
gasförmiges Fluidum. Kein Körper aber 
kann Leben beſitzen, wenn er nicht von 
zwei Arten weſentlich coexiſtirender Theile 
gebildet wird, von denen die einen feſt, aber 
biegſam und enthaltend, die anderen flüſſig 
und enthalten ſind, unabhängig von den 
unſichtbaren Fluida (Lamarck meint die 
Wärme, Ekektricität u. ſ. w. und dann 
Gaſe), welche ihn durchdringen und 
welche ſich in feinem Innern entwickeln.“ “) 
Daß Lamarck hier das meint, was wir 
als feſtflüſſigen Aggregatzuſtand bezeichnen, 
leuchtet ein. Er betrachtet dieſen Zuſtand 
mit Recht als eine der weſentlichſten inneren 
Bedingungen für das Auftreten der Lebens— 
bewegungen. Durch ſeine Erkenntniß von 
9 Zool. Philoſ. S. 200. 
% Zool. Philoſ. S. 208. 


der großen Bedeutung dieſes phyſikaliſchen 
Zuſtandes, wurde es ihm, wie wir gleich 
ſehen werden, möglich, ſich die Haupt— 
funktionen des Organismus: die Ernährung, 
das Wachsthum und die Fortpflanzung 
verſtändlicher zu machen. Lamarck ſpricht 
dann ferner auch von den weſentlichen äuße— 
ren Lebensbedingungen und betrachtet als 
ſolche die Feuchtigkeit (das Waſſer), die 
Wärme und die Elektricität. — Von der 
Elektricität wiſſen wir nicht, ob ſie eine 
nothwendige, äußere Lebensbedingung iſt; 
Wärme und Feuchtigkeit hingegen ſind nach— 
gewieſenermaßen unentbehrlich; das Licht 
hält auch Lamarck für unweſentlich. 

Im letzten Jahrhundert hatten Bon— 
net, Fontana, Spallanzani und 
viele Andere durch ihre Wiederbelebungs— 
verſuche eingetrockneter Thiere und Pflanzen 
allgemeines Intereſſe erregt. Allerhand 
bizarre Anſichten wurden zur Erklärung 
aufgeſtellt. Auch Lamarck widmete ſeine 
Aufmerkſamkeit dieſem Gegenſtand. Er 
ſprach die Anſicht aus, die uns auch heute 
noch die einzig plauſible zu ſein ſcheint, 
daß nämlich z. B. durch das Eintrocknen 
bei den Verſuchen die innere Anordnung 
der gröberen und feineren Theile nicht 
alterirt, wohl aber dem Organismus eine 
nothwendige, äußere Lebensbedingung ent— 
zogen worden ſei. Gebe man nun dem 
Organismus dieſe Bedingung wieder zu— 
rück, ſo könne natürlich auch das Leben 
wieder zurückkehren. 

Wir ſchließen unſere Erörterung der 
Anfihten Lamarck's über das Verhält— 
niß der anorganiſchen zur organiſchen Na— 
tur, indem wir von ſeinen theils falſchen, 
theils begründeten Sätzen über dieſes Ver— 
hältniß die wichtigſten anführen: 

„Die Anorgane wachſen durch Appoſition 
und entwickeln ſich nicht; die Organismen 


Lang, Lamarck und Darwin. 


wachſen durch Intusſusception und ent— 
wickeln ſich. Bewegung in den Theilen 
eines auorganiſchen Körpers zerſtört den— 
ſelben, Bewegung in den Theilen eines 
Organismus iſt für die Erhaltung feines 
Lebens abſolut nothwendig. Die Anorgane 
können ſich nicht ernähren, die Organismen 
müſſen ſich ernähren. Die Anorgane 
haben keinen gleichartigen Ur- 
ſprung; die Organismen haben 
einen gleichartigen Urſprung (un 
méme genre d'origine), mit Ausnahme 
derjenigen, welche durch Urzeugung ent— 
ſtehen. Die Anorgane pflanzen ſich nicht 
fort, die Organismen pflanzen ſich fort, 
u. D. 

Als Schlußreſultat ſeiner Erwägungen 
über das Verhältniß der anorganiſchen zur 
organiſchen Natur ſtellt Lamarck den 
Satz auf: „Der Unterſchied, welcher zwi— 
ſchen einem belebten und einem anorgani⸗ 
ſchen Körper exiſtirt, liegt alſo in Wirk— 
lichkeit nur darin, daß der Zuſtand der 
Theile des erſteren in ihm die Erzeugung 
der Lebenserſcheinungen ermöglicht, deren 
Auftreten nur einer erregenden Urſache be— 
darf, während bei letzterem die Yebens- 
erſcheinungen trotz der Einwirkung irgend 
einer erregenden Urſache unmöglich ſind.“ *) 

Es iſt von nicht geringem Intereſſe, 
nunmehr zu ſehen, wie Lamarck die all— 
gemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen 
zu erklären verſucht. Wir müſſen bei die— 
ſer Gelegenheit ſeine höchſt wichtige Unter— 
ſcheidung der allgemeinen, allen Organismen 
ohne Ausnahme zukommenden Lebensfune— 
tionen von den beſonderen, nur einem mehr 
oder weniger großen Theil der Organismen 
zukommenden Functionen hervorheben. Alsall— 
gemeine Functionen oder Lebenserſcheinungen 

* He natur. des animaux sans 
vertebres, Introd. p. 60. 


bezeichnet Lamarck 1) die Ernährung, 
2) das Wachsthum und 3) die Fort— 
pflanzung. Von dieſen drei Functionen 
bezwecken die beiden erſten die Erhaltung 
des Individuums, die letzte die Erhaltung 
der Art. In letzter Linie entſpringen auch 
die beiden letzten Functionen aus der erſten, 
der Ernährung. „Alle Theile des Or— 
ganismus,“ ſagt Lamarck, „find in beſtän— 
diger Veränderung und Zerſetzung. Der 
Organismus würde deshalb bald zu Grunde 
gehen, wenn die zerſetzten und unbrauchbar 
gewordenen Theile nicht aus ihm entfernt 
und durch andere, brauchbare erſetzt wür— 
den. Dies wird aber bewerkſtelligt durch 
die Ernährung, welche ihrerſeits durch den 
feſtflüſſigen Zuſtand ermöglicht wird. Feſte 
Stoffe können in das Innere des Körpers 
eingeführt, aufgelöſt und zu Beſtandtheilen 
der Leibesmaſſe umgewandelt werden. Die 
nicht verwendbaren und die Zerſetzungs— 
producte werden ausgeſtoßen. Wenn nun 
in Folge der Ernährung mehr Stoffe in 
den Körper aufgenommen und aſſimilirt 
werden, als ſich aus demſelben ausſcheiden, 
ſo nimmt derſelbe nothwendiger Weiſe an 
Größe und Maſſe zu; daher das Wachs— 
thum durch Intusſusception.“ Vom 
Wachsthum zur Fortpflanzung über— 
gehend betrachtet Lamarck dieſelbe in ihrer 
einfachſten Form, wie fie bei den niederſten, 
gallertartigen oder ſchleimigen Organismen 
vorkommt. Bei dieſen geſchieht die Fort— 
pflanzung durch Zerfall, Theilung des 
Körpers in zwei Hälften, von denen jede 
fortfährt zu leben. Nun die Erklärung 
dieſer einfachſten Art der Fortpflanzung! 
Der Körper der einfachſten, gallertartigen 
oder ſchleimigen Organismen, ſagt La— 
marck, hat eine gewiſſe beſchränkte Zähig— 
keit, vermöge deren er eine beſtimmte Größe 
nicht überſchreiten kann. Wird nun 


Lang, Lamarck und Darwin— 


= 


415 


durch ſtarkes Wachsthum in Folge über- 
reichlicher Ernährung dieſe Größe über— 
ſchritten, jo zerfällt der Körper in zwei 
Theile, d. h. er pflanzt ſich fort. Die 
Stelle bei Lamarck lautet: „Die Ver— 
mehrung und Fortpflanzung dieſer 
Körper (nämlich der einfachſten, durch Ur- 
zeugung entſtandenen Organismen) iſt das 
Product des Wachsthums über 
die Zähigkeitsgrenze hinaus, wo— 
durch die Theilung bewirkt wird.“?) — 
Es iſt unnöthig, hier auf die weitgehende 
Uebereinſtimmung zwiſchen Lamarck und 
der neueren Biologie, hauptſächlich Häckel's, 
des Näheren aufmerkſam zu machen. 

Bei Gelegenheit der Erörterung der 
einfachſten Fortpflanzungsweiſe durch Thei— 
lung weiſt auch Lamarck darauf hin, daß 
ſich nur hier die Vererbung als eine 
ganz natürliche, unmittelbare Folge der 
Fortpflanzung zeige. 

Den Tod der Organismen hält La— 
marck für eine nothwendige und natürliche 
Folge des Lebens. Von falſchen Vorſtel— 
lungen über die Aſſimilation ausgehend, 
glaubt er die Urſache deſſelben darin zu 
finden, daß durch die Ernährung mehr 
feſte als fluide Stoffe in den Körper ein— 
geführt werden, während ſich mehr fluide 
als feſte Stoffe ausſcheiden. In Folge 
deſſen ſollen die weichern und biegſamen 
Theile der Organismen mit zunehmendem 
Alter immer ſteifer werden und ſchließlich, 
vermöge ihrer zu großen Steifigkeit die 
Lebensbewegungen unmöglich machen und 
ſo den Tod herbeiführen. — 

Wie die neuere Naturphiloſophie 
Haeckel's und anderer, ſo nahm auch 
Lamarck die Entſtehung von Organismen 
durch Urzeugung an. Die moniſtiſche Na— 


) Hist. natur, des animaux sans ver- 
tebres, Introd. p. 148. 


—— — 


5 


414 


turphiloſophie behauptet, die Urzeugungs- 
hypotheſe ſei eine nothwendige Conſequenz 
aus der allgemein anerkannten Kant— 
Laplace'ſchen Theorie von der Entſtehung 


unſeres Sonnenſyſtems einerſeits und aus 
der Descendenztheorie andererſeits, ein noth- | 
wendiges Poſtulat der mechaniſch-moniſtiſchen 


Auffaſſung der Natur. 
gelangt aus allgemeinen Gründen zur An— 
nahme der Urzeugungshypotheſe. Da ſeiner 
Anſicht nach alle Körper auf natürlichem, 
mechaniſchem Wege hervorgebracht ſind, ſo 
können auch die Organismen nur auf die— 


können wir uns aber naturgemäß nur fo 
denken, daß alle exiſtirenden Thiere und 
Pflanzen durch Umbildung und Fortpflan⸗ 
zung aus einfachſten Organismen und dieſe 
wieder durch Urzeugung unter ausſchließ— 
licher Mitwirkung der allgemeinen phyſika— 
liſchen und chemiſchen Kräfte aus anorga— 
niſcher Materie entſtanden ſind. Das iſt 
der eine Grund, weshalb Lamarck die 
Urzeugung annimmt. Ein anderer und 
zwar der wichtigſte Grund, der Lamarck 
zur Annahme der Urzeugungshypotheſe nö— 
thigt, iſt der, daß er ſeiner Descendenz— 
theorie zu Folge die Exiſtenz noch heute 
lebender niederer Thiere und Pflanzen nicht 
anders als durch noch heute erfolgende Ur— 
zeugung erklären kann. Lamarck hält 
übrigens die Urzeugung als eine erwieſene 
Thatſache, indem er es für rein unmöglich 
hält, daß ſo zarte und ſchleimige Organis— 
men, wie z. B. die Infuſorien, jo dauer- 
hafte und reſiſtente Sporen und Keimknos— 
pen erzeugen können, daß ſie den Winter 
zu überdauern vermögen. Dies iſt indeß 
bekanntlich durchaus nicht richtig und kein 
Beweis. Es iſt auch bis zur heutigen 
Stunde weder der direkte Beweis für, 
noch der direkte Beweis gegen die Urzeu— 


Auch Lamarck 


Lang, Lamarck und Darwin. 


gung erbracht. Der letztere kann überhaupt, 
wie Haeckel richtig bemerkt, gar nicht mit 
Sicherheit geliefert werden. — Wir müſſen 
noch bemerken, daß Lamarck ausdrücklich 
die Annahme von der ſpontanen Entſtehung 
hochorganiſirter Thiere und Pflanzen, wie 
ſie bis zu Redi von Inſekten, Würmern 
und ſogar von Fiſchen behauptet worden 
war, verwirft. Nur die allereinfachſten 
Thiere und Pflanzen können ſeiner Anſicht 
nach aus anorganiſcher Materie enſtehen 


oder entſtanden fein. (Autogonie Haeckel's.) 
In ſeiner zoologiſchen Philoſophie und in 
ſem Wege hervorgebracht worden ſein. Dies 


der Einleitung zur Naturgeſchichte der wir- 
belloſen Thiere lehrt er, daß unter den Thieren 
die einfachſten Infuſorien und zwar die 
Monaden durch Urzeugung entſtehen und 
entſtanden ſeien, hält aber auch die ſpontane 
Entſtehung (generatio aequivoca) der nie— 
derſten Eingeweidewürmer für möglich und 
wahrſcheinlich, eine Anſicht, die er indeß ſpä— 
ter wieder fallen zu laſſen ſcheint. Wie 
ſich Lamarck den Prozeß der Urzeugung 
im Einzelnen vorſtellt, hat für uns kein 
Intereſſe. Es ſind natürlich bloße Ver— 
muthungen. 

Die geſammte organiſche Welt wird 
ſeit den älteſten Zeiten der Naturforſchung 
in zwei Reiche eingetheilt, in das Reich 
der Thiere und in das Reich der Pflan— 
zen. Zu den Zeiten, wo man nur die 
größern Organismen kannte, war es leicht 
zu beſtimmen, ob ein organiſches Weſen 
ein Thier oder eine Pflanze ſei. Die 
Grenzſcheide der beiden Reiche erſchien 
ſcharf und durchgreifend. Als abſolute 
Unterſcheidungsmerkmale, durch welche ſich 
die Thiere von den Pflanzen auszeichnen 
ſollten, galten beſonders ſeit Linné die Em— 
pfindung und die willkürliche Bewegung. 
„Plantae vivunt, non sentiunt, anima- 
lia vivunt et sentiunt, sponteque se 


Lang, Lamarck und Darwin. 


movent“ 


ſagte Linné. Dieſe Anſicht 
blieb bis gegen die Mitte unſeres Jahr— 


hunderts die allgemein angenommene und 


herrſchende. Erſt in den letzten Decennien 
wurde ſie in Folge der fortſchreitenden, ge— 
naueren Unterſuchungen über Bau und 


Entwickelung der niederſten Organismen 


aufgegeben. Je mehr dieſe Unterſuchungen 
unſere Kenntniſſe bereicherten, um ſo grö— 
ßer wurde die Schwierigkeit, 
Organismenreiche an ihrer Wurzel ſcharf 
zu trennen und durchgreifende, ſich einerſeits 
auf alle Pflanzen, andererſeits auf alle 
Thiere erſtreckende Charactere aufzufinden. 
Bei ſehr vielen niederſten Orgauismen 
blieb man in Zweifel, ob man ſie eher zu 
Pflanzen oder zu den Thieren zählen müſſe. 
Empfindung und 
erkannte man als durchaus unzureichende 


Unterſcheidungsmerkmale. Bis zur Stunde 


iſt die Frage über die Grenzſcheide der bei— 
den organiſchen Reiche trotz mannigfaltiger 
Löſungsverſuche von Botanikern und Zoo— 
logen eine offene geblieben. Einen großen 
Schritt weiter hat unſtreitig Haeckel ge— 


than, indem er, dem Prinzip nach offenbar 


völlig naturgemäß, ein neutrales Zwiſchen— 
reich, das Reich der Protiſten, grün— 
dete, deſſen Umgrenzung und Charafterifi- 
rung jedoch beim dermaligen Stande der 
Biologie neue Schwierigkeiten in der prak— 
tiſchen Durchführung darbietet. — Nach 
dem Geſagten muß es uns überraſchen, 
daß Lamarck ſchon im erſten Decennium 
dieſes Jahrhunderts ganz energiſch gegen 


die Anſicht proteſtirt, daß ſich die Thiere 


von den Pflanzen durch Empfindung und 
willkürliche Bewegung abſolut unterſcheiden. 
Schon 1802 ſagte er: 
Anſicht, daß jedes Thier von jeder Pflanze 
durch die Fähigkeit der Empfindung und 
der freiwilligen Bewegung unterſchieden ſei, 


die beiden 


willkürliche Bewegung 


415 


ſcheint mir nicht richtig zu fein. Die Em- 
pfindung kann nur da vorkommen, wo ein 
beſonderes Organ für dieſe Fähigkeit vor- 
handen iſt, und der Wille kann ſich nur 
in Folge eines Verſtandesprozeſſes bilden, 
welchen man Urtheil nennt und welcher be— 
ſtimmt.““) Nichtsdeſtoweniger glaubt La— 
mark, daß zwiſchen den Pflanzen und den 
| Thieren ein durchgreifender Unterſchied vor— 
handen ſei. Er beſtreitet, daß das Reich 
der Pflanzen irgendwo in das Reich der 
Thiere übergehe. — Zu ſeiner Zeit war 
die Meinung vielfach verbreitet, daß die 
Zoophyten eine Zwiſchenſtufe zwiſchen den 
Pflanzen und den Thieren bildeten. Lamarck 
tritt dieſer Anſicht mit Recht entgegen und 
erklärt die Zoophyten für echte Thiere, die 
mit den Pflanzen nichts gemein haben als 
die Stockbildung. Wie ſehr ſich feine An- 
ſichten auch in dieſem Punkte den heutigen 
nähern und ſeiner Zeit vorauseilen, zeigt 
uns folgender Satz: „Es iſt gewiß, daß, 


wenn die Pflanzen an irgend einer Stelle 


ihrer Reihe mit den Thieren zuſammen— 
hingen und in dieſelben übergehen könnten, 
dies nur bei denjenigen möglich wäre, de— 
ren Organiſation am einfachſten und unvoll— 
kommenſten iſt. In dieſem Falle würde die 
Natur einen unmerklichen Uebergang von 
den unvollkommenſten Pflanzen zu den un— 
vollkommenſten Thieren bewirkt haben. Alle 
Naturforſcher haben dies gefühlt und es 
ſcheinen in der That an dieſer Stelle, d. h. 
an derjenigen, welche beiderſeits die größte 
Einfachheit der Organiſation darbietet, die 


„Die allgemeine 


Pflanzen ſich am meiſten den Thieren zu 
nähern. Wenn an dieſer Stelle ein Ueber— 
gang vorhanden wäre, ſo müßte man an— 
nehmen, daß die Pflanzen und Thiere, au- 
ſtatt eine Kette zu bilden, zwei unterſchie— 


) Recherches sur Porganisation des 
corps vivans, p. 186. 


416 Lang, Lamarck und Darwin. 


dene und an ihrem Grunde wie die beiden 
Striche des Buchſtabens V verbundene 
Zweige darſtellten. Ich werde aber zeigen, 
daß an der angeführten Stelle kein Zu— 
ſammenhang ſtattfindet, daß wirklich jeder 
Zweig vom andern am Grunde getrennt 
iſt und daß ein poſitives Merkmal, welches 
durch die chemiſche Beſchaffenheit der Kör— 
per, auf welche die Natur eingewirkt hat, 
bedingt wird, einen ausgeſprochenen Unter— 
ſchied zwiſchen den zu dieſen beiden Zwei— 
gen gehörenden Körpern aufſtellt.““) La- 
marck nimmt an, daß durch Urzeugung 
ſowohl einfachſte Thiere, als einfachſte 
Pflanzen enſtehen und entſtanden ſeien. Aus 
den durch Urzeugung entſtandenen Thieren 
ſeien durch Fortpflanzung und Umbildung 
alle andern Thiere hervorgegangen, aus 
den einfachſten, durch Urzeugung entſtande— 
nen Pflanzen alle andern Pflanzen. Schon 
die allereinfachſten Thiere unterſcheiden ſich 
ſeiner Anſicht nach von den allereinfachſten 
Pflanzen durch die Reizbarkeit. Er 
glaubt, daß dieſer Unterſchied bedingt ſei 
durch verſchiedene chemiſche Zuſammenſetzung, 
indem bei den Thieren der Stickſtoff, bei 
den Pflanzen der Kohlenſtoff vorwiege. 
Indeß vermag er natürlich das Vorhanden— 
ſein oder Fehlen der Reizbarkeit aus die— 
ſer verſchiedenen chemiſchen Zuſammenſetzung 
nicht zu erklären. Mag dem nun ſein, wie 
ihm wolle: die Reizbarkeit iſt nach La- 
marck das untrügliche Kriterium, nach 
welchem man die Thiere, auch die einfach— 
ſten, ganz ſcharf von den Pflanzen unter— 
ſcheiden kann. Wir wiſſen heute, daß die 
Reizbarkeit oder Contractilität eine allge— 
meine Eigenſchaft des Protoplasmas iſt und 
kein durchgreifendes Unterſcheidungsmerkmal 
zwiſchen Thieren und Pflanzen abgiebt. 
Nichtsdeſtoweniger liegt dem Lamar ck'ſchen 


) Introduction. Seite 75 —76. 


Kriterium eine tiefere Bedeutung zu Grunde. 
Bei den Thieren bleiben nämlich die Zel— 
len meiſt nackt, während ſie ſich bei den 
Pflanzen gewöhnlich in eine ſtarre Cellu— 
loſehülle einſargen und ſo die Reizbarkeit 
verlieren. Wenn wir daher das Lamarck'ſche 
Kriterium, die Reizbarkeit, mit dem vor 
und nach ihm allgemein herrſchenden, der 
Empfindung und willkürlichen Bewegung, 
vergleichen, ſo können wir nicht umhin, in 
erſterem einen großen Fortſchritt zu erken— 
nen, der leider, das allgemeine Schickſal 
der Lamarck'ſchen Theorien theilend, un— 
beachtet blieb. Wir müſſen ſeine Einſicht 
in dieſer Beziehung um ſo mehr bewundern, 
als zu ſeiner Zeit die Zellentheorie noch 
nicht aufgeſtellt war. Lamarck ſelbſt 
ſpricht zwar ſehr oft von „Zellgewebe“ und 
„Zellen“ und widmet in der zool. Philo- 


ſophie dem „Zellgewebe“ ein beſonderes Ca- 


pitel, er nennt es ſogar „die Grundlage 
aller Organiſation“ und wir könnten ihn 
deshalb auch als Mitbegründer der Zellen- 
theorie bezeichnen, allein das Wort „Zell— 
gewebe“ bedeutet bei ihm etwas ganz an— 
deres, als das was wir heute darunter 
verſtehen. Wir können mit Berechtigung 
nur diejenigen zu den Begründern der 
Zellentheorie zählen, welche die Individua— 
lität der Zelle erkannt haben und dies hat 
Lamarck in keiner Weiſe gethan. 

Mit vielem Recht ſagt Lamarck bei 
ſeinem Vergleiche der Thiere mit den Pflan— 
zen ferner, daß die Thiere eine größere 
innere, die Pflanzen eine größere äußere 
Complication der Organiſation darbieten. 
Beide ſtimmen darin überein, daß ſie „ihre 
eigene Körperſubſtanz ſelbſt bilden“, das 
heißt, daß fie aſſimiliren können; ſie unter 
ſcheiden ſich aber dadurch, daß die Pflan— 
zen aus einfachen organiſchen Verbindungen 
zuſammengeſetzte, organiſche bilden können, 


während die Thiere Schon zuſammengeſetzter, 
organiſcher Verbindungen bedürfen, dieſe 
aber zu noch complicirteren Verbindungen ver— 
arbeiten. Mit Ausnahme der letzten Be— 
hauptung ſind auch dieſe Sätze im allge— 
meinen vollſtändig richtig und verrathen 
wichtige Einblicke in den Stoffwechſel der 
Organismen. 

Es möge uns hier noch erlaubt ſein, 
Lamarck als Förderer der Individuali— 
tätslehre an die Seite von Wolff und 
Goethe zu ſtellen. Die Bäume, Sträu— 
cher oder ausdauernden Pflanzen ſind nach 
ihm keine einfachen Individuen. Jeder 


Lang, Lamarck und Darwin. 


Leben führen“. 
Pflanzen giebt, ſo exiſtiren auch zuſammen⸗ 


417 


Sproß iſt ein einfaches Individuum; der 
Baum aber iſt zuſammengeſetzt aus vielen 
einfachen Individuen, „die mit einander 
kommuniciren und ein gemeinſchaftliches 
Wie es zuſammengeſetzte 


geſetzte Thiere, ſagt Lamarck. Die Zoo— 
phyten ſind ſolche zuſammengeſetzte Thiere, 
deshalb haben ſie durch die Art ihres 
Wachsthums und ihrer Verzweigung zu 


der irrthümlichen Anſicht Veranlaſſung ge— 


geben, daß fie zwiſchen Thieren und Pflan- 
zen mitten inneſtehen. — 


Ueber die Zulummenletzung des deutſchen Volkes. 


Hiſtoriſch-anthropologiſche Studie 


von 


C. 


i Nice Germanos indigenas eredi- 
> derim minimeque aliarum gen- 
Jtium adventibus et hospitiis 
mixtos, zu Deutſch: die Ger— 
manen ſelbſt ſind Ureinwohner 
und durchaus nicht durch Ein— 
wanderungen und Verkehr mit fremden 
Völkern gemiſcht, iſt meine Anſicht. So 
ſchreibt Tacitus in der Germania im 
zweiten Capitel über die damalige ethno— 
logiſche Einheit der germaniſchen Stämme. 

Bringen wir die Anſicht des römiſchen 
Geſchichtsſchreibers unſern Begriffen näher, 
ſo will er offenbar ſagen, die Germanen 
ſind 1) ein Urvolk und 2) kein Miſchvolk. 

Damit iſt aber nicht von ihm behauptet, 
daß nicht ſchon damals im Umfange Deutſch— 
lands vor 2000 Jahren, vom Rhein bis zur 
Weichſel und von der Donau bis an die 
Nordſee, ſich fremde Völkerſchaften befanden, 
und nicht allophyle Elemente mitten unter 
rein germaniſchen Stimmen geduldet wurden. 

So berichtet Tacitus von einigen 
Völkchen am Erzgebirge, daß ihre galliſche 
und pannoniſche Sprache ein Beweis für ihre 


Mehlis. 


nichtgermaniſche Abkunft fer, und außerdem 
der Umſtand, daß ſie Abgaben dulden. 
Auch die Suionen im heutigen Schweden 
ſcheinen nach ſeinen Mittheilungen keine 
reinen Germanen geweſen zu ſein. Die 
Peuciner, Veneden (Wenden) und die Fennen 
(Finnen) ſtellt er zwiſchen Germanen und 
Sarmaten (Slaven) ausdrücklich als Miſch— 
volk hin.) Ihre Beſchreibung ſtimmt mit 
der Lebensweiſe der Nomadenhorden überein, 
wie ſie noch bis heute den Südoſten Europas 
durchziehen. 

Darnach kennt und nimmt Tacitus 
bereits damals in Deutſchland hinlänglich 
nichtgermaniſche Elemente im Weſten am 
Rhein und im Oſten am Erzgebirge an, welche 
ein Licht werfen auf ſeine Anſicht von der 
Zuſammenſetzung der Völker auf deutſchem 
Boden. 

Aber nicht nur in ethnologiſcher 
Hinſicht giebt der ſcharfblickende Römer 
Differenzen an, ſondern auch in ſo zialer. 


) Vergl. Germania des Tacitus 46. Cap. 
55 85 % e de ee 
265 — 266. 


Im 25. Capitel beſchreibt er den Zuſtand 
der Sklaven und Freigelaſſenen. 
Die Stellung der erſteren entſpricht der— 
jenigen der Hörigen im Mittelalter, die 
Rechtsverhältniſſe der zweiten denen der 
Pfahlbürger in der „guten alten Zeit“. 

Zwar ſpricht der Römer davon, daß 
auch Freie in den Zuſtand der Knechtſchaft 
herabſanken, daß auch Kriegsgefangene zu 
Sklaven gemacht wurden, allein das ſind 
Ausnahmen. Die ganze ſoziale Einrichtung 
von Sklaven und Freigelaſſenen kann nur 
auf einer ethnologiſchen Differenz der Herren 
und der Sklaven beruhen. Es iſt dieſer 
Zuſtand nicht verſchieden geweſen von dem 
in Indien, Griechenland und Italien. 
Entweder brachten ſie dieſe Knechte ſchon 
bei der Einwanderung mit oder ſie unter— 
jochten bereits vorgefundene Stämme. In 
den Felſenhöhlen und Seewohnungen, 
in den Namen und Mythen, in den Sagen 
von Rieſen und Zwergen ſind ja noch 
hinlänglich Spuren einer ſolchen vorger— 
maniſchen Urbevölkerung vorhanden, und 
Finnen und Lappen, Kelten und Basken 
mögen in zurückgebliebenen Reſten die 
Contingente zu jener unfreien Population 
geſtellt haben). 

Wir können nach den Nachrichten der 
alten Autoren, nach den Schlüſſen daraus, 
nach den archäologiſchen Momenten, nach 
Namen und Sagen als geſichert folgende 
Sätze annehmen: 

1. Schon vor den Germanen bewohnten 
prähiſtoriſche Stämme Deutſchland. 

2. Die Germanen unterjochten oder 
vertrieben dieſe bei ihrer Einwanderung. 

3. Die unterjochten wurden Sklaven 
oder Freigelaſſene; in einigen wenigen 


) Vgl. Virchow, die Urbevölkerung 
Europa's, und Fraas, die alten Höhlen— 
be wohner. 


Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. 


Gegenden erhielten ſie ihre Unabhängig— 
keit.“) 

4. Die Germanen mieden in der älteſten 
Zeit die Miſchung mit dieſen allophylen 
Elementen. 

5. Der Prozentſatz der unfreien Be— 
völkerung muß in Altdeutſchland ein ſehr 
großer geweſen ſein, da ſie als Hörige 
das Ackerland bebauten und im Hauſe der 
Herren die Geſchäfte verrichteten. 

6. Nur im Oſten fand ſchon zur Zeit 
des Tacitus eine Miſchung zwiſchen Ger— 
manen und Slaven ſtatt. 

Fragen wir nun noch, wo ſich im All— 
gemeinen die bunteſte Zuſammenſetzung der 
deutſchen Bevölkerung bis an die Grenze 
der Völkerwanderung im dritten Jahrhundert 
ergeben muß, ſo ſind wir auf die großen 
Völker- und Verkehrsſtraßen des Rhein— 
und Donauthales angewieſen. 

Hier in dieſen reichgeſegneten Gauen 
vom Bodenſee bis zum Wienerwald, vom 
Jura bis an den Niederrhein ſaß ſchon 
vor Römern und Germanen eine verhält— 
nißmäßig dichte Urbevölkerung, deren 
Aktionselement den Kelten und Rhätiern 
(Etruskern) ““) zugeſchrieben werden muß. 
Noch heute kann man in dem regſamen, 
launigen, luſtigen, wechſelnden Charakter 
des Rheinländers das keltiſch-galliſche 
Ferment erkennen, wie es deutlich Ca eſar 
und Ammianus Marzellinus ſchildern. 
Noch heute mag in dem metallfundigen 
Steyermärker ein Stück von der alten 
Geſchicklichkeit ſtecken, welche die Etrusker 
zu den Engländern der Vorzeit machte. 


) So will Arnold in den Anwohneren 
der Schwalm noch keltiſche Reſte erkennen; 
in den Cevennen will man nach einer Mit- 
theilung im „Gloubs“ Nichtarier entdeckt haben. 

e, Steub identificirt Rhätier und 
Etrusker, auch K. O. Müller ſpricht ſich nicht 
dagegen aus. 


„ 


419 


7 


420 


Dieſe keltiſch-römiſche Bevölkerung, die den 
Main und den Neckar, die Altmühl und 
den Regen hinauf reichte, verſchmolz binnen 
drei Jahrhunderten mit der römiſchen In— 
vaſion zu einer neuen ethnologiſchen Einheit, 
der romaniſchen Bevölkerung. Deren Grund— 
ſtock erhielt ſich trotz dem Anſturme der 
Alemannen, der Quaden und Semnonen 
in den ſtädtiſchen Centren im Donau— 
thale, in Augsburg und Kempten, in Paſſau 


und in Wien. Die Germanen ſelbſt wohnten 
darum 


nicht in Städten und brauchten 
die erfahrenen Stadtbewohner zum Handel 
und zum Handwerk, zum Verkehr und zur 
Culturarbeit.“) 


Noch beſſer ſtand es mit der fränkiſchen | 
Juvaſion am Rhein. Die Franken hatten | 


von Rom gelernt; fie machten die keltiſch— 
römiſchen Volkstheile nicht zu Hörigen und 


Knechten, wie die Alemannen, ſondern fie | 


nahmen ſie unter ſich auf, eigneten ſich ihre 
Sprache an und brachten in Sitte und 
Glaube, in Miſchung und Ausſehen die 
Verbindung des romaniſchen Elementes mit 
dem germaniſchen zu Stande. Hier am 
Rhein erhielt ſich in Bildung der Seele 
und des Körpers der Romanismus am 
kräftigſten.““) 

Für die römiſch-fränkiſche Epoche können 
wir abermals die Reſultate für die Ver— 
änderungen der deutſchen Bevölkerung in 
folgenden Grundſätzen zuſammenfaſſen: 

1. Am Rhein und an der Donau 
ſaßen römiſch⸗keltiſche Bevölkerungselemente. 

2. Am Rhein und an der Donau 


) Eine Reihe wichtiger Geſichtspunkte 
für die Völkermiſchung in den Donaugauen 
giebt J. Jung, Römer und Romanen in 
den Donauländern, beſ. S. 178 — 282; vergl. 
auch Correſpondenzblatt der deutſchen Geſell— 
ſchaft für Anthropologie ꝛc. 1876. Nr. 5. 
W. Schmidt. 

) Vergl. Hausrath, die oberrheiniſche 
Bevölkerung in der Geſchichte, und des Verf., 
der Rhein und der Strom der Cultur. 1. Th. 


Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. 


finden wir die römiſch-keltiſche Cultur im 
Contakt mit den germaniſchen Stämmen. 
3. Am Rhein und an der Donau 


blieb, vorzugsweiſe in den Städten, ein 
Reſt der 


romaniſchen Miſchbevölkerung 
zurück. 

4. Beſonders am Rhein haben ſich 
die germaniſchen Elemente mit den ro— 
maniſchen zu einer neuen eulturellen und 
ethnologiſchen Einheit verbunden: der 
fränkiſchen. 5 

Erhalten wir ſo für den Weſten und 
Süden Deutſchlands für die erſten acht 
Jahrhunderte unſerer Zeitrechnung die An— 
deutungen für die Zuſammenſetzung der 
deutſchen Bevölkerung, ſo ergiebt die Ge— 
ſchichte der nächſten acht Jahrhunderte ſolcher 
genug für den Oſten Deutſchlands von 
der Elblinie bis zur Weichſelgrenze. 

Im Oſten Deutſchlands waren nach 
Abzug der Gothen und Burgunden, der 
Semnonen und Bajuvaren auf der Linie 
vom Strande der Oſtſee bis hinauf zu 
den Alpenfirſten die ſlaviſchen Stämme 
langſam aber ſicher eingerückt. Die Thäler 
der Oder und Weichſel, der Mitteldonau, 
ja ſelbſt den öſtlichſten Theil des Rhein— 
gebietes am Main hatten fie occupirt und 
coloniſirt. Ihre ungehinderte Einwanderung 
ging vom Ende des 5. bis Anfang des 9. 
Jahrhunderts vor ſich. Da begann, ſeit 
Karl dem Großen, der Kampf gegen das 
Slaventhum im Oſten, der ein volles halbes 
Jahrtauſend andauerte. Doch wurde auch 
das Markenland öſtlich der Elbe bis zur 


Oder von ſlaviſcher Herrſchaft gereinigt, 


wurden auch die Polaken und Sorben, 
die Lutizen und Obotriten im wildeſten 
Kampfe der Raſſenherrſchaft zu Tauſenden 
niedergemacht — der Grundſtock des Slaven— 
thums öſtlich der Elbe wurde nicht ganz 
ausgerottet, ja zwiſchen Oder und Weichſel 


öfters Reſte ethnologiſcher Differenzen. 


blieb er bis auf den heutigen Tag im 
Weſentlichen erhalten.“) 
Eine Hauptfolge dieſer Unterdrückung des 


Slaventhums, beſonders in Nordoſtdeutſch- 


land, war die, daß gefangene Slaven oder 
Sklaven in alle Himmelsrichtungen Deutſch— 
lands verſetzt wurden. Slaviſche Knechte 
waren ſeit dem 9. Jahrhundert ſo häufig 
in Deutſchland, daß ihr Name Slave 
(Sklave) ſtatt des Wortes Knecht (servus) 
gebraucht wurde. Wende oder Winde galt 
lange Zeit als Schimpfname, wie nachher 
Schelm oder Wälſcher“ ), was den Romanen 
bezeichnete. In den großen Handelsſtädten 
an den deutſchen Küſten fanden bis Ende 
des 12. Jahrhunderts große Sklavenmärkte 
ſtatt, welche die knechtarmen Gegenden mit 
Sklaven verſorgten. Man kann behaupten, 
daß vom 9. bis 14. Jahrhundert eine In— 
filtration der niederen Bevölkerung in 
Deutſchland mit flaviſchen Elementen vor 
ſich ging, und zwar gilt dieſer Satz be— 
ſonders für die Küſten an der Nord- und 
Oſtſee. Außerdem kamen durch die Ein— 
fälle der Avaren, Ungarn, Tartaren, und 
ihre Gefangennahme, beſonders nach dem 
Südweſten Deutſchlands, viele fremde 
turaniſche Elemente, die alle dem Sklaven— 
ſtande eingereiht, beſonders in die niederen 
Claſſen eine noch buntere Miſchung brachten. 

Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts 
kann man mit Höl der dieſe Fluktuationen 
unter der deutſchen Bevölkerung rechnen, 
welche beſonders öſtliche, ſlaviſch-turaniſche 


) Vergl. das Nähere bei Hellwald, 
Culturgeſchichte. 2. Aufl. II. Bd. S. 7783, 
und beſonders auch Hölder, Zuſammenſtel— 
lung der in Württemberg vorkommenden 
Schädelformen. S. 28 — 30, außerdem 
Bacmeifter, Alemanniſche Wanderungen. 
S. 150-163. 


en Donaulanden. „Schimpfnamen“ ſind 


Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. 


*) Schelm beſonders am Rhein, Wälſcher 


421 


Elemente in die Bevölkerung einführten. 
Eine Zuſammenfaſſung der Reſultate ergiebt: 

1. Der Oſten Deutſchlands wurde bis 
an den Thüringerwald und die Saale, die 
Frankenhöhe und die Tauber, bis an Inn 
und Etſch mit Slaven bevölkert. 

2. Der Kampf des Germanismus 
gegen den Slavismus rottete links der 
Elbe letzteren aus und verſetzte ſeine übrig 
gebliebenen Elemente in die Städte des in— 
neren Deutſchlands und an die Nordküſten. 

3. Im Nordoſten Deutſchlands, be— 
ſonders rechts der Oder, hat eine ſtarke 
Miſchung flaviſchen Grundſtammes mit 
germaniſcher Einwanderung Platz gegriffen. 

4. Die Raſſenbewegung findet ihren 
Abſchluß Mitte des 14. Jahrhunderts. 

Waren jedoch vor dem Einfluſſe des 
Chriſtenthums die ethnologiſchen Elemente 
Deutſchlands zugleich ſoziale Trennungs— 
glieder, ſo hob der Einfluß des Chriſten— 
thums, je länger je mächtiger, dieſe Scheide— 
wand allmälig auf. Die Raſſeneinheit der 
Germanen beginnt ſeit jener Miſchung in 
Phyſiognomie und Schädelbildung zu ſchwin— 
den); der ſpecifiſche Typus der Germanen, 
der lange Schädel, die hellen Haare und 
die blauen Augen beginnen ſich allmälig in 
den Gegenden, wo die meiſten fremden Ele— 
mente eingedrungen, zu verlieren. 

In anderen Gegenden, am Rhein und 
an der Donau, waren die Germanen nie 
vorherrſchend, und wir finden dort nach den 
Unterſuchungen der deutſchen anthropologi— 
ſchen Geſellſchaft die dunkelſten Complexionen, 
die wenigſten Langſchädel, die meiſten Ab— 
weichungen von den klaſſiſchen Eigenſchaften 
der Germanen. *) 

Vergl. Hölder, a. a. O. S. 30. 

) Ueber die klaſſiſchen Eigenſchaften der 
Germanen vergl. Virchow, Correſpondenz— 


blatt d. deutſchen Geſellſchaft für Anthropologie, 
1877. Nr. 1. S. 5. 


Bedingen im Nordoſten Deutſchlands 
phyſiſche Gründe die beſſere Erhaltung 
der helleren Complexionen, ſo iſt es doch 
kein Zweifel, daß nach den vorhergehenden 


Ausführungen auch hier, und zwar beſonders 
in den niederen Ständen, die Bevölkerung 


ſtark mit nichtgermaniſchen Elementen ver— 
ſetzt iſt. So ziemlich rein haben ſich dar— 
nach nur die Gaue des mittleren Deutſch— 


lands von den Mündungen der Ems und 


Weſer bis zur Elbe, in einem Viereck 
reichend bis zu dem heſſiſchen Berglande, 
dem weſtlichen Abhange des Thüringer— 
waldes, der thüringiſchen Saale und der 
lüneburger Haide erhalten. Hier wohnen 
im Weſentlichen noch immer die Nach— 
kommen der alten Chatten und Sigambrer, 
der Cherusker und der Frieſen. 
übrigen Europa die Nachkommen der Gothen 
und Vandalen, der Burgunden und Longo— 
barden in fremder Bevölkerung unter- 
gingen, ſo auch haben die Enkel der Franken 
und Bajuwaren, der Sueben und der 
Markomannen im Weſten und Oſten ſich 
weſentlich ihres germaniſchen Typus ent— 
äußert: Roma capta ferum vietorem 
cepit. 

Im Oſten ſehen wir entweder fpäter 
eingewanderte deutſche Bevölkerung, ſo be— 
ſonders in Brandenburg, oder eine Miſchung 
des ſlaviſchen mit dem germaniſchen Typus, 
wobei jedoch die helleren Complexionen des 
germaniſchen Typus meiſtens erhalten blei— 
ben.“) 

) Häufig ſind z. B. Blonde unter den 
Polen, worauf jüngſt Hellwald den Verf. 
aufmerkſam machte. 

Näheres über die Vertheilung des hellen 
und dunklen Bevölkerungselements in Deutſch— 
land vergl. Correſpondenzblatt d. deutſchen 


Geſellſchaft f. Anthropologie 1876, Virchow, 
S. 91 — 102; ſowie des Verfaſſers Aufjag 


Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. 


Wollen wir noch einen Blick auf die 
Zukunft der deutſchen Bevölkerung in an- 
thropologiſcher Hinſicht werfen, ſo erſcheinen 
allerdings die Freizügigkeit, die Eman⸗ 
cipirtheit unſerer Tage von ſozialen 
Hemmungen in den Heirathen, ja auch die 
Präponderanz der mittleren und niederen 
Klaſſen, die meiſtens der Miſchbevölkerung 


entſtammen, als wenig geeignete Faktoren, 


| 


Wie im 


um die Reinheit des germaniſchen Tpyus 
wieder herzuſtellen. Im Ganzen iſt der 
deutſche Adel der berechtigte Conſervator 
des germaniſchen Raſſentypus, und ebenſo hat 
ſich das urfreie deutſche Bauernthum 
rein erhalten in Weſtphalen und an der 
Nordſee; beides Elemente, welche die ſoma— 
tiſchen Charaktereigenſchaften des Germanen 
am beſten reſtringirt haben. Ob ſich in 
dem ſteten Kampfe zwiſchen dem germani- 


— 


ſchen Typus gegen ſeine Miſchformen und feine. 


Gegner, den turaniſchen und ſarmatiſchen 
Typus, erſterer erhalten wird, iſt zu be⸗ 


zweifeln. Sollte aber auch bis auf wenige 


Reſte der germaniſche Körperbau zu Gunſten 
des romaniſchen Typus im Südweſten und 
des ſarmatiſchen im Nordoſten zu Grunde 
gehen, ſo iſt es andererſeits keine Frage, 
daß es ebenſo anderen Raſſen im Süden 
und Weſten erging, ja vor unſeren Augen 
greifbar in Nordamerika ergeht. — Wir 
können uns entweder mit jenen tröſten oder 
in dieſem Kampfe eine Naturnothwendig— 
keit erblicken, die über dem Einzelnen hin— 
weg eilt, und die es vollbrachte, daß 
— ſei's wie's iſt — aus den germa— 
niſchen Stämmen binnen anderthalb 
Jahrtauſenden entſtand — das deutſche 
Volk. 

„Ueber deutſche Schädel“, Didaskalia 1876, 
Nr. 259. 


Zur Entwickelung des Farbenfinnes, 


Von 


Dr. Hugo Magnus, 


err Dr. Ernft Krauſe hat 
S. 264 ff. dieſer Zeitſchrift 
OR meine Unterſuchungen über die 
AN ar Entwickelung des Farbenſinnes 

einer ſehr gründlichen und ein— 


gehenden Beſprechung unterworfen und iſt 


dabei zu Ergebniſſen gelangt, welche mit 
den von mir gewonnenen größtentheils in 
Widerſpruch ſtehen und einen Mangel des 
Farbenunterſcheidungsvermögens bei den Ur— 
völkern nicht allein als ſehr fraglich erſchei— 
nen laſſen, ſondern denſelben geradezu in 
Abrede ſtellen. 
ten Herrn Verfaſſer jener Kritik ins Tref— 
fen geführten Gegengründen eine gewiſſe 
Bedeutung und Wichtigkeit nicht abgeſpro— 
chen werden kann, halten wir es im Inter— 
eſſe der ſo überaus wichtigen Frage durch— 


aus für geboten, dieſe Bedenken von unſerem 


Standpunkte aus einer kritiſchen Beleuchtung 
zu unterwerfen; ein Unternehmen, dem wir 
uns um ſo lieber unterziehen, als Herr 
Dr. Krauſe ſelbſt uns in liberalſter 
Weiſe dazu aufgefordert hat. 

In erſter Linie ſtellt der geehrte Herr 
Verfaſſer jener Kritik unſerer Theorie von 
der allmäligen, ſtufenweiſen Entwickelung 
des Farbenſinnes die Behauptung entgegen, 


Da den von dem geſchätz⸗ 


Docent an der Univerſität Breslau. 


daß gemäß dem Geſetz der geſchlechtlichen 


Zuchtwahl „die Farbenempfindung eine 
allgemeine und urſprüngliche, oder doch 
eine ſehr früh entwickelte Fähigkeit des 
Geſichtsorgans“ geweſen ſein müſſe und 
die Thierwelt ſchon in ſehr frühen Perio— 
den der Schöpfung im Beſitz eines gewiſſen 


Farbenſinnes geweſen ſei. Auf dieſen Ein- 


wand möchte ich zu allererſt entgegnen, daß 
der Nachweis einer wenn auch noch jo 
frühen Exiſtenz des Farbenſinnes in den 
verſchiedenſten Thierklaſſen doch noch immer 
keinen zwingenden Gegenbeweis gegen unſere 
Anſchauung von der Entwickelung des 
Farbenſinnes beim Menſchen in ſich ſchließt. 
Jene Thierklaſſen, die nachweislich bereits 
im Beſitz eines Farbenſinnes zu einer Zeit 


waren, in der ihn der Menſch noch ent— 


behrte, ſind nach unſerer Anſchauung auch 
nicht von Anfang an im vollen Beſitz der 
ihnen eigenthümlichen Farbenempfindung 
geweſen, ſondern haben dieſelbe gleichfalls 
erſt im Verlauf einer allmäligen Entwicke— 
lung erlangt. Ein Umſtand, welchen übri- 
gens der Verfaſſer auch ſelbſt einräumt, da 
er am Schluſſe ſeiner Beſprechung aus⸗ 
drücklich bemerkt: „ſo muß doch die Farben— 


empfindung irgendwo einmal im Thierreich 


56 


0 


ihren Anfang gehabt haben.“ Giebt man 
aber einmal zu, daß der Farbenſinn im 
Thierreich eben nicht uranfänglich dageweſen, 
ſondern im Laufe einer allmäligen Ent- 


wickelung erworben worden ſei, ſo ſehe ich 
Farbenpracht der Thier- und Pflanzenwelt 
die Thierwelt giltige Geſetzmäßigkeit nicht 
auch für das höchſt organiſirte Weſen der- 


eigentlich nicht ein, warum man dieſe für 


ſelben, den Menſchen, ſolle in Anſpruch 
nehmen dürfen. Ja ich muß ſogar behaup— 
ten, daß das Zugeſtändniß eines Anfanges 
der Farbenempfindung im Thierreich für 


mich die zwingende Nothwendigkeit in ſich 


ſchließt, daß analog dieſer Anfangsphaſe 
des Farbenſinnes im Thierreich nothwendig 
auch eine Anfangsphaſe deſſelben 
Menſchen anzunehmen ſei. Denn wenn 


ſchon der Farbenſinn im Thierreich, wo er 
doch ganz entſchieden nicht eine ſolche Höhe 


ſeiner Leiſtungsfähigkeit aufzuweiſen hat, 
wie beim Menſchen, nicht ein uranfäng⸗ 
licher geweſen iſt, ſondern auf Grund einer 
mehr oder minder raſchen Entwickelung 
erworben werden mußte, ſo wird man doch 
wohl nicht annehmen dürfen, daß der um 
Vieles umfangreichere und leiſtungsfähigere 
menſchliche Farbenſinn ohne jede fortſchritt— 


liche Entwickelung, lediglich nur auf Grund 


uranfänglicher, anerſchaffener Anlage dem 
Menſchen von Anfang an eigen geweſen ſei. 
Weil nun aber ferner der Farbenſinn beim 
Menſchen ein weit vollkommenerer und 
ausgiebigerer iſt, wie im Thierreich, ſo 
wird natürlich ſeine Entwickelung auch 
eine längere Zeitdauer in Anſpruch ge— 
nommen haben, wie in den Klaſſen der 
Thiere, und daher die Annahme völlig 
glaublich erſcheinen, daß dem Menſchen bis 
zu den Zeiten Homer's der Farbenſinn 
gemangelt habe. 

Uebrigens möchte ich an dieſer Stelle 
noch darauf aufmerkſam machen, daß ge— 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


rade die Entwickelung des Farbenſinnes 
aufs Engſte mit dem Darwin'ſchen Ge— 
ſetze der geſchlechtlichen Zuchtwahl in Zu— 
ſammenhang ſteht, ja für die fortſchritt— 
liche Entwickelung der Schönheit und 


zwingend geweſen ſein möchte. Namentlich 
dürfte dies ganz ſpeciell der Fall ſein bei 
der fortſchrittlichen Entwickelung der Schön- 
heit gewiſſer Thierklaſſen. Darwin (die 
Abſtammung des Menſchen und die ge— 
ſchlechtliche Zuchtwahl. Stuttgart 1871. 
Bd. II. S. 208) macht darauf aufmerk⸗ 


ſam, daß die Pracht des Federkleides ge- 
wiſſer Vögel im Laufe der Zeiten ganz 


beim 
jener Stelle: „Da die Jungen ſo vieler 


erheblich zugenommen habe. Er ſagt an 
Species nur wenig in der Farbe und 
anderen Ornamenten modificirt worden 
ſind, ſo ſind wir in den Stand geſetzt, 
uns ein Urtheil in Bezug auf das Gefieder 
ihrer früheren Urerzeuger zu bilden, und 
wir können ſchließen, daß die Schönheit 
unſerer jetzt exiſtirenden Species, wenn 
wir die ganze Klaſſe betrachten, ſeit der 
Zeit, von welcher das unreife Jugend— 
gefieder einen indirecten Bericht giebt, be— 
deutend zugenommen hat.“ Wäre der 
Farbenſinn uranfänglich und unveränder— 
lich den Thieren eigenthümlich geweſen, ſo 
wäre nach den Geſetzen der geſchlechtlichen 
Zuchtwahl eigentlich kaum zu verſtehen, 
warum die Färbung des Federkleides der 
Vögel, das ſich ja doch ſchließlich nur auf 
Grund gewiſſer Eigenthümlichkeiten des 
Farbenſinues der betreffenden Thierklaſſe 
entwickelt haben konnte, von dem einmal 
gewonnenen Typus habe abweichen und 
eine fortſchrittliche Entwickelung zeigen ſollen. 
Denn nimmt man einen von Anfang an 
dem Thiere zugehörenden, nicht entwickelungs⸗ 
fähigen Farbenſinn an, ſo iſt man damit 


ar 


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Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


auch eigentlich gezwungen, an der Unver⸗ 
änderlichkeit der Färbung des betreffenden 
Thieres feſtzuhalten. Denn die Färbung 
eines jeden Thieres muß vom Standpunkt 
der geſchlechtlichen Zuchtwahl aus doch eben 
als den Forderungen und Fähigkeiten des 
Farbenſinnes der betreffenden Thierklaſſe 
adäquat und durchaus entſprechend ange- 
ſehen werden. Eine jede Färbung einer 
Thierklaſſe mußte und konnte ſich nur im 
allerinnigſten und unmittelbarſten Anſchluß 

an die Leiſtungsfähigkeit des Farbenſinnes 
des betreffenden Thieres herausbilden. Den 
Anforderungen, welche ein Thier gemäß 
dieſer Leiſtungsfähigkeit ſeines Farbenſinnes 
an die Färbung ſeiner Genoſſen zu machen 
gezwungen war, mußte ſich eben die Fär— 
bung dieſer Thierklaſſe aufs Innigſte an— 
ſchmiegen. Denn nur unter dieſer Voraus- 
ſetzung war das Thier in der Lage, bei 
der geſchlechtlichen Zuchtwahl als activ be— 
theiligt auftreten zu können. Und fo er 
klären wir uns denn die fortſchrittliche Ent- 
wickelung, welche Darwin in der Farben— 
ſchönheit gewiſſer Vögel nachgewieſen hat, 
eben dadurch, daß der Farbenſinn derſelben 
im Laufe der Zeit von einer uranfänglichen 
und primitiven Phaſe der Entwickelung 
und Ausbildung zu immer größerer Lei— 
ſtungsfähigkeit erſtarkt iſt, und daß in 
Folge deſſen dann auch das Federkleid, um 
eben den geſteigerten Anſprüchen des höher 
organiſirten Farbenſinnes auch ferner ge— 
recht werden zu können, zu einer fortſchritt— 
lichen Entwickelung ſeiner Farbenpracht 
durchaus gezwungen war. Daher ſtehen 


wir denn nicht an, zwiſchen der Färbung 


einer Thierklaſſe, ſowie der Entwickelung, 
welche dieſelbe im Laufe der Zeiten durch— 
gemacht hat, und der Leiſtungsfähigkeit des 
Farbenſinnes eben derſelben Thierklaſſe ein 
inniges Wechſelverhältniß anzunehmen, und 


425 


zwar ein Wechſelverhältniß der Art, daß 
der Farbenſinn das cauſale Princip für 
den Zuſtand der Färbung des betreffenden 


Thieres abgegeben habe; jedoch natürlich 


immer nur in den Grenzen, in welchen 
die natürliche Zuchtwahl überhaupt auf die 
Färbung von Einfluß iſt. 

Wenn ich bei dem ſoeben erörterten 


Punkte mich etwas länger aufgehalten habe, 
als dies meine Leſer vielleicht vorausgeſetzt, 


ſo geſchah dies nur aus dem Grunde, um 
den Nachweis zu führen, daß unſere Vor— 
ſtellung von der Entwickelung des Farben— 
ſinnes durchaus nicht mit den Prämiſſen 


und Geſetzen der geſchlechtlichen Zuchtwahl 


in Widerſpruch ſtehe, ſondern ſich denſelben 
auf das Engſte anſchließe. 

Wenden wir uns nun zu dem zweiten 
Einwand, welchen der geſchätzte Herr Ver— 
faſſer gegen unſere Entwickelungstheorie des 
Farbenſinnes geltend macht, daß nämlich 
das Alterthum bereits im Beſitz der Blau- 
empfindung geweſen ſein müſſe, da der 
blaue Lapislazuli eine ſo hervorragende 
Rolle zu jener Zeit geſpielt habe: ſo möchte 
ich auch dieſem Einwurf nicht die Bedeu⸗ 


tung einräumen, wie dies Herr Dr. Krauſe 


thut. Vor Allem möchte ich hier darauf 
aufmerkſam machen, daß man gerade im 
Alterthum häufig genug Gegenſtänden der 
Schöpfung eine ganz außerordentliche Rolle 
und Bedeutung einräumte, ohne ſich dabei 
von Form und Farbe derſelben beeinfluſſen 
zu laſſen. Man verknüpfte eben mit den 
verehrten und heilig geachteten Gegenſtänden 
allerlei fromme Vorſtellungen; ich erinnere 
hier bloß an die ſo hervorragende Rolle, 
welche die Lotosblume im religiöſen, wie 
ſocialen Leben der Inder geſpielt hat. Man 
benutzte gerade ſie zu den zahlreichſten Ver— 
gleichen und Bildern, ſicherlich ohne ſich 
dabei immer gerade ihrer Farbe zu erin— 


426 


nern; denn hätte man dies gethan, jo wäre 
eine ganze Reihe von Gleichniſſen, in denen 
die Lotosblume die ausſchließliche Rolle 
ſpielt, geradezu unmöglich geweſen. Schon 
aus dieſem einen Beiſpiel geht hervor, daß 
man gerade im Alterthum den Werth und 
die Bedeutung eines hochverehrten Gegen— 
ſtandes häufig nicht nach ſeinen wirklichen, 
materiellen Eigenſchaften ſchätzte, ſondern 
lediglich auf Grund aprioriſtiſcher Voraus— 
ſetzungen, die meiſt religiöſer Natur waren. 
Ein gleiches Verhältniß aber kann ſehr 
wohl auch beim Lapislazuli ſtattgefunden 
haben, ſo daß er die hohe Achtung, in der 
er im Alterthum ſtand, eben nicht ſeiner Fär— 
bung zu danken hatte, ſondern irgend wel— 
chen Vorurtheilen, die man an ihn knüpfte. 
In dieſer Vorausſetzung werde ich durch 
einzelne Gleichniſſe noch beſonders beſtärkt. 


Wenn man z. B. den Himmel mit einem 


Lapislazuli vergleicht — ein Vergleich, auf 


welchen Herr Dr. Krauſe ganz beſonders 


aufmerkſam macht — ſo möchte ich ſogleich 
ſchon aus dieſem einen Vergleich ſchließen, 
daß man hierbei keinesfalls an die Farbe 
des Lapislazuli gedacht haben könne; denn 
gerade die Farbe dieſes Steines iſt ein 
tiefdunkles, geſättigtes Blau, wie es der 
Himmel unter keinen Verhältniſſen aufzu— 
weiſen hat. Wenn man aber trotzdem den 
Himmel mit einem Lapislazuli vergleicht, 
ſo kann dies eben nur aus einem ähnlichen 
Grunde geſchehen ſein, wie der, aus welchem 
man die Lotosblume mit dem Auge eines 
ſchönen Mädchens verglich u. ſ. w. Es 
war hier alſo nicht die Rückſicht auf die 
Färbung, welche den Vergleich anregte, 
ſondern gewiſſe myſtiſche Vorſtellungen, die 
man mit dem betreffenden Gegenſtand ver— 
band. Daher möchte ich denn auch nicht 
den Schluß ziehen, daß dem Alterthum 
die blaue Farbe bekannt geweſen ſein 


= 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


müſſe, weil es den Lapislazuli ganz beſon— 
ders hochgeachtet habe; um ſo weniger, als 
weil gerade das philologiſche, weit ver— 
läßlichere Material mit dieſer Annahme in 
keiner Weiſe in Einklang zu bringen iſt. 
Wenn ſodann als ein dritter Einwand 
gegen unſere Anſchauung behauptet wird, 
die Alten hätten, wäre ihnen Grünempfin- 
dung fremd geweſen, die Vegetation zinn— 
oberroth ſehen müſſen, ſo erlaube ich mir 
hierauf zu erwidern, daß dieſer Einwand 
nur für unſeren jetzigen, hoch entwickelten 
Farbenſinn Geltung haben würde. Nur 
bei voller Entwickelung des Farbenſinnes, 
bei ganz ausgeprägter Reactionsfähigkeit der 
Netzhaut gegen die verſchiedenen Spectral— 
farben kann von derartigen Contraſterſchein— 
ungen die Rede ſein, ſofern dieſelben eben in 
unſerer lebhaften und hoch entwickelten Far⸗ 
benempfindung begründet ſind. So lange 
dieſe Reactionsfähigkeit aber noch in den 
Kinderſchuhen einhertrat und ſich auf einige 
wenige primitive Aeußerungen beſchränkte, 
konnte wohl von Contraſtfarben überhaupt 
noch nicht die Rede ſein, da eben zur 
Perception eine hohe und zarte Farben— 
empfindung nöthig war. Uebrigens giebt 
uns dieſer Einwurf Veranlaſſung, kurz 
darzulegen, wie ſich denn eigentlich dem 
Auge des Menſchen bei mangelndem oder 
unvollſtändigem Farbenſinn die Schöpfung 
gezeigt haben möge. Es imponirte dem 
Menſchen zu jener Zeit die Farbe nicht 
durch den ſpecifiſchen Reiz, welchen ſie auf 
unſer modern gebildeteres Auge ausübt, 
ſondern lediglich nur durch ihren Gehalt 
an Licht, durch ihre Lichtſtärke. Da nun 
aber, wie bekannt, die verſchiedenen 
Farben einen ſehr wechſelnden Gehalt an 
lebendiger Kraft, reſp. an Lichtſtärke bes 
ſitzen, ſo mußte unter der Einwirkung die— 
ſes verſchiedenen Lichtreichthums ſich bei 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


dem damaligen Menſchen auch eine gewiſſe 
Unterſcheidung für die einzelnen Farben 
entwickeln; jedoch erhob ſich dieſe Unter— 
ſcheidung noch nicht, wie heut zu Tage, 
zu einer ſolchen Höhe, daß man ſich des 
verſchiedenen Farbencharakters bewußt ge— 
worden wäre, ſondern man differenzirte die 
Farben lediglich nach dem Reiz, wel— 
chen ihr Gehalt an Licht auf die Netzhaut 
ausübte. Daß wir mit dieſer Annahme 
nicht etwa auf dem Boden einer willkür— 
lichen, phantaſtiſchen Speculation uns be— 
wegen, vielmehr dem wirklichen, realen 
Verhältniß gerecht werden, zeigen uns die 
Schilderungen Homer's. Die Bilder, 
welche uns Homer von der Landſchaft 
ſowohl, wie von dem Leben und Treiben 
ſeiner Zeit entwirft, zeichnen ſich durch einen 
auffallenden Mangel an Farben aus; 
Roth und Gelb ſind die einzigen, welche 
er in ausgedehnterem Maße zu ſeinen 
Schilderungen benutzt. Dagegen beſitzt er 
eine erſtaunliche Menge von Ausdrücken 
zur Charakteriſirung von Lichteffecten; und 
dieſe ſind ſo ungemein zart empfunden und 
ſo fein nüancirt, daß es uns heut zu Tage 
ungemein ſchwer fällt, dieſelben ihm nach— 
zuempfinden; weshalb denn auch eine völlig 
befriedigende Ueberſetzung derſelben faſt zu 
den Unmöglichkeiten gehört und ſchließlich 
auch gehören muß, da ſich eben die meiſten 
jener homeriſchen Lichteffecte bei fortſchrei— 
tender Entwickelung des Farbenſinnes all— 
mälig in ſpecifiſche Farbenempfindungen 
umgeſetzt haben. Dort, wo die Netzhaut 
des homeriſchen Menſchen nur einen mehr 
oder minder fein nüancirten Lichteffect be— 
merkte, empfindet unſer modernes Auge 
bereits einen ſpecifiſchen Farbenreiz. Und 
aus dieſem Grunde müſſen uns jene Bil— 
der Homer's zum größten Theile fremd 
und unverſtändlich bleiben. Uebrigens hat 


die Philologie die geringe Farbenkenntniß 
Homer's wiederholentlich zum Gegenſtand 
der eingehendſten Unterſuchungen gemacht, 
ohne aber bis jetzt zu einer befriedigenden 
Erklärung derſelben gelangt zu ſein; eine 
Thatſache, deren Grund eben wohl nur 
darin lag, daß man der Entwickelung des 
Farbenſinnes eine zu geringe Aufmerkſam— 
keit zu ſchenken pflegte. Auch die Erklä— 
rung, welche Herr Dr. Krauſe zu geben 
verſucht, indem er an eine noch nicht völlig 
ausgebildete Entwickelung der Sprache ap— 
pellirt und die mangelhafte Färbung der 
homeriſchen Bilder lediglich aus einem 
Mangel an geeigneten Ausdrücken für die 
einzelnen Farben herleitet, vermag uns 
nicht zu befriedigen. Es will uns nicht 
recht glaubhaft erſcheinen, daß eine Sprache, 
welche wie die des Homer einen ſolchen 
Schatz von Bezeichnungen für die verſchie— 
denſten, zarteſten Lichteffecte beſeſſen hat, 
nicht im Stande geweſen ſein ſollte, ſich 
eigne Worte für die wichtigſten Farben zu 
bilden, zumal die Empfindung und Diffe— 
renzirung zarter Lichteffecte eine viel ſchwie— 
rigere Aufgabe iſt, als die Perception einer 
ſcharf ausgeſprochenen Farbe, wie z. B. 
des Grün oder des Blau. Wenn es aber 
der homeriſchen Sprache gelungen iſt, jene 
ſchwierig zu unterſcheidenden, zarteſten Licht— 
effecte mit zahlreichen, treffenden Schlag— 
wörtern zum Ausdruck zu bringen, ſo 
ſcheint es uns höchſt unwahrſcheinlich, daß 
ſie dies nicht auch bei relativ ſo leicht faß— 
baren Eindrücken, wie die der Hauptfarben 
ſind, ſollte haben leiſten können. So daß 


wir alſo mit Recht aus dem auffallenden 


Farbenmangel der homeriſchen Bilder eben 
auf einen mangelhaften Farbenſinn jener 
Zeitepoche, und nicht auf eine mangelhafte 
Entwickelung der Sprache ſchließen dürfen. 


428 Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


Vertheidigung 
des ablehnenden Standpunktes. 


Nicht um für heute das letzte Wort 
zu behalten, ſondern weil ich hoffe, mit 


dem Nachſtehenden zur Löſung dieſer im⸗ 


mer wieder auftauchenden Streitfrage bei— 
zutragen, will ich ſofort die meiner Kritik 
gemachten Einwürfe zu beſeitigen ſuchen. 
Zunächſt muß ich eingeſtehen, daß ich durch 
meine aphoriſtiſche Darlegung in Heft 3 
einige Mißverſtändniße meines geehrten 
Herrn Gegners wohl ſelbſt verſchuldet 
habe, die alſo zunächſt zu beſeitigen wären. 
Wenn ich geſagt habe, „daß die Farben— 
empfindung irgendwo einmal im Thierreich 
ihren Anfang genommen haben müſſe“, ſo 
habe ich dabei nur an die niederſten Thiere 
gedacht, bei denen ſich nur erſt Aufänge 
eines Sehorganes nachweiſen laſſen, ſo daß 
ſich kaum das Vorhandenſein einer höheren 
Fähigkeit vermuthen läßt, als etwa die 
Unterſcheidung der Dunkelheit von dem 
Hellen. Daß dann in irgend einer Weiſe 
die Entwickelung des' Farbenſinnes begon— 
nen haben muß, iſt klar. Aber ich zweifle 
ſehr, daß bei den höheren Thieren dieſe frühe 
Errungenſchaft irgendwo wieder in Frage ge— 
ſtellt worden fein kann, ſondern glaube viel— 
mehr, daß die ſpezifiſche Empfindlichkeit für 
Farben den Nachkommen dieſer Thiere ange— 
boren iſt, daß die Farbenempfindung einem 
geſunden Organe ebenſo unmittelbar ange— 
hört, wie die Lichtempfindung, weshalb ſie ja 
auch in keiner Weiſe gelehrt oder erlernt 
werden kann. 
ſatzreferat ſehen werden, hing das erſte 
Auftreten der Farbenempfindung vielleicht 
mit dem erſten Auftreten des ſogenannten 
Sehroths in der Netzhaut zuſammen, wel— 
ches bereits bei ſehr tiefſtehenden Thieren 
vorkommt. 


Wie wir in einem Zu⸗ 


Doch zunächſt zu unſerer Controverſe. 
Hinſichtlich der Schätzung des Lapis lazuli 
nimmt Herr Dr. Mag nus an, daß dieſelbe 


ganz wohl aus irgend einer dunklen, my⸗ 


ſtiſchen Urſache hervorgegangen ſein könne, 
bei der die Farbe gar nicht in Betracht 
kam, und er führt hier die hervorragende 
Rolle an, welche die Lotosblume in der 
alten Weltanſchauung ſpielt. Nach meiner 
Ueberzeugung liegen der Werthſchätzung 
einzelner Naturobjekte ſtets beſtimmte und 
oft ſehr verführeriſche Ideenverknüpfungen 
zu Grunde. Die Lotosblumen zumal bie⸗ 
ten in ihren geſammten Lebenserſcheinungen, 
in dem Auftauchen der Blüthen aus der 
Fluth, dem periodiſchen Sichöffnen und 
Schließen der Blumen, in der Drehung 
des Stengels nach dem Sonnenſtande der- 
maßen die Phantaſie anregende Erſcheinun⸗ 
gen, daß ihre hohe Verehrung und hervor— 
ragende Rolle in der Kosmologie der In- 
der und Aegypter vollſtändig gerechtfertigt 
und einfach natürlich erſcheinen müſſen. Es 
iſt mir andererſeits brieflich entgegengehal— 
ten worden, daß der Laſurſtein ja wohl 
als ſchwarzer Schmuckſtein wie der 
ſchwarze Agat, die ſchwarze Koralle, Jet 


u. ſ. w. geſchätzt worden fein könne. Eine 


ſolche Vermuthung iſt völlig unhaltbar, 
denn der Laſurſtein beſitzt nicht den Glanz 
der ebengenannten Objecte, er würde ein⸗ 
fach ſtumpfſchwarz, wie ſchwarzer Schiefer 
oder Serpentin erſcheinen, und Niemanden 
verführen, ihn heimzutragen, der feine herr⸗ 
liche blaue Farbe nicht zu würdigen ver⸗ 
möchte. Ebenſo muß ich den Einwand zu⸗ 
rückweiſen, daß die Farbe dieſes Steines 
mit der Himmelsbläue überhaupt nicht ver⸗ 
glichen werden könnte. In unſeren Brei⸗ 
ten vielleicht nicht, aber von dieſen iſt hier 
auch nicht die Rede; ſchon der ſchwärzliche 


Alpenhimmel nähert ſich in der Tiefe feiner. 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


Färbung dem Laſurſtein, noch mehr das 


klare Firmament der ſüdlicheren Länder.. 


Was meine Bemerkung betrifft, daß den 
Alten, wenn ſie blau- und grünblind gewe— | 
ſen wären, das Pflanzenlaub zinnoberroth 
erſchienen ſein müſſe, bin ich von meinem | 
Herrn. Opponenten völlig mißverſtanden 
worden und da dies Mißverſtändniß mei⸗ 


nerſeits durch die Kürze, mit der ich über 
dieſen Punkt hinwegging, verſchuldet ſein 


mag, ſo will ich darüber mich etwas weiter 


auslaſſen. Ich wollte nämlich andeuten, 
daß wir uns ja künſtlich jenen Anblick 
verſchaffen könnten, in denen Homer und 
die Alten die Welt erblickt haben ſollen, 
wenn wir durch farbige Gläſer die grünen, 
blauen und violetten Strahlen abhalten 
in unſer Auge zu dringen, ſo daß wir nur 
noch die rothen und gelben Gegenſtände 
erblicken. Es wird dies annähernd erreicht, 
wenn man ein mit Eiſen gefärbtes dunkelgel— 
bes Glas mit einem dunkelblauen Kobalt⸗ 
glaſe verbindet. Durch dieſe Combination 
(Lommel's Erythroſkop) werden die in— 
digoblauen Strahlen nicht völlig ausgeſchloſ— 
ſen, dagegen aber die gelb- und blaugrünen, 
ſowie der größte Theil der blauen. Blickt 
man nun durch dieſe Vorrichtung auf einen 
ſonnigen Raſen oder Park, ſo erſcheint alles 
Laub leuchtend zinnoberroth, nicht in Folge 
einer Contraſtwirkung, ſondern weil das 
Laub wirklich eine ſolche Menge rother 
Strahlen zurückwirft, die wir nur für ge— 
wöhnlich nicht erblicken, weil die Menge 
der zurückgeworfenen grünen Strahlen noch 
viel größer iſt. Wenn aber dieſe grünen 
Strahlen, wie vorausgeſetzt wird, auf das 
Auge der Alten keinen Eindruck hervor— 
gebracht hätten, ſo müſſten die Letzteren wenig— 
ſtens die rothen erblickt haben, wie wir ſie 
durch das Erythroſkop wahrnehmen. Ge— 
gen die Schlußbemerkungen, daß man einer 


429 


ſo ausgebildeten Sprache wie diejenige 
Homer's war, einen Mangel an Farbe— 
namen nicht zutrauen könne, ohne die Vor⸗ 
ausſetzung, daß die betreffenden Farben über- 
haupt nicht empfunden worden ſeien, kann 
ich nur die Bemerkung wiederholen, daß 
die Charakteriſirung der Farben ein ſpätes 
Bedürfniß geweſen zu ſein ſcheint, um ſo 
mehr, da man ſich im Nothfall mit Ver— 
gleichung bekannter Natur-Objekte helfen 
konnte. Ich wies ſchon darauf hin, daß ſich 
das Bedürfniß, die Uebergangsfarben eben— 
falls mit beſonderen, von Naturobjekten 
hergenommenen Benennungen zu bezeichnen, 
(Orange, Violett, Lila, Penſée) ſogar erſt 
ſeit wenigen Jahrhunderten gezeigt hat. 
Das Wort Penſce als Farbenbezeichnung 
iſt erſt höchſtens ſeit dreißig Jahren in Ge— 
brauch; das Wort Lila iſt ſicher nicht älter 
als die Einführung des Fliederſtrauches 
(Lilac) in unſre Gärten, und ſelbſt die 
Worte Violett und Orange ſcheinen als 
Farbenamen kaum einige hundert Jahre 
zurückzureichen. Ich kann nur meine Ueber⸗ 
zeugung wiederholen, daß ſich hier dem 
Sprachforſcher ein Feld aufthut, welches in 
pſychologiſcher Beziehung eine ſehr intereſſante 
Ausbeute verſpricht. Die ſprachliche Unter— 
ſuchung würde aber, wie mir ſcheint, vor 
Allem Rückſicht zu nehmen haben auf die 
Geſchichte der Färberei, Malerei und Pig— 
ment-Erzengung durch chemiſche Prozefie, 
die Schon bei den alten Aſſyrern und Ae— 
gyptern ſehr weit gediehen zu ſein ſcheint. 
In einen unvereinbaren Conflikt tritt 
die Geiger'ſche Theorie mit der Archäo— 
logie, namentlich mit dem Studium der 
Baureſte Aſſyriens und Aegyptens, auf de— 
ren Wänden man farbige Decorationen, 
die viel älter als die homeriſchen Gedichte 
find, erblickt. Um die ſtreitige Frage mög- 
lichſt ihrer Entſcheidung nahe zu bringen, 


1 430 


habe ich Herrn Profeſſor Düm ichen in 
Straßburg erſucht, mir freundlichſt ſagen zu 
wollen, ob in den alten ägyptiſchen Malereien, 
die weit über zweitauſend Jahre vor unſere 
Zeitrechnung zurückreichen, blaue und grüne 
Farbentöne allgemein und der Natur, 
wie wir ſie erblicken, entſprechend 
angewendet worden ſeien. Aus der mir gü— 
tigſt gewährten eingehenden Auskunft erlaube 
ich mir, das Nachſtehende wörtlich mitzu— 
theilen. 
„ . . . Die alten Bewohner des Nil- 
thals“, ſchreibt Herr Profeſſor Düm ichen, 
„gehörten jedenfalls nicht zu denjenigen Völ— 
kern des Alterthums, die nicht im Stande 
geweſen ſein ſollen, grün und blau nach ihrem 
Farbenwerthe zu würdigen. Wenn Geiger, 
ehe er ſeine Theorie aufjtellte, ſich die alt— 
ägyptiſchen Wandgemälde angeſehen, ſo hätte 
er ſich überzeugen können, daß ſchon die 
alten Aegypter ſelbſt feinere Nüan- 
cirungen ſehr wohl zu unterſcheiden ver— 
mochten. Auch hatte die altägyptiſche Sprache 
eine ganze Reihe von Worten zur Bezeich— 
nung der verſchiedenen Farben, von denen 
bis jetzt feſtſtehen: hat, hell, weiß; kem, 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


dunkel, ſchwarz; toscher, roth; maresch, (er- 
Farbſtoff fehlt, und die Vertiefung nur 


halten im Koptiſchen mersch, morsch), fla- 
vus, rubicundus; tehen, ein helles Gelb; 


nat, grün (dieſes Wort bedeutet zugleich 
„ſproſſen“ und „kräftig ſein“), mafek, ein 


anderes Grün, zugleich der Name des Sma— 
ragds und eines dem Smaragd ähnlichen 
grünen Glasfluſſes; chesteb, blau, eigentlich 
die Färbung des Lapislazuli; nub, Gold 
und goldfarbig; hat nub, Silber und ſil— 
berfarbig. Nicht ſelten werden nun in den 


Inſchriften die Farben noch näher ange— 
geben; ſo findet ſich namentlich oft bei 
ſchwarz und weiß noch der Zuſatz: necht 
Nh, stark, ſehr. . 

Uebrigens waren auch bei den alten 


Aegyptern die Vergleichungen mit andern 
Naturobjekten, zur nähern Bezeichnung der 
Nüancen, üblich. In einer ungemein inte— 
reſſanten Inſchrift, die Herr Profeſſor Diü- 
michen veröffentlicht hat, und die von 
einer Wand des von ihm als Laborato— 
rium des Edfu-Tempels erkannten Gemaches 
herrührt, werden unter verſchiedenen In— 
gredienzien zwei Baumharze erwähnt, die 
zunächſt beide als maresch d. h. röthlich 
gelb bezeichnet werden, worauf es zur 
nähern Charakteriſirung von dem einen 
heißt: „es gleicht ſeine Farbe der Sonne 
im Winter“, und von dem andern: „Wenn 
es herausgeführt wird aus ſeinem Platze 
mit einem Meſſer, dann iſt es wie die 
Farbe von dem Flügel des Sifvogels, und 


was den Sifvogel betrifft, ſo iſt das der 


Läufer (Tefen) deſſen Flügel in der Farbe 
dem Golde gleichen.“ 

„Das Berliner Muſeum“, fährt Herr 
Profeſſor Dümichen fort, „beſitzt eine 
Palette mit ſieben Vertiefungen für ſieben 
Farben, von Schwarz nach Weiß geordnet. 
Den Anfang macht Schwarz, dann folgte 
wahrscheinlich ein tiefes Dunkelblau (wel— 
ches jetzt ſchwer zu erkennen iſt, weil der 


ſchwarz ausſieht, möglicherweiſe war es ein 


dunkles Braun). Als dritte Farbe folgt 
ein deutlich erkennbares Roth, dann hellblau, 
hierauf Grün und Gelb und zuletzt Weiß. 
Dieſe ſieben Farben wurden nun bei der 
Wandmalerei in den verſchiedenſten Nüan— 
cirungen gemiſcht. Die Bäume und Sträu- 
cher ſind ſtets mit grünen Blättern 
dargeſtellt, Stamm und Aeſte gelb und 
bräunlich gefärbt. Bei Schiffen der Bauch 
und die Maſten ebenfalls gelb oder braun, 
die Segel weiß, das Waſſer des Nil— 
ſtromes, der Kanäle und Teiche ſtets 
blau, doch das Meerwaſſer zuweilen 


grünlich gemalt. Weidende Rinder wur— 
den roth, braun, weiß und gefleckt abge— 
bildet, ungemein natürlich in der Farbe, 
ebenſo Antilopen und Gazellen, die Geweihe 
ſchwarz und das Gras, an dem ſie freſſen, 
ſtets grün. Die Panther und Geparden 
erſcheinen gelb mit rothbraunen oder ſchwar— 
zen Flecken, der untere Theil des Bauches 
meiſt heller gefärbt als der Rücken, der 
Löwe gelb, ſeine Mähne etwas dunkler. 
Affen zumeiſt grünlich“). Bei Tribut— 
Darbringungen ſind die Elephantenzähne 
ſtets weiß, Ebenholz ſchwarz, Straußfe— 
dern und Straußeneier weiß, Goldringe 
gelb oder röthlichgelb, Silberringe weiß, 
Kupfer roth gemalt. Die Schneiden der 
Meſſer, die Klingen der Schwerter, die 
Lanzen und Pfeilſpitzen ſind, je nachdem 
Stahl, Eiſen oder Kupfer bezeichnet werden 
ſoll, bald blau, bald roth gefärbt, ebenſo 
Helm und Harniſch.“ 

Hinſichtlich der feineren Farbenabſtu— 
fungen bemerkt Herr Profeſſor Dümichen: 
„Neger, Nubier, Aegypter, aſiatiſche Se— 
miten, Libyer und Nordvölker werden ſtets 
ſorgfältig in der Hautfarbe vom dunkelſten 
Schwarz bis zu unſerer ſogenannten Fleiſch— 
farbe unterſchieden. Ganz beſonders lehr— 
reich in dieſer Hinſicht ſind einige Dar— 
ſtellungen des Ziegelſtreichens, wo man der 
Maſſe, welche in die Form gethan wird, 
ſehr treu die graublaue Farbe des Nil— 
ſchlammes gegeben hat, während die höl— 


zernen Ziegelformen wohl unterſchieden die 


Farbe des Holzes zeigen.“ 
Während ſo bei hiſtoriſchen Gemälden 


und Naturdarſtellungen faſt immer der 


richtige Farbenton getroffen erſcheint, ver— 
fuhr man bei der Hieroglyphen-Malerei 


50 Es diente alſo wohl der Grünaffe | 


(Cercopithecus griseo-viridis) als typiſches 
Vorbild. 


ganz willkürlich, hier malte man die ver- 
ſchiedenen Zeichen im bunteſten Durchein— 
ander der Farben, wie eben ihre Zuſam— 
menſtellung dem Künſtler geſchmackvoll er— 
ſchien. Nach dieſen, wie mir ſcheint, für 
unſere Frage höchſt wichtigen Auseinander— 
ſetzungen über die Naturtreue polychromer 
Gemälde, welche zum Theil Jahrtauſende 
vor Entſtehung der homeriſchen Gedichte 
gemalt wurden, und ſich im Dunkeln als 
unverwerfliche Zeugen bis auf unſere Zeit 
erhielten, wird die von Herrn Dr. Mag— 
nus noch in einer zweiten Abhandlung *) 
vertheidigte Geiger'ſche Theorie wohl auf— 
gegeben werden müſſen. 

Uebrigens waren die alten Aſſyrer und 
Aegypter auch ſchon zur Erzeugung unver— 
änderlicher blauer und grüner Schmelz— 
und Glaſurfarben vorgeſchritten, was eine 
bereits ſehr ausgebildete Farbentechnik vor— 


wundern dürfen, auch in ihrer Sprache 


die Farbenſkala vollſtändiger anzutreffen, 
als in derjenigen Homer's. Es könnte 
hiernach vielleicht ſcheinen, als ob die 


Geiger'ſche Theorie in einem ſo grellen 
Gegenſatze zu den Ergebniſſen der Archäo— 
logie ſtehe, daß eine ſo ausführliche Wider— 
legung, wie ich ſie im Vorſtehenden und 
früher verſucht habe, eigentlich überflüſſig 
ſei. Allein ſo berufenen Forſchern gegen— 
über, wie Gladſtone, Geiger und 
Magnus, erſchien mir eine ſorgfältig ein— 
gehende Kritik Pflicht und Alles in Allem 
genommen haben wir dabei nichts verloren, 
ſondern ſind vielmehr zu einer ſehr anzie— 
henden Seite der Sprachentwickelung ge— 
führt worden, die wohl einer genaueren 


) Sammlung phyſiologiſcher Abhand- 
lungen, herausgegeben von W. Preyer. 
Erſte Reihe, Neuntes Heft. Jena, Dufft 
LOHN, 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 431 


ausſetzt, hinſichtlich deren wir uns nicht 


432 


Prüfung durch einen Fachmann würdig er— 
ſcheint. 


Es ſei erlaubt, an dieſe kritiſche Aus— 
einanderſetzung ein Referat über einige Un— 
terſuchungen, welche die Entſcheidung der 
Farbenfrage ein gut Stück näher gerückt 
haben, anzuknüpfen. Als ich S. 270 auf 
die Allgemeinheit des Vorkommens eines 
lichtempfindlichen Farbſtoffes in der Netz— 
haut von Thieren der verſchiedenſten Kreiſe 
hinwies und zugleich bemerkte, daß dasſelbe 
vielleicht mit der Farbenempfindung in einem 
beſtimmten Zuſammenhange ſtehen möchte, 
wußte ich nicht, daß Prof. Fr. Boll be— 
reits im Januar und Februar dieſes Jah— 
res der Berliner Akademie zwei hierauf 
bezügliche Mittheilungen vorgelegt hat, weil 
nämlich die betreffenden Berichte erſt Ende 
Mai im Drucke erſchienen ſind. Der ge— 
nannte Entdecker der Funktion des Seh— 
roths hat, um die Beziehung deſſelben zur 
Farbenempfindung aufzuklären, die Netzhaut 
von Fröſchen in einer größern Verſuchsreihe 
einem durch verſchiedenfarbige Gläſer ge— 
gangenem Tageslichte ausgeſetzt, und dabei, 
obwohl dieſe Quellen keine ganz reinen 
Strahlen lieferten, höchſt bedeutſame Un 
terſchiede in der Einwirkung nachweiſen 
können. Betrachtet man die in der Dun— 
kelheit präparirte Retina eines Froſches 
unter dem Mikroſkope, ſo zeigt die große 
Mehrzahl der Stäbchen die rein rothe 
(nicht purpurrothe) Farbe des Sehroths, 
und nur vereinzelte Stäbchen der Netzhaut— 
Moſaik erſcheinen in ganz blaßgrüner Farbe. 
Verfolgt man unter dem Mikroſkop das 
Abblaſſen der Retina durch das Licht, ſo 
ſieht man, wie die rothen Stäbchen erſt 
einen gelbrothen, dann faſt ganz gelben 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 


farblos werden. Die Netzhaut der unter 
rothen und gelben Gläſern dem Lichte aus— 
geſetzten Fröſche zeigte keine andere merk— 
liche Veränderung, als daß die grünen 
Stäbchen etwas lebhafter gefärbt erſchienen, 
doch färbte ſie ſich durch ſehr intenſives 
rothes Licht rothbraun, durch ſehr intenſiv 
gelbes roſa. Unter der Einwirkung eines 
mittleren oder intenſiven Lichtes, welches 
durch grüne Gläſer gegangen war, nahm 
die Netzhaut eine purpurrothe Farbe an, 
die bei längerer Einwirkung durch Erblaſ— 
ſen in roſa überging; die Zahl der grünen 
Elemente erſchien gleichzeitig nicht unerheb— 
lich vermehrt. Unter einem blauen Glaſe 
endlich erſchien die rothe Grundfarbe der 
Netzhaut in violett verändert, welches durch 
die darunter gemiſchten grünen Stäbchen 
für das bloße Auge einen ſchmutzigen Ton 
annimmt. Herr Prof. Boll zieht aus 
ſeinen Beobachtungen einige Schlüſſe, die 
nicht allein für die Farbentheorie, ſondern 
für die geſammte Philoſophie von großer 
Tragweite werden können. Da nach dieſen 
Verſuchen, nämlich durch die Einwirkung 
der verſchiedenen Farben innerhalb der 
Stäbchenſchicht der Netzhaut, alſo in einem 
inneren Gebiete des Nervenſyſtems, objek— 
tive Farbenwandlungen hervorgebracht 
werden, welche übereinſtimmen mit den 
durch ſie hervorgebrachten Vorſtellungen 
(ſofern nämlich die grünen und blauen 
Strahlen mehrere Theile der Netzhaut grün 
und bläulich färben), ſo erſcheint dadurch 
die uralte Frage nach der Realität des In— 
halts unſerer ſinnlichen Erkenntniß in eine 


neue Phaſe gedrängt, und das „Ding an 


ſich“ geräth ins Gedränge, wenn ſogar die 


| 


Farbenton annehmen, ehe fie vollkommen 


Farbe aus dem rein ſubjektiven Bereich der 
Sinnesempfindung in das objektive der 
Reproduktion im Auge ſelbſt hinüberſpielt. 

Im Allgemeinen erſcheinen dieſe Folge— 


nr 1 


Magnus, Zur Entwickelung des Farbenfinnes. 


rungen freilich noch ſehr gewagt. Die That— 
ſache aber, daß das Sehroth von den ver— 
ſchiedenen Strahlen des Spektrums in ſehr 
verſchiedenem Grade zerſetzt wird, iſt in— 
zwiſchen durch Prof. Kühne in Heidel— 
berg beſtätigt und weiter unterſucht wor 
den.) Derſelbe fand, daß die filtrirte klare 
Auflöſung des Sehroths in Cholat, welche 
eine prächtige, karminrothe Farbe beſitzt, 
im Lichte ſchnell chamois und zuletzt farb— 
los wird. So lange darin roth zu erken— 
nen iſt, abſorbirt ſie alles Licht des Spek— 
trums vom gelbgrün bis zum violett, 
während ſie anſcheinend noch ein wenig 
violett, ſicher alle gelben, orange und ro— 
then Strahlen durchläßt. Dementſprechend 
ſahen im objektiven Spektrum ausgebreitete 
blutfreie Netzhäute vom hellgrün bis zum 
violett, grau bis ſchwarz aus; ſie blichen 
vom Anfange des Gelbgrüns bis zum rei— 
nen Grün in Zeit von fünfzehn Minuten 
vollſtändig aus, viel ſchwächer in Blaugrün, 
Blau, Indigo und Violett; eben bemerklich in 
Gelb und Orange, gar nicht (d. h. in obiger 


) Centralblatt für die medieiniſchen Wiſ— 
ſenſchaften 1877 N. 11. 


433 


Expoſitionszeit) in roth und ultraviolett. Nach 
einer Stunde weiterer ungeſtörter Belichtung 
war die Entfärbung im Grün und Blau— 
grün völlig, im Blau faſt vollendet, im 
Indigo und Violett weit vorgeſchritten, im 
Ende des Violett und im Anfange des 
Ultraviolett deutlich, im Gelb und Orange 
kaum vermehrt, im Roth gar nicht zu be— 
merken. Nur bei ſehr lauger, oft wieder— 
holter Expoſition ſchienen auch die rothen 
Strahlen auf das Sehroth einzuwirken. 
Es erhellt aus dieſen Verſuchen, daß die 
rothen Strahlen das Sehroth, faſt ohne 
es zu verändern, durchdringen, weshalb ſie 
vielleicht auf die nervöſen Theile am ſtärk 
ſten reizend wirken; nächſtdem dringen 
Orange ſowie Gelb und Violett am beſten 
durch, während Grün und Blau, die man 
doch ſonſt als beruhigende, dem Auge wohl— 
thätige Farben auffaßt, das Sehroth 
ſchnell zerſetzen, ſo daß fortwährende Neu— 
bildung erforderlich wird. Am merkwür 
digſten iſt, daß die ſogenanuten „chemiſchen“ 
Strahlen des Ultraviolett die allergeringſte 
chemiſche Wirkung auf das Sehroth aus— 
übten. K. 


Kleinere Mittheilungen. 


Die Entwickelungszuſtände 
der großen Planeten. 


mus der geringeren Maſſedichtigkeit 
der großen Planeten unſeres Sy— 


ein Viertel, beim Saturn wenig 
über ein Achtel, beim Uranus ziemlich ge— 
nau ein Sechſtel der mittleren Erddichte 
beträgt, haben einzelne Naturforſcher ſchon 


längſt geſchloſſen, daß dieſe Planeten, ihrer 


ſtems, die beim Jupiter weniger als 


größeren Maſſe entſprechend, keinenfalls das 


Abkühlungsſtadium der Erde erreicht haben 
können, abgeſehen davon, daß ſie vielleicht 
auch an ſich, weil von der Oberfläche der 
Urſonne abgeſchleudert, zum Theil aus 
ſpecifiſch leichteren Dämpfen gebildet wor— 


den ſein mögen, als die ſpäter entſtandenen, 


kleineren Brüder. Für obige Auffaſſung 
hat jüngſt der engliſche Aſtronom A. Broc- 
tor eine Reihe von Beobachtungs-Thatſachen 
ins Feld geführt,) von denen wir die 
hauptſächlichſten wiederholen wollen. „Ge— 
waltige Wolkenmaſſen,“ ſagt er, „welche 
ausreichen würden, den ganzen Ball, auf 
welchem wir leben, einzuhüllen, bilden ſich 


über weiten Gebieten auf dem Jupiter und 


Saturn, wechſeln ſchnell ihre Geſtalt und 
verſchwinden im Verlaufe weniger Minu— 
ten; trotzdem geuügt es Manchen, anzu— 


nehmen, daß dasjenige, was dort ſtattfindet, 


der Entſtehung, Bewegung und Zerſtreu— 
ung unſerer kleinen Wolkenmaſſen ent— 


) Quarterly Journal of Science, April 


ſpreche, obwohl die Sonne nur etwa den 
ſiebenundzwanzigſten bez. hundertſten Theil 
der Wärme, welche ſie uns ſpendet, dem 
Jupiter und Saturn gewähren kann. Die 
Umriſſe des Jupiter, wie ſie durch die ſicht— 
baren Orte eines Mondes in der Nähe ſeiner 
Scheibe beſtimmt werden, erweitern und 
verengern ſich um Tauſende von Meilen.“ 


Ja Sir W. und J. Herſchel, 
G. Airy, Coolidge, Bond und 


andere Aſtronomen beobachteten Formver— 
änderungen am Saturn, durch welche er 
einen faſt viereckigen Umriß gewann, Aen— 
derungen, die auf Umrißſchwankungen von 
4— 5000 Meilen Höhe deuten, To daß 
die Annahme, dieſe Schwankungen-beträfen 
die Kruſte eines feſten Planeten, ad ab- 
surdum geführt wird. Es ſcheint als 
wahrſcheinlichſte Deutung ferner hervorzu⸗ 
gehen, daß die Umriſſe, die wir meſſen, 
da ſie einem feſten Weltkörper nicht ange— 
hören können, diejenigen einer Dampfſphäre 


ſind, die einen noch in ſeinem Urfeuer 


glühenden Planeten umgiebt, und deren 
Theile zuweilen ungeheuren Wallungen 
unterliegen. Eine Reihe von Special— 
beobachtungeu am Jupiter⸗ ergab für Herrn 
A. Proctor, daß die Annahme einer 
mehrere Tauſend Meilen tiefen Atmoſphäre, 
in welcher wolkengleich ungeheure Dampf— 
maſſen auffteigen und ſchwimmen, allein im 
Stande ſein würde, die merkwürdigen Ver⸗ 
änderungen zu erklären, die man auf der 
Oberfläche dieſes Planeten beobachtet. Man 
hatte die Streifen des Jupiter zwar längſt 
als Wolken, und zwar die helleren als 


H 


obere, die dunkleren als tiefere, im Schatten 


liegende Wolkenzüge gedeutet, und ebenſo 
hatte- man erkannt, daß ihre Bildung mit 
einer ſtarken Rotation der Jupiteratmo— 
ſphäre zuſammenhänge, denn man ſah 
kleinere Wolkenflecken ſich mit einer um ſo 
größeren Geſchwindigkeit in der Richtung 
der Planetenumdrehung bewegen, je mehr 
ſie der Aequatorlalgrenze nahe kamen, allein 
es war verkehrt, wenn man dabei an 
Wolken in unſerem Sinne gedacht hat. 
Denn da an eine fo „starke, Wind und 
Wolken erzeugende Wirkſamkeit der Sonnen— 
ſtrahlen, wie ſie auf der Erde ſtattfindet, 
auf dem Jupiter nicht gedacht werden kann, 
ſo muß man an eine andere Entſtehungs— 
weiſe denken. Es ſcheint dem genannten 
Naturforſcher nun, daß ſich die Entſtehung 
dieſer Streifen und der ſogleich zu erwäh— 


nenden ähnlichen Gebilde vollkommen er— 


klären läßt, bei Vorausſetzung einer ſehr 
tiefen Atmoſphäre, deren Rotationsgeſchwin— 


digkeit ſich nach außen ſtark erhöht. Unter 
dieſer Vorausſetzung könnten die Streifen 
einfach durch vertical aufſteigende Dampf— 


Kleinere Mittheilungen. 


ſtröme erklärt werden, welche aus mehr 


centralen Gegenden mit langſamerer Ro— 
tation in mehr peripheriſche mit ſchnellerer 


gelangen, reſp. umgekehrt. Dieſe Auffaſſung 
wird durch eine genauere Prüfung weſent⸗ 


lich beſtärkt. 


bilden, welche genau das Ausſehen von 


Dampfmaſſen darbieten, die von weit unten, 
unterhalb der ſichtbaren Wolkenoberfläche 


Man ſieht von Zeit zu Zeit 
auf den Hauptſtreifen weiße Flecken ſich 


des Jupiter hervorgeſtoßen werden, ſich 
ihren Weg durch die unteren Wolkenſchichten | 
brechen und in den oberen, kühleren Regionen | 
zu deutlichen Wolken ſich verdichten und, 
wie Brett 1874 beobachtete, zuweilen 


deutliche Schatten auf tiefer gelegene Dunft- 


ſchichten werfen. 


| 


435 


Die merkwürdigſten Anhaltspunkte lie 
fert aber eine Fleckeubildung, die zuerſt im 


Jahre 1851 von Dawes deutlich beob— 


achtet worden zu ſein ſcheint, und welche 
Webb in nachſtehender Weiſe beſchrieben 
hat: „Oefters gehen die Streifen in dämm— 
rige Gürtel oder Feſtons aus, deren ellip— 
tiſche Glieder zuweilen mit großer Regel— 
mäßigkeit hinter einander gereiht erſcheinen 
und den Anblick einer Kette leuchtender, 
eiförmiger Wolken darbieten, welche die 
Kugel umgürtet. Dieſe eiförmigen Gebilde, 
welche 1869 — 70 in der Aequatorialzone 
ſehr ſichtbar waren, wurden auch in an 
deren Regionen des Planeten wahrgenom— 
men und kommen anſcheinend häufiger vor.“ 
Dieſe einer Perlſchnur oder dem Eierſtabe 
der Architekten vergleichbaren Wolkenzüge, 
welche auch Brett wiederholentlich beob— 
achtete, erſcheinen offenbar am leichteſten 
verſtändlich, wenn man ihre Entſtehung 
zurückführt auf eine regelmäßige Folge von 
Dampfausbrüchen aus derſelben Gegend der 
Tiefe, deren Eruptionswolken in Folge der 
beſchleunigten Rotation in den oberen Theilen 
dort eine roſenkranzförmige Aneinander— | 
reihung erfahren. Viel gekünſtelter würde | 
die Annahme einer Bildung jo regelmäßiger 

Dampfſtröme von verſchiedenen Punkten der 
Jupiteroberfläche ſein. Dieſe Wolkenmaſſen 

erleiden mitunter in ſehr kurzer Zeit ſehr 


auffallende Veränderungen, die auf eine 
äußerſt lebhafte Thätigkeit im Bildungs⸗ 
herde ſchließen laſſen. Eine genaue Schätz— 
ung der halbdurchſichtigen Atmoſphäre, in 
welcher dieſe Maſſen aufſteigen, läßt ſich 
natürlich nicht ausführen, aber aus den 
nachfolgend wörtlich angeführten Betrachtun— 
gen leitet Proctor ein Minimum von 
6000 Meilen ab. „Ich kann nicht daran 
zweifeln,“ ſagt er, „daß Jupiter einen feſten 
oder flüſſigen Kern beſitzt, obwohl dieſer 


. 


436 


Kern noch immer ſtark ausgedehnt ſein 
mag; und möchte ich glauben, daß bei der 
großen Anziehungskraft, die in ihm ruht, 
da er nothwendig nahezu die geſammte 
Planetenmaſſe enthalten muß, ſeine mittlere 
Dichtigkeit nicht kleiner ſein könne als die 
der Erde. Die Jupitermaſſe, als eine 
Kugel von der mittleren Dichte der Erde 
gedacht, würde nur höchſtens ein Viertel 
von ſeinem ſcheinbaren Volumen wirklich 
beſitzen können.“ Da aber der Jupiter 
Atmoſphäre immerhin eine beträchtlicher 
Maſſe zugeſchrieben werden muß, ſo ſchätzt 
A. Proctor den Durchmeſſer des Kerns 
nur auf ¼8 des beobachtbaren Durchmeſſers, 
d. h. auf ca. 53000 Meilen. Dies iſt 
um 22000 Meilen weniger als der ſchein— 
bare Durchmeſſer, woraus eine Tiefe von 
ca. 11000 Meilen für die Atmoſphäre 
abzuleiten ſein würde, ſo daß jenes Mini— 
mum ſchwerlich zu hoch gegriffen erſcheinen 
kaun. An die Beobachtungen von Brett 
über die Geſchwindigkeit, mit welcher ſich 


Kleinere Mittheilungen. 


vermuthen läßt, als durch das, was ſie 
beweiſt. Wir können nicht zweifeln, 
daß tief unterhalb der ſichtbaren Oberfläche 
des Geſtirns die feurige Maſſe des wirk— 
lichen Planeten liegt. Ausbrüche, gegen 
welche die heftigſten vulkaniſchen Erſcheinun— 
gen unſerer Erde nur unbedeutend ſind, 
finden fortdauernd unter der ſcheinbar 
ruhigen Hülle des Rieſenplaneten ſtatt. 
Gewaltige Strömungen führen große Maſſen 
erhitzten Dampfes in die Höhe, wo ſie in 
ſichtbare Wolken verwandelt werden, nach 
dem ſie ihren Weg durch die oberen und 
kühleren Schichten der Atmoſphäre erzwungen 
haben. Umgekehrt ſinken Ströme abgekühlten 
Dampfes zur Oberfläche herab, nachdem ſie 
zweifellos Wirbelbewegung erlangt und über 
weite Gebiete die helleren Wolkenmaſſen fort— 
getrieben haben, ſo daß ſie als dunkle Flecke 
auf der Scheibe des Planeten erſcheinen. 


In Folge der ungleichen Tiefen, denen die 


verſchiedenen Wolkenmaſſen angehören und 


aus denen die aufſteigenden Ströme erhiß- 


die großen, runden Wolken über die Scheibe 


bewegen, und von denen ein im Juni 1876 
beobachteter Fleck in Bezug auf einen anderen 
eine Eigenbewegung von 180 Meilen in 


der Stunde zeigte, knüpft Proctor fol- 


gende Bemerkungen: „Dieſe Thatſache, daß 
die Flecken des Jupiter eine ſchnelle Eigen— 
bewegung beſitzen, iſt an ſich von beſon— 
derem Intereſſe, uamentlich wenn man er— 


wägt, daß die größeren weißen Flecke oft 


Wolkenmaſſen von 5— 6000 Meilen Durch— 
meſſer repräſentiren. Daß ſolche Maſſen 
mit ſo außerordentlicher Geſchwindigkeit 
fortgeführt werden, um ihre gegenſeitige 
Lage zu einander, zuweilen in einer Stunde 
um mehr als 150 Meilen, zu ändern, iſt 
eine überwältigende Thatſache. Aber es 
ſcheint mir, als ob dieſe Thatſache noch 
mehr Intereſſe erregt durch das, was ſie 


5 


ten Dampfes ſtammen, entſtehen horizontale 


Strömungen von ungeheurer Geſchwindig— 


keit, mit welcher die Wolkenmaſſen eines 


* 


Streifens ſchnell vorüber jagen bei den 
Wolkenmaſſen eines benachbarten Streifens 
oder höherer, reſp. tieferer Wolkenſchichten. 
Der Planet Jupiter muß demnach in Wirk— 
lichkeit dargeſtellt werden als eine kleine 
Sonne, bedeutend geringer an Größe als 
die eigentliche, in noch höherem Maße Hin- 
ſichtlch der Wärme und am meiſten hin— 
ſichtlich der Helligkeit ihr nachſtehend, aber 
dennoch mit der Sonne eher vergleichbar als 
mit der Erde, nach Größe, Wärme und 
Glanz, ſowie nach der gewaltigen Energie der 
Proceſſe, die in ſeiner wolkenbeladenen Hülle 
thätig ſind.“ Der Verfaſſer fügt ſeiner 


überzeugenden Darlegung die Mittheilung 
hinzu, daß der Aſtronom Told in Ade— 


1333333 


laide (Neu-Südwales) kürzlich den vor— 

ſtehend ausgeſprochenen Anſichten gemäß 
im Stande geweſen iſt, die Bewegungen 
der Satelliten hinter den Rand zu ver— 
folgen, d. h. durch die Theile der Planeten— 
Atmoſphäre hindurch, die man bisher dem 
Körper ſelbſt zugerechnet hatte. 


Die ſpiralige Anordnung 
der ſeitlichen Pflanzentheile um 
die Achſen 


hatte wegen der häufig hierbei hervortreten— 
den mathematiſchen Regelmäßigkeit, wie ſie 
namentlich an den Blättern, Nadeln und 
Schuppen der Lepidodendren, Sigillarien 
und Coniferen, an den Stacheln der Cy— 
linder- und Kugel-Cactus-Arten und an 
den Blüthengemeinſchaften der Compoſiten 
in die Augen fällt, ſeit ihrer Entdeckung 
durch Bonnet oftmals die Bewunderung 
der Teleologen erregt, weil in der dabei 
vorwiegenden Zahlenreihe des goldenen 
Schnittes: 
1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 
. 
die tiefe Berechnung des Schöpfungsplanes 
deutlicher ans Licht zu treten ſchien, als 
irgendwo ſonſt. Indeſſen war bereits 
Hofmeiſter zu der Ueberzeugung ge— 
kommen, daß eine einfache mechaniſche 
Urſache dieſe wunderbare Regelmäßigkeit be— 
dinge, und ſprach in ſeiner „Allgemeinen Mor— 
phologie“ die Grundregel aus, daß neue Blät— 
ter oder Seitenachſen an denjenigen Orten 
des Vegetationskegels hervorträten, welche am 
weiteſten von den Baſen der nächſtbenachbar— 
ten, bereits vorhandenen Blätter entfernt ſeien, 
weil an dieſen Stellen das Gewebe am 
dehnbarſten fer, um Neubildungen hervor— 
treten zu laſſen. J. Fankhauſer erkennt 


89, 


3 
7 


Kleinere Mittheilungen. 


Blätter entſtehen, von wenigen Ausnahmen 


437 


in einer neueren Arbeit?) die Richtigkeit 
obiger Regel im Allgemeinen an, giebt 
aber einen etwas verſchiedenen und wie es 
ſcheint, treffenderen Grund dafür an. Die 


abgeſehen, in acropetaler Folge, d. h. das 
oberſte Blatt iſt immer das jüngſte. Sie 
entſtehen ferner, wie Hof meiſter bemerkt, 
ſtets (in der Projection geſehen) über der 
weiteſten Lücke, welche die nächſt vorher— 
gehenden Blätter zwiſchen ſich laſſen, und 
dieſe Regel ſcheint bei continuirlich fort— 
wachſenden Pflanzenachſen ohne Ausnahme 
zu gelten. Ueber die wahrſcheinliche Ur— 
ſache dieſer Erſcheinung ſagt Fankhau— 
ſer: „Machen wir einen Schnitt durch 
einen Achſenſcheitel, ſo treffen wir bei den 
Phanerogamen auf mit Protoplasma gefüllte 
Initialen junger Blätter. Dieſes Proto- 
plasma iſt verhältnißmäßig waſſerarm, aber 
reich an Fett- und Eiweißſtoffen. Gehen 
wir nun von dem Scheitel rückwärts, ſo 
treffen wir Zellen, die mehr und mehr einen 
weniger lichtbrechenden, waſſerreicheren Inhalt 
zeigen, d. h. der Turgor dieſer Zellen hat 
durch Waſſeraufnahme zugenommen. Dieſe 
vom Scheitel rückwärts nachweisbare Zunahme 
erklärt denn auch, warum die Blätter nicht 
oben am Scheitel entſtehen, ſondern da, wo 
eben der Turgor groß genug geworden iſt, 
die gewölbte Oberfläche zu heben und auf 
dieſe Weiſe einen neuen Auswuchs zu er— 
zeugen. Dort iſt es, wo für den Moment 
die oberſte Grenze der Blattbildung gele 
gen iſt. Dieſe Zone rückt, wie der Schei— 
tel, allmälig vorwärts. Die Stelle der 
Bildungszone aber, an welcher die vegeta— 
tiven Kräfte bis zur Anlage eines neuen 
Blattes oder Seitentriebes ſich ſummiren, 


) Mittheilungen der naturforſchenden 
Geſellſchaft in Bern. Nr. 906 bis 922. 
Bern 1877. 


438 


wird durch den Ort jüngst vorhergegange— 
ner Blattbildungen beſtimmt. Stehen z. B. 
zwei Blätter am Stengel einander gegen— 
über, wie bei vielen Labiaten, Gentianen 
u. ſ. w., ſo werden die nächſten beiden 
dieſelben ſenkrecht kreuzen (decuſſirte Blatt— 
ſtellung). Bei mehrzähligen Quirlſtellun— 
gen begegnet man ähnlichen Decuſſirungen. 
Stehen die einwirkenden älteren Blätter 
nicht auf gleicher Höhe des Stengels und 
ſind ſie in Folge ungleichen Alters ungleich 
kräftig, iſt das jüngſte in raſcherer Ent⸗ 
wickelung begriffen, als das nächſtältere, 
ſo ſind die Bedingungen zu einer ſpiraligen 
Folge der Blätter gegeben. Iſt die Baſis 
des jüngſten Blattes bei der Entſtehung 
des nächſten ſehr verbreitert, ſogar ſtengel— 
umfaſſend, und ſind die Baſisränder gleich 
ſtark, ſo entſteht das nächſte Blatt weiter 
oben um 1809 von dem vorigen entfernt: 
die abwechſelnde Blattſtellung vieler Mono- 
cotylen, namentlich der Gräſer. 
nächſte Blatt einen kleineren Abſtand, fo 
entſteht eine weitere Lücke zwiſchen dieſen 
beiden Blättern nach der andern Seite und 
dieſe Bedingungen führen zu der eigentlichen 
Spiralſtellung. Das nächſte Blatt wird 
weiter oben möglichſt weit von dem jüng— 
ſten und zweitjüngſten entfernt entſtehen, 
weil dieſe den Turgor in ihrer Nähe be— 


ſchränken. Da aber das letztere tiefer ſteht, 
ſo wird ſein Einfluß nur ausnahmsweiſe dem 
des vorigen ſo nahe kommen, daß das 
neue Blatt genau zwiſchen beiden erſcheint, 
wie es indeſſen bei Monocotylen doch häu- 
figer vorkommt, worauf ſich alsdann drei | 


Blätter in den Umkreis theilen. In der 


Regel wird aber der Einfluß des vorletz— 
ten Blattes geringer ausfallen als der des 
letzten, und die Folge wird ſein, daß das 
neue Blatt, wenn man ſich alle drei auf 
eine Ebene projicirt denkt, dem vorletzten 


Hat das 


Kleinere Mittheilungen. 


näher als dem letzten zu ſtehen kommt. 
Dieſer Einfluß wird noch complicirter aus- 
fallen, wenn außer den beiden jüngſten noch 
weiter rückwärts ſtehende Blätter einen 
Einfluß äußern. Die hierdurch gegebenen 
Bedingungen können nur erfüllt werden 
durch Stellungsverhältniſſe, die der bekann— 
ten Reihe: 

ar I, 2, 8, 13, 9217 13934 255 . 
angehören, in welcher die Nenner die Blätter— 
zahl des Cyklus, die Zähler aber die Zahl 
der Umgänge angeben, auf welche dieſe 
Blätter vertheilt ſind, bis mit einem genau 
über einem älteren ſtehenden jüngeren Blatte 
ein neuer Cyklus einſetzt. Dazwiſchen liegende 
Verhältniſſe, wie z. B. 27, Ya, Cha 
u. ſ. w. würden dieſe Bedingungen nicht 
erfüllen und kommen daher ſehr ſelten und 
nur ganz ausnahmsweiſe vor. Die höheren 
Divergenzbrüche entſtehen in ſolchen Fällen, 
wenn außer dem letzten und vorletzten 
Blatte noch eine ganze Anzahl der ihnen 
voraufgegangenen mit einwirken kann, wie 
es der Fall iſt bei ſolchen Pflanzenachſen, 
an denen der verticale Abſtand der jungen 
Blätter ſehr klein it, z. B. bei Semper- 
vivum und ähnlichen Dickpflanzen, bei den 
in Stacheln umgewandelten Blättern vieler 
Cactusarten, bei den ſich dachziegelförmig 
deckenden Schuppen der Coniferen-Frucht⸗ 
ſtände u. ſ. w. Ja es können ſogar 
gegenüberſtehende Blätter in ſolchen Fällen 
ſich nach dieſen complicirten Regeln kreuzen, 
wie ich ſelbſt zuerſt bei der Kardendiſtel 


(Dipsacus) nachwies, deren Blüthenſtands⸗ 


wirtel gewöhnlich die 2, Anordnung 
zeigen, obwohl ich auch Ausnahmen antraf, 
in welchen an einem Blüthenkopfe acht ver- 
ſchiedene Wirtelſpiralen in >; Stellung 
ſich durch einander wanden. Auch dieſe 
ſelteneren Fälle, deren Mittheilung Prof. 
Alexander Braun ſeiner Zeit mit 


großem Erſtaunen aufnahm, aber völlig 
beſtätigt fand, ſcheinen mir nach dem Hof— 
meiſter-Fankhauſer'ſchen Geſetze völ— 
lig erklärbar. K. 


Die Abſtammung der Compoſiten. 

Am Schluſſe einer größern Arbeit über 
die Blüthe der Compoſiten *) kommt Herr 
Dr. Eugen Warming in Kopenhagen 
zu folgenden, für die Abſtammungslehre 
intereſſanten Schlüſſen über die Herkunft 
dieſer großen Pflanzenfamilie. „Die jüng— 
ſten Vorfahren der Compoſiten der Jetzt— 
zeit hatten Zwitterblüthen, einen verwach— 
ſenblättrigen fünftheiligen Kelch, eine gamo— 
petale, fünftheilige, mit dem Kelche alter— 
nirende Krone, fünf mit dieſer alternirende 
Staubblätter (wie bei den Gamopetalen 
im Allgemeinen mit der Krone verwachſen), 
und zwei in der Mediane liegende Frucht— 
blätter. Es iſt möglich, daß die Frucht— 
knotenhöhle zwei Räume und mehrere Eichen 
hatte, was aber während der Entwickelung 
wegen der Veränderung des Blüthenſtandes 
reducirt wurde. Wie der Blühenſtand war, 
läßt ſich wohl noch nicht ſagen, er iſt 
vielleicht eine Umbella geweſen, denn der 
Fall ſcheint weit häufiger zu ſein, daß das 
Köpfchen ſich abnorm zur Umbella aus⸗ 
bildet, als daß das Receptaculum ſtark 
verlängert wird, und ſomit eine Aehre ent— 
ſteht, was ſogar, wie es ſcheint, noch nie— 
mals beobachtet worden iſt. Zwei Vor— 
blätter waren wahrſcheinlich entwickelt. Un- 
ter der (auf morphologiſchen Geſe— 
tzen beruhenden) Weiterentwickelung der 


) Botaniſche Abhandlungen aus dem 
Gebiete der Morphologie und Phyſiologie, 
herausgegeben von Prof. Dr. Joh. Hanſtein, 
Band III., Heft II. Bonn 1876. Mit 9 Tafeln 
Abbildungen. 


Kleinere Mittheilungen. 


439 


Compoſiten-Vorfahren wurde der Blüthen— 
ſtand in ein Köpfchen verändert; die ſteri— 
len Hochblätter erhielten dann die ſchützende 
Rolle eines Involucrums, indem ſie zu— 
ſammengedrängt wurden; die fertilen Bra⸗ 
cteen wurden entweder beibehalten, oder ent- 
wickelten ſich in zwei Richtungen: bei eini⸗ 
gen verſchwanden ſie (ſpurlos), bei anderen 
(den Cynareen) wurden ſie durch ſtarke 
Zertheilung in die Spreuborſten umgewan— 
delt; die Vorblätter verſchwanden ſpurlos. 
Die hermaphroditen Blumen veränderten 
ſich theilweiſe geſchlechtlich und eine mit 
dieſen Umänderungen in Verbindung ſte— 
hende Vertheilung der Geſchlechter des 
Köpfchens, ſowie Umformung der Krone 
fand oft ſtatt; dieſe hat vielleicht einen 
biologiſchen Hintergrund (die Beſtäubung 
durch Inſekten)); am wenigſten verändert 
wurde die Krone bei den hermaphroditi— 
ſchen Tubifloren, am meiſten bei Labiati- 
floren, (wozu Radiaten zu rechnen) und 
Ligulifloren-Synandrie trat ein, und die 
Eichen wurden auf ein (wahrſcheinlich dem 
hintern Fruchtblatte gehörendes) beſchränkt, 
wozu wohl die gedrängte Stellung am 
meiſten Grund gab. 

Der Kelch wurde als ſchützendes Or— 
gan überflüſſig, indem theils die gedrängte 
Stellung der Blüthen, theils das Involu— 
crum und die Krone hinreichend Schutz 
herbeiführte, er wurde dann weniger ent— 
wickelt. Schon Rötker ſchrieb (Flora Meck— 
lenb. 2. III.): „Wo die Blumen im unent- 
wickelten oder Knospenzuſtande vollſtändig 
eingeſchloſſen werden, iſt es in der 
Regel der Kelch, alſo die äußerſte Blu— 
mendecke, der ſich weniger entwickelt, bis— 
weilen ſo wenig, daß er zu fehlen ſcheint.“ 


6 „ 


| Die nächſte Folge hiervon war wieder die, 


daß der Kelch in ſeiner Anlage verſpätet 
wurde, und daraus folgte ferner, daß 


58 


440 


die Kelchblätter nicht die urſprünglichen 
Stellungsverhältniſſe behaupten konnten, ſie 
fanden ſich bei ihrer Geburt von den Nach- 
barblüthen in ihrer freien Entwickelung 
gehindert, und mußten ſich nach den Stel— 
lungsverhältniſſen derſelben richten. Daher 
alſo die vielen Unregelmäßigkeiten in ihrer 
Stellung. Ich habe gezeigt, daß die fünf- 
eckige Wulſt, die bei allen unter der Krone 
entſteht, dem Kelche entſpricht, — gleich— 
giltig, ob die Ecken (Blattſpitzen) ſich frü- 
her entwickelten, als das verbindende Ge— 
webe, oder erſt auf der Ringwulſt ent- 
ſtanden. Bei vielen Gattungen iſt der Kelch 
auf einen ſolchen rudimentären Zuſtand re— 
duzirt (Lapsana, Bellis u. a.) und bei 
einigen, wie Ambrosia und Xanthium 
kommt er wahrſcheinlich gar nicht zur Ent⸗ 
wickelung. 

Bei anderen Gattungen fand zwar 
eine Reduktion ftatt, aber gleichzeitig ent- 
wickelten Haare ſich auf dem Kelche, die 
bei der Samenverbreitung als Flugappa⸗ 
rate eine Rolle zu ſpielen kamen (Senecio, 
Lactuca- Typus) Aus allen 
dieſen Verhältniſſen geht hervor: alle dieſe 
Pflanzen und die ſich ihnen anſchließenden 
haben normal einen rudimentären fünfblätt⸗ 
rigen oder gamophyllen Kelch, der abnorm 
zur Ausbildung kommen kann; die Pappus⸗ 
körper ſind dem Kelche aufgeſetzte Haare. 
Sollten fünf von dieſen genau die Spitzen 
der Kelchblätter einnehmen, ſo werden ſie 
als terminale Haare zu betrachten ſein. 

Auf eine etwas andere Weiſe ging die 
Kelchbildung vor ſich bei den Pflanzen des 
Cirsium-Tragopogon-Typus 
doch iſt der Unterſchied nicht groß; in dem 
einen Falle ſind es Haare der Kelchblätter, 
in dem anderen ſtärkere Lacinien und 
Entergenzen, die zur Ausbildung gekommen 
ſind, und wo iſt die Grenze zwiſchen allen 


„454 „„ „ 


Kleinere Mittheilungen. 


dieſen Bildungen zu ziehen? (Man erinnere 
ſich der getheilten kamm- oder fiederförmig 
zerſchlitzten Laub- und Involukralblätter 
vieler Cynareen). In allen Fällen wurde 
der gamophylle Theil des Kelches ſowohl, 
als die eigentlichen Blattſpreiten in ihrer 
Ausbildung ſehr ſtark reducirt. 
Es muß alſo in jedem gegebenen Fall 
entſchieden werden, wie der Compoſitenkelch 
aufzufaſſen iſt. Häufig findet 
ſich aber auch ein annähernd normaler 
Kelch mit fünf ausgebildeten Blattzipfeln, 
die in der Peripherie ſtark trichomatiſch 
ausgebildet ſein können, z. B. bei Cata- 
nanche, Gaillardia, Xeranthemum, Sphe- 
nogyne u. ſ. w., oder die Kelchblätter find 
in ihrer Zahl reducirt, reſp. nur einzeln 
deutlich entwickelt (Tagetes, Bidens, Co- 
reopsis, Zinnia u. ſ. w.). 


— —— 000°. 


Praktiſche Verſuche 
über das Variiren der Pflanzen 
ſind von Prof. Dr. H. Hoffmann in 
Gießen ſeit dem Jahre 1855 angeſtellt 
worden, und hat derſelbe kürzlich die Er— 
gebniſſe feiner bis 1876 erhaltenen Züch⸗ 
tungsverſuche nebſt den daraus zu ziehen⸗ 
den Schlüſſen im 16. Bande der „Berichte 
der Oberheſſiſchen Geſellſchaft für Natur- 
und Heilkunde veröffentlicht. „Man kann, 
ſagt der Verfaſſer in der Einleitung, auf 
Grund von Analogieſchlüſſen die Arten als 
dermalige Endglieder genetiſcher Reihen be— 
trachten, deren Verbindungsfäden abgeriſſen, 
deren Stammbaum unbekannt oder unter- 
brochen iſt, während der Begriff der Va— 
rietät darin beruht, daß ihr Urſprung 
durch Zwiſchenglieder nachgewieſen werden 
kann. Die beiden hauptſächlichſten Proben 
für den Varietätscharakter beruhen auf einer 
Züchtung der muthmaßlichen Varietät aus 


Kleinere Mittheilungen. 441 


der betreffenden Stammart (Eduction), 
oder ihre Zurückführung auf dieſelbe (Re— 
duction). Durch das hartnäckige Miß— 
lingen dieſer Verſuche wird der Artcharakter, 
d. i. die derzeitige Fixation einer Form für 
unſere Verhältniſſe bewieſen. Ueber- 
gänge, die ohne genetiſche Verknüpfung 
beobachtet werden, haben wenig Beweis 
kraft. Es laſſen ſich z. B. alle denkbaren 
Mittelſtufen zwiſchen Lactuea scariola und 
sativa auffinden, ſo daß man zu dem 
Glauben gedrängt wird, beide Formen 
müßten zu derſelben Species gehören, aber 
der Eductions- over Reductionsverſuch iſt 
bisher nicht gelungen. Noch weniger be— 
weiſt die Möglichkeit der Baſtardbil⸗ 
dung. Mimulus cardinalis und M. lu- 
teus lieferten durch eine ganze Reihe von 
Generationen unter ſich fruchtbare Baſtarde, 
und doch ſind dieſe Species ſo echt, wie 
nur irgend welche in der Welt. Von grö— 
ßerem Intereſſe für die Artfrage iſt die 
geographiſche Verbreitung, indem 
ſonſt nahe Verwandte und vermiſcht vor— 
kommende Arten ihre Nichtidentität dadurch 
andeuten, daß ſtellenweiſe die eine oder die 


andere aus dem gemeinſamen Gebiete iſolirt 


heraustritt und in anderes Gebiet über— 
greift, damit ein anderes Entſtehungs⸗ 
Centrum, oder andere klimatiſche Bedürf— 
niſſe, oder eine andere Anpaſſungs-⸗Fähigkeit 
andeutend. Lactuca scariola und virosa, 
Plantago alpina und maritima verrathen 
beiſpielsweiſe ihre nahe Beziehung (ſpeci⸗ 
ſiſche Identität) dadurch, daß ihre Gebiete 
fi) vollſtändig decken, das kleinere von dem 
größeren vollſtändig umfaßt wird. Aus 
ſeinen langjährigen Beobachtungen an 115 
verſchiedenen Pflanzenarten leitet Prof. 
Hoffmann folgende allgemeine Schlüſſe 
ab: Die Variation iſt quantitativ 
6. B. Zwerg- und Rieſenformen) oder 


partiell (Vergrößerung und Farben- 
veränderung der Blüthen und Blätter) oder 
qualitativ, morphologiſch (3. B. radiate 
oder diskoide Bidens, überhaupt Dimor⸗ 
phie, zu welcher die Eingeſchlechtigkeit ge— 
hört). Auf die quantitative Variation 
haben Klima und Pflege, wie die cultivir⸗ 
ten Pflanzen beweiſen, den entſchiedenſten 
Einfluß, auf die partielle nicht. Es 
gelingt z. B. nicht, die aus der Waſſer⸗ 
form (mit Schwimmblättern) entſtandene 
Luftblätterform von Polygonum amphi- 
bium nach Willkür wieder in die Waſſerform 
zurückzuführen. Noch mehr innerlich bedingt 
iſt die Variation in qualitativer Hin⸗ 
ſicht. Allgemein kräftige Beſchaffenheit eines 
Individuums, in der Regel von guter 
Ernährung abhängig, begünſtigt die Varia⸗ 
bilität, doch kömmt dieſelbe mitunter auch 
in gleicher Richtung bei Kümmerlingen vor 
und kann bei Rieſen fehlen. Die Richtung 
der Variation iſt nicht willkürlich oder all⸗ 
ſeitig, ſie findet nur in beſtimmten Linien 
ſtatt, die der Farben nur in einem beſtim⸗ 
ten Umfange. Der Schritt ift bald lang- 
ſam, bald ſchnell, mitunter ſogar plötzlich. 
Chemiſche Einflüſſe zeigten ſich meiſt völlig 
wirkungslos. Insbeſondere machte kochſalz— 
reicher Boden die Blätter nicht ſucculenter. 
Die vermuthete Farbenänderung einiger 
Blüthen durch mehr oder weniger Kalk 
mißlang. Zink blieb ohne Einfluß. Nur 
die künſtliche Blaufärbung der Hortenſie 
durch Anwendung gewiſſer (chemiſch unver⸗ 
ſtändlicher) Zuſätze zum Boden bildet bis 
zu einem gewiſſen Grade eine Ausnahme. 
Die Schwerkraft ſchien keine Formverände— 
rung zu verurſachen, es iſt z. B. die Pe- 
lorienbildung nicht von ihr abhängig. Da- 
gegen iſt die natürliche morphologiſche 
Stellung je nach der Achſenordnung von 
bedeutendem Einfluß in Bezug auf Form⸗ 


442 Kleinere Mittheilungen. 


und Farb-Umbildung, wie ſchon aus der 
abweichenden Form und Farbe der Central— 
blüthe mancher Pflanzen (wie Daueus) ge— 
ſchloſſen werden konnte. Enge Inzucht, 
reſp. Selbſtbefruchtung befördert nicht die 
Variabilität. Hinſichtlich der allgemeinen 
Schädlichkeit der Inzucht (mit Ausnahme 
beſtimmter Arten) erhielt Prof. Hoff— 
mann ganz ähnliche Reſultate wie Dar— 
win. 


Neue Beobachtungen über ſchützende 
Ausrüſtung bei Inſekten. 


In der Londoner entomologiſchen Ge— 
ſellſchaft (Sitzung vom 6. Juni c.) las 
Herr J. W. Slater eine Arbeit, in wel— 
cher er zu erweiſen ſucht, daß lebhaft ge— 
färbte Raupen in der Regel auf Giftpflan— 
zen leben, was, unter der unausweichlichen 
Annahme, daß deren Giftſtoffe in ihren Körper 
übergehen, dem Vergleiche Darwin's mit 
den bunten, warnenden Schildern der Gift— 
gefäße in den Apotheken einen faſt wört— 
lichen Sinn verleiht. Bekanntlich hat ſich 
Herr J. Jenner Meir durch zahlreiche 
Verſuche überzeugt, daß alle Raupen mit 
glatter Haut und einer den Blättern oder 
der Baumrinde, worauf ſie leben, ähnlichen 
Färbung, von gefangenen Vögeln, denen 
er ſie vorwarf, mit Gier gefreſſen wurden, 
während auffallend gefärbte, oder mit Haa- 
ren und Stacheln verſehene Raupen ver— 
ſchmäht wurden. Die Slater'ſche Arbeit 
vertieft dieſen Zuſammenhang, indem ſie 
zeigt, daß es ſich hierbei nicht etwa um 
Idioſynkraſien handelt, ſondern daß dieſe 
lebhaften Farben oft wirkliche Giftſignatu— 
ren darſtellen. Bei der an dieſelbe geknüpf— 
ten Diskuſſion zeigte Herr Meldola 
einige Schmetterlinge vor, welche die ein— 
zigen Ueberbleibſel einer größeren, durch 


Milben zerſtörten Sammlung indischer 
Schmetterlinge ausmachten. Dieſe baux 
restes gehörten durchweg Gattungen an, 
die auch im Leben gemieden und verſchont 
werden, ſodaß ſie ſelbſt ihre Nachahmer zu 
ſchützen vermögen, nämlich den Gattungen 
Euploea, Danais und Papilio. Die Ei- 
genſchaft, welche ſie im Leben vor Angriffen 
ſicherte, dauerte alſo nach dem Tode fort, 
wie man etwas ähnliches den giftfeſten Ar— 
ſenikeſſern der Alpen nachſagt. Die auf 
dieſe Verhältniſſe ſich gründende Mimicry 
hat eine entfernte Aehnlichkeit mit dem 
Feudalweſen, in welchem die Hörigen da— 
durch, daß ſie ſich in die Farbe ihres 
Lehnsherrn kleideten, Schutz fanden, wenn 
der Letztere nämlich durch „Giftigkeit“ ſich 
auszeichnete. Einen der merkwürdigſten 
Fälle verwandter Art, bei dem ſich wirk— 
lich ein Inſekt ſeiner Freiheit beraubt und 
direkt in den Schutz eines gepanzerten Feu— 
dalgrafen begibt, beobachtete Dr. Fritz 
Müller im vergangenen Herbſte in Bra— 
ſilien. „Ich bin kürzlich“, ſchrieb er am 
22. Oktober 1876 in einem Briefe an 
feinen Bruder Dr. Hermann Müller, 
„mit einem intereſſanten Fall von Geſell— 
ſchaftsleben zweier Raupen bekannt gewor— 
den, von denen ich Dir eine durch meinen 
Freund Scheidemantel aufgenommene Pho— 
tographie beifüge. Die größere rothköpfige 
Raupe iſt durch lange verzweigte Stachel— 
haare oder Dornen geſchützt und lebt auf 
Maulbeeren und anderen Bäumen. Gleich 
anderen durch Geruch, Stachelhaare oder 
andere Eigenſchaften geſchützten Raupen ſitzt 
ſie auf der oberen Seite der Blätter und 
iſt hell gefärbt, der Kopf roth, die Haare 
weiß. Quer über ihren Rücken, zwiſchen 
den Dornen, ſitzt eine kleine ſchwärzliche 
Raupe, die ſich durch die Dornen ihres 
großen Gefährten ſelbſt ſchützt. Ich nahm 


die kleine Raupe von der großen herunter, 
aber ſie, nahm bald wieder den nämlichen 
Platz ein. Um eine Photographie davon 
zu nehmen, wurde die größere Raupe mit 
Aether anäſtheſirt, erholte ſich nachher eini— 
germaßen, ſtarb aber zwei Tage ſpäter. 
Die kleinere Raupe verließ nunmehr ihren 
Platz und nahm ihre Zuflucht zu einer 
anderen Raupe in derſelben Büchſe, auf 
dieſer ſetzte ſie ſich etwas weiter gegen die 
Baſis des Abdomen. Bei dem früheren 
Gaſtgeber ſah die Stelle, wo die kleine 
Raupe geſeſſen hatte, blaß aus, als wenn 
dieſelbe dort abgeſcheuert wäre. Die kleine 
Raupe frißt von oben herab kleine Löcher 
in das Blatt, auf welchem die größere 
ruht. So viel ich weiß, iſt kein ähnlicher 
Fall bisher beobachtet worden.“ Einen 
Holzſchnitt nach der erwähnten Photogra— 
phie brachte die engliſche Zeitſchrift Nature. 
(Nr. 377. 1877.) 


Ein neuer luftathmender Fiſch. 

In den Berichten der Pariſer Akademie 
der Wiſſenſchaften (Bd. 84, S. 309) be— 
ſchreibt M. Jobert die von derjenigen 
der Labyrinthfiſche ſehrabweichende Athmungs— 
art eines kleinen Luftfiſches (Callichthys 
asper), welcher in Flüſſen und Süßwaſſer— 
lagunen bei Rio de Janeiro lebt und von 
welchem es bekannt war, daß er ſtunden— 
lang außerhalb des Waſſers leben kann. 
Im Aquarium ſah er dieſen Fiſch in regel— 
mäßigen Intervallen an die Oberfläche 
kommen, mit Geräuſch eine Menge Luft 
einathmen und gleichzeitig eine ziemlich ent— 
ſprechende Menge aus dem After entleeren. 
Es zeigte ſich bei weiterer Unterſuchung, 
daß bei dieſem Fiſche in ähnlicher Weiſe, 
wie bei unſerem bekannten Schlammpeitzger, 
ein Theil des Darmkanals zu einem 


Kleinere Mittheilungen. 


Athmungsorgane umgewandelt iſt, nur daß 
daſſelbe in viel ausgiebigerer Weiſe fungirt. 
Die in den Eingeweiden geſammelte Luft 
enthielt neben überwiegendem Stickſtoffgas 
1,5 — 3,8 % Kohlenſäure, ganz wie 
die Athemluft höherer Thiere. Der Fiſch 
bleibt in völlig ausgekochtem Waſſer, ſelbſt 
wenn daſſelbe mit Oel bedeckt wird, am 
Leben, da er regelmäßig an die Oberfläche 
kommt, um zu athmen. In angefeuchteten 


Gazen unter einer Glocke befand ſich der 


Fiſch noch nach 24 Stunden ganz wohl, 
auf trockenen Gazen und in trockener Luft 
verendete er nach kaum zwei Stunden. 
Dieſe Beobachtungen können um ſo weniger 
überraſchen, als ja auch die Lunge höherer 
Thiere aus einer Ausſtülpung des Nah— 
rungskanals hervorgegangen iſt. 


Die Trepanation 
in vorhiſtoriſchen Zeiten. 


Auf dem letzten internationalen Con— 
greſſe für vorhiſtoriſche Anthropologie, 
welcher im September 1876 in Peſt ab- 
gehalten wurde, machte Prof. Broca aus 
Paris iutereſſante Mittheilungen über die 
nicht ſeltene Vornahme von Schädeldurch— 
bohrungen in der Vorzeit. Schon im 
Jahre 1873 hatte Dr. Prunières auf 
dem Lyoner Congreſſe ein knöchernes Rund 
ſcheibchen vorgelegt, welches in einen menſch— 
lichen Schädel geſchnitten war und welches 
er für ein Amulet hielt, dem man geheime 
Kräfte zugetraut haben mochte. Broca 
entdeckte ſpäter in der Sammlung des 
Herrn von Baye ganz analoge Stücke, 
die außerdem mit einem Loche durchbohrt 
waren. Sie ſchienen am Halſe getragen 
worden zu fein, wie dies noch viele Jahr— 
hunderte ſpäter bei den alten Galliern 
üblich war. In Folge dieſer Entdeckung 


444 


Broca's machte Prunieres die Anthro- 
pologen auf durchlöcherte Schädel aufmerk— 
ſam, an denen man ſehr deutliche Spuren 
von Vernarbung wahrnimmt. Es war 
hiernach kein Zweifel möglich: Die vor— 
hiſtoriſchen Menſchen haben wirklich Tre— 
panationen ausgeführt, und zwar ſowohl 
bei lebenden Perſonen, wie bei Verſtorbenen. 
Was das Motiv dieſer chirurgiſchen Ope— 
ration betraf, jo meint Broca, daß es 
ſich vielleicht um Beſeſſene gehandelt 
haben möge, denen man ein Loch in den 
Schädel gebohrt habe, damit der Dämon, 
der ſie quälte, frei hinaus könne. Aber 
die Beſeſſenen galten auch für Heilige und 
deshalb ſammelte man vielleicht nach ihrem 
Tode gewiſſe Theile ihres Schädels, um 
Amulette daraus zu machen. In Bezug 
auf dieſen Umſtand erinnert Broca dar- 
an, daß man in drei verſchiedenen Fällen 
innerhalb trepanirter Menſchenſchädel Amu— 
lette angetroffen hat, was doch nicht einem 
Zufalle beigemeſſen werden kann. Es iſt 
eher wahrſcheinlich, daß dieſen der Trepa— 
nation unterworfenen Individuen nach ihrem 
Tode regelmäßig ein von einem andern 
Trepanirten herſtammendes Amulet als 
Beiſtand und heiliges Viaticum für ihre 
Reiſe in die andere Welt mitgegeben wurde. 
Wenn die Meinung Broca's gegründet 
iſt, würde der Glaube an ein zukünftiges 
Leben in dieſen Gegenſtänden ſeine älteſte, 
übrigens nicht über die neolithiſche Epoche 
zurückreichende Spur hinterlaſſen haben. 
Man hat in Wirklichkeit keine durchbohrten 
Schädel an den älteſten Fundſtätten ange 
troffen. Die bis jetzt bekannten Schädel 
dieſer Art beweiſen durch ihre Verbreitung, 
daß die Trepanation in dem ganzen, das 
heutige Frankreich bildenden Lande ge— 
übt worden iſt. Sie find geſammelt wor- 
den in den Departements Seine, Marne, 


Grabe gefunden worden. 


Kleinere Mittheilungen. 


Lozere durch Prunières, in der Cha- 
rente durch Gaſſins, in der Champagne 
von de Baye, in der Grotte von Sordes 
durch Lartet. Am Schluſſe dieſer wich⸗ 
tigen Mittheilung zur Urgeſchichte der Mte- 
dicin und Chirurgie wies Broca auf 
ähnliche, in Nordamerika gefundene, trepa- 
nirte Indianerſchädel hin, die aber einem 
andern Gebrauche ihren Urſprung verdan- 
ken dürften, da bei ihnen die Durchlöcher— 
ung ſtets auf dem Scheitel belegen iſt und 
niemals Spuren von Vernarbung zeigt. 
Es erhob ſich über dieſen Gegenſtand eine 
lebhafte Discuſſion, bei welcher unter an— 
deren Virchow erklärte, daß er bisher 
die vorhiſtoriſche Trepanation für ſehr 
zweifelhaft gehalten habe, durch Broc a's 
Mittheilungen aber völlig überzeugt worden 
ſei. Pigorini machte auf den Gebrauch 
ähnlicher Methoden bei den Andamanen 
aufmerkſam. Schaaff hauſen bemerkte, 
daß er auf der Verſammlung der deutſchen 
Anthropologen zu Jena ein von einem 
Kinderſchädel ſtammendes Knochenſcheibchen 
geſehen habe, welches durchlöchert war. Die 
Mutter mag es wie eine Reliquie bewahrt 
haben. Daſſelbe war inmitten verſchiedener 
Bronze-Gegenſtände in einem thüringiſchen 
Die Durchbohr⸗ 
ung des Scheitels an den Schädeln der 
alten Rothhäute kehrt auch an anderen 
Orten wieder, und das Muſeum der 
Kopenhagener Bibliothek bewahrt einen der— 
artig durchbohrten Schädel. Die Sitte der 
alten Belgier, deren Strabo gedenkt, die 
Köpfe der von ihnen erlegten Feinde am 
Gürtel als Trophäen aufgehängt zu tragen, 
mag weit verbreitet geweſen ſein. In der 
That konnte Montius einen ähnlichen 
Fund (Trepanirung nach dem Tode) aus 
Schweden nachweiſen. 

(Revue scientifique No. 40. Juin 1877.) 


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MERAN CL, 
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Literatur und Kritik, 


Ueber Liebmann's 
„Analyſis der Wirklichkeit.“ 


8 


s giebt einige wenige Werke, welche 
ebenſo wohl das Laboratorium des 
Naturforſchers, als das Bücherbret 
ö des Philoſophen zieren ſollten. Unter 
dieſen rechnen wir neben Kant's „Kritik der 
reinen Vernunft“ das hochbedeutſame und von 
großem Erfolg gekrönte Haupt- und Lebens⸗ 
werk von Friedrich Albert Lange, die 
„Geſchichte des Materialismus und die Kritik 
ſeiner Bedeutung in der Gegenwart“ (Iſer— 
lohn, Bädeker, 1876, 3. Aufl.), die un- 
gemein belehrſamen „Grundlagen der Phi— 
loſophie“ von Herbert Spencer (überjegt 
von Vetter, Stuttgart, Schweizerbart, 
1875) und von naturwiſſenſchaftlicher Seite 
die allgemeiner gehaltenen Schriften eines 
Darwin, Häckel, Helmholtz, Du— 
bois-Reymond, Huxley u. A. 
Dieſem kanoniſchen Kataloge möchten 
wir auch das Werk: Zur Analyſis 
der Wirklichkeit, philoſophiſche Unter— 
ſuchungen von Otto Liebmann, Straß— 
burg, Trübner, 1876 — als eine für 
Naturforſcher und Philoſophen gleichmäßig 
wichtige und intereſſante Schrift anreihen. 
Dieſes Werk giebt in ſyſtematiſch geord— 


| 


neten und zuſammenhängenden Special— 
unterſuchungen gewiſſermaßen daſſelbe, was 
die „Geſchichte des Materialismus“ von 
Lange in hiſtoriſcher, am Schluſſe ſich 
jedoch zum geordneten Syſtem zuſpitzen— 
der Darſtellung ausführt. Die Kant'ſche 
Philoſophie iſt der gemeinſchaftliche Boden, 
auf dem dieſe beiden Schriften erwachſen 
find, dieſelbe iſt auch der gemeinſame Bo— 
den der gehaltvolleren philoſophiſchen Be— 
ſtrebungen des In- und Auslandes, die— 
ſelbe iſt endlich auch der gemeinſchaftliche 
Boden der Naturforſchung und Philoſophie. 
Der einleitende Aufſatz von Caspari in 
dieſer Zeitſchrift hat daher mit Recht auf 
Lange's Geſchichte des Materialismus 
und Spencer's Werke als auf die ge— 
meinſchaftlichen Grundlagen hingewieſen, 
von denen aus der Bund zwiſchen Natur- 
forſchung und Philoſophie zu ſchließen iſt. 
Ich habe an anderer Stelle?) nachzuweiſen 
verſucht, daß die von Lange behauptete 
Poſition als der alleinige adäquate Aus- 
druck der modernen Weltanſchauung zu be— 
trachten ſei. Freilich war es dem leider 
viel zu früh für die Wiſſenſchaft geſtorbe— 
nen Manne nicht vergönnt, in ſyſtematiſcher 


) S. Hartmann, Dühring und 
Lange. Zur Geſchichte der deutſchen Philo- 
ſophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritiſcher 
Eſſay. Iſerlohn, Bädeker, 1877. 


446 


Literatur und Kritik. 


Abfolge ſeine Weltanſchauung niederzulegen; 
allein das erwähnte Werk giebt auf der 
Grundlage hiſtoriſcher Forſchung und natur— 
wiſſenſchaftlicher Analyſe in glänzender Form 
die wichtigſten Gedanken, welche die nächſte 
Zukunft ſicher beherrſchen werden. Dieſe 
neue Richtung, für welche wir den im 
erſten Aufſatz dieſer Zeitſchrift vorgeſchlage— 
nen Namen „kritiſcher Empirismus“ gerne 
adoptiren, hat in England in Spencer 
einen Vertreter gefunden, welcher an ori— 
gineller Begabung und univerſell-ſynthetiſcher 
Kraft keinen Rivalen in der Gegenwart 
findet. Bei ihm iſt daſſelbe charakteriſtiſche 
Merkmal in prägnanter Weiſe ausgeprägt, 
welches dem Lan ge'ſchen Werke einen jo 
hervorragenden Platz in der philoſophiſchen 
Literatur der Gegenwart anweiſt: Die Ver- 
bindung der Entwickelungslehre mit dem 
Kriticismus, alſo mit den beſten Tradi— 
tionen der engliſch-deutſchen Philoſophie. 
Die naheliegende Aufgabe, die reformato— 
riſchen Gedanken der Descendenztheorie in 
den Ideencomplex der Philoſophie einzu— 
führen und ſo dem allgemeinen Weltbewußt— 
ſein der gegenwärtigen Generation einen 
neuen und zeitgemäßen Ausdruck zu geben, 
iſt in Deutſchland von verſchiedenen Seiten 
verſucht worden: der Materialismus hat 
in Dühring, der Spiritualismus hat 
in Hartmann die Männer gefunden, 
welche dieſe Aufgabe zu erfüllen ſich be— 
ſtrebten; wir halten den Ideencomplex der 
Genannten im Ganzen und Großen, wie 
im Einzelnen für unhaltbar. Die kritiſche 
Richtung hat dieſen Verſuch in beſſerer 
Weiſe gelöſt, und Lange hat in ſeiner 
„Geſchichte des Materialismus“ im Ganzen 
und Großen die Meinung ſeiner Fach- und 
Zeitgenoſſen präcis formulirt. Nur iſt 
nunmehr der 
zwiſchen England und Deutſchland hervor— 


charakteriſtiſche Unterſchied f 
ſchriebener Monographien über die wichtig- 


ſtechend, daß jenes einen Philoſophen 
erſten Ranges, einen ſyſtematiſch univerſellen, 
das Ganze zuſammenfaſſenden Denker in 
Spencer beſitzt, während unſere deutſchen 
Philoſophen ſich in Specialunterſuchungen 
vertiefen. Dieſe Theilung der Arbeit iſt 
nicht nur ganz erklärlich, ſondern auch ſehr 
zweckmäßig. England, das ſeit mehr als 
hundert Jahren keinen Philoſophen erſten 
Ranges mehr geſehen hatte, dürſtet nach 
jener „allgemeinen Weltauſchauung“, welche 
uns Deutſchen ſeit nahezu hundert Jahren 
gäng und gäbe iſt. Ja wir haben ſie all— 
mälig ſogar ſatt bekommen, dieſe „allgemeine 
Weltanſchauung“, und die lange ausſchließ— 
liche Beſchäftigung mit den großen Welt- 
gedanken hat in der Gegenwart einen ſehr 
heilſamen Rückſchlag nach der Seite ſpecia— 
liſtiſcher Unterſuchungen hin hervorgerufen. 
Es beſteht eine vorſichtige Zurückhaltung 
über die allgemeinen und letzten Fragen, 
und mit richtigem Takte wird eine gute 
Specialunterſuchung bei uns höher geſchätzt, 
als Beſchäftigung mit allgemeinen und 
vagen Gedanken, die ja bei uns in Deutſch⸗ 
land ſeit einem Jahrhundert auf jeder neuen 
Buchhändlermeſſe dem Dutzend nach zu 
kaufen ſind. Kurz, es hat eine maßvolle 
und nüchterne Zurückhaltung Platz gegriffen, 
und man will erſt die hundert ſpeciellen 
Vorfragen löſen, ehe man die entſcheiden— 
den Hauptprobleme in die Hand nimmt. 
Wenn man oft von philoſophiſcher Er- 
mattung in Deutſchland ſpricht, ſo iſt dies 
ein unpaſſender Ausdruck für eine an ſich 
ſehr heilſame Thatſache. 

Dieſe kritiſche Zurückhaltung zeichnet 
auch das genannte Werk Liebmann's 
aus, welches eine Reihe mehr oder weniger 
eng verbundener Specialunterſuchungen ent- 
hält. Es giebt eine Reihe vortrefflich ge— 


8 
ah 


F 
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ſten Fragen der Gegenwart, aber immer 
von einem ſpeciellen Problem aus und nur 
vorſichtig ins Allgemeine übergehend. Es 
wird in denſelben auf die Conſtruktion 
eines Syſtems Verzicht geleiſtet, „obwohl 
ein leitender Grundgedanke nicht fehlt, auf 
welchen ſie, wie ſämmtliche Magnetnadeln 
auf den verborgenen Pol, hinweiſen“. Häufig 
ſtehen die Prämiſſen zu einem transcen— 
denten Schluſſe unmittelbar nebeneinander, 
ohne daß die Concluſion gezogen iſt, und 
anftatt voreiliger Löſungsverſuche giebt der 
Verfaſſer haarſcharf geſtellte Probleme. Wir 
können dieſes Verfahren, wie ſchon bemerkt, 
nur billigen und betrachten das Werk da— 
rum und auch in anderer Beziehung als 
eine würdige Ergänzung der „Geſchichte 
des Materialismus“ von Lange. Das 
Werk zerfällt der alten Eintheilung der 
Philoſophie gemäß in drei Abſchnitte, in 
Erkenntnißtheorie, Naturphiloſophie und 
praktiſche Philoſophie. Von den ſeit Locke 
und noch vielmehr ſeit Kant eingebürger— 
ten Gedanken ausgehend, daß die Prüfung 
des Erkenntnißvermögens in erſter Stelle 
geboten ſei, ſucht Liebmann im erſten 
Abſchnitt die Frage nach den Schranken 
unſerer Intelligenz zu behandeln. In einer 
Reihe vortrefflicher Unterſuchungen, welche 
in Fachkreiſen längſt verdiente Anerkennung 
gefunden haben, weiſt Liebmann auf 
die Relativität unſeres Erkennens hin, dem 
ebenſowenig als irgend ſonſt einem Ding 
oder einer Funktion in dem Univerſum jene 
Abſolutheit zuzuerkennen iſt, welche der 
Tummelplatz der nachkantiſchen dogmatiſchen 
Philoſophie geweſen, iſt an Relationen, 
an Bedingungen und Beziehungen, welche 
ebenſoviele Schranken ſind, iſt unſer Erken— 
nen gebunden. Dem Grundſatz huldigend: 
„in certis fortiter, in dubiis prudenter,“ 


Literatur und Kritik. 


47 


ſuchung der Geſetze und Tragweite unferes 
Erkennens in ſieben Abſchnitten, welche von 
dem Gegenſatz des lerkenntnißtheoretiſchen) 
Idealismus und Realismus ausgehend, 
Raum, Zeit und Bewegung, das 
Problem des Sehens und das der Cau— 
ſalität ſpeciell unterſuchen und in einer 
hiſtoriſch gehaltenen Erörterung über die 
aprioriſchen Beſtandtheile unſerer Erkennt— 
niß gipfeln. Dieſer Theil der Liebmann'— 
ſchen Schrift iſt insbeſondere den Natur- 
forſchern zur Beherzigung zu empfehlen, 
indem er auf die Relativität der wichtigſten 
Naturbegriffe: Raum, Zeit und Bewegung 
hinweiſt. Der zweite Theil, Naturphilo— 
ſophie und Pſychologie enthaltend, iſt an— 
dererſeits den Philofophen warm zu em— 
pfehlen, weil er auf tüchtiger naturwiſſenſchaft— 
licher Grundlage eine kritiſche Beſprechung 
der bezüglichen Probleme enthält. Aber 
mit beſonderem Intereſſe wird der Natur- 
forſcher die Specialunterſuchungen leſen, 
welche ſeine Probleme, entblößt von Detail, 
in univerſeller Faſſung formulirt, die 
von weiteren Geſichtspunkten aus die wich— 
tigſten Fragen beleuchtet. Ganz vortreff— 
lich ſind die Vorbetrachtungen, welche janus— 
artig auf der einen Seite nach den Ergeb— 
niſſen der Erkenntnißtheorie zurückſchauen, 
um auf der anderen Seite die „Natura 
naturata“ als Gegenſtand der neuen Unter— 
ſuchungen charakteriſiren. Mit Geiſt iſt 
der Artikel: „Ueber den philoſophiſchen Werth 
der mathematiſchen Naturwiſſenſchaft“ ge— 
ſchrieben, welcher die quantitative Seite der 
Natur ſcharf charakteriſirt, gegenüber dem 
köſtlichen, ſpeculativen Unſinn Hegel's, 
dem, wie Göthe, die Mathematik ebenſo 
ſehr ein Greuel als — unbekannt war. Der 
Abſchnitt über „das Atom“ kommt ſachlich 
mit dem überein, was Caspari in dem 


einleitenden Aufſatz vertreten hat, und zeigt, 


— 


8 59 
* 


giebt der Verfaſſer eine vortreffliche Unter— 


448 


daß „Atom“ zunächſt nur „eine Rechen— 
marke der Theorie“ ſei (S. 296). Freilich 
möchten wir hier mit dem 57. Renion der 
Göthe-Schiller'ſchen Sammlung antworten: 
„Lange kann man mit Marken, mit Rechen— 
pfennigen zahlen, 
Endlich, es hilft nichts, ihr Herrn, muß man 
den Beutel doch ziehn.“ 

Von beſonderem Intereſſe für die Leſer 
dieſer Zeitſchrift wird der Artikel ſein: 
„Platonismus und Darwinismus“. Es 
iſt keine Frage mehr, wie ſich Kant zum 
Darwinismus geſtellt hätte — denn es 
hat ſich bekanntlich ergeben, daß derſelbe 
Kant, welcher die Lap la ce'ſche Theorie 
anticipirte, auch den Darwinismus ſchon 
mehr als hundert Jahre vor Darwin 
vertreten hat. Schon dieſe Thatſache ſollte 
diejenigen ſtutzen machen, welche Darwinis— 
mus mit Materialismus verwechſeln, nicht 
aus Engherzigkeit, ſondern — ich wage 
das Wort — aus Enggeiſtigkeit. Der 
beſchränkte Horizont der Menge verwechſelt 
beides: Wie mancher Anhänger der neuen 
Theorie iſt ganz unnöthiger Weiſe ins 
Lager des Materialismus übergegangen, 
und wie mancher Gegner iſt dies eben 
nur darum, weil er glaubt, zugleich auch 
Materialiſt werden zu müſſen. 

Vortrefflich iſt da das Wort unſeres 
Gewährsmannes: „Von dem transcenden— 
tal⸗philoſophiſchen Standpunkt aus erſcheint 
der erbitterte Kampf um den Darwinis— 
mus wie eine Art von Batrachomyomachie.“ 
Denſelben Eindruck macht dieſer Streit aber 
auch vom culturhiſtoriſchen Geſichtspunkte 


aus: Die heliocentriſche Theorie, Koper 


nikus und Newton, 
retiſchen und praktiſchen Idealismus nicht 
vernichtet. Die Erſchütterung des anthro= 
pocentriſchen Standpunktes ſchafft die Ideale 
nicht aus der Welt. Die Kurzſichtigkeit 


haben den theo- 


| 
| 
| 


| 


Literatur und Kritik. 


ängſtlicher Naturen iſt zwar erklärlich und, 
wenn aus ehrenhaften Motiven entſprungen, 
achtungswerth: aber ſie iſt doch eben Kurz— 
ſichtigkeit. Solchen möchten wir dieſen 
Artikel empfehlen, nicht minder aber auch 
jenen Stürmern, welche die alten Ideale 
vom Himmel reißen wollen. Wir würden 
allerdings indeſſen nicht alles unterſchreiben, 
was der Verfaſſer ſagt; z. B. iſt die 
Argumentation auf S. 311 nicht ſtichhal— 
tig: Der Verfaſſer ſagt, lebendige Natur- 
weſen ſind die, an denen der Stoff gleich— 
gültig, die Form weſentlich iſt; umgekehrt 
iſt es bei unorganiſchen; bei dieſen iſt die 
Form gleichgültig; z. B. die Geſtalt der 
Rauchwolke, des Springbrunnens, der 
Gebirge und Continente, des bemeißelten 
Marmorblocks allen dieſen iſt ihre 
Form gleichgültig; ſie könnten auch ohne 
ſie da ſein. „Dagegen nimm einer Pflanze, 

einem Thiere ſeine Geſtalt. e 
ſie mechaniſch, zerſetze ſie chemiſch; und ſie 
haben aufgehört zu ſein, was ſie waren, 
Pflanze und Thier.“ In dieſem Raiſon— 


nement iſt eine Zweideutigkeit im Ausdruck 


„Geſtalt“ oder „Form“: Die Geſtalt des 
Thieres iſt eine ſolche, wie ſie nach dem 
ewigen Spiel der Naturgeſetze, wie ſie 
nach gelegenheitlichen und weſentlichen Be— 
dingungen werden mußte, und ganz das— 
ſelbe gilt z. B. vom Berge. Allerdings 
iſt dieſem ſeine Geſtalt zufällig, d. h. ob 
er ſpitz oder breit geworden iſt, aber in 


demſelben Sinne iſt auch des Thieres Ge— 


ob der Hund ſchlank oder 
unterſetzt iſt, iſt die Folge der äußeren 
Verhältniſſe. Anders verhält es ſich da— 
mit, daß der Hund, das Thier über— 
haupt eine Geſtalt, eine ihm weſent— 
liche Form hat. Aber auch der Berg, 


ſtalt zufällig: 


z. B. der Baſaltberg oder der vulkaniſche 
Berg, muß überhaupt eine Geſtalt haben, 


Literatur und Kritik. 


eine nach dem mechaniſchen Geſetz auch ihm 
weſentliche. Ich kann ebenſo gut ſagen: 
Nimm den Chimboraſſo, nimm den Tene— 
riffa, zermalme ſie mechaniſch, zerſetze 
fie chemiſch. Wirf einen Berg in einen 
Krater hinein, und wenn er als Lavaſtrom 
wieder zum Vorſchein käme, kaun man mit 
demſelben Rechte ſagen: Sie haben aufge 
hört zu ſein, was ſie waren — Berge — 
denn geſetzt, es wäre möglich, in einer 
Rieſenretorte von ungeheurem Umfang einen 
aus Metall, Mineralien, vulkaniſchem Ge— 
ſtein u. ſ. w. beſtehenden Berg chemiſch 
zu zerſetzen, ſo bliebe eben auch nichts vom 
Berge übrig und die reinen Elemente 
würden für ſich abgeſondert. Das Argu— 


ment beweiſt alſo zu viel oder zu wenig, 
wie man will; und ſo lange man außer— 
dem über die Conſtitution der Moleküle 
noch nicht im Klaren iſt, kann man über 
die Nothwendigkeit oder Zufälligkeit der 


Geſtalt keine entſcheidende Anſicht aufſtellen. 

Ganz vortrefflich iſt wieder der Ab— 
ſchnitt über das Problem des Lebens, 
welcher mit kritiſcher Vorſicht die Schwie— 
rigkeiten hervorhebt, die der mechaniſchen 
Theorie entgegenſtehen; die „Aphorismen 
der Kosmogonie“ führen uns von der 
Erde zum Himmel, und die folgenden Ab— 
ſchnitte über den Inſtinkt, über Menſchen— 
und Thierverſtand, Gehirn und Geiſt be 
handeln mit großem Scharfſinn Probleme 
von großer Tragweite und brennendem 
Intereſſe. Einen Anhang bietet der dritte 
Abſchnitt, welcher ethiſche und äſthetiſche 
Probleme behandelt, und nach der theore— 
tiſchen Controverſe, nach dem hitzigen Streit 
über Anſchauungen uns auf das neutrale 
Gebiet weiſt, auf dem alle Edlen, mögen 
ſie ſonſt einer Weltanſchauung huldigen, 
wie ſie auch ſei, ſich begegnen: das Ge— 
biet des ethiſchen Handelns. Und dies iſt 


449 


im Streit der Tagesmeinungen der be— 
ruhigende Pol, dies das Wort, das wir 
auf allen Fahnen als ſittliches Gebot an— 
geheftet wiſſen wollen: 

Edel ſei der Menſch 

Hülfreich und gut. 

Jeder von uns iſt der Mittelpunkt 
einer unendlichen Zeitreihe nach vorn und 
rückwärts, eines unendlichen Weltraumes, 
vor deſſen grenzenloſer Schrankenloſigkeit 
uns Staunen und Grauen ergreift; aber 
ob wir nun uns für Götterſöhne oder für 
Gipfel der Thierreiche halten — der Edle, 
mitten hineingeſtellt in jene Unendlichkeit, 
findet in der Erfüllung dieſes Gebots Be— 
friedigung, und — Verſöhnung mit dem 
Gegner. — 

Wir können alſo das Werk Jedem 
empfehlen, umſomehr, als es anziehend und 
edel⸗populär geſchrieben iſt. Gegenüber 
den dogmatiſchen Stürmern, welche Alles 
ſo leicht und einfach, und den blaſirten 
Nationaliſten, welche alles jo „verteufelt 
klar“ und ſelbſtverſtändlich auf dieſer Welt 
finden, betont der Verfaſſer überall die 
problematiſche Natur der Welt, welche uns 
ſo viele tauſend Räthſel und Fragezeichen 
giebt. — Und ſo können wir denn das 
Schiller'ſche Wort keinesweges mehr zeit— 
gemäß finden: 

Feindſchaft ſei zwiſchen euch, noch kommt 

das Bündniß zu frühe, 
welches er den Naturforſchern und Traus— 
cendental-Philoſophen zuruft; dagegen 
behält der zweite Theil des Diſtichons 
ſeine Gültigkeit, denn er ſpricht die Noth 
wendigkeit der Arbeitstheilung aus: 

Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird 

erſt die Wahrheit erkannt. 

Die Einen ſuchen mit dem Scalpell und 
mit der Retorte nach den dauernden Natur— 


geſetzen; die anderen mit logiſcher Aualyſe 


a 


450 


nach den bleibenden Principien, beide 


ſtreben auf ihre Weiſe nach der einen und 


ewigen Wahrheit. 


Straßburg. H. Vaihinger. 


Friedrich von Hellwald, Cultur 


geſchichte in ihrer natürlichen Ent— 

wickelung bis zur Gegenwart. Augs— 

burg, Lampart u. Comp. 1877. 2. Aufl. 

Der Zweifel iſt der Vater der Philo— 
ſophie und der Skepticismus ein nothwen— 
diges Element der Wiſſenſchaft. Jeder 
Einzelne muß eine Periode des Skepticis— 
mus durchmachen, wenn er zu einer wahr— 
haft wiſſenſchaftlichen und ſelbſtſtändigen 
Weltanſchauung gelangen will. Allerdings 
muß er denſelben einmal überwinden und 
ſeine Anſichten poſitiv geſtalten, aber ſelbſt 
dann darf eine gewiſſe Doſis Skepticismus 
nie fehlen. In der Entwickelung der 
Wiſſenſchaft, insbeſondere der philoſophiſchen, 
war und iſt es ſtets nothwendig, daß ein— 


zelne Männer es ſich zur Aufgabe machen, 


den Skepticismus an und für ſich in der— 
ſelben zu vertreten. Jede Wiſſenſchaft hat 
ja die Neigung zum Dogmatismus, der 
durch ſtarres Feſthalten an einmal gefun— 
denen und dann feſt formulirten und ver— 
knöcherten Anſichten jede lebendige Ent— 
wickelung der Wiſſenſchaft unmöglich macht. 
Hiergegen iſt dann der antidogmatiſche 
Skeptieismus das nothwendige Gegen— 
gewicht. Er bekämpft jeden Dogmatismus, 
er bringt durch ſeinen Widerſpruch wieder 
eine friſche, lebendige Entwickelung. 

Wir können uns die Wiſſenſchaft als 
eine Stadt denken. Da wird gewiß fort— 
während da und dort ein Umbau oder Neu- 
bau nöthig, und ſchadhaft oder unbrauchbar 


Literatur und Kritik. 


mehr entſprechende Gebäude müſſen abge— 
riſſen und ſo ein neuer Baugrund geſchaf— 
fen werden. Erſt wenn dies geſchehen, 
können die Neubauten ausgeführt werden. 
Dieſe deſtructive Aufgabe fällt dem Ske— 
pticismus zu und den Männern, die ihn 
vertreten. Sie haben dafür zu ſorgen, 
daß die freie Entwickelung der Wiſſenſchaft 
nicht gehemmt wird; daß ſie einen freien 
Boden für ihre Neubauten findet. Der 
Aufbau ſelbſt fällt dann ganz außerhalb 
ihres Gebietes. 

Zu den hervorragendſten Männern, 
die ſich in der Gegenwart eine ſolche Auf— 
gabe geſtellt haben, gehört Friedrich 
von Hellwald. Es giebt nicht viele, 
die einen ſolchen Skepticismus vertreten 
können oder wollen. Soll der Skepticis— 
mus für die Wiſſenſchaft Werth haben, 
jo muß er von ernſtwiſſenſchaftlichem Stre— 
ben ausgehen. Der abſolute Skepticismus, 
der die Wiſſenſchaft überhaupt läugnet, 
übrigens bekanntlich durch ſeinen eigenen 
Grundſatz ſich ſelbſt aufhebt, iſt für die 
Wiſſenſchaft ebenſo werthlos, als jener bla— 


ſirte Skepticismus, der alles negirt, um 


eben überhaupt zu negiren. 

Die Aufgabe des Skeptikers erſcheint 
zunächſt auch als eine undankbare und un— 
ſympathiſche. Iſt auch dem Menſchen auf 
niederer Stufe der Zerſtörungstrieb eigen, 
ſo charakteriſirt ſich gerade der höherſtehende 
durch den Trieb zum Aufbauen, zur Syn- 
theſe. Erſt die nähere Würdigung des 


Skepticismus und ſeiner Aufgabe in der 
Wiſſenſchaft läßt ſeinen eigentlichen Werth 
erkennen. 

Zu der deſtructiven Arbeit gehören ſo— 
dann eine bedeutende Energie, Unerſchrocken— 
heit, Freimüthigkeit, vor Allem aber völlige 
Unabhängigkeit von allen Vorurtheilen, 


gewordene oder den Zeitverhältniſſen nicht Verpflichtungen und Rückſichten. Das ſind 


Literatur und Kritik. 


lauter Eigenſchaften, die nicht ſo oft ver— 
eint zu finden ſind. 

Wir wiſſen es daher wohl zu ſchätzen, 
wenn ſich in der Wiſſenſchaft ein Mann 
findet, der den Skepticismus in ſo treff— 
licher Weiſe zu vertreten vermag wie 
Friedrich von Hellwald. 

Nur wenn wir ihn aber aus dem eben 
dargelegten Geſichtspunkte betrachten, können 
wir ihm und ſeinem hier vorliegenden 
Werke gerecht werden und eine richtige 
Würdigung deſſelben geben. 


Gerade der Gegenſtand dieſes Werkes 
bot Hellwald Gelegenheit, an der Er— 
füllung ſeiner antidogmatiſchen und ſkepti— 
ſchen Aufgabe zu arbeiten, und das ener 
giſche, rückſichtsloſe Vorgehen läßt hier kaum 
zu wünſchen übrig. 

Natürlich iſt nicht die ganze Arbeit 
Hellwald's eine rein negative, ſondern 
poſitive Elemente ſind ja überall nöthig, 
wo überhaupt Wiſſenſchaft getrieben wird. 
Sehr häufig entſpringt das Poſitive nur 
wieder der ſkeptiſchen, negativen Tendenz. 
Um nämlich der Bekämpfung, der Nega— 
tion der dogmatiſchen oder überhaupt vor— 
herrſchenden Anſicht mehr Gewicht und 
Nachdruck zu verleihen, vertheidigt Hell- 
wald gerade immer die entgegengeſetzten 
oder unterdrückt erſcheinenden Anſichten. 
Hat irgendwo die idealiſtiſche Auffaſſung 
das Uebergewicht, dann tritt er auf die 
Seite des Materialismus, hat das demo— 
kratiſche oder republikaniſche Prinzip die 
Oberhand, dann vertheidigt er das ariſto 
kratiſche oder monarchiſche u. ſ. w. Es 
iſt klar, daß von einer einheitlichen Ten— 
denz hier nicht die Rede ſein kann, daß 
vielmehr daraus ein ſtetes Abſpringen von 
einer Anſicht zur anderen erfolgt. Das iſt 
aber von einem Vertreter des Skepticismus 


entgegengeſetzten 


451 


nicht anders zu verlangen. Uebrigens hat 
Jeder, auch der Skeptiker, ſeine poſitive 
Privatanſicht, eine Vorliebe für dieſe oder 
jene Richtung, und dieſe iſt bei Hellwald 
augenſcheinlich der Naturalismus. 

Der geſammte Standpunkt, auf wel— 
chen ſich Hellwald bei der Behandlung 
der Culturgeſchichte ſtellt, erklärt ſich aus 
dem eben Geſagten. Bisher war die Be— 
handlung der Culturgeſchichte vorwiegend 
eine idealiſtiſche, vom Geiſte ausgehende, 
eine hiſtoriſch-philologiſche und philoſophiſche; 
die naturaliſtiſche, d. h. von der Natur- 
wiſſenſchaft und der „natürlichen Entwicke— 
lung“ ausgehende Behandlungsweiſe war 
ziemlich ſelten; außer dem Werke von 
Kolb wüßten wir hier kaum eines hervor— 
zuheben. Dies war natürlich Grund ge— 
nug für Hellwald, ſich auf dieſen 
„unterdrückten“ Standpunkt zu ſtellen, für 
den er ja ohnedies ſchon eine Privatneigung 
beſitzt. Mit der ganzen Behandlungsweiſe 
hängt es auch zuſammen, daß gerade die 
Schattenſeiten der menſchlichen Culturent— 
wickelung grell hervortreten, während die 
ideale Seite der Menſchheit mehr zurück— 
tritt. Dadurch erhält das Werk einen 
unwillkürlichen peſſimiſtiſchen Charakter. 

Wenn nun auch den Meiſten ein Werk 
der idealiſtiſchen Richtung, wie M. Car— 
rière's prachtvolle Culturgeſchichte („Die 
Kunſt im Zuſammenhang mit der Cultur 
entwickelung“) einen viel ſympathiſcheren 


Eindruck machen wird, ſo kann doch auch 


Niemand nach dem von uns Dargelegten 
an dem Werthe und der Bedeutung dieſes 
Werkes von Hellwald zweifeln. Es iſt 
gerade ein Stolz für die ewig junge, 
deutſche Wiſſenſchaft, daß ſie zur ſelben 
Zeit zwei Werke hervorgebracht, welche, 
jedes in ſeiner Art vortrefflich, die zwei 
Standpunkte ver⸗ 


452 


treten und fo es verhüten, daß die Wiſſen— 
ſchaft jemals einſeitig wird. 

Auf Einzelheiten dieſes Werkes einzu— 
gehen, iſt hier nicht der Ort; nachdem wir 
den allgemeinen Charakter deſſelben feſt— 
geſtellt haben, können wir nur wenige 
Hauptpunkte noch hervorheben. 

Es laſſen ſich in den Anſichten und 
Theorien Hellwald's im Einzelnen 
manche Fehler und Irrthümer nachweiſen; 
aber bei einer ſolchen Fülle des Materials 
iſt dies wohl verzeihlich. Es iſt keine 
kleine Aufgabe, jo verſchiedene Gebiete, wie 
Naturwiſſenſchaft, Geographie, Geſchichte, 
Sprachwiſſenſchaft, Sociologie, Politik 
u. ſ. w., gleichmäßig und vollſtändig zu 
beherrſchen. Und was Hellwald in dieſer 
Hinſicht geleiftet, iſt aller Anerkennung werth. 
Zu dem bürgt ja gerade der Skepticismus 
des Verfaſſers dafür, daß er an irrigen 
Anſichten nicht feſthalten, ſondern ſie in 
künftigen Auflagen durch richtigere erſetzen 
wird. 

Vom Standpunkte philoſophiſcher Be 
trachtung aus iſt das zweite Kapitel des 
erſten Bandes: „Die ſocialen Geſetze“, das 
intereſſanteſte und hervorragendſte. Die 
materialiſtiſche Tendenz tritt hier allerdings 
oft ſehr ſtark hervor. Sätze wie dieſe: 
„Das Denken iſt eine verdichtete Beweg— 
ung,“ oder „überhaupt ein verdichtetes 
Wirken von Naturkräften,“ „der menſch— 
liche Geiſt iſt nur eine potenzirte Natur- 
kraft“, und viele ähnliche gehören zum 
Materialismus und verfallen deſſen Kritik. 

Ein ſehr intereſſanter Theil dieſes Ka— 
pitels iſt: „Religion und Ideal“. Wir ha— 
ben mit Vergnügen bemerkt, daß hier nicht 
mehr wie in der erſten Auflage Ideale, 
Recht, Tugend u. ſ. w. ſo grell verurtheilt 
werden, daß man glauben könnte, der Ver— 
faſſer halte den Kampf Aller gegen Alle 


Literatur und Kritik. 


auch im menſchlichen Daſein für das allein 
Richtige, alles andere aber für Unſinn. 
In dieſer Auflage iſt Alles das milder 
und gemäßigter; die grellſten Stellen ſind 
durch andere erſetzt. Immerhin glauben 
wir, daß hier der Skepticismus doch noch 
zu weit geht. Es ſei ihm jeder Dogma— 
tismus in Wiſſenſchaft, Religion und Leben 
verfallen; aber die Ideale des Guten und 
Schönen ſelber ſind eben kein Dogmatis— 
mus, ſondern fie find die unerſchütterlichen 
Grundſäulen alles wahren Menſchenthums. 
Wenn der extreme Skepticismus jo weit 
geht, uns dieſe zu zerſtören, dann iſt er 
überhaupt mit allem zu Ende. Nur ſoll 
man ſich dann nicht einbilden, daß die 
Wiſſenſchaft und gar erſt die materialiſtiſche, 
beſtehen bleibe; fie fällt ſchon vor den Idea— 
leu. Es iſt unbegreiflich, wie Hellwald 
fi jo feſt auf die Wiſſeuſchaft ſtützt, nach— 
dem er die Ideale für Irrthümer erklärt hat. 
Das Schöne und Gute iſt doch das un— 
mittelbar gewiſſeſte und ſicherſte für uns, 
während es mit der Wahrheit doch gerade 
nach ſkeptiſcher Anſicht oft ſehr zweifelhaft 
ausſieht. 

Wenn nun Hellwald gegen den Aus- 
ſpruch von Henne am Rhyn proteſtirt, 
„daß ihm jeder Idealismus ein Greuel 
ſei“, ſo ſind wir völlig überzeugt, daß er 
praktiſch ein großer Idealiſt iſt, nur daß 
eben ſein theoretiſcher Idealismus wiſſen— 
ſchaftlich ſich nicht begründen läßt. Denn 
wenn man einmal die Ideale als Irrthümer 


| erklärt hat, dann helfen alle Beſchönigun⸗ 


gen nichts mehr. Das iſt eben dann der 
Illuſions-Idealismus, der Standpunkt von 
A. Lange und E. Vaihinger, über 
den E. v. Hartmann kürzlich eine ſo 
gelungene Satire geſchrieben hat (i. ſ. 
Neukantinismus, Hegelianismus 2c.). 
Wenn wir damit zeigen wollten, wie 


Literatur 


der Skepticismus leicht zu extrem werden | | 
Beiträge zur Descendenz- Theorie 


kann, jo wird doch Niemand dem Verfaſſer 


einen zu ſchweren Vorwurf daraus machen. 
Jeder weiß ja, daß, wenn man einmal in 
einer Richtung ſo energiſch vorgeht, das 
ihres höchlichſt verſchiedenen Charakters 


Haltmachen und Einhalten nicht ganz 
leicht iſt. 
Sollen wir nun noch auf einzelne be— 


ſonders hervorragende und werthvolle Ab- 
ſchnitte hinweiſen, fo nennen wir dieſe: 
„Die Morgenröthe der Cultur“ und 
Thiere ſchnell die Schattirungen ihrer 


beſonders „Die Anfänge der Familie“; 


hier finden ſich eine Menge intereſſanter 
Stande ſind, um Verfolgern und Verfolg— 


Anſichten und Thatſachen, insbeſondere aus 
dem Gebiete der Urzeit der Culturent— 
wickelung. In dem Abſchnitte über die 
alten Hellenen iſt beſonders wichtig die kri— 


die der Verfaſſer als durchaus nicht fo 
leuchtend hinſtellt, wie dies gewöhnlich ge— 
ſchieht („Familienleben und Hetärismus“). 


Sodann bietet manches Intereſſante das 


Kapitel über das „Aufkommen des Chriſten— 
thums“, im zweiten Bande „Mönchsthum 
und Kloſterweſen“, dann „Aberglauben und 
Wunder“ mit intereſſanten Mittheilungen 
über alte Feſte und Gebräuche, und ſchließ— 
lich der Schlußabſchnitt über „Die Cultur 
der Gegenwart“. 

Wir müſſen es uns, wie ſchon bemerkt, 
verſagen, auf dies Alles im Einzelnen einzu— 
gehen und können zum Schluſſe nur noch 
den Wunſch und die Hoffnung ausſprechen, 
daß alle Leſer mit uns übereinſtimmen, 
wenn wir ſagen, daß dieſes Werk eine hoch— 
bedeutende, dankenswerthe Leiſtung eines 
energiſchen Geiſtes iſt. 

Friedr. v. Goeler-Ravensburg. 


und Kritik. a 453 


von Dr. Georg Seidlitz, Leipzig, 
Wilhelm Engelmann, 1877. 


Das vorliegende Werk bringt zwei trotz 


gleich willkommene und ſchätzenswerthe 


Arbeiten, nämlich erſtens eine hiſtoriſch— 


kritiſche Darſtellung der Entdeckungsgeſchichte 
und des Weſens jenes vollkommenſten aller 
Anpaſſungsvorgänge, durch welchen gewiſſe 


wechſelnden Umgebung anzunehmen im 


ten gleich ſchwer erkennbar zu werden, und 


zweitens die wohlgelungene Vertheidigung 
ae 


der Darwin'ſchen Theorie gegen einen 
tiſche Betrachtung der ſittlichen Zuſtände, 


der ſchmerzlichſten und beklagenswertheſten 
Angriffe, die fie bis jetzt erfahren hat, 


gegen die letzten Schriften Ernſt v. Baer's. 


Die chromatiſche Function, welche in 
der Regel durch Füllung und Leerung be— 
ſonderer ſternförmiger, unter der Oberhaut 
gelegener Farbſtoffzellen, deren Inhalt 
ſchwärzlich, bläulich, grünlich oder röthlich 
durch die Oberhaut hindurchſchimmert, her— 
vorgebracht wird, hat zuerſt beim Chamä— 
leon die Aufmerkſamkeit der Menſchen er— 
regt, und ihrer wiſſenſchaftlichen Erforſchung 
geht wie gewöhnlich eine abenteuerliche (von 
dem Verfaſſer kaum berührte) Vorgeſchichte 
voraus. Die wiſſenſchaftliche Erforſchung 


beginnt mit der Beobachtung Stark's, 


welcher 1830 wahrnahm, daß Ellritzen, 
Stichlinge, Schmerlinge und Barſche mehr 
oder weniger ſchnell die Schattirung der 
Gefäße annahmen, in denen ſie gehalten 
wurden, ſo daß ſie in offenen, weißen 
Porzellangefäßen hellſchimmernd, in bedeck— 
ten, dunklen Gefäßen bald ſchwärzlich wur— 
den. Die Weiterführung dieſer Beobacht— 
ungen, die Entdeckung und Nachweiſung 


454 


der Pigmentzellen bei verſchiedenen Thieren, 
die Unterſuchungen über den Mechanismus des 
geheimnißvollen Borg anges, werden uns bis 
zu der aufklärenden Entdeckung Pouchet's 
(1871), nach welcher die Auslöſung dieſer 
Function nur bei ſehenden Thieren, 
alſo vom Auge aus erfolgt, mit der aus— 
gezeichneten Literaturkenntniß, die wir bei 
dem Verfaſſer gewöhnt ſind, vorgeführt. 
Die „chromatiſche Function,“ ſagt er am 
Schluſſe dieſes Theiles ſeiner Beiträge, 
„iſt eine Reflex-Erſcheinung, die durch Ver— 
mittelung der Augen und des Nerven— 
ſyſtems (bei Fiſchen des Sympathicus) 
ſich als Contraction der Chromatophoren 
bei hellem Licht, und als Expanſion der— 
ſelben im Dunklen äußert. Sie iſt ſo— 
mit eine ſympathiſche Färbung, die aber 
nicht conſtant bleibt, ſondern analog dem 
halbjährlichen Haar- oder Federwechſel je 
nach dem Aufenthaltsort verſchiedene In— 
tenſität annimmt. Wir müſſen alſo den 
ſympathiſchen Farbenwechſel zu den ſchützen— 
den Eigenſchaften rechnen und können da— 
her annehmen, daß er als Ausrüſtung den 
Feinden gegenüber durch Naturzüchtung 
entſtanden iſt, indem dieſelben Ge— 
bilde in der Haut, die anderwärts viel— 
fach zu anderen Ausrüſtungen wurden 
(ſexueller Schmuck u. ſ. w.), auf Lichtreiz 
mit Formveränderung zu reagiren be— 
gannen.“ 

Es könnte ſcheinen, als ob dieſe Dar— 
ſtellung mit der nachfolgenden Vertheidig— 
ung der Darwin'ſchen Theorie gar keine 
Berührungspunkte habe, indeſſen möchte 
Ref. darauf aufmerkſam machen, daß dieſe 
farbeändernden Fiſche, Cephalopoden und 
Amphibien vielleicht die beſten „Vorleſ— 
ungs⸗Thiere“ ſind, um hartköpfigen Geg— 
nern die Fundamentalgeſetze der Dar— 
win'ſchen Theorie ad oenlos zu demon— 


Literatur und Kritik. 


ſtriren. Nicht allein der Vorgang der 
Anpaſſung verläuft hier vor dem Auge 
des Beobachters, ſondern man würde auch 
die Geſetze der natürlichen Ausleſe ſchnell— 
ſtens durch Fiſche demonſtriren können, die 
ihren Feinden zum Opfer fallen, wenn ſie 
nach Durchſchneidung des ſympathiſchen 
Nerven ihr Anpaſſungsvermögen, ſei es 
auch nur theilweiſe, eingebüßt haben. 
Was die ausführliche Vertheidigung 
der Darwin'ſchen Theorie gegen die An— 
griffe eines ihrer verehrungswürdigſten 
„Mitſchuldigen“ betrifft, ſo müſſen wir 
ſagen, daß der hingeworfene Fehdehand— 
ſchuh von keinen beſſeren Händen aufge— 
nommen werden konnte. Wie naheliegend 
und ſelbſt entſchuldbar wäre es geweſen, 
den berühmten Gegner, der allem Anſcheine 
nach die Darwin'ſche Theorie gar nicht 
aus den Originalquellen gekannt hat, ſie 
vielmehr beſtändig mit den Träumereien 
der Oken'ſchen Schule, mit Kaup'ſchem 
Blödſinn und den Mißverſtändniſſen un- 
wiſſender Gegner legirt und dann gegen 
dieſe eigenen Wahngebilde zu Felde zieht, 
mit Schmach und Hohn heimzuſchicken. 
Nichts von alledem iſt hier geſchehen. In 
durchaus würdiger, ſachgemäßer Weiſe weiſt 
der Verfaſſer Satz für Satz die Baer'- 
ſchen Einwände als ſolche zurück, welche die 
Darwin'ſche Theorie meiſt gar nicht an— 
gehen, und dies geſchieht in einer ſo ruhi— 
gen und überzeugenden Weiſe, daß das 
Schickſal doppelt zu beklagen iſt, welches 
den hochverdienten Forſcher verhinderte, dieſe 
gründliche Beſeitigung feiner Bedenken ken— 
nen zu lernen. Er würde ſich nämlich 


bald überzeugt haben, daß ſeine eigenen 
Anſichten nur durch eine unmerkliche Nü— 
ance von denen Darwin's, die er leider 
nicht gekannt hat, abweichen. 

Die Vorurtheile, welche von Baer 


53)ß—d : BRUT RN 


Literatur und Kritik. 


der Darwin'ſchen Theorie entgegen— 
brachte, ſind im Weſentlichen die Folgenden: 

Erſtes Mißverſtändniß. Die 
Darwin 'ſche Theorie verabſcheue den 
Zweckbegriff. Sie verabſcheut aber nur 
den teleologiſchen Begriff des bedachten 
Zweckes, der ſeinerſeits von Baer fo 
wenig anmuthete, daß er ihn durch den 
beſondern Begriff der Zielſtrebigkeit 
erſetzen wollte, welcher von dem natur— 
hiſtoriſchen Begriff des gewordenen 
Zweckes der Darwinianer kaum weſentlich 
verſchieden, zudem im Ausdrucke unglücklich 
und daher überflüſſig erſcheint. 

Zweites Mißverſtändniß. Die 
Dar win'ſche Theorie wolle die Anſichten 
der Naturphiloſop;hen aus dem Anfange 
des achtzehnten Jahrhunderts erneuern, nach 
denen unter anderm Thiere aller Klaſſen zu 
Vorläufern des Menſchen gemacht wurden. 
Es berührt ſonderbar, bei einem ſo gründ— 
lichen Gelehrten wie von Baer, den 
Aberglauben zu finden, die Darwinianer 
ſähen ſelbſt Inſekten und Vögel als Ahnen 
der Wirbelthiere und des Menſchen an. 

Drittes Mißverſtändniß. Die 
Descendenztheorie nähme (was ihr nur von 
unwiſſenden Gegnern untergeſchoben wor— 
den iſt) den Uebergang heutiger Typen in 
andere heutige Typen an. 

Viertes Mißverſtändniß. Die 
Selectionstheorie lehre die Umbildung eines 
hochſpecificirten Organs in ein anderes hoch— 
ſpecificirtes, ſtatt beide aus einer einfachen 
Grundlage herzuleiten. 

Fünftes und ſechſtes Mißver— 
ſtändniß. Die Darwin'ſche Theorie be— 
haupte die phyſiologiſche Gleichwerthigkeit 
des menſchlichen Fußes und der Hinterhand 
der Affen und wolle den Unterſchied zwi— 
ſchen Menſch und Affen verwiſchen, während 
ſie nur die anatomiſche Gleichwerthigkeit ge— 


daß er 


nannter hinterer Gliedmaßen nachweiſt. Hier— 
bei macht der Verfaſſer die ſehr treffende 
und unſeres Wiſſens noch nicht in dieſer 
ſchlagenden Form vorgebrachte Bemerkung, 
daß die große Zehe des Menſchen durch 
ihre die anderen Zehen ſo erheblich über— 
wiegende Ausbildung den Beweis liefere, 
daß der menſchliche Fuß aus einer ehema— 
ligen Hand hervorgegangen iſt, denn nur 
bei einem wirklichen Gebrauche der Extre— 
mität als Hand könne eine derartig über— 
wiegende Größe und Stärke des erſten 
Fingers erworben worden ſein. 

Es wäre natürlich ſehr zu wünſchen, 
daß auch die zahlreichen principiellen Geg— 
ner der Darwin'ſchen Weltanſchauung, 
welche durch Partei-Reklame verlockt, ſich 
ohne ſelbſtſtändiges Urtheil an die ſchwer— 
wiegende Baer'ſche Autorität klammern, 
wenigſtens gegen ſich ſelbſt ſo ehrlich wä— 
ren, daß ſie auch dieſen Commentar läſen, 
der durch eine beſondere Tabelle den fort— 
laufenden Vergleich ſehr leicht gemacht hat, 


ſo daß man wirklich die Ba er'ſchen Ab— 


handlungen mit den Seidlitz'ſchen An— 
merkungen zuſammen leſen kann. Der 
Verfaſſer war übrigens zu dieſer Arbeit 
noch ganz beſonders dadurch ausgerüſtet, 
einmal vermöge ſeiner genauen 
Kenntniß der einſchlägigen Literatur die 
trüben Quellen der Baer'ſchen Mißver— 
ſtändniſſe im Voraus kannte, dann aber 
auch, weil ſeit jeher ſein Beſtreben dahin 
gerichtet war, die Terminologie der dar— 
winiſtiſchen Theorie feſtzuſtellen, Vorgänge 
und Begriffe aus einander zu halten und 
mit feſtſtehenden techniſchen Namen zu be— 
zeichnen, die bisher nur zu oft mit einan— 
der verwechſelt worden ſind. Dieſes Ver— 
dienſt iſt um ſo anerkennenswerther, als 
ſich auf dem neutralen Boden der Dar— 
win 'ſchen Theorie jo viele Forſcher aus 


455 | 


456 


angrenzenden Gebieten begegnen, bei denen 
ein alle Einzelheiten umfaſſendes Studium 
kaum vorausgeſetzt werden kann. In die— 
ſer Richtung wird die Bekämpfung der 
Baer 'ſchen Mißverſtändniſſe auch denjeni— 
gen Anhängern der Theorie von Werth 


ſein, die durch eigene poſitive Kenntniſſe 
Polyhiſtor Geßner, der die Naturkörper 


hinlänglich gegen dieſelben gefeit ſind. 
Dringend wünſchen möchten wir, daß der 
Verfaſſer ſeinen Plan, ein „Wörterbuch 
der Descendenz-Theorie“ auszuarbeiten, 
in welchem neben jedem Worte alle die— 
jenigen Stellen aus den Werken Dar— 
win's und ſeiner Nachfolger angeführt 
werden, welche den richtigen Begriff feſt— 
ſtellen, nebſt den hervorragendſten Bei— 
ſpielen mißbräuchlicher Verwendung bald 
zur Ausführung brächte. K. 


Herder als Vorgänger Darwin's 
und der modernen Naturphi— 
loſophie. Beiträge zur Geſchichte der 
Entwickelungslehre im 18. Jahrhundert 
von Friedrich von Bärenbach. Ver— 
lin, Theobald Grieben, 1877. 


Der Verfaſſer zeigt in vorliegender 
Schrift, daß Herder in mehreren ſeiner 
Werke, namentlich in ſeinen „Ideen zu 
einer Philoſophie der Geſchichte der Menſch— 
heit“, in vagen Umriſſen einige Anſichten 
ausgeſprochen hat, welche der Darwin’- 
ſchen Weltanſchauung nicht gerade zumider- 
laufen. Es iſt aber ein entſchiedener Irr— 
thum, Herder für den Urheber dieſer 
Gedanken zu halten und ihn deshalb mit 
Ueberſchwenglichkeit als den Johannes der 
modernen Weltanſchauung zu preiſen. Her— 
der war eine weſentlich receptive und an— 
empfindende Natur; die von ihm in wohl— 
lautende Form gebrachten Ideen waren 


Literatur und Kritik. 


längſt im Umlauf, namentlich hatte ſie 


Kant in einer viel prägnanteren Faſſung 
ausgeſprochen, wie dies Profeſſor Fritz 


Schultze in ſeiner, dem Verfaſſer wie es 


ſcheint unbekannt gebliebenen, Arbeit „Kant 


und Darwin“ ſo überſichtlich dargethan 
hat. Aber ſelbſt bis auf den deutſchen 


anordnen wollte in eine einzige große 
Reihe, vom Mineral bis zum Menſchen, 
iſt dieſe Wiederanknüpfung an die bei den 
Arabern erhaltene Naturphiloſophie der 
Alten zurück zu verfolgen. Wenn unſerm 
Herder in dieſer Sache ein Verdienſt 
zuzuſprechen iſt, ſo lag es darin, die Idee 
einer Geſchichte vor der Geſchichte auf— 
genommen zu haben, aber auch hierin 
waren ihm ja Buffon, Maillet und 
die Verfaſſer der Sintfluth-Romane lange 
vorausgegangen. Mit einigem guten Wil- 
len freilich kann man in den unſchuldigſten 
Auseinanderſetzungen die tiefſte Propheten 
weisheit erkennen. Die bemerkenswertheſte 
Stelle, welche der Verfaſſer auffinden 
konnte, giebt eine lebhafte Illuſtration für 
die Bedenklichkeit ſolcher Hineindeutungen: 
„Alles iſt im Streit gegen einander“, 
ſchrieb Herder, „weil Alles ſelbſt be— 
drängt iſt; es muß ſich ſeiner Haut weh- 
ren und für ſein Leben ſorgen. Warum 
that die Natur dies? Warum drängte 
ſie ſo die Geſchöpfe auf einander? Weil 
ſie im kleinſten Raum die größte und 
vielfachſte Anzahl der Lebenden ſchaffen 
wollte, wo alſo auch Eins das Andere 
überwältigt und nur durch das Gleich— 
gewicht der Kräfte Friede wird in der 
Schöpfung. Jede Gattung ſorgt für ſich, 
als ob ſie die einzige wäre; ihr zur Seite 
ſteht aber eine andere da, die ſie ein— 
ſchränkt, und nur in dieſem Verhältniß 
entgegengeſetzter Arten fand die Schöpfer in 


Literatur und Kritik. 


das Mittel zur Erhaltung des Ganzen.“ 
„Wer hierin nicht die vollkommen 
entwickelte Lehre vom Kampfe ums Da— 
ſein erkennen kann,“ ruft der Verfaſſer 
mit Extaſe, „den verweiſe ich auf Dar— 
win 's „Natural selection“, um ſich das 
Weſentlichſte ins Gedächtniß zurück 
zurufen.“ Der Ref. iſt in der höchſt 


Stelle nichts finden zu können, als eine 
Paraphraſe des fünftauſendjährigen Gemein— 
platzes, daß das Leben ein Kampf iſt. 
Empedokles, als er philoſophirte, daß 
die Welt aus dem Widerſtreit der Dinge 
hervorgegangen ſei, daß einfachere und un— 
vollkommene Pflanzen und Thiere den 
vollkommeneren vorausgegangen ſeien, daß 
auch der Menſch von Thieren abſtamme, 
daß das Beſtreben aller Weſen, mit ihrer 
Umgebung in ein Gleichgewicht zu gelan— 
gen, die Urſache der Zweckmäßigkeit ſei, 
war offenbar der Dar win'ſchen Theorie 
viel näher, als Herder, der in dem 
Kampfe Aller gegen Alle nur ein Mittel 
zur Erhaltung des Ganzen ſah. Eben— 
ſo verhält es ſich mit allen übrigen an— 
geführten Stellen aus Herder's Werken; 
ſie beweiſen nichts weiter, als daß ſich 
der große Humaniſt die Wege Kant's 
und anderer Forſcher ſeiner Zeit über Welt 
und Natur angeeignet hatte, um ſie in 
anmuthender Form und guter Ordnung 
wieder zu geben; einen Originaldenker aus 
ihm machen zu wollen, müſſen wir für 
gänzlich verfehlt halten. K. 


Charles Darwin, Die Wirkungen 
der Kreuz- und Selbſtbefruch— 
tung im Pflanzenreich. Aus dem 


Engliſchen überſetzt von J. Victor Ca- 


nr W 
eee 


457 


rus. Stuttgart, E. Schweizerbarth'ſche 
Verlagsbuchhandlung (Ed. Koch), 1877. 


Da wir eine ausführliche Analyſe die— 
ſes grundlegenden Werkes aus der beru— 
fenſten Feder bereits im erſten Hefte dieſer 
Zeitſchrift gebracht haben, bleibt uns heute 
nur noch übrig, darauf hinzuweiſen, daß 


t N nunmehr die deutſche Ueberſetzung deſſelben, 
ſchmerzlichen Lage, trotz alledem in dieſer 


von der Hand des nämlichen Naturforſchers, 
der ſich durch eine muſtergültige Ueber— 
tragung der ſämmtlichen Werke Darwin's 
um die Ausbreitung ſeiner Lehre in Deutſch— 
land ſo hochverdient gemacht hat, vorliegt. 


Die Ausſtattung iſt eine würdige. 


Charles Darwin und ſeine deut— 
ſchen Anhänger im Jahre 1876. 
Eine Geſchichte der deutſchen Ehrengabe 
zu Darwin's 69. Geburtstage von 
E. Rade. Straßburg im Elſaß. 
J. Schneider'ſche Buchhandlung, 1877. 


Der Rendant des Weſtphäliſchen Pro- 
vinzialvereins für Wiſſenſchaft und Kunſt, 


Nechnungsrath Rade in Münſter, regte 


im vorigen Jahre den Gedanken an, dem 
großen Reformator der Naturwiſſenſchaften 
ſobald als möglich von ſeinen deutſchen 
Anhängern ein Zeichen ihrer Verehrung 
und Liebe in Geſtalt eines ſchmuckvoll 
ausgeſtatteten photographiſchen Albums dar 
zubringen. Dieſer Gedanke fand den größ— 
ten Beifall in — außerdeutſchen Ländern, 
in Oeſterreich und in den Niederlanden, 
welche ihrerſeits eine entſprechende Ovation 
veranſtalteten. Aus der deutſchen Gelehrten 
Republik blieben nicht wenige der nam— 
hafteſten Vertreter zurück, und nur der 
Opferwilligkeit einer kleineren Schaar, vor 
Allen des oben genannten Urhebers, des Ma— 
lers und Dichters Arthur Fitzer in Bre— 


458 Literatur und Kritik. 


men, einiger namhafter Verlagsfirmen u. A. 

iſt es zu danken, daß die 176 Gratulanten 

am 12. Februar c. in würdiger Ausſtat⸗ 
tung vor dem Gefeierten erſcheinen konnten. 

Der in vorliegender Schrift niedergelegte 

Rechenſchaftsbericht iſt durch die angedeute— 

ten Verhältniſſe zu einem Zeitbilde ge— 

worden, in welchem es neben dem erwär— 

menden Lichte auch an dem „Schatten der 
Wiſſenſchaft“ nicht mangelt. Für das 
Nähere verweiſen wir Wißbegierige auf 
das Schriftchen ſelbſt, aus welchem wir 
uns erlauben, das ſchöne Widmungsgedicht 
mitzutheilen, welches das Album, ebenſo 
wie das künſtleriſch ausgeführte Titelblatt. 
Herrn A. Fitzer verdankt. 


An Charles Darwin. 


Wie lag im kindlichen Entzücken 

Der Menſch im Arme der Natur! 

Sie liebend nah ans Herz zu drücken 
Füllt er mit Göttern Berg und Flur: 

Die Dryas in des Haines Sauſen, 
Die Nymphe grüßt aus Born und Bach, 
Und ernſtes Vaterwort im Brauſen | 
Des Donners der Kronide ſprach. 


Da ging in heilig großen Schlägen 

Ein ein'ger Puls durch alle Welt, 

Und Schmerz und Luſt, und Fluch und Segen 
Hielt alle Weſen eng geſellt. 

Wohl wob der Mythus ſeine Hülle 

Um des Geſetzes dunkle Norm, 

Doch des Lebend'gen reiche Fülle 

War eines Geiſtes klare Form. 


Wie längſt verſcherzt! Wie längſt verloren! 
Das brüderliche Band zerriß. — 


Zum Frevler ward der Menſch, zum Thoren, 
Verſtoßen aus dem Paradies. 

Er, den zu ſeinem Ebenbilde 

Ein Gott erſchuf in ew'ger Huld, 

Ein Sünder irrt er im Gefilde 

Des Jammers und der Todesſchuld. 


Und rings entgeiſtert ſtarrt nun blöde, 
Getroffen von des Dogmas Fluch 
Natur in ſchauervoller Oede, 

Ein Saitenſpiel, das man zerſchlug; 
Vom Meſſer der Syſteme grimmig 


Zerfleiſcht und mumienhaft verdorrt, 


Die lebenglühend, tauſendſtimmig 
Emporgejauchzt als Ein Akkord. 


Da kamſt Du — und im Getrennten 
Die Einheit fand Dein Forſcherblick; 
Den tief entzweiten Elementen 

Gabſt Du die Harmonie zurück. 

Du ſahſt im ewigen Verwandeln 
Der Dinge weitverknüpftes Netz, 

Und in dem räthſelvollen Handeln 
Des Weltalls ſahſt Du das Geſetz. 


Nicht mehr vom Paradies vertrieben 
Schweift nun des Menſchen banger Lauf; 
Er geht im Haſſen wie im Lieben 

In der Geſchwiſter Reigen auf. 

Und tobt mit ungeheurem Wüthen 
Endlos ums Daſein Krieg auf Krieg: 
Die Schmerzen wird ein Gott vergüten, 
Denn ſieh! — Die Beſten krönt der Sieg. 


Die Muſe ſcheut vor Weihrauchſpenden, 
Vor breiten Lobgeſanges Prunk; 

Doch zu den Bildern, die wir ſenden, 
Fügt ſie die ſchlichte Huldigung. 
Empfang' in ihnen wen'ge Zeugen — 
Der Tauſende ſo wen'ge nur — 

Die Deinem Genius ſich beugen 
Erkenner Du der All-Natur! 


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Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


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