Full text of "Kosmos"
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Kosmos,
Zeilſchriſſ
für
einheitliche Wleltanfehauung auf Grund der Entwicklungslehre
in Verbindung
— —
mit 85 3
Charles Darwin und Ernst Häckel
| | ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Dare
herausgegeben
| Dr. Olla Caspari prof.
(Heidelberg)
Dr. Eruſt Krauſe
(Carus Sterne)
(Berlin).
J. Hahrgang, 1877.
Leipzig,
* Ernſt Günther's Verlag
(Karl Alberts.)
u Be
Die „ im Bunde mit er Ratunforehing, von Otto N f
Darwins Werk: „Ueber die Wirkungen der Kreuzungen 0 Sept | im
i Pflanzenreich“ z. von Dr. Heri Mülll e
Kleinere Mittheilungen Ä - N 5 = 5
Zur kritieiſtiſchen a affaſſong S. 68 — Die Steppe 55 Uesergangegtien . in
der Erdgeſchichte (S. 74). — Größeſchwankungen nordamerikaniſcher Sänger, mit
den Breitegraden (S. 77). — Märtyrer der Darwin' ſchen ae (S. 780.
Schutzmittel der Blüthen gegen unberufene Gäſte (S. 80).
| Vrofpekt. 5
1 .
ür die Naturkunde, welche, gegenüber den ſogenannten humanitären
Wiſſenſchaften, noch bis vor Kurzem nur ein geduldetes Daſein, ein
Ne der großen Menge faſt verborgenes Leben geführt hat, brach mit dem
reformatoriſchen Auftreten der Schule, die ſich unter dem Banner
Darwin's ſchaart, ein neuer Tag an, ſofern erſt jetzt jene harmoniſche Gliederung
der Theile des Kosmos, welche Humboldt und ſo viele Denker vergangener
Zeiten geahnt und bewundert haben, ihrem urſächlichen Zuſammenhange nach
verſtändlich wurde. Unerſchütterlich hat ſich ſeitdem die Ueberzeugung befeſtigt, daß
man auch in der Natur das Seiende nur als ein Gewordenes auffaſſen dürfe, um
* zu einer einheitlichen, widerſpruchsloſen Weltanſchauung zu gelangen.
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. Theil des Ganzen, mitten in die Natur hineinverſetzt und feiner Aus-
7 f nahmeſtellung enthoben wurde. Damit zog die neue einheitliche Weltanſchauung ſogleich
2 auch alle jene humanitären Wiſſenſchaften in ihre Kreiſe, und es begann eine nie erhörte
85 IB Wechſelwirkung zwiſchen den ſubjectiven und objectiven Wiſſenſchaften; denn das
Vorrecht der ſubjectiven, willkürlichen Weltbetrachtung wird zwar nicht aufgehoben,
aber nothwendig eingeſchränkt, ſobald ſich der Menſch als Theil der Natur erkennt is
1 und fühlt. Die Wiſſenſchaften, welche ſich mit dem Menſchen beſchäftigen, von der "un
. Anthropologie, Ethnologie und Völker-Pſychologie an, bis zur Sprach—
Beil: forſchung, Cultur— und Staaten-Geſchichte, National-Oekonomie,
Rechts-, Geſchichts- und Religions-Philoſophie, Moral und Diätetik
eentpuppten ſich ſo gut als Naturwiſſenſchaften, wie die Disciplinen, die ſich mit 4
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:
2 Proſpekt.
der Erdgeſchichte, Mineralogie, Biologie und mit der praktiſchen Men—
ſchen-Erziehung, Pflanzen- und Thier-Züchtung befaſſen.
Das Ergebniß dieſer allſeitigen Begegnung iſt eine fortgeſetzte, ermuthigende
Feſtigung des in den Abſtammungs- und Entwicklungslehren gegebenen Einheits⸗
prinzips geweſen, aber die Literatur, welche dieſes Contakt-Verhältniß erzeugte, iſt
nicht nur in ihrem ſelbſtſtändigen Theile kaum mehr überſehbar, ſondern ſie
zerſplittert ſich auch in die zahlloſen Fachblätter aller in Mitgenuß gezogenen
Wiſſenſchaften, ja ſelbſt in die Tageszeitungen hinein. So erhebt ſich immer
mächtiger bei allen, welche dieſe Zielgemeinſamkeit für ein befruchtendes und weſent⸗
liches Moment der fortſchreitenden geiſtigen Entwicklung halten, das Bedürfniß
nach Sammlung und Concentration.
Dieſem offenbaren Bedürfniſſe kann nur eine Zeitſchrift dienen, welche in
einer allen Intereſſenten verſtändlichen Form das Zerſtreute ſammelt, und auf
demſelben Gebiete, auf welchem das Bündniß der Wiſſenſchaften zu Stande kam,
zugleich ein Forum für den Verkehr und Austauſch derſelben eröffnet, zum
Zwecke einer gegenſeitigen Unterſtützung und Förderung. Allen dieſen Bedürfniſſen
will unſere Zeitſchrift Rechnung tragen und zwar theils durch Original-Arbeiten,
theils durch Referate aus ſämmtlichen einſchlägigen Gebieten, und dabei die
Aufgabe im Auge behalten, bisher noch Unverbundenes mit einander in Berührung
zu bringen, die überall noch vorhandenen Lücken aufzudecken, nicht zu vertuſchen,
ſondern zu ihrer Ausfüllung anzuſpornen, Mittel und Wege dazu anzuzeigen,
Widerſprüche und Gegenſätze auf ihre wahre Natur zurückzuführen und dem hem—
menden, verwirrenden und entwicklungsſchädlichen Dogmatismus überall ſoweit
entgegenzutreten, als mit dem Recht des Einzelnen auf eine freie Ueberzeugung
vereinbar iſt.
Daß dieſe Aufgabe, welche nichts Anderes iſt, als die Ermittlung der
Wahrheit, ohne Reibung der Geiſter nicht zu erfüllen iſt, wird Niemandem
zweifelhaft erſcheinen. Schroffer als jemals ſtehen die beiden Lager ſich gegenüber,
von denen das eine ſtarr feſthält an den Ueberlieferungen der Vorzeit, wie ſie in
geheiligten Schriften der Völker, in uralten Sagen aus der Kindheitsperiode der
Menſchheit niedergelegt wurden. Mit den Anhängern dieſer in ſchriftloſen Zeiten
fußenden Weltanſchauungen werden wir nur ſoweit zu rechnen haben, als ſie der
Forſchung Schranken ziehen wollen, ihre Mythen ſelbſt können wir na-
türlich nur im Sinne der Entwicklungslehre würdigen. Weniger werden wir den
Kampf ſcheuen dürfen auf dem inneren Gebiete der Naturwiſſenſchaft, und in dieſer
Beziehung wird die Zeitſchrift einen kritiſchen und polemiſchen Charakter
nach innen wie nach außen entfalten, denn auch die geiſtigen Errungenſchaften
beſitzt nur, wer ſie vertheidigen kann, und auch die Wiſſenſchaft entwickelt ſich am
ſchnellſten im ſelbſtbewußten Kampfe ums Daſein. Aber ſo viel als es möglich
——
2
Proſpekt. 3
iſt, werden wir es vermeiden, den Boden des Sachlichen zu verlaſſen und überall
mehr aufbauend als niederreißend zu wirken ſuchen.
Mit dieſer Zeitſchrift wenden wir uns jedoch nicht blos an die gelehrte Welt.
Der Darwinismus hat nicht nur einen Bund aller Wiſſenſchaften, ſondern auch
einen in dieſer Ausdehnung vorher noch nie dageweſenen Verkehr zwiſchen den
ſchaffenden Fachgelehrten und dem Aufklärung erwartenden gebildeten Publikum zu
Wege gebracht. Die Aufgabe, dieſen Bund zu hegen und zu pflegen, wird die
Zeitſchrift dadurch zu erfüllen ſuchen, daß ſie alle Fragen in allgemein verſtänd—
licher Sprache behandelt, um zugleich durch faßliche Darſtellung das Intereſſe des
Laien zu feſſeln. Ihre Mitwirkung in den näher bezeichneten Richtungen haben
uns bisher zugeſagt:
Dr. F. Brüggemann (London), Dr. B. Carneri (Wildhaus), Prof. Dr. Th.
Eimer (Tübingen), Dr. W. O. Focke (Bremen), Prof. Dr. S. Günther (Ansbach),
Friedrich v. Hellwald (Cannſtatt), J. H. v. Kirchmann (Berlin), Dr. Arn. Lang
(Bern), Prof. Dr. Fr. Müller (Wien), Dr. Fritz Müller (Rio Janeiro), Dr. Herm.
Müller (Lippſtadt), Prof. Dr. Ludw. Noire (Mainz), Dr. Ludw. Overzier (Köln),
Prof. Dr. L. Pfaundler (Innsbruck), Dr. Carl du Prel (Straßburg), Prof. Dr.
W. Preyer (Jena), Prof. Dr. Osec. Schmidt (Straßburg), Prof. Dr. Fritz Schultze
(Dresden), Dr. Martin Schultze (Küſtrin), Prof. Dr. Franz Eilhard Schulze
(Graz), Dr. G. Seidlitz (Dorpat), Prof. Dr. Ed. Strasburger (Jena), Dr. H.
Vaihinger (Straßburg), Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. David Wein⸗
land, (Eßlingen), Prof. Dr. Paul v. Zech (Stuttgart), u. A.
Im Vertrauen auf die Unterſtützung ſo hervorragender Fachmänner haben
ſich die Vorgenannten zur Uebernahme der Redactionsgeſchäfte entſchloſſen. Die:
ſelben wenden ſich nun an Alle, die für den geiſtigen Fortſchritt der e
heit eintreten, mit der Aufforderung, ſich, ſei es als Leſer und Heede f
es als Mitarbeiter, unſeren Beſtrebungen anzuſchließen.
Die Philofophie im Bunde mit der Naturforschung.
Von
8 iſt wohl eines der erfreulichſten
= Erzeugniſſe der gegenwärtigen
Bewegungen der heutigen wiſſen—
ſchaftlichen Epoche, daß die Philo—
1 % von neuem ſich der Naturforſchung
nähern konnte, und die Forſcher, welche
ihre Blicke den Erſcheinungen des Ma⸗
krokosmus und Mikrokosmus zugewandt
haben, das dringende Bedürfniß fühlen,
ihre Studien nicht mehr zu unternehmen
ohne alle Rückſicht auf diejenige Wiſſenſchaft,
die ſich zum Ziele geſetzt hat, die Grund—
principien alles Wiſſens und die funda—
mentalen Hülfsmittel alles Denkens und
Forſchens überhaupt zu prüfen und zu
unterſuchen. Im Hinblick auf dieſe neue
Wiedervereinigung von Philoſophie und
Naturforſchung iſt es indeſſen von hoher
Wichtigkeit, genauer zuzuſehen: von welcher
Art das geſchloſſene Bündniß ſein muß und
vor welchen Fehlern gewarnt werden muß,
wenn nicht ein neuer Bruch ſtattfinden
ſoll, der alsdann beide zu einander gehörige
Wiſſenſchaften ohne allen Zweifel neuen
Abwegen entgegenführen würde. —
Es iſt leicht zu überſehen, daß jeder
Naturforſcher, der es verſucht, aus einem
größeren Umfange von mühſam conſtatirten
Otto Caspari.
Thatſachen ein erklärendes Facit zu ziehen,
ſich unwillkürlich genöthigt findet, Anlehne—
punkte zu ſuchen in irgend einer allgemei-
neren Weltanſchauung, die uns aufgenöthigt
wird durch unſere innere menſchliche Geiſtes—
organiſation. Die Philosophen find feit
Jahrtauſenden bemüht, auf Grund der—
ſelben, d. h. logiſch und erkenntnißtheoretiſch,
die Grundzüge zu entwickeln, die ſich dem
menſchlichen Denken aufdrängen, wenn es
bemüht iſt, das Gemälde des Kosmos
möglichſt klar und unbeeinträchtigt durch
Fehler in der richtigen Licht- und Schatten⸗
vertheilung, d. h. möglichſt rein von allen
Widerſprüchen vor ſich aufzurollen. In
dieſem Sinne gleichen die Philoſophen dem
Künſtler, der ſich getrieben fühlt, ſeine
inneren Anſchauungen ſo zu geſtalten, daß
ſie deutlich den Eindruck des Vollendeten
hervorrufen. Allein nicht allen Künſtlern
und nicht allen Zeiten war es gegeben,
hierin das Richtige zu treffen, und wie es
vielfach wechſelnde Kunſtſchulen gab, die ſich
in ihren Ausführungen in geſchmackloſer
Weiſe bald dieſem, bald jenem Style über-
ließen, ſo auch bei den Philoſophen; ſie
wurden oft genug völlig irre geleitet und
conſtruirten trotz aller vermeintlichen Kitd-
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Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit de
ſichtnahme auf Logik und Erkenntnißlehre
alsdann falſche Syſteme, und nicht ſelten
war es ſogar der Fall, daß gerade das
unrichtigſte dieſer Syſteme ſich eine
gewiſſe Herrſchaft unter den Zeitgenoſſen
eroberte.
entziehen, gelingt unter den Mitforſchern
oft nur den weit über die Zeit Hinaus—
blickenden.
Herrſchaft, eines beſtimmten philoſophiſchen
Syſtems mit ſeinen einſeitigen Dogmen hat
beinahe zu allen Zeiten die Specialforſchung
aller Zweige, ſomit auch die Naturforſchung
weſentlich gelitten. Es verhält ſich hiermit
im Kleinen kaum anders wie mit der Kirche
im Großen. Wie dieſe auf alle Wifjens-
zweige mit der Summe ihrer metaphyſiſchen
Dogmen eine oft ſchwer überwindliche Herr—
ſchaft ausübt, der ſich nur freimüthige und
unbefangene Geiſter zu entziehen willen,
jo auch mit der Philoſophie; herr—
ſchende Syſteme, die den Zeitgeiſt charak—
teriſiren, üben bewußt oder unbewußt ihre
Macht nach allen Seiten hin aus und die—
ſelbe äußert ſich jedesmal auch in der
allerprägnanteſten Weiſe im Gebiete der
Naturforſchung. — Will der Spezialforſcher
irgend eines Wiſſenszweiges, ſomit auch der
Naturforſcher, aus einem Umfange von ex—
perimentell gewonnenen Thatſachen ſichere
Schlüſſe ziehen, um ſich hiermit in das
Gebiet der Naturphiloſophie zu er—
heben, ſo iſt es vor allem daher wichtig,
daß er nicht einer durch den Zeitgeiſt
ſachen im Gebiete der Mechanik entwickelt
haben.
eingegebenen Sympathie nach irgend einer
Richtung hin, welche augenblicklich die herr—
ſchende iſt, Folge giebt, ſondern er iſt ver—
pflichtet, ſich möglichſt ſelbſtſtändig und durch
vorbereitende Studien geleitet, dem Kampf
der philoſophiſchen Partheien gegenüber zu
ſtellen.
Einer ſolchen Herrſchaft fih zu |
Unter dem Druck einer ſolchen
ſich hieran
Studium ſeiner Fachwiſſenſchaft dem Special—
forſcher, insbeſondere dem Naturforſcher, die
Hand bieten will, ſieht ſich hiermit der
Verpflichtung unterzogen, ihn über die gegen-
wärtige Situation feiner Wiſſenſchaft auf-
zuklären, um zugleich die Intereſſen zu be
rückſichtigen, an welche eben jener Forſcher
durch das Weſen ſeines Fachs gebunden iſt.
Sehen wir zunächſt zu, um dem Natur⸗
forſcher hinſichtlich einer ſolchen Aufklärung
entgegen zu kommen: an welche Intereſſen
ihn die Grundverhältniſſe feines Special⸗
ſtudiums zunächſt binden, und wovon
er nicht ablaſſen darf, will er
nicht in ſein eigenes Fleiſch ſchneiden.
Alle Naturforſchung richtet ſich bei dem
Sammeln einer Reihe von Thatſachen auf
die Erforſchung urſächlicher Kräfte, wie
ſie die unumſtößlichen empiriſchen Daten an
die Hand geben. So iſt es denn von vorn—
herein ein beſtimmter Kreis von That-
ſachen, die ihn nöthigen, eine logiſch—
empiriſche Auffaſſung über das Daſein
der Kräfte zu entwickeln, die er beim Weiter-
forſchen in Einklang mit einer philoſophiſchen
Geſammtanſchauung zu bringen hat. Die
Unterſuchung aller empiriſchen Forſcher iſt
gebunden und hingewieſen auf das Studium
des Spiels der Kräfte, d. h. auf die Ein-
ſicht in das Grundverhältuiß von
Kraft und Widerſtand, ſomit auf die
anſchließenden mathematiſchen
Grundprincipien, wie ſie ſich mit der Zeit
empiriſch an der Hand unumſtößlicher That— |
Es ift ein grobes Vorurtheil, das ſich |
bei Philoſophen aus der älteren Schule, |
namentlich auch bei Theologen, die in |
ſcholaſtiſchen Anſichten ſich philojophiih ger
bildet haben, ſehr häufig vorfindet, nämlich |
Der Philoſoph aber, der neben dem | die Anſicht: daß die empiriſchen Geſetze ö
r Naturforſchung. 5
6 Caspari, Die Philoſophie im
und Principien der Mechanik nothwendig
hinleiten müßten zu jener Weltanſchauung,
die man den Materialismus nennt. Nach
dieſer allerdings in ſich unklaren Anſchauung
wird das Weltall zu einer todten, völlig
geiftlofen Maſchine gemacht, ja mehr als
das, dieſe heute glücklicherweiſe überwundene
kindliche Betrachtung macht im Grunde
den Kosmos zu einem todten Klotz,
den die Kräfte, welche nicht das Weſen
der Materie, ſondern nur die Prädicate
derſelben ſind, vor ſich herwälzen, wie der
deus ex machina feine Welt. — Alle
Extreme berühren ſich, und in der That
iſt es dem geübten Denker unſchwierig den
Nachweis zu führen, daß der ſog. Materia-
lismus in den Myſticismus verfällt. Der
myſtiſche Spiritualismus kann, wie wir
im Folgenden noch ſehen werden, die natür—
liche Mechanik der Welt, d. h. die wechſel—
ſeitige und thatſächliche Reibung ihrer
Factoren und Kräfte und die ſich
daran knüpfende Erſcheinung der Form von
Körperlichkeit und Maſſe, mit einem Worte
das Daſein und die Thatſache der Materie
nicht begreifen und erklären. Dem
Materialismus ergeht es umgekehrt, er
nimmt die Stoffe und Körper, findet ihr
Weſen aber nicht in den mechaniſch wirken—
den Kräften, die, indem ſie ſich reiben und
berühren, ſich gegeneinander verkörpern,
ſondern im ſog. Stoff ſelbſt, der, wenn
man alle Kräfte abſcheidet, im Grunde
doch nicht eine Subſtanz und ein Körper
an ſich, ſondern nur ein Nichts wäre.
So auch machen es die Myſtiker: Dieſe
wiſſen recht wohl, daß der liebe Herrgott
nichts iſt ohne die Welt und den Kosmos,
— aber ſie verſuchen ſich, um das Ueber—
weſen und die Allmacht Gottes zu retten,
doch für einen kleinen Augenblick, Gott an
ſich, abſolut, d. h. ohne den Kosmos zu
Bunde mit der Naturforſchung.
denken. In denſelben Fehler nun ver—
fallen die Materialiſten. Auch dieſe wiſſen
recht wohl aus Erfahrung, daß der Stoff
nichts iſt ohne die Summe der Kräfte,
in welche ſich derſelbe auflöſt, aber um
das fälſchlich behauptete abſolute Weſen
deſſen zu retten, was fie unter Stoff ver—
ſtehen, verſuchen ſie dennoch für einen kleinen,
dem unklaren Myſticismus hingegebenen
Augenblick, den Stoff als das an ſich
(folglich auch ohne Kräfte) Beſt eh ende
und unzerſtörliche Abſolute hinzuſtellen.
Damit meinen ſie, das Weſen des Stoffes
erſt klar zu erfaſſen, während doch unſchwer
zu erkennen iſt, daß durch den myſtiſchen
Eingriff eben dieſer Vorſtellungsweiſe die
ſtoffliche Unzerſtörlichkeit (ohne die voraus—
geſetzten Kräfte) zu einem Phantom zerrinnt.
Beſeitigen wir dieſen Phantasmus und
ſtellen wir die Stoffe niemals geſondert
und ohne Kräfte vor, ſo zeigt ſich alsdann
ſehr bald, daß vielmehr die Kräfte das
Dauernde und Bleibende, ſomit das
Weſen der Dinge ſind, während die ſog.
Stoffe als Maſſe, Ausdehnung, Wägbarkeit
und Körperlichkeit unter Umſtänden bedeutend
wechſeln können, um ſich zu verflüchtigen
und zu reduziren, bis zum Unwägbaren und
ſtofflich Minimalen.
Zur Erklärung ſchwierig aufzulöſender
phyſikaliſcher Phänomene haben mathematiſch
ſcharfſinnige Phyſiker ſich dieſer Stoff—
Minimalität gegenüber ſogar nicht geſcheut,
eine Art tiefer Durchdringung und Ver—
ſchmelzbarkeit der Krafttheilchen untereinander
anzunehmen, welche dem an der abſoluten
Stofflichkeit der Atome und Theilchen feſt—
haltenden Beobachter unmöglich erſcheinen
müßte, da er ſich gewöhnt hat, die Stoff—
Atome wie kleine, ſtets getrennte, abſolut
harte und undurchdringliche Billardkugeln
zu betrachten. Von dieſer letzteren groben
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Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
Vorſtellung muß daher der tiefer forſchende
Phyſiker völlig ablaſſen. Bedenken wir
nun aber weiter, daß alle die uns gegen—
überſtehenden Körperbilder zunächſt nur
Eindrücke unſeres Bewußtſeins ſind,
und daß wir hiermit nur Vorſtellungen
unſeres menſchlichen Denkens vor uns
haben, die ſich in den Augen eines Be—
wohners vom Sirius vielleicht, was die
Jog. ſtoffartige Körperlichkeit anbelangt,
ganz anders ausnehmen und ſpiegeln
ſog. Körperlichkeit (das Stoffliche) nur eine
ganz relative, wechſelnde Eigenſchaft der
Dinge ſind, um ſo annehmbarer finden.
Um das beſſer noch einzuſehen, laſſe man
eine Hypotheſe gelten. Denken wir uns
jenen Bewohner des Sirius mit ſolchen
Sinnen begabt, daß nur Aetheratome und
deren Wellenbewegungen ſich in ſeinem Be—
wußtſein ſpiegeln, die Bewegungen ponderabler
Theilchen hingegen keinen taſtbaren Eindruck
die ſogenannten Grundverhältniſſe von
Durchdringlichkeit, Ausdehnung, Wägbarkeit,
Maſſivität, ſowie von Stofflichkeit ſich auf-
heben zu einer ap Relativität, 8
was wir als wägbar und unwägbar, als N ichtspunk
hervorrufen, ſo muß ſich offenbar für dieſen
Siriusbewohner die Anſchauung aller
irdiſchen Dinge derartig ändern, daß
die Relativität alles desjenigen an den Körpern,
taſtbar oder unfühlbar, als durchdringlich
und undurchdringlich, als maſſiv und ſtofflich ie en Mate⸗ ;
| rioltsmus, elle den ſog. Stoff ats 58 |
durchſichtig, bezeichnen, ganz von ſelbſt ein-
leuchtet. Denn eine Gasflamme erſchiene
einem ſolchen Weſen vielleicht als völlig |
ſchichte des Materialismus“, die hierüber
maſſiv, während feine feinfühlenden aether-
artigen Sinne die undurchdringlichſten Felſen
wie Luft und Aether durchbohrten. Derartige |
Vorſtellungen find als Hypotheſen nicht
überflüſſig, dieſelben gleichen vielmehr den
Experimenten, durch welche der Phyſiker,
indem er beſtimmte Gebilde in die ver-
ſchiedenſten Lagen zu bringen verſucht, nur
anſtellt, um das Weſen der Dinge richtig
zu erkennen. Auch in der Philoſophie er—
heben wir uns durch derartige Hypotheſen
in ein höheres philoſophiſches Gebiet, und
treten hiermit derjenigen modernen philo—
ſophiſchen Lehre näher, welche man ſeit Kant,
von dem dieſelbe vornehmlich begründet wurde,
den Kriticismus nennt. Von der Höhe
dieſer tief eingreifenden Lehre herab aber
geſtaltet ſich alles, was da iſt und wirkt, zu
bloßen wechſelnden Phänonemen im Be—
wußtſein; alle Dinge ſind hiernach im Grunde
nur Complexe von relativen Spiegelbildern
würden, ſo werden wir den Satz, daß die
(Phänomenen), die in ihrer Strahlung von
andern irgend wie aufgefangen, zugleich als
ſolche jedesmal um jo mehr modificirt werden,
als die auffangenden Atome oder die auf—
faſſenden Weſen ſelbſt mit ihren Kräften rück—
ſtrahlend ſind. Wie ſehr aber unter dem
Einfluſſe aller dieſer wechſelſeitigen phänome—
nalen Spiegelungen der Kräfte, und unter
der Durchkreuzung von zugeſtrahlten und
ſich untereinander wieder verändernden Ein—
drücken, an den Dingen, Atomen und Weſen,
Anſichſeiendes, denſelben ſomit für abſolut
hält, unbarmherzig zerriſſen, und ſeine „Ge—
Auskunft giebt, wird allen denen zu em—
pfehlen ſein, welche für das ſog. Abſolute,
nachdem der ſog. liebe Herrgott durch die
Wiſſenſchaft aus dieſer Poſition vertrieben
wurde, immer wieder einen neuen Inhalt
zur Unterſtellung derſelben ſuchen. Hatte
man den lieben Herrgott als das ſog. Ab-
ſolute aus der Welt ausgetrieben, ſo wollten
die Materialiſten an ſeiner Stelle den ſog.
8 Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
Stoff einlogiren; dies konnte wegen der
völligen Relativität aller Erſcheinungen
überhaupt, ſowie auch des Stoffphänomens
freilich nicht gelingen. Die Naturphiloſophie
des Materialismus und die naive Anſchau—
ung des Demokrit und ſeiner modernen An—
hänger, nach welcher man mit Büchner,
Moleſchott und Anderen den Kosmos für
ein Gefäß von leerem Raum anſchaut, in
welchem ſich die Atome wie Billardkugeln
herumtummeln, ſieht der Philoſoph heute
als eine ſonderbare Hypotheſe an, die Wahres
mit noch mehr Unwahrem gemiſcht enthält,
nach genauem Ermeſſen ein kindliches Hirnge—
ſpinſt mit dem man ſich im glücklichſten Falle
ein Weltbild ausmalt, das in der beſten
Form vorgebracht, mindeſtens von der Wahr—
heit ebenſoweit entfernt iſt, wie die ptole—
mäiſche Weltanſchauung von dem wahren
aſtronomiſchen Sachverhalt der Bewegung
zwiſchen Sonne und Erde.
Vielleicht iſt es nun aber ſehr tröſtlich
für alle diejenigen Forſcher, welche ſich dem
kindlichen Dogmatismus der materialiſti—
ſchen Lehre nur ungern entziehen, ſchon im
Voraus zu erfahren, daß die Naturphilo—
ſophie aller derjenigen Lehren, welche dem
Materialismus extrem gegenüberſtehen, nicht
nur in die gleichen Fehler verfällt, ſon—
dern das Bild über das Naturleben außer-
dem ſogar völlig verwirrt. Ehe wir da—
rauf eingehen, Folgendes: Man darf bei
obigem Abweis des Materialismus nicht
vergeſſen, daß die Kraft- und Stofflehre
richtig gewendet dem empiriſchen Forſcher,
der am Experimentirtiſch ſteht und im Sec—
tionsſaal wie im Laboratorium arbeitet, doch
in mancher Hinſicht auch viel Nützliches
leiſtet. Der Phyſiker, der ſich die com—
plicirteſten Schwingungserſcheinungen zu—
rechtzulegen und zu deuten hat, ſieht ſich
bei der erſten Hypotheſe, die er macht, bereits
gezwungen, kleine mechaniſch gegeneinander⸗
wirkende Theilchen als Molecule und Atome
anzunehmen, die bis zum gewiſſen Grade
zweifelsohne conſtant erſcheinen und als
ſtoffliche Kraftträger angeſehen werden müſ—
ſen. Will er reſervirt und vorſichtig ur—
theilen, ſo muß er freilich bekennen, daß
der Grad, das Maß und die Dauer der
Conſtanz und das Stoffliche dieſer Träger
nicht für alle Conſtellationen berechenbar
und alſo relativ und problematiſch iſt.
Aber abgeſehen von dieſem Problem, das
ſich zugleich herleitet aus der Unvollzählig⸗
keit der experimentalen Fälle, über welche
menſchliche Empirie hinſichtlich der In—
duction durch die Begrenztheit der Mittel
nicht hinauskommt, bietet die Annahme ſol—
cher ſtofflichen ſubſtanziellen Träger doch
wenigſtens einen vorläufigen hypothetiſchen
Anhaltepunkt. Mit ihm gelingt es ein
annäherndes Bild eines Vorgangs zu ent—
wickeln, der zu fein iſt, um von unſeren
Sinnen erkannt und geſehen zu werden.
Der Forſcher iſt mit Hülfe der von ihm
angenommenen kleinen Billardkugeln (Mo-
lecule), mögen dieſe nun in der That gerade
ſo exiſtiren wie man ſie vorzuſtellen verſucht
oder nicht, doch im Stande, den chemiſch—
phyſikaliſchen Vorgang wenigſtens per ana-
logiam ſeinem Verſtändniß näher zu bringen.
Was er im Groben unter dem Eindruck
ſeiner Sinne beobachtet, überträgt er ver—
mittelſt einer Aehnlichkeitsregel bis in ein
hintermikroskopiſches Gebiet. Den Grad
der Berechtigung und das Maß für dieſe
Analogie zu ſuchen, iſt zunächſt nicht mehr
Sache des Phyſikers, ſondern des kritiſchen
Philoſophen. Wie dem auch ſei, wir müſſen
zugeſtehen, daß der Naturforſcher zur Ver⸗
deutlichung bis zu einem gewiſſen Grade ein
Recht hat, ſo zu verfahren. 5
unter dieſer Beſchränkung die materialiſti—
So können
Re
N
Be
ſchen Phantaſien nützlich werden, und es
konnte ſich die richtig gewendete Kraft—
Stofflehre hie und da fruchtbar erweiſen.
Faßt man z. B. die Kraftcentra, in welche
ſich die Stofftheilchen auflöſen, etwa mit
Leibniz und Lotze zugleich ſo, daß man
ihnen auch Leben, endlich auch auf gewiſſen
Stufen Seelenleben und Geiſt zuſprechen
darf, ſo läßt ſich die ſo zu entwickelnde Art
einer tieferen Naturphiloſophie (Hermann
Lotze hat uns in ſeinem Mikrokosmus hierzu
ein ſchönes Vorbild gegeben) in Einklang
ſetzen mit den Ergebniſſen der experimentellen
Forſchung. Und dies um ſo eher, je mehr
der Forſcher zugleich bemüht iſt, die von
ihm entwickelte Atomtheorie in richtiger Weiſe
mit den ſelbſtevidenten Prineipien der em—
piriſchen Mechauik zu verſchmelzen. Was
in gewiſſer Weiſe Lotze und Fechner in
Deutſchland verſuchten, unternahm bekannt—
lich in England Herbert Spencer, und
wir würden ungerecht ſein, wenn wir unſere
Leſer auf die hochentwickelte Naturphiloſo—
phie aller dieſer Forſcher nicht ausdrücklich
hinwieſen.
wiſſen Feſtſtellungen aus in ihrer Meta—
phyſik doch noch zurückleiten auf die ato—
miſtiſche Grundlehre des Demokrit. Was
aber zur Anlehnung an die atomiſtiſche
Vielheitslehre zwang, war die mathema—
tiſche Anſchaulichkeit und das Thatſäch—
liche. Die Thatſache von Kraft und Wider—
ſtand nöthigte von der Vielheit beſtimmter
Kraftträger (Atome) auszugehen, man war
darauf hingewieſen ſich an die mathemathiſchen
Grundregeln der Mechanik anzulehnen. Die
Grundprincipien der Mechanik konnte man
in der That naturphiloſophiſch nicht auf-
geben, auf ſie leitete eben jede Kraftlehre
zurück. Hier lag der eiſerne Beſtand aller
Alle Lehren der genannten her-
vorragenden Naturphiloſophen, ſo verfeinert
fie find, im Grunde lafjen fie ſich von ge |
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
|
und jeder Naturlehre. Wie weit auch der
Naturforſcher beſtrebt war, ſich über ſein
engeres Gebiet zu erheben, um ſeine ge—
wonnenen Reſultate mit einer allgemeineren
Weltanſchauung, wie ſie in großen genialen
Zügen Philoſophen zu bieten wagten, in
Zuſammenhang zu bringen; ſein höher—
ſtrebender Flug konnte nicht weiter reichen
als die Thatſachen das zuließen, und die
klare Deutung derſelben vor der Vernunft
zwang hier ſtets bei den Grundprincipien
der mechaniſchen Kraftlehre ſtehen zu bleiben.
Machen wir uns in kurzen Worten
zugleich klar, was dieſe Principien zunächſt
forderten. Der Begriff der Kraft ſetzt eine
Relation voraus zu einer anderen fremden
Gegenkraft, die man den Widerſtand nennt.
Eine Kraft ohne allen und jeden Wider—
ſtand wäre eine kraftloſe Kraft, ſomit
ein undenkbares Unding. Wer von Kraft
redet, muß daher ihren mechaniſchen Wider—
ſtand gleichzeitig miteinbegreifen oder er
widerſpricht ſich. Daher ſah jeder philoſo—
phiſche Forſcher, der ſich an der Naturlehre
gebildet und Mechanik getrieben hatte, ein,
daß man ſtets eine urſprüngliche Mehr—
heit discreter Kraftträger (Kraftcentra, Kraft-
atome (Democrit) oder Monaden (Leib:
niz), Realen (Herbart), Dynamiden |
(Redtenbacher) u. ſ. w.) zu ſetzen hatte.
| Völlig gleich und einander abſolut identiſch
konnten Kraft und Widerſtand alſo nicht ſein;
denn wären beide nicht einander bis zum ge—
wiſſen Grade ausſchließend, ſo könnten ſie
nicht gegeneinander mechaniſch wirkſam
gegenübertreten. So hatte man urſprünglich
discrete Theile, man ſah einen Zuſammen—
hang (Nexus) von vielfachen Factoren,
innerhalb deſſen dieſelben als mechaniſche
Kräfte ſpielten, um einander Widerſtand zu
leiſten und ſich unter demſelben gegeneinander
gleichſam zu verkörpern. Mochte dieſe wechſel—
ſeitige Verkörperung auch nur ein relatives
wechſelndes Phänomen au ihnen ſein, immer—
hin war dieſelbe eine Thatſache, die auf eine
beſtimmte Erklärung zurückwies. Wollte
man nicht alle empiriſchen Grundregeln der
Mechanik verletzen, wollte man nicht gegen alle
Thatſachen einen Unſinn behaupten, ſo mußte
man ſich daher bis zum gewiſſen Grade
an die cauſal-mechaniſche Naturlehre, welche
die poſitiven Thatſachen lehrte, anlehnen.
Ueber die Thatſachen hinaus durfte man
nicht philoſophiren, ihre Logik konnte man
nicht umgehen; ſich in philoſophiſchen An—
ſchauungen zu ergehen, um ſich hiervon völlig
abzuwenden, war bewußte oder unbewußte
Phantaſterei und in dieſem Sinne Myſti—
cismus.
Aber es gab eine Zeit, wo die Völker
bereits über Welt und Natur philoſophirten,
ohne daß ſie ſchon ſo viele empiriſche Er—
keuntniſſe geſammelt hatten, um hinreichend
die Thatſachen zu durchdringen. Es gab
eine Zeit, wo man die Logik der Thatſachen
noch nicht zu würdigen verſtand und die
Philoſophen mit Verſtößen über dieſelbe
hinwegeilten. In dieſer Zeit ſchuf man
ſich mit Rückſicht auf noch ganz kindliche
Anſchauungen ein Weltbild, mit welchem
man zunächſt nur beſtrebt war, alle Er-
ſcheinungen aus einem einzigen Urquell,
der Erklärungsbequemlichkeit und der Einfach—
heit halber, abzuleiten.
Schon die Prieſter der Vorzeit hatten
über Natur und Schöpfung nachgedacht;
ſie hatten ſich viel mit den Elementen von
Wärme, Licht und Feuer beſchäftigt, der
Seher und Prieſter zündete und ſchuf durch
Reibung das geheiligte Opferfeuer. In
kindlicher Naivetät, ausgerüſtet mit dem
Drange, raſch alles um ſich her zu erklären,
am ihnen alsbald die Vorſtellung, daß
alles, was da iſt und wirkt, aus Licht und
\ 5
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. |
Feuer herſtamme.
Die Geſtirne ſchienen
brennende Feuer zu ſein, die auf der
Erde Leben und Wachsthum hervorriefen,
— da ſchien es denn nahe zu liegen, alles
was da iſt, aus der einen Feuerkraft
herzuleiten, die Dinge und Weſen ſchienen
nur Metamorphoſen des Feuers zu ſein.
Die Prieſter bedachten noch nicht,
daß das Feuer keine omnipotente Grund-
kraft ſein konnte; denn es fand ja (um in
dieſer kindlichen Weiſe zu reden) ſeinen
gleichzeitigen Widerſtand am Elemente
des Waſſers, welches eben dieſem Elemente
Einhalt gebot. Dennoch war einigen der
früheſten Naturphiloſophen, die noch durch
vorhiſtoriſche Anſchauungen der Prieſterwelt
geleitet waren, auch das Waſſer nur ge—
bildet durch Metamorphoſe des Feuers.
Vom Geſichtspunkte der Mechanik betrachtet
hatte man daher im Grunde den ſog. Wider-
ſtand, d. i. die relativ fremde Gegenkraft,
verſucht, aus der Kraft heraus herzuleiten.
Aus naiver Bequemlichkeit und Unbehülf—
lichkeit hatte man alle Elemente unter einen
Hut bringen wollen, man war beſtrebt
geweſen, einen einzigen Rahmen für alle
Erſcheinungen zu finden. Indeſſen hier
lag ein Fehler vor gegen die Logik der
Thatſachen. Man hatte nicht beachtet, daß
die Urkraft urſprünglich bereits auf ihren
mechaniſchen Widerſtand hinwies, der ſich
aus der erſteren nicht künſtlich heraus-
ſpinnen ließ. In der That, wollen wir
ein ſinnliches Beiſpiel gebrauchen, ſo dürfen
wir darauf verweiſen, daß die früheſten
Naturphiloſophen dies Weſen der Kraft
anſchauten wie die Spinne, welche alles
Uebrige, ſomit auch die mechaniſchen Wider-
ſtände, ähnlich wie die Faſern des Netzwerkes
erſt peu-à-peu aus ſich herausſpann. So
aber ſpann freilich dieſe wunderſame Spinne
offenbar uranfänglich in der undenkbaren
Leere (d. h. ohne Kraftwiderſtände), und es
fehlte chr von vornherein jeder Befeſtigungs—
punkt für ihr geſponnenes Netzwerk, ja ſie
ſelbſt entbehrte hiermit, vom Geſichtspunkte
der mechaniſchen Kraftlehre betrachtet, jeder
haltbaren Unterlage.
So war ſchon ſehr früh in der Natur-
philoſophie ein kindlicher und falſcher
Kraftbegriff zur Geltung gekommen,
der myſtiſch concipirt war und in der Natur—
lehre heilloſe Verwirrung angeſtiftet hat,
die Jahrtauſende hindurch fortwirkte und
in ihren unabſehbaren Folgen heute noch
keineswegs in der Wiſſenſchaft überwun—
den iſt.
Das Charakteriſtiſche dieſer Naturlehre
alſo war ſtets dies: daß man einen Kraft—
begriff aufnahm, der alle Widerſtände
gleichſam übermechaniſch und myſtiſch
aus ſich herauszog. Dieſe concipirte
Urkraft (mechaniſch betrachtet eine ganz
widerſtandsloſe, kraftloſe Kraft) wurde von
Philoſophen dieſer Richtung zur ſchöpferiſchen
Urpotenz gemacht,
Kräfte ſetzte,
die alle Elemente und
dieſe Kräfte aber gleichſam
innerlich gleichzeitig hiermit durchbohrte und
durchdrang. Da dieſe Urkraft aber an ſich
omnipotent und abſolut war, fo konnte fie
alle Setzungen ebenſo raſch wieder aufheben
und negiren.
Schöpfer die Welt und Alles was da lebt
und webt, incluſive den Teufel und ſeine
Heerſchaaren, aus ſich heraus ſchuf, ſo ſollte
auch dieſe Urkraft ſchöpferiſch ſein. So
war dieſe Wunderkraft eine myſtiſche vis
formativa, die über alle ſog. Widerftände |
(die ihr doch als Gegenkräfte mechaniſch
urſprünglich gegenübertreten mußten, um
fie von vornherein einzuſchränken) ſich my⸗
ſtiſch hinaushob. Bei ihrer Omnipotenz
geſchah es eben, daß ſie alle Widerſtände
künſtlich übergriff und ſie gleichſam
Wie der abſolut gedachte
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 11
über⸗mechaniſirte, wenn man ſich dieſes
Ausdruckes bedienen darf. Es ſtand im
Grunde dieſe vis formativa ihren Wider—
ſtänden hiermit ebenſo gegenüber, wie der
Bildhauer dem todten paſſiven Marmor—
block. Wie der Bildhauer nur den rein
paſſiven Marmor bearbeitet als ein deus
ex machina, um ſich deſſelben künſtlich
zu bedienen, ihn völlig zu zerſtückeln und
völlig rückſtandslos ſeiner Idee einzuverleiben,
ſomit endlich auch den letzten Reſt von
paſſiver Widerſtandskraft an ihm aufzuheben,
ſo auch dieſe Art von myſtiſcher Kraft.
Sie wirkt, ſchafft und bedient ſich ihrer
Widerſtände, zehrt ſie ſchließlich rückſtands—
los auf und ſtrebt ſchließlich im Leeren.
So tritt dieſe Urkraft anfänglich zwar ſchein—
bar omnipotent auf, im Grunde aber iſt
fie doch nur eine völlig widerſtandsloſe,
kraftloſe Kraft.
Wir haben alſo unter dieſer Conceptions⸗
form eine ſog. „Kraft an ſich“ vor uns,
eine, Art von deus ex machina, Nicht
genug kann der Naturphiloſoph gewarnt
werden, dieſe Art von Pſeudokraftbe—
griff zu adoptiren, um mit ſeiner Hülfe
weiter reichende Erklärungen vorzunehmen.
Um deswillen iſt es daher doppelt wichtig, th
recht genau alle die Verkleidungen und 42
Ausdrucksformen anzuſehen, in welchen uns
die zumeiſt mit der Grundlehre der Me—
chanik und der Logik der Thatſachen unkun⸗
digen Philoſophen dieſen Pſeudokraftbegriff
vorführen.
Die Geſchichte der Philoſophie weiß
in dieſer Hinſicht von den allerſonderbarſten
Wandlungen zu erzählen.
liche Herkunft dieſes hypermechaniſchen Kraft-
begriffs und deus ex machina ſtammt
ohne Zweifel, wie wir oben anführten, von
den früheſten Prieſtern, die in dieſer Form
die Götter oder auch eine ganze Reihe von
ER *
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ei
Die urſprüng⸗
12
Gottheiten myſtiſch über das All erhoben
und perſonicifirten. Später, als die Philo—
ſophen dieſe kindlichen Anthropomorphismen
abſtreiften, ließen ſie hiermit im Grunde
doch nur das äußere Kleid fallen, genau
genommen blieb das Weſen dieſes Pſeudobe⸗
griffs beſtehen. Wurde unter der ſchöpfe—
riſchen Urkraft ſpäter keine mythiſche Perſon
mehr gedacht, die über oder hinter den
Couliſſen des Univerſums lebt, um wie
ein Regiſſeur das Theater des Weltalls zu
leiten, ſo war die neue Einführung einer
kosmiſchen Urkraft, die aus ſich heraus
das ganze Univerſum erzeugte und wieder
in ſich verſchlang, doch nur im Grunde
ebendieſelbe in den Kosmos hinein verſetzte
hypermechaniſche vis formativa. Mochte
Heraklit hiermit das kosmiſche Feuer,
Thales das Waſſer, Anaximenes die
Luft oder Anaxagoras den vors
meinen, es war in dieſen Formen immer
der nämliche myſtiſche deus ex machina.
Ja, ſelbſt die großen Heroen der Philoſophie,
Plato und Ariſtoteles ſtreiften an dieſer
Urkraft nur das Gewand ab, ohne das
Weſen der Sache hiermit zu verändern.
Die platoniſche Weltſeele und der ariſtoteliſche
unbewegliche Beweger ſind nur andere
Ausdrücke für dieſe myſtiſche vis forma-
tiva und für Handhabung eines falſchen
Kraftbegriffs. Die Kraft wurde hier ohne
Rückſicht auf die Grundregeln der Me—
chanik concipirt, es mangelte ihr der voll-
gültige Grad von Beziehung auf den
ihr relativ äquivalenten, ebenbürtigen, und
urſprünglich ihr gegenübergeſetzten Wider—
ſtand. So beſaß dieſe Urkraft von vorn-
herein ein hypermechaniſches Uebergewicht,
durch welches ſie den ihr untergeordneten
(paſſiven) Widerſtand ſehr bald aufzehrte,
um ſich ſchließlich als widerſtandsloſe Kraft
zu enthüllen. Während des ganzen Mittel-
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
alters haben die ſcholaſtiſchen Naturphiloſo⸗
phen dieſem unklaren Kraftbegriff gehuldigt
und ihre naturphiloſophiſchen Syſteme darauf
errichtet. Erſt mit der Zeit der Aufklärung
haben die Bacon, Hobbes und ihre Schüler
vom Gebiete der Naturforſchung laut ihre
Stimmen hiergegen erhoben. Die Philoſo—
phie hat leider wenig die Einwände dieſer
Forſcher beachtet, ſelbſt ein jo klarer mathe
mathiſcher Kopf wie Descartes baute über
die reale mechaniſche Körperwelt eine darüber—
geſtülpte, höhere, geiſtige auf, in welcher
nur noch der hypermechaniſche myſtiſche
Kraftbegriff ſeine unklaren Funktionen aus⸗
übt. An den deus ex machina der Descar-
tes'ſchen Gottesſubſtanz lehnte ſich bekannt⸗
lich Spinoza an, und wiederum gründete
ſich der weitgehende Pantheismus dieſes
geiſtvollen Denkers eben nur auf die Con-
ception jenes völlig untauglichen, hyperme—
chaniſchen Kraftbegriffs, deſſen Pſeudofunk—
tionen wir oben genauer ſchilderten.
Trotz der inzwiſchen anfgeblühten experimen⸗
tellen Wiſſenſchaft haben die Philoſophen
mit Zähigkeit an dem Pſeudokraftbegriff in
der Naturphiloſophie feſtgehalten, und ſo
feſt gewurzelt war die Scholaſtik nach dieſer
Seite, daß ſelbſt Kant in theologiſch-philo⸗
ſophiſchen Anwandlungen dem Dualismus
Rechnung trug, ſodaß nach ihm der perſönliche
überirdiſche Weltſchöpfer (als deus ex
machina), ebenſo wie der abjolute (intelli-
gibele) Freiheitsbegriff auf der einen Seite
Glauben finden ſollten, während er recht wohl
bekennt, daß die Logik der empiriſchen That⸗
ſachen ſich andererſeits auf's unzweideutigſte
fortwährend hiergegen empören. Als nach
Kant in unſerem Vaterlande die poetiſche Zeit
der Romantik heraufgedämmert war, hatte ſich
der Geiſt von neuem hinreichend mit ſchola—
ſtiſcher Myſtik geſättigt. Ein nachſcholaſti⸗
ſches Zeitalter ſollte in Deutſchland erblühen,
nd die Philoſophen, die zumeiſt Theologen
und Philologen waren, griffen während
dieſer wunderſamen Geiſtesepoche der Roman—
tik mit Vorliebe auf Plato, Ariſtoteles
und den Neuplatonismus zurück. Durch dieſe
Anlehnung concipirte man von neuem kritik—
los den antiken Pſeudobegriff der Kraft,
und nun mußte ſich folgerichtig eine Natur—
philoſophie entwickeln,
. Ergebniſſen der inzwiſchen reifer gewordenen
> Naturwiſſenſchaft nicht mehr vertrug.
Als dies von klar denkenden Naturforſchern
Naturwiſſenſchaft principiell von jener
1 Art von Naturphiloſophie, die man mit
RRgReecht die ſcholaſtiſche nennt.
wollen gegen die Reihe von tieferen An—
5 ſtößen, welche die philoſophiſchen Geiſtes—
= heroen der romantischen Zeit, vornehmlich
Fichte, Schelling, Hegel, Schleier—
= macher u. ſ. w., auf die Entwicklung einer
Reihe von wichtigen Disciplinen geäußert
haben, weit entfernt davon, zu überſehen,
wie durch das Nachdenken jener philoſophiſch
geſchulten theologiſchen Kräfte“) namentlich
die tieferen Geiſteswiſſenſchaften, wie Er—
kenntnißtheorie und Ethik recht wohl
0 Daß Männer eben jener Geiſtesepoche,
wie namentlich Herbart, Hegel und Fichte,
ihre große philoſophiſche Bedeutung haben,
und die Anſtöße, welche jene Forſcher insbe—
ſondere der ſog. Erkenntnißlehre methodologiſch
Bl ertheilten, unberechenbar und nicht zu unter-
ſchätzen find, hat, abgeſehen von oben Ge—
ſagtem, wohl keiner mehr behauptet, wie der
Verfaſſer dieſes Artikels. Vergl. hierüber
Caspari, Die Grundprobleme der Erkennt—
nißthatigteit Berlin 1876 bei Theobald
Grieben, Bibliothek für Wiſſenſchaft und Li—
teratur. In genanntem Werke verſucht der
Verfaſſer die Grundfehler oben genannter
Autoren neben ihren Verdienſten zu be—
leuchten. —
gefördert,
tiefer begriffen wurde, trennte ſich die
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 13
befruchtet wurden — das müſſen wir in-
deſſen als hiſtoriſches Reſultat jener Epoche
feſthalten: die Naturwiſſenſchaft (d. h. die
Naturphiloſophie) wurde von ihnen nicht
wohl aber in die allergrößte
Verwirrung geſetzt. Der Hauptgrund
hierbei lag in der Wendung bezüglich des
Kraftbegriffs, und daran ſich anſchließend
die ſich mit den
an der falſchen Conception des philoſophiſchen
Grundprincips. Die auf ihren Wider—
ſtand nothwendig bezogene und von letz—
terem bedingte Kraft macht evident
deutlich, daß der Kraftbegriff ein ſog. Re—
lationsbegriff iſt, die oben genannten
Philoſophen hingegen machten zur Grund—
f lage aller ihrer Weltconſtructionen das ſog.
Weit entfernt davon, ungerecht ſein zu |
Abſolute. Die Anlehnung des mit Rück—
ſicht auf die Thatſachen richtig gedachten
Kraftbegriffs (als Relationsbegriff) an den
Hintergrund eines über
hinausliegenden (ſomit transcendenten)
Abſoluten, ruft eben dieſe Verwirrung und
myſtiſche Unklarheit hervor; denn leicht iſt
zu erkennen, daß ein über alle Kräfte
(Relationen) hinausliegendes (trams-
cendentes) ſog. Abſolute keine Kraft,
leerer deus ex 88
machina ift, ein modernes asylum igno- 1
rantiae, mit dem man die von empiriſcher
wohl aber ein in ſich
Seite klar aufgebaute Naturlehre über den
Haufen wirft, und an die Stelle des in
ſich klar gegliederten Kosmos jenes über—
natürliche, unlogiſche Wiſchiwaſchi ſetzt, über
welches noch heute philoſophiſch halb ge—
ſchulte Philologen, Theologen und mit den
Anforderungen einer klaren Naturlehre nicht
genau bekannte philoſophiſche Dilettanten
nicht hinauskommen. So geſchah es, daß
die Naturlehre der Fichte-Schelling-Hegel
nothwendig verworfen werden mußte; denn
das abſolute Welt-Ich Fichte's, das ab-
ſolute Subjekt-Objekt und die abſolute
alle Kräfte
ud 9
—
1
Ke
rr
14
Indifferenz Schelling's, ſowie die abſolute
Idee Hegel's ſind nichts anderes als Con—
ceptionen, die darauf hinführen: die anti—
quirte ariſtoteliſche über-mechaniſche abſolute
vis formativa (den deus ex machiua)
durch eine fein verdeckte Hinterthür in die
Betrachtung des Kosmos wieder aufzu—
nehmen. Hiervon macht ſelbſt die ſonder—
bare Conception Herbart's über die „ab—
ſolute“ Poſition ſeines Seinsbegriffs (als
ein. Sein ex machina) und die abſolute
Setzung ſeiner abſoluten „Realen“ (als
dii ex machina) nicht die geringſte Aus—
nahme. Die Setzung und Beifügung des
Wörtchens „abſolut“ iſt hier entſcheidend.
Was man im modernen, praktiſchen
Staats- und Rechtsleben der Individuen
längſt erkannt und eingeſehen hat, nämlich
die Unbrauchbarkeit des Abſoluten,
das auf theoretiſchem Gebiete völlig klar zu
machen, iſt leider noch heute eine ſchwierige
Aufgabe der Wiſſenſchaft. Aber dieſe Ar-
beit, zu der ſich recht viele wiſſenſchaftliche
Köpfe mit uns vereinigen mögen, iſt viel—
leicht ebenſo ſehr auch hier gewinnbringend
und ſegensreich. Wie unter der Form des
Abſoluten im Grunde nur der Mittel-
punkt des Syſtems wahrhaft lebt,
während die übrigen Glieder einem todten
Cadaver gleichen, ſodaß im praktiſchen, ge—
ſellſchaftlichen Leben hierdurch tauſend Uebel
und Conflicte hervorgerufen werden, ſo auch
im Gebiete der theoretiſchen Wiſſenſchaft.
Was dort die unerträglichen Conflicte, ſind
hier die Summe der Widerſprüche und
Unklarheiten, die durch die Conception des
Pſeudobegriffs des Abſoluten in allen
Wiſſenſchaftsgebieten, jo auch in der Natur-
lehre, erzeugt werden. Je mehr die Ein—
ſicht hierüber im Gebiete der Naturforſchung
höher ſtieg, je mehr ſträubten ſich die
Scholaſtiker unter den modernen Philoſophen
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
dieſer Evidenz ſich zu unterziehen. Moderne
Philologen und Theologen, mit Philoſophen
im Bunde, ſuchten im Gegentheil alle Mittel
und Wege, um dieſer Conſequenz zu ent—
gehen. Wie eine geſcheuchte Heerde flüch—
teten die modernen Scholaſtiker und ſuchten
nach Syſtemen und Formeln, um ſich den
Conſequenzen rationaler Klarheit zu ent—
winden. Man wurde eingeſchüchtert durch
die mächtigen Fortſchritte der em—
piriſchen Wiſſenſchaften, welche ſen—
timentalen Gemüthern zu dem Glauben
Veranlaſſung gaben, daß ſie dazu dienen
konnten, dem materialiſtiſchen Democritismus
in die Hände zu arbeiten; man wurde ein—
geſchüchtert ferner durch die unlogiſchen, ober
flächlichen Doktrinen der Büchner-Mole—
ſchott, die wir oben bereits abwieſen, weil
ſich die Annahmen derſelben, daß der ſog.
Stoff (als Ausgedehntes, Wägbares und
Taſtbares) etwas Abſolutes ſei, von ſelbſt
widerlegten. Denn die Anſichten über Stoff
und Materie kommen nach den Ausführungen
aller conſequenten Anhänger dieſer Lehre
eben nur zu Stande mit Hülfe der Kraft—
lehre. Wenn daher der Stoff nicht ohne
Kraft gedacht werden kann, ſo iſt er auch
nichts mehr an ſich und ſomit auch niemals
etwas Abſolutes, ſondern etwas völlig Re—
latives und in ſich phänomenal Flüſſiges
wie viele andere Erſcheinungen. Indem
man aber, wie erſichtlich iſt, ſich genöthigt
findet, ſich abzuwenden von jenem craſſen
Materialismus, der den Stoff als das Ab—
ſolute (ſomit als das alles erklärende Grund—
weſen) des Alls betrachtet: was zwingt uns,
um dieſer Scylla zu entgehen, nun in die Cha-
rybdis zu ſtürzen, nämlich in jene Lehre,
welche die Kraft ſelbſt wieder hinaus—
hebt aus der Sphäre der mechaniſchen
Relation in das Gebiet des über-mecha—
niſchen Abſoluten, um ſo den Begriff
einer abſoluten, einer widerſtands—
loſen, ſomit kraftloſen myſtiſchen Pſeudo—
kraft zu bilden?
Wenn die vom extremen Materialismus
geängſtigten Philoſophen, und ſogar viele
Naturforſcher, ſich neuerdings wieder einem
Schopenhauer oder gar einem Hartmann
zugewandt haben, um mit ihnen als Grund—
princip den ſog. abſoluten Ur- Willen
oder das abſolut Unbewußte anzuerkennen,
ſo liefert dieſe Zurückwendung nur Zeugniß
worum es ſich
ſtets einen völlig klaren Kraftbegriff zum
operiren nöthig hat) handelt.
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
davon, daß ſie nicht erfaßt hatten,
in der Naturlehre (die
Der philo⸗
als Abſolutes und an ſich Selbſtverſtänd—
liches hinſtellen darf wie die craſſen Ma—
terialiſten, doch immerhin die Thatſache
der gegenſeitigen Verkörperung der Kräfte
als Erſcheinung zu erklären.
Nach den conſequenten Annahmen der
Materialiſten iſt der Stoff das Weſen
des Kosmos. Kraft, Geiſt und Bewußtſein
hingegen find nur zufällige, “) im Grunde
unerklärbare Erſcheinungen. Umgekehrt
verhält es ſich mit allen jenen ſpiritualiſtiſch—
ſcholaſtiſchen Lehren, welche Kraft, Geiſt und
Bewußtſein zum über⸗-mechaniſchen Abſoluten
machen. Nach den Ausführungen dieſer
Philoſophen wird die Thatſache von Kraft
und Widerſtand nicht erklärt und der Wider—
) Vom conjequenten Standpunkte der ab—
ſoluten Stofflehre iſt die Folgerung Du Bois—
Reymond's daher ganz richtig, daß man
der Erſcheinung des Geiſtes und Bewußtſeins
rathlos mit einem ignorabimus gegenüber—
ſteht. Dieſes testimonium paupertatis gilt
eben für den eraſſen Materialismus und mit
Hinblick auf dieſes Zugeſtändniß iſt er philo—
ſophiſch gerichtet. |
ſophiſche Naturforſcher aber hat, wenn man
das Materiale und Körperliche auch nicht |
ſtand zum Pſeudowiderſtande degradirt,
ſomit eine Pſeudomechanik des Kosmos
geſchaffen. Angeſichts dieſer Pſeudomechanik
iſt es alsdann unmöglich, die Grundfac—
toren der phyſikaliſchen Erſcheinungen: die
gegenſeitigen Verkörperungen der Kräfte und
die ſich daran anlehnenden Thatſachen des
relativ undurchdringlichen Widerſtehens, die
Reibung und die cauſale Aufeinauder—
wirkung der Kräfte im materialen Sinne zu
begreifen. Blieb dort die Thatſache des
Geiſtes unerklärt, ſo hier die Thatſache der
Materie in ihren Erſcheinungen. Um aus
dieſem Dilemma herauszukommen, iſt die
Naturphiloſophie gezwungen, ſich über jenen
Materialismus ebenſoſehr wie über den
charakteriſirten Spiritualismus hinauszu—
ſetzen. Eine neue Naturlehre hat Platz zu
greifen, eine Naturlehre, innerhalb deren uns
die Thatſachen zwingen, das Weſen des
Kosmos nicht unter der Herrſchaft irgend
eines Abſolutums zu denken, (ſei darunter
jener abſolute Pſeudoſtoff der Materialiſten,
oder die abſolute Pſeudokraft der ſpiritug⸗
liſtiſchen Idealiſten vorgeſtellt). Dieſen Irr—
lehren gegenüber ſei hervorgehoben, daß wir
den Kosmos nach ſeiner natürlichen Couſtruc⸗
tion nur als ein Conſtitutionalismus zu 12
denken haben. Hinter der cauſal-mechaniſchen n
Conſtitution der Kräfte (welche alle |
Erſcheinungen ſowohl die des Stoffs wie
des Geiſtes erzeugt) und deren Arbeit, kaun
keine myſtiſch übergreifende, ſie wieder
aufhebende abſolute Pſeudokraft irgend—
wie gedacht werden. Nur in dieſer An- |
ſchauung, die wir mit Hinblick auf die Pſeu⸗
dokraftlehre der ſpiritualiſtiſchen Myſtiker
(die neuerdings als Hartmanianer wieder
hervortreten und in der Annahme einer
ſog. abſoluten Urkraft verharren) die
Lehre des Krafteonſtitutionalismus oder die
cauſal-mechaniſche Grundanſchauung nennen,
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l
1
€
5 16
N
kann die klare Naturphiloſophie ſich zukünftig
fortbilden. Nur in Anerkennung dieſer
cauſal-mechaniſchen Grundanſchauung
kann, geeint durch die Logik der Thatſachen,
Philoſophie und Naturforſchung zuſammen⸗
gehen, jeder Rückfall aber in die oben ſcharf
gekennzeichnete Pſeudoſtofflehre oder in die
übermechaniſche Pſeudokraftlehre würde von
neuem einen Bruch zwiſchen Philoſophie
und Naturforſchung herbeiführen müſſen.
Alle diejenigen Philoſophen der Gegenwart
aber, welche mit der beſchriebenen Pſeudo—
kraftlehre liebäugeln, oder aus veligtös-fen-
timentalen und theologiſchen Herzensbedürf—
niſſen auf ein hyper-mechaniſches Trans-
cendentes als Grundprincip in dieſer Hin—
ſicht recurriren und feſtzuhalten verſuchen,
haben im Grunde das Tuch zwiſchen Philo—
ſophie und Naturforſchung zerſchnitten.
Wie ſchon eingangs dies Artikels erwähnt,
giebt es keinen wahren Naturforſcher, der
nicht, wenn auch oft nur aphoriſtiſch, ſein
philoſophiſches Glaubensbekenntniß vorträgt.
Um ſo wichtiger daher iſt es, daß er ſich
aufklärt über diejenigen Weltanſchauungen
und Syſteme in der Philoſophie, die klar
genug ſind, um einladend zu erſcheinen, die
Reſultate der experimentellen Forſchung mit
ihnen zu verknüpfen. — Nach den Ver-
irrungen der neuſcholaſtiſchen Richtung, zu
der bekanntlich neuerdings auch E. von
Hartmann, der Philoſoph des Unbewuß⸗
. a d i ismus d
ten, gehört, haben ſich die Philoſophen ge em ehemaligen Senſualismus Seele un
ſammelt und ſind, geführt von Albert Lange
und Anderen, muthig auf Kant's Kritik der
— — 2 — —
Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung.
reinen Vernunft zurückgegangen. An die
feſtſtehenden Reſultate dieſes epochemachenden
Werkes verſuchen die modernen philoſo—
phiſchen Forſcher anzuknüpfen, und im Bunde
mit den Naturwiſſenſchaften begründet ſich
gegenwärtig mehr und mehr, wenn uns
der Blick in die Zukunft nicht trügt, gegen-
über dem ehemals ſtreng feſtgehaltenen
Apriorismus und Nativismus, deſſen aprio-
riſtiſches Grundprincip ein Abſolutes, Ueber—
mechaniſches, Transcendentes (Undenkbares)
war, ein kritiſcher Empirismus, “) der
ſich anlehnt an die folgerichtig gedachte
cauſal-mechaniſche Kraftlehre. Von dieſer
rationalen Grundlage aus ſucht der Philo—
ſoph einzudringen in den Zuſammenhang
der Dinge — in den Kosmos. Lehren
ihn die Empirie und die Thatſachen den
Kosmos als ein Syſtem von Kräften und
deren Relationen auffaſſen, ſo zwingen
ihn weitere Folgerungen einer in ſich klaren
mathematiſchen Kraftlehre, dieſes Syſtem
nicht beherrſcht zu denken von irgend einem
Abſolutum (als myſtiſche Pſeudokraft), ſon⸗
dern eben dieſes Kraftſyſtem ſieht er ſich
vielmehr genöthigt anzuſchauen als einen Con—
ſtitutionalismus auf einander bezogener Glie—
der, geeint durch die Verfaſſung der Natur-
geſetze.
) Das iſt, wohlverſtanden, kein vorfant'-
ſcher dogmatiſcher Empirismus, der ähnlich
Geiſt zur tabula rasa machte, um ſo alles
von außen und nichts aus dem Innern ab—
zuleiten.
N
ſchaftliche Zoologie Bd. XXVII
Se habe ich unter dem Titel „Über
= die Bedeutung der Ge—
ſchmack- und Geruchſtoffe“
eine Erörterung der chemiſchen Seite der
Vererbungsfrage gegeben, nachdem ich ſchon
vorher in meinen „Zoologiſchen Briefen“
der phyſikaliſchen Seite einige Betrachtungen
gewidmet hatte. Ich will es im Folgenden
verſuchen, dieſer Frage einige neue Anhalts—
punkte abzugewinnen und das dort Geſagte
zu ergänzen.
Meine früheren Auseinanderſetzungen
gingen dahin: Das Fundament der Ver—
erbung beſteht darin, daß durch große
Reihen von Generationen hindurch das Keim—
protoplasma eines Thieres eine ſich ſtets
gleichbleibende ſpezifiſche Beſchaffenheit allen
Anfechtungen von außen zum Trotz bewahre.
Ich ſagte: Bei der jedesmaligen Ontogeneſe
ſcheide ſich das verfügbare Keimprotoplasma
in zwei Gruppen, die ontogenetiſche,
aus welcher das jeweilige Individuum auf-
gebaut wird, und die phylogenetiſche,
1
A
Phyſiologiſche Briefe
Prof. Dr. Guſtav Jäger.
J. Ueber Vererbung.
bilden. Dieſe Reſervirung des phylogene⸗
tiſchen Materials bezeichnete ich als Conti—
nuität des Keimprotoplasmas. Ich fand den
Grund ſeiner Beharrung in unverändertem
Zuſtand, während das ontogenetiſche Ma—
terial der Gewebsdifferenzirung unter—
worfen wird und ſeine embryonalen Eigen—
ſchaften verliert, darin, daß das phylogene—
tiſche Material von dem ontsgenetiſchen
eingekapſelt und ſo vor der Einwirkung
der in den umgehenden Medien vorhandenen
Differenzirungsurſachen geſchützt werde. Auf
Grund dieſes Schutzes bewahre das einge-
kapſelte Keimprotoplasma 1) ſeine embry⸗
onale Beſchaffenheit, 2) ſeine Spezifität. 3
Im folgenden möchte ich mich nun mit
den Vererbungserſcheinungen an dem onto—
genetiſchen Protoplasma-Material befaſſen
und unterſuchen, worin ſeine Spezifität in che—
miſcher Richtung beſteht, und wieſo es kommt,
daß auch das ontogenetiſche Protoplasma
bei den Wachsthums- und Anpaſſungsvor⸗
gängen während der Ontogeneſe ſeine Spe—
zifität trotz fortwährender Berührung mit
andern ſpezifiſchen Protoplasmaſtoffen und
welche reſervirt werde, um zur Zeit der Produkten hartnäckig bewahrt. Bei dieſer
Geſchlechtsreife die Fortpflanzungsſtoffe zu Unterſuchung werden wir dann auch einen
18 Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
intereſſanten Einblick in die Thatſache ge—
winnen, daß die verſchiedenen Organismen
in ſtets ſich gleichbleibenden, auf vererbten
Qualitäten ihres Protoplasmas beruhenden
biologiſchen Beziehungen zu einander ſtehen,
und daß die Träger dieſer Beziehungen
gerade die ſpezifiſchen Protoplasmabeſtand⸗
theile, ſpeziell die von mir als ſolche
bezeichneten Geſchmack- und Geruchſtoffe
ſind.
Der Auseinanderſetzung ſende ich die
Bemerkung voraus, daß ich bei einem Thiere
ſtets zweierlei Funktionen bezw. Qualitä⸗
ten unterſcheide: 1) Die elementaren,
d. h. die, welche jedem Protoplasmaſtück
oder, kurz, jeder einzelnen Zelle zukommen;
2) die ſociologiſchen, die bei den Mul-
ticellulaten damit gegeben ſind, daß ihr Leib
ein nach dem Prinzip der Arbeitstheilung
organiſirter Staat aus different gewordenen
Protoplasmaſtücken iſt. Allerdings werde
ich ſehr häufig genöthigt ſein, aus den ſo—
ciologiſchen Eigenſchaften auf elementare
zu ſchließen und damit iſt die Gefahr
zu Fehlſchlüſſen ſtets vorhanden. Ich
lege deßhalb auch meinen Erörterungen
nur den Werth einer anregenden Orien—
tirung bei.
Der intereſſanteſte Vorgang bei der
ontogenetiſchen Seite der Vererbung iſt die
Thatſache, welche die Phyſiologie kurzweg
als Aſſimilation bezeichnet, ohne bis
jetzt dieſen merkwürdigen Vorgang näher
analyſirt und noch weniger ſeine Bedeutung
für die Vererbungsfrage genügend gewür⸗
digt zu haben. Eine Hauptfrage iſt ja
doch: Wie kommt es, daß das Fleiſch des
fiſchfreſſenden Vogels ſich nicht in Fiſchfleiſch,
das des wurmfreſſenden Fiſches nicht in
Wurmfleiſch, das des diatomeenfreſſenden
Protiſten ſich nicht in Diatomeenprotoplasma
verwandelt?
Die erſte Frage iſt die: An welchem
chemiſchen Beſtandtheil der Nahrung iſt die
Aſſimilationsarbeit zu vollziehen? Die
Antwort iſt natürlich zunächſt die: An dem
ſpezifiſchen Beſtandtheile der Nahrung.
Wir haben lediglich keine Andeutung dafür,
daß die in der Nahrung enthaltenen Salze
und Kohlenhydrate Gegenſtand der betref—
fenden Aſſimilation ſind und auch für die
Fette iſt die Veränderung geringfügig.
Ich habe in meiner eingangs erwähnten
Abhandlung die Frage offen gelaſſen, welche
der bekannten Protoplasmabeſtandtheile der
Träger bezw. Erzeuger der ſpezifiſchen Ge—
ſchmack- und Geruchſtoffe ſei. Jetzt, nach
näherer Ueberlegung ſtehe ich keinen Augen—
blick an, zu behaupten, daß es die Albu⸗
minate entweder ganz allein oder höchſtens
neben ihnen noch die Lecithi n-Verbindun⸗
gen ſind.
In den Lehrbüchern der Zoochemie
wird angegeben, daß die Albuminate
geſchmack- und geruchlos ſind, daß ſie
aber bei Zerſetzung durch Säuren oder
Alkalien die ſpezifiſchen Fäcalgerüche
ihrer Träger entwickeln. Dieſe Thatſache
muß nun einerſeits für uns der Ausgangs-
punkt weiterer Unterſuchungen ſein, und ich
bin ſehr erfreut darüber, daß mein College
Dr. O. Schmidt, Profeſſor der Chemie an
der Thierarzneiſchule in Stuttgart, mir zuge—
ſagt hat, einſchlägige Verſuche in Verbindung
mit mir zu machen, da die vorliegenden
Angaben uns durchaus noch keine ſichere
Baſis geben. Andererſeits muß aber, ge
rade um ſolchen Verſuchen ihr. Ziel zu
ſtecken und die Wichtigkeit derſelben ins
Licht zu ſetzen, ein Räſonnement an dieſe
Thatſache angeknüpft, d. h. eine Hypotheſe
aufgeſtellt werden, deren Erhärtung oder
Verwerfung oder Richtigſtellung das Ziel
der empiriſchen Forſchung fein fol.
Dieſe Hypotheſe formulire ich jo:
Die Albuminate, welche wir in den ver—
ſchiedenen Thieren antreffen, find nicht völ—
lig einander gleich, ſondern beſtehen aus
einem, wahrſcheinlich bei allen Albumina⸗
ten gleichen Kern, mit welchem Atom-
gruppen verbunden ſind, die bei ihrer Los—
löſung aus dem Eiweißmolekül als die
ſpezifiſchen Geſchmack- und Geruchſtoffe ent—
weichen und dann durch andere zwar ähn⸗
liche, aber doch verſchiedene Atomgruppen
erſetzt werden können.
Der Prozeß der Aſſimilation beſtünde
ſomit darin: 1) Daß bei der Verdauung
die Albuminate ihrer Spezifität ent—
kleidet werden, indem ſich ihr Molekül
in zwei Atomgruppen hydrolytiſch ſpaltet;
die eine bei allen Albuminaten gleiche Atom—
gruppe wäre das Eiweißpepton, die
andere Atomgruppe wären die ſpezifiſchen
Geruch- und Geſchmackſtoffe. 2) Während
die letzteren ausgeſtoßen werden und unter
den Fäcalſtoffen ſich, wenn auch vielleicht
in etwas veränderter Form, als Fäcalgeruch
(und Geſchmack) finden müſſen, tritt das
Pepton in das lebendige Protoplasma ein,
trifft dort auf die ſpezifiſchen Geſchmack—
und Geruchſtoffe des Nahrungsnehmers,
die bei den Krafterzeugungsvorgängen die
begleitende Eiweißzerſetzung gebildet haben,
und tritt mit ihnen unter Waſſerabgabe
zuſammen, um wieder Eiweiß zu bilden,
aber das ſpezifiſche des Nahrungs-
nehmers.
Der Phyſiologe Hermann nennt die
Albuminate die Anhydrite des Pep—
tons und hat ſomit die Anſchauung, als
handle es ſich bei der Verdauung und
Aſſimilation nur um Ein- oder Austritt
von Waſſermolekülen, während meine
Auſchauung dahin geht, daß es ſich außer
dem Eintritt und Austritt von Waſſermo—
Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 19
lekülen auch noch um die der ſpezifiſchen
Geſchmack- und Geruchſtoffe, d. h. flüchti—
ger Fettſäuren oder deren Aether und
ſonſtiger Abkömmlinge handelt.
Die Aufgabe des experimentellen Che—
mikers iſt nun, zu prüfen, ob bei der Pep⸗
tonbildung aus einem möglichſt rein dar—
geſtellten Albuminat der ſpezifiſche Geruch
des Thieres, von welchem das Albuminat
ſtammt, oder wenigſtens ein verwandter
ſpezifiſcher Geruch auftritt, und ob die Pep⸗
tone, welche man aus den Albuminaten
verſchiedener Thiere bereitet, wirklich gleich
ſind, oder ob in ihnen doch noch eine ſpe⸗
zifiſche Atomgruppe ſteckt. Das iſt die
Aufgabe, welche Hr. Prof. Dr. O. Schmidt
und ich uns geſtellt haben.
Iſt dieſe Anſicht von Verdauung und Aſſi⸗
milation richtig, ſo beſteht die Zähigkeit der
Vererbung bei der Ontogenefe darin, 1) daß
alles fremdartige Albuminat nicht als ſolches.
in das Protoplasma des Nahrungsnehmers
aufgenommen, ſondern zuvor ent] pezifi⸗
zirt und dann aſſimilirt wird; 2) darin,
daß das eigene Albuminat des Nahrungs-
nehmers bei den Umwandlungen, die mit
ihm während der Ontogeneſe zweifellos 6
ftatt finden (bei der Bildung von Globu⸗
lin, Fibrin, Caſein, Haemoglobin, Nuclein
t.), ſeine Spezifität bewahrt, d. h. daß
hierbei ſeine ſpezifiſchen Atomgruppen nicht
abgeſchieden werden, ſondern daß die ein⸗
ſchlägigen Aus- und Eintritte anderer
Atomgruppen an anderen Punkten der Mo⸗
lekularſtruktur ſtattfinden.
Damit erweitert ſich unſere Vorſtellung
von dem Bau des Eiweißmoleküls dahin,
daß daſſelbe jedenfalls zweierlei Punkte
beſitzt:
1) Punkte, an welchen die ſpezifiſchen
Atomgruppen angefügt ſind, d. h. die⸗
jenigen, welche bei der Verdauung abge⸗
a
Ei
20
Verwandte erſetzt und bei allen denjenigen
Veränderungen, welche das Protoplasma
erleiden, ohne abzuſterben, nicht tangirt, ſon—
dern feſtgehalten werden, worauf die Zähig-
keit der Vererbung beruht. Ich möchte
dieſe Punkte des Kerns des Eiweißmole—
küls die Aſſimilations- und Ver⸗
erbungspunkte nennen.
2) Punkte, an welchen bei der Synto—
ninbildung das Säureradikal, bei der Ca—
ſeinbildung das Kali, bei der Hämoglobin—
bildung das Hämatin, bei der Nucleinbildung
das Lecithin dem Peptonkern ſich anfügen.
Da dieſe chemiſchen Vorgänge die ontoge—
netiſche (elementare) Anpaſſung
begleiten, ſo nenne ich dieſe Punkte die
Anpaſſungspunkte.
Vergleicht man dieſe beiderlei Punkte des
Molekularbaues, ſo findet man als characte—
riſtiſch Folgendes: Die erſteren halten ihre
Atomgruppen mit viel größerer Feſtigkeit zu—
rück als die letzteren, und Veränderungen an
den Anpaſſungspunkten rauben, trotz der Ver⸗
ſchiedenheit der an ihnen aus- und eintre—
tenden Atomgruppen dem Molekül ſeinen
ſchieden, bei der Aſſimilation durch andere
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
Charakter als Albuminat, und namentlich
ſeine Fähigkeit, eine lebendige Membran zu
bilden, nicht. Dagegen ſind Verände—
rungen an den Vererbungspunkten mit ein-
ſchneidenden Folgen verbunden, indem
mit Ablöſung der betreffendenden Atom
gruppen das Eiweißmolekül ſeine Fähigkeit,
eine lebendige Membran zu bilden, ver—
liert und ſein Atomgewicht bedeutend redu—
zirt wird, kurz, der Charakter des Albumi⸗
nats verloren geht und erſt wieder herge—
ſtellt wird, wenn eine verwandte Atom—
gruppe eintritt. ö
Damit haben wir eine ganz beſtimmte,
an die Anſchauungen der theoretiſchen Che—
mie möglichſt eng ſich anſchließende Vor⸗
ftellung von den merkwürdigen, wie es
ſcheint ſich widerſprechenden Eigenſchaften
des Albuminats, nämlich der Vererbungs—
fähigkeit und der Anpaſſungsfäh—
igkeit, d. h. daß es gewiſſe Qualitäten
mit außerordentlicher Zähigkeit feſthält, an—
dere Qualitäten leicht ändert.
Verknüpfen wir mit dem Geſagten noch
eine Vorſtellung über das, was bei
der von der Descendenztheorie geforderten
Trans mutation an dem Eiweißmokül
vor ſich gehen muß. Wenn die Grundan—
ſchauung, von der ich ausgehe, richtig iſt,
daß die Spezifität des Eiweißmoleküls in
dem Beſitz der eigenartigen, bei ihrer Be—
freiung ſchmeckenden und riechenden Atom—
gruppen liegt, die an den Aſſimilations—
und Vererbungspunkten des Molekülkerns
hängen, fo handelt es ſich bei der Trans—
mutation um einen ähnlichen Vorgang wie
bei der Aſſimilation, d. h. um einen Wech—
ſel der an den Aſſimilations- und Berer-
bungspunkten hängenden ſpezifiſchen Atom—
gruppen. Wenn wir deshalb die Transmu—
tation nach Darwins Vorſchlag Anpaſ⸗
ſung nennen, ſo müſſen wir, wie das auch
ſchon andere gethan haben, ganz genau
zwiſchen der ontogenetiſchen Anpaſ⸗
fung und der phylogenetiſchen An—
paſſung, wie man dann die Transmu—
tation zu nennen hätte, unterſcheiden. Auf
der anderen Seite iſt aber klar, daß für
das Verſtändniß der die wiſſenſchaftlichen
Zoologen ſo tief intereſſirenden Vererbungs—
und Transmutationserſcheinungen ein mög—
lichſt genaues Studium der Molefularvor-
gänge bei der Verdauung und der Aſſi⸗
milation grundlegend ſein muß, und des—
halb erlaube ich mir den Vorgang noch
nach einer anderen Seite hin zu beſprechen.
Oben ſagte ich, die Zähigkeit des onto-
genetiſchen Theils der Vererbung beruhe
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Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 21
darauf, daß bei der Ernährung das frem⸗ | ſich ſelbſt nicht. Die eine Seite der Les
de Albuminat nicht als ſolches in das Pro- benserſcheinungen, die von den Albuminaten
| ausgehen, iſt mithin zu verſtehen als die
ſich alſo nicht mit ihm miſchen kön
toplasma des Nahrungnehmers eintreten,
ne, daß es vorher entſpezifizirt d. h. pep—
toniſirt werde und erſt dann eintreten
könne. Es erheben ſich nun zwei Fragen:
1) Warum kann es nicht als ſolches ein—
treten; 2) wodurch wird es peptoniſirt?
Die erſte Frage iſt durch Traube's
glänzende und kapitale Verſuche über künſt⸗
liche Zellbildung beantwortet und dadurch
zugleich die höchſt merkwürdige domini—
rende Stellung erklärt worden, welche
die Albuminate unter allen organiſchen Ver-
bindungen einnehmen und die wir uns
etwas näher beſehen müſſen, weil ſie für
das Verſtändniß aller Lebenserſcheinungen,
mithin auch für das der Vererbung von
größter Wichtigkeit ſind.
Traube hat uns gelehrt, daß ein
membranbildender Stoff auch dann,
wenn er in Löſung ſich befindet, durch
ſeine eigene Membran nicht dif—
fundiren kann, was er ſo deutet:
Wenn ein Stoff eine Membran for-
mirt, ſo lagern ſich ſeine Moleküle ſo, daß
die zwiſchen ihnen bleibenden Lücken kleiner
ſind als die Moleküle ſelbſt, was auch
augenſcheinlich eine phyſikaliſche Nothwendig—
keit iſt.
Die eigenthümliche beherrſchende Stel—
lung, welche die Albuminate unter allen
übrigen
einnehmen, beruht zunächſt darauf, daß
ſie das größte Molekül beſitzen.
Kraft dieſer Eigenſchaft können Eiweiß—
membranen allen übrigen chemiſchen
Verbindungen, ſofern dieſe überhaupt in
dem umſpülenden Medium löslich ſind und
das Eiweißmolekül nicht gänzlich zerſtören,
den endosmotiſchen Eintritt geſtatten, nur
membran den niederatomigen oxydablen
Kohlenhydraten und Fetten ſouverain gegen⸗
ſtimmten
membranbildenden Verbindungen
Verbindungen umwandeln.
die Albuminate
Herrſchaft des größten Moleküls
über alle kleineren und der phyſikaliſchen
Unmöglichkeit der Autophagie eines
Membranbildners.
Eine zweite Seite iſt, daß nur die
Albuminate im Stande ſind, eine lebendige
Membran zu bilden, d. h. eine Membran,
die nach dem Princip einer voltaiſchen Säule,
d. h. aus zwei in elektromotoriſchem Span—
nungsverhältniß ſtehenden, zu ellektriſch—
dipolaren und Peripolaren Molekülen ſich
gruppirenden Beſtandtheilen aufgebaut iſt,
wodurch fie in den Beſitz einer auslöſen—
den Kraft gelangt, mit der ſie allen
in fie eintretenden Stoffen, die leicht oxydir—
bar ſind, den Anſtoß zur Zerſetzung geben
kann.
Die dritte Seite iſt die Fähigkeit
der Albuminate zur Aufſpeicherung und
Ozoniſirung des Sauerſtoffs. Im Beſitze
des Ozons, der zur Auslöſung nöthi—
gen elektriſchen Kraft und des größten
Moleküls, tritt die lebendige Albuminat⸗
über; fie läßt fie durch ihre großen Lücken,
herein (das Fett allerdings nur unter be—
Vorausſetzungen) und mordet
ſie, ſo daß ſie ihm nichts anhaben können.
Dazu kommt nun noch, daß die lebendige
Eiweißmembran hydrolytiſche Fermente ab—
ſondert, die auf die unlöslichen Kohlenhydrate
per Diſtanz wirken und ſie in diffuſible
Dadurch ſind
vor Veränderungen, die
von dieſen Stoffen, mit denen fie fort-
während in Berührung kommen, ausgehen
könnten, in hohem Grade ſicher geſtellt.
Wenden wir uns jetzt noch einmal zu
N.
22
dem Prozeß der Eiweiß verdauung,
um ihn von einer andern Seite zu be—
trachten, bei der ſich die merkwürdige Rolle
der Geſchmack- und Geruchſtoffe als Träger
des Nahrungsinſtinktes, als auf ele—
mentaren Verhältniſſen beruhend, ergeben
wird. Ich muß aber hier eine Be—
merkung vorausſenden.
Unſer Einblick in die Beziehungen zweier
ſpezifiſch verſchiedenen Albuminate bei den
Ernährungsvorgängen wird dadurch ſo ſehr
getrübt und erſchwert, daß wir dieſe Vor—
gänge immer nur bei den höchſten, einen
äußerſt complizirten Zellſtaat bildenden
Organismen ſtudiren. Wir haben uns
deshalb daran gewöhnt, bei dem Wort
„Verdauung“ an die ganze Maſchinerie von
Darmdrüſen, Verdauungsfäften,
niſche Verdauungsarbeit ꝛc. zu denken und
vergeſſen ganz, daß ein Protiſt, der nichts
anderes iſt als eine lebendige Eiweißmembran,
ebenſogut eine andere,
Eiweißmembran d. h. eine Diatomee oder
ein Geißel- oder Flimmerinfuſorium frißt und
verdaut, daß alſo die Verdauungsfähigkeit
eine elementare Eigenſchaft des Proto—
plasmas d. h. wahrſcheinlich jeder leben—
digen Eiweißmembran iſt.
Wir finden es völlig begreiflich und
eigentlich gar nicht des Beſprechens werth,
daß die Katze die Maus frißt und ver—
daut, und belächeln die Frage, warum
frißt nicht umgekehrt die Maus die Katze?
Es iſt zu augenſcheinlich, daß der Proto-
plasmaſtaat, den wir „Katze“ nennen, dem
Protoplasmaſtaat „Maus“ ſo ſehr über—
legen iſt wie ein Großſtaat einem Klein-
allein neben dieſem ſociologi-⸗
ſtaat;
ſchen Mißverhältniß iſt denn doch noch
zu unterſuchen, ob die Katze über die Maus
auch noch eine elementare d. h. in der ſpe⸗
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
mecha-
ebenfalls lebendige
zifiſchen Qualität ihres Protoplasmas lie—
gende Ueberlegenheit beſitzt.
Dieſe Frage wird uns nicht nur durch
das Verhältniß nahe gelegt, in welchem
die Protiſten und Unicellulaten zu ein-
ander ſtehen, ſondern auch durch die bio—
logiſchen Beziehungen und durch die Rolle,
welche hierbei gerade die ſpezifiſchen
Stoffe d. h. die ſchmeckenden und riechen—
den ſpielen. Wir wiſſen daß ein Thier für's
erſte nur ſolche Gegenſtände frißt,
die riechen und ſchmecken (die Aus—
nahme, daß die körnerfreſſenden Vögel auch
Quarzkörner verſchlucken, ſtößt dieſe Regel
nicht um), und fürs zweite nur ſolche Gegen—
ſtände, welche einen beſtimmten d. h. ſpe—
zifiſchen Geſchmack und Geruch beſitzen, der
wiederum eine ganz beſtimmte Qualität,
nämlich die des Angenehmen haben
muß; eine Qualität, welche nichts dem
ſchmeckenden und riechenden Stoff abſolut
Zukommendes, ſondern nur der Aus—
druck für ein Gegenſeitigkeits ver—
hältniß iſt.
Die Kehrſeite zu der Thatſache, daß
ein Thier nur frißt, was gut ſchmeckt und
gut riecht, iſt die bisher faſt gar nicht er—
örterte, aber ebenſo feſtſtehende Thatſache,
daß die Geſchmack- und Geruchſtoffe, die
ein Raubthier produzirt, auf ſein Beute—
thier den gerade entgegengeſetzten
Eindruck machen: ſie wirken auf daſſelbe un—
angenehm, abſtoßend, ekelerregend.
Wenn die Biologen ſagen: Das Thier
flieht ſeinen Feind inſtinktmäßig,
ſo ſage ich beſtimmter: es flieht ihn,
weil er „ſtinkt“. Daraus ergiebt ſich
nun, daß die ſpezifiſchen Geſchmack- und
Geruchſtoffe in ganz beſtimmte Beziehungen
treten, wenn zwei verſchiedene auf einander
treffen: Die einen wirken als Ekelſtoff,
die andern entgegengeſetzt als Lüſtern⸗
188
RT
heitsſtoff. Damit iſt jedoch nur die
eine Beziehungsart zwiſchen den ſpezifiſchen
Stoffen gekennzeichnet, die zweite Beziehungs—
art iſt die der Indifferenz d. h. die
Stoffe wirken gar nicht auf ihre Erzeuger,
ſind alſo befreundete oder Freund—
ſchaftsſtoffe.
Suchen wir dieſe Beziehungsart in die
chemiſche Sprache zu überſetzen, ſo können
wir etwa ſo ſagen: Wenn zwei verſchiedene
Albuminate auf einander treffen, ſo hängt
das Ergebniß (abgeſehen von der Lebens—
frage) davon ab, wie ſich die ſpezifiſchen
Atomgruppen zu einander verhalten; ſind
ſie gleich, ſo wirken ſie gar nicht auf ein—
ander ſchemiſcher Horror gegen Auto—
phagie, Freundſchaftsverhältniß); ſind ſie
verſchieden, ſo iſt die mächtigere Atomgruppe
der Ekelſtoff, die ſchwächere der Lüſtern—
heitsſtoff; die erſtere verdrängt zunächſt
die letztere (Verdauung und Pepton—
bildung) und ſetzt ſich an ſeine Stelle
(Aſſimilation), ähnlich, aber uicht ſo
direkt wie eine ſchwächere Säure durch eine |
ſtärkere verdrängt wird.
Dabei muß aber bemerkt werden, daß
es durchaus nicht gleichgültig iſt, ob die
beiden in Kampf tretenden Albuminate todt
oder lebendig ſind.
mechaniſche Kraft.
Greifen wir aus
dieſer Caſuiſtik einige Verhältniſſe heraus:
1) Beide Albuminate find todt. In
dieſem Fall wird nichts geſchehen, was uns
für unſere Frage intereſſirt.
2) Das eine iſt todt, das andere
lebendig.
Hier ſind wieder zwei Fälle
zu unterſcheiden: a) Iſt der Träger des Lü
weil es durch Erſtickung getödtet wird und
ſternheitsſtoffes todt, der Ekelſtoffträger
lebendig, ſo wird der erſtere natürlich ohne
weiteres verdaut und reſorbirt; b) iſt der
Ekelſtoffträger todt und der Lüſternheits—
ſtoffträger lebendig, ſo kann dreierlei ein—
treten: der erſtere kann, wenn der Efelftoff,
Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 23
der ja auch ſchon jetzt frei im Albuminat
liegt und auch bei der Peptonbildung ab—
geſchieden wird, den Lüſternheitsſtoffträger
noch im Tode überwältigen, in dieſem Falle
nennen wir den Ekelſtoffträger ein Gift.
Die zweite Möglichkeit iſt, daß der Lüſtern—
heitsſtoff nicht kräftig genug iſt, um den
Ekelſtoff auch im todten Zuſtande auszu⸗
treiben, dann läge das Verhältniß der
Unverdaulichkeit vor; der dritte
Fall iſt, daß die Verdauung doch gelingt,
weil bei dem Lüſternheitsträger der Faktor
des Lebendigſeins gegenüber dem todten
Ekelſtoffträger zur Geltung kommt und
zwar durch elektrolytiſche Austreibung und
Zerſtörung des Ekelſtoffes.
3) Sind beide Albuminate lebendig,
ſo handelt es ſich um einen Albuminat—
kampf, der mit zweierlei Waffen, nämlich
mit chemiſchen und phyſikaliſchen geführt wird.
Es wird nicht blos Ekelſtoff gegen Lüſtern-
heitsſtoff ins Feld geführt, ſondern auch elek—
trolytiſche Kraft gegen elektrolytiſche Kraft,
und mechaniſche Kraft (Contraktilität) gegen
Das Reſultat iſt wie
bei jedem Kampf, daß der ſchwächere
Theil unterliegt und in dieſem Falle
wird er auch noch gefreſſen. Alſo hier
entſcheidet die chemiſche Differenz nicht immer
unbedingt direkt, ſondern auch indirekt da-
durch, daß ſie die Grundlage phyſikaliſcher
Differenzen iſt. Wenn z. B. das hochamöboide
Protoplasma eines Protiſten eine Diatomee
oder ein Infuſorium umfließt und einkapſelt,
ſo nützt letzterem auch eine allenfallſige
chemiſche Ueberlegenheit ſchließlich nichts,
jetzt eine ſeiner Waffen d. h. feine phyſika—
liſche, verloren hat.
Hier ſoll eine, wie mir ſcheint, unter
obigen Geſichtspunkt fallende Beobachtung
angeführt werden.
£
7 {a 9 u
W ER n ur
24 Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
Die Ophthalmologen haben wiederholt
die Bindehaut eines lebenden Kaninchens
auf das Auge eines lebenden Menſchen
transplantirt. Sie wächſt an, bleibt leben—
dig und wird zum Schluß doch regel—
mäßig verzehrt. Es wäre nun von
höchſtem Intereſſe für die Theorie der all—
gemeinen Zoologie, zu wiſſen, wie die Sache
zu erklären iſt und zu dieſem Zweck kom—
parative Transplantationsverſuche, nament—
lich zwiſchen Raubthieren und ihren Beute—
thieren übers Kreuz zu machen, um zu
ſehen, ob es ſich hier um den Fall einer
elementaren Ueberlegenheit des einen
Albuminats über das andere, alſo um den
Fall, den ich oben unter Nr. 3 beſprochen
habe, handelt. Jedenfalls begründet das
Gegenſtück zu obigem Transplantationser—
gebniß, die erfolgreiche und dauerhafte Trans—
plantation, wenn man den aufs oder ein-
zuheilenden Theil dem gleichen Thiere oder
wenigſtens der gleichen Thierart entnimmt,
den Verdacht, daß nicht etwa eine mit der
Operation nothwendig verbundene Schä—
digung der Lebensenergie die Reſorption
der aufgepflanzten Kaninchenbindehaut ver—
ſchuldet, ſondern wahrſcheinlich die ange—
borene chemiſche Differenz zwiſchen Meuſchen—
eiweiß und Kanincheneiweiß.
Sollte dieſe meine Auffaſſung ſich be—
ſtätigen, was ja durch Experimente ge—
ſchehen kann, ſo wäre das ein nicht zu
unterſchätzender Fortſchritt zu Gunſten einer
mechaniſchen Anſchauung der Lebenser—
ſcheinungen und zunächſt ein Verſtändniß
der Vererbung. Denn wir hätten jetzt eine
völlige Erklärung des Nahrungsin—
ſtinktes, alſo einer der merkwürdigſten der
ererbten Eigenſchaften. Das unendlich
komplizirte biologiſche Getriebe, das von
den ſpezifiſchen Nahrungsinſtinkten ausgeht,
würde ſich in das merkwürdig einfache und
dem chemiſchen Verſtändniß ſehr nahe ge—
rückte Geſetz auflöſen, daß das ſtärkere
Albuminat ſtets Jagd auf das
ſchwächere macht, letzteres das erſte
ſtets flieht und daß gleichſtarke Albu—
minate ſich indifferent gegen einander
verhalten.
Wir müſſen nun aber die vorgelegte
Anſchauung in einem Punkte noch etwas
genauer präciſiren. Die Phyſiologie lehrt
uns, daß zur Eiweißverdauung ein be
ſtimmtes Ferment, das Pepfſin gehört,
daß dieſes von gewiſſen Drüſen des Darm—
ſchlauches abgeſondert wird und daß dieſes
durchaus nicht identiſch mit den ſpezifiſchen
Geſchmack- und Geruchſtoffen iſt.
Dadurch erweitert ſich unſere Vor—
ſtellung von dem Eiweißmolekül dahin, daß
es außer ſeinem Peptonkern und den rie—
chenden und ſchmeckenden Atomgruppen noch
eine dritte Atomgruppe beſitzt, die bei ihrer
Loslöſung aus dem Molekül als eiweiß—
zerlegendes Ferment (Pepſin) wirkt.
Iſt nun meine Lehre vou der Spezi—
fität der Albuminate und dem elementaren
Albuminatkampfe richtig, jo muß die Fähig⸗
keit der Pepſinbildung eine elementare
Eigenſchaft aller Protoplasma—
arten ſein und nicht eine ſpezifiſche ge—
wiſſer Drüſenprotoplasmen. In der That
hat man auch bereits in den Muskeln
Pepſin nachweiſen können, und die Angabe
der Phyſiologie, daß alle Albuminate die
Rolle von Fermenten ſpielen können, wäre
dahin zu erweitern, daß jedes Albuminat
pepſigen iſt.
Jetzt würde ſich der oben beſprochene
Kampf zweier ungleich ſtarken Albuminate
ſo ausnehmen: SP
Das ſchwache Albuminat erregt durch
die bei ſeiner Zerſetzung frei werdenden
Lüſternheitsſtoffe das ſtärkere zu ver—
Zunahme eines
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
mehrter phyſiologiſcher Thätigkeit (Be—
ſchleunigungs reiz). Die Folge dieſer
Thätigkeit im ſtärkeren Protoplasma iſt
eine Zerſetzung eines Bruchtheils ſeiner
Eiweißmoleküle (Albuminatabnutzung). Hier—
bei ſpaltet ſich das Albuminat in dreierlei
Atomgruppen, die Ekelſtoffe, das
pepſinartige Ferment und einen
Kern (Peptonkern), der durch weitere Zer—
ſetzung die bekannten Amidoſäuren, Amide
und verwandte Stoffe der rückſchreitenden
Metamorphoſe liefert, die den Körper ver—
laſſen.
Der Ekelſtoff wirkt zuerſt als Läh⸗
mungsreiz auf das ſchwächere Protoplas—
ma und erſt, wenn das geſchehen iſt, thut
das Pepſin ſeine Schuldigkeit als eiweiß—
zerſetzendes Ferment und verwandelt das
ſchwächere Albuminat in Pepton, wobei
es entſpezialiſirt wird. Bei der Aſſimila—
tion bemächtigt ſich dann der freigewordene
Ekelſtoff direkt oder auf Umwegen des
gebildeten Peptons. Hier iſt nun die
Thatſache beizufügen, daß niemals alles
Pepton zur Aſſimilation gelangt, denn die
wachſenden Thieres an
Albuminatgewicht bleibt ſtets weit hinter
der Maſſe des in der Nahrung aufge—
nommenen Albuminates zurück. Es ergiebt
ſich die Nothwendigkeit dieſer Thatſache auch
einfach aus folgendem:
Wenn meine Anſchauung richtig iſt, daß
die Aſſimilation gleichbedeutend iſt mit einer
Syntheſe von Pepton und den Ekelſtoffen,
ſo können letztere nur ſo viel Pepton ſättigen,
als ſie geſättigt hatten, ſo lange ſie im
Eiweißmolekül des Nahrungsnehmers ſich
befanden. Sonach könnte die Menge des
durch Aſſimilation gewonnenen Eiweißes
nie mehr betragen, als die zur Verdauungs-
arbeit nöthige Albuminatabnutzung des ſtär⸗
keren Albuminates betrug; ja nicht einmal
jo viel, weil bei der flüchtigen und diffu-
ſibeln Natur der Efelftoffe jedenfalls ſtets
ein Theil verloren geht.
Dem ſteht die Thatſache entgegen, daß
das Ergebniß der Aſſimilation wenigſtens
in der Wachsthumsperiode eine Maſſezu—
nahme iſt. Hieraus erhellt, daß es außer
der Freimachung der Efelftoffe bei der Al—
buminatzerſetzung noch eine Quelle für ihre
Neubildung geben muß. So wie die Sache
liegt, können wir nur vermuthen, daß dieſe
Quelle die Lüſternheitsſtoffe des
ſchwächeren Albuminats ſind, die bei der
Peptonbildung freigemacht wurden.
Somit würde dann in letzter Juſtanz
es ſich auch noch um eine der Eiweißaſſi—
milation vorausgehende Aſſimilation der
ſpezifiſchen Schmeck- und Riechſtoffe handeln,
ein Vorgang, der jedenfalls chemiſch nicht
undenkbar iſt, allein bei unſerer Unkenntniß
von der Natur der ſpezifiſchen Geſchmack—
und Geruchſtoffe uns vorläufig ein Räthſel
bleibt.
Es erübrigt jetzt noch die nähere Prä—
ziſirung eines zweiten Ausſpruchs, den ich
über die ſpezifiſchen Geſchmack- und Ge—
ruchſtoffe gethan habe, daß ſie nämlich auch
die Träger des Fortpflanzungs in-
ſtinktes ſeien. Ich will jedoch dieſe Erör—
terung für einen folgenden Brief aufſparen.
Die Urkunden der Atammesgelchichte.
Von
Ernſt Haeckel.
or auf Die 10 0
. der Wiſſenſchaft, und vor allen
der Naturgeſchichte ausübt, hat
auf keinem derſelben raſcher gewirkt und reichere
Früchte hervorgerufen, als auf dem Gebiete der
organiſchen Morphologie, der Formenlehre
der Thiere und Pflanzen. Hier ſind zu—
nächſt in Folge der neu begründeten Ab-
ſtammungslehre verſchiedene wichtige Zweige
der Forſchung, welche bis dahin mehr oder
minder getrennt neben einander liefen, in
die innigſte Verbindung und Wechſelwir—
kung getreten. Innere und äußere Form—
betrachtung, vergleichende Anatomie und
Syſtematik, Embryologie und Paläontologie
haben ſich in dem erklärenden Lichte der
Deſcendenz-Theorie als innig verbundene
Wiſſenſchaftsfächer erkannt, welche auf ver—
ſchiedenen Wegen nach einem und demſelben
Ziele hinſtreben, nach dem Verſtändniß der
organiſchen Formen durch die Erkenntniß
ihrer hiſtoriſchen Entſtehung. Daraus aber
hat ſich eine neue Wiſſenſchaft entwickelt,
welche unmittelbar die Erkenntniß dieſer
urſprünglichen Entſtehung im genealogi—
ſchen Zuſammenhange der blutsverwandten
Thiere und Pflanzen anſtrebt, und welche
in dem Stammbaum derſelben das
wahre „natürliche Syſtem“ der Formen
zu entdecken trachtet; dieſe neue Wiſſen—
ſchaft iſt die Stam mesgeſchichte oder
Phylogenie.
Jede neue Wiſſenſchaft hat zunächſt mit
der Mißgunſt und Eiferſucht ihrer älteren
Schweſtern zu kämpfen, welche von ihr
eine Beeinträchtigung ihrer älteren, wohl—
erworbenen Rechte fürchten, und zwar um
ſo mehr, je höher die Aufgaben ſind, welche
ſich der neue Ankömmling ſtellt, je weiter
der Wirkungskreis, den er für ſich zu
gewinnen ſtrebt. Da gilt es denn, die junge
Kraft im harten Kampfe um's Daſein zu
bewähren und gleich der jungen Keim—
pflanze im dichtbeſäten Felde, Bodenraum,
Licht und Luft den neidiſchen Schweſtern
abzuringen. So hat eine der jüngſten und
hoffnungsvollſten Wiſſenſchaften, die ver—
gleichende Sprachforſchung, erſt in heißem
Kampfe mit den älteren Disciplinen der
Philologie ſich ihre Geltung erringen müſ—
ſen. Und ſo iſt auch der Stammesgeſchichte,
deren Ziele und Wege denen der ver—
gleichenden Sprachforſchung nahe verwandt
ſind, jener nothwendige Kampf um's Da-
ſein nicht erſpart geblieben.
Als wir vor zehn Jahren in der „ge—
nerellen Morphologie“ den erſten Verſuch
wagten, Begriff und Aufgabe der Stam—
mesgeſchichte feſtzuſtellen, Ziele und Wege
der Phylogenie abzuſtecken, da begegnete
dieſer Verſuch faſt überall nur Mißtrauen
und Achſelzucken, vielfach Hohn und An—
feindung. Wie will dieſe anſpruchsvolle
Stammesgeſchichte die Geheimniſſe der or—
ganiſchen Schöpfung enthüllen? Wie will
ſie die Abſtammung der zahlloſen Thier—
und Pflanzen-Geſtalten von einfachſten ge—
meinſamen Stammformen nachweiſen? Wie
will ſie den hypothetiſchen Stammbaum
der Organismen begründen? Und welche
Urkunden ſtehen ihr bei dieſer praehiſtori—
ſchen Geſchichtsforſchung zu Gebote? Solche
und ähnliche Zweifel an der Möglichkeit,
geſchweige denn am Erfolge der phylogene—
tiſchen Forſchung wurden überall laut, und
wer nicht näher mit dem Gebiete der or—
ganiſchen Morphologie und mit dem un—
geheuren Metall-Vorrath ihres noch unge—
prägten Wiſſensſchatzes vertraut war, der
konnte unſer Beginnen gleich von vornhe—
rein für hoffnungslos und verfehlt er—
klären.
Und wie liegt die Sache heute, nach—
dem kaum zehn Jahre verfloſſen ſind?
Nun, wir dürfen wohl mit den Erfolgen
dieſes erſten Decenniums der Phylogenie
recht zufrieden ſein und uns das Gefühl
des entſcheidenden Sieges über unſere Geg—
ner wohl gönnen! Nicht allein iſt die
Stammesgeſchichte allgemein in der „Na—
turgeſchichte“, in der Biologie zu ſelbſtſtän—
diger Geltung und Anerkennung gelangt,
nicht allein bilden phylogenetiſche Vorſtel—
lungen und Grundſätze bereits einen weſent—
lichen Beſtandtheil der beſten Lehr- und
m T—
Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 27 |
Handbücher, ſondern auch zahlreiche werth—
volle Special-Forſchungen über einzelne Auf—
gaben der Phylogenie ſind bereits begonnen
und haben theilweiſe ſchon die glänzendſten
Reſultate zu Tage gefördert. Ja, wir er—
leben ſchon heute den Triumph, daß viele
unſerer Gegner ſich völlig bekehrt haben
und den ſchwierigen, von uns zuerſt betrete—
nen, von ihnen für ungangbar erklärten
Pfad nunmehr ſelbſt verfolgen. Die tüch—
tigſten Zoologen und Botaniker aber haben
die phylogenetiſche Methode einſtimmig an—
genommen und durch Anwendung derſelben
bereits Erfolge erlangt, deren ſie ohne die—
ſelbe nimmermehr theilhaftig geworden wä—
ren. Ja ſogar die „berüchtigten“ Stamm⸗
bäume, deren ſich die phylogenetiſche Spe—
cialforſchung mit großem Nutzen als des
einfachſten, klarſten und überſichtlichſten
Ausdrucks ihrer heuriſtiſchen Hypotheſen
bedient, find zu unerwartet raſcher Aner-
kennung gelangt und werden allgemein in
der Morphologie verwerthet. Zwar fehlt es
auch heute noch nicht an Stimmen, welche
alle dieſe phylogenetiſchen Beſtrebungen für
leere Spielereien halten, und noch kürzlich
konnten wir aus dem Munde angeſehener
Phyſiologen hören, daß unſere „Stamm—
bäume etwa jo viel werth find, wie in
den Augen der hiſtoriſchen Kritik die Stamm—
bäume homeriſcher Helden.“ Allein dieſe
und ähnliche wegwerfende Aeußerungen be—
weiſen nur, daß die betreffenden Phyſiolo—
gen mit dem gegenwärtigen Zuſtande der
Morphologie völlig unbekannt ſind, und
von deren Inhalt und Bedeutung gar keine
Vorſtellung haben. Auch iſt zwiſchen den
Zeilen der ſtille Kummer zu leſen, daß
die Phyſiologie in ihrer heutigen einſeitigen
Richtung die Abſtammungslehre nicht zu ge—
brauchen verſteht, während die Morphologie
mittelſt derſelben die größten Reſultate er—
A
zielt hat. So wenig aber ſolche Ignoranten—
Urtheile die Bedeutung der vergleichenden
Anatomie ſchmälern, die ſeit 70 Jahren, oder
der Syſtematik, die ſeit 140 Jahren feſte
Wurzel gefaßt und Tauſende fleißiger Arbei—
ter beſchäftigt hat, ſo wenig wird dadurch
der Werth der Phylogenie beeinträchtigt,
welche zugleich das jüngſte und das hoff—
nungsvollſte Kind der wiſſenſchaftlichen Mor—
phologie iſt.
Immerhin iſt auch heute noch die
Werthſchätzung der Stammesgeſchichte, ſo—
wohl in den engeren Kreiſen der morpho—
logiſchen Fachgenoſſen, als auch in den
weiteren Kreiſen der gebildeten Laien ſehr
verſchieden, und namentlich gehen die An—
ſichten darüber weit auseinander, welchen
Werth die empiriſchen Urkunden der Phy-
logenie, und welche Sicherheit demgemäß
die darauf gegründeten Hypotheſen und
Stammbäume beſitzen. Daher erſcheint es
wohl angemeſſen, an dieſem Orte einen
prüfenden Blick auf die Urkunden der
Stammesgeſchichte zu werfen und zu
fragen, wie weit wir uns beim Ausbau
unſerer phylogenetiſchen Hypotheſen auf
„handgreifliche Thatſachen“ ſtützen können.
Zwar haben wir unſere Anſichten über
Werth und Bedeutung der verſchiedenen
„Schöpfungs-Urkunden“ ſchon in unſerer
„natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (VI.
Auflge., 15. Vortrag) und „Anthropogenie“
(UI. Auflge., 15. Vortrag) ausgeſprochen.
Allein gerade in neueſter Zeit gehen die
Anſichten anderer Naturforſcher darüber
noch ſehr auseinander und iſt es daher
nicht überflüſſig, die einſeitige Ueberſchätz—
ung oder Unterſchätzung der wichtigſten Ur—
kunden auf ihren wahren Werth zurückzu⸗
führen.
Im Grunde genommen, giebt es eigent—
lich kein Gebiet der „Naturgeſchichte“, wel—
28 Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte.
ches uns nicht mehr oder minder werth-
volle Urkunden für unſere Stammesge—
ſchichte lieferte. Nicht allein alle Zweige der
Morphologie, ſondern auch verſchiedene
Zweige der Phyſiologie — z. B. die Cho⸗
rologie, die Lehre von der geographiſchen
und topographiſchen Verbreitung der Or—
ganismen — liefern uns Thatſachen, welche
wir mittelbar oder unmittelbar für die
Phylogenie verwerthen können. Aber vor
allen anderen Wiſſenſchafts-Zweigen treten
doch drei als die vornehmſten und wichtig—
ſten Stammesurkunden in den Vordergrund:
Die vergleichende Anatomie, Onto—
genie, und Paläontologie.
Als die zuverläſſigſte und nächſtliegende
aller Schöpfungs-Urkunden gilt noch heute
vielfach die Paläontologie, die Ver—
ſteinerungslehre. Denn die „Verſteine—
rungen oder Petrefacten“ von Thieren und
Pflanzen, die wir in den Sedimentgeſteinen,
d. h. in den aus dem Waſſer abgelagerten
Schichten unſerer Erdrinde vorfinden, ſind
ja wirklich die verſteinerten Reſte oder Ab-
drücke von jenen längſt ausgeſtorbenen
Organismen, die vor Hunderttauſenden
und vor vielen Millionen von Jahren
unſeren Erdball bevölkerten. Unter dieſen
müſſen ſich alſo, der Entwicklungslehre
entſprechend, theils die wirklichen Vorfahren
der heute noch lebenden Thier- und Pflanzen⸗
Arten, theils nähere oder entferntere Ver—
wandte jener ausgeſtorbenen Vorfahren be—
funden haben. Daher ſetzen denn auch viele
Naturforſcher, und namentlich ſolche, welche
gern möglichſt ſicher und exact gehen wollen,
aber auch ſolche, welche der Paläontologie
ferner ſtehen, auf ſie die größten Hoffnungen
und betrachten fie als die einzige zuver—
läſſige Urkunde der Stammesgeſchichte.
Wie höchſt bedeutungsvoll und wichtig
die Verſteinerungen als die wirklichen „Denk—
ER A,
ab Schritt für
geſchichte vieler
münzen der Schöpfung“ ſind, das iſt heute
allgemein anerkannt. Sie allein belehren
uns unmittelbar über das Auftreten und
den hiſtoriſchen Formenwechſel der ver—
ſchiedenen Thier- und Pflanzen-Klaſſen in
der langen Reihenfolge der Schöpfungs—
Perioden, die ſich auf Millionen von Jahren
beziffern. Sie allein zeigen uns handgreif—
lich, welchen Reichthum verſchiedener Arten
die einzelnen Gruppen des Thier- und
Pflanzenreichs in den verſchiedenen Ab—
ſchnitten der Erdgeſchichte enthalten. Sie
allein ſetzen uns in den Stand, uns ein
allgemeines Bild von der charakteriſtiſchen
Phyſiogonomie der Thier- und Pflanzen—
Bevölkerung in den verſchiedenen Geſchichts—
Epochen unſeres Planeten zu entwerfen. End-
lich werden wir auch allein durch die Ver—
ſteinerungen darüber belehrt, wie die ſpecielle
Stammesgeſchichte einzelner Arten und Gat—
tungen, der detaillirte Stammbaum der
Species und Genera, Stufe für Stufe und
- Zweig für Zweig zu verfolgen iſt. So find
wir z. B. neuerdings durch überraſchende |
paläontologiſche Entdeckungen in den Stand
Pferdes bis zu tapirartigen Vorfahren hin—
Schritt
Ebenſo können wir auch die Ahnen Reihe
unſres Rindes und unſres Schweines mit
zu erkennen.
geſetzt worden, den Stammbaum unſeres |
Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 29
überſchätzt wird. Denn ſo werthvoll
und unerſetzlich dieſe nächſte und ſicherſte
aller Schöpfungs-Urkunden einerſeits an ſich
auch iſt, ſo ſehr verliert ſie andrerſeits an
Werth durch ihre außerordentliche Unvoll—
ſtändigkeit. Dieſe beruht theils auf
der Beſchaffenheit der Organismen, theils
auf derjenigen der Geſteine, in denen ſie
uns ihre verſteinerten Reſte und Abdrücke
hinterlaſſen, theils auf der Natur des Ver—
ſteinerungs-Proceſſes ſelbſt. Die große
Mehrzahl aller organiſchen Formen iſt fo
weich und zart, oder lebt unter ſolchen
Verhältniſſen, daß fie nur ſelten oder nie
eine brauchbare Verſteinerung hinterlaſſen
kann. Ueber zahlreiche Claſſen von Thieren
und Pflanzen, über die weichen Keime
und Jugendzuſtände aller Organismen
erfahren wir daher durch die Palä—
ontologie Nichts oder faſt Nichts. Aber
auch die harten und feſten Theile, welche
allein der Verſteinerung fähig ſind, die
Skelettheile, ſind in den verſchiedenen Thier⸗
gruppen von ſehr verſchiedenem Werthe.
Daher ſind uns z. B. die Verſteinerungen
der Wirbelthiere, Weichthiere und Stern-
thiere ſehr werthvoll, während die ver—
ſteinerten Ueberbleibſel und Abdrücke der
meiſten Inſecten, Würmer und Pflanzen-
I
|
thiere (die Korallen ausgenommen) von
mehr oder minder Sicherheit eine Strecke ſehr geringer Bedeutung find.
weit ſpeciell verfolgen.
kalkſchaligen Mollusken,
Auch die Stammes
namentlichen der Ammoniten, iſt ſo bis zu
einem befriedigenden Grade der Sicherheit
im Einzelnen erkannt worden.
Aber ſolche glänzende und handgreifliche
phylogenetiſche Reſultate der Paläontologie
|
|
|
find leider nur ſehr feltene Ausnahmen,
phylogenetiſche Urkunden—
und im Allgemeinen können wir ſagen, daß
der
Zu dieſen großen Mängeln der palä⸗
ontologiſcen Stammes-Urkunde kommt
ferner noch der Umſtand, daß alle älteren
Sedimentgeſteine, alle vor der ſiluriſchen
und cambriſchen Zeit abgelagerten Forma⸗
tionen, ganz oder größtentheils durch den
Einfluß des glühendflüſſigen Erdinnern in
einen kryſtalliniſchen Zuſtand verſetzt oder
„metamorphoſirt“ ſind, ſo daß ſie nur ſehr
wenige (oder gar keine) erkennbaren Ver⸗
Werth der Paläontologie weit ſteinerungen mehr enthalten. Daher dürfen
PP,
5
30 Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte.
wir von allen Ablagerungen der lauren—
tiſchen Periode, jener ungeheuer langen
Geſchichts-Periode, in der die organiſche
Welt ſich zu entwickeln begann und bis
zur Sonderung der größeren Hauptgruppen
des Thier- und Pflanzen-Reichs vorſchritt,
überhaupt keinen Aufſchluß von den Ver—
ſteinerungen erwarten, und ſolche lauren—
tiſchen Petrefacten, wie das bedeutungsvolle
und vielbeſprochene Eozoon, find leider nur
ſeltene Ausnahmen. Uebrigens finden ſich
auch in vielen anderen Formationen, welche
zahlreiche Petrefacten enthalten, die letzteren
in fo ſchlechtem und unkenntlichem Erhaltungs-
Zuſtande, daß ſie für unſere Stammes—
geſchichte ohne Werth ſind.
Dieſe und andere Verhältniſſe, welche
in der Natur der Organismen und des
Verſteinerungs-Proceſſes, ſowie in den Be—
dingungen der Geſteinbildung ſelbſt begründet
find, drücken die Bedeutung der paläonto—
logiſchen Schöpfungs-Urkunde außerordent—
lich herab und nöthigen uns zu der Ueber—
zeugung, daß wir über die große Mehr—
zahl der Thier- und Pflanzen-Arten, die
auf unſerem Erdball gelebt haben, niemals
etwas durch die Verſteinerungen erfahren
werden. Freilich iſt bis jetzt kaum der größere
Theil von Europa und Nord-Amerika ge—
nauer in Bezug auf ſeine Petrefacten un—
terſucht; die übrigen Erdtheile ſind größ—
tentheils noch unerforſcht, und wir dürfen
erwarten, daß deren genauere paläontolo—
giſche Unterſuchung uns noch mit ſehr vie—
len und wichtigen foſſilen Reſten bekannt
machen wird. Aber in keinem Falle werden
dieſelben je im Stande ſein, alle jene be—
dauerlichen Lücken auszufüllen und die
ganze Stammesgeſchichte auf ununterbrochene
Reihen von Verſteinerungen unerſchütterlich
feſt zu begründen. Dazu bedürfen wir
ganz anderer und überzeugenderer Stammes⸗
Urkunden, und dieſe finden wir theils in
der vergleichenden Anatomie, theils in der
Ontogenie.
Die vergleichende Anatomie
der Thiere und Pflanzen erkennt im in—
nern Bau derſelben gewiſſe charakteriſtiſche
Verhältniſſe, namentlich in der relativen
Lagerung und Anordnung der Organ-Sy—
ſteme, welche allen Angehörigen einer na—
türlichen Hauptgruppe, eines „Typus“, ge—
meinſam ſind, trotz der größten äußeren
Formverſchiedenheit. Die Zahl dieſer Haupt—
gruppen oder „Typen“ iſt im Thierreich wie
im Pflanzenreich nur ſehr gering; hier wer—
den gewöhnlich nur drei bis vier, dort ſechs
bis acht Typen unterſchieden. Nur innerhalb
jedes Typus gilt eine ſtrengere morphologiſche
Vergleichung aller Körpertheile als zuläſſig;
nur innerhalb jedes Typus ſpricht man
von wahrer „Formverwandtſchaft“. Dieſe
innere und weſentliche Gemeinſamkeit des
Körperbaues, welche in merkwürdigem
Gegenſatze zur Mannigfaltigkeit der äuße—
ren Geſtaltung ſteht, erklärte die ältere ver—
gleichende Anatomie durch die myſtiſche An—
nahme einer „Einheit des Bauplanes“ oder
des Schöpfungsplanes. Seit der Reform
der Abſtammungslehre hingegen erklären
wir dieſelbe ganz einfach und naturgemäß
durch die gemeinſame Abſtammung von
einer Stammform. Dieſe Stammform
übertrug alle weſentlichen Characterzüge
ihres inneren Körperbaues durch Verer—
bung mehr oder minder getreu auf ſämmt—
liche Nachkommen, während dieſe durch
fortgeſetzte Anpaſſung die mannigfaltig-
ſten Verſchiedenheiten in der äußeren Ge—
ſtalt und in den unweſentlichen Structur—
Verhältniſſen erwarben. Jeder „Typus“
wird dadurch zu einem „Stamm oder
Phylum“. Die typiſche Formverwandt—
ſchaft wird zur realen (durch Vererbung
bedingten) Blutsverwandtſchaft. Der ver-
gleichenden Anatomie aber fällt die Auf—
gabe zu, die wahre Formverwandtſchaft
von der ſcheinbaren zu unterſcheiden, und
nachzuweiſen, wieviel von der Aehnlichkeit
verwandter Formen durch Vererbung von
gemeinſamen Stammformen, wieviel durch
Anpaſſung an gleiche Lebens- Bedingungen
zu erklären iſt. Die morphologiſche Ver—
gleichung ſondert ſich dadurch ſtrenger in
Homologie und Analogie. Homolog ſind
ähnliche Organe, welche aus einer und der—
ſelben gemeinſamen Stammform durch Um—
bildung zu verſchiedenen Functionen entſtanden
ſind; analog ſind ähnliche Organe, wel
che aus verſchiedenen Stammformen durch
Anpaſſung an gleiche Funktionen entſtanden
ſind. Homolog ſind die Bruſtfloſſen der
Fiſche, die Flügel der Vögel, die Vorder—
beine der Säugethiere und die Arme des
Menſchen;
der Fiſche, der Krebſe und der Floſſen—
ſchnecken, oder die Vorderbeine der Säuge—
thiere und Inſecten.
Nun wiſſen wir ſchon lange, daß in—
nerhalb jedes Typus oder Phylum (3. B.
innerhalb des Wirbelthier-Stammes) lange
Stufen⸗Reihen von niederen zu höheren,
von unvollkommenen zu vollkommenen, von
einfachen zu zuſammengeſetzten Formen
hinführen. Welche lange Reihe fortſchrei—
tender Entwickelung aller Organe, z. B.
vom niederſten bis zum höchſten Wirbel—
thiere, vom Amphioxus bis zum Menſchen!
Dieſe Stufenreihen find aber nicht einfach,
leiterförmig, ſondern verzweigt, baumför—
mig, indem von den einfachen gemeinſamen
Urformen aus ſich die fortſchreitende Ver—
vollkommnung nach verſchiedenen Richtun—
gen hin in verſchiedener Weiſe vollzieht.
Dieſe baumförmige Anordnung der
Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte.
analog ſind die Flügel der
Vögel und der Inſecten, oder die Floſſen
verwandten Formen, welche das Syſtem
der Thier- und Planzen-Gruppen unter
der ordnenden Hand der vergleichenden
Anatomie gewinnt, deutet nun die Ent-
wicklungslehre in realer Weiſe als den
Stammbaum derſelben. Freilich iſt die—
ſer Stammbaum, der das natürliche
Syſtem der Organismen darſtellt, nie—
mals mit abſoluter Sicherheit, ſondern im—
mer nur annähernd feſtzuſtellen; das liegt
jedoch in der Natur der Sache und vermin—
dert den Werth deſſelben nicht.
Darüber gehen nun aber die Anſichten
der verſchiedenen Morphologen auch noch
heutzutage ſehr weit auseinander, welchen
Werth die vergleichende Anatomie für den
Aufbau des natürlichen Syſtems beſitzt
und wie weit ſie berechtigt iſt, daſſelbe
wirklich als hypothetiſchen Stammbaum zu
geſtalten. Einige ſchreiben ihr hier die
höchſte, andere die geringſte Bedeutung zu,
und noch andere, in der Mitte ſtehend,
wollen ihr einen mittleren Grad von Glaub—
würdigkeit beimeſſen. Das liegt weſent—
lich in der verſchiedenen Begabung und
Faſſungskraft der betreffenden Morpholo-
gen. Beſchränkte Köpfe und kurzſichtige Bes
obachter, die ſich immer nur an die nächſt—
liegenden und greifbaren Thatſachen halten,
ſind nicht im Stande größere Maſſen von
verwandten Form-Erſcheinungen fo zu über-
blicken, wie es die vergleichende Anatomie
erfordert; ſie können auch nicht das We—
ſentliche vom Unweſentlichen, das Bedeu—
tende vom Zufälligen unterſcheiden. Solche
enge und kleine Geiſter (die dabei vortreff—
liche Special-Arbeiter und Handlanger der
Wiſſenſchaft ſein können), werden die Be—
deutung der vergleichenden Anatomie niemals
würdigen und ihr die phylogenetiſche Bedeu—
tung mehr oder minder abſprechen. Hingegen
wird dieſe voll und ganz gewürdigt werden
8
32
von philoſophiſchen Köpfen und von groß
angelegten Naturen, welche jenes ganze un—
geheure Erſcheinungs-Gebiet zu überſehen
und dabei das Weſentliche vom Zufälligen
zu ſcheiden im Stande ſind. Dieſe werden
die vergleichende Anatomie für die wichtig—
ſte von allen Urkunden der Stammesge—
ſchichte halten und ihr beim Aufbau des
natürlichen Syſtems die erſte Stelle an—
weiſen.
Aber auch dieſe Schöpfungs-Urkunde,
ſo werthvoll ſie unſtreitig iſt, hat ihre
Mängel, und dieſe ſind wieder zunächſt in
der Un vollſtändigkeit des Materials
begründet; dann aber auch in der Schwie—
rigkeit, überall klar Homologie und Analo—
gie zu unterſcheiden. Sehr viele wichtige
Verbindungs⸗Glieder zwiſchen heutigen Le—
bensformen ſind längſt ausgeſtorben und
wir müſſen die beſtehende Lücke durch Ver-
muthungen ausfüllen. Sehr viele anatomi—
ſche Form-Verhältniſſe ſind ſo verwickelt,
daß ſie überhaupt ſehr ſchwer phylogene—
tiſch zu erklären ſind. So ſehr wir daher
auch die Bedeutung der vergleichenden Ana—
tomie als wichtigſter Stammes-Urkunde
würdigen, und ſo ſehr wir ſelbſt der An—
ſicht ſind, daß dieſelbe kaum überſchätzt
werden kann, ſo ſehr müſſen wir doch an—
dererſeits vor einer ganz ausſchließlichen
und einſeitigen Verwendung derſelben war—
nen. Und wenn neuerdings behauptet wor—
den iſt, daß der vergleichenden Anatomie
in phylogenetiſchen Fragen überall das
erſte Wort und die entſcheidende Stimme
zukomme, ſo können wir dieſe Anſicht nicht
theilen. Vielmehr ſind wir der Anſicht, daß
in vielen — und gerade in vielen der wich—
tigſten — Fragen von noch höherer Be—
deutung und von entſcheidendem Werthe die
dritte unſerer drei Haupt-Urkunden iſt, die
Ontogenie.
Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte.
Die Ontogenie oder Keimesge—
ſchichte, wie wir kurz die „individuelle
Entwicklungsgeſchichte“ nennen, wird in
ihrem Werthe als Schöpfungs-Urkunde
heute ſehr oft in ähnlichem Maße unter—
ſchätzt, wie die Paläontologie überſchätzt
wird. Ja wir erleben ſogar das ſonderbare
Schauſpiel, daß viele „Embryologen“, viele
Special-Forſcher, welche das Studium der
Keimesgeſchichte zu ihrer Hauptaufgabe ge—
macht haben, derſelben jeden phylogeneti—
ſchen Werth abſprechen. Und doch wird
derjenige, welcher dieſe Wiſſenſchaft mit
Verſtändniß betreibt, und welcher ſich
nicht mit der unterhaltenden Beobachtung
der ontogenetiſchen Thatſachen begnügt,
ſondern nach ihren phylogenetiſchen Urſa—
chen fragt, ſicher zu der Ueberzeugung ge—
langen, daß die Ontogenie zu den wichtig—
ſten und bedeutungsvollſten Urkunden der
Stammesgeſchichte gehört. Aber freilich iſt
hier ebenſo, wie bei der vergleichenden Ana-
tomie, unerläßlich, die empiriſchen For—
ſchungen mit philoſophiſchem Geiſte zu be⸗
treiben und inmitten der bunten Erſchei—
nungs⸗Welt nach den gemeinſamen Grund⸗
zügen der mannigfaltigen Entwickelungs—
formen zu ſuchen. Hier wie dort iſt es vor
Allem erforderlich, das Weſentliche vom
Unweſentlichen, das Bedeutende vom Zu—
fälligen ſcharf und klar zu trennen.
Die phylogenetiſche Bedeutung der On—
togenie — der Werth der Keimesgeſchichte
als Stammesurkunde — iſt zunächſt darin
begründet, daß jeder Organismus bei ſei—
ner Entwickelung aus dem Ei eine Reihe
von Formen durchläuft, welche in ähnlicher
Reihenfolge ſeine Vorfahren im langen
Verlaufe der Erdgeſchichte durchlaufen ha—
ben. Die Keimesgeſchichte geſtaltet ſich da—
her zum Miniaturbilde oder zum Auszuge
der Stammesgeſchichte. Dieſe Vorſtellung
3
— — nennen —ͤ—⸗ — —
Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 33
bildet den Inhalt unſeres bio genetiſchen
Grundgeſetzes, welches wir als das
wahre „Grundgeſetz der organiſchen Ent—
wicklung“ an die Spitze der Entwicklungs—
geſchichte ſtellen müſſen und welches wir
als das höchſte Erklärungs-Princip für de—
ren Verſtändniß für unentbehrlich halten.
Jeder Fortſchritt in der Stammesgeſchichte,
den unſere Vorfahren durch Anpaſſung
an neue Lebensbedingungen bewirkten, und
der eine neue Ahnenform in's Daſein rief,
wird durch Vererbung in der entſpre—
chenden Keimesgeſchichte noch heute wieder—
holt; und wie noch heute jedes organiſche
Individuum aus einer einfachen Eizelle ſei—
nen Urſprung nimmt, ſo iſt auch die ge—
meinſame Stammform aller Arten eines
Stammes urſprünglich eine einfache Zelle
geweſen.
Nun iſt freilich nur in ſeltenen Fällen,
nur bei wenigen niederen Organismen, die
Wiederholung (oder Recapitulation) der
Stammesgeſchichte, die wir in der Keimes-
geſchichte mit Augen ſehen, ganz vollſtändig.
In der großen Mehrzahl der Fälle iſt
dieſe Wiederholung ſtark abgekürzt, oft
auch abgeändert und ſehr häufig ganz ver—
unſtaltet. Das liegt daran, daß die jugend—
lichen Keime ſelbſt von Anbeginn der Ent—
wicklung an dem umgeſtaltenden Einfluſſe
der äußeren Exiſtenz-Bedingungen unterlie—
gen und dieſen ſich anpaſſen. Durch dieſe
„embryonalen Anpaſſungen“ werden ganz
neue Bildungs⸗Elemente in den individuel-
len Entwicklungs-Lauf eingeführt, welche
den urſprünglichen Entwicklungsgang mehr
oder weniger abändern. Insbeſondere fin—
det ſehr häufig — um ſo mehr, je höher
ſich der Organismus entwickelt — eine
Abkürz ung der urſprünglichen Wieder—
holung ſtatt, indem einzelne oder viele Ent-
wicklungsſtufen ausfallen; anderemale frei-
lich können auch umgekehrt ganz neue Ge—
ſtaltungen in die ererbte Geſtalten-Kette
eingeſchaltet werden. Wir können alle dieſe
ſpäteren Abänderungen des urſprünglichen,
palingenetiſchen Entwicklungsganges
mit einem Worte kurz als „Fälſchungen“,
als cenogenetiſche Modificationen des—
ſelben bezeichnen.
Demnach zerfallen alle Erſcheinungen,
welche wir im Laufe der individuellen Ent-
wicklung der Thiere und Pflanzen, von
der Eizelle an bis zur vollendeten Aus—
bildung der Geſtalt, wahrnehmen, in zwei
große Gruppen, in palingenetiſche (oder
auszugsgeſchichtliche) und incenogenetiſche
(oder fälſchungsgeſchichtliche) Thatſachen. Nur
die ontogenetiſchen Thatſachen der Palin—
genie oder der „Auszugsgeſchichte“ ſind
unmittelbar als Urkunden der Stammes—
geſchichte zu verwerthen und auf entſprechende
—
Vorgänge in der Phylogenie zu beziehen.
Hingegen haben die ontogenetiſchen Er—
ſcheinungen der Ceno genie oder der
„Fälſchungsgeſchichte“ nicht nur keine ſolche
phylogenetiſche Bedeutung, ſondern ſind ge—
rade umgekehrt Irrlichter, deren falſchem
Scheine zu folgen wir uns wohl hüten
müſſen. Das biogenetiſche Grundgeſetz müſ—
ſen wir daher jetzt ſchärfer mit folgenden
Worten formuliren: „Die Keimesge—
ſchichte iſt ein Auszug der Stam—
mesgeſchichte; um ſo vollſtändi—
ger, je mehr durch Vererbung die
Auszugsentwicklung beibehalten
wird, um ſo weniger vollſtändig,
je mehr durch Anpaſſung die
Fälſchungsentwicklung eingeführt
wird.“ Wie das fo formulirte Grund—
geſetz der organiſchen Entwicklung ſeine
Verwendung findet, und wie wir mit ſei—
ner Hülfe aus den unmittelbar zu beob—
achtenden Erſcheinungen der Keimesgeſchichte
TEE u
RER,
Filet
ar
3
1
nn
.
Häckel, Urkunden der
die wichtigſten Schlüſſe auf die hypotheti—
ſchen Vorgänge der Stammesgeſchichte zie—
hen können, das haben wir uns bemüht an
dem Beiſpiele des Menſchen in unſerer
„Anthropogenie“ nachzuweiſen.
Wenn wir nun auch demgemäß die
Ontogenie oder die Keimesgeſchichte für die
wichtigſte und unentbehrlichſte von allen
Urkunden der Stammesgeſchichte halten, ſo
wollen wir damit doch keineswegs den ho—
hen Werth ſchmälern, welchen auch die an—
deren Urkunden und vor allen die ver—
gleichende Anatomie beſitzen. Ohne die
Hülfe der letzteren würden wir die Er—
ſcheinungen der Keimesgeſchichte nicht ent—
fernt ſo klar zu verſtehen und ſo ſicher zu
verwerthen im Stande ſein, wie es that—
ſächlich der Fall iſt. Vergleichende
Anatomie und Ontogenie ergän—
zen ſich gegenſeitig in der glücklichſten
Weiſe und füllen ihre Lücken wechſelſeitig
aus. Wenn daher neuerdings einige Mor—
phologen ausſchließlich die vergleichende
Anatomie und andere die vergleichende
Keimesgeſchichte als einzige ſichere Urkun—
de der Stammesgeſchichte betrachten, ſo
müſſen wir beide Standpunkte für gleich
einſeitig und mangelhaft halten. Nur durch
volle und gleichmäßige Berückſichtigung bei—
der Haupturkunden werden wir in den
Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte der
Organismen zu erkennen. Freilich ſetzt das
aber voraus, daß man mit den reichen
empiriſchen Schätzen beider Wiſſenſchaf—
ten gleichmäßig vertraut iſt, und das iſt
eben bei jenen einſeitigen Naturforſchern nicht
der Fall.
Soviel ſteht gegenwärtig unzweifelhaft
feſt, daß uns für den Ausbau der Stam—
mesgeſchichte ein äußerſt reichhaltiger Schatz
von empiriſchen Urkunden, von ſicheren Er-
fahrungs-Kenntniſſen zu Gebote ſteht, der
Stammesgeſchichte.
nur gehoben und verwerthet zu werden
braucht, um in ſeiner vollen Bedeutung
erkannt zu werden. Nicht darum handelt
es ſich, neue und unbekannte Quellen für
die Stammesgeſchichte der Organismen —
und alſo auch des Menſchen — zu ent-
decken, ſondern darum, die vorhandenen
Quellen zu verſtehen und auszubeuten.
Reichere und bedeutungsvollere Quellen als
die vergleichende Anatomie und Ontogenie
werden niemals entdeckt werden, und mit
ihrer Hülfe allein ſchon find wir im Stan—
de, die neue Wiſſenſchaft der Phylogenie
zu begründen, ſelbſt wenn wir ganz auf
die weniger bedeutenden Quellen verzichten,
welche uns aus der Palaeontologie, aus
der Chorologie und anderen Hülfswiſſen⸗
ſchaften fließen. Wenn aber Manche —
und darunter ſelbſt einzelne namhafte Na⸗
turforſcher — meinen, daß die ganze
Stammesgeſchichte ein Luftſchloß und die
Stammbäume leere Phantaſie-Spiele ſeien,
ſo bekunden ſie damit nur ihre Unkenntniß
jener reichen empiriſchen Erkenntniß-Quel⸗
len.
Ziele und Wege der Phylogenie
ſind dieſelben, wie die der Geologie.
Und wie ſich die „hypothetiſche“ Ent—
wickelungsgeſchichte der Erde auf Grund
ihrer empiriſchen Urkunden zu einem eben
jo feſten als glänzenden wiſſenſchaftlichen
Hypotheſen-Bau geſtaltet hat, fo wird das—
ſelbe auch ihrer jüngeren Schweſter, der
Stammesgeſchichte der Organismen gelingen.
So wenig als die letztere, ſo wenig kann
und wird ſich auch jemals die erſtere zu
einer wirklich „exacten“ Naturwiſſenſchaft
geſtalten. Denn die hiſtoriſchen Vorgänge,
deren Zuſammenhang beide Wiſſenſchaften
zu ergründen ſtreben, haben ſich viele
Millionen von Jahren hindurch vollzogen
und ſind unſerer unmittelbaren Beobachtung
Kr fe, naunden der Siammesgesißte > 95 1
Er entrückt. Daher find. ſowohl die
| gie als die erden der Natur
Henker heute 1 5 anerkannt und für
die Entwickelungsgeſchichte des Erdballs be⸗
nutzt wird, ſo vollzieht ſich auch täglich
s die Anerkennung des unſchätzbaren
Werthes, welchen unſere morphologiſchen
Urkunden für die Stammesgeſchichte der 1
Organismen beſitzen.
aum ein andrer Gegenſtand des
„T emenſchlichen Sinnens iſt beſſer
I dazu geeignet, den Werth einer
einheitlichen Weltanſchauung
und die Fortſchritte der letzten
Jahre! in derſelben lebendig vor unſer Auge
zu führen, als eine Betrachtung der wiſſen—
ſchaftlichen Behandlung obengenannter Grund—
probleme vor einigen hundert Jahren. Ich
meine nicht die rein theologiſche Behandlung
dieſes Gegenſtandes, denn der Buchſtaben—
glaube hat für derlei ſchwierige Fragen zu allen
Zeiten mit gleicher Leichtigkeit die Antwort ge—
funden, ich denke vielmehr an das redliche
Ueberlieferung, Verſtand und Befund mit ein—
ander in Harmonie zu bringen. In dieſer Bes
ziehung ſcheint mir ein Buch von Abraham
Milius, welches unter dem Titel: de
origine animalium et migratione popu-
lorum, d. i. Merckwür diger Diskurß
von dem Urſprung der Thier und
Außzug der Völcker im Jahre 1670
zu Salzburg und zwar mit hoher Appro-
bation des dortigen Erzbiſchofs erſchienen
iſt, eine eingehende Betrachtung zu ver—
dienen, einmal, weil es, wie kein andres
Se
Bemühen und geiſtige Ringen ehrlicher Leute,
Achöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren.
Von
Carus Sterne.
Buch, zeigt, zu welchem Flickwerk die Welt⸗
anſchauung herabſinkt, wenn Vernunft und
Ueberlieferung einander Complimente und
Zugeſtändniſſe machen, beſonders aber, weil
es den mächtigen Eindruck ſpiegelt, welchen
die Entdeckung Amerika's und Auſtraliens
mit ihrem Reichthum unbekannter Thiere
und Pflanzen auf die herkömmliche Welt—
anſchauung übte, die ſelbſt durch die Ent—
deckungen des Kopernikus und Kepler
nicht aus ihrem mehrtauſendjährigen Schlum—⸗
mer geſchreckt worden war.
Ich bemerke, daß das urſprünglich in
lateiniſcher Sprache geſchriebene Buch mir
nur in der deutſchen Ueberſetzung des öſter—
reichiſchen Kreisphyſikus Chriſtoph Bitter—
kraut, die grade vierhundert Druckſeiten
umfaßt, zugänglich war, wobei in Anbe—
tracht des damaligen, überaus freien, ja
willkürlichen Ueberſetzer-Verfahrens vielleicht
mancher Widerſpruch des Textes auf den
Collaborator geworfen werden darf. Ueber
Stand und Leben des Autors, ſowie über
das Erſcheinungsjahr des Originals habe
ich leider nichts in Erfahrung bringen kön⸗
nen. Zunächſt überraſcht es uns ebenſo
unvermuthet als angenehm, in einem von
der kirchlichen Behörde gebilligten Buche
des ſiebenzehnten Jahrhunderts einer viel
freieren Bibelauslegung zu begegnen, als
ſie heute in denſelben Kreiſen für erlaubt
gelten würde. Der Verfaſſer beginnt viel—
verſprechend mit einer Lobrede auf die
menſchliche Vernunft, die ſich weder treiben,
noch anfeſſeln laſſe, ſondern unbeirrt ihrem
Ziele „das Verborgene herfür und an den
Tag zu bringen, das Unbekannte zu er—
forſchen“ nachgehe. Von denen, welche ſich
„dieſes ſo köſtlichen, ihnen ertheilten, ja
gleichſam angeerbten Vorzugs über alle
andere Thier“ nicht bedienen, wird ge—
ſagt, ſie ſchlöſſen „ſich freiwillig ein, in die
Enge der Unfähigkeit und Unwiſſenheit der
groben unvernünftigen Thiere, von welchen
ſie wenig oder gar nichts unterſchieden ſein.“
Unter den Gegenſtänden, deren Erforſchung
der menſchlichen Vernunft nahe liegen, wird
als eine der vornehmſten bezeichnet: „Wie
nemblichen, auf was Weiß und Manier,
ſowohl die Menſchen als auch alle
andern Thier, anfänglich entſprungen und
hernach in die ganze Welt, auch alle dero—
Auffenthalt darinnen zu nehmen, kommen
ſeyen?“
faſſer an einer andern Stelle, dergleichen
Fragen etwas fürwitzig, wie wohlen ſie
nicht gar ohne Grund zu ſeyn ſcheinen.“
In obigen Worten fällt als für ſeine Zeit
unerhört auf, daß der Verfaſſer von „Men-
ſchen und andern Thieren“ redet, alſo den
REG, * 5
5 zwiſchen beiden ein ſcharfer Unterſchied ge
= macht.
* Wir ſind leicht geneigt anzunehmen,
% daß die Anſchauung eines Linné, Cuvier
we
=
Carus Sterne, Schöpfungsgefchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren.
ſelben Theil, ſolche zu bewohnen und ihren
„Es ſeynd aber,“ ſagt der Ver-
Menſchen zu den Thieren rechnet, denn
grade hinſichtlich der Schöpfungsfrage wurde |
und A gaſſiz, nach welcher der Schöpfer
jedes lebende Weſen, Pflanze wie Thier
37
und Menſch mit eigenen Händen gebildet
habe, die urſprüngliche Lehre der Kirche
geweſen wäre. Dieſe Anſicht wäre aber
vollkommen falſch. Die chriſtliche Kirche
hat ſeit dem Beginne der Dogmatik den
Vorzug, unmittelbar aus den Händen des
Schöpfers hervorgegangen zu ſein, aus—
ſchließlich dem Menſchen vorbehalten, und
die Annahme eines ähnlichen Urſprungs der
Pflanzen und Thiere im Gegentheil als
falſch und der Bibel widerſprechend bezeich—
net. Der heilige Ambroſius und Baſi—
lius der Große kamen in ihren, dem
Sechstagewerk (Hexasmeron) gewidmeten
Betrachtungen bereits zu dem Schluſſe, die
Bibel⸗Worte: „Es laſſe die Erde aufgehen
Gras und Kraut“ und „es errege ſich das
Meer, und die Erde bringe hervor leben—
dige Thiere aller Art,“ habe man ſo zu
verſtehen, Waſſer und Erde ſeien ſeitdem
und Pflanzen aller Art zu erzeugen, und
dieſe Kraft dauere ſeitdem fort, ſo daß
noch jetzt immerfort neue Pflanzen und
Thiere ohne Eltern entftehen könnten. Ja
man ging jo weit, zu jagen, daß die Schöpf⸗
ung am ſechſten Tage noch lange nicht voll—
zählig geweſen ſei, und daß insbeſondere
die Juſekten und alle kleineren Thiere, welche
aus dem „Schweiße, der Ausdünſtung und
der Fäulniß“ entſtehen, erſt viel ſpäter hin—
zugekommen ſeien. Cornelius a Lapide
rechnete ſogar die Mäuſe zu dieſen Epigonen
der Schöpfung.
Bei dieſer äußerlichen Uebereinſtimmung
der chriſtlichen mit den heidniſchen Philo-
ſophen kann es uns nicht verwundern, in
dem erwähnten Buche Beweiſen dieſer fort⸗
dauernden Schöpfung zu begegnen; es wird
uns gelehrt, wie man aus mit Mai Thau
befruchteten Raſen Aale ziehen könne, um
ſeine Teiche zu beſetzen; wie man aus
mit der Fähigkeit begabt geweſen, Thiere |
38 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren.
Krebsſcheeren Skorpione ziehen könne, der aus
verweſenden Körpern entſtehenden Inſekten—
ſchwärme nicht zu gedenken.
war vollkommen mit dieſer Auffaſſung ein⸗
verſtanden, ja ihre Parteinahme für die
Selbſtzeugungshypotheſe ging ſo weit, daß
fie, als der engliſche Prieſter Jean Tur
berville Needham 1743 die Ent⸗
wicklung der ſogenannten Weizenälchen be—
obachtete, nichts dagegen hatte, daß dieſer
die Bibel dahin deutete, auch Adam ſei in
ähnlicher Weiſe von der ſchöpferiſchen Erde
hervorgebracht worden, und Eva aus ſeinem
Körper wie die Knospe eines Polypen her-
vorgeſproßt. Ja, noch mehr, als Francis—
cus Redi um's Jahr 1674 in Florenz
im faulen Fleiſche ausſprach, da er beob—
achtet hatte, daß dieſelben in Form von
Eiern in daſſelbe gelangt ſeien, ſchrie die
Geiſtlichkeit über Ketzerei, da ja im Buche
der Richter von der Eutſtehung eines Bienen—
ſchwarms aus dem Aaſe eines Löwen die
Rede ſei. So ändern ſich die Standpunkte!
Unſer Autor wäre ganz einverſtanden
mit der Lehre des heilige Baſilius, daß
die Pflanzen und wilden Thiere nicht nur
erſtmals durch die der Erde eingepflanzte
Kraft „herfür kommen ſeien, ſondern daß
ſolche auch heutigen Tages auf gleiche Weiß,
annoch von der Erden ihren Urſprung
nehmen und haben,“ aber dem Manne, der
ſeine Vernunft auch auf Glaubensſätze an—
wenden zu müſſen glaubte, fiel es ſchwer
auf's Herz, wie nun dieſe orthodoxe Lehre
von der Selbſtentſtehung der Thiere mit
der Noahſage in Einklang zu bringen wäre.
„Wann deme alſo, daß nemblichen die wil—
den Thier, wie auch das zahme Viehe, auß
angebohrner und eingepflanzter Kraft der
Erden, für ſich hätten herfür kommen kön⸗
So würde der Allmächtige Gott dem
nen.
Die Kirche
Nos nicht anbefohlen haben, die Thier zu
ſich in die Archen zu nehmen,“ ruft er mit
wohlberechtigten Gewiſſenszweifeln.
Es iſt ſehr lehrreich zu ſehen, wie in
der Mitte des ſiebenzehnten Jahrhunderts
ein ſonſt durchaus ſtrenggläubiger Chriſt,
der die Frage, zu welcher Jahreszeit die
Welt eigentlich erſchaffen ſei, einer einge—
henden Unterſuchung werth hält und dem
]
|
holden Frühling dieſen Vorzug ertheilt,
zwiſchen Buchſtabenglauben und Vernunft
entſcheidet. Er verwirft unbedenklich den
erſteren und folgt der letzteren. Man
könne, ſagt er ungefähr, doch nicht glauben,
daß Noah mit ſeiner Familie ſich alles
Ungeziefers angenommen habe, nur damit
Zweifel an der Selbſtzeugung der Maden
es in der Fluth nicht umkomme, ſondern
ihn und die Menſchen weiterplage. Es
ſei auch gar nicht abzuſehen, wie er während
der langen Dauer der „Sündfluth“ die reißen-
den Thiere hätte ernähren und ſie abhalten
können, die zahmen und nützlichen zu ver—
zehren. Der heilige Origines ſei zwar zu
dem Schluſſe gekommen, daß man die wilden
Thiere hübſch abgeſondert habe, und der
heilige Auguſtin habe gejagt, die Wildheit
ſei ihnen für dieſe Zeit benommen worden,
aber, meint der Autor, ohne weiteres Mi—
rakul und Wunderwerk könne das doch nicht
zugegangen ſein, denn die wilden Thiere
hätten doch Lebensunterhalt haben müſſen.
„An dieſem iſt ſehr ſtarck zu zweiffeln; denn
ſo dieſem alſo wäre, hätte man nicht par
und par von den unreinen, auch ſieben
und ſieben von dem reinen Vieh, wie der
heilige Text ſaget; ſondern deren eine große
Menig, in die Archen auff und einnemben
müſſen“, es ſei denn, ſetzt er zur Beruhigung
der Gemüther hinzu, daß ſie durch ein
Mirakul faſten gelernt oder Speiſe erhalten
hätten. Sein beſondres Dafürhalten ſpricht
er wiederholt dahin aus, daß „der fromme
1 8 f 1 Ex 0
1
Noé nur allein das einheimiſche zahme
Vieh zu ſich in die Archen genommen
habe“, damit die Mühe der Zähmung nicht
verloren gehe, und der Schaden der Sünd—
fluth noch größer werde, „die ſchädlichen
und grimmigen Thiere aber ſeien auß der
Erden auffs new wieder herfürgekommen“.
Daß aber Thiere neu entſtehen könnten,
ſchließt der Verfaſſer auch daraus, daß wir
ja häufig Thieren begegnen, die ganz ſicher
nicht von Gott erſchaffen ſeien, und doch
beſondre Form und Leben hätten, nämlich die
Baſtarde, wie Maulthier, Luchs und Leopard,
die aber darum auch das Gebot des Schöp—
fers: Seid fruchtbar und mehret euch!
nicht erfüllen könnten. Man hielt bekannt—
lich ehemals den Luchs für einen Baſtard
von Wildkatze und Wolf, den Leoparden
für einen ſolchen vom Löwen und Panther.
Der Verfaſſer nimmt das Vorkommen der
Baſtarde für einen ſo wichtigen Beweis
dafür, daß die Schöpfung nicht inumediate
geſchehen ſein könne, daß er eine Unterſuchung
darüber anſtellt, wer zuerſt Maulthiere ge—
züchtet habe und zu dem Schluſſe kommt,
es ſei Ana, des Sibon Sohn, ein Idumeer
geweſen, der zu den Zeiten Jacobs und
Eſau's die Hausthiere um dieſes zweideutige
Weſen vermehrt habe.
Das Hauptbedenken unſeres freiſinnigen
Bibelauslegers gegen die Noah-Sage ent—
ſprang aber der Unmöglichkeit: „daß zu
Nos, alle Thier, von den äußerſten Gräntzen
und Orten Americae, wie auch auß Magella-
nica, hätten können gebracht, und in die
Archen genommen werden; da doch deren
Arten und Geſchlechte vorhero, weder in
Aſien, Armenien, noch andern, dieſen nächſt
angelegnen Ländern zu ſehen, noch zu finden
waren.“ Dieſe Betrachtung führt den
Verehrer der Vernunft weiter zu einem
heftigen Kopfſchütteln zu der Sage von dem
Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren.
39
Paradieſe als Schöpfungsmittelpunkte, in
welchem Adam allen Thieren ihren Namen
gegeben haben ſollte. Eine Menge nie ge—
ſehener Pflanzen und Thiere war damals
aus Amerika herübergebracht worden, und
erregten den Bibelgläubigen ſchwere Zwei—
fel. Nicht alle waren ſo gefällig wie die
Maler, die alsbald Truthahn und Sonnen—
blume in den Paradiesgarten Adam's auf-
nahmen, als wären ſie dort von Anbeginn
gepflegt worden. Den großen Eindruck jener
Bereicherung der Paradiesgärten (wie man
ehemals bekanntlich die zoologiſchen und bota—
niſchen Gärten nannte) ſchildern Milius—
Bitterkraut unter Andern mit folgenden
Worten: „Mein Gott! Wie verwundern
wir uns nicht darob, wann wir dergleichen
ſeltzame Thier, auß ſo fern entlegenen Or—
ten zu ſehen bekommen? Wie genau be—
trachten wir alle ihre Lineamenten, Geſtalt,
Haarfarben, ja gantze Leiber! Als ob ſie
vom Himmel herabgefallen wären? — —
— — Was wollen wir überdas, von ſo
vielen unterſchiedlichen Gewächſen, Bäumen,
Wurtzen und Saamen ſagen?“
Die Strenggläubigen machten es ſich
wie immer bequem; ſie erklärten ohne
Weiteres den kanadiſchen Lebensbaum, weil
er die merkwürdige Eigenſchaft hat, ſchein⸗
bar in jedem Frühjahr neu aufzuleben, für
den lange geſuchten, in Europa ausgegange—
nen Lebensbaum des Paradieſes; in dem
braſilianiſchen Guajakbaume wollten noch
kühnere Combinatoren ſogar den Baum
der Erkenntniß erkennen, aus deſſen heiligem
Holze das Kreuz Chriſti gefertigt wurde;
die auf Südamerika beſchränkten Paſſions—
blumen ſollten urſprünglich auf Golgatha
entſproſſen fein u. ſ. w. Von den Fiſchen
und Vögeln wie von den Pflanzenſamen
lag es nahe, zu ſagen, ſie ſeien durch Luft
oder Waſſerſtrömungen aus der alten Welt
40
nach der neuen hingeführt worden, reſp.
hingeſchwommen und hingeflogen. „Aber
fein ſachte,“ ruft der beſonnene Kritiker den
orthodoxen Heißſpornen zu, „man erwege
dieſes ein Wenig beſſer, und übereile ſich
diß Orts nicht allzuſehr. Dann, Lieber!
gibet es nicht viel unter Gevögel, welche
ſehr grobe, dike, harte und ſchwere Federn
haben, auch im fliegen ſehr langſamb und
träg ſeynd? Ja, was noch mehrerſt iſt,
die vor dem Waſſer ein Abſcheuen tragen,
daß ſie ſich auch nicht getrawen, einen von
zwölf Schritten breiten Waſſerfluß, oder
auff das meiſte eine kurze viertl Meil zu
überfliegen? Ich geſchweige anjetzo derjenigen,
die gar nicht fliegen können, als da ſeynd
Straußen, Trappen und derley Geflügel
mehr? Wie ſollten ſie dann erſt, das
Meer Aniam und andre, etliche Meilen
breite Ström' und Flüſſe, haben überwan—
dern können?“
Daß man bei Seefiſchen, die ſich aus-
ruhen können, die Möglichkeit ſo weiter
Wanderungen zugeben müßte, empfindet der
Verfaſſer und greift hier zu einem andern
Gegenbeweiſe: „Es laſſen überdieß die Fiſche,
(wie auch alle andern Thier) nicht gern von
ihrem Orth, oder gewöhnlichen Wäſſern,
allwo ſie ihren Stand, Weſen und Auffent—
halt haben; ſondern es bleibet eine jedwe—
dere Art derſelben am allerliebſten in ſeinem
eigenen Waſſer oder Bach. Wie dann ge—
meiniglich ein jeder Fluß, ja ſogar die
kleinen Bächlein, ihr eigene abſonderliche
Fiſch haben, worinnen ſie friſch und geſund
bleiben, herentgegen aber in andern nicht
gut thun, ſondern bald abſtehen.“ Natür-
lich machen die Landreptile und Landſäuge—
thiere, denen er vergeſſen hat, die Süß—
waſſerthiere anzureihen, die Stärke dieſer
Gruppe von Argumenten aus. „Zu deme
ſo giebet es auch viel Thier auff Erden,“
Carus Sterue, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren
hebt er an, „welche ihnen zu ſchwimmen
gar nicht getrawen. Es möchte aber viel—
leicht einer einwerffen und ſagen, daß man
dergleichen vierfüſſige Thiere, auß unſern
Landſchaften, in die Occidentaliſche Indien
mit Schiffen übergebracht habe; Aber wie
ungereimbt und unbedachtſamb iſt dieſes, auch
wie ſchwer zu glauben? Dann wer hätte
doch wollen ſo unbehutſamb, ja ganz aber⸗
witzig ſeyn, daß er Löwen. Beeren, Tiger,
Panterthier, und dergleichen grauſame Beſtien
mehr, hätte neben ſich gedulden, dero grau—
ſamen Natur und Eigenſchafft ſich anver—
trawen, und ſolche zu Schiff überbringen
wollen? Welches fürwahr nichts anderes
wäre, als gifftige Schlangen und Nattern,
in ſeinem eigenen Buſen auffziehen wöllen.“
Der umſichtige Kritiker, dem bereits
eine klare Ahnung von der Thier- und Pflan⸗
zengeographie aufgegangen war, belehrt uns
ſodann, daß dieſer Verſuch, wenn man ihn
machen wolle, wahrſcheinlich fehlſchlagen
würde. Er verweist auf die negativen Er-
fahrungen, die man gemacht, als man ver-
ſuchte „unterſchiedliche Arten von zahmen
Viehe über See nach Neu-Franckreich, ſonſten
Canada genannt“ zu bringen. Sie hielten
theils die Seereiſe nicht aus, theils ſchlug
der mit gutem Vertrauen gemachte Verſuch,
die Thiere an das fremde Klima zu ge—
wöhnen, ſchon bei den Hausthieren fehl,
die doch viel mehr Kosmopoliten ſind, als
wilde Thiere.
„Aber,“ ſo unterbricht der Verfaſſer
dieſe Annahmen von Möglichkeiten, die faſt
unmöglich erſcheinen, „wir wollen derley
blinde Einfäll beyſeits ſetzen; auch nur bloß
allein diſes allen Gelehrten zu betrachten
überlaſſen, und ſolche wohlmeinend befragen:
Ob ſich nicht in dieſen Oceidentalischen In⸗
dien, viel und mancherley Arten, ſo wohl
grauſammer, frecher und wilder, als auch
zahmer Thier befinden, dergleichen weder
in Asia, Europa und Africa von dem es
ſonſten heißet: Africa semper aliquid novi,
jemahlen geſehen noch von den Alten Ge—
ſchichtsſchreibern, darvon etwas Schrifftliches
hinterlaſſen worden?“ Daſſelbe gilt von
den Vögeln, Fiſchen und Pflanzen jener
Länder: „Zudem ſo gibt es auch in America,
Mexiko, Perü und Magellanica derley
Arten Gevögels, die weder in Aſien oder
Europa jemahlen geſehen worden ſeynd, ehe
und bevor ſolche von dort auß mit Schiffen
zu uns gebracht worden.“
„Allhier aber möchte einer wiederum
fragen und ſagen: Weilen dann auß Asien
als einer und zwar der erſten Zeuge-Mutter,
ſo wol der Menſchen als auch aller andern
Thier und Gewächſen, nichts in die andre
Theil der Welt, als Akricam, Europam
und Americam gebracht worden, warumben
iſt dann von allen dieſen Sachen, ſelbiger
Orten ein ſo großer Ueberfluß? Hierauff
aber gibe ich dieſe Antwort, ſo villeicht,
andern etwas ſeltzam vorkommen möchte,
und ſage; Daß eben der jenige, welcher alle
Thier, auch allerhand Gewächſe erſchaffen,
und in Aſien, umb die Gegene Eden ge—
pflantzet hat; Auch dergleichen in America
gewürket, und alldorten allerley Sorten der
Kräuter, Blumen, Bäume, Saamen, Wur—
tzen und Thier mit gleicher Macht herfür
gebracht, und mit eben dem Seegen und
Benedeyung, ſich zu vermehren, begnadet
habe.“
So hat ſich nun unſer freimüthiger
Ausleger der moſaiſchen Tradition für die
Annahme zahlreicher Schöpfungsmittelpunkte
ausgeſprochen, und ſelbſt die ausdrückliche
Angabe der Bibel, daß alle Thiere zu
Adam gebracht worden ſeien, daß er jedem
ſeinen Namen beilege, kann ihn in ſeiner
Ueberzeugung nicht irre machen, daß die
Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 41
amerikaniſchen Thiere auf dem amerikaniſchen
Boden, und die Bewohner der oceaniſchen
Inſeln eben auf dieſen „großen und kleinen
Inſuln des Meeres“ heimiſch ſeien, auch
niemals nach Aſien gekommen ſein könnten.
Dieſe ſeine Ueberzeugung, ruft er mit Virgil,
ſtehe ſo unerſchütterlich: „wie das harte
Geſtein, und wie marpeſiſcher Marmor!“
Man erkennt, wie tief der Eindruck jener
unerſchöpflichen Mannigfaltigkeit des Thier—
und Pflanzenlebens der neuen Welt ge—
gangen war. Der Irrthum der ehemaligen
Zoologen und Botaniker, daß die Pflanzen
und Thiere im Allgemeinen überall dieſelben
ſeien, ſo daß ſie z. B. die Pflanzen des
Theophraſt und Dioskorides am Rheine
und in Belgien ſuchten, dieſer Irrthum, der
eine unendliche Literatur und eine unglaub—
liche Verwirrung in die Nomenklatur gebracht
hat, war endlich auf den Ausſterbe-Etat
geſetzt worden.
Mit den menſchlichen Bewohnern Ame—
rikas macht Milius, wie es die heutige
Wiſſenſchaft ja auch thut, eine Ausnahme.
Er hält ſie nicht „wie die alten Egypter
und Athenienſier von ſich rühmten, für Au-
thochtones und Aborigines, die den
Pilzen und denen Heuſchrecken gleich, ohne Vat—
ter und Mutter, auß Kott und Letten ihren
Urſprung überkommen.“ Leider können wir
nicht ſagen, daß der ſcharfſichtige Mann,
wie die Forſcher unſerer Zeit, durch ethno—
logiſche und anatomiſche Gründe zu dieſer
Erkenntniß gelangt war; es waren vielmehr
verzwickte theologiſche Gründe, welche das
von Zweifeln gepeinigte Gemüth zu dem
Schluſſe trieben, hierin den Menfchen „von
den andern Thieren“ getrennt ſeinen Weg
ſuchen zu laſſen. Milius konnte ſich
ebenſowenig wie die meiſten andern Ge—
lehrten der Zeit, vorſtellen, daß dem Moſe
und andern Propheten des alten und neuen
ni, * „r eee
en ra et
7845 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren.
Teſtamentes das Daſein der halben Welt
unbekannt geweſen ſein ſollte; ſie ſuchten
alſo Anführungen in der Bibel, die ſie
auf die neue Welt beziehen könnten, und
fanden, wie man immer findet was man
ſucht, ſolche Beweiſe in genügender Auswahl.
Aber keiner derſelben reicht vor die „Sünd⸗
fluth“ zurück, und man meinte deshalb, die
alte Welt ſei vorher nicht ſo übervölkert
geweſen, um zu einer Auswanderung nach
der neuen zu zwingen.
auf andern Inſeln geweſen, ſo wird un—
fehlbar gefolgert, daß dort auch keine Sünder
geweſen ſein können: „Muß alſo wahrhaftig
dafür gehalten werden, daß die Sündfluth
nit alle Orth der Welt, abſonderlich aber
America, Magellanica und etliche andre
Inſuln, keineswegs getroffen habe.“ Dies
wird auch daraus geſchloſſen, daß die dieſen
Ländern eigenthümliche, von der altweltlichen
durchaus verſchiedene Flora und Fauna
ſonſt keine Erneuerung gefunden haben
würde, da der Schöpfer ſeit dem ſiebenten
Tage ruhe. Dieſes Argument ſteht der—
maßen im Widerſpruch mit den früher an—
geführten Meinungen des Milius über
den Urſprung der Pflanzen und Thiere,
daß man es wohl vorläufig für ein Ein—
ſchiebſel des Ueberſetzers halten darf.
Es iſt nicht unintereſſant, zu ſehen,
daß man damals ſogleich den Weg über
Japan in's Auge faßte, der auch jetzt noch
als der wahrſcheinlichſte gelten muß, obwohl
man ſeit dem Jahre 1728 durch Behrings
Entdeckung weiß, daß beide Welttheile durch
eine ziemlich breite Waſſerſtraße getrennt
ſind, während man früher einen Zuſam—
menhang im Norden annahm. Schon
Joſeph a Coſta einer der älteſten Ge—
ſchichtsſchreiber Amerikas ließ ſeiner Phantafie
auf dieſem Wege die Zügel ſchießen, indem
0
Da nun vor der
Sündfluth keine Menſchen in Amerika und
er die Straße verfolgte, auf welcher die
Urmenſchen vom Indus und Ganges aus
über China und Japan nach Amerika ge—
kommen und dort bis nach den Anden hin—
unter gewandert wären, woſelbſt fie zuerſt
von ihrem unendlichen Wege ausgeruhet
haben ſollten. „Es hält“ ſchreibt Milius,
„Montanus vor gewiß, daß noch heutigen
Tages in Perü, bei denen von den Span-
niern ſo genannten Bergen Andes, eine ſehr
alte Stadt, Nahmens Jucktam zu finden,
und noch übrig ſeye. Worauß er ſchließet,
daß dieſes Juektam oder Jecktam (welcher
deß Heber dritter Sohn geweſen) Enickel
(Enkel) und diejenige, ſo hernach auß ihren
Lenden erzeuget worden, die Landſchaft Perü
eingenommen, völlig bezogen, auch darinnen
die erſte Stadt, nach dero erſtem Stiffter
und Erbawer Juekta genennet haben.“
In der Bibel heißt es nämlich von
Noahs Urenkel Eber (Geneſis 10, 25 —30):
„Eber zeugte zween Söhne. Einer hieß
Peleg, darum daß zu ſeiner Zeit die Welt
zertheilet ward; deß Bruder hieß Jaketan
Und ihre (der Söhne Jaketans)
Wohnung war von Meſa an, bis man
kommt gen Sephar, an den Berg gegen
den Morgen.“ Die weitere geographiſche
Beſtimmung außer Acht laſſend, deducirte
man nun, mit dem Berge gegen Morgen
könnten nur die Anden gemeint ſein, denn
nur dieſes Gebirge dürfe „Billig und recht
propter Excellentiam,“ d. h. wegen ſeiner
alle andern Berge übertreffenden Höhe und
Ausdehnung ſchlechthin „der Berg im Oſten“
genannt werden, und die Bewohner Baby—
lons, von wo aus der Auszug der Völker —
gerechnet wird, konnten, nach Meinung der
Anhänger dieſer Conjektur, Amerika recht
wohl das Land des Oſtens nennen. Der
kühnen Hypotheſe des Aria Montanus
ſtimmten nicht nur Joſeph a Coſta und.
Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 43
Georg Horn, der Verfaſſer eines 1652
erſchienenen Werkes über die Herkunft der
Amerikaner (de originis Americanis) bei,
ſondern alle Diejenigen, denen ein Stein aufs
Herz gefallen war, darüber, wie ſie die
Entdeckung Amerikas mit der Bibel zu—
ſammenreimen ſollten. Die Sache war in
der That des Fleißes der Theologen werth.
Die Bibel hatte bekanntlich Sem, Ham
und Japhet zu den Stamm-Ahnen der
Aſiaten, Afrikaner und Europäer erhoben,
alſo anſcheinend Amerika vergeſſen, nun war
der Stammvater der Amerikaner im Jaketan
glücklich gefunden und nachgewieſen.
Die Entdeckung Amerikas mußte freilich
der orthodoxen Kirche recht unangenehm fein
Hatte doch der heilige Auguſtin, dieſer zu
allen Zeiten überſchätzte chriſtliche Sophiſt
und Schönredner, in dem bekannten Anti—
podenſtreite geſagt: „Unmöglich kann die
entgegengeſetzte Seite der Erde Bewohner
haben, denn in der heiligen Schrift kommt
unter Adams Nachkommen keine derartige
Sippſchaft vor.“ Dem heiligen Lactantius
hatten ſchier die Worte gefehlt, um die
Thorheit der Mathematiker und Aſtronomen
ſeiner Zeit (im dritten Jahrhundert),
welche das Vorhandenſein der Antipoden
als offne Frage und Möglichkeit, ja als
Wahrſcheinlichkeit hingeſtellt hatten, parla—
mentariſch zu bezeichnen. „Iſt es möglich“,
rief er aus, „daß Menſchen thöricht genug
ſein können, zu glauben, die Bäume kehrten
ſich auf der andern Seite der Erde nach
unten und der Bewohner Füße ſtänden
höher oben als ihre Köpfe! Fragt man
nach Gründen für jene Ungeheuerlichkeit,
daß die Gegenſtäude auf der andern Seite
nicht abwärts von der Erde fallen, ſo hat
man darauf die Antwort, es ſei eine phy—
ſiſche Eigenſchaft, daß ſchwere Körper gleich
den Speichen eines Rades, nach dem Centrum
ſtreben, wogegen leichte Körper, wie etwa
Gewölk, Rauch, Feuer, v Zentrum aus
nach dem Himmelsraume ſtreben. Ich weiß
aber wahrhaftig nicht, wie ich mich über
jene ausſprechen ſoll, die auf verkehrtem
Wege ſind, und noch widerſpenſtig auf ihrer
falſchen Fährte verharren, und die eine
thörichte Annahme durch eine noch thörichtere
zu vertheidigen ſuchen.“
Nichts zeigt uns deutlicher, wie hart
der Schlag war, den die myſtiſche Welt—
anſchauung durch die Entdeckung Amerikas
empfing, als eben die emſige Mühe, die
man ſich gab, nunmehr auch Amerika in
der Schrift zu entdecken. Ebenſo kühn wie
man vordem aus der Schrift bewieſen hatte,
daß jene weſtliche Halbkugel nicht bewohnt
ſein könne, ſo ſuchte man nunmehr aus
ebenderſelben Quelle zu beweiſen, daß jener
Welttheil den Juden wohlbekannt geweſen
ja daß ſie ſeit undenklichen Zeiten mit den
Amerikanern in Handelsverkehr geſtanden
hätten. Der Name des Landes, aus wel—
chem Salomo ſeine Goldſchätze holte, das
Ophir der Alten, war ja nur ein Anagramm
Peru, des Goldreichen: Phiro — Peru,
das war ja ganz einfach. Denen Mer—
curius, Poſtellus, Goropius, Be—
canus, Montanus und anderen Gelehrten
des ſechszehnten und ſiebenzehnten Jahrhun—
derts ging plötzlich ein Licht auf, und ſie
bemühten ſich um die Wette, das Verdienſt
dieſes Columbus, der ihnen einen ſo häßlichen
Streich geſpielt hatte, herabzuſetzen, indem
ſie ſagten, Salomo und alle Völker der
alten Welt hätten ihre Schiffe allbereits
nach Ophir, ſo man jetzt Peru nenne, ge—
ſendet, und von einer neuen Entdeckung
könne hier gar nicht die Rede ſein.
Sogar der ehrliche Milius gibt dieſen
Angriffen auf Columbus in einer deſſen
Verdienſt herabſetzenden Weiſe Raum; über
I ME ee, ui,
ost Ar BD lol
44 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie v
das amerikaniſche Ophir läßt er ſich folgen—
dermaßen aus: „So kann man auch gar
wohl muthmaſſen, Ja gleichſam vor gewiß
ſchlieſſen, daß diſes Goldreiche Land Ophir,
köſtliches verſchiedenes Holtzwerck, Helfenbein,
Affen, Pfawen und Papageyen gebracht wor—
den, eben dieſe unſer Peruanische Provinz
ſey; alldieweilen auß ſolcher noch auf dieſe
einem andern Orte der Orientaliſchen Indien,
eine ſo weite und ferne Reiß von dreyen
Jahren ſollte erfordert werden u. ſ. w.“
Der Verfaſſer hält es für ſehr wahrſchein⸗
auß welchem dem König Salomon, neben
dem beſten und feinſtem Golde, auch viel |
Welt⸗bekanntem Port Thir in Peru“ und
Stund, auch zu uns, ein große Anzahl
dergleichen wunderbahrlicher Thier, allerhand
köſtliches Holtz, als Eben, Paradeyß, roht
gelb, weiß Braſilien, item das heilige Holtz,
Guajacum genand, Sassafras und dergleichen
mehr gebracht wird. So hat man auch
von dem rohten Meer auß, allwo der
Allerglückſeligſte auß allen Königen, der
allerweiſeſte Salomon, ſeine Schiffsflotten
verfertigen und außrüſten laſſen, gar füglich
in Americam ſchiffen können; Weilen dahin
(ſo man Asien vorbeiſegelt) der geradeſte
Curs, Lauff und Strich iſt. Auß welchem
dann allem gantz klar erhellet,
eben die Landſchaft America ſeye; welches
der Bibliſche Text noch mehrers bekräftiget,
in deme er andeutet, man habe mit dieſer
Schiffart drey Jahr zugebracht; worauß
abzunehmen, daß dieſes Land Ophir ſehr
weit müſſe entlegen geweſen ſeyn.
wollte ihme aber traumen laſſen, daß von
den arabiſchen Küſten
Juſul Japan und Malaca oder auch zu
Wer
auß, biß in die
lich, daß die unvollkommne Schiffahrt jener
Zeiten „von dem rothen Meere und deſſen
zurück drei Jahre gebraucht haben werde,
und findet auch dadurch den beruhigenden
Schluß, daß der weiſe Salomo keinen geo—
graphiſch beſchränkten Geſichtskreis beſeſſen
habe, beſtätigt.
Wahrhaftig, die freie Forſchung wurde
von den Rückſichten, die ſie nach allen Seiten
nehmen zu müſſen glaubte, faſt im Keime
erſtickt; nur äußerſt langſam vermochte ſie
ſich die Freiheit zu erkämpfen, in welcher
ſie allein athmen und gedeihen kann. Wir
haben den alten wahrheitsſuchenden Forſcher
in dieſem Rückblick, der wie ein Janusbild
auch auf die Zukunft deutet, möglichſt viel-
fach ſelbſtredend auftreten laſſen, damit der
dumpfe Gefängnißduft nicht verfliege, der
daß deß
Königs Salomon Ophir und Peruayno
bei dem erſten Ausfluge des Geiſtes aus
langer Kerkerhaft noch ſpürſam blieb. Auch
wir arbeiten noch an der Aufgabe, die nach
aufreibenden theologiſchen Studien zurück—
| gebliebene Schwäche und krankhafte Bläſſe
des Menſchheitgenius durch den unmittel—
baren Verkehr mit der Natur, deren Hauch
kräftigend wie Gebirgsluft und Seebäder
wirkt, zu beſeitigen, und der freien Ent—
faltung der geiſtigen Errungenſchaften Herzen
und Thüren zu öffnen.
or zweihundert Jahren.
n
Er
1 u NDR
Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde.
Von
Friedr. von Hellwald.
aß die Anthropologie,
d. h. die Wiſſenſchaft vom
Menſchen als Menſch, nämlich
als einheitliches, ſinnlich-wer—
nünftiges Natur-Individuum,
reine Naturwiſſenſchaf ſei, ſtößt gegenwärtig
wohl kaum mehr auf Widerſpruch. Unter
Ethnographie, zu deutſch Völkerkunde,
verſtehen wir dagegen die Wiſſ enſchaft von Men-
ſchen als Volksindividuum betrachtet. Der
Wiener Linguiſt, Profeſſor Friedrich
Mäller definirt beide Wiſſenszweige ſehr
ſcharf und klar dahin, daß der Unterſchied zwi—
ſchen beiden nicht in der Verſchiedenheit des
Objectes, ſondern in der Verſchiedenheit der
Auffaſſung dieſes Objectes liege. Während
die Anthropologie den Menſchen als Exem—
plar der zoologiſchen Species homo nach
ſeinen phyſiſchen und pſychiſchen na—
türlichen Anlagen betrachtet, faßt die
Ethnographie den Menſchen als ein zu
einer beſtimmten, auf Sitte und Her-
kommen, beruhenden durch gemeinſame Sprache
geeinten Geſellſchaft gehörendes Indivi⸗
duum. Der nämliche Gelehrte ſetzt auch
überzeugend aus einander, daß Race, womit
bei Feſthaltung des Allgemeinen und Ab-
4 \
»
ſehen von dem Beſonderen, innerhalb des
Meuſchen feſtgeſtellte Grundtypen bezeich—
net werden, ein ſtreng anthropologiſcher,
Volk dagegen ein ſtrengethnographiſcher
Begriff ſei. Damit iſt zugleich ausgeſprochen,
daß das Studium der Nace eine Natur-
wiſſenſchaft ſei, während von der, die Völker
behandelnden Ethnographie ein Gleiches
nicht allgemein angenommen wird. Gleich—
wohl werden wir auch die Völkerkunde
den Naturwiſſenſchaften beizählen müſſen,
in ſo ferne das deutſche Wort „Völker—
kunde“ mehr beſagt als der oben definirte
Begriff „Ethnographie“. Gewiſſermaßen
faßt unſere Bezeichnung „Völkerkunde“ beide
Disciplinen in einen einzigen Begriff zuſammen,
indem fie, wie natürlich, in erſter Inſtanz
auf Claſſification der verſchiedenen Völker
Rückſicht nimmt, dabei aber auf das anthro-
pologiſche Racenmoment zurückgreifen muß.
Die reine Ethnographie, welche ſich lediglich
mit der Beſchreibung der Sitten, Gebräuche,
Anſchauungen, Sprachen u. dergl. der einzelnen
Völker beſchäftigt, braucht ſich um die
Stellung jedes einzelnen dieſer Völker eigent—
lich gar nicht zu bekümmern. Sie kaun
uns über Chineſen und Indianer, über
46
Malayen und Botocuden, Papuas und
Kaffern eben ſo gut unterrichten, wie wir
die Lebensweiſe des Elephanten und des
Kameeles, des Straußen und der Klapper⸗
ſchlange, der Biene und der Seeſterne er—
örtern können, ohne nach der zoologiſchen
Stellung dieſer Thiere weiter zu fragen?
Wer aber dieſe Selbſtbeſchränkung übt,
verzichtet auch naturgemäß auf jeden Einblick
in den Cauſalzuſammenhang der Erſchei—
nungen; ja, er vermag nicht einmal Ordnung
in dieſelben zu bringen, oder, wenn er es
dennoch unternimmt, ſo gelangt er von ſelbſt
dahin, Verwandtes zu Verwandtem zu ſtellen,
d. h. zu claſſificiren. Welches Syſtem
man nun immer einer Claſſificirung zu
Grund lege, ſtets überſchreitet man damit
die Grenzen, welche, beim Menſchen, der
reinen Ethnographie gezogen ſind, und
greift ſomit unwillkürlich in das Gebiet der
naturwiſſenſchaftlichen Anthropologie hinüber.
Es iſt auch leicht einzuſehen, daß die Ethno—
graphie in ihrem beſchränkten Sinne bei
weitem das Intereſſe entbehrt, welches der
„Völkerkunde“ innewohnt, wie ſie Peſchel's
bekanntes Werk in ihren Umriſſen ange—
deutet hat. Denn ſo unermeßlich iſt das
vor dem Forſcher ſich ausbreitende Gebiet,
daß auch Peſchel's „Völkerkunde“ uns nur
zunehmender Kenntniß einſt werden kann, wer—
vergängliches bahnbrechendes Verdienſt — die
Pfade der künftigen Forſchung weiſt. Auch
Peſchel, ſo ſehr er Gewicht legt auf jene
Momente des geiſtigen Lebens der Völker,
welche vor allem das Jutereſſe gefangen
nehmen, erkannte die Nothwendigkeit, den
Menſchen zuerſt als Naturindividuum, alſo
anthropologiſch, und dann erſt als geſell—
ſchaftliches Weſen, nämlich ethnographiſch zu
betrachten. So finden wir denn in ſeinem
zeigt, was aus dieſem Wiſſenszweige bei
den muß, und — darin liegt Peſchel's un-
Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde.
Buche Anthropologie und Ethnographie innig
verſchmolzen, letztere gleichſam aus erſterer
hervorſprießend, wie der Aſt aus dem Stamme
des Baumes; dies iſt die „Völkerkunde“,
wie wir ſie heute verſtehen und wie ſie für
das Verſtändniß der menſchlichen Entwicke⸗
lungsgeſchichte allein von Werth iſt. Un⸗
nöthig hinzuzuſetzen, daß ſie auch ſtets eine
„vergleichende“ ſein müſſe, weil aus dem
Vergleiche allein die Zuſammengehörigkeit
der Phänomene ſich ergiebt und Geſetze,
welche denſelben urſächlich zu Grunde liegen,
ſich ableiten laſſen.
Die Völkerkunde iſt alſo, ſagte ich, in
gewiſſem Sinne auch Naturwiſſenſchaft. In
der That regt ſich beim Nennen eines
Völkernamens ſofort die läſtige Frage, in
welchen Grundtypus des menſchlichen Ge—
ſchlechtes, in welche Race er einzureihen fer. _
Nenne ich dem Leſer kurzweg einen unbe—
kannten Völkernamen, fo kann er mit dem—
ſelben eben jo wenig eine beſtimmte Vor-
ſtellung verknüpfen, als mit jenem einer
Thierſpecies ohne jedwede Angabe der Claſſe
oder Ordnung. Mit den Diggdr weiß der
Unkundige ſo wenig anzufangen, wie
mit den Clavicornia (Keulenhörnern);
orientirt iſt er aber ſofort, wenn ich ſage, daß
die erſteren ein Indianerſtamm, die letzteren
eine Käferart ſind. Dieſe Ausführungen
mögen Manchen recht banal dünken, ſind
aber doch ſehr geeignet darzuthun, wie wenig
wir der Claſſification in naturhiſtoriſchem
Sinne entrathen können. Der Umſtand, daß
die Ethnologen ſich über eine beſtimmte
Eintheilung des Menſchengeſchlechtes noch
nicht geeinigt haben und vorausſichtlich noch
ſehr lange nicht einigen werden, ändert daran
nicht das Geringſte. Große allgemeine
Gruppen laſſen ſich in der Anthropologie
gerade ſo feſthalten wie im Thier- und
Pflanzenreiche, und damit iſt, wenn auch
nicht der Wiſſenſchaft, fo doch dem allge-
meinen Bedürfniſſe Genüge geleiſtet. Gegen—
ſtand eines etwaigen Streites unter den
Fachgelehrten kann höchſtens die Stellung
untergeordneterer Glieder ſein, wie dies auch
in der Zoologie und Phytologie bei der
zunehmenden Verflüchtigung des Artbegriffes
eingetreten iſt. Der anthropologiſche Racen—
begriff erleidet durch ſolche Schwankungen
keine größern Einflüſſe als jener der zoo—
logiſchen oder botaniſchen Claſſen. Damit
ſoll beileibe nicht etwa eine Stabilität der
Race a priori behauptet werden; nichts
liegt uns im Gegentheil ferner, und ich
füge ſchleunigſt hinzu, daß zwiſchen den
verſchiedenen Typen allmählige Uebergänge
von dem einen zum anderen ſich nachweiſen
laſſen, welche gerade die Urſache der er—
wähnten Schwankungen ſind. Sie machen
es oft fraglich, ob dieſes oder jenes extreme
Glied dieſem oder jenem Typus beigezählt
werden ſolle. Allein, wie ſchon Humboldt
ſagt, „das Sein wird in ſeinem Umfang
und inneren Sein vollſtändig erſt als ein
Gewordenes erkannt.“ Die menschlichen
Grundtypen oder Racen treten uns als die
Ergebniſſe unberechenbar langer Differen—
zirungsproceſſe, als ein Gewordenes entgegen,
und die relativ kurze Zeit, welche die Ge—
ſchichte rückwärts zu ſchauen vermag, zeigt
ſie uns eben ſo unverändert, wie die Thier—
und Pflanzengeſtalten unſerer Erde. Wir
dürfen demnach, ſo weit es ſich lediglich
um geſchichtliche Betrachtung handelt, auch
die Racen als etwas Stabiles, richtiger als
etwas ſo langſam ſich Entwickelndes anſehen,
daß die Veränderung unſeren forſchenden
Blicken ſich entzieht. Innerhalb der hiſto—
riſchen Zeiträume können wir an den großen
Grundtypen der Menſchheit keine Veränder—
ung in Körperbau, phyſiſchen und pſychiſchen
Anlagen conſtatiren. Desgleichen find, fo
Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde.
lange wir denken können, Vögel ſtets Vögel,
Fiſche ſtets Fiſche geblieben. Wenn Kurz—
ſichtige dieſen Umſtand als Einwand gegen
die Evolutionstheorie benützen, fo vergeſſen
ſie, daß auf die Menſchheit übertragen
der nämliche Umſtand mit logiſch unerbitt—
licher Conſequenz zur aprioriſtiſchen Vielheit
der Racen führen müßte. Nun ſind aber
jene Gegner der Entwicklungslehre meiſt
lebhafte Vertheidiger der Einheit des Menſchen—
geſchlechts, welche gerade die auf zoologiſchem
Felde angefeindete Transmutationstheorie
in den Augen ihrer Anhänger über allen
Zweifel erhoben hat.
Alle Völkerkunde, will ſie die einzelnen
Volksindividuen begreifen, muß alſo zuvör—
derſt auf das anthropologiſche Racenmoment
zurückgreifen; denn aus den Racen haben
ſich erſt ſpäter die Völker herausgeſondert.
Jedes Volk muß nothwendig irgend einer
Race angehören, ſtreitig kann höchſtens ſein,
welcher? Daß es gar keiner Race angehöre
iſt platte Unmöglichkeit. Wenn dennoch die
heutige Völkerkunde Stämme wie z. B.
die Basken verzeichnet, welche iſolirt, ohne
jegliche Anverwandtſchaft ſtehen, und die
ſie demnach nicht zu claſſificiren weiß, ſo iſt
dieſe ſeltſame Stellung doch nur ſcheinbar,
inſofern die Basken nachweisbar die letzten
Ueberbleibſel einer ausgeſtorbenen, einſt weit—
verbreiteten Völkerfamilie ſind. Racentod
kann aber, wie die in der Südſee unter
unſern Augen ſich vollziehenden Vorgänge
beweiſen, genau ſo eintreten wie der in der Ge—
ſchichte häufige Völkertod, und es liegt auf flacher
Hand, daß wir von den vor Beginn unſerer
geſchichtlichen Kenntniſſe dahingeſchwundenen
Racen nichts Näheres wiſſen können, wenig—
ſtens nicht genug, um ihnen eine beſtimmte
Stellung anzuweiſen. Die ſcheinbaren Aus—
nahmen heben ſomit das allgemein gültige
Geſetz nicht auf, wonach jedes Volk in
zu
48
irgend eine Race einzureihen ſein müſſe.
Dieſer Satz iſt für die Völkerkunde und
deren Bedeutung in der ſpäteren Entwickelung
der Menſchheit von fundamentaler Wichtigkeit.
Wir wiſſen nämlich, daß Race als anthro—
pologiſcher Begriff einen beſtimmten Bruch—
theil der Menſchheit nach ſeinen phyſiſchen
und pſychiſchen natürlichen Anlagen umfaßt.
Friedrich Müller hat nun in bisher
unwiderlegter Weiſe auseinandergeſetzt, wie
die Racenbildung der mit dem Entſtehen
der Sprache zuſammenfallenden Völkerbildung
vorangegangen ſei. Es hat eine Zeit ge—
geben, in welcher zwar Racen, aber keine
Völker exiſtirten. Es gab alſo damals
noch kein Volksthum, mithin auch noch nicht
die daſſelbe begründenden Factoren: Sprache
und Sitten. Als nun ſpäter, nach
dieſer ſprachloſen Urzeit, aus den Racen,
unter dem Einfluſſe der verſchiedenſten
Verhältniſſe, die Völker ſich entwickelten,
umſchlang die Glieder einer und der näm—
lichen Race ſtets auch das gemeinſame Band
der ererbten phyſiſchen und pſychi—
ſchen natürlichen Anlagen, und
dieſes Band hat ſich, wo nicht äußere Stö—
rungen eintraten, wo die Race rein geblieben,
ungeſchwächt erhalten bis zur heutigen Stun—
de. Wir nennen es kurzweg die Racen—
anlagen der Völker, und ſie ſind es einzig
und allein, welche die Blutsverwandtſchaft
der einzelnen Stämme beweiſen, nicht die
Sprache, welche gar manchem Ethnologen
mit Unrecht als alleiniger Leitſtern dient.
Die Sprache iſt ein ausſchließliches Merk—
mal des Volksthums, niemals eine Racen—
eigenſchaft; nicht nur kann die Sprache von
einem Volke, wie von einem Individuum
willkürlich vertauſcht werden, wovon die
Geſchichte zahlreiche Beiſpiele aufbewahrt
hat, ſondern die verſchiedenen Sprachſtämme,
auf welche die Wiſſenſchaft die Sprachen
|
Hellwald, Beben und Aufgaben der Völkerkunde.
zurückzuführen im Stande iſt, ſetzen theils
bei den verſchiedenen Racen mehrere von
einander unabhängige Urſprünge voraus,
theils weiſen ſie ſelbſt innerhalb einer und
derſelben Race auf mehrere von einander
unabhängige Urſprünge hin. Da es alſo
erſter Linie die oben erwähnten Racen—
anlagen ſind, welche die Stammverwandt—
ſchaft der Völker und Nationen begründen,
ſo iſt, wie ſich jeder Denkende ſelbſt ſagen
wird, deren genaue Erforſchung eine der
wichtigſten Aufgaben der vergleichenden
Völkerkunde.
Das Betonen der hervorragenden Wich—
tigkeit des Racenmoments ſchien mir deshalb
nicht überflüſſig, theils, weil daſſelbe noch
lange nicht nach Gebühr gewürdigt wird,
theils, weil ſich gegen eine ſolche Würdigung,
wo man derſelben, ſelten genug, begegnet,
ſogar eine auffallende Oppoſition von oft
hochachtbarer Seite erhebt. So ſchreibt z.
B. Profeſſor A. Sprenger, ein Orien—
taliſt erſten Ranges: „Zu allen Zeiten
haben ſich's die Gelehrten ſehr leicht gemacht,
auffallende Erſcheinungen zu erklären: ſie
ſtellen Schablonen auf, in welcher fie ſelbe
hineinzwängen In neueſter Zeit
hat man eine recht bequeme Schablone er—
funden, alle Erſcheinungen im politiſchen und
ſocialen Leben ſofort zu erklären, es iſt dies
der Racenunterſchied.“?) Gewiß hätte der
hochverdiente und gelehrte Forſcher zu der
in dieſen Zeilen ausgedrückten Anſicht ſich
nicht verleiten laſſen, wenn er die Tragweite
des von ihm angezweifelten naturhiſtoriſchen
Momentes genau erwogen hätte Ich will
deshalb verſuchen, dieſen Punkt noch kräftiger
zu beleuchten. Da ſogar ſchon der fromme
Linné den homo sapiens als eine Species
des Ba wenn auch als deſſen höchſte,
LTE NE RE
) Ausland 1877. Nr. 3. S. 55.
— — — —
Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 49
g aufnahm,
keinen Anſtoß erregen, daß die Wiſſenſchaft
ſo wird die Behauptung wohl
von dieſer Species, die Anthropologie, ſtrenge
genommen, nur ein Zweig der Zoologie
ſei, ein Zweig, der freilich in Anbetracht
der Wichtigkeit, welche ſein Object für uns
beſitzt, eine enorme Ausdehnung gewonnen
und ſich zu einer beſonderen Disciplin empor—
gearbeitet hat.
1
gemeinen Hauskatze Charakterzüge bemerkt
welche dem geſammten Katzengeſchlechte eigen
ſind? Dieſe Bemerkung iſt ſchon ſo trivial,
daß daran zu erinnern füglich gar nicht
nöthig ſein ſollte. Ebenſo ſcharf bewahrt
aber jede Varietät jene Unterſchiede, welche
ſie eben zur Varietät ſtempeln, ſie von den
übrigen Varietäten der gemeinſamen Art
Dies hindert nicht, daß als
phyſiſches Individuum der Menſch denſelben
unterſcheiden, und daſſelbe geſchieht bei den
meiſt künſtlich hervorgerufenen Spielarten,
Geſetzen unterworfen iſt wie das Thier. ſo lange die Momente andauern, welche ihr
„Gleich dem Thiere zerfällt der Menſch in
mehrere Varietäten. Gleichwie jeder thie—
riſchen iſt auch jeder menſchlichen Varietät
ein eigener Verbreitungsbezirk, innerhalb
deſſen ſie gedeiht, angewieſen. Gleich dem
Thiere, das gezähmt in mehrere Spielarten
zerfällt,
Weſen xar EEoyav,
verſchiedener Typen dar.“
bietet der Menſch, ein ſociales
eine große Menge
die Racen, und die Paralleliſirung beider
wird der naturwiſſenſchaftlich Gebildete als
ſelbſtverſtändlich betrachten. Greifen wir
nun eine beliebige Thierſpecies heraus, jo
erkennen wir ſchon, daß alle ihre Varietäten
fi nicht nur durch einen im Weſentlichen
übereinſtimmenden Körperbau, ſondern auch
durch eine beſtimmte Reihe gemeinſamer
Erſcheinungen in ihren Lebensgewohnheiten,
Sitten und, wenn man ſo ſagen darf, auch
in ihren geiſtigen Anlagen charakteriſiren.
Zerſplittert ſich die Varietät in Spielarten,
ſo wird das Band ſolcher gemeinſamen
Phänomene zwar loſer, iſt aber immerhin
noch vorhanden und weiſt deutlich die all—
gemeinen Racenmerkmale auf. Unſere Haus—
thiere, die wohl insgeſammt von wilden
Arten abſtammen und mitunter in zahlreiche
Spielarten zerfallen, find hierfür ein deut⸗
licher Beweis. Wer hätte nicht an der
Dies die Worte
Friedrich Müller's. Was in einer Thier- |
ſpecies die Varietäten, find in der Menſchheit
Entſtehen veranlaßten. Im Allgemeinen
können wir es getroſt ausſprechen, daß die
Merkmale deſto feſter und unver—
wiſchbarer haften, je größer die
Kategorie iſt, welche ſie charak—
teriſiren. So kann eine Spielart weit
leichter jene Merkmale, welche ſie von der
nächſten Spielart, als die Varietät jene
verlieren, die ſie von der nächſten Varietät
unterſcheiden. Mit andern Worten:
Spielart geht leichter in der Varietät auf,
als dieſe in der Art; die Varietät aber
leichter in der Art, als dieſe in der Familie;
die Art leichter in der Familie, als dieſe
in der Ordnung; die Familie leichter in
der Ordnung, als dieſe in der Claſſe u. ſ. w.
Die Nutzanwendung dieſer Sätze auf
die Völkerkunde ergibt ſich von ſelbſt. Vom
Menſchen pflegt man anzunehmen, daß er
nur in einer einzigen Art mit verſchiedenen
Varietäten und noch mehr Spielarten exiſtirt;
es iſt jedoch gut, daran zu erinnern, daß
bei dem heutigen Zuſtande der Forſchung,
welche die Flüſſigkeit aller Kategorien er—
wieſen, zwar ein bedeutender Unterſchiede
aber keine abſolute Grenzlinie zwiſchen Art
und Varietät beſteht. Mehr denn irgend
eine Disciplin iſt die Völkerkunde geeignet,
uns dieſe Wahrheit vor Augen zu führen;
denn es giebt zweifellos eine ganze große
Reihe von nicht blos phyſiſchen, ſondern
Die
ei
1
>
*
*
a
3
wi
—
2
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— — 1.i — .— — —gt᷑ — —
auch pſychiſchen Erſcheinungen, welche allen
Menſchen ohne Unterſchied der Race und
des Volkes zukommen; wir nennen ſie all—
gemein menſchliche. Die religiöſen Gefühle
ſcheinen z. B. in dieſe Claſſe zu gehören.
Jede menſchliche Varietät, jede Nace beſitzt
aber ihrerſeits wieder beſtimmte, ihr eigen—
thümliche Merkmale, wodurch ſie ſich von
ihren Nebenracen unterſcheidet. Friedrich
Müller hat in ſeiner „Allgemeinen Ethno—
graphie“ zum erſten Male die Charakteriſtik
der einzelnen Racen nach ihren hervor—
ragendſten Unterſcheidungsmerkmalen durch—
geführt. Die Spielarten der Menſchenracen
nennen wir Völker und nach dem oben Er—
wähnten unterliegt es keinem Zweifel, daß
die Raceunterſchiede ſtärker ſein müſſen
als die Völkerunterſchiede. Der einfache
Augenſchein beſtätigt auch reichlich dieſes
Axiom. Betrachten wir Italiener, Fran—
zoſen, Spanier und Portugieſen, ſo er—
kennen wir zwiſchen dieſen Nationen ſehr
deutliche Unterſchiede, nicht blos in Sprache
und Sitten, ſondern ſelbſt im Baue ihres
Körpers. Dennoch kommen ihnen allen
wieder in Sprache, Sitten und Körperbau
übereinſtimmende Eigenſchaften zu, welche
ſie von Engländern, Deutſchen und Skan—
dinaviern, oder von Ruſſen, Polen, Böhmen
u. ſ. w. unterſcheiden. Weit mehr als
untereinander unterſcheiden ſich alle dieſe
genannten Völker zuſammen aber von den
Chineſen, Malayen oder Indianern, welche
eben einer ganz anderen Race angehören.
Den Racen⸗Unterſchied leugnen zu wollen, wäre
Angeſichts der von der Völkerkunde auf-
geſpeicherten Erfahrungen unmöglich und
lächerlich, und müßte mit Nothwendig⸗
keit dazu führen, auch die Unterſchiede von
Volk zu Volk in Abrede zu ſtellen, was
gewiß keinem Vernünftigen beifällt. Es hieße
Eulen nach Athen tragen, wollte ich daran
erinnern, wie jede fremde Sprache uns
daran mahnt, daß das Volk, welches ſie
redet, auch verſchieden denkt und-oft verſchie—
den empfindet. Können wir doch manche
Begriffe der einen Sprache nicht in eine
andere überſetzen! Der Völkerunterſchied iſt
alſo unläugbar vorhanden, nicht blos in der
Sprache, in der Denkweiſe, in den Sitten, in
den Lebensgewohnheiten, kurzum in den geiſti—
gen Gebieten, ſondern auch in den pſychiſchen
und ſogar in den phyſiſchen Anlagen.
Blättern wir in den Berichten der Rei-
ſenden, ſo ſtoßen wir hundertfach auf die
Angabe von der Sanftmuth oder dem Blut-
durſte dieſes oder jenes Volksſtammes.
Die Indianer Nordamerikas tragen große
Unempfindlichkeit gegen körperliche Schmerzen
und Qualen zur Schau; manche Neger-
ſtämme legen auf das Leben gar keinen
Werth. In Braſilien geben ſich Neger—
jelaven in ganzen Geſellſchaften aus ganz
geringfügigen Urſachen mitunter den Tod,
blos um ihren meiſt guten Herrn zu
ärgern! Wir brauchen aber nicht ſo weit
zu gehen. In Gemüth und Temperament
iſt der fröhliche Italiener von dem ernſten
Deutſchen himmelweit verſchieden und dieſer
wieder nicht mit dem ſchwermüthigen Slaven
zu verwechſeln. Ganz das Gleiche trifft
bei dem körperlichen Aeußeren zu. Ein
nur halbwegs aufmerkſamer Beobachter er⸗
kennt alsbald einen fremden Typus inmitten
eines Volkes. Ein geübtes Auge vermag
beinahe jede europäiſche Nationalität an
ihrem Aeußeren zu erkennen, wird zum min⸗
deſten niemals einen Briten für einen Spa⸗
nier oder dieſen für einen Schweden, Ruſſen
oder Ungarn halten. Wer dann endlich in
verſchiedenen Ländern gelebt, unter ver⸗
ſchiedenen Völkern ſich umgeſehen hat, der
findet wohl ſehr bald heraus, wie ſo manche
politiſche und ſociale Erſcheinungen in dem
50 Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 5
einen Lande gedeihen, in dem anderen hin—
gegen unmöglich ſind, weil ſie eben mit den
geiſtigen und pſychiſchen Anlagen des je—
weiligen Volkes im innigſten Zuſammen—
hange ſtehen. Die Culturgeſchichte verſieht
uns mit zahlloſen Beiſpielen, daß eine und
die nämliche Erſcheinung von verſchiedenen
Völkern ſehr verſchieden aufgefaßt und be—
urtheilt wird. Blicken wir auf das Chriſten—
thum bei den Romanen, den Germanen
und den Slaven, auf den Islam bei den
ſemitiſchen Arabern und den uralaltaiſchen
Türken. Welche tiefgehende Unterſchiede!
Oder, um ein modernes Beiſpiel über einen
recht gleichgültigen Gegenſtand zu wählen,
vernehmen wir ein deutſches und ein ita= |
lieniſches Urtheil über Richard Wagner'ſche
Muſik! In's Unzählige ließen ſich dieſe
Beiſpiele häufen, wäre es überhaupt noch
nothwendig, die alte, längſt erkannte Wahr—
heit zu beweiſen, daß die Völker von einander
verſchieden geartet find. Niemand beftreitet
fie, wagt es, fie zu beſtreiten. Iſt es nun nicht
ſonderbar, daß man für die Racen nicht gelten
laſſen will, was man doch für die Völker,
ihre Spielarten, nicht in Abrede ſtellen kann?
Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde.
kenden Begriffe der Race noch nicht möglich
Warum ſoll kein Racenunterſchied exiſtiren,
Völker führt natürlich auf jene zurück, ob
wenn es doch einen Völkerunterſchied gibt?
Warum ſoll erſterer nur eine bequeme
Schablone ſein, wenn die Wirkungen des
Letzteren ſo augenfällig hervortreten? Wa—
rum ſollen endlich beim Menſchen nicht die
nämlichen Geſetze wirkſam ſein wie in der
übrigen organiſchen Natur?
Vielleicht wendet man ein, daß, die Racen—
unterſchiede zugegeben, dieſelben noch nicht
ſcharf genug definirt ſeien, um daran weitere
Combinationen zu knüpfen. Dieſer Einwurf
beſitzt eine ſcheinbare Berechtigung, in ſo
dieſe
|
felhaft ſein.
ferne die Anthropologen eine definitive Ein-
theilung der Menſchheit in Racen noch nicht
vereinbart haben, es ſomit bei dem ſchwan—
51
erſcheint jede, Race nach ihren phyſiſchen
und pſychiſchen Anlagen ſcharf zu umgrenzen.
Daß das Problem nicht ganz unlösbar ſei,
hat indes, wie erwähnt, ſchon Friedrich
Müller gezeigt, und dies bildet nun eine
zweite Aufgabe der Völkerkunde. Für die
Culturentwicklung der weißen Menſchheit,
die, von Natur aus auf beſtimmte Erdſtriche
beſchränkt, meiſtens allein in Betracht kommt,
iſt aber der angedeutete Einwurf völlig
werthlos, denn hier haben wir es nur mit
längſt bekannten ethniſchen Factoren zu thun.
Wir wiſſen genau, was zum indogermaniſchen
und zum ſemitiſchen Stamme gehört, und
was nicht; die Unterſchiede zwſchen beiden
ſind ſcharf und beſtimmt, und laſſen ſich
die ganze Geſchichte hindurch mit geringer
Mühe verfolgen. Auch die ethnologiſche
Stellung der meiſten aſiatiſchen Völker iſt
genügend geſichert.
erſt, wenn wir die Völkerkunde bei cultur—
geſchichtlichen Unterſuchungen über ſehr fern
abliegende Bruchſtücke der Menſchheit zu
Hülfe rufen.
Die Frage nach den Raceunterſchieden
und deren Einflüſſen in der Geſchichte der
Unterſchiede höhere und niedrigere
Menſchentypen erkennen laſſen. Meiner
Anſicht nach kann die Antwort nicht zwei—
Gehen wir auch von einer
urſpünglichen Einheit unſeres Geſchlechtes
aus, ſo ſind doch die phyſiſchen Anlagen
der einzelnen Racen erſt ſpäter im Kampfe
um's Daſein erworben worden, und es iſt nicht
einzuſehen, warum, wenn die Umſtände, welche
die Racenbildung hervorriefen, ſtark genug
waren, dieſe mit verſchiedener Hautfarbe,
verſchiedenem Haarwuchs und verſchiedenem
Schädelbau, mit ſogar ſehr verſchiedener
Gehirngröße auszuſtatten, ein Gleiches nicht
Fühlbar wird die Lücke
u‘ a 8
P
5
—
52
auch bei den pſychiſchen Anlagen der Fall
geweſen ſein ſollte. Die ſogenannte Gleich—
heit aller Menſchen iſt ein wiſſenſchaftlicher
Nonſens; ſie hat, wenn je, nur beſtanden,
ſo lange der auf tiefſter thieriſchen Stufe
ſtehende Menſch noch in der Urheimath un—
abgetheilt in Varietäten lebte. Mit der,
wahrſcheinlich durch die Wanderung und
Aupaſſung an fremde Wohuſitze veranlaßten
Spaltung in Varietäten, in Racen, hörte
die urſprüngliche Einheit und Gleichheit
auf, und es unterliegt wohl keinem Zweifel,
daß die verſchiedenen Racen pſpychiſch un—
gleich begabt waren. Genau das Nämliche
können wir übrigens an den Varietäten
einer beliebigen zoologiſchen Art beobachten.
Wenn wir nun von einer ungleichen Be—
gabung reden, ſo iſt damit freilich noch
kein Vergleich in dem Sinne von hoch und
niedrig ausgedrückt, und ich will bemerken,
daß letztere Unterſcheidung überhaupt eine
ganz ſubjective iſt. Hoch nennen wir, was
auf unſerer eignen Stufe ſteht; niedrig was
darunter, am niedrigſten was am weiteſten
davon entfernt iſt. Wir gerathen dadurch
allerdings häufig in Gefahr als niedrig
zu bezeichnen, was ſtreng genommen blos
anders iſt als wir, immerhin aber doch
mit einem gewiſſen Rechte, in ſofern wir
ein Höheres über uns nicht erblicken. Folgen
wir übrigens dem Geig er'ſchen Ausſpruche,
wonach die Vernunft erſt durch die Sprache
geſchaffen wurde, ſo war der Menſch in
der Zeit, als es zwar Racen aber noch keine
Völker gab, weil ſprachlos auch vernunft—
los. Die intellectuellen Divergenzen können
alſo erſt ſpäter, nach Entſtehung der
Sprache und Abſonderung in Völker zum
Vorſchein gekommen ſein und es iſt begreif—
lich, daß je größer die Zerſplitterung, deſto
größer und zahlreicher auch die geiſtigen
Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde.
— —<
Verſchiedenheiten ſind. Durch die ſchon vor—
handenen pſychiſchen Racenanlagen wurde
die intellectuelle Entwickelung der neugebore—
nen Völker zweifelsohne tief beeinflußt,
allein, daß ſie nicht lediglich auf Rechnung
der Race zu ſetzen ſei, erhellt aus dem Ge—
ſagten zur Genüge. Wenn nun thatſächlich
unter den verſchiedenen Stämmen intellectuelle
Differenzen vorhanden ſind, wie ſie klaffender
kaum gedacht werden können — die Armuth
mancher, auf einige hundert nothdürftiger Be—
griffe beſchränkter Sprachen, verglichen mit den
hochausgebildeten wortreichen Idiomen der
Culturvölker gibt davon Kunde — ſo er—
wächſt daraus der Völkerkunde eine dritte,
nicht minder wichtige Aufgabe: zu erfor—
ſchen und zu ſondern, was auf Racen,
einflüſſe zurückzuführen, was dem
Volke als ſolchem eigent hümlich iſt
Die hohe Bedeutung der Völkerkunde
für die Geſchichte der menſchlichen Geſittung
wird wohl Niemandem entgehen. In Wahr-
heit ift ſie die alleinige Baſis, auf welcher
culturhiſtoriſche Unterſuchungen mit Sicherheit
ausgeführt werden können, gibt ſie allein
einen zuverläſſigen Anhaltspunkt zur Be—
urtheilung beſtehender Zuſtände, ſocialer
wie politiſcher Inſtitutionen. Ohne ſie läuft
man Gefahr, wie es ja alltäglich geſchieht.
Utopien nachzujagen, Phantaſiegebilde für
den Ausfluß tiefer Weisheit oder politiſcher
Ueberlegenheit auszugeben. Vielleicht werde
ich ein andermal in dieſen Spalten andere
intereſſante Punkte der naturwiſſenſchaftlichen
Völkerkunde, z. B. die culturhiſtoriſchen
Wirkungen der Kreuzung und Racenmiſchung
zu erörtern Gelegenheit finden. Für dies—
mal begnüge ich mich mit dem Hinweiſe,
daß alle Völkerkunde, wie ich gezeigt zu
haben glaube, beginnen müſſe mit der
Abſtammungslehre.
e
o
=
—
Wirkung der
Abſtammungslehre erſichtlicher
als an der Wiſſenſchaft vom
Menſchen.
Als ich auf der Hochſchule weilte —
es war von 1851 bis 56 — herrſchte
noch unumſchränkt das Dogma Cuvier's:
„Es gibt keinen foſſilen Menſchen.“
Ich erinnere mich noch ſehr gut, wie mein
hochverehrter Lehrer Prof. Quenſtedt mich
damals um meine Anſicht über ein paar
Zähne frug, die er ſich nicht zu ent—
räthſeln vermöge. Als ich ſie ohne Beſinnen
für menſchliche Backenzähne erklärte, rief er
lebhaft aus, das ſei nicht möglich, denn
die Zähne ſeien ohne jede Frage foſſil und
foſſile Menſchen gebe es nicht, er halte ſie
für die Zähne einer kleinen Species von
Schweinen, er habe in der zoologiſchen
Sammlung der Univerſität alle dort vor—
handenen Schweinearten durchgeſehen, mit
denen ſtimmten ſie allerdings nicht, aber es
könnte eine Dicotylesart ſein, deren Schädel
in der Sammlung fehle.
meiner eigenen Sammlung einen Schädel
Da ich nun in
Die moderne Anthropologie.
Von
Guſtab Jäger.
auch nicht und der Zwieſpalt blieb unge—
löst: Ich blieb dabei, daß es Menſchen⸗
zähne ſeien, er, daß ſie foſſil, alſo nicht von
Menſchen ſtammen könnten.
Und wie ſteht es heutzutage? In allen
eiviliſirten Ländern beſtehen anthropo lo-
giſche Geſellſchaften, in welchen fid
Laien und Gelehrte in großer Zahl ver-
einigt, welchen ſogar ſchon die Behörden
ihren Apparat zur Verfügung geſtellt haben,
einzig zu dem Zweck, den foſſilen oder, ſagen
wir objektiver den prähiſtoriſchen Menſchen
zu ſtudiren und ihn mit dem hiſtoriſchen in
Verbindung zu ſetzen. Ein immenſes Material
der intereſſanteſten Art iſt durch den von
dieſen Vereinen ausgehenden Impuls zu
Tage gefördert, eine Armee von Beobachtern
über alle Länder hin aufgeſtellt worden
und mit wachſendem Erſtaunen ſieht der ge—
bildete Theil der Menſchheit die Ahnenſchaft
von dem Agamemnon Schliemann's an—
gefangen bis hinauf zu den Renthier—
nomaden Schwabens und Südfrankreichs
und den kannibaliſchen Höhlenbewohnern
Belgiens aus dem Schoße der Erde ſteigen.
Wer hat dieſen Zauber vollbracht?
dieſes ſüdamerikaniſchen Schweines beſaß, Wer blies dieſe Poſaune des jüngſten Ge—
fo holte ich denſelben herbei; er ſtimmte eben richts, welche die Gebeine der Vergangen—
|
|
*
54
heit zur wiſſenſchaftlichen Auferſtehung kom—
mandirte? Wem verdanken wir dieſe
immenſe Erweiterung unſeres hiſtoriſchen
Horizontes? Was war die geiſtige Macht,
welche die Laienwelt packte und ſie zwang,
dem kleinen, als Sonderlinge verlachten, ja
von manchen des Schwindels geziehenen
Corps von Archäologen, die ſchon ſeit
Dezennien in der Stille dem Cultus der
Vergangenheit huldigten, zur Seite zu treten;
welche hunderte der beſten Köpfe und Tauſende
von Händen in Bewegung ſetzt und einen
neuen Zweig der Naturforſchung,
Prähiſtorik, ins Leben rief?
Niemand anders war es, als der Ruf
der Darwiniſten: Der Menſch ſtammt
vom Thiere ab!
Wir Naturforſcher ſind ſo gern ſtolz
darauf, daß wir über die Vorurtheile des
Laien erhaben ſeien, daß das Dogma keine
Herrſchaft über uns übe. Eitle Selbſt—
überhebung! Wer die Geſchichte der Wiſſen—
ſchaft ſtudirt, was findet er? Jederzeit
die Herrſchaft des Dogma's und
jeden Fortſchritt der Wiſſenſchaft
geknüpft an den Sturz eines Dogma's.
Und wodurch wird ein Dogma geſtürzt?
Ich höre die Antwort: „Durch That—
ſachen!“ daß das nicht wahr iſt, läßt
ſich gerade an unſerem Kapitel beweiſen.
Schon im Jahre 1828 hatte Herr
Tournal in der Höhle von Bize den
foſſilen Menſchen gefunden. Ein Jahr
ſpäter entdeckte ihn Herr Chriſtol in Ge—
ſellſchaft von Hyänen und Rhinoceros in
der Höhle von Pondres. In den Jahren
1833 — 34 publizirte Dr. Schmerling
ſeine einſchlägigen Funde in den Höhlen,
welche die Thäler der Maas und ihrer
Nebenflüſſe bergen. |
Lyell, der berühmte engliſche Geologe,
der Begründer der Prähiſtorik, ſchreibt in
die
Jäger, Die moderne Anthropologie.
ſeinem Buche „Das Alter des Menſchen—
geſchlechts“ deutſche Ausgabe, S. 38:
„Schmerling ſelbſt zweifelte nicht
„daran, daß, als Schlußfolgerung aus
„ſeinen Entdeckungen, der Menſch einſt in
„dem Lütticher Gebiet als Zeitgenoſſe des
„Höhlenbären und anderer ausgeſtorbener
„Vierfüßler gelebt haben müſſe, und ſprach
„ſich darüber in ſeinen Veröffentlichungen
„aus. Aber die außerordentlichen und
„Jahre andauernden Schwierigkeiten und
„Anſtrengungen, welche der unermüdliche
„und klar ſehende Forſcher bei feinen Unter-
„ſuchungen zu überſtehen hatte, ſchreckten
„andere ab, ihm auf dieſem Wege zu folgen
„und ſeine Meinung konnte gegen
„das vieljährige Vorurtheil der
„bisherigen Wiſſenſchaft nicht durch—
„dringen. Ich ſelbſt konnte mich, als
„ich ihn im Jahre 1832 zuerſt beſuchte
„und ſeine prächtige Sammlung beſichtigte,
„nicht überzeugen, und legte ſeinen Ent—
„deckungen, welche ich in der dritten und
„den folgenden Auflagen meiner „Grund—
„züge der Zoologie“ mittheilte, nicht das—
„jenige Gewicht bei, welches ſie, wie ich
„nunmehr glaube, verdienen.“
„Im Jahre 1860, ſechs und zwanzig
„Jahre nach meiner erſten Begegnung mit
„Schmerling, beſuchte ich Lüttich wieder.
„Viele der Höhlen waren ganz zerſtört und
„ihr Inhalt zu anderweiten Zwecken hin—
„weggeführt. Nur von der Engihoulhöhle,
„aus welcher Schmerling drei menſchliche
„Skelete hervorgezogen hatte, war noch ein
„großer Theil unverſehrt erhalten. Ich
„durchſuchte dieſen Theil mit Hülfe des
„Profeſſor Malaiſe von Lüttich und
„fand bald Knochen und Zähne des Höhlen—
„bären und anderer ausgeſtorbenen Thier—
„arten, welche Schmerling namhaft ge—
„macht hatte. Mehrere Wochen ſpäter, nach
da ran.
Fiunde in der Kenthöhle ganz unberückſich—
„meiner Abreiſe, fand mein Begleiter in
„derſelben Ablagerung drei Bruchſtücke eines
„menſchlichen Schädels und zwei vollſtändige
„Kinnladen mit Zähnen, alle in einer
„ſolchen Weiſe mit Thierknochen gemiſcht
„und denſelben ſo vollſtändig in Farbe und
„ſonſtigen Eigenſchaften gleichend, daß der
„Finder keinen Zweifel über die Zeitge—
„noſſenſchaft des Menſchen mit ausgeſtorbenen
„Thierarten behielt.“ a
Warum kam Lyell erſt im Jahre 1860
wieder nach Lüttich? Doch hören wir zuvor
weiter. N
Perthes ſeine Entdeckungen des foſſilen
Menſchen im Sommethal; ſeine Publikation
erfolgte im Jahre 1847.
S. 62 hierüber?
„Die wiſſenſchaftliche Welt hatte
„keinen Glauben daran, daß Kunſt—
„erzeugniſſe, wenn auch noch ſo roh, in
„ungeſtörten Erdſchichten von ſolchem Alter
„ſollten gefunden worden ſein. Nur wenige
„Geologen beſuchten Abbeville, um ſich
„ſelbſt von dem Stand der Sache zu über—
„zeugen (auch Lyell kam nicht). Einige
„hielten die Inſtrumente für Naturerzeug—
„niſſe, andere hatten Verdacht gegen die
„Arbeiter, welche die Inſtrumente ſelbſt
„zum Verkaufe möchten angefertigt haben,
„noch andere glaubten an eine zufällige
„Vermiſchung.“
Noch weiter: Ein Dr. Rigollot, als
ausgezeichneter Phyſiker bekannt, beſuchte
Abbeville und beſchloß nach Beſichtigung
des Sachverhalts auch in Amiens zu graben.
Er hat den gleichen Erfolg wie Boucher
de Perthes, veröffentlicht die Sache,
und wieder glaubt kein Menſch
Auch in England bleiben die
; 1 tigt. Erſt im Jahre 1858 hält man es
— —
Jäger, Die moderne Anthropologie. 55
bei Entdeckungen einer neuen, noch unbe—
rührten Höhle bei Brixham für der
Mühe werth, eine genauere Unterſuchung
anzuordnen. Lyell ſchreibt S. 63: „1859
beſuchte ich ſelbſt die unterirdiſchen Gallerien
und Gänge.“ Im gleichen Jahre findet
ſich Lyell (S. 74) auch veranlaßt, Hrn.
Boucher de Perthes dreimal zu be—
ſuchen und, wie oben gezeigt wurde, geht
er 1860 zu Dr. Schmerling.
Was hat Hr. Lyell in Bewegung
geſetzt? — Im Jahre 1859 erſchien das
Werk Darwins über „die Entſtehung der
Im Jahre 1841 begann Boucher de Arten“, nachdem ſchon im Jahre 1858
Darwin und Wallace die engliſchen
Gelehrten mit den Grundzügen der neuen
Was ſagt Lyell | Lehre bekannt gemacht hatten.
Alſo ein ſo ausgezeichneter Forſcher wie
Lyell ſteht faſt 30 Jahre lang unter dem
Drucke von Thatſachen, ohne im Stande zu
ſein, das Joch des Cuvier'ſchen Dogmas
abzuſchütteln. Bis zum Jahre 1858 wird
allen Thatſachen zum Trotz auf allen Hoch—
ſchulen das Cuvier 'ſche Dogma gelehrt.
Ein neues Dogma mußte das alte
zuvor vom Throne ſtoßen, dann
gingen Lyell und andern die Augen auf.
Das iſt die Macht des Dogma's,
der kein Menſch ſich entziehen kann.
Man hört gegenwärtig ſo viel Jammern,
daß mit der Darwin'ſchen Lehre der Dog—
matismus nicht blos in der Wiſſenſchaft,
ſondern tief in die Laienwelt hineingetragen
worden ſei. Diejenigen, welche ſo klagen,
find gerade die, welche ihre wiſſenſchaftliche
Laufbahn unter dem Banne des Cuvier'ſchen
Dogma's machten, freilich ohne zu wiſſen,
welches Joch auf ihrem Nacken lag. Dieſen
möchte ich den obigen Spiegel vorhalten.
Sie möchte ich fragen: Welches Dogma
war fruchtbringender für die anthropolo-
FFF
|
1
56
Jäger, Die moderne Anthropologie.
giſche Forſchung, das von Cuvier oder | Cuvier'ſche Joch tragen, daher doppelt be—
das von Darwin? laſtet find: hine illae lacrymae!
Das Gelungene an der Wendung der
Dinge iſt namentlich das, daß die Ackerer
auf dem neuen Boden der Anthropologie
nicht etwa blos die Darwinianer, ſondern
vielleicht ſogar der Mehrzahl nach eher die
Zweifler an deſſen Lehre ſind. Im Schweiße
ihres Angeſichts arbeiten ſie, um — wie ſieſagen
— die Ehre des Menſchengeſchlechts wieder
herzuſtellen, die dadurch angegriffen ſei, daß
man es einer ſo niedrigen Herkunft zeihe.
Dabei vergeſſen ſie ganz, daß ſie damit ge—
nau ebenſo unter das Joch des neuen Dogma's
gebeugt ſind wie ihre Gegner, nur mit dem
Unterſchiede, daß ſie daneben noch das alte
Was folgt daraus? Das neue Dogma
iſt eine Macht, der ſich kein Forſcher mehr
entziehen kann und welches gerade wie das
Cuvier'ſche. Dogma fo lange die Forſchung
ſouverain und unerbittlich beherrſchen wird,
bis ein beſſeres es ſtürzt. Weiter folgt
daraus: Es ſollten beide Theile etwas ver—
ſöhnlicher gegen einander werden, den Gegner
nicht beſchimpfen, ſondern ſtets an die eigene
Bruſt ſchlagen, eingedenk des Bibelſpruchs:
„Wir ſind allzumal Sünder (i. e.
Dogmatiker), und mangeln des Ruhms,
den wir vor Gott haben ſollen.“
worden.
Darwin’s Werk:
„Ueber die Wirkungen der Kreuzung und Selbſtbefruchtung im Pflanzenreich“
und ſeine Bedeutung für unſer Verſtändniß der Blumenwelt
von
Dr. Hermann Müller.
N
ſurch ein Werk, welches, wie
das vorliegende, für die Er—
klärung eines unermeßlich
reichen Gebietes wunderbarer
T Erſcheinungen zum erſten
Male eine breite und ſichere Grundlage
ſorgfältig feſtgeſtellter Thatſachen
ſehen wir uns unwillkürlich veranlaßt, auf
und ihre Begründung zurückzublicken, die
jetzt gewonnenen Grundlagen für ein Ver—
ſtändniß deſſelben, glatt herausgeſchält,
uns zu vergegenwärtigen,
Weiterforſchung ſich neu eröffnenden Pfade
Nins Auge zu faſſen.
Bis zu Chr. Conr. Sprengel's Zeit
gelten. Die Frage, warum der einen
Blume dieſe, der andern jene Eigenthümlich—
keit der Farbe, des Geruches und der Ge—
ſtaltung zukomme, konnte erſt auftauchen,
nachdem dieſer ſelbſtbeſchränkte Standpunkt
überwunden war, nachdem man begonnen
liefert,
hatte, ſich in das Einzelleben der Organismen
zu vertiefen und ihnen einen eigenen Zweck zu—
die bisherigen Auffaſſungen dieſes Gebietes
zuerkennen. Dann mußte aber auch unaus—
bleiblich die Beobachtung der den Blumen ihre
Nahrung entnehmenden Inſekten zu der Er—
kenntniß führen, daß die Bedeutung der
und die der
war an eine Löſung der Räthſel der Blumen
welt, ſo viel wir wiſſen, nie gedacht
Das Wohlbehagen, welches die
Blumen durch ihre bunten Farben, ihre
Wohlgerüche und ihre unendlich mannigfal—
tigen, zierlichen Formen dem Menſchen wohl
von jeher verurſacht haben mögen, konnte
ihm, ſo lange er ſich ſelbſt als Mittelpunkt
und alleinigen Zweck des Weltalls betrachtete,
als hinreichender Grund
ihrer Exiſtenz
Blumeneigenthümlichkeiten nicht durch eine Be
trachtung derſelben für ſich, ſondern nur im
Zuſammenhange mit der Thätigkeit der die
Blumen beſuchenden Inſekten erkannt werden
könne. Der erſte Forſcher, der ſich mit
ſo liebevoller Hingabe in das Leben der
einzelnen Blumen und in die Thätigkeit der
fie beſuchenden Juſekten verſenkte, daß dieſe
Wahrheit ſich ihm erſchließen mußte, war
Chr. Conr. Sprengel, welcher ſeine wichtigen
Entdeckungen unter dem Titel: „Das ent—
deckte Geheimniß der Natur im Bau und
in der Befruchtung der Blumen“ im Jahre
1793 veröffentlichte.
CH
[0 0)
Sprengel hatte erkannt, daß viele
Müller, Darwin's Werk.
| alſo geſchehen, daß die Inſekten, indem fie
honighaltige Blumen fo eingerichtet find, |
daß zwar die Inſekten, welche ſich von ihrem
Honige nähren, ſehr leicht zu demſelben
dem Safte der Blumen nachgehen, noth—
wendig den Staub der Antheren abſtreifen
und auf das Stigma (die Narbe) bringen.“
gelangen können, der Regen aber ihn nicht
verderben kann, und daraus geſchloſſen, daß
der Honig dieſer Blumen wenigſtens zunächſt
um der Inſekten willen abgeſondert werde.
Es war ihm nicht entgangen, daß die ihrer
Nahrung wegen in der Luft umherſchwär—
menden Inſekten durch die bunten Farben
der Blumen ſchon von weitem auf dieſe
ihre Honigbezugsquellen aufmerkſam werden,
und daß beſonders gefärbte Flecken und
Linien an den Blumen ſich immer da finden,
wo ein Inſekt ſeinen Kopf oder Rüſſel
hineinzuſtecken hat, um zum Honige zu
gelangen. Auch dieſe Blumeneigenthümlich—
keiten konnte er daher nur als, wenigſtens zu—
nächſt, um der Inſekten willen vorhanden,
auffaſſen. Er hatte ferner direct beobachtet,
daß die Inſekten, indem ſie dem Honige
der Blumen nachgehen, ſich gewöhnlich mit
Blüthenſtaub derſelben behaften und denſelben
zum Theil an den Narben abſetzen, daß
ſie alſo, ohne es zu wiſſen und zu wollen,
ſehr häufig die Vermittler der Befruchtung
werden. Er hatte endlich ſich überzeugt,
daß viele honighaltige Blumen von Natur
ſchlechterdings nicht anders befruchtet werden
können, als durch dieſe Vermittelung der
Inſekten.
Aus dieſen Ergebniſſen ſeiner Unter—
ſuchungen zuſammengenommen folgte nun
faſt unabweislich ſeine Erklärung der Ein—
richtungen aller honighaltigen Blumen, deren
Grundlage er, von ſeinem teleologiſchen
Standpunkte aus, in folgende Worte faßte:
1) „Dieſe Blumen ſollen (nach der Abſicht
des Blumenſchöpfers) durch dieſe oder jene
Art von Inſekten oder durch mehrere Arten
derſelben befruchtet werden. 2) Dieſes ſoll
beſuchenden
Von dieſer Grundlage aus erklären ſich die
Abſonderung und Schützung des Honigs,
die Augenfälligkeit und der Duft der Blumen
als Einrichtungen, welche den Blumen un—
mittelbar Inſektenbeſuch und mittelbar, mittelſt
deſſelben, Befruchtung verſchaffen, während
die beſondere Geſtaltung der Blüthentheile,
ebenſo wie ihre gegenſeitige Stellung und
Entwicklungsreihenfolge, ſich in der Regel
als unmittelbar der Befruchtung durch die
Inſekten dienend nachweiſen
laſſen.
Sprengel veröffentlichte dieſe Blu—
mentheorie nicht, ohne fie an mehreren
hundert Blumenarten mittelſt bewunder—
ungswerth genauer Beobachtung ihrer
Befruchtungseinrichtung und ihrer thatſächlich
durch Inſekten vermittelten Befruchtung auf
die Probe geſtellt zu haben. Sein Werk
bildet daher eine reiche Fundgrube lichtvoller
Einblicke in ein bis dahin abſolut dunkles
Gebiet, und wir würden ihm noch heute
die vollſte Berechtigung zu dem hohen Titel,
mit welchem es auftrat, zuerkennen müſſen,
wenn nicht in der Grundlage ſeiner Er—
klärung ein ſchwacher Punkt vorhanden
wäre, der wohl ſchon ſeinen Zeitgenoſſen
aufgefallen ſein mag, und der allein es
erklärlich macht, daß ein ſo prächtiges Werk
70 Jahre hindurch faſt unbeachtet und
wirkungslos bleiben konnte. Wenn nämlich,
wie es nach der Sprengel'ſchen Blu-
mentheorie ſcheint, die Befruchtung der
Blumen durch Inſekten nichts anderes be—
wirkt, als was auch ſchon die unmittelbare
Vereinigung des Blüthenſtaubes mit der
Narbe derſelben Blüthe bewirken würde,
ſo iſt ſie nur eine nutzloſe Weitläufigkeit,
*
S
x
ebenſo widerſprechend der Vorſtellung eines
weiſen Blumenſchöpfers, als unerklärlich
durch Naturzüchtung. Nur wenn die In—
ſekten als Befruchtungsvermittler den Pflanzen
einen Vortheil zuführen, der ihnen durch
die unmittelbare Vereinigung des Blüthen—
ſtaubes mit der Narbe derſelben Blüthe
nicht zu Theil werden kann, nur dann kann
Demjenigen, der ſich einen Blumenſchöpfer
vorſtellt, die von Sprengel demſelben
zugeſchriebene Abſicht vernünftig und daher
glaubhaft erſcheinen; nur dann iſt zugleich
die Ausprägung aller jener Blumeneigen—
thümlichkeiten, welche Inſektenbeſuch und
mittelſt deſſelben Befruchtung herbeiführen,
durch Naturzüchtung erklärlich. Dem Ent—
decker der Bedeutung der Naturzüchtung,
Charles Darwin, blieb es vorbehalten, in
der günſtigen Wirkung der Kreuzung ges |
trennter Individuen den Vortheil der durch |
Inſekten vermittelten Befruchtung zu er—
kennen und dadurch die ſtörende Lücke in
der Grundlage der Sprengel'ſchen
Blumentheorie auszufüllen.
Schon in ſeinem Hauptwerke „Über die
Entſtehung der Arten im Thier- und
Pflanzenreiche“ (1859) hob Darwin die
bereits vorliegenden Erfahrungen der Thier
und Pflanzenzüchter hervor, welche darauf |
hinweiſen, daß enge Inzucht von Nachtheil
iſt, Kreuzung dagegen kräftigere oder frucht—
barere Nachkommen hervorbringt, betonte
nachdrücklich die Thatſache, daß ganz all—
gemein bei allen organiſchen Weſen der
Bau und die Lage der Geſchlechtstheile
eine derartige iſt, daß ſie, oft mit unge—
heurer Verſchwendung von männlichen Be—
fruchtungskörpern, eine Kreuzung getrennter
Individuen derſelben Art ermöglicht, und
ſtellte es als ein vermuthlich allgemeines
Naturgeſetz hin, daß kein organiſches Weſen
eine unbegrenzte Zahl von Generationen
Müller, Darwin's Werk. j:
hindurch ſich ſelbſt befruchte, daß vielmehr
jedes zu dauernder Erhaltung gelegentlicher
Kreuzung mit getrennten Individuen derſelben
Art durchaus bedürfe. Ebenſo erläuterte
er bereits in demſelben vierten Kapitel,
wie, unter der Vorausſetzung des Vortheils
der Kreuzung, alle diejenigen Blumeneigen—
thümlichkeiten durch Naturausleſe erhalten
werden konnten und mußten, welche, wie
z. B. die Honigabſonderung, den Beſuch
der Inſekten veranlaſſen, oder welche, wie
z. B. die Trennung der Geſchlechter, eine
Kreuzung durch die beſuchenden Inſekten
unvermeidlich machen.
Was Darwin hier in den allgemeinſten
Zügen erörterte, um die Wirkung der
Naturzüchtung an einem beſtimmten erdachten
Beiſpiele zu veranſchaulichen, die Anpaſſung
der Blumen an Fremdbeſtäubung, das hatte
er bereits mehr als 20 Jahre hindurch
ſeit (1839) ins Auge gefaßt und durch eine
große Maſſe von Beobachtungen für ſich
ſelbſt feſt begründet. Anſtatt jedoch dieſe
mannigfachen Beobachtungen gemiſcht und
zum Theile unvollendet zu veröffentlichen,
erſchien es ihm zweckmäßiger, eine einzelne
Pflanzengruppe ſo ſorgfältig als möglich
zu bearbeiten. Er wählte dazu die an
höchſt verſchiedenen räthſelhaften Blumen—
formen ſo wunderbar reiche Familie der
Orchideen und zeigte in ſeinem 1862 er—
ſchienenen Werke („Ueber die Einrichtungen
zur Befruchtung britiſcher und ausländiſcher
Orchideen durch Inſekten“, überſetzt von
H. G. Bronn, Stuttgart 1862) mit über—
wältigender Klarheit, daß bei faſt allen
von ihm unterſuchten Arten dieſer Familie,
nur einige wenige ſich regelmäßig ſelbſt
befruchtende ausgenommen, die Blüthen mit
erſtaunlicher Vollkommenheit und bis in
die kleinſten Einzelheiten des Baues derartig
eingerichtet ſind, daß ſie gewiſſe Inſekten
S . —
I
\
j
1!
60
zum Beſuche veranlaſſen, daß fie ferner
nur durch dieſe beſuchenden Inſekten befruchtet
werden können, und daß ſie endlich durch
deren Beſuche unausbleiblich mit Pollen
getrennter Individuen
müſſen.
beſruchtet werden
Hierdurch erſchien nun mit einem
Male, wie durch einen Zauberſchlag, das |
Wunderreich der Blumen dem Verſtändniſſe
erſchloſſen. Denn ſobald eine vortheilhafte
Wirkung der Kreuzung als in allen Fällen
ſtattfindend vorausgeſetzt werden darf,
braucht man ja nur, wie es Darwin bei
deu Orchideen in ſo meiſterhafter Weiſe
gethan hat, alle Eigenthümlichkeiten einer
Blume als mittelbar oder unmittelbar der
Kreuzung dienend nachzuweiſen, um die
Entſtehung derſelben als einen ganz natür—
lichen Vorgang begreifen zu können. Und
umgekehrt müßte die durchgängige Erklär—
barkeit der Blumen aus der Vorausſetzung
vortheilhafter Wirkung der Kreuzung dieſer
Vorausſetzung ſelbſt den höchſten Grad von
Wahrſcheinlichkeit verleihen.
Zahlreiche Forſcher begannen daher,
dieſes von Darwin eröffnete Gebiet zu
bearbeiten. Aber während ſie einerſeits die
mannichfachſten Blütheneinrichtungen der ver—
ſchiedenſten Familien als der Kreuzung
durch die natürlichen Uebertrager des Pollens
(Inſekten, honigſaugende Vögel, Wind und
Waſſer) dienend nachweiſen konnten, ſtellten
ſich andererſeits ungewollt in mindeſtens
gleichem Verhältniſſe auch immer zahlreichere
Beiſpiele regelmäßiger oder wenigſtens über—
wiegend häufiger Selbſtbefruchtung heraus,
ſo daß zwar die Vorausſetzung ſtets vortheil—
hafter Wirkung der Kreuzung nicht an
Wahrſcheinlichkeit verlor, die Nothwendig—
keit gelegentlicher Kreuzung aber durch alle
auf das Darwin'ſche Orchideenwerk folgenden
Blumenunterſuchungen zuſammengenommen
der Gewißheit um keinen Schritt näher
Müller, Darwin's Werk.
geführt wurde. Um ſowohl die beobachteten
Anpaſſungen der Blumen an Kreuzung, als
auch die zahlreichen Fälle regelmäßiger
Sichſelbſtbefruchtung erklären zu können,
konnte es daher nicht mehr ausreichen,
Kreuzung als ſtets vortheilhaft und ge—
legentlich nothwendig vorauszuſetzen; viel—
mehr mußte man durchaus auch der Be—
deutung der Selbſtbefruchtung ausdrückliche
Zugeſtändniſſe machen. Den früher ge—
glaubten Satz: „Selbſtbefruchtung wirkt
ſchädlich, Kreuzung vortheilhaft auf die
Nachkommenſchaft ein“ mußte man dahin
abändern: „Kreuzung iſt vortheilhafter als
Selbſtbefruchtung; dieſe aber immer noch
unendlich vortheilhafter als gänzliches Aus—
bleiben der Befruchtung. In vielen Fällen
ſcheint auch Selbſtbefruchtung von Generation
zu Generation für die Fortpflanzung der
Art genügen zu können. In Bezug auf
die Wirkung der Selbſtbefruchtung ſcheint
die Blumenwelt alle möglichen Abſtufungen
darzubieten zwiſchen durchaus ſelbſt-unfrucht⸗
baren und durchaus ſelbſt-fruchtbaren
Pflanzen.“
Ein derartiges Zugeſtändniß an die
möglichen Wirkungen der Selbſtbefruchtung
mußte indeß, ſo lange es nicht unmittelbar
auf Verſuche geſtützt, ſondern nur mittelbar
aus den Blütheneinrichtungen gefolgert war,
erhebliche Bedenken erregen, da es der Er—
fahrung der Viehzüchter, welche eine poſitiv
nachtheilige Wirkung enger Inzucht nach—
gewieſen hatten, direct zu widerſprechen
ſchien.
Der weitere Fortſchritt der Blumen—
unterſuchuugen, weit entfernt, die der Er—
klärung zu Grunde liegenden Vorausſetzungen
zur Gewißheit zu erheben, legte daher nur
immer klarer die Nothwendigkeit an den
Tag, durch directe Beobachtung der Wir—
kungen der Kreuzung und Selbſtbefruchtung
| 3 Müller, Darwin's Werk.
im Pflanzenreiche über die Richtigkeit oder
Unrichtigkeit jener Vorausſetzungen zu ent—
ſcheiden. Die in dieſer Richtung nebenbei
bereits angeſtellten Verſuche und Beobach—
tungen waren dazu viel zu vereinzelt; nur
mit äußerſter Sorgfalt und Umſicht ange—
ſtellte, durch viele Generationen hindurch
fortgeſetzte und über zahlreiche Pflanzen der
verſchiedenſten Familien und Länder ſich
erſtreckende Selbſtbefruchtungs- und Kreu—
zungsverſuche und genauer Vergleich ihrer
Wirkungen konnten im günſtigſten Falle ſo
umfaſſende Vorausſetzungen hinreichend ſicher
begründen. Ja es mußte von vornherein
ſogar ſehr zweifelhaft erſcheinen, ob die
kurze Spanne Zeit, welche einem Einzelnen
zur Beobachtung zu Gebote ſteht, die Ver—
ſchiedenheit der Wirkungen beider Befruch—
tungsarten hinlänglich klar zu Tage treten
laſſen werde; ob dieſe nicht vielmehr ſo
geringfügig ſein könne, daß ſie erſt nach
langen Reihen von Generationen das Unter—
liegen der aus der unvertheilhafteren Be
fruchtungsart hervorgegangenen Nachkommen—
ſchaft bewirkt. Darwin ſelbſt wurde durch
dieſes Bedenken lange Jahre hindurch zurück—
geſchreckt, ſich der faſt ausſichtsloſen Rieſen—
arbeit des directen Verſuchs zu unterziehen.
Er entſchloß ſich zu derſelben erſt, als er
zufällig die überraſchende Entdeckung machte,
daß bei mehreren Blumen, von denen er
zu einem ganz anderen Zwecke aus Kreu—
zung und aus Selbſtbefruchtung hervorge—
gangene Pflanzen in großen Beeten neben
einander aufzog, ſchon in der erſten Gene—
rationen die erſteren merklich größer und
kräftiger wurden als die letzteren. Eine
lange Reihe von Verſuchen wurde nun von
Darwin in Angriff genommen und die
nächſten 11 Jahre hindurch fortgeſetzt, wobei
er im Allgemeinen folgendes Verfahren be—
obachtete.
Keimpflänzchen
61
Es wurden an einer oder einigen, durch
ein darüber geſtülptes Netz vor Inſekten—⸗
zutritt geſicherten Pflanzen eine gewiſſe An—
zahl Blüthen gezeichnet und mit eigenem
Pollen befruchtet, und an denſelben Pflanzen
zu gleicher Zeit eine gleiche Anzahl Blüthen
in anderer Weiſe gezeichnet und mit Pollen
eines getrennten Individuums befruchtet.
Die durch beiderlei Befruchtungsarten er—
haltenen Samenkörner wurden völlig reif
eingeerntet, in feuchtem Sande, auf entgegen—
geſetzten Seiten deſſelben, durch eine Glas—
platte bedeckten, Glasgefüßes zum Keimen
gebracht, und, ſo oft ein aus Selbſtbe—
fruchtung und ein aus Kreuzung hervorge—
gangener Same gleichzeitig keimten, die
auf die entgegengeſetzten
Seiten eines Blumentopfes gepflanzt und
unter möglichſt ſorgfältig gleich hergeſtell—
ten Lebensbedingungen (Boden, Feuchtigkeit,
Wärme, Licht) heranwachſen gelaſſen.
dieſe Weiſe wurden jedesmal mehrere, oft
über ein Dutzend gleichaltrige Paare dem
Vergleiche der Wirkungen der beiden Be—
fruchtungsarten unterworfen. Verglichen
aber wurden die einzelnen Concurrenten,
und dann, nach Berechnung der Durch—
ſchnittszahlen, die beiden Parteien, regelmäßig
in Bezug auf die Höhe, die ſie in erwach—
ſenem Zuſtande erreichten, oft auch in Bezug
auf ihre Höhe in früherem Lebensalter und
bisweilen in Bezug auf das Gewicht der
erwachſenen Pflanze. Auch ein verſchiedenes
Verhalten beim Keimen, ein ungleichzeitiges
Aufblühen beider Parteien und eine ver—
ſchiedene Fruchtbarkeit derſelben, wie ſie ſich
in der Zahl der hervorgebrachten Samen-
kapſeln und der Durchſchnittszahl der in
jeder Kapſel enthaltenen Samenkörner zu
erkennen gibt, wurde häufig beobachtet und
aufgezeichnet.
Von den in feuchten Sand geſäten
Auf
62
Müller, Darwin's Werk.
Samenkörnern beider Parteien blieben nach
dem Herausnehmen der gleichaltrigen Paare
zahlreiche, theils in keimendem, theils in noch
nicht keimendem Zuſtande übrig, und dieſe
wurden dann dicht gedrängt auf die ent—
gegengeſetzten Seiten eines oder einiger
großer Blumentöpfe oder bisweilen in zwei
lange Reihen ins freie Land geſät und in
ſtrengſtem Wettkampfe um die Daſeinsbe—
dingungen heran wachſen gelaſſen. Zahl—
reiche Individuen gingen dabei frühzeitig
zu Grunde; von den am Leben bleibenden
wurden dann die größten, wenn ſie ausge—
wachſen waren, gemeſſen.
Die gleichaltrigen Paare wurden zu
einem Vergleiche der in den folgenden
Generationen hervortretenden Unterſchiede
der beiden Befruchtungsarten in folgender
Weiſe benutzt: Einige Blüthen der aus
Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Pflanzen
wurden wiederum ſelbſtbefruchtet, und einige
Blüthen der aus Kreuzung hervorgegangenen
Pflanzen wurden wiederum mit Pollen
getrennter Individuen derſelben Zucht ge—
kreuzt, und dieſelbe Methode bei einigen
Arten nicht weniger als 10 Generationen
hindurch fortgeſetzt, indem die Samenkörner
und die aus ihnen erzielten Pflänzchen
jedesmal genau in der ſchon beſchriebenen
Weiſe behandelt wurden.
Da alle dem Vergleich unterworfenen
Pflanzen immer möglichſt gleichen Lebensbe—
dingungen ausgeſetzt und die aus Kreuzung
hervorgegangenen von Generation zu Genera—
tion immer nur wieder unter ſich gekreuzt wur—
den; ſo mußten auch die letzteren immer enger
unter einander einander verwandt, und ur—
ſprüngliche Eigenthümlichkeiten der Einzelnen
immer mehr ausgeglichen werden. Die
angedeutete, von Darwin in der Regel an—
gewandte Methode war alſo ſehr wohl ge—
eignet die Frage zu entſcheiden, ob Kreuzung
Vortheil ſei.
haften Wirkungen einer Kreuzung nicht
an ſich, unabhängig von der conſtitutionellen
Verſchiedenheit der ſich Kreuzenden, von
Um dagegen die vortheil—
verwandter Individuen, welche bei der
Naturzüchtung der Blumen wohl in der
Regel den Ausſchlag gegeben haben mag,
in ihrem vollen Umfange hervortreten zu
laſſen, hätten von Generation zu Generation
die aus Selbſtbefruchtung hervorgegangenen
Pflanzen einerſeits wieder ſelbſtbefruchtet,
andrerſeits aber mit nicht verwandten In—
dividuen derſelben Art und Varietät gekreuzt
werden müſſen. Dieſer Verſuch wurde nur
einige Male den oben angegebenen regel—
mäßig angeſtellten hinzugefügt und lieferte
überraſchende Reſultate; nicht nur in den
oben angegebenen Beziehungen, ſondern ganz
beſonders auch in der verſchiedenen Wider—
ſtandsfähigkeit beider Parteien gegen feind—
liche Einflüſſe (plötzliches Verpflanzen ins
freie Land, Aufwachſen im Gedränge anderer
Pflanzen u. ſ. w.).
Was den Umfang der von Darwin
11 Jahre hindurch fortgeſetzten grundlegenden
Verſuche anbetrifft, ſo beläuft ſich die Zahl
der aus Kreuzung und ebenſo die Zahl
der aus Selbſtbefruchtung erzielten Pflanzen—
individuen, die er vom Keime bis zur
fertigen Entwicklung verfolgte und auf
Grund ſorgfältiger Meſſungen verglich, auf
mehr als 1000; ſie gehören 57 Arten,
52 verſchiedenen Gattungen, 30 großen
Familien des Pflanzenreichs an und ſind
in verſchiedenen Erdtheilen zu Hauſe.
Die wichtigſten allgemeinen Ergebniſſe
der Darwin'ſchen Verſuche ſind etwa fol—
gende:
A. 1) Werden Pflanzen derſelben Art
viele Generationen hindurch unter möglichſt
gleichen Lebensbedingungen gehalten und von
Generation zu Generation durch Selbſtbe—
fruchtung fortgepflanzt, jo gewährt eine
darauf folgende Kreuzung zwiſchen denſelben
wenig oder gar keinen Vortheil.
B. 2) Werden Pflanzen derſelben Art
viele Generationen hindurch unter möglichſt
gleichen Lebensbedingungen gehalten und von
Generation zu Generation immer nur unter
ſich gekreuzt, ſo läßt die aus ſolcher Kreuz—
ung hervorgehende Nachkommenſchaft wohl
während der erſten Generationen in der
Regel einige Ueberlegenheit in Kräftigkeit
und Fruchtbarkeit über die aus Selbſtbe—
fruchtung hervorgegangenen Nachkommen er—
kennen, nach einer geringen Anzahl von
Generationen jedoch hört der vortheilhafte
Einfluß dieſer Art von Kreuzung faſt voll—
ſtändig oder vollſtändig auf und
3) auch die Kreuzung der aus ſteter
Selbſtbefruchtung derſelben Zucht erhaltenen
Pflanzen mit den aus Kreuzung unter ſich
Müller, Darwin's Werk.
wir hier die obigen Sätze in die einfachen
Formeln faſſen:
E So
B. 2) ESS
3) SK IS 8
Dagegen 4) S K F>S
C. Werden dagegen aus andauernder
Selbſtbefruchtung oder aus andauernder In—
zucht hervorgegangene Pflanzen mit einem
friſchen Stocke gekreuzt, ſo ergiebt dies
immer viel kräftigere und fruchtbarere Nach—
kommen, als weitere Inzucht; insbeſondere
folgt aus den Darwi n'ſchen Verſuchen:
SN
FF
I
oder, wenn man dieſe Ergebniſſe vom ent—
gegengeſetzten Geſichtspunkte aus ins Auge
faßt:
erhaltenen liefert kaum mehr ein günſtigeres S
Reſultat als Selbſtbefruchtung, wogegen e
4) Kreuzung der aus Selbſtbefruchtung E
7
hervorgegangenen Pflanzen mit einem friſchen
Stocke außerordentlichen Vortheil gewährt
Bezeichnen wir, um dieſe kaum ohne
Weitſchweifigkeit in Worte zu faſſenden
Verhältniſſe mit einem Blicke überſehen zu
können, die aus (mehrere Generationen hin—
durch) fortgeſetzter Selbſtbefruchtung hervor—
gegangenen Pflanzen mit S, die aus fortgeſetz—
ter Kreuzung (mehrere Generationen hindurch)
unter ſich hervorgegangenen und möglichſt
gleichen Lebensbedingungen
weſenen Pflanzen mit J (Inzucht), Pflanzen
eines friſchen Stockes, d.
ausgelegt ge
zucht hervorgegangen Pflanzen unter ſich
h. nicht ver- |
wandte und unter abweichenden Lebens-
bedingungen aufgewachſene Individuen mit
F (Fremde), die neue Kreuzung mit ,
annähernd gleiche Kräftigkeit und Frucht—
barkeit mit O, bedeutend überlegene mit |
[PE bedeutend nachſtehende mit <, fo können gangenen Pflanzen unter ſich ſehr viel we—
das heißt mit Worten:
5) Der Vortheil, welchen eine Kreuzung
aus andauernder Selbſtbefruchtung hervor—
gegangener Pflanzen mit aus Inzucht her—
vorgegangenen und gleichen Lebensbeding—
ungen ausgeſetzt geweſenen Pflanzen gewährt,
iſt unbedeutend im Vergleich zu den vor—
theilhaften Wirkungen einer Kreuzung der—
ſelben Pflanzen mit einem friſchen Stode,
Ebenſo liefert
6) weitere Kreuzung der aus In—
ſehr viel ſchlechtere Reſultate, in Bezug auf
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit der Nach-
kommen, als Kreuzung der aus Selbſt—
befruchtung hervorgegangenen mit einem
friſchen Stocke; und nicht minder hat
7) Kreuzung der aus Inzucht hervorge—
(rd x
Dee
64 Müller, Darwin's Werk.
niger vortheilhafte Ergebniſſe als ihre
Kreuzung mit einem friſchen Stocke.
Aus dem erſten und den drei letzten
Sätzen zuſammengenommen folgt in une
zweideutiger Weiſe, daß der Vortheil einer
Kreuzung niemals darin liegen kann, daß
überhaupt die geſchlechtlichen Elemente ge—
trennter Individuen ſich vereinigen, daß er
vielmehr nur durch die innere Verſchieden—
heit der ſich kreuzenden Individuen und
ihrer geſchlechtlichen Elemente bedingt ſein
kann. Dieſer von vornherein wahrſchein—
liche, nun auch durch die Erfahrung be—
ſtätigte Satz macht uns zugleich die unter
B aufgeſtellten Sätze verſtändlich. Denn
wenn Pflanzen immer unter möglichſt gleichen
Lebensbedingungen gehalten und dabei immer
nur unter ſich gekreuzt werden, ſo werden
ſie unausbleiblich immer enger verwandt,
und die anfangs vorhandenen individuellen
Verſchiedenheiten müſſen ſich von Generation
zu Generation mehr und mehr ausgleichen.
In allen den bisherigen Sätzen handelt
es ſich nur um eine vergleichsweiſe Werth—
ſchätzung der Kreuzung und Selbſtbe—
fruchtung. Darwin ſtellt jedoch als wich—
tigſtes allgemeines Ergebniß ſeiner geſammten
Verſuche die beiden nicht relative, ſondern
abſolute Geltung beanſpruchenden Sätze
hin: „Kreuzung iſt im Allgemeinen vortheil—
haft und Selbſtbefruchtung ſchädlich.“ (Cross-
fertilisation is generally beneficial and
self-fertilisation injurious.) Es iſt
nöthig, die Begründung dieſer beiden Sätze
ins Auge zu faſſen, um ſich vor einer
Ueberſchätzung ihrer abſoluten Geltung zu
bewahren.
Wenn Beſenſtrauch, die großblumige
Form des Stiefmütterchens und andere
Blumen, welche in freier Natur regelmäßig
eine Kreuzung getrennter Stöcke durch be—
ſuchende Inſekten erfahren, bei den Dar—
winſchen Selbſtbefruchtungs- und Kreu—
zungsverſuchen ſchon in der erſten Generation
ein bedeutendes Zurückbleiben der aus
Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Nach—
kommen hinter den aus Kreuzung hervor—
gegangenen, in Bezug auf Kräftigkeit und
Fruchtbarkeit, erkennen laſſen, ſo kann
dieſer Unterſchied offenbar nicht dadurch
hervorgebracht worden ſein, daß die von
Darwin vorgenommene Kreuzung die
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit dieſer Pflanzen
vermehrt hätte, da ſie ja während zahlloſer
vorhergehender Generationen beſtändig ſolche
Kreuzung erfahren haben. Die Selbſtbe—
fruchtung muß alſo in dieſen Fällen poſitiv
nachtheilig auf die Kräftigkeit und Frucht⸗
barkeit der Nachkommen eingewirkt haben,
und wir ſind zur Aufſtellung des Satzes
berechtigt:
8) Pflanzen, welche viele Generationen
hindurch der Kreuzung mit fremden Stöcken
unterworfen geweſen ſind, werden durch
Selbſtbefruchtung (in manchen oder allen
Fällen?) in Bezug auf Kräftigkeit und
Fruchtbarkeit ihrer Nachkommen erheblich
geſchädigt.
Andrerſeits kennen wir zahlreiche
Pflanzen, die ſich in der Regel durch
Selbſtbefruchtung fortpflanzen, und bei
denen die ſich von Neuem wiederholende
Selbſtbefruchtung eine Verminderung der
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit durchaus nicht
erkennen läßt, für die alſo der zweite der
beiden obigen Sätze (Selbſtbefruchtung
wirkt ſchädlich) nicht gilt. Gerade auf ſolche,
viele Generationen hindurch durch Selbſt—
befruchtung fortgepflanzte Arten aber (wie
z. B. die Gartenerbſe) findet, ſoweit die
bisherigen Verſuche ein Urtheil geſtatten,
der erſte der beiden obigen Sätze (Kreuzung
wirkt vortheilhaft) ſeine Anwendung; gerade
ſie werden durch Kreuzung mit einem
friſchen Stode in Kräftigkeit und Frucht—
barkeit in der Regel außerordentlich geſteigert;
ebenſo freilich auch Pflanzen (3. B. Ipomaea
purpurea), welche zahlreiche (9) Genera—
tionen hindurch durch Kreuzung unter ſich
fortgepflanzt worden ſind und dann mit
einem friſchen Stocke gekreuzt werden, ſo
daß wir ferner behaupten dürfen:
9) Pflanzen, welche viele Generationen
hindurch immer durch Selbſtbefruchtung
oder Kreuzung unter ſich fortgepflanzt
worden ſind, werden durch Kreuzung mit
einem friſchen Stocke (in manchen Fällen
oder in der Regel?) kräftiger und frucht—
barer.
Die Einſchränkung, welche Darwin
ſeinen beiden Sätzen: „Kreuzung wirkt
vortheilhaft und Selbſtbefruchtung ſchädlich“
durch das hinzugefügte „im Allgemeinen“
(generally) gibt, läßt ſich hiernach durch
ausdrückliche Hinzufügung folgender beiden
Sätze näher beſtimmen:
10) Pflanzen, welche bereits viele Gene—
rationen hindurch immer durch Kreuzung
mit friſchen Stöcken fortgepflanzt worden ſind,
werden durch fernere Kreuzung mit friſchen
Stöcken in ihrer Kräftigkeit und Frucht—
barkeit nicht weiter geſteigert.
11) Ob Pflanzen, welche bereits viele
Generationen hindurch nur durch Selbſt—
befruchtung oder enge Inzucht fortgepflanzt
worden ſind, durch fernere Selbſtbefruchtung
oder enge Inzucht noch eine Abnahme ihrer
Kräftigkeit und Fruchtbarkeit erleiden, wiſſen
wir nicht.
Der Umſtand, daß alle Pflanzen, ebenſo
wie alle Thiere, derartig eingerichtet ſind,
daß eine gelegentliche Vereinigung der ge—
ſchlechtlichen Elemente getrennter Individuen
mindeſtens möglich bleibt, macht es allerdings
wahrſcheinlich, daß, abgeſehen von den ein—
fachſten, nur durch Theilung ſich vermehren—
Müller, Darwin's Werk.
den Urweſen (Protiſten), jedes organiſche
Weſen gelegentlicher, wenn auch erſt nach
langen Zeiträumen erfolgender Kreuzung
mit einem getrennten Individuum ſeiner
Art bedarf. Eine Gewißheit darüber liegt
aber nicht vor, und auch die Wahrſcheinlich—
keit iſt durch die umfaſſenden Darwin'ſchen
Verſuche nicht geſteigert worden. Im Gegen—
theile legen dieſe die Vermuthung nahe,
daß eine Anpaſſung an ſtete Selbſtbefruch—
tung möglich iſt. Bei denjenigen beiden
Blumen nämlich, bei denen Darwin die
vergleichenden Selbſtbefruchtungs- und Kreu—
zungsverſuche die größte Zahl von Genera—
tionen hindurch fortgeſetzt hat (Tpomaea
purpurea und Mimulus luteus), traten in
den ſpäteren Generationen in der aus ſteter
Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Zucht
einzelne Individuen auf, welche die aus
ſteter Kreuzung unter ſich hervorgegangenen
an Kräftigkeit und Fruchtbarkeit erheblich
übertrafen, und ihre überraſchende Kräftigkeit
und Fruchtbarkeit von Generation zu Gene—
ration, ſoweit die Beobachtung ſich erſtreckt
hat, auch auf ihre Nachkommen vererbten.
In einem dieſer beiden Fälle, bei Ipomaea
purpurea, ſchien ein ſolches, aus ſteter
Selbſtbefruchtung hervorgegangenes Indivi—
duum (welches Darwin deshalb Hero
taufte) von ſeiner Stammform ſogar in
der Art abgewichen zu ſein, daß es — und
ebenſo ſeine Nachkommen — nicht nur
Nachkommen von großer Kräftigkeit und
geſteigerter Fruchtbarkeit lieferte, wenn es
durch Selbſtbefruchtung fortgepflanzt wurde,
ſondern daß ſogar Kreuzung mit einem ge—
trennten Stocke gar nicht mehr vortheilhaft
darauf einzuwirken ſchien. Es muß indeß aus-
drücklich hervorgehoben werden, daß dieſes
ſeltſamſte aller Darwin'ſchen Unterſuchungs—
ergebniſſe nur an einer einzigen Generation
und unter abnormen Verhältniſſen erhalten
66
wurde, ſo daß es wohl als Anregung zu |
weiteren Verſuchen in dieſer Richtung, aber |
keineswegs als bereits conſtatirte Ausnahme
der Regel, daß Kreuzung gerade nach an—
dauernder Selbſtbefruchtung von beſonderem
Vorthei Lift, dienen kann. In dem anderen
Falle, bei Mimulus luteus, hatten die durch
Kräftigkeit und Selbſtfruchtbarkeit auffallen-
den Individuen der aus ſteter Selbſtbe—
fruchtung hervorgehenden Zucht im Gegen—
theile von einer Kreuzung mit einem friſchen
Stocke ganz bedeutenden Vortheil.
Noch zwei andere für das Verſtändniß
der Blumenwelt ſehr wichtige Ergebniſſe
dürfen hier nicht unerwähnt bleiben.
12) Wenn Blumen, welche in ihrer
Blüthenfarbe variiren, von Generation zu
Generation immer nur durch Selbſtbefruch—
tung fortgepflanzt werden, ſo entſteht nach
wenigen Generationen eine durchaus gleich—
artig gefärbte Nachkommenſchaft.
Dies erklärt uns z. B. in einfachſter
Weiſe die an ſich befremdende Thatſache,
daß die kleinblumige Form des Stief—
mütterchens in ihrer Färbung ganz gleich—
artig und conftant, die großblumige dagegen
ſehr verſchiedenartig und variabel iſt; denn
die erſtere befruchtet ſich (wie ich in der
„Nature“ vom 20 Nov. 1873 nachgewieſen
habe) regelmäßig ſelbſt, die letztere dagegen
wird ausſchließlich oder vorwiegend durch
Kreuzung fortgepflanzt.
13) Wenn Blüthen mit anderen
Blüthen derſelben Pflanze oder auch mit
Blüthen anf getrennten Wurzeln wachſender,
aber demſelben Stocke als Schößlinge ent—
ſtammender Pflanzen gekreuzt werden, ſo
wirkt ſolche Kreuzung entweder gar nicht
oder nur ſehr unbedeutend güunſtiger als
Befruchtung mit eigenem Blüthenſtaube.
Zahlreiche Blumeneinrichtungen, welche eine |
Müller, Darwin's Werk.
eee
e e
Kreuzung getrennter Stöcke veranlaſſen oder
begünſtigen, laſſen ſich daraus erklären.
Die ſonſtigen interreſſanten Ergebniſſe
der Darwin'ſchen Verſuche und die Fülle
wichtiger allgemeiner Betrachtungen, welche
in den letzten Kapiteln dieſes Werkes nieder—
gelegt ſind, übergehe ich hier.
Die heraus—
gegriffenen 13 Sätze ſcheinen mir als
Grundlagen der heutigen Blumentheorie
von hervorragendſter Wichtigkeit zu ſein,
und die Vorausſetzungen, welche ich in
meinem Buche „Die Befruchtung der Blumen
durch Inſekten“ meiner Erklärung von Blu—
meneinrichtungen zu Grunde gelegt habe
(vgl. Seite 443 — 448) nur durchaus zu
beſtätigen. Ich faſſe deshalb dieſe Voraus—
ſetzungen hier nochmals in den Worten zu—
ſammen: „So oft aus Selbſtbefruchtung
hervorgegangene Nachkommen mit aus Kreuz—
ung hervorgegangenen in Wettkampf um die
Daſeinsbedingungen gerathen, werden die
erſteren von den letzteren überwunden; es
werden daher vorwiegend Kreuzung beför—
dernde Blumeneigenthümlichkeiten durch Na—
turzüchtung ausgeprägt. Tritt dagegen dieſer
Wettkampf nicht ein, ſo vermag in vielen
Fällen auch Selbſtbefruchtung eine unbe—
kannte, vielleicht unbegrenzte Zahl von Gene—
rationen hindurch der Fortpflanzung zu
genügen und zahlreiche, geſunde und frucht—
bare Nachkommen zu liefern; in ſolchen
Fällen, in welchen eine Kreuzung durch die
natürlichen Transportmittel des Pollens
(Wind, Inſekten u. ſ. w.) unſicher wird
oder dauernd verloren geht, prägen ſich
daher häufig Selbſtbefruchtung befördernde
Eigenthümlichkeiten aus.“
Das einzige Bedenken, welches ſich von
Seiten der Darwin'ſchen Verſuche gegen die
Richtigkeit dieſer Vorausſetzungen erheben
ließe, iſt das oben erwähnte Verhalten der
Hero, jenes auffallend ſelbſtfruchtbaren In⸗
dividuums von Ipomaea purpurea, ein Ver—
halten, welches durch die abnormen Um—
ſtände, unter welchen es, und zwar nur
ein einzigesmal, beobachtet wurde, ſeine
Beweiskraft verliert, welches aber allerdings,
wenn es ſich bei weiteren Verſuchen in dieſer
Richtung beſtätigen ſollte, die Allgemein—
gültigkeit des erſten Satzes meiner Vor—
ausſetzungen umſtoßen würde. Von den
mannichfachen neuen Unterſuchungsrichtungen,
zu welchen das vorliegende Werk Anregung
und Ausgangspunkte geben könnte, ſcheint
mir deshalb eine der dankbarſten die weitere
Verfolgung der an Hero und an den auf—
fallend ſelbſtfruchtbaren Exemplaren von
Mimulus luteus gemachten Erfahrungen zu
ſein. Es müßten durch eine größere Zahl
mit Darwin' cher Umſicht, Sorgfalt und
Ausdauer ausgeführter Verſuchsreihen die
Fragen entſchieden werden: Kommt es nur
ausnahmsweiſe vor oder iſt es vielleicht
Müller, Darwin's Werk.
ſogar die Regel, daß bei ſteter Selbſtbe— |
fruchtung eine völlige Anpaſſung an diefe |
Befruchtungsweiſe ſtattfindet? Geht dieſe
Anpaſſung wirklich in einigen Fällen ſo
weit, daß Kreuzung mit einem getrennten
Stocke der Pflanze gar keinen Vortheil
mehr bringt? Oder iſt Kreuzung mit
einem getrennten Stocke in allen Fällen,
auch nach viele Generationen hindurch fort—
geſetzter Selbſtbefruchtung, noch von Vor—
theil? In dieſe Verſuchsreihen müßten
namentlich auch diejenigen Blumenarten auf—
genommen werden, von denen ich nachge—
wieſen habe, daß ſie in zwei Formen exiſtiren,
einer mit augenfälligen, der Kreuzung an—
gepaßten, einer andern mit unanſehnlichen,
ſich regelmäßig ſelbſtbefruchtenden Blumen
(Viola tricolor, Rhinanthus erista galli
u. ſ. w.)
Nächſt dem dürfte es eine ſehr lohnende
Aufgabe fein, vergleichende Selbſtbefruch—
tungs- und Kreuzungsverſuche viele Gene—
rationen hindurch in der Weiſe anzuſtellen,
daß jedesmal die aus Selbſtbefruchtung
hervorgegangenen Pflanzen einerſeits wieder
ſelbſtbefruchtet, andererſeits aber mit einem
friſchen Stocke gekreuzt und die aus beiderlei
Befruchtungsarten hervorgegangenen Nach—
kommen in Bezug auf Keimfähigkeit, Blüthe⸗
zeit, Fruchtbarkeit, Kräftigkeit und Wider—
ſtandsfähigkeit gegen feindliche Einflüſſe mit
einander verglichen würden. Darwin ſelbſt
bedauert, erſt im Verlauf ſeiner Verſuche
erkannt zu haben, daß dieſe Methode hätte
eingeſchlagen werden müſſen, um die Vor—
theile der Kreuzung mit einem friſchen Stocke
in ihrem vollen Betrage zu Tage treten
zu laſſen.
— ſ·„—————— . — — —ͤ̃ ͤ —7
Kleinere Mittheilungen.
Zur kriticiſtiſchen Raumauffaſſung.
er Streit zwiſchen den Anhängern
des Euklid und den Parthei
weitere Kreiſe zu ziehen, und dies
um ſo mehr, als es zugleich fundamentale
philoſophiſche, ja man darf ſagen weltbe—
wegende Grundfragen ſind, um welche ſich
derſelbe dreht. Es wird daher unſeren Leſern
vielleicht nicht unwillkommen ſein, über eben
dieſen Streit Einſicht zu erhalten durch eine
wiſſenſchaftliche Debatte, welche ſich mit
Rückſicht auf eine Reihe von Aufſätzen,
die in der Zeitſchrift „Das Ausland“ Jahrg.
1876, Nr. 50, 51 und 52 von dem Un—
terzeichneten veröffentlicht wurden, ange—
ſponnen hat, und in brieflicher Form fort—
geſetzt wurde. Auf den Wunſch unſeres
verehrten Mitarbeiters Herrn Prof. S.
Günther in Ansbach laſſen wir dieſe
Correſpondenz hiermit folgen.
Dr. O. Caspari.
gängern Riemann's beginnt immer
Herr Prof. S. Günther Ansbach) an
Herrn Dr. O. Caspari (Heidelberg.)
Der Cyklus von Artikeln, welchen Sie
unter dem Geſammttitel „Kritiſche Be—
merkungen über Raum, Zeit und geſchicht—
lichen Verlauf“ im „Ausland“ veröffent—
licht haben, muß das lebhafte Intereſſe
jedes Mathematikers in Anſpruch nehmen,
der Unterſuchungen über die philoſophiſchen
Grundlagen ſeiner Wiſſenſchaft nicht für
etwas Ueberflüſſiges hält. Sie wiſſen, daß
derjenige, der dieſe Zeilen ſchrieb, im All—
gemeinen nicht der Reihe Derer beizuzählen
iſt, welche das alte Problem von der Weſen—
heit des Raumes als durch die Aufſtel—
lung der metageometriſchen Syſteme eines
Bolyai, Riemann ꝛc. gelöſt oder doch
zum mindeſten im mathematiſchen Sinne als
erledigt erachtet, daß er vielmehr einen un—
gleich „conſervativeren“ Standpunkt in dieſer
Frage einnimmt. Angeſichts deſſen möchte
es vielleicht auf den erſten Blick ſonderbar,
wo nicht unmöglich erſcheinen, von ihm das
Bekenntniß zu hören, daß eine Abhandlung
von ſo entſchieden radikaler Tendenz wie
die Ihrige ihm gleichwohl in vielen Be—
ziehungen ſympathiſch war, während natür—
lich bei anderen Anläſſen ſich wiederum
Differenzpunkte ergeben mußten. Geſtatten
Sie deshalb eine kurze Erörterung der
Sachlage nach ihrer poſitiven wie nach ihrer
verneinenden Seite hin. —
Der Standpunkt, von welchem aus Sie
die Unterſuchung über die Natur unſerer
Raumauffaſſung in Angriff nehmen, iſt
der ſtreng kriticiſtiſche im Sinne Kant's,
deſſen reformatoriſche Thätigkeit im Auf
räumen mit abſoluten Dogmen Sie paſſeud
mit derjenigen des Kopernikus vergleichen.
Daß Sie dieſen Standpunkt gewählt, darin
wird wohl die überwiegende Mehrzahl un—
ſerer Mathematiker Ihnen durchaus bei
pflichten, denn daß gerade für unſere Wiſſen
ſchaft das Studium des Philoſophen von
Königsberg ein beſonders erſprießliches ſei,
dieſe Ueberzeugung bricht ſich immer mehr
Bahn. In ſeiner intereſſanten Schrift
„Grenze zwiſchen Philoſophie und exakter
Wiſſenſchaft“ ?) hat J. C. Becker in
Mannheim darauf hingewieſen, wie ſicher
uns Kant auf dem ſchlüpfrigen Boden zu
leiten verſtehe, auf welchem rein mathematiſch—
naturwiſſenſchaftliche und erkenntnißtheore—
tiſche Probleme in einander greifen. In
dieſem Punkte alſo dürfte zwiſchen uns
völlige Uebereinſtimmung herrſchen.
Dem Kriticismus ſtellen Sie den Dog—
matismus gegenüber, deſſen naive Auffaſſung,
wie ſie ſich vielfach in älteren Werken kund—
*) Es möge gelegenheitlich erlaubt ſein,
eine ungerechte Recenſion dieſes Büchleins
zurückzuweiſen, welche unlängſt in der „Jenaer
Literaturzeitung“ erſchien und ohne näheres
Eingehen mit den bei einzelnen anderen Re—
cenſenten beliebten allgemeinen Redensarten
das Publikum zu praeoccupiren ſucht. Un—
ſeres Erachtens kann man der Becker'ſchen
Arbeit nur das zum Vorwurfe machen, daß
der Autor bei der Discufjion eines einzelnen
Beiſpiels von dem ſpannenden Stoff ſich hin—
reißen läßt und der Epiſode einen allerdings
für das Ganze zu beträchtlichen Raum ein—
räumt.
Kleinere Mittheilungen. 69
gegeben findet, Sie treffend zu charakteriſiren
wiſſen. Allein dürfen wir — dieſe Vor—
frage möge im perſönlichen Intereſſe des
Schreibers geſtellt werden — ſchlechthin
den Namen des Dogmatismus auf die heu—
tigen Vertreter der conſervativen Richtung
anwenden, dürfen wir wenigſtens die An—
ſichten dieſer letzteren mit denjenigen iden—
tifieiren, für welche Raum und Körper in
Einen Körper zuſammengefloſſen ſind?
Scheint es doch überhaupt eine etwas miß
liche Sache, in einer ſo zahlreicher Nüan—
eiruugen fähigen Angelegenheit mit Ge—
ſammtnamen zu operiren, denen der Fort—
ſchritt in den Ideen möglicherweiſe den Inhalt
entzogen haben kann. In ſeinem höchſt be—
merkenswerthen Artikel „Ueber die prinzi—
piellen Unterſchiede erkenutnißtheoretiſcher An—
ſichten“, den uns die treffliche neue „Zeitſchrift
für wiſſenſchaftliche Philoſophie“ gebracht hat,
hat Fr. Paulſen dieſen Mißſtand, einer
geringen Anzahl fundamentaler Kategorien
alle denkbaren Meinungen über eine um—
faſſende Frage einordnen zu wollen, einer
einſchneidenden Diskuſſion unterzogen und
ſpeziell feinen Ausgangspunkt von der üb-
lichen Dichotomie genommen, welche die Ge—
ſammtheit unſerer Erkenntnißtheoretiker in
die generellen Klaſſen der Idealiſten und
Empiriſten zerfällt — eine Scheidung, welche
prinzipiell mit der von Ihnen befolgten
Gegeneinanderſtellung Dogmatismus und Kri—
ticismus zuſammentrifft. Indem Paulſen
eine empiriſtiſch-rationaliſtiſche, eine empi—
riſtiſch-phaenomenaliſtiſche, eine rationaliſtiſch—
realiſtiſche und eine rationaliſtiſch-phaeno—
menaliſtiſche Anſicht poſtulirt, ſpricht er die
Ueberzeugung aus, für jeden dieſer Gattungs—
begriffe werde und müſſe ſich ein ent—
ſprechender Umfang nachweiſen laſſen, und
das glaubt auch der Unterzeichnete. Nicht
als ob es ihm möglich erſchiene, ſeine eigene
—
70
Auffaſſungsweiſe auch nur mit einer be—
ſtimmten dieſer vier neuen Kategorien zur
vollkommenen Deckung bringen zu können;
aber das hofft er durch die Berufung auf
jenen Reformverſuch Paulſen's erzielt
zu haben, daß ſein eigenes, theilweiſe phae—
nomenaliſtiſches, theilweiſe doch auch wieder
— es ſei eben der alte Ausdruck wieder
gewählt „dogmatiſches“ Glaubensbe—
kenntniß minder paradox erſcheint, als es
ſonſt vielleicht der Fall geweſen ſein dürfte.
Wir laſſen es dahingeſtellt, ob der Raum
an ſich irgendwie etwas Reales ſei. Sie
ſehen, daß ich damit meiner Anſicht nach
die kriticiſtiſche Lehre nur bis zu ihrer
äußerſten Conſequenz durchführe, denn thut
man dies, ſo kann ja auch ſtrenge genommen
nicht abſolut behauptet werden, der Raum
ſei lediglich eine Erſcheinung; es müßte
eigentlich heißen, er erſcheine uns eben
blos als eine ſolche. So viel iſt ſicher,
daß nur von raumanſchauenden Individuen
und von den das Phänomen unſerer Er—
kenntnißthätigkeit übermittelnden Potenzen
geſprochen werden dürfe. Und auch das
endlich ſei eingeräumt, daß nur unter den
für dieſe unſere Erkenntnißthätigkeit gültigen
Bedingungen das Raum-Phänomen gerade
unter dieſer Form auftreten muß, als wel-
ches wir Alle es kennen.
Allein trotzdem, daß der Unterzeichuete
bis hierher völlig auf gleichem Boden mit
Ihren Auseinanderſetzungen ſteht und es
Ihrer Arbeit zum entſchiedenen Verdienſt
anrechnet, dieſe Fundamentalwahrheiten in
populärer Form dem Allgemeinverſtändniß
näher gerückt zu haben, ſo glaubt er doch
den Punkt ſcharf bezeichnen zu müſſen, bei
welchem die Anſichten auseinandergehen.
Es ſcheint bei dem ſehr berechtigten Ver—
ſuche, die Unzulänglichkeit unſeres menſch—
lichen Erkenntnißvermögens für die all—
Kleinere Mittheilungen.
gemeingültige Löſung ſolcher Fundamental—
fragen in's Licht zu ſetzen, ein Umſtand
nicht gewürdigt worden zu ſein, der nämlich,
ob nicht doch am Ende die Eigenart unſeres
menſchlichen Organismus unſerem Beſtreben,
die Dinge rein
wiſſe Schranken ſetze. Wie dies gemeint
ſei, erhellt vielleicht am Beſten aus nach—
ſtehender Theſe, an deren philoſophiſcher
Einkleidung wohl Mancherlei auszuſetzen
ſein wird, während bezüglich des Inhaltes
der Unterzeichnete mit vielen Mathematikern
ſich im Einklange weiß — zumal mit ſolchen,
welche als Lehrer den menſchlichen Geiſt
nicht ausſchließlich in ſeiner entwickelten,
ſondern auch in ſeiner urſprünglichen, fo
zu ſagen rudimentären Beſchaffenheit kennen
zu lernen pflegen. Jene Theſe lautet:
Wenn auch der menſchliche Geiſt
zu der Erkenntniß durchdringen
kann, daß er in den Dingen der
Außenwelt zunächſt nur Phaeno—
mene vor ſich habe, ſo wird er
doch durch diejenigen unverbrüch—
lichen Satzungen, welche ihm beim
Bilden von Schlüſſen vorgezeich—
net ſind, dazu gezwungen werden,
dieſe Phaenomene nach einer ganz
feſten Norm ſich zurechtzulegen.
Solange die Regeln der formalen
Logik, welche in der Mathematik
ihren praegnanteſten Ausdruck
finden, beſtehen bleiben, wird es
dem Menſchen unmöglich ſein, den
phaenomenalen Raum unter einem
anderen Bilde aufzufaſſen, als
dies der Drei-Dimenſionen-Raum
des Euklides mit dem Krüm—
mungsparameter Null thut.
Läßt ſich dieſer Satz begründen? Ich
meinestheils bin deſſen ſicher. Es muß ja
freilich obige Behauptung ſich zweifellos
Kleinere Mittheilungen. 71
die verſchiedenſten Einwürfe gefallen laſſen.
So wird man, um nur Eines hervorzu—
heben, ſich darauf berufen, daß die Exiſtenz
oder ſogar die Exiſtenzberechtigung einer
rein formalen Denklehre durchaus keine
allſeitig zugeſtandene ſei, daß ſogar Autori—
täten erſten Ranges wie v. Prantl und
Trendelenburg dieſe Disciplin mehr wie
eine ariſtoteliſche Velleität behandelt haben.
Es iſt dies dem Uuterzeichneten nicht un—
bekannt, er hat vielmehr ſelbſt in der päda—
gogiſchen Sektion einer deutſchen Natur—
forſcherverſammlung das eigenthümliche
Schauspiel eines Kampfes mit vertauſchten
Rollen mit angeſehen, wie nämlich ein
Profeſſor der Philoſophie in ſcharfer Weiſe
den propädeutiſch-formalen Unterricht der
Mittelſchule angriff und ein phyſikaliſcher
College mit warmen Worten des angefoch—
tenen Unterrichtszweiges ſich annahm. Eben
aus dieſem Grunde hat er in ſeinem oben
normirten Programm auch gleich die ſeiner
Ueberzeugung nach beſtehende Identität
zwiſchen. Mathematik und formaler Logik
ausdrücklich betont. Und in der That,
enthalten nicht Syſteme, wie dasjenige,
welches Boole als „Calculus logieus“
oder Ernſt Schröder als „formale“, be—
ziehungsweiſe „abſolute“ Algebra bezeichnet,
in ihrer exakten Form genau dasjenige,
was etwa — um die treffliche Leiſtung
dieſer Art herauszuheben — im Compen—
dium der elementaren Logik von Drobiſch
enthalten iſt, nur noch viel mehr dazu?
Kurz, daran wird meinerſeits feſtzuhalten
ein, daß die Lehrſätze jener dem reinen
Denken ſich widmenden Wiſſenſchaften auch
auf das Studium der Frage angewendet
werden dürfen und müſſen, ob nicht, obwol
der Raum an ſich nur eine rein phacno- |
menale Bedeutung hat, gleichwohl dieſes
Phänomen für unſer Menſchengeſchlecht in
einer unwandelbaren, niemals in Vergangen—
heit oder Zukunft irgendwie zu verrückenden
Geſtalt ſich darſtelle.
Unterſuchungen dieſer Art liegen hier
wenn auch freilich noch in ihrem erſten
Keime vor. Abgeſehen von der nichteukli—
diſchen Geometrie, deren rein mathematiſcher,
Spekulationen abgewandter Charakter ſie
eigentlich davor ſchützen ſollte, in den Kreis
der hier vorliegenden Fragen mit herein
gezogen zu werden, ſind es beſonders die
Arbeiten von Riemann und Helmholtz,
welchen wir hier unſere Beachtung ſchenken
müſſen, zumal denjenigen des Letztgenannten.
Denn während ſeine Vorgänger mehr nur
in abſtrakter Weiſe die Principien beſprachen,
nach welchen eine ganz allgemeine Raumlehre
ſich behandeln ließe, hat es Helmholtz
direkt unternommen, einzelne Axiome der
Raumwiſſenſchaft negirend, unmittelbar die
hieraus entſpringenden Folgen uns vor
Augen zu ſtellen. Den Verſuch, die Exiſtenz
einer vierten Dimenſion zu ſtipuliren, hat
er allerdings ſo wenig wie irgend ein
anderer unternommen, weil zu einem ſolchen
eben alle und jede anſchaulichen Hülfsmittel
mangeln; höchſtens Zöllner's neueſtes
elektrodynamiſches Werk möchte als Aus—
nahme zu verzeichnen ſein, denn hier ſtellt
ſich uns der nach drei unabhängigen Fort—
ſchreitungsrichtungen ausgedehnte Körper
als Projektion einer vierfach ausgedehnten
Mannigfaltigkeit dar. In dieſe Auffaſſung
uns hineinzudenken, darauf verzichten wir
gerne und vollſtändig. Helmholtz da—
gegen hat uns durchaus greifbare Verhält—
niſſe vorgeführt; wie er uns die Raum—
anſchauung der von ihm jo genannten
„Flächenweſen“ und die Bewegungserſchei—
nungen in einem „gekrümmten“ Raume
ſchildert, das können auch wir Anhänger
der alten Lehre recht gut verſtehen und
5 2
billigen. Nur das glauben wir feſt: Wenn
es auch de facto ſolche Zuſtände gäbe,
Kleinere Mittheilungen.
der gewöhnlichen nur leiſe differirende Raum-
wie ſie uns Helmholtz in überzeugender
Weiſe darlegt, ſo würden doch logiſch
denkende Individuen aus ihren eigenen —
mit den unſerigen als congruent ange
nommenen — Denkgeſetzen heraus zu der
Gewißheit durchdringen müſſen, es gebe
einen allgemeinen „ebenen“, nach drei Dimen—
ſionen ausgedehnten Raum, den ſie ſich
freilich nicht vorzuſtellen, von deſſen
Exiſtenz ſie ſich aber die feſte geiſtige
Ueberzeugung zu verſchaffen im Stande
ſind. Den Beweis für dieſe Thatſache
haben ziemlich gleichzeitig der Unterzeichnete
in einem der „Zeitſchrift für das Realſchul—
weſen“ einverleibten Aufſatze und Schmitz—
Dumont in einer ſelbſtſtändigen Special
ſchrift (Leipzig, Koſchuy, 1876) zu leiſten
der ich
daß die Helmholtz' ſche Auffaſſungsweiſe
nicht etwa widerlegt, wohl aber in dem
ſo eben angedeuteten Sinne umgedeutet
werden kann.
Und damit komme ich wieder zu meinem
urſprünglichen Vorhaben zurück, Ihre Aus—
land-Artikel mit meinen Bemerkungen zu
verſehen. Sie ſagen auf Seite 983: „Man
denke, um ſich das (die Negationen
des objectiven Raumes) zu verſinn—
freilich Partei bin, feſtzuſtehen, unter denen auch die Raumgebilde ſich ſche—
anſchauung produciren, überhaupt die Sprache
ſein dürfe.“) Sehr mit Recht hat Schmitz—
Dumont darauf hingewieſen, daß uns
auch in Träumen und Fieberphantaſieen
eben doch immer der alte euklidiſche Raum
gegenwärtig bleibe, und wenn R. Falb
behauptet (Sirius, Jahrg. 1876, 1. Heft),
ein Blindgeborner vermöge nur nach zwei
Dimenſionen zu ordnen, ſo muß ich das
vorläufig noch als ein ganz ſcharfſinniges,
*) Hierzu eine Bemerkung. Wir kennen
gewiſſe Irritationen der Centralorgane und
exaltative Zuſtände, in denen die Kranken ge—
meinſam ausſagen: daß ihnen die Raum⸗
verhältniſſe derart durcheinanderſchwanken, daß
ſie keinen Schritt thun können, ohne ſich zu
täuſchen. Ferner, der klare intenſive Traum
iſt, wie man Schmitz- Dumont zugeben
verſucht; und mögen auch dieſe vielfach
variirten Beweisverſuche Manches zu wün-
ſchen übrig laſſen — ſoviel ſcheint mir,
lichen, an ein Irrenhaus, in welchem jeder
einzelne Kranke andere Hallucinationen über
die Raumdimenſionen beſitzt.“ In dem
Momente, wo mir ein einziger derartiger
Fall als wirklich beobachtet bekannt gegeben
wird, erkläre ich mich für beſiegt — allein deſtens diejenige Anſchauung auf, welche
ich möchte ſehr bezweifeln, ob von der
Möglichkeit, das Gehirn des Menſchen könne
auch im ungeſundeſten Zuſtande eine von
den
darf, ein annähernd gutes Reproductionsbild
des euklidiſchen Raums. Allein die Träume
haben tiefe Abſtufungen nach Seiten der
wunderlichſten Verzerrungen und Unklarheiten,
menhaft und chaotiſch verwirren. Bei Fie—
berdelirien aber, wo von klarem Bewußtſein
(und dies ſetzt überall die ob,eftive Raum⸗
anſchauung voraus) überhaupt nicht mehr
die Rede iſt, kann die objektive Raum—
anſchauung ſelbſtverſtäudlich nicht mehr be—
ſtehen. Rein ſubjektive Formen, verbunden mit
Täuſchungen und Verwechſelungen treten
hier ſelbſtſtändig auf und präoccupiren die
niederen Bewußtſeinsgrade der Kranken. Ver⸗
fielen daher alle organiſirte Weſen in derartige
Zuſtände, ſo könnte für alle dieſe kein eu—
klidiſch-objektiver Raum beſtehen und zur
Anerkennung kommen. Generaliſirt man dieſe
Annahme auf alle Weſen und Atome des
All's, zu welcher Conſequenz der Skeptiker
jederzeit ſchreiten wird, ſo hebt ſich min—
objektiven Raum im Sinne des Euklid
als etwas abſolut Fixes und Unumſtößliches
ante rem oder in re betrachtet.
O. Caspari.
25
Kleinere Mittheilungen. 73
8 0
|
jedes reellen Beleges dagegen entbehrendes „menſchliche Apodictieität“ nennen.
Paradoxon erklären. Ich gebe ſonach zu, Mag fein, daß dem wirklich jo iſt, und
8 | daß Sie mit großer Schärfe das Argu- wenn, wie Sie angeben, „die weiterſchrei—
ment in den Vordergrund geſtellt haben, tenden Kriticiſten“ einig darüber find, daß;
daß, wenn es erhärtet werden könnte, jene Anſicht eine verfehlte, jo kann ich |
| die Diskuſſion ſofort in Ihrem Sinne ab- zwar auch dies nicht beſtreiten, wohl aber
ſchließen müßte, allein ich glaube nicht an meine Poſition dahin erläutern, das eben
die Möglichkeit eines Beweiſes. Und wie mein eigener Kriticismus auch nicht über
verhält es ſich mit dem zweiten Beiſpiel, Kant hinausgeht. Nur freilich möchte ich
demjenigen vom Regenbogen, welches Sie nicht gerade behaupten, jene die volle Phae— |
mit offenbarer Liebe auf's Genaueſte durch- nomenalanſchauung behindernde Schranke
geſprochen und deſſen innige Verwandtſchaft der menſchlichen Objectivität ſei eine aprio-
mit der Hauptfrage ſehr treffend illuſtrirt riſtiſch feſtſtehende Thatſache, ſondern einzig
haben? Sie haben auch nach der phyſi- und allein, es ſpräche für fie eine ganz
kaliſchen Seite hin durchaus darin Recht, ungeheure Wahrſcheinlichkeit, eine Probabili—
daß wir im Regenbogen blos ein Phäno- tät von' ungefähr gleicher Größe wie für
— men vor uns haben, welches a priori für | den Tod aller Menſchen.
jedes einzelne Individuum in einer ver— Dagegen muß ich Ihnen meine vollſte
ſchiedenen Form auftreten könnte, und es Beiſtimmung zollen für die correkte Stellung,
hat deshalb auch vor einiger Zeit eine welche Sie den Riemannianern ſtrenger
pädagogiſche Zeitſchrift ganz richtig die Be- Regel gegenüber einnehmen, und für die
merkung gemacht, man dürfe, ſtrenge ge- Beſtimmtheit, mit welcher Sie die in jener
nommen, den Regenbogen nicht als etwas Schule durchgehends gehegte Anſicht zurück- —
Objektives hinzeichnen, wie dies allerdings wieſen, als ſei nun ohne Weiteres die Lehre
die Compendien der Naturlehre überein- vom „unebenen“ Raum identiſch mit der
ſtimmend thun und auch wohl thun müſſen. kriticiſtiſchen Raumauffaſſung. Dieſe letztere
Nun aber geſtatten Sie mir die Frage: ſteht zu Riemann wie zu Euklid ge— |
Wie kommt es, daß denn doch alle Men- nau im nämlichen Verhältniß, d. h. über
ſchen dieſe an ſich falſchen Zeichnungen an- den Parteien, keine bevorzugend. Sollte
erkennen, daß jeder auf den erſten Blick aber je die Frage entſchieden werden, welche
die Identität dieſes Bildes mit ſeinem der beiden oppoſitionellen Richtungen prin— |
eigenen durch Autopſie erlangten einräumt? eipiell dem Kriticismus die näher ver—
Doch offenbar nur darum, weil es eben wandte iſt, ſo ſollte doch wohl erwogen
| Phaenomene giebt, welche die auf die wech- werden, daß der von jenem am ſchärfſten |
— ſelnden äußeren Eindrücke angewandte und häufigſten bekämpfte Irrthum, die
Reflexionsthätigkeit bei allen Menſchen trotz Ineinanderſchachtelung zweier „Räume“,
aller ſonſtigen Verſchiedenheit in einheitlicher den Anhängern des Riemann'ſchen
Weiſe deutet. 5 Raumes bei weitem näher liegt, ſo lange
2 Sie werden mir, das fühle ich ſicher, ſich dieſelben nicht aus den Feſſeln der An—
den Einwurf machen, ich nehme im Vor- ſchauung loszuringen im Stande ſind. Bis
ſtehenden jene ältere Kant'ſche Anſicht jetzt hat das aber noch keiner jener Herren
wieder auf, welche Sie ſelbſt (S. 107) fertig gebracht. —
10
7
74
Nur noch zum Schluß ein kurzes Wort
über das zweite Hauptthema unſerer, reſp.
Ihrer eigenen Unterſuchung, die Zeit. Ich
muß es billigen, daß Sie die Verſchmelzung
der Begriffe Zeit und Zeitmaß reprobiren
und in Folge deſſen gegen die üblichen
Definitionen erſteren Begriffes polemiſiren,
aber ich muß fürchten, daß eine Definition
überhaupt nicht möglich iſt. Denn ebenſo
wie der Raum nicht als ſolcher, ſondern
lediglich als Abſtraktum aus den in Wechſel—
beziehung ſtehenden Körpern uns bekannt
iſt, ganz ebenſo erkennen wir die Zeit nur
aus einer in unſer Bewußtſein direkt hinein-
tretenden Eigenſchaft — aus ihrer Gleich—
förmigkeit, oder, wenn wir ein hier
wohl ſtatthaftes geometriſches Kunſtwort
verwenden, aus ihrem conſtanten Krüm—
mungsmaß. Angeſichts dieſer zur De—
finition brauchbaren und hinreichenden Eigen—
ſchaft iſt es philoſophiſch dasſelbe, den
Zeitverlauf mit dem Bilde der Geraden,
Kreislinie oder Schraube zu identificiren,
denn eben dieſen drei Curven — und nur
ihnen — kommt bekanntlich jene Eigen—
ſchaft zu, die wir im populären Sinne
dahin praeciſiren können, daß mit gleicher
Zirkelöffnung auf ihnen abgegriffene Stücke
auch überall gleich groß ſind. Unter dieſer
Vorausſetzung muß mir die von Wundt
aufgeworfene Frage gegenſtandslos erſcheinen,
ob nicht die Zeit ein von Null abweichen—
des Krümmungsmaß beſitzen könne; einen
realen Inhalt gewinnt ſie erſt, wenn von
den abſtrakten Begriff der Zeit zu dem—
jenigen des geſchichtlichen Verlaufs, oder,
anders formulirt, von der reinen Philo—
ſophie zur Philoſophie der Geſchichte
übergegangen wird. — Und damit bin ich
bei Ihrer Schlußabtheilung angelangt,
welcher ich jedoch meine Commentationen
um ſo weniger hinzufügen will, als ich
Kleinere Mittheilungen.
hier die von Ihnen gewonnenen Ergebniſſe
größtentheils mit Vergnügen acceptire.
Ich hoffe, daß vorſtehende Zeilen zur
Klärung, wenn nicht der Sache ſelbſt, ſo
doch unſerer gegenſeitigen Stellung Einiges
beitragen möchten. Sollten Sie ſich dieſer
Anſicht vielleicht anſchließen, ſo würde das
zur lebhaften Befriedigung gereichen
Ihrem aufrichtig ergebenen
Siegm. Günther.
Die Steppe als Uebergangsglied
in der Erdgeſchichte.
Von einem beſtimmten Gebiete — der
Gegend zwiſchen Magdeburg und Halber—
ſtadt — ausgehend, kommt Herr A. Nehring
zu einigen bemerkenswerthen Schlüſſen über
den Wechſel der Flora und Fauna, dem
die vom Meere verlaſſenen Gebiete zunächſt
zu unterliegen pflegen. Seine Unterſuchungen
führten ihn darauf, daß jene jetzt ſo frucht—
bare und eultivirte Gegend in einer be—
ſtimmten längeren Epoche der Vorzeit den
Charakter einer Steppe dargeboten haben
müſſe, einer Steppe, die wahrſcheinlich nicht
iſolirt lag, ſondern nach Oſten mit dem
großen ruſſiſch-aſiatiſchen Steppengebiete im
direkten Zuſammenhange ſtand.
Gewöhnlich denkt man ſich Norddeutſch—
land und damit auch die oben bezeichnete
Gegend in der Vorzeit entweder noch vom
Meere überfluthet und den ſkandinaviſchen
Eisſchollen, ſammt ihren erratiſchen Blöcken
zugänglich, oder man ſtellt ſich unſere
Heimath ſo vor, wie Cäſar und Tacitus
fie uns ſchildern, nämlich mit dichtem Wald
und ausgedehnten Sümpfen bedeckt. Beide
Vorſtellungen haben ihre Berechtigung, jene
Fe
für die ältere Periode der ſogenannten
Diluvialzeit, dieſe für die dicht vor der
hiſtoriſchen Zeit liegende Epoche. Es
fragt ſich nun: Wie mag ſich die Zwiſchen—
zeit für unſere Gegend geſtaltet haben,
d. h. jene Zeit, in der das Meer aus den
Ebenen, welche den Nordfuß des deutſchen
Mittelgebirges umſäumen, zwar ſchon zurück
gewichen, der Wald aber von den benach
barten Höhenzügen aus noch nicht in das
Tiefland vorgedrungen war? Es läßt ſich
mit einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit ver—
muthen, daß der frühere Meeresboden,
welcher als eine ſandig lehmige, von Salz—
waſſer durchtränkte Ebene dalag, ſich in
manchen Gegenden Norddeutſchlands vor—
läufig zu einer Steppe entwickelte, und es trat
hier alſo wahrſcheinlich daſſelbe ein, was
wir noch jetzt in den früher vom Meere
bedeckten, im Laufe der Zeit trocken ge—
wordenen Gebieten um das Kaspiſche Meer
und den Aralſee beobachten können, und
was wahrſcheinlich auch auf ausgedehnten
Tieflandgebieten anderer Erdtheile (Prärieen
von Nordamerika, Pampas von Süd—
amerika u. ſ. w.) eingetreten iſt. Man
braucht ſich eine Steppe durchaus nicht
vollſtändig eben zu denken, vielmehr unter-
brechen in den meiſten Steppenländern
hügelige, wellenförmige, ſogar felſige Par—
tieen die allerdings vorherrſchende Einöde. |
Charakteriſtiſch iſt hauptſächlich das Fehlen
des Waldes; der ſandig lehmige Boden iſt
bedeckt mit Gräſern, Zwiebelgewächſen und
niedrigen Stauden, welche im Frühjahr
(reſp. nach der Regenzeit) ſchnell und
üppig emporſchießen, in der heißen und
trocknen Zeit aber verdorren, und dann
der Steppe das in unſerer Vorſtellung
vorherrſchende Bild einer Einöde verleihen.
Die an der Scholle haftenden Thiere
der Steppe find jo vollkommen den Ver
N
Kleinere Mittheilungen. 75
hältniſſen des Bodens und Klimas an—
gepaßt, daß ſie in andern Gegenden, z. B.
auf waldigen oder ſumpfigen Terrains, nie
gefunden werden, und daher in ihren Reſten
als charakteriſtiſche Erkennungsmittel ehe—
maliger Steppen dienen können. Dahin
gehören vor allen Dingen die Steppen—
nager, welche einerſeits in den Zwiebeln,
Blättern und Beeren der Steppenpflanzen
eine hinreichende Nahrung finden, anderer—
ſeits in dem ſandig lehmigen Boden ein
geeignetes Material zum Bau ihrer unter—
irdiſchen Höhlen haben, durch welche ſie ſich
gegen die ihnen nachſtellenden Raubthiere,
ſowie gegen die harte Kälte des Steppen—
winters Schutz verſchaffen. Unter ihnen
ſind die Springmäuſe, Zieſel und Arvi—
colen hervorzuheben. Für die Deutung
der norddeutſchen Steppe in der Vorzeit
kommen insbeſondere die Charakterthiere
der Steppen an der unteren Wolga und
dem oberen Ob in Betracht. Es ſind
hauptſächlich 1) der große Sand- oder Pferde—
ſpringer (Alactaga jaculus); 2) mehrere
Zieſelarten, beſonders Spermophilus Evers-
manni; 3) das Steppen-Murmelthier
(Aretomys bobac); 4) der kleine Steppen—
pfeifhaſe (Lagomys pusillus); 5) wilde
Pferde; 6) die Saiga-Antilope.
anderen Thiere ſind weniger ausſchließliche
Angehörige der Steppe.
Ganz dieſelbe Zuſammenſetzung zeigt
nun die Diluvialfauna, welche Herr
Nehring bei feinen wiederholten Aus—
grabungen in den Bergling'ſchen Gipsbrüchen
von Weſteregeln (Kreis Wanzleben) feſt—
geſtellt hat. Hinſichtlich der Individuen—
zahl überwiegen die Steppenthiere derart,
daß die anderen Arten, welche ebenſo wie
die heutige Fauna von Südweſtſibirien eine
eigenthümliche Miſchung von nordiſchen und
ſüdlichen Säugethieren bezeugen, daneben
Die
|
76
ganz zurücktreten. Am zahlreichſten fanden
ſich die Springmäuſe und die Zieſel, welche
förmlich rudelweiſe oder in Familien die
Gegend von Weſteregeln bewohnt und in
den ſandig lehmigen Ablagerungen der dor—
tigen Gipsbrüche ihr Grab gefunden haben.
Faſt ebenſo zahlreich müſſen die wilden
Pferde geweſen ſein, deren Zähne und
Knochen maſſenhaft vorkommen und auf
eine tarpanähnliche Art ſchließen laſſen.
Daneben treten zahlreiche Arvicolen, als
feldmausähnliche Nager hervor, meiſtens
ſolchen Arten angehörend, derer Verbreitungs—
bezirk heutzutage weſentlich in Oſteuropa
und Weſtaſien liegt.
Das Steppenmurmelthier und den
kleinen Steppenpfeifhaſen konnte Herr
Nehring vorläufig nur in je einem
Exemplar nachweiſen, die Saiga-Antilope,
welche anderwärts im mittleren Europa
(weſtlichen Frankreich) gefunden worden iſt,
bisher überhaupt nicht. Aber wenn die
Saiga-Antilope auch vorläufig dem Ge—
ſammtbilde fehlt, ſo zeigt ſich die Weſter—
egler-Diluvialfauna dennoch in ihren Haupt—
vertretern als eine einheitliche Steppenfauna
und weiſt uns ſo entſchieden auf Oſteuropa
und Südweſtſibirien hin, daß wir gewiß
ters wie die zwiſchen Wolga und Ob, ja
man möchte einen ehemaligen Zuſammen⸗
hang beider vermuthen. Herr Nehring
ſpäter frei gewordenen Ebenen
ſich meiſtens zunächſt als Steppen
entwickelten. Vielleicht dehnte ſich die
Magdeburg-Halberſtädter Steppe nach
Kleinere Mittheilungen.
trockner, continentaler als jetzt.
zu dem Schluſſe berechtigt ſind, es müſſe
dort, wo dieſe Thiere einſt hauſten, eine
Steppe beſtanden haben, ähnlichen Charak-
Süden über Aſchersleben und Halle bis
hinauf in das Thal der weißen Elſter aus,
denn Herr Profeſſor Liebe hat auch bei
Gera die foſſilen Ueberreſte von mehreren
Exemplaren des großen Sandſpringers,
ſowie diejenigen eines Zieſels gefunden,
und zwar genau von derſelben Art, die
Herr Nehring bei Weſteregeln antraf.
Ebenſo ſind an mehreren weſtlicher gelegenen
Punkten Mitteleuropas Reſte dieſer größe—
ren Zieſelart, wie Lagomys pusillus, von
der Saiga-Antilope und den wilden Pferden
gefunden worden, wodurch obige Hypotheſe
bis auf weitere ausgedehnte Unterſuchung
geſtützt wird.
Als Grund für das Verſchwinden dieſer
einſtmaligen mitteleuropäiſchen Steppen
nimmt Herr Nehring ein allmäliges
Vorrücken des Waldes an, welches ver—
muthlich Hand in Hand ging mit einer
Aenderung des Klimas.
Dieſes war in
der Steppenzeit, in welcher wahrſcheinlich
England und Südſkandinavien noch mit
dem Continente zuſammenhingen, Nord—
und Oſtſee noch nicht in der jetzigen Geſtalt
exiſtirten, während der Golfſtrom vermuth—
lich eine nördlichere Richtung hatte, ſchroffer,
Mit der
Milderung des Klimas und dem Vorrücken
des Waldes von den bewaldeten Gebirgen
und Höhenzügen her, zogen ſich die Steppen
und mit ihnen die Steppenthiere allmählig
nach dem Oſten zurück. (Blätter für Handel,
Gewerbe und ſociales Leben. Beiblatt zur
knüpft daran die Folgewing, daß vielleicht
in jener Epoche der Entwicklungsgeſchichte
unſeres Erdtheils überhaupt die einſt⸗
mals vom Meerebedeckt geweſenen,
Magdeburgiſchen Zeitung No. 50, 1876.)
8
—
Größeſchwankungen
nordamerikaniſcher Säuger mit
den Breitegraden.
Die genauere Betrachtung der ausge—
zeichneten Sammlung von Säugethierſchädeln
im Nationalmuſeum der Vereinigten Staaten
gab Herrn J. A. Allen Gelegenheit, die
herrſchenden Anſichten über geographiſche
Größeſchwankungen der nordamerikaniſchen
Säuger einer Kritik zu unterwerfen. Man
nahm bisher an, daß die Größenabnahme
derſelben, wo ſie hervortritt, was nicht bei
allen Thieren der Fall iſt, ungefähr mit
der Abnahme der geographiſchen Breite
Schritt halte. Der genannte Zoologe fand
nun aber, daß bei Waſchbären (Procyon
lotor) und den meiſten Katzenarten ein
umgekehrtes Verhältniß obwaltet, daß ihre
Größe vielmehr vom Norden nach dem
Süden zunimmt. Da nun die meiſten
Säuger Nordamerikas Familien und Gat—
tungen angehören, welche ihre größte Ent—
wicklung in den gemäßigten oder kälteren
Theilen der nördlichen Halbkugel haben,
ſo begreift man das Vorherrſchen der
Größen-Abnahme gegen Süden, ebenſo wie
die Ausnahme von dieſer Regel bei Thieren,
welche wie die Katzen und Waſchbären in
den tropischen Ländern ihre Hauptentwicklung
erreichen. Herr Allen faßt die Beziehungen
zwiſchen der Größe und geographiſchen
Verbreitung der Thiere in folgende zwei
Sätze zuſammen: 1) Die größte Entwicklung
des Individuums wird erreicht, da wo die
Lebensbedingungen ſeiner Art am günſtigſten
ſind. Die Arten ſind in ihrer Verbreitung
urſprünglich durch klimatiſche Bedingungen
beſchränkt, denen ihre Vertreter an den äußer—
ſten Grenzen nach Norden wie nach Süden
ſchließlich erliegen. Dieſe Einflüſſe können
Kleinere Mittheilungen.
centrums gefunden, während die an der
Grenze vorkommenden Formen gewöhnlich
5 (
77
ſein: einmal die unmittelbaren Wirkungen
einer zu hohen oder zu niedrigen Temperatur,
mangelnder oder überreichlicher Feuchtigkeit |
auf die Thiere ſelbſt, und dann auf ihre
Nährpflanzen und Thiere. Daher ſteht
die Größe der Individuen im Allgemeinen
in Beziehung zur Fülle oder Seltenheit der |
Nahrung. Da aber verſchiedene Arten ihrer |
Conftitutiin nach verſchiedenen klimatiſchen |
Bedingungen angepaßt find, ſo können |
Umgebungen, welche für die einen günſtig
ſind, höchſt ungünſtig ſein für andere Arten,
ſogar derſelben Familie oder Gattung.
2) Es werden deshalb die größten Arten
einer Gattung oder Familie dort gefunden,
wo die betreffende Gruppe ihre höchſte
Eutwicklung erreicht, oder wo ihr ſogenannter
Schöpfungs⸗-Mittelpunkt liegt. Mit andern
Worten: Arten einer gegebenen Gruppe
erreichen ihre Maximalgröße dort, wo ihre
Exiſtenzbedingungen am vollkommenſten er— |
füllt werden. Dieſes Geſetz iſt im Allge-
meinen nicht neu, und in ähnlicher Weiſe |
ſchon öfter aufgeſtellt worden, man muß
die Darlegungen des Herrn Allen daher
mehr als eine Beſtätigung auffaſſen, wozu
allerdings Amerika mit ſeiner ungeheuren
Ausdehnung von Norden nach Süden die
denkbar günſtigſte Gelegenheit bietet. cs
gilt das Gleiche von dem dritten Satze, |
welchen Herr Allen aus feinen Studien
ableitet: Die typiſchen oder am meiſten ver—
allgemeinerten Vertreter einer Gruppe, werden
gleichfalls in der Nähe ihres Vertheilungs—
mehr oder weniger abweichend oder ſpecialiſirt
find. (The American Naturalist. Vol.
os 19. 1876)
K. |
78
Märtyrer der Darwin'ſchen Theorie.
So darf man mit Grund die Amphi—
bien nennen, von denen wieder im jüngſt ver—
floſſenen Jahre Hunderte den Verſuchen, die
Umwandlungslehren zu erweiſen, erlegen ſind,
aber dafür auch zur Erkenntniß der Wahr—
heit erheblich beigetragen haben. Die An—
regung zur erneueten Aufnahme dieſer Ver—
ſuche, zu denen kein Thier mehr herausfordert
als dieſe Doppelnaturen, ging bekanntlich
von der 1865 von A. Dumeril in
Paris gemachten Beobachtung aus, daß der
bisher für einen ſogenannten Perennibran—
chier (d. h. immer mit Kiemen athmenden
Lurch) gehaltene Axolotl aus Mexico
(Siredon pisciformis) eines ſchönen Tages
im Pariſer Pflanzengarten, ganz wider
ſeine Gewohnheit, an's Land ging, die Lungen
ausweitete, und ſich in einen, der Sippſchaft
nach wohlbekannten amerikaniſchen Landmolch
(Amblystoma) verwandelte. Das Ver—
wirrende bei dem Auftreten dieſes Thieres,
welches bisher ſelbſt in ſeiner Heimath ſtets
zu den „verfehlten Exiſtenzen“ gehört hatte,
war der Umſtand, daß es ſich als Kiemen—
molch regelmäßig fortgepflanzt hatte, und
da die Fortpflanzungsfähigkeit in der Regel
erſt eintritt, wenn die Thiere alle ihre
Verwandlungen abſolvirt haben und voll—
kommen mündig geworden ſind, ſo glaubte
man, alle Urſache zu haben, dieſe Thiere
als vollendete ſtimmfähige Bürger des Thier—
reichs anſehen zu dürfen. Die Thatſache,
Kleinere Mittheilungen.
welche ſich ſeitdem auch in anderen Aquarien
beſtätigte, war ſo verblüffend, daß einige
Zoologen, ſtatt auf die ſo naheliegende Er—
klärung einer bisher gehemmten Entwicklung,
auf allerhand myſtiſche Spekulationen ver—
fielen, und aus dem Umſtande, daß ſich die
neugebackenen Amblyſtomen nicht alsbald
fortpflanzen wollten, ſogleich ſchloſſen, es
habe hier eine rückſchreitende Metamorphoſe
ſtattgefunden, der Uebergang vom Kiemen—
thier zum Lungenthier ſei nicht der natür—
liche Abſchluß eines nur für gewöhnlich
durch äußere Umſtände gehemmten Ent—
wicklungsvorganges, ſondern ein Rückſchlag
(Atavismus) ſehr bedenklicher Art. Allein
kaum waren dieſe Träumereien zu Papier
gebracht, als auch ſchon die ſeit mehr als
zehn Jahren unfruchtbaren Pariſer Am—
blyſtomen ſich im vorigen Jahre regelmäßig
fortzupflanzen begannen. Da dies geſchehen
iſt, nachdem man die Behaglichkeit des
Aufenthalts dieſer Thiere erhöht hatte, in—
dem der Direktor Vaillant ihrer Pflege
alle Sorgfalt zuwendete, ſo kann man
ſchließen, daß eben nur das Fehlen eines
landmolchwürdigen Daſeins dieſe Thiere
ſo lange zu Anhängern der Hartmann'ſchen
Philoſophie gemacht hatte. Die ganze my—
ſteriöſe Erſcheinung ſtellt ſich nun folgender—
maßen dar: Der See von Jezkuko, in
welchem der Axolotl lebt, hat einen ſehr
wechſelnden Waſſerſtand, ſo daß die Ufer
beim Zurücktreten in der regenarmen Jahres—
zeit ſtark mit Salz inkruſtirt werden.
Dieſer Umſtand ſowohl, als das vielleicht
trockner gewordene Klima hindert dieſe
Thiere ans Land zu gehen und dort ihre
vollkommene Umwandlung durchzumachen,
wie ſie es ohne Zweifel früher zu thun
gewöhnt waren. Es ſcheint aber, wie wir
alsbald aus weiteren Beiſpielen ſehen werden,
ein allgemeines Geſetz zu ſein, daß Larven,
die durch äußere, ihrer Exiſtenz im All—
gemeinen nicht ungünſtige Umſtände gehin—
dert werden, ſich weiter zu entwickeln, ſchon
als Larven geſchlechtstüchtig werden, damit
die Art durch die Ungunſt der Verhältniſſe
nicht ſogleich zu Grunde gehe. Es iſt dies
offenbar ein ſehr ausgezeichnetes Beiſpiel
—
von der Anpaſſungsfähigkeit lebender Weſen,
die, wie man hieraus erſieht, in allen Pe—
rioden ihres Lebens gleich wirkſam iſt,
und daher ſo leicht diejenigen Abweichungen
vom natürlichen Entwicklungsgange hervor—
bringen kann, welche Häckel Cenogeneſis,
d. h. Fälſchungsgeſchichte, nennt. In den
letzten Heften von Kölliker's und von
Siebold's Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche
Zoologie (Band XXVIII. Heft 1 und 2.
1877) weiſt der letztgenannte darauf hin,
daß wir ganz dieſelben merkwürdigen Vor—
gänge einer gehemmten Entwicklung bei
einem einheimiſchen Thiere beobachten
können, nämlich beim Alpenmolch (Triton
alpestris). Im Hochſommer 1861 fand
der italieniſche Zoologe F. de Filippi in
einem Sumpfe unweit An der Matten
(Formazza-Thal) bei einer Höhe von nahezu
4000 Fuß über'm Meeresſpiegel, eine
Menge dieſer noch mit Kiemen verſehenen
Thiere, welche vollkommen geſchlechtsreif
waren. Er deutete ſich das Phänomen
ganz richtig durch die örtlichen Verhältniſſe,
und da er nur zwei Exemplare dieſer Thiere,
bei denen die Kiemen eben eingegangen
waren, auffinden konnte, ſo meinte er aus
dieſem Fehlen ausgewachſener Exemplare
ſchließen zu ſollen, daß dieſe Thiere ähnlich
wie die kleine Pricke (Petromyzon Planeri)
ſich verhalten mögen, welche drei Jahre
im Larvenzuſtande, in dem man ſie früher
bekanntlich für ein beſonderes Thier (Querder,
Ammoeoetes) anſah, zubringt, um nach
der Fortpflanzung alsbald zu ſterben.
Dieſe Alpenmolche bieten alſo völlig daſſelbe
Schauſpiel wie unſer Gaſt aus Mexico,
und die ſoviel Aufſehen erregende Beobach—
tung war nicht einmal neu. Prof. von
Siebold macht bei dieſer Gelegenheit mit
Recht darauf aufmerkſam, wie wenig einer—
ſeits die Trennung der Salamandrina und
Kleinere Mittheilungen. 8 79
Proteina haltbar iſt, welche auch bereits
durch van der Hoeven aufgegeben worden
iſt, wie ſehr andererſeits die Amphibien
zu Experimenten im Sinne der Entwid
lungslehre einladen. Bekanntlich war es
Schreibers in Wien, der zuerſt in den
zwanziger und dreißiger Jahren dieſe Ver—
ſuche aufnahm und unter andern den
Proteus anguinus der Adelsberger Höhle
bald zu einem reinen Kiementhier, bald
zu einem vorwiegenden Lungenathmer erzog,
je nachdem er ihn zwang, unter Waſſer
zu bleiben, oder ausſchließlich zwiſchen naſſen
Steinen und Badeſchwämmen zu leben.
Schreibers ſtellte auch bereits Verſuche
mit dem Alpenſalamander (Salamandra
atra) an, den von Siebold im vergan—
genen Jahr zu einem hüchſt intereſſanten
Experimente zwang. Aehnlich jenen vor
einigen Jahren von dem Marine-Apotheker
Bavais entdeckten weſtindiſchen Fröſchen,
welche ihre Kaulquappenzeit aus Mangel
an Waſſertümpeln auf einzelnen dieſer vul—
kaniſchen Inſeln im Ei abwarten, kommen
die Jungen dieſes Alpenſalamanders in
einem bereits ziemlich fortgeſchrittenen Stadium
zur Welt. Von Siebold entnahm nun
Embryonen dieſer Thiere dem Mutterleibe,
wo ſie ſich merkwürdiger Weiſe auf gegen—
ſeitige Koſten ernähren, und warf ſie in's
Waſſer, um zu ſehen, ob ſie ſich nicht mit
ihren Kiemen unter dieſen urſprünglichen
Verhältniſſen wieder behelfen würden. Er
ſelbſt hatte keine günſtigen Erfolge in der
Erziehung dieſer Frühgeburten, aber einer
in der Thierpflege außerordentlich geſchickten
Naturforſcherin, die dieſe Verſuche auf des
Genannten Anregung wiederholte, Fräulein
Marie von Chauvin, glückte es, einen
ſolchen zu früh der rauhen Außenwelt über—
gebenen Alpenſalamander volle fünfzehn
Wochen am Leben zu erhalten. Die ur—
„
80
ſprünglichen Kiemen, welche das Thier wie
ein Schleier umhüllen, gingen ein, und es
entwickelten ſich mit dem auch beim Axolotl
beobachteten Reproduktionsvermögen neue,
ein glänzender Beweis der immer neue
Auswege ſchaffenden Naturkraft. Näheres
über dieſe von der Beobachterin fortgeſetzten
Verſuche findet der Leſer in Kölliker's
und von Siebold's Zeitſchrift für wiſ—
ſenſchaftliche Zoologie. (Bd. XXVII., Heft 4.)
K.
Die Schutzmittel der Zlüthen gegen
unberufene Hüfte.
In der Feſtſchrift zur Feier des
fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der
Wiener zoologiſch-botaniſchen Geſellſchaft
(Wien, Braumüller 1876) giebt Herr
A. Kerner Studien über Einrichtungen,
welche die Blüthen der Pflanzen vor dem
Beſuche unliebſamer, kriechender, nur auf die
Stillung ihres Appetites bedachter Gäſte
ſchützen ſollen, während den fliegenden
Poſtillons d'amour's aus der Inſektenwelt
alle Thore geöffnet, Honig und Blumenſtaub
in Fülle geboten werden. Unter den un⸗
erſprießlichen Gäſten eröffnen die großen
Weidethiere den Reigen, aber ſchlimmer als
ſie wüthen die gefräßigen Heliciden unter
den Schnecken, die Raupen, Blattläuſe, die
kleinen Blumenkäfer, welche ihres geringen
Leibesumfangs wegen ſich nicht mit Blumen—
ſtaub einpudern, wenn ſie dem Honig nach—
gehen u. ſ. w. Man trifft die genannten
Weichthiere und Inſekten zwar nicht allzu—
häufig auf Blüthen, aber nicht etwa weil
ſie das zarte Parenchym der Blumenblätter
nicht als Delikateſſe zu würdigen wüßten,
Kleinere Mittheilungen.
ſondern vielmehr, weil die meiſten Blüthen
gegen ihre Beſuche geſchützt ſind.
Die Schutzmittel der Blüthen mögen
zum guten Theil auf chemiſch-phyſiologiſcher
Wirkung beruhen, ſo daß ausgeſchiedene
Harze und ätheriſche Oele, deren Duft uns
vielleicht höchſt angenehm iſt, dieſe kleinen
Thiere von dem Verzehren abſchrecken.
Einer ganz beſondern Schutzeinrichtung
erfreuen ſich einige Pflanzen, deren Blü—
thenſchaft ſich mit Waſſer umgiebt, in
welchem die Inſekten zu ertrinken Gefahr
laufen, wie derjenige der Weberkarde, die
deshalb auch Venus Waſchbecken heißt
Am intereſſanteſten in dieſer Beziehung ſind
die Bromeliaceen, deren Laubblätter häufig
in geräumigen Trichterroſetten die atmo—
ſphäriſchen Niederſchläge ſammeln, den daraus
hervorſteigenden Blüthenſchaft mit Palliſaden—
zaun, Wall und Graben umgeben,) und
ſo dem Andringen flügelloſer Inſekten eine
unüberſteigliche Schutzmauer entgegenſtellen.
Die Waſſerpflanzen ſind eo ipso gegen das
Ankriechen unberufener Gäſte geſchützt,
und es iſt ſehr lehrreich, zu ſehen, daß
Pflanzen, deren Blüthenſchäfte ſich aus
dem Waſſer erheben, der ſogleich zu er—
) Eines der wunderbarſten Anpaſſungs⸗
verhältniſſe dieſer Bromeliaceen beobachtete
Gardner an den Orgelbergen bei Rio. Hier
ſah er an den Felswänden bis zu 5000 Fuß
über dem Meere eine große Tillandſia-Art
wachſen, welche im Grunde ihrer Blattroſette
eine beſonders anſehnliche Waſſermenge an—
ſammelt. In dieſem Behälter, und nur hier
allein, ſchwimmt eine der ſchönſten und an—
ſehnlichſten Waſſerſchlaucharten (Utrieularia
nelumbifolia), von der man nach den Gewohn—
heiten dieſer inſektenfreſſenden Gattung viel—
leicht ſchließen darf, daß ſie die läſtigen Gäſte
der Bromeliacee, die in dem Waſſer ertrinken,
zum Danke für das freie Logis wegfängt
und verzehrt. Anm. des Ref.
Kleinere Mittheilungen. 81
wähnenden Schutzmittel der Landpflanzen
faſt ausnahmslos entbehren. Kein Beiſpiel
kann beweiſender in dieſer Beziehung ſein,
als dasjenige unſeres überall verbreiteten
Pflanzen⸗Amphibiums (Polygonum amphi-
bium), das an den Ufern der Tümpel, in
der Zeit der Ueberſchwemmung wie der
Dürre fortkommt. Steht der Stengel im
Waſſer geſchützt, ſo iſt er glatt, hat ſich die
Fluth zurückgezogen, ſo entwickeln Blätter
und Stengel klebrige Drüſenhaare, die den
kriechenden Beſuchern den Weg zu den
Blüthen ſauer machen; ja bei wiederkehren—
der Ueberſchwemmung verſchwinden die
Ausſonderungen wieder. Der Leſer erinnert
ſich hierbei ſogleich an die zahlreichen Pflanzen,
deren Blüthenſchaft ſich in der Nähe der
Blüthe mit ſtarken klebrigen Ausſchwitzungen
bedeckt, von denen die Pechnelke das be—
kannteſte Beiſpiel giebt. Von ihr mögen
die Obſtbaumzüchter ihre mit Brumata-
Leim beſtrichenen Binden abgeſehen haben
Während ſich dieſe klebrigen Aus-
ſchwitzungen zur Abhaltung der Ameiſen
und ähnlicher Thiere vollkommen bewähren,
bleiben ſie unwirkſam gegen andere Thiere,
welche, wie die Schnecken auf einer Schleim—
brücke den Pechſumpf überſchreiten. Gegen
dieſe Feinde waffnen ſich nun die Pflanzen
mit Dornen, Stacheln und ſcharfen Zähnen
aller Art, die nicht ſelten, wie bei der
Hundsroſe, ihre Spitze nach unten, den
Stürmenden entgegen, wenden. Manche
derſelben ſcheinen freilich auch dazu da zu ſein,
den Inſekten den richtigen Weg zur Blüthe
zu weiſen. Zu dieſen Schutzvorrichtungen
an den Stengeln und Blättern geſellen ſich
andere in den Blüthen ſelbſt, gitter- und
reuſenförmige Haargebilde, die nur einzelnen
Thieren den Zugang wehren, Bedeckungen
der Nektarien und ableitende Nektarabſchei⸗
dungen an den Blättern, Schutzmittel von
großer Mannigfaltigkeit, deren Charakteriſtik
man in der Original-Abhandlung nachſehen
mag. Eine große Anzahl von Blüthen
öffnet ſich nur des Nachts, wenn die
meiſten der unnützen Geſellen ſchlafen,
wobei eine Sicherung gegen die Einbrecher
am hellen lichten Tage nicht überflüſſig
wird.
„Aus dem Geſagten“, ſchließt der Ver—
faſſer ſeine an intereſſanten Ausblicken reiche
Abhandlung, „dürfte es zur Genüge hervor⸗
gehen, daß die Beziehungen der Pflanzengeſtalt
zu der Geſtalt der auf Pflanzenkoſt an—
gewieſenen Thiere bei weitem mannigfaltiger
ſind, als man bisher annehmen zu können
glaubte, und daß insbeſondere zahlreiche
Ausbildungen im Bereiche der Laubblätter |
und des Stengels auch in ſofern eine
biologiſche Bedeutung haben, als durch ſie
den Blüthen gegen unvortheilhafte Angriffe
gewiſſer Thiere ein Schutz geboten wird.
Wo die Angreifer fehlen, iſt auch die
Schutzwehr bedeutungslos, und es ſind
daher alle dieſe Ausbildungen hauptſächlich
nur für die Verhältniſſe der Oertlichkeiten,
an denen ſie entſtanden, wichtig. An
einem anderen Orte ſind ſie es vielleicht
nicht, ja ſie können dort vielleicht von Nach—
theil ſein, oder es liegt wenigſtens dort
ihre Ausbildung als etwas Ueberflüſſiges
nicht in der Oekonomie der Pflanze, und
es iſt ſelbſtverſtäudlich, daß ſolche unvor—
theilhaft, weil nicht ökonomiſch organiſirte
Pflanzen, wenn ſie unter Verhältniſſe
kommen, die ihrer Geſtalt nicht concordant
ſind, von andern vortheilhafter organiſirten
Concurrenten aus dem Felde geſchlagen
werden. Unter den Aenderungen der
äußeren Verhältniſſe, die hierbei in Betracht
kommen, werden neben dem Orts- und
Klima- Wechſel beſonders einflußreich die
Veränderungen in der Thierwelt wirken,
Kleinere Mittheilungen.
namentlich vortheilhafte Anpaſſungen der⸗
ſelben, die in der Regel den Pflanzen
nachtheilig ſein werden, weil, was die
Exiſtenz pflanzenfreſſender Thiere befördert,
derjenigen der Pflanzen in der Regel
ſchaden muß, und einzelne Arten zum
Ausſterben bringen kann. Aus ſolchen
und ähnlichen Wechſelbeziehungen erklärt
ſich die Erſcheinung, daß unter gleichen
äußeren Verhältniſſen Pflanzenarten der
verſchiedenſten Familien und Gattungen
doch in gewiſſen Ausbildungen überein—
ſtimmen. So lann man in dem einen
Florengebiete Pflanzen der a verſchiedenſt
Stämme mit Stacheln bewehrt finden,
einem anderen Florengebiete ſolche
nectarreichen Blüthen vorherrſchend
treffen, ja es kann ſogar der
rakter einer ganzen Vegetation durch
Vorherrſchen von Pflanzen mit äh
Schutzeinrichtungen beſtimmt werde
wäre nichts anderes als die Ber
der Spaltöffnungen in dürren und
zeichnet und ähnliche Erſcheinungen.
* en
Gedanken über Dererbungserfheinungen und
Vererbungswelen
von
Fenn man nach dem Werden der
P organiſchen Formen fragt, jo
giebt es ſtreng genommen nur
zwei principiell verſchiedene und
daher ſich gegenſeitig ausſchlie—
ßende Erklärungsweiſen. Die eine läßt die
einzelnen Formen, ſo wie ſie ſind, geſchaffen
ſein, die andere leitet ſie von einander ab und
zeigt, daß ſie in Folge Einwirkung von Urſachen
ſich nur ſo und nicht anders geſtalten, alſo |
werden konnten. Einestheils ift aber der
Begriff „ſchaffen“, als Produktion durch den
abſoluten Willen allein, ohne Naturnothwen—
digkeit oder Naturgeſetze, wie C. E. v. Bär
ſehr richtig bemerkt, unwiſſenſchaftlich und
alſo auch nicht naturwiſſenſchaftlich. „Der
g Naturforſcher darf als ſolcher“, wie v. Bär
an einer andern Stelle hervorhebt, „nicht
an Wunder, d. h. an Aufhebung der Natur-
geſetze glauben; denn ſeine Aufgabe beſteht
ja eben darin, die Naturgeſetze aufzuſuchen:
was außer ihnen liegt, exiſtirt für ihn gar
nicht. Deshalb darf er auch nicht einen
wiederholten Eingriff der Allmacht an—
nehmen.“ Wer das Bedenken des Natur-
forſchers nicht hat, mag immerhin das Auf—
treten neuer Organismen als erneute
Dr. ud. Moerzier.
Schöpfungsakte betrachten. Anderntheils
ſind aber auch die Annahmen des frommen
indiſchen, moſaiſchen ꝛe. Glaubens, wie die
Formen, geſchaffen, und vollends, wie ſie
unverſehrt aus der die fündigende Menfd- .
heit vertilgenden Fluth erhalten worden ſein
ſollen, ſo ſagenhaft, daß kein Naturforſcher
im Ernſt ſie einer Kritik würdigen darf. Der
Naturforſcher hört in dem Augenblicke auf die
Natur zu erforſchen, wo er als Erklärungs—
urſache ein nie faßliches, nie nachweisbares
Unbekanntes aufſtellt. Er muß den Grund
für die Formengeſtaltung in der Materie
und den ihr immanenten Kräften, nicht aber
außerhalb derſelben ſuchen, und dadurch wird
er mit Nothwendigkeit auf das Descendenz—
und Transmutationsprincip hingewieſen.
Die äußeren Einflüſſe, und dahin ſind auch
die ſcheinbar inneren Einflüſſe zu rechnen,
formen die Materie; die Organismen paſſen
ſich, mit anderen Worten, den Exiſtenzbeding—
ungen an. Jedes Individuum, und mag
es noch ſo ſehr ſeinen Verwandten ähneln,
trägt in ſich die Spuren von Wirkungen
der Außenwelt. Wenn das Geſetz von
der Erhaltung der Kraft Wahrheit und
keine Chimäre iſt, dann können die Licht⸗
*
84 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
und Wärmeſchwingungen, die chemiſchen
und elektriſchen Einwirkungen, ebenſo wenig
wie die gröberen Reize der bewegten Außen—
welt, wenn ſie den Organismus treffen, an
dieſem unmöglich wirkungslos vorübergehen;
ſie müſſen die Spuren ihres Daſeins zurück—
laſſen als ſtetige Zeugen, daß die Welt
des Unorganiſchen, ebenſo gut wie die des
Organiſchen, nichts Anderes iſt als eine
Funktion der die Materie bewegenden und
im Wechſel der Bewegung formenden Kräfte.
Nach der einen Auffaſſung iſt alſo die Welt
und was ſich auf ihr regt, etwas Erſchaf—
fenes, nach der andern iſt ſie etwas Ge—
wordenes, ſich im Kreislauf aus einander
Entwickelndes.
Während aber in der unorganiſchen Welt
nur die reine Anpaſſung, d. h. die Reaktion
auf die Wirkung, zur Geltung kommt, tritt
im Reiche des Lebendigen die Vererbung des
durch Anpaſſung Erworbenen hinzu. Es
gehört zum Weſen des Lebendigen, daß
Nährmaterial in ſein Inneres aufgenommen,
zu plaſtiſchem Material umgebildet und an
den verſchiedenſten Stellen des Organismus
zum Aufbau und zum Wachſen der Körper—
ſubſtanz verwerthet wird. In der zu die—
ſer Leiſtung nöthigen Kraft erkennt die
Phyſiologie mit Recht einen adäquaten Theil
der Sonnenkraft. Wenn das Wachsthum
ein gewiſſes Maß erreicht hat, führt es
durch Theilungs-, Sproſſungs-, Knospungs⸗,
Gebärungsvorgänge zur Vermehrung und
Fortpflanzung. Die Thatſache nun, daß
das gezeugte Weſen ceteris paribus die
Ei genthümlichkeiten des erzeugenden Weſens
beſitzt, ſo daß die Geſtaltung des letzteren
ein getreues Abbild derjenigen des erſteren
iſt, dieſe Thatſache bezeichnet man, weil
man fie einmal, um wiſſenſchaftlich weiter
zu forſchen, begrifflich feſtſtellen muß, mit
dem Ausdrucke Vererbung. In dieſer
Hinſicht haben Häckel und Darwin
vollkommen Recht, wenn ſie in der Wechſel—
wirkung zwiſchen Anpaſſung und Vererbung
die Urſache für die Formgeſtaltung der
Organismen erkennen. Man hat Häckel
vorgehalten, und zwar in der gehäſſigſten
Form von Seiten ſolcher Gegner, die im
dickſten Urmeer undefinirbarer Begriffeſchwim—
men, daß er mit den Begriffen Anpaſſung
und Vererbung nichts gelöſt, und nur die
Frage nach den Urſachen für das Werden
der Organismen etwas weiter zurück ver—
legt habe. Es ſei nur ein neues Wort
geſchaffen und nichts erklärt worden. Der
Beweis iſt nicht ſchwer zu führen, daß
hier der Uebereifer zu ungerechter Kritik
verleitet hat. Man muß es vielmehr als
eine dankbar anzuerkennende wiſſenſchaftliche
That bezeichnen, wenn ein Forſcher mit
klarem Blick die Wege vorzeichnet, auf
denen ein tieferes Eindringen in die Ge—
heimniſſe der Biogenie möglich wird. Und
das haben Häckel und Darwin gethan.
Darwin, und in conſequenter Durchfüh—
rung des Darwin'ſchen Gedankens, Häckel,
haben die Summen der zum Aufbau der
organiſchen Geſtalten führenden Proeeſſe in
zwei Sammelbegriffen zuſammengefaßt, in
dem Princip der Anpaſſung und dem der
Vererbung. Es war das ein taktiſch rich—
tiger Griff, der um fo weniger Tadel ver—
dient, als noch keiner von denjenigen, welche
über das Unfaßliche dieſer Begriffe klagten,
etwas Beſſeres an die Stelle geſetzt hat.
Wenn Newton und die nachfolgende kos—
mologiſche Schule in dem Ringen nach
einer urſächlichen Erklärung der kosmiſchen
Bewegung von einer allgemeinen Anziehungs⸗
kraft ſprechen, jo wird nur ein Verblende—
ter ſo ungerecht ſein, den faßlichen Begriff
Anziehung verwerfen zu wollen, weil man
die Urſache für dieſe Anziehung und ihre
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und VBererbungswefen.
Wechſelbeziehung zu Licht und Wärme und
Elektricität bis jetzt noch nicht kennt. Es
giebt das höchſtens neuen Antrieb, weiter
zu forſchen und nachzuſehen, in wie weit
auch die Schwerkraft dem allgemeinen Geſetz
von der Erhaltung und Umwandlung der
Kraft ſich fügt. Aehnlich verhält es ſich
mit den Begriffen Anpaſſung und Ver—
erbung. Sie ſind durchaus nicht myſtiſcher
Natur, ſondern laſſen ſich tagtäglich durch
die Erfahrung feſtſtellen. Keinen Organis-
mus giebt es, der ſich nicht anpaßte; wir
ſind ein Spiel von jedem Hauch der Luft,
ja von jedem Licht- und Wärmeſtrahl, von
jedem Materienſtäubchen, das mit unſerem
Blute durch den Körper kreiſt. Auch die
Vererbung iſt nichts Unfaßliches; wird uns
doch tagtäglich die Thatſache der Vererbung
bei Betrachtung der Neugeborenen gar aus—
drücklich zum Bewußtſein gebracht. Häckel
geht aber noch weiter, indem er nicht nur
klar und deutlich ausgeſprochen hat, was
er unter Anpaſſung und Vererbung verſteht,
ſondern auch die hier waltenden Theilproceſſe
andeutet. Als die allgemeine Grundurſache
der Anpaſſung ſtellt er die phyſiologiſche
Thätigkeit der Ernährung oder des Stoff—
wechſels hin, indem er dieſelbe im weiteſten
Sinne nimmt und in ihr die geſammten
materiellen Veränderungen zuſammenfaßt,
welche der Organismus in allen ſeinen Theilen
durch die Einflüſſe der ihn umgebenden
Außenwelt erleidet. Nicht allein die Auf-
nahme der wirklich nährenden Stoffe und
der Einfluß der verſchiedenartigen Nahrung,
ſondern auch z. B. die Einwirkung der
Feuchtigkeit und der Atmoſphäre, der Ein—
fluß des Sonnenlichts, der Temperatur
und alle diejenigen meteorologiſchen Erſchei—
nungen, welche wir unter dem Begriff
Klima zuſammenfaſſen, gehören hierhin;
ebenſo der mittelbare und unmittelbare Ein-
N
85
fluß der Bodenbeſchaffenheit und des Wohn—
orts, ferner der äußerſt wichtige und viel—
ſeitige Einfluß, welchen die umgebenden
Organismen, die Freunde und Nachbarn,
die Feinde, Schmarotzer und Räuber auf
jedes Thier und jede Pflanze ausüben.
Lamarck's Verdienſt iſt es, daß er
ſeiner Zeit vorauseilend die innere Nothwen—
digkeit dieſer Abhängigkeit der organiſchen
Geſtaltung von den äußeren Einflüſſen klar
erkannte, wenn auch bei der geringen Ent—
wickelung, welche damals die Paläontologie,
Embryologie, Phyſiologie und ſelbſt die
vergleichende Anatomie zeigten, der Beweis
für die Richtigkeit ſeiner Anſchauung nicht
gerade ſehr leicht zu führen war. Heute
hat ſich das Material zur Beweisführung
verhundertfacht. Die ganze geiſtige Rich—
tung iſt eine ſolche, die den Lamarck'ſchen
Ideen conform iſt. Heute, wo das Geſetz
von der Erhaltung der Kraft und die Lehre
von den Wechſelbeziehungen zwiſchen Wärme,
Bewegung, Licht, Schall, Elektricität und
chemiſcher Affinität die Grundlage alles
phyſikaliſchen Forſchens und Experimenti—
rens ſind, kann ein mit den Thatſachen
der modernen Forſchung Vertrauter es nur
wunderlich finden, daß die Einflüſſe der
Außenwelt an den Organismen ſo ganz
ſpurlos vorüber gehen ſollten.
Seeidlitz hat in feinem durchdachten
Werke „Die Darwin'ſche Theorie“) die—
ſem Gebiete der Anpaſſungen mehr Auf—
merkſamkeit gewidmet, als es ſonſt Gebrauch
iſt, und 1) die Witterungsverhältniſſe,
2) das Medium des Aufenthalts, 3) die
Nahrungsbedürftigkeit, 4) die natürlichen
Feinde, 5) das Fortpflanzungsgeſchäft,
6) die Befriedigung des Selbſtbewußtſeins,
) Dr. Georg Seidlitz, „Die Darwin⸗
ſche Theorie“. 2. Auflage. Leipzig. W. Engel-
mann. 1875.
86
in den Kreis ſeiner kritiſchen Studien ge—
zogen; ebenſo hat Charles Martins,
Profeſſor der mediceiniſchen Facultät zu
Montpellier, der Herausgeber der „zoologi-
ſchen Philoſophie“ von Lamarck“), in der
biographiſchen Einleitung ſich die Aufgabe
geſtellt, zu den wenig zahlreichen Anpaſſungs—
Beiſpielen, welche Lamarck anführt, dieje—
nigen hinzuzufügen, welche die moderne
Wiſſenſchaft zuſammengeſtellt hat, und er
beſpricht zu dieſem Zwecke den Einfluß des
Waſſers, der Luft, des Lichtes, der Wärme,
die rudimentären Organe ꝛc., ohne daß
jedoch das Geleiſtete irgendwie erſchöpfend
wäre. Auch Hoppe - Seyler?!) hat
in ſeiner phyſiologiſchen Chemie der Ab—
hängigkeit der Organismen von Luft, Licht,
Wärme ec. eingehendere Studien gewidmet.
In der Erforſchung der äußeren Einflüſſe
im weiteſten Sinne und ihrer Wirkungen
iſt jedoch noch lange nicht das letzte Wort
geſprochen, und wir glauben nicht fal—
ſcher Prophetie uns ſchuldig zu machen,
wenn wir verkünden, daß hier die experimen—
telle Phyſiologie ihre Hebel einſetzen muß
und einſetzen wird, wenn ſie mit Erfolg
nach einem urſachlichen Verſtändniß der
organiſchen Geſtaltung vordringen will.
Die Vererbungs-Erſcheinungen führt
Häckel auf die materiellen Vorgänge der
Fortpflanzung zurück, inſofern immer eine
größere oder geringere Quantität eiweiß—
artiger Stofftheilchen von der elterlichen
Materie auf das kindliche Individuum
übergeht. Die Fortpflanzung iſt aber nur
eine beſondere Art des Wachsthums und
nichts Anderes als eine unmittelbare Ver—
Charles Martins,
„Zoologiſche
Philoſophie von Jean Lamarck“. Jena. Her—
mann Dabis. 1876.
) Hoppe-Seyler, „Phyſiol. Chemie“.
Berlin. Auguſt Hirſchwald. 1877.
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
längerung deſſelben über das Individuum
hinaus. „Wachsthum“, ſagt Bär, „iſt
Ernährung mit Bildung neuer Körper—
maſſe, in der That eine fortgeſetzte Zeu—
gung, und Zeugung iſt nichts als der
Anfang eines individuellen Wachsthums.“
Man hat nun ſehr ſachgemäß und mit
Erfolg zu zeigen verſucht, daß die einzelnen
Formen der Fortpflanzung, von der ein—
fachſten durch Theilung, Knospung und
Sproſſung angefangen bis zu der Keim—
und Eibildung einer ſtetig zuſammenhängen—
den Reihe angehören, und iſt mit Recht
zum Schluſſe gelangt, daß, da immer ein
Theil des elterlichen Organismus die Grund—
lage zum Aufbau des kindlichen Organis-
mus ausmacht, die als Vererbungserſchei—
nung bezeichnete Wiederkehr ähnlicher, wenn
nicht gar derſelben Geſtalten bei Mutter
und Tochter ſelbſtverſtändlich ſei. Die That—
ſache der Vererbung iſt damit zwar logiſch
verſtändlich, nicht jedoch in ihrer letzten
Urſache begreifbar gemacht. Wenn der
Keim als ein Theil des elterlichen Orga—
nismus die Eigenſchaften deſſelben in ſich
potenzirt trägt, dann iſt es ein Ding der
Nothwendigkeit, daß der Keim bei ſeiner
Entwickelung ſich jo geſtaltet, wie der Er—
zeuger war. — Wie kommt es aber, daß
der Keim dieſe elterlichen Eigenſchaften in
der Regel genau copirt? Das iſt die
Frage, deren Löſung die Lehre von den
Vererbungserſcheinungen ſich zu ſtellen hat.
Für den einfachſten Vorgang der Fort—
pflanzung durch Theilung ſcheint die Frage
wohl weniger verfänglich, da die Organis—
men, welche ſich durch Theilung fortpflanzen,
in der Regel wenig differenzirt ſind, nur
bloße Eiweißmaſſe bilden, die nur Nahrungs-
material an allen Stellen ſich aſſimilirt, ſo
daß das abgetrennte, jetzt kindliche Indi—
viduum nur daſſelbe nach ſeiner Trennung
nn
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 87
weiter treibt, was es als Körpertheil des
elterlichen Organismus früher getrieben hat.
Die Theilſtücke haben eine gleich beſchaffene
Materie wie das elterliche Individuum, und
daher iſt es leicht verſtändlich, daß auch
die Lebenserſcheinungen, die phyſiologiſchen
Eigenſchaften, welche an die Materie ge—
knüpft ſind, bei Eltern und Kindern die—
ſelben ſind. Jedoch bleibt auch für dieſen
einfachſten Fall immer noch die Erklärung
zu liefern, durch welche chemiſch-phyſikaliſchen
Eigenſchaften der Eiweißſubſtanz es bedingt
iſt, daß bei der Aſſimilation aus dem ur—
ſprünglich heterogenen Nährmaterial eine
der Eiweißmaſſe conforme Subſtanz gebil—
det wird. Einen geiſtreichen Verſuch, hier
Aufſchluß zu ſchaffen, hat Jäger) gemacht.
Weit geheimnißvoller wird aber der Vor—
gang der Vererbung, wenn man zu den ver—
wickelteren Fortpflanzungsweiſen vordringt.
Wie kommt es, muß man ſich fragen, daß
das kindliche, aus der Knospe hervorgegan—
gene Individuum, genau die Eigenſchaften
des elterlichen Organismus copirt? Warum
hat es z. B. die Eigenſchaft, durch Knos—
pen und nicht durch Theilung ſich fortzu—
pflanzen? Wohl iſt es nicht unbekannt,
daß oft genug ein Zurückgreifen auf den
einfacheren Theilungsvorgang zu beobachten
iſt; wir wollen hier jedoch die Mittellinie
ſtrenge zeichnen, welche von der Theilung
bis ſchließlich zur Eibildung führt. Wa—
rum, wenn wir den complicirteſten Fall
nehmen wollen, iſt z. B. die entwickelte
kindliche Zehe, ceteris paribus, genau
genommen die Copie der elterlichen Zehe,
vielleicht mit allen Abſonderlichkeiten, die
das mütterliche oder väterliche Individuum
beſaß? „Mit der Materie“, ſagt mit Recht
Häckel, „werden auch deren Lebenseigen—
) „Zoologiſche Briefe“ und „Kosmos“,
Heft 1.
Anderes wird?
ſchaften, die molekularen Bewegungen des
Plasma, übertragen.“ Wie kommt es aber,
daß z. B. das Vogelei in ſich ſolche Lebens—
eigenſchaften oder, wenn man will, ſolche
molekulare Bewegungen birgt, daß aus ihm
nur der ganz ſpecifiſche Vogel und nichts
Auf welchem Wege und
durch welche Mittel wird vererbt?
Die Entwickelungsgeſchichte der Orga—
nismen war bisher faſt ausſchließlich Mor—
phogenie, welche ſich als ſolche die Auf—
gabe ſtellte, die ontogenetiſchen Formen als
durch Uebergänge vermittelte Glieder nach—
zuweiſen. „Wie dieſe,“ ſagt Häckel, „uns
erſt das wahre Verſtändniß der organiſchen
Formen eröffnet hat, ſo wird uns ſpäter
die Phyſiogenie die tiefere Erkenntniß der
Functionen durch Aufdeckung ihrer hiſtori—
ſchen Entwickelung ermöglichen. Sie hat
die fruchtbarſte Zukunft.“ Morphogenie
und Phyſiogenie müſſen uns an der Hand
geſchichtlicher Forſchung Auskunft geben,
wie die Geſtalten und ihre Funktionen
ſich herausgebildet haben. Dann bleibt
aber immer noch die Frage ungelöſt, wa—
rum ſie ſo und nicht anders wurden. Die
geſchichtliche Forſchung giebt die Anhalts—
punkte, gleichſam die Wegweiſer, wie wir
zum urſachlichen Verſtändniß vordringen
können, ſie zeigt den Weg zur Löſung der
phyſiologiſchen Räthſel, aber fie löſt fie
nicht in letzter Inſtanz. Nur dann iſt
eine Entwickelungsſtufe geiſtig verſtanden,
wenn man ſie mit allen ihren Beſonder—
heiten, alſo in ihrem urſachlichen Zuſammen—
hange mit den unmittelbar vorhergegangenen
geſchaut hat. Wohl entbehrt auch die Bio—
genie nicht ſolcher erklärenden Principien,
inſofern ſie die Sammelbegriffe der Anpaſ—
ſung und Vererbung als urſachliches Mo—
ment verwerthet. Aber dieſe beiden Be—
griffe, welche die Summe der Urſachen
88 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
*
umfaſſen, ſind doch nur inſofern von Werth,
als ſie die zu entziffernden Urſachen auf
einen leichter zu handhabenden Ausdruck
bringen, als ſie die Urſachen ſehr anſchau—
lich in zwei Gruppen ſondern, die zu
einander in der durch Darwin enträth—
ſelten Wechſelbeziehung ſtehen und dadurch
erſt die Möglichkeit zu einem tieferen Ein—
dringen in die entwickelungsgeſchichtlichen
Vorgänge bieten. Die werkthätigen Ur—
ſachen der Anpaſſungs- und Vererbungs—
erſcheinungen ſind zwar geahnt aber darum
immer noch nicht erkannt und wiſſenſchaft—
lich feſtgeſtellt. Hier iſt daher auch die
ſchwache Stelle, wo alle offenen und ver—
ſteckten Gegner des Darwinismus zum An—
griff ſich verſammeln und höhnend die
raſtlos vorwärts ſtrebende Forſchung durch
Aufthürmen von Hinderniſſen und Ent—
gegenwerfen von Fragen zum Stillſtande,
wenn nicht zum Rückzuge zu bringen hoffen.
Dieſes Fortſchreiten der Forſchung von
der ſyſtematiſchen zur morphologiſchen und
von dieſer zur phyſiologiſchen Betrachtungs—
weiſe liegt in der Natur der Sache be—
gründet. Zuvor mußte ein allgemeiner
Ueberblick über die Formenverwandlung
gegeben ſein, ehe man den geheimnißvollen
und dunklen Pfaden der phyſiologiſchen
Entwickelungsurſachen folgen konnte. Die
erſtere dient als Wegweiſer für die letztere,
aber umgekehrt die letztere auch als neuer
Beweis für die Richtigkeit der erſteren.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis der
Grundgedanke des Darwinismus auch auf
dem Felde der Phyſiologie ſich Bahn bricht.
Der Anläufe zu dieſer phyſiologiſchen Rich—
tung ſind ſchon mehrere gemacht worden,
von keinem aber in ſo umfaſſender Weiſe,
wie von Jäger in ſeinen vielfach ganz
neue Geſichtspunkte bietenden zoologiſchen
Briefen. „Mit Linné,“ jagt Jäger, „be
gann die ſyſtematiſche Epoche der Organismen—
lehre, mit Cuvier die anatomiſche, mit den
deutſchen Embryologen und den deutſchen und
engliſchen Morphologen die morphologiſche
Epoche. Der Wendepunkt von einer Epoche
zur andern iſt durch ein jedesmaliges Auf—
flackern der naturphiloſophiſchen Spekulation
gekennzeichnet. Zwiſchen die ſyſtematiſche
und anatomiſche fällt, allerdings etwas ver—
ſpätet, die durch Lamarck's Namen ge—
kennzeichnete ſpekulative Periode; zwiſchen
die anatomiſche und morphologiſche die in
Oken und Schelling verkörperte Schule
der deutſchen Naturphiloſophie, und an den
Schluß der morphologiſchen Epoche die
neueſte, durch Darwin' s Namen gekenn—
zeichnete naturphiloſophiſche Schule“. „Ich
ſage,“ bemerkt Jäger, „an den Schluß
der morphologiſchen Epoche, nicht weil ich
glaube, daß auf dem Boden der Morpho⸗
logie nichts mehr zu holen ſei, und daß
wir ihn jetzt brach liegen laſſen ſollen, ſondern
weil ich glaube und wünſche, daß wir am
Beginn einer neuen Epoche der Organis—
menlehre, nämlich der phyſiologiſchen, ins—
beſondere der chemiſch-phyſiologiſchen ſtehen.“
Dieſer an ſich berechtigte Ausſpruch Jäger's,
könnte mißverſtanden werden. Das letzte
Ziel der phyſiologiſchen Forſchung muß doch
die urſachlich verſtandene Morphogenie und
Phyſiogenie fein.*)
) Anmerkung der Redaktion: Ich be—
finde mich mit dem Verfaſſer in vollſtändiger
Uebereinſtimmung, denn mein Ausſpruch iſt
ſo gemeint: Die morphologiſche Betrachtung
allein genügt nicht zur Erklärung der That—
ſache, daß das Leben ſich in eine Anzahl
von ſpezifiſch verſchiedenen Lebeweſen zer—
ſplittert, weil die Form nicht wieder aus
der Form, ſondern nur aus der Thätig—
keit des Inhalts und der Wechſelwirkung
zwiſchen Inhalt und maßgebendem Medium
d. h. phyſiologiſch erklärt werden kann.
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 89
Zu dem vielverſchlungenen Labyrinth
der hier waltenden Möglichkeiten muß aber
die Morphologie für die Phyſiologie der
leitende Faden ſein. Es iſt ſogar ſehr
fraglich, ob es uns glückt, überall durch
die Reaction die chemiſch-phyſikaliſchen Ur—
ſachen zu finden; immerhin aber dürfte es
uns leichter gelingen, durch Forſchung nach
dem geſchichtlichen Verlauf der Geſtaltungen
das „Wie“ der Entwickelung feſtzuſtellen,
um daraus Schlüſſe auf ihr „Warum“ zu
ziehen. In dieſer Hinſicht wird die Mor—
phologie nicht nur die wichtige Unterlage,
ſondern auch, als urſachlich zu verſtehende,
das Endziel der phyſiologiſchen Betrachtung
bleiben. Ja die Morphologie gab bereits
der Phyſiologie die wichtigſten leitenden
Geſichtspunkte, indem gerade die Principien
der Anpaſſung und Vererbung phyſiolo—
giſcher und nicht morphologiſcher Natur
ſind. Die noch auszubauende vergleichende
Phyſiologie der Organismen hat nur noch
dieſe beiden Principien zu analyſiren und
auf ihre Theilerſcheinungen zurückzuführen.
Ich weiſe nochmals, um den Gang der
biologiſchen Wiſſenſchaften zu zeichnen, auf
den ganz ähnlichen der Kosmologie hin.
Zuerſt erkannte man, wie die Planeten—
bahnen ſeien, dann gab Newton als Grund
der Planetenbewegung die Anziehung an,
Ich wäre allerdings vor einem Mißver—
ſtändniß geſchützt geweſen, wenn ich „mor—
phogenetiſch“ Feſagt hätte, allein ich hatte
eben nicht das Forſchungsziel, das
natürlich die Morphogeneſis iſt, ſondern die
Forſchungsmethode, die phyſiologiſche,
im Auge, da wir zuerſt dieſe cultiviven
müſſen. Denn die heutige Zoophyſiologie
iſt viel zu einſeitig entwickelt, als daß wir
uns derſelben ſofort mit Erfolg bedienen
könnten, was der Leſer aus meinen Erörte—
rungen über ſpezifiſche Stoffe wird ent—
nehmen können. G. Jäger.
obſchon wir bis heute das Weſen der An—
ziehung und ihre Wechſelbeziehung zu an—
deren Kraft- reſp. Bewegungsformen nicht
kennen. So zeigten auch die Morphologen,
wie die Formen ſich geſtalten, die Darwin—
Häckel'ſche Schule lehrte die Anpaſſung und
Vererbung als urſachliches Moment ſchätzen
und enthüllte an der Hand dieſes leitenden
Fadens eine Fülle neuer morphologiſcher
Thatſachen, deren Folge noch lange nicht
geſchloſſen iſt. Heute müſſen wir ſuchen, auch
dieſe Anpaſſungs- und Vererbungsvorgänge
in ihren Theilerſcheinungen zu begreifen;
jedoch würde es ein Rückſchritt ſein und zu
vielen Irrungen verleiten, wollte man die durch
Darwin und Häckel klargelegte Wechſel—
beziehung der beiden Urſachengruppen ver—
geſſen und für die phyſiologiſche Forſchung
als werthlos bei Seite ſetzen. „Durch die
Vererbung,“ lehrt Häckel in ſeiner Schöpf—
ungsgeſchichte, „wird die organiſche Form in
ihren weſentlichſten Grundzügen erhalten,
und es ſo ermöglicht, daß Generationen
hindurch von ähnlichen Organismen Aehn—
liches erzeugt wird; die Vererbung be—
dingt eine gewiſſe Beſtändigkeit der Formen.
Anderſeits ſind die Organismen aber um—
bildſam; ihr plaſtiſcher Stoff paßt ſich den
Einflüſſen der Außenwelt ſo viel wie
möglich an. Es entſtehen ſo neue Formen
aus den vorhandenen. Je nachdem die
Erſcheinungen der Vererbung oder Anpaſſ—
ung vorwalten, bleibt die Form conſtant
oder verändert ſich dieſelbe. Der in jedem
Augenblick ſtattfindende Grad der Form—
beſtändigkeit bei den verſchiedenen Thier—
und Pflanzenarten iſt einfach das noth—
wendige Reſultat des augenblicklichen Ueber—
gewichts, welches jede dieſer beiden Bildungs—
kräfte (oder phyſiologiſchen Funktionen) über
die anderen erlangt hat.“ Was ſich im
Kampfe ums Daſein den Exiſtenzbedingungen
Ehe
90 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
anpaſſen kann, bleibt beſtehen und vererbt
das Angepaßte auf die Nachkommen; was
dieſer Forderung der Anpaſſung nicht ge—
nügen kann, geht unter und macht exiſtenz—
fähigeren, glücklicher geſtellten Individuen
Platz zur Entwickelung. Mit dieſem Grund—
gedanken Darwin-Häckel'ſcher Auffaſſung
der organiſchen Natur muß die Pyſiologie
ſich befreunden, wenn ſie nicht, leit- und
principlos wie früher, im Dunkeln herum—
tappen will. Eine Theorie der Vererbung
iſt daher auch von einer Theorie der An—
paſſung nicht zu trennen, da beide zu ein—
ander in enger Wechſelbeziehung ſtehen.
Wie ſich für die Erklärung des Wer—
dens der Dinge im Allgemeinen zwei
Theorien gegenüberſtehen, die dualiſtiſche
Hypotheſe, welche bald mehr, bald weniger
ausgedehnte Schöpfungsakte verlangt, und
die moniſtiſche Theorie, welche die Formen
im Kreislauf der Natur aus einander wer—
den und ſich entwickeln läßt, ſo kann man
auch die Zeugungstheorien in zwei principiell
von einander geſchiedene Lager ſondern.
Die Anhänger der transcendentalen Richtung
laſſen durch einen Machtſpruch den Keim
plötzlich mit allen ſeinen Bildungstrieben
da ſein. Alles weitere Erklären iſt dann
Spielwerk. Die moniſtiſche Naturanſchauung
faßt dagegen die ganze Welt und die Or—
ganismen auf ihr, als etwas ſich im Kreis—
lauf der Dinge ſtetig Geſtaltendes, als etwas
Werdendes auf. Die Materie kann nicht
zu Nichts werden. Die Körper zerfallen
höchſtens in ihre Elementarbeſtandtheile,
die im ſtetigen Wechſel zu neuen Gebilden
zuſammen treten. Nach dieſer Auffaſſung
ſind auch die organiſchen Keime etwas Ge—
wordenes, nichts Geſchaffenes, etwas all—
mählig ſich Entwickelndes, nichts augen—
blicklich fertig Angelegtes.
Bei weiterer Entwickelung dieſes Ge—
dankens ſind nun zwei Vorſtellungen mög—
lich: Entweder haben ſich bei dem erſten
Akte der Urzeugung verſchiedene plasma—
tiſche Gebilde aufgebaut, von denen jedes ſich
in feiner Art mit Anpaſſung an die Exiſtenz—
bedingungen weiter entwickelte, oder aber
aus einer weſentlich gleichartigen?) leben—
digen Maſſe iſt durch Anpaſſung an die ver-
ſchiedenen Bedingungen der Exiſtenz Ver—
ſchiedenes geworden. Die erſtere Annahme
führt zu einem polyphyletiſchen, die letztere
zu einem monophyletiſchen Stammbaum;
beide können aber der principiellen An—
ſchauungsweiſe nach moniſtiſch ſein. Die
moniſtiſch-polyphyletiſche Auffaſſung hat
ſcheinbar den Vortheil, daß ſie die Frage
nach den Urſachen der ſpeziellen Entwicke—
lung ſchneller abfertigt, inſofern immer dieſe
Antwort gegeben werden kann: Als die
erſten Kohlenſtoff-Verbindungen lebendig
wurden, beſaßen ſie vermöge ihrer Zuſam—
menſetzung von Haus aus beiſpielsweiſe
verſchiedene chemiſche Affinitäten und muß—
ten daher von dem umgebenden Nähr-
material, von Licht, Wärme, Druck, Elek—
tricität u. ſ. w., jede in ihrer ſpeziellen
Weiſe, beeinflußt werden. Sie vervollfomm-
neten ſich in Folge der Selektion, ſo daß
die Richtung und Stärke der Vervollkomm⸗
nung der Reſultante zwiſchen den bereits
vorhandenen Ureigenſchaften und den Ein—
) Wenn das Urprotoplasma hier gleich- .
artig genannt wird, jo ſoll damit nicht an⸗
gedeutet ſein, daß es aus einer Subſtanz
beſteht. Nach Jäger's Protoplasmatheorie
müßte es ein Gemenge aus mindeſtens drei
verſchiedenen chemiſchen Verbindungen ſein,
weil ſonſt jede phyſikaliſche Baſis für die
Erklärung der Lebenserſcheinungen fehlt.
Auch Häckel hat wohl mit ſeinem gleich—
artigen Protoplasma nur das Fehlen
der organiſchen Differenzirung bezeichnen
wollen.
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
flüſſen der Außenwelt entſprach. Nennt
man dieſe Ureigenſchaften „innere Urſachen
der Entwickelung“, ſo kann gegen ſolche
innere Urſachen vom moniſtiſchen Stand—
punkte aus principiell nichts eingewendet
werden; man muß dann nur zuſehen, daß
dieſem Begriff keine dualiſtiſche Unterlage
untergeſchoben wird.
Die moniſtiſch- monophyletiſche Auf—
faſſung hat einen weit ſchwierigern Stand;
ſie muß nicht nur zwiſchen verwandten
Formen, ſondern zwiſchen den Typen die
Uebergänge ſuchen; das iſt eine Arbeit,
welche wohl noch lange den Fleiß und das
Geſchick der Forſcher in Anſpruch nehmen
wird, ehe eine endgültige Entſcheidung ge—
fällt werden kann. Häckel vertritt, ge—
ſtützt auf ſeine Gaſträatheorie, für deren
Grundgedanken in letzter Zeit die Beweiſe
immer mehr ſich häufen, die Anſicht, daß
zunächſt durch das Auftreten der ontogene—
tiſchen Gaſtrula das ganze Thierreich in zwei
große Hauptgruppen zerfällt, in Protozoen
und Metazoen. Für die Protozoen möchte
er einen polyphyletiſchen Stammbaum zu—
laſſen, während die Metazoen aus be—
ſtimmten Protozoen ſich monophyletiſch ent—
wickelt haben ſollen. Man muß bekennen,
daß das Vorkommen der Archigaſtrula bei
den niederen Thierformen ſämmtlicher
Stämme, ſo wie die von Häckel rationell
durchgeführte Ableitung der durch Anpaſſung
abgeänderten Amphi-, Disco-, und Peri—
gaſtrula der anderen Thiere ſo überraſchend
iſt, daß die Annahme einer monophyletiſchen
Descendenz aller Metazoen, ſchon aus heuri—
ſtiſchen Gründen, ſehr vieles für ſich hat.
„Wenn die verſchiedenen Gaſtrula-Formen“,
jagt Häckel ?) „wirklich nur homomorphe
wären, und wenn alſo die verſchiedenen
) Häckel, Biologiſche Studien, zweites
Heft, Jena 1877, Hermann Dufft. S. 244 ff.
—— —
91
Metazoen-Gruppen von vielen urſprünglich
verſchiedenen und nicht zuſammenhängenden
Gaſträa⸗Vorfahren abſtammten, fo würde
man annehmen müſſen, daß die Exiſtenz—
Bedingungen der Urzeit ſo gleichförmig
waren, daß ſie überall durch gleichartige
Anpaſſung die erwarteten Metazoen-Ahnen
in die gleiche Bildungsbahn der Gaſträa
drängten. Wenn man hingegen mit uns
annimmt, daß ſämmtliche Gaſtrula-Formen
homophyletiſch ſind, ſo erklärt ſich ihre
genetiſche Homologie (oder Homophylie)
ſehr einfach durch Vererbung von einer ge—
gemeinſamen Stammform. Beide Hypo-
theſen laſſen ſich mit Gründen ſtützen;
doch ſcheint mir die letztere einfacher und
natürlicher als die erſtere.“
Für die Erklärung der Vererbungser—
ſcheinungen iſt es gleichgültig, ob man die polyp⸗
hyletiſche oder monophyletiſche Descendenz an-
nimmt; in beiden Fällen hat man ſich die
Frage zu ſtellen, wie es kommt, daß Die zeit-
lich auftretenden Abänderungen durch Verer—
bung auf die Nachkommen übertragen werden.
Entweder muß man überhaupt die Mög-
lichkeit, daß ſich die Organismen anpaſſen und
das Angepaßte vererben, leugnen; dann
ſchlägt man der Wirklichkeit ins Geſicht
und läuft Gefahr, jeden Augenblick durch die
Thatſachen überführt zu werden; oder man
giebt die Thatſache der Vererbung erwor—
bener Eigenſchaften, wenn auch noch ſo li—
mitirt, zu, dann muß man nach einer natur
wiſſenſchaftlichen Begründung dieſer Vor—
gänge forſchen. Es iſt hier geboten, daß
wir uns zunächſt über die Bezeichnung
„äußere Einflüſſe“ verſtändigen, da hier—
durch manchem Mißverſtändniß vorgebeugt
werden dürfte. Häckel unterſcheidet mit
Recht zwiſchen palingenetiſchen Proeeſſen
und cenogenetiſchen. Als palingenetiſch deu—
tet er diejenigen keimesgeſchichtlichen Er—
ee EEE .
92 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
ſcheinungen in der individuellen Entwice-
lungsgeſchichte, welche durch die Vererbung
getreu von Generation zu Generation über—
tragen worden ſind, und welche demnach
einen unmittelbaren Rückſchluß auf ent-
ſprechende Vorgänge in der Stammesge—
ſchichte der entwickelten Vorfahren geſtatten.
Cenogenetiſch nennt er dagegen diejenigen
Vorgänge in der Keimesgeſchichte, welche
nicht auf ſolche Vererbung von uralten
Stammformen zurückführbar, vielmehr erſt
ſpäter durch Anpaſſung der Keime der
Jugendformen an beſtimmte Bedingungen
der Keimesentwickelung hinzugekommen ſind.
Er nennt ſie ſogar keimesgeſchichtliche Fäl—
ſchungen. Wenn man weiß, was Häckel
mit dieſer Bezeichnung ſagen will, dann
deckt der Ausdruck Fälſchung ganz paſſend
das, was mit ihm bezeichnet werden ſoll.
Wenn man ihn aber aus dem Zufammen-
hange herausgreift und dann dem argloſen
Laien vorhält, „wie unwiſſenſchaftlich es ſei,
die Natur Fälſchungen begehen zu laſſen“,
dann ſcheint das ein arger Verſtoß gegen
alle Grundprincipien exakter Forſchung zu
ſein. Vielleicht hätte Häckel, um der ſo—
phiſtiſchen Verdeutelung auszuweichen, beſſer
den Ausdruck „Störung“ gebraucht. Aber
auch dann konnte man, den Zuſammen—
hang der Ideenverknüpfung löſend, wieder
ausrufen: „Wie kann und darf einem
Moniſten die Natur ſich ſtören laſſen.“
Und dennoch wird auch bei den auf exakte
Rechnung zurückführbaren Planetenbewe—
gungen von Störungen geſprochen! Ja,
es iſt ſogar wahrſcheinlich, daß das Geſetz
der Planetenbewegung nicht aufgefunden
worden wäre, wenn ſein Entdecker von An—
fang an alle Störungen gekannt hätte.
Nachdem aber einmal das Geſetz gefunden
war, mußte die Analyſe der Störungen
nur neue und ſchlagende Belege für ſeine
Richtigkeit bieten, indem ſie zeigte, daß auch
die Störungen, als nothwendige Folge der
allgemeinen Attraktion, ſich dem Attraktions—
geſetze beugen. Aehnlich verhält es ſich mit
Häckel's Palingeneſis und Cenogeneſis.
Während die palingenetiſchen Erſcheinungen
der individuellen Entwicklung bekunden, daß
eine Abhängigkeit der Keimes- von der Stam⸗
mesentwickelung beſteht, ſind die cenogenetiſchen
Vorgänge Störungen. Wenn man ſein
Augenmerk hauptſächlich auf die Störungen
richtet, wird das biogenetiſche Grundgeſetz
verdeckt; wenn man aber, nachdem das
Geſetz aus grundlegenden Thatſachen er—
kannt iſt, auch dieſe Störungen auf ihre
Urſachen und Wirkungen prüft, zeigt ſich,
daß ſie nur neue und ſchlagende Belege
für die Richtigkeit des Häckel'ſchen Geſetzes
bringen. Will man ſtreng getrennt innere
und äußere Urſachen der Entwickelung auf-
ſtellen, ohne ihre Wechſelbeziehungen zu
würdigen, dann iſt kein einheitliches Ver—
ſtändniß der Formengeſtaltung möglich.
Man muß unterſcheiden, erſtens zwiſchen den
inneren und äußeren Entwickelungsurſachen
des elterlichen Organismus, und zweitens
zwiſchen denjenigen des Keimes. Was für
erſtere ſchon innere Urſache iſt, kann für
letztere noch zu den äußeren gehören. Ein
Beiſpiel wird das Geſagte veranſchaulichen.
Das elterliche Individuum beſitzt eine
Summe von Eigenſchaften, die es theils
ererbt, theils durch Anpaſſung bereits er—
erworben hat. Es iſt den Einflüſſen der
Außenwelt, wie ſie alle heißen mögen, aus—
geſetzt, dieſelben werden theils erhaltend,
theils umbildend auf Nerven, Muskeln,
Knochenſkelet, Hautbedeckung u. ſ. w. ein⸗
wirken. Als innere Urſachen der Formge—
ſtaltung würden nun ſolche anzuſehen ſein,
welche durch die Conſtitution des organiſchen
Materials ſelbſt, z. B. die ſpeeifiſche che⸗
miſch⸗phyſikaliſche Beſchaffenheit des Blutes,
überhaupt der Zellen, ihres Inhaltes und
ihrer Ausſcheidungen gegeben ſind; auf äußere
Urſachen wäre dagegen z. B. die Formung
durch die Schwerkraft, den Luft- oder Waſſer⸗
druck, den Waſſergehalt der Luft, die Be—
ſchäftigung und dergleichen zurückzuführen.
Sobald die organiſche Conſtitution durch ſie
mehr oder weniger geändert iſt, iſt ein
adäquater Theil der von außen wirkenden
Kräfte in organiſche Spannkraft, oder, da
man für die Begriffe deckende Bezeichnungen
haben muß, in „innere Geſtaltungskraft“
lungsgeſchichte der Individuen auch Seiten
überführt worden.
Wenn man in ähnlicher Weiſe die den
Keim bewegenden Kräfte betrachtet, ſo iſt für
ihn der Begriff der „äußern Kräfte“ in—
ſofern ein umfaſſenderer, als derſelbe von dem
mütterlichen Organismus eingeſchloſſen iſt.
Die organiſche Conſtitution der Mutter iſt
für ihn adäquat den Eigenſchaften der die
Mutter umgebenden Außenwelt, mit dem
Zuſatze, daß die Außenwelt auf die Con—
ſtitution der Mutter und durch dieſe auch
auf den Keim wirkt. Als innere Urſache
der Keimesentwickelung kann man nur die
Beſchaffenheit des den Keim ſelbſt zu—
ſammenſetzenden Materials betrachten. Das—
ſelbe muß, als urſprünglicher Theil. des
mütterlichen Organismus, deſſen organiſche
Conſtitution beſitzen, und bei der engeren
Beziehung beider die Aenderungen der
mütterlichen Conſtitution in ſich weit
exakter wiederholen, als dies bei den mehr
geloderten Beziehungen, die zwiſchen dem
erwachſenen Individuum und der Außen—
welt beſtehen, bei letzterem der Fall iſt.
Die Cenogeneſis des Mutterorganismus
geht alſo über in deſſen Palingeneſis, die
wieder zum Theil Cenogeneſis des Keims
iſt, und letztere iſt die Quelle für deſſen
werdende Palingeneſis. Wenn daher Köl—
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 93
liker, His und Andere von „inneren
Entwickelungsurſachen“, von „inneren Trieb—
federn“ der Entwickelung ſprechen, ſo hat
das in gewiſſem Sinne ſeine Berechtigung.
Unberechtigt würde es dagegen ſein, wollte
man nur ſolche „innere Triebfedern“ als
Urſachen der Entwickelung anſehen und ſich,
nach Bildung des im Allgemeinen annehm⸗
baren techniſchen Ausdrucks (innere Ur—
ſachen), des Forſchens über die Urſachen
dieſer inneren Urſachen enthoben
glauben. Wenn man gegen das Häckel'ſche
Geſetz eingewandt hat, daß die Entwicke—
darbiete, von denen die Stammesgeſchichte
nichts wiſſe, wie das Beiſpiel der Allantois,
des Amnions und des Fruchtkuchens der hö—
heren Thiere beweiſe, ſo iſt zu beachten, daß
das Amnion, die Allantois, überhaupt ſämmt⸗
liche bei Entwickelung der Frucht im In—
nern des mütterlichen Organismus bethei⸗
ligten Bildungen ſich entwickelt haben in
Folge der immer mehr verzögerten Geburt.
Gerade dieſe Gebilde ſind für die Wür—
digung der Häckel'ſchen Auffaſſung von der
Wechſelbeziehung zwiſchen Phylogenie und
Ontogenie ſehr lehrreich. Sie gehören zur
Stammesentwickelung, inſofern der mecha—
niſche Grund des Zurückbleibens der Frucht
im mütterlichen Schoße zu ihrer phylo—
genetiſchen Ausbildung Veranlaſſung gab
und das einmal Gewordene auf die Nach—
kommen übertragen wurde. Sie greifen
aber zweitens in das Werden des Keimes
auch wieder inſofern ein, als ſie jetzt vor—
handene (palingenetiſche) Eigenſchaften des
Keimes mechaniſch beeinfluſſen und ihrer
Wirkung anpaſſen. Gerade im Darwin—
Häckel'ſchen Sinne, oder beſſer geſagt,
nur in dieſem laſſen ſich dieſe cenogenetiſch
gewordenen, aber zur Palingeneſis führenden
Bildungen erklären. (Schluß folgt.)
5 8 gender:
8 785 Nach Darwins Annahme
find alle Organe allmählich im Laufe vieler
Generationen aus kleinen Anfängen durch
ſucceſſive Vervollkommnung zu ihrer jetzigen
Entwicklungshöhe gediehen. Das Motiv
der fortſchreitenden Entwicklung iſt die er—
höhte Brauchbarkeit des Organs, in dem
jetzt ſelbſt die kleinſte Verbeſſerung dem
Organträger eine Ueberlegenheit im Kampf
ums Daſein ſchafft. Die Gegner behaupten
nun, ſo zuläſſig auch dieſes Motiv für die
Vervollkommnung eines einmal be—
ſtehenden Organs ſein könne, ſo wenig
treffe es für die erſten kleinen Anfänge
zu; ein Organ ſei erſt nützlich, wenn es
eine gewiſſe Ausbildung erlangt habe, un—
entwickelte, alſo rudimentäre Organe ſeien
eher ein unnützer hindernder Ballaſt, als
ein brauchbares Werkzeug.
Für die Milchdrüſen der Säuge—
thiere, die von Mivart als Beleg für
dieſe Behauptung angeführt worden ſind,
habe ich die Unwichtigkeit dieſes Einwurfs
.
Die Organaufänge.
Von
Prof. Dr. Gultav Jäger.
1 Ar 5
0 N
=: in vielgehörter ef gegen
ſchon früher“) dargethan. Da aber der
Einwand ſich immer wieder hinter ein an⸗
deres Organ flüchtet und es leicht iſt, dem
nicht ſpeziell Sachverſtändigen die Unmög⸗
lichkeit eines Organanfangs namentlich dann
vorzudemonſtriren, wenn man einen falſchen
Organanfang zu Grunde legt, ſo dürfte es
ſich empfehlen, der Reihe nach alle Organe
des Thierkörpers durchzugehen, genau feſt—
zuſtellen, in welcher Form und Funktion
das Organ erſtmals auftritt und welchen
Vortheil es ſeinem Träger über das im
übrigen gleich beſchaffene, aber das betr. Organ
völlig entbehrende Thier gibt. Ich beginne
mit den Sinnes organen, ſpeziell mit dem
Auge, erlaube mir aber für den minder
ſachverſtändigen Leſer Folgendes voraus zu
ſchicken:
Man hat ſich auf Grund des Sach—
verhaltes bei den hochorganiſirten Thieren
daran gewöhnt, ſich die Sinnesorgane als
Beſtandtheile des Nervenſyſtems zu denken.
Dieſer Vorſtellung muß man ſich entſchlagen,
wenn man die Anfänge der Sinnesorgane
) Ausland. Jahrgang 1874. S. 638.
ſtudiren will, da die lebendige Subſtanz
an und für ſich, d. h. ehe geſonderte Organe
vorhanden ſind, wenn man ſo ſagen will,
riecht, ſchmeckt, hört, ſieht und fühlt, d. h.
gegen chemiſche Reize und molekulare ſowie
grobmechaniſche Bewegungen empfindlich iſt.
Um dieſe Thatſache verſtändlich zu machen,
iſt es nöthig, ſich einige allgemeine Be—
trachtungen aus dem Gebiete der Bewegungs—
lehre vorzuführen.
Die Phyſik nennt das Licht, die Wärme,
die Elektrizität, die Schallwellen und die
mechaniſchen Bewegungen freie Kräfte
(im Gegenſatz gegen die latente oder Spann—
kraft) oder Bewegungen, weil ſie ſich im
Raume fortbewegen oder, wie man ſich
ausdrückt, weil fie von ihrem Entſtehungs—
herde aus fortgeleitet werden.
Trifft eine ſolche freie Bewegung auf
einen Körper, ſo kann dreierlei geſchehen:
1) Die Bewegung wird an ihrem Fort—
ſchreiten verhindert und da ſie nicht ver—
ſchwinden kann, ſo ſchlägt ſie einen rück—
läufigen Weg ein; der Phyſiker ſagt: ſie
wird reflektirt. Die betreffende Eigen—
ſchaft des Körpers nennen wir ſeine Re—
flexionsfähigkeit.
2) Der Körper geftattet der freien Be—
wegung nicht nur den Eintritt, ſondern
auch den Durchgang und zwar ſo wie ſie
iſt, d. h. ohne ſie in eine anderartige Be—
wegung zu verwandeln. Wir ſagen jetzt,
die Bewegung wird geleitet und nennen
die Eigenſchaft des Körpers Leitungs-
fähigkeit.
3) Der Körper geſtattet der freien Be—
wegung zwar den Eintritt d. h. reflektirt
ſie nicht, aber er leitet ſie auch nicht als
ſolche fort, ſondern zwingt ſie eine andere
Form freier Bewegung!) und zwar
) Den vierten Fall, die Umwandlung
in Spannkraft, erörtere ich hier nicht.
Jäger, Die Organanfänge.
95
diejenige anzunehmen, welche der Körper zu
leiten vermag; dabei verſchwindet natürlich
die urſprüngliche Form der freien Be—
wegung, was wir als Abſorption be—
zeichnen. Dieſe Eigenſchaft eines Körpers
eine freie Bewegung zu abſorbiren, indem
ſie ſie umwandelt, nenne ich allgemein Em—
pfindlichkeit, eine Eigenſchaft, von welcher
die Erregbarkeit der lebendigen Sub-
ſtanz nur eine weitere Complikation iſt.
Erregbarkeit und Empfindlichkeit
unterſcheiden ſich nämlich in der Weiſe:
Empfindlichkeit iſt nur die Fähigkeit eines
Körpers eine freie Bewegung zu hemmen
und in eine anderartige Bewegungsform
umzuwandeln. Erregbar dagegen iſt eine
Subſtanz, bei welcher in Folge dieſer Um—
wandlung der ſie treffenden freien Be—
wegung (die man dann Reiz nennt) neue
Kräfte, die in der Subſtanz in der Form
von Spannkraft vorhanden waren, frei ge
macht oder wie man auch jagt ausgelöſt
werden. Der Reiz iſt alſo das auslöſende
Moment, ohne ihn bleibt die Spannkraft
gebunden und die Grundlage der Erregbar—
keit iſt alſo die Empfindlichkeit.
Wichtig iſt nun weiter die leichtver—
ſtändliche Thatſache, daß die drei genannten
Eigenſchaften eines Körpers — Reflexions-
fähigkeit, Leitungsfähigkeit und Empfindlichkeit
— im Verhältniß der relativen (nicht ab-
ſoluten) Ausſchließung zu einander ſtehen:
— Ein Körper der eine Bewegung ſtark
und leicht reflektirt, wird ein ſchlechter Leiter
und auch wenig empfindlich für ſie ſein.
Andrerſeits: Ein Körper, der eine Be—
wegung leicht in ſich eindringen läßt und
fortleitet oder umwandelt, wird ſie ſchlecht
reflektiren. Im gleichen Verhältniß der
Ausſchließung ſteht Leitungsfähigkeit und
Empfindlichkeit; ein guter Leiter wird die
Bewegung nicht in eine andere umwandeln, |
96 Jäger, Die Organanfänge.
und einer der ſie umwandelt, wird ſie
ſchlecht leiten. Orientiren wir uns über
dieſe Thatſache mit Bezug auf das Licht
genauer.
Einen Körper, der das Licht als ſolches,
d. h. ohne es umzuwandeln und als ganzes
leitet, nennen wir durchſichtig (diaphan)
und farblos. Ein ſolcher Körper iſt
nun einmal ein ſchlechter Reflektor, er wird
nur diejenigen Lichtſtrahlen reflektiren, welche
unter einem beſtimmten, von ſeinem Brech—
ungsindex abhängigen Winkel feine Ober-
fläche treffen, alle andern gehen hindurch.
Ferner wird ein durchſichtiger Körper auch
wenig empfindlich für Licht ſein, weil dies
vorausſetzt, daß das Licht abſorbirt und in
eine andere Bewegung (Wärme, chemiſche
Bewegung ꝛc.) umgewandelt wird, denn
wenn ein Körper das Licht abſorbirt, ſo
nennen wir ihn undurchſichtig. Mithin
iſt ein Körper um ſo empfindlicher für
Licht, je geringer, bei gleicher Reflexions—
fähigkeit, ſeine Durchſichtigkeit iſt.
Ob ein Stoff ſich zum Reflektor oder
zum Lichtempfindungsapparat eignet, wird
davon abhängen, in welchem Grad er im
im Stande iſt, das Licht in eine andere
Form freier Bewegung überzuführen Hier—
bei handelt es ſich um chemiſche und phyſi—
kaliſche Eigenſchaften. Die chemiſche Um—
wandlungsfähigkeit iſt bei einer chemiſchen
Verbindung vorhanden, deren Beſtandtheile
durch ſo ſchwache Affinitäten zuſammen—
gehalten ſind, daß ein geringer Stoß gegen
das labile Molekulargebäude einen Zu—
ſammenſturz deſſelben zur Folge hat. Solche
Stoffe verwendet der Photograph und dieſe
ſind ſelbſtverſtändlich für Conſtruktion von
Reflektoren abſolut untauglich; hierzu ge—
hören Stoffe, welche von ſolchen Stößen, wie
ſie die Lichtſtrahlen ausführen, nicht alterirt
werden, weil die chemiſche Zerſetzung mit
einer Veränderung der phyſikaliſchen Be⸗
dingungen der Reflexion verbunden iſt.
Als gemeinſchaftliche phyſikaliſche Be—
dingung für Reflexion und Abſorption
haben wir oben die Undurchſichtigkeit
verlangt, daß aber — gleichen Grad von
Undurchſichtigkeit vorausgeſetzt — die Re⸗
flexionsfähigkeit auf Eigenſchaften beruht,
welche die Abſorptionsfähigkeit mindern und
umgekehrt, geht aus Folgendem hervor.
Wenn ein Lichtſtrahl einen undurch⸗
ſichtigen Körper trifft, ſo wird er nie völlig
reflektirt, ein gewiſſer Theil wird ſtets ab-
ſorbirt und in Wärmebewegung übergeführt,
ſo daß der reflektirte Lichtſtrahl nie dieſelbe
Stärke hat wie der auffallende. Wie viel
reflektirt und wie viel abſorbirt wird, hängt
nun von zwei Umſtänden ab:
1) Von dem Grad der Elaſticität
für Licht. Je licht-elaſtiſcher ein Körper
iſt, deſto beſſer wird reflektirt, je weniger
elaſtiſch er iſt, um ſo mehr wird abſorbirt.
2) Von der Beſchaffenheit der Ober—
fläche. Iſt ein Körper vollſtändig eben,
ſo kann ein Lichtſtrahl denſelben nur ein—
mal treffen, hat er dagegen Hervorragungen,
ſo werden die Strahlen, welche die ſchiefe
Ebene der Hervorragungen treffen, an die
gegenüberſtehende Wand der nächſten Her—
vorragung reflektirt, und ſo in mehrfacher
Wiederholung, bis ſie ganz oder faſt ganz
in Wärme erzeugendem Anprall ſich erſchöpft
haben. Eine ſolche rauhe Oberfläche kann
mithin nur diejenigen Lichtſtrahlen reflek—
tiren, welche auf ganz beſtimmt geneigte
Flächen und in ganz beſtimmter Richtung
auffallen, alle andern werden ganz oder faſt
ganz abſorbirt und in Wärme umgewandelt.
Die Empfindlichkeit iſt um ſo größer, je
kleiner und zahlreicher dieſe Erhabenheiten
ſind. Will deshalb der Phyſiker einen
Körper lichtempfindlich machen, ſo über—
zieht er ihn mit einer Rußſchicht die aus
zahlloſen, winzigen, lauter Erhabenheiten
vorſtellenden, undurchſichtigen
aus einer ſehr wenig lichtelaſtiſchen Subſtanz
beſteht.
Bei der Lichtempfindlichkeit eines Kör—
pers kommt jedoch noch Folgendes in Be
tracht: Das weiße Sonnenlicht iſt bekanntlich
eine Miſchung ſehr vieler verſchiedenfarbiger
die chemiſche Struktur derſelben eine äußerſt
wankelmüthige, unter ſehr geringen Anſtößen
Lichtſtrahlen. Ein undurchſichtiger Körper
kann nun ſo beſchaffen ſein, daß er ent—
weder alle Farben gleichmäßig reflektirt,
dann iſt er, ſofern er ſie auch miſcht, weiß;
der Photographen, aber natürlich ebenſo
oder er abſorbirt ſie alle gleichmäßig und
möglichſt vollſtändig, dann iſt er ſchwarz;
oder er abſorbirt nur einen Theil, während er
einen andern reflektirt, dann iſt er farbig.
Daraus ergibt ſich, daß ſchwarze Körper am
lichtempfindlichſten find, aber am ſchlechteſten
reflektiren, farbige weniger empfindlich
ſind, aber beſſer reflektiren und weiße die
beſten Reflektoren und am wenigſten für
Licht empfindlich ſind.
Wenden wir uns nun zu der leben-
digen Subftanz. Bekanntlich iſt dieſelbe
durch eine große Empfindlichkeit ausge—
zeichnet und die Kehrſeite davon iſt ihre
geringe Leitungsfähigkeit und Reflexions-
fähigkeit. Die lebendige Subſtanz iſt ein
ſchlechter Wärmeleiter, deshalb iſt ſie ſehr
empfindlich für Wärmeſchwankungen; ſie
leitet die Elektricität millionenmal ſchlechter
als ein Kupferdraht, deswegen iſt ſie ſo
empfindlich für Elektricitätsſchwankungen;
ſie iſt ein ſchlechter Schallleiter, deshalb
empfindlich für Schallwellen, und ſie iſt fo
empfindlich für Druckſchwankungen, weil ſie
ihrer teigig weichen Beſchaffenheit wegen ein
ſchlechter Leiter für mechaniſche Bewe—
gungen iſt.
Wie verhält ſie ſich nun gegen das
Licht? Wir ſahen oben, daß ein Körper
Jäger, Die Organanfänge.
Körperchen |
*
um ſo lichtempfindlicher ſei, je weniger
durchſichtig und farblos er iſt. In ihrer
einfachſten primären Erſcheinungsform iſt
nun die lebendige Subſtanz faſt farblos
und in ziemlich hohem Grade durchſichtig.
Vom phyſikaliſchen Standpunkt aus iſt fie
alſo für Lichtempfindung nicht günſtig ge—
artet und dies wird nur dadurch bis zu
einem gewiſſen Grade ausgeglichen, daß
leidende iſt, daß ſie alſo in ähnlicher Weiſe
lichtempfindlich iſt, wie die ſenſitiven Stoffe
ausſchließlich für den chemiſch wirkſamen
Theil der Lichtſtrahlen.
Soll nun — und das iſt der Anfang
der Sehorganbildung — das Proto—
plasma auch für dieſe phyſikaliſch wirk—
ſamen Lichtſtrahlen empfindlich gemacht wer—
den, ſo gibt es kein anderes Mittel, als
ſeine Durchſichtigkeit zu beſchränken oder ganz
aufzuheben, und das geſchieht durch Ein—
lagerung von einzelnen feinen, lauter Er—
habenheiten vorſtellenden Körnern einer un—
durchſichtigen Subſtanz von geringer Licht—
elaſtizität. Nach dem früher geſagten wird
dieſes Ziel am vollkommenſten erreicht, wenn
die Subſtanz alle Lichtſtrahlen, nicht nur
einen Theil derſelben, zu abſorbiren vermag,
alſo ſchwarz iſt; unvollſtändiger durch
Einlagerung von blos farbigen Subſtanzen,
und noch unvollſtändiger durch Einlagerung
von Körnern, welche zwar durchſichtig farb—
los und wenig reflektirend ſind, aber einen
anderen Brechungsindex haben als die Grund—
ſubſtanz.
Den zuletzt genannten niedrigſten Grad
phyſikaliſcher Bedingung für Lichtempfind-
lichkeit beſitzt nun die lebendige Subſtanz,
inſofern ſie ein Gemenge aus zwei Stoffen
von verſchiedenem Brechungsindex, Grund—
98
ſubſtanz und Protoplasmakörnern, iſt. Ge—
ſteigert wird ſie, ſobald Farbſtoffkörner
auftauchen: gefärbtes Protoplasma iſt licht—
empfindlicher als farbloſes. Wenn die
Körner vollends ſchwarz ſind, ſo erreicht
die Empfindlichkeit einen noch höheren Grad:
geſchwärztes Protoplasma übertrifft das
farbloſe an Lichtempfindlichkeit ebenſo, wie die
geſchwärzte Thermometerkugel des Phyſikers
die ungeſchwärzte.
Ich erlaube mir hier eine kleine Ab—
ſchweifung. Es hat ſich unter den Phyſio—
logen auf Grund des zuſammengeſetzten
Baues des Wirbelthierauges eine wie mir
ſcheint falſche Vorſtellung über das Sehen
gebildet: Sie halten die ſtabförmigen
Endigungen des Sehnerven für den Sitz
der Lichtempfindlichkeit. Das iſt phyſikaliſch
unmöglich, da dieſe Gebilde vollſtändig
durchſichtig ſind; dem gegenüber muß der
Zoologe und Phyſiker daran feſt halten,
daß die Lichtempfindung Lichtabſorp—
tion vorausſetzt und daß dies die Funktion
des für alle Augen charakteriſtiſchen Pig—
mentes iſt. In dem Pigment wird die
Lichtbewegung in Wärmebewegung umgeſetzt
und die Endſtäbchen des Sehnerven ſind nach
meiner Anſicht thermoelektriſche Apparate.
Würde das Pigment im Auge eine ſo unter—
geordnete Rolle ſpielen, wie die iſt, welche
ihr die heutigen Phyſiologen zuweiſen, ſo
wäre das Pigment weder ein ſo ausnahms—
loſer Begleiter aller Sehwerkzeuge, noch
wäre ein Pigmentfleck als der Anfang des
Sehorgans zu betrachten, ſondern es hinge das
Sehen von der Anweſenheit eines Nerven—
ſyſtems ab, was der Thatſache widerſpricht,
daß ausgeſprochene Lichtempfindlichkeit bei
Thieren zu beobachten iſt, welche nicht die
Spur eines Nervenſyſtems beſitzen, ſondern
nur entweder ganz oder theilweiſe gefärbt
oder geſchwärzt ſind.
Jäger, Die Organanfänge.
Es iſt klar, daß eine bloße Färbung
oder Schwärzung nicht entfernt für ein
Thier zu leiſten vermag, was ein voll—
kommenes Auge thut. Vom deutlichen
Sehen eines Gegenſtandes iſt natürlich keine
Rede, fo lange ein bildentwerfender dioptriſcher
Apparat fehlt, allein dennoch hat eine ge—
ſchwärzte lebendige Subſtanz oder ſagen wir
ein geſchwärztes einfachſtes Weſen einen
Vortheil über das ungeſchwärzte durchſich—
tige, inſofern als es die Lichtabnahme
empfindet, welche die Beſchattung durch
einen Fremdkörper hervorruft. Damit iſt
ein Diſtanzſinn geſchaffen, der dem Thier
das Herannahen einer Gefahr oder die An—
weſenheit eines Hinderniſſes oder eines Beute-
gegenſtandes ankündigt.
Wir dürfen aber hierbei nicht ſtehen
bleiben. Der Gegenſtand, den wir zu be—
handeln haben, iſt nicht die Entſtehung
allgemeiner Lichtempfindlichkeit, ſondern die
Entſtehung eines beſtimmten lokaliſirten
Sehorgans, in Form eines oder einiger
kleiner umſchriebener Pigmentflecke, denn man
könnte denken: Wenn erhöhte Lichtempfindlich—
keit ein Vortheil iſt, ſo iſt er um ſo größer,
je ausgedehnter die durch Schwärzung ent—
ſtandene lichtempfindliche Fläche iſt, alſo am
größten, wenn das Thier vollſtändig ge—
ſchwärzt iſt. Daß dies nicht der Fall iſt,
erhellt aus folgendem.
Bei der Vortheilsfrage handelt es ſich
nicht blos um das Sehen, ſondern auch
um das Geſehenwerden. Befindet ſich
ein ganz geſchwärztes Thier in lichter Um⸗
gebung, ſo entſteht ein Contraſt, der das
Thier in höherem Grade ſichtbar macht, alſo
den Augen ſeiner Feinde ausſetzt, und dann
iſt es in ganz entſchiedenem Nachtheil gegen-
über farbloſen durchſichtigen und deshalb
ſchwer ſichtbaren Thieren.
Dieſer Nachtheil verſchwindet aber ſo⸗
fort, wenn nicht das ganze Thier geſchwärzt
iſt, ſondern nur eine kleine Stelle, die wegen
ihrer Kleinheit und dadurch, daß ſie eine
ganz andere Contour hat als das Geſammt—
thier, weder die Erblickbarkeit noch die Er—
kennbarkeit ſteigert.
Ein weiterer Umſtand iſt folgender:
Die Wirkung des Lichts auf einen ge—
ſchwärzten Gegenſtand iſt eine Erwärmung
desſelben und dieſe fällt um ſo größer
aus, in je ausgedehnterem Maße die
Oberfläche geſchwärzt iſt, um ſo kleiner,
je geringer die Fläche iſt. Stellt man nun
die Frage, ob eine Steigerung der Körper-
wärme durch Lichteinfluß vortheilhaft iſt
oder nicht, ſo kann die Antwort nur dahin
ausfallen, daß die Steigerung der Körper—
wärme den Stoffumſatz, alſo das Nahrungs-
bedürfniß verſtärkt, was ein Nachtheil im
Kampf ums Daſein iſt. Mit der Be—
ſchränkung der Schwärzung auf eine kleine
Stelle iſt dieſe nachtheilige Nebenwirkung,
Jäger, Die Organanfänge.
um die es ſich ja gar nicht handelt, auf
ein Minimum reduzirt.
Als dritter Umſtand kommt nachſtehen—
des in Betracht. Der Empfindungsvorgang,
den das Licht in einem völlig geſchwärzten
Thier hervorruft, muß nach obigem derſelbe
ſein, als wenn man durch Erwärmung des
Mediums die Temperatur des Körpers
ſteigert und damit fällt die Möglichkeit der
Unterſcheidung von Licht und Wärme weg.
Iſt dagegen nur eine kleine Stelle geſchwärzt,
ſo iſt der Empfindungsvorgang bei Be—
leuchtung ganz verſchieden von dem bei Er-
wärmung: Erſterer iſt auf eine kleine Stelle
beſchränkt, letzterer trifft die ganze Körper—
fläche; damit iſt der für jede Organiſation
jo hochwichtige Weg der räumlichen Arbeits—
*
99
theilung auf dem Gebiete der Sinnesempfin⸗
dung betreten. Während die geſchwärzte
Stelle ſich zu einem immer vollkommneren
Lichtempfindungsappart fortentwickelt, kann
die übrige Körperoberfläche ohne Rückſicht
auf die Lichtwahrnehmung ſich der Ent-
wickelung der anderartigen Sinnesorgane
hingeben, was wir in der Folge beweiſen
wollen.
Es würde hier zu weit führen, wenn
ich alle die ſucceſſiven Vervollkommnungen
des Sehorgans bis hinauf zu dem wunder—
vollen Apparat eines Wirbelthierauges ſchil—
dern und die aus jeder Vervollkommnungs⸗
ſtufe erwachſenden Vortheile darlegen wollte;
ich will nur noch die nächſte Stufe, weil
ſie eine ſehr einſchneidende iſt, dem geneigten
Leſer vorführen.
Auf dieſer wird nämlich eine Steigerung
der Lichtempfindlichkeit der geſchwärzten Stelle
durch Einlegung einer Sammellinſe in das
Pigment bewirkt. Wie ein Brennglas ſam—
melt dieſe die auffallenden Lichtſtrahlen in
Brennpunkte, ſo daß ihre Wirkung auf
einen kleinen Punkt concentrirt wird und
dadurch um ſo ſtärker ausfällt. Außerdem
iſt damit auch die Fixirung einer Seh-
richtung gegeben: Da der Brennpunkt, in
welchem ſich die Strahlen ſammeln, ſtets
in der Verlängerung der Linie liegt, welche
den Mittelpunkt der Linſe mit der Lichtquelle
verbindet, ſo hat jede Ortsveränderung der
Licht⸗ oder Schattenquelle auch eine Lage—
veränderung des entſprechenden Brennpunkts
zur Folge.
In einem folgenden Artikel ſollen die
Anfänge der übrigen Sinneswerkzeuge nach
Natur und Werth feſtgeſtellt werden.
14
Ueber den Arſprung der Blumen,
Bon
Dr. Hermann Müller.
N lumen heißen nach deut—
I ſchem Sprachgebrauche Blü—
then, welche durch Farbe oder
. Wohlgeruch oder beides zu—
* gleich unſere Aufmerkſamkeit
auf ſich lenken. Daß die deutſche Sprache
ſolche Blüthen mit einem beſonderen Aus—
druck belegt hat, macht es wahrſcheinlich,
daß ſchon unſeren in der Natur heimiſchen
Ahnen der Gegenſatz zwiſchen augenfälligen,
angenehm riechenden und unſcheinbaren, ge—
ruchloſen Blüthen zum Bewußtſein gelangt
iſt, daß ſie alſo auch ſchon unſcheinbare
und geruchloſe Blüthen beobachtet haben.
Die romaniſchen Sprachen haben unſere
Unterſcheidung von Blüthe und Blume
nicht, was darauf hinweiſt, daß der roma—
niſche Stamm unſcheinbare und geruchloſe
Blüthen urſprünglich wohl völlig überſehen
oder wenigſtens nicht der Beachtung werth
gehalten haben mag. Wenn ſich in dieſer
Eigenthümlichkeit unſerer Sprache eine tie—
fere Naturaufaſſung der germaniſchen Raſſe
ausſpricht, ſo iſt es vielleicht nicht Zufall,
daß es ein Deutſcher war, der „das Ge—
heimniß der Natur im Baue und Befruch—
tung der Blumen entdeckte.“
ter Individuen erfahrende Blüthen.
Die von Sprengels) aufgeſtellte,
von Darwin neuerdings tiefer begründete
Blumentheorie, deren Grundzüge in dem
erſten Hefte dieſer Zeitſchrift, in der Be—
ſprechung des neuſten Darwin'ſchen Werkes,
kurz dargelegt ſind, erklärt uns in der
That in ebenſo einfacher als befriedigender
Weiſe, welche Bedeutung die dem Menſchen
angenehmen Eigenſchaften der Blumen für
das Leben der Pflanzen ſelbſt haben. Sie
zeigt uns, daß dieſelben Farben und Wohl—
gerüche, welche uns und ſchon unſere Ahnen
mit gewiſſen Blüthen befreundet haben,
auch die natürlichen Befruchter dieſer Blü—
then, die Inſekten und insbeſondere die
Bienen und Schmetterlinge, mit denſelben
befreunden und zu ihrem unbewußten
Liebesdienſte an denſelben veranlaſſen. Im
Allgemeinen decken ſich daher die Ausdrücke
Blumen, d. h. dem Menſchen wohlge—
fällige Blüthen, und Inſektenblüthen,
d. h. den Inſekten angenehme und durch
Inſektenvermittelung eine Kreuzung getrenn—
Sie
* Chr. Conr. Sprengel, das ent—
deckte Geheimniß der Natur im Bau und in
der Befruchtung der Blumen. 1793.
Farben und Gerüchen mit dem der blumen—
beſuchenden Inſekten übereinſtimmt. Für
biologiſche Betrachtungen empfiehlt es ſich
daher, mit geringer Abänderung des üb—
lichen Begriffes, mit dem kurzen, einem
Jeden geläufigen Worte Blumen über—
haupt alle diejenigen Blüthen zu bezeichnen,
welche für Befruchtung durch Inſekten (in
wärmeren Ländern auch durch Vögel) aus—
gerüſtet ſind. In dieſem Sinne gebraucht
umfaßt der Ausdruck Blumen z. B.
auch jene uns widerlichen Blüthen, welche
durch bleiche oder bläulichrothe Farben und
Aasgeruch Aasfliegen an ſich locken und
von denſelben befruchtet werden.
Was läßt ſich nun über den Urſprung
der Blumen Zuverläſſiges feſtſtellen?
Wie ſehr auch die Erkenntuiß des
verwandtſchaftlichen Zuſammenhanges der
Pflanzen-Ordnungen und Wamilien, die
Klarlegung der Hauptveräſtelungen des
Pflanzenſtammbaumes, noch in den erſten
Anfängen begriffen iſt, darüber iſt unter
den Pflanzenforſchern wohl kein Zweifel
mehr, daß die unterſte Entwickelungsſtufe
des Pflanzenreichs von den Zellenpflanzen
(Algen, Pilzen, Mooſen) dargeſtellt wird,
daß aus dieſer die Gefäßkryptogamen oder
Stockpflanzen (im Sinne Al. Braun's),
Farne, Schachtelhalme, Bärlappe u. a., ſich
entwickelt haben, daß aus ungleichſporigen
Stockpflanzen die Archiſpermen“) (Gymno—
ſpermen), bei uns durch die Nadelhölzer
vertreten, hervorgegangen ſind, daß endlich
die Metaſpermen ?) (Angioſpermen), d. h.
) Al. Braun hat in einer beſonderen
Abhandlung: „Die Frage nach der Gymno—
ſpermie der Cycadeen“ (Monatsbericht der
Akademie der Wiſſenſchaften. Berlin 1875.
S. 241—377) diejenige Auffaſſung ſehr ein—
gehend begründet, nach welcher die männlichen
decken ſich, ſo weit unſer Wohlgefallen an
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
101
alle unſere Blüthenpflanzen mit Ausnahme
der Nadelhölzer, die veränderten Abkömm—
linge von Archiſpermen ſein müſſen.
Blumen begegnen wir zum erſten
Male bei den Archiſpermen, und zwar in
einem einzigen Beiſpiele, bei der wunder—
baren Welwitſchig. Auf der darauf fol—
genden höchſten Entwickelungsſtufe des
Pflanzenreiches dagegen, bei den Meta—
ſpermen, finden wir die weit überwiegende
Mehrzahl der Blüthen für Kreuzung durch
Inſekten ausgerüſtet, alſo zu Blumen ge—
worden. Wir werden daher die der ge—
ſchlechtlichen Fortpflanzung dienenden Organe
und ihre ſtufenweiſe Umbildung in allen
dieſen aufeinander folgenden Entwickelungs—
ſtufen des Pflanzenreichs ins Auge faſſen
müſſen, um über den Urſprung der Blumen
eine beſtimmte Vorſtellung zu gewinnen.
then, ihre Schuppen als „identiſche“ Blätter
betrachtet werden, nur daß die einen die
Organe der männlichen Keimbereitung (Pollen—
ſäcke), die andern die der weiblichen, nackte
Samenknöspchen, tragen. Dieſe Auffaſſung
der Cycadeenblüthen erſcheint mir viel unge—
zwungener und natürlicher als diejenige
Strasburger's, welcher die männlichen
Zapfen als Blüthen, die zum Verwechſeln
ähnlichen weiblichen als Blüthenſtände be—
trachtet. In Bezug auf die Coniferen und
Gnetaceen dagegen muß es, wie auch Al.
Braun zugiebt, als eine noch offene Frage
gelten, ob die zuerſt auftretende Knospenkern—
umhüllung dem Fruchtknoten oder der Knospen—
hülle (integumentum) der Angioſpermenblüthe
entſpricht. So lange aber dieſe Frage noch
nicht entſchieden iſt, ſcheinen mir die Stras—
burger'ſchen Bezeichnungen Archiſpermen und
Metaſpermen vor den früher üblichen Gymno—
ſpermen und Angioſpermen den Vorzug zu
verdienen, weil ſie nur die unbeſtrittene That—
ſache ausdrücken, daß die erſtere der beiden Ab—
theilungen die urſprüngliche iſt, die letztere
dagegen von ihr abſtammt.
(SR
102
Ja wir müſſen ſogar uoch tiefer, bis zur
gemeinſamen Wurzel des Thier- und Pflan-
zenreichs, bis zu den einfachſten kernloſen
Urweſen, den Moneren Häckel's, hinab—
ſteigen, um die geſchlechtliche Fortpflanzung
bis zu ihren erſten Anfängen zu verfolgen.
In der That laſſen ſich ſchon bei den
Moneren wenigſtens die erſten Spuren
geſchlechtlicher Fortpflanzung nachweiſen, ob-
ſchon Häckel ſelbſt den Moneren aus—
ſchließliche Fortpflanzung auf ungeſchlecht—
lichem Wege zuſchreibt. Der von Häckel
beobachtete orangerothe Urſchleimſtern (Pro—
tomyxa aurantiaca) nämlich ſpaltet ſich,
nachdem er durch Wachsthum eine gewiſſe
Größe erreicht, ſich in Kugelform zuſam—
mengeballt und eine ſchützende Hülle um
ſich herum abgeſondert hat, in zahlreiche
Spaltungsſtücke, die mit einer Geißel verſehen,
aus der geſprengten Hülle hervortreten und
ſelbſtbeweglich umherſchwimmend neue Wohn—
ſitze gewinnen, darauf die Geißel einziehen
und als junge Schleimſterne amöbenartig
umherkriechen.
Wenn nun, wie Häckel angiebt, zwei
oder drei dieſer jungen Protomyxa-Schleim⸗
ſterne zu einem neuen Individuum verſchmel—
zen, ſo kann der Vortheil dieſes phyſiologi—
ſchen Vorganges offenbar nur darin geſucht
werden, daß die verſchmelzenden jungen
Schleimſterne verſchiedenen Lebensbedingun⸗
gen ausgeſetzt geweſenen Eltern entſtammen
und dadurch, wenn auch für uns unwahr⸗
nehmbar, irgend welche Verſchiedenheit der
Lebensäußerung erlangt haben, und daß
eben durch das Zuſammenwirken dieſer
verſchiedenen Lebensäußerungen das aus der
Verſchmelzung hervorgehende Individuum
geſteigerte Anregung zu weiteren Lebens—
äußerungen empfängt. Von der deutlich
ausgeprägten geſchlechtlichen Fortpflanzung
würde hiernach die Verſchmelzung junger
Protomyxa-Schleimſterne nur dadurch ver—
ſchieden ſein, daß eine Arbeitstheilung der
verſchmelzenden Protoplasmakörper, ein Ge—
genſatz zwiſchen kleineren, beweglicheren,
männlichen, und an Bildungsſtoff reicheren,
trägeren, weiblichen, noch nicht vorhanden
iſt, daß vielmehr jeder der bei der Ver—
ſchmelzung betheiligten Protoplasmakörper
nach einander dieſe beiden Zuſtände durch—
läuft.
In dem Verſchmelzen mehrerer jungen
Protomyxaſchleimſterne zu einem neuen In⸗
dividuum dürfen wir ſonach die älteſte und
urſprünglichſte Form geſchlechtlicher Fort—
pflanzung vermuthen. Und die Entwicke—
lung eines ſchwanzförmigen Anhanges dür—
fen wir als die denkbar einfachſte und that—
ſächlich urſprünglichſte, ſchon bei den Moneren
aufgetretene Abänderung betrachten, durch
welche Protoplasma-Individuen befähigt
wurden, ſelbſtthätig durch das Waſſer zu
ſchwimmen, um anderen Lebensbedingungen
ausgeſetzt geweſene Protoplasma-Individuen
aufzuſuchen und mit denſelben zu neuen,
kräftigeren und entwickelungsfähigeren In⸗
dividuen zu verſchmelzen.
Aus der gemeinſamen Wurzel der Mo—
neren hat ſich die unendliche Mannigfaltig—
keit einerſeits der Thier-, andererſeits der
Pflanzenformen entwickelt, und die Urform
des mit ſchwanzförmigem Anhange ſelbſt—
thätig umherſchwimmenden Protoplasma⸗
Individuums hat ſich in den Spermazellen
mit bewundernswerther Treue einerſeits bis
zu den höchſten Entwickelungsſtufen des
Thierreichs, andrerſeits durch die urſprüng⸗
lich waſſerbewohnenden Abtheilungen des
Pflanzenreichs hindurch vererbt. Weshalb
durch das ganze Thierreich und weshalb
im Pflanzenreiche nur auf die niederen,
urſprünglich waſſerbewohnenden Abtheilun⸗
gen, das erklärt ſich wohl hinreichend dar—
— —
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
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Schwimmbewegungen ihrer
üller, Ueber den Urſprung der Blumen.
aus, daß die landbewohnenden Thiere ſich
frei von der Stelle bewegen und daher ſich
gegenſeitig aufſuchen können, wogegen die
landbewohnenden Pflanzen feſt an die Scholle
gebunden ſind. Im Waſſer nämlich kann
die Selbſtbeweglichkeit frei umherſchwimmen—
der Befruchtungskörper offenbar ebenſowohl
bei feſtgewachſenen als bei frei umher—
ſchwimmenden Arten der gelegentlichen Kreu—
zung getrennter Individuen genügen, und
ſie iſt in der That bei allen der urſprüng—
lichen Waſſerlebensweiſe treu gebliebenen
Organismen die einzige Art der Kreuzungs—
vermittelung geblieben, wenigſtens wenn wir
das Wort Befruchtungskörper im weiteſten
Sinne nehmen und darunter nicht nur
Spermazellen, ſondern auch ſelbſtſtändiger
Ortsbewegung fähige Spermaträger (Me—
duſen, Hektokotylus) und die ganzen zur
Kreuzung ſich aufſuchenden Individuen be—
greifen. Beim Uebergange von der Wafler-
zur Landlebensweiſe dagegen konnte natür—
lich die Selbſtbeweglichkeit ſchwimmender
Spermazellen nur in dem Falle als der
Kreuzung genügende Befruchtungsform er—
halten bleiben, wenn entweder, durch Be—
gattung, die Spermazellen in Berührung
oder unmittelbare Nähe der zu befruchten-
den Eizellen gebracht wurden (Landthiere),
oder wenn an die Scholle gebundene Or—
ganismen, wenigſtens während der Be—
fruchtungszeit, das Waſſer als Mittel der
Spermazellen
benutzen konnten, und das war nur bei Pflan-
zen möglich, die hinlänglich niedrig an we—
nigſtens zeitweiſe dem Waſſer ausgeſetzten
Standorten wuchſen. Nach meiner Anſicht
gibt dieſe einfache und unabweisbare Betrach—
tung von einer höchſt auffallenden und ſchon
vielfach erörterten, aber meines Wiſſens noch
niemals erklärten Erſcheinung in der Ent: |
wickelung des Pflanzenreichs, nämlich von
REN e ane
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der Verſchiebung der geſchlechtlichen Ver—
einigung nach dem erſten Jugendleben hin,
welche ſich bei der Vergleichung der Mooſe
und Stockpflanzen ſcheinbar herausſtellt,
eine ganz befriedigende Erklärung. Ich will
deshalb dasjenige, was ſich über den Ueber—
gang der Pflanzen von der Waſſer- zur
Landlebensweiſe mit größter Wahrſcheinlich—
keit behaupten läßt, hier etwas eingehender
auseinanderſetzen.
Die urſprünglichſten Pflanzen waren
waſſerbewohnende Algen. Die erſte dünne
Pflanzendecke, von welcher in einer uralten
Erdgeſchichtsperiode, von deren organiſchem
Leben uns die Gebirgsſchichten keine Kunde
überliefert haben, die aus dem Ocean her—
vorgetauchten Feſtlandmaſſen zum erſten
Male ergrünten, wurde ohne Zweifel eben—
falls von Algen gebildet, und dieſe konnten
jedenfalls auf den noch häufig überflutheten
Flächen, welche ſie beſiedelt hatten, die ererbte
Kreuzungsart durch ſelbſtbeweglich umher—
ſchwimmende Spermazellen noch ziemlich un—
behindert fortſetzen.
Aus ſolchen auf das Land übergeſie—
delten Algen müſſen ſich, wenn wir die
individuelle Entwicklung als kurze Wieder-
holung der Stammesentwickelung betrachten
dürfen, die Laub- und Lebermooſe ent—
wickelt haben; auch deren Lieblingswohnſitze,
in tiefen Hohlwegen, an feuchten Felsab—
hängen, Grabenwänden u. ſ. w., werden
zeitweiſe von Waſſer überfluthet, und die
Moosraſen, welche dieſe Standorte be—
kleiden, ſind allezeit niedrig genug, um bei
zeitweiſer Ueberfluthung den Spermazellen
Gelegenheit zu geben, durch ſelbſtthätiges
Umherſchwimmen zu den ſich öffnenden
flafhenförmtgen Gebilden, welche die Ei—
zellen umſchließen, zu den ſogenannten Arche—
gonien, und durch deren mit Schleim er—
füllten Halskanal zu der befruchtungs—
104
fähigen Eizelle felbft zu gelangen. Auch
für die Mooſe hat daher keine Nöthigung
vorgelegen, die urſprüngliche, vielleicht ſchon
von den Moneren her ererbte Kreuzungs—
art zu verlaſſen.
Etwas anderes iſt es mit den Farn—
kräutern, Schachtelhalmen und Verwandten,
die ſich, nach ihren Vorkeimen zu ſchließen,
aus blattloſen Lebermooſen entwickelt zu
haben ſcheinen. Sie waren wohl die erſten
Pflanzen, welche ſich zu hoch in die Luft
aufſtrebenden Stämmen entwickelten; ſie
waren es, welche das dem Meere entſtiegene,
erſt mit Algen, dann mit grünem Moos—
teppich ſich bekleidende Feſtland zum erſten Male
mit üppigen Wäldern bedeckten. Den Boden,
aus welchem dieſe erſten Wälder empor—
wuchſen, müſſen wir uns als häufigen Ueber
fluthungen ausgeſetzt vorſtellen; ſchon die
maſſenhaften Zuſammenhäufungen von zu—
ſammengeſchwemmten Farnen, Calamiten,
Sigillarien und Lepidodendren in den
Schieferthonſchichten der Steinkohlenforma—
tion nöthigen uns zu dieſer Vorſtellung.
Während nun die flach auf der Erde ſich
ausbreitenden Mooſe ſich zu immer höher
ragenden Pflanzenformen ausbildeten, konnte
natürlich die Kreuzung getrennter Indivi—
den durch frei nmherſchwimmende
Spermazellen immer nur in demjenigen
Lebensalter und Entwicklungsſtadium er—
folgen, in welchem die Pflanze der zeit—
weiſen Ueberfluthung noch ausgeſetzt blieb.
Die Weiterentwickelung zu immer höheren
und höheren Pflanzenſtöcken konnte ſich
alſo nicht zwiſchen das Keimen der Sporen
und die geſchlechtliche Vereinigung getrennter
Individuen einſchalten; die auf Schwimmen
eingerichteten Spermazellen wären ja ſonſt
immer höher und höher in die Luft gerückt,
Kapſeln) und Archegonien entwickelt; bei,
ihrer ſtufenweiſen Entwickelung braucht alſo
ihre Lebensverrichtung wäre ſchon mit dem
erſten Anfange dieſes Emporrückens unmög—
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
G
|
lich gemacht worden. Nur wenn die Weiter—
entwickelung erſt nach vollzogener Kreuzung
erfolgte, ſich alſo zwiſchen die geſchlechtliche
Vereinigung und Sporen-Entwickelung ein—
ſchaltete, vermochten ſich die dem zeitweiſe
überrieſelten Boden flach angedrückten und
durch ſchwimmende Spermazellen ſich kreuzen—
den Lebermooſe zu hoch in die Luft ragenden
Pflanzenſtöcken zu entwickeln. Damit ſcheint
mir das ganze Räthſel der ſcheinbaren
Verſchiebung der geſchlechtlichen Vereinigung
nach dem früheren Jugendleben hin, we—
nigſtens, ſoweit es ſich aus dem Vergleiche
der Mooſe einerſeits, der Farne und
Schachtelhalme andrerſeits ergiebt, gelöſt.
Die Verſchiebung innerhalb dieſer Klaſſen
iſt in der That nur eine ſcheinbare. Es
iſt wahr: bei den Laubmooſen entwickeln
ſich die Eizellen und Spermazellen erſt,
nachdem der beblätterte Laubmoosſteugel ſich
gebildet hat, auf dieſem, und aus der be—
fruchteten Eizelle entwickelt ſich nur die
Sporenkapſel, bei den Farnen und Schachtel—
halmen dagegen entwickeln ſich die Eier und
Spermazellen ſchon vor Stengeln und
Blättern auf dem Vorkeime, und aus der
befruchteten Eizelle gehen erſt Stengel und
Blätter und ſchließlich auch Sporenkapſeln
hervor. Wenn man daher Laubmooſe und
Farne oder Schachtelhalme als aufeinander
folgende Glieder derſelben Entwickelungs—
reihe anſieht, ſo muß man allerdings den
Eindruck bekommen, als wenn die ge—
ſchlechtliche Vereinigung ſich nach dem Jugend—
alter hin verſchoben hätte. Farne und
Schachtelhalme haben ſich aber keineswegs
aus Laubmooſen, ſondern, nach ihren Ver—
keimen zu ſchließen, aus blattloſen Leber—
mooſen mit dem Thallus aufſitzenden oder
eingebetteten Antheridien (d. h. Spermazellen—
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Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
keine Verſchiebung der Blüthezeit nach dem
früheren Jugendalter hin ſtattgefunden zu
haben, ſondern die geſchlechtliche Vereinigung
erfolgt vielleicht noch heute bei Farnen und
Schachtelhalmen auf derſelben Entwickelungs—
ſtufe, auf welcher ſie bei ihren Stammeltern
ſchon erfolgt iſt, als ſie noch Lebermooſe
waren und in der Blüthe den Gipfelpunkt
ihrer Entwickelung erreichten. Wir dürfen
ſonach bei den heutigen Farnen und
Schachtelhalmen die ganze Entwickelung von
der Spore bis zur Eizelle, abgeſehen von
vielleicht nachträglich erworbenen Anpaſſungen,
als von ihren Stammeltern, den Leber—
mooſen ererbt, die ganze Entwickelung da—
gegen von der befruchteten Eizelle bis zur
Bildung von Sporenkapſeln als ſeit dem
Ueberholen jener Stammeltern neu er—
worben betrachten.
Wie ein Rückblick auf das bisher Er—
örterte ergiebt, umfaßt die unterſte Ent—
wickelungsſtufe des Pflanzenreichs, die der
Zellenpflanzen, die urſprünglichen Waſſer—
bewohner und ihre auf das Feſtland über—
geſiedelten Abkömmlinge, ſoweit ſie niedrig
genug blieben, um auf dem Gipfel ihrer
Entwicklung überfluthet und durch ſchwim—
mende Spermazellen gekreuzt werden zu
können. Die zweite Entwickelungsſtufe, die
der Stockpflanzen, umfaßt, wenn wir von
einer Berückſichtigung der waſſerbewohnen—
den Stockpflanzen vorläufig abſehen, die—
jenigen Abkömmlinge der erſten, welche ſich,
nachdem die Kreuzung durch ſchwimmende
Spermazellen erfolgt iſt, über ihr Ueber—
fluthungsniveau emporheben und den Gipfel
ihrer Entwicklung alſo erſt nach erfolgter
geſchlechtlichen Vereinigung erreichen. Die
dritte Entwickelungsſtufe des Pflanzenreichs,
die der Archiſpermen, iſt dadurch erreicht
worden, daß die allmählich auf trockenere
Wohnſitze vorrückenden Stockpflanzen ſich
|
der Kreuzung durch Vermittelung des Win—
des angepaßt und dadurch von zeitweiſer
Ueberfluthung des Standortes während
ihres Jugendzuſtandes gänzlich unabhängig
gemacht haben.
Das Waſſer konnte natürlich als Mittel
der Kreuzung getrennter Individuen erſt
dann überflüſſig werden, wenn andere na—
türliche Uebertragungsmittel der männlichen
Befruchtungskörper, erſt neben ihm, dann
ſtatt ſeiner, in Wirkſamkeit getreten waren.
Als ſolche ſind, außer dem Waſſer, über—
haupt nur der Wind und lebende Thiere
vorhanden. Durch lebende Thiere aber
konnten die männlichen Befruchtungskörper
em übertragen werden, jo lange ſie ſelbſt—
thätig ſchwimmende Spermazellen waren.
Als einzige Möglichkeit für die Ueberſied—
lung der Stockpflanzen auf trockene Stand—
orte bleibt alſo die Anpaſſung ihrer männ—
lichen Befruchtungskörper an die Uebertra—
gung durch den Wind übrig. Aber auch
dieſe mußte ihre ſehr großen Schwierigkeiten
haben. Denn man wird kaum eine Form—
umwandlung der ſelbſtthätig umherſchwim—
menden Spermazellen auszuſinnen vermögen,
durch welche dieſelben hätten in den Stand
geſetzt werden können, ebenſowohl activ, im
Waſſer ſchwimmend, als paſſiv, von der
bewegten Luft getragen, zu den Eizellen
anderer Stöcke zu gelangen. Eine ſolche
directe Anpaſſung der ſchwimmenden Sperma—
zellen an die Uebertragung durch den Wind
konnte überdieß ſchon deshalb kaum zu
Stande kommen, weil dieſelben ja durch
die Natur ihrer Standorte vor der Ein—
wirkung des Windes in hohem Grade ge—
ſchützt ſein mußten. Denn die ſchwimmen—
den Spermazellen traten ja dicht an der
Bodenoberfläche aus den Antheridien her—
vor, und zwar an Stellen, die theils durch
die Bodengeſtaltung des Standorts (in
Vertiefungen, an geſchützten Abhängen),
theils durch eine ſie überragende Vegetation
von Stockpflanzen gegen den freien Zutritt
bewegter Luft geſchützt waren.
Somit ſcheint diejenige Anpaſſung der
männlichen Befruchtungskörper an Ueber⸗
tragung durch den Wind, welche ſich that—
ſächlich vollzogen hat, überhaupt die einzig
mögliche geweſen zu fein. Gewiſſe ungleich—
ſporige Stockpflanzen, welche eine überreiche
Menge frei in die Luft hervorragender
Mikroſporangien erzeugten und aus den
ebenfalls frei in die Luft ragenden Makro-
ſporangien, noch bevor dieſelben zur Erde
fielen, einen Flüſſigkeitstropfen ausſchieden,
mögen zum erſten Male die Möglichkeit
einer Kreuzung getrennter Individuen durch
den Wind dargeboten haben, indem von
einer Unzahl von dem Winde losgeriſſener
und fortgeführter Mikroſporen einzelne von
den Flüſſigkeitstropfen der Makroſporangien
aufgefangen wurden und dann ihre ſelbſt—
beweglichen Spermazellen unmittelbar in die
noch auf dem Pflanzenſtocke feſtſitzenden
Archegonien der Makroſporen eindringen
ließen. Dieſelben Stockpflanzen, welchen
zuerſt ſolche Kreuzung durch den Wind zu
Theil wurde, haben ohne Zweifel noch
viele Generationen hindurch neben derſelben
die ererbte Kreuzungsart beibehalten; denn
dieſe konnte natürlich erſt dann überflüſſig
werden und eingehen, nachdem die Kreuzung
durch Vermittlung des Windes durch Aus—
prägung geeigneter Abänderungen zu voller
Wirkſamkeit gelangt war.
Welche Abänderungen können es nun
geweſen ſein, die beim Vorrücken der Stock—
pflanzen auf trocknere Standorte den Wind
als Vermittler ihrer Kreuzung in volle
Wirkſamkeit treten ließen? Die thatſächlich
vorliegenden Unterſchiede, einerſeits zwiſchen
den gleichſporigen und ungleichſporigen Stod-
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106 Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
pflanzen, andrerſeits zwiſchen den letzteren
und den Archiſpermen, geben uns darüber
hinreichende Auskunft.
Gewiß mit vollſtem Rechte werden die
ungleichſporigen Stockpflanzen als Mittel-
ſtufe zwiſchen den gleichſporigen Stockpflanzen
und den Archiſpermen betrachtet. Während
der Vorkeim der Farne und Schachtel—
halme noch als vielleicht unverkürzte Wieder—
holung der Entwickelung ihrer Stammeltern,
blattloſer Lebermooſe, angeſehen werden
kann, ſtellen uns die nur wenig aus der
geplatzten Sporeuhülle heraustretenden oder
gänzlich in derſelben eingeſchloſſen bleibenden
Vorkeime der ungleichſporigen Stockpflanzen
unverkennbar eine immer mehr verkürzte
Wiederholung der Entwicklung der Stamm⸗
eltern dar, und es iſt leicht zu erkennen,
welche Veränderung der Lebensbedingungen
zu dieſer Verkürzung und zugleich zur Aus—
bildung beſonderer männlicher und weiblicher
Sporen führen mußte. Je ſpärlicher nämlich
beim allmähligen Trocknerwerden des Feſt—
landes oder beim Vorrücken der Stock—
pflanzen auf trocknere Standorte die zeitweiſe
Ueberrieſelung des Bodens mit Waſſer
wurde, um ſo weniger fanden die leber—
moosartigen Vorkeime den geeigneten Boden
zu ihrer Entwicklung, um jo mehr mußte
ſich dieſe Entwicklung auf die Leiſtung ihres
nothwendigen Lebensdienſtes, die Ermög—
lichung der Kreuzung durch Erzeugung von
Eizellen und ſelbſtbeweglichen Spermazellen,
beſchränken, und dieſe Beſchränkung war
jedenfalls in noch höherem Grade möglich,
wenn eine Arbeitstheilung in weibliche und
männliche Sporen hinzutrat, da letztere aus
noch viel winzigeren Vorkeimen die zur
Kreuzung nöthigen Spermazellen zu erzeugen
vermochten.
Dieſelben Abänderungen aber, welche
die Stockpflanzen befähigten, auch auf ſpärlich
Sd A
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 107
überrieſeltem Boden ſich anzuſiedeln, ermög⸗
lichten und begünſtigten zugleich eine ge—
legentliche Kreuzung derſelben durch den
Wind, wenn ſie auch keineswegs die ein—
zigen Vorbedingungen für eine ſolche waren.
Vor allem mußte ja natürlich die Arbeits—
theilung in kleine männliche und große
weibliche Sporen ſich bereits vollzogen haben,
ehe Mikroſporen durch den Wind auf Makro—
ſporangien geführt werden, ehe alſo über—
haupt irgend welche Stockpflanzen durch
Vermittelung des Windes gekreuzt werden
konnten. Die Miekroſporen konnten ferner,
wenn ſie einmal durch den Wind auf Makro—
ſporangien geführt wurden, um ſo leichter
eine Befruchtung in denſelben bewirken, je
raſcher ſie ihre Spermazellen erzeugten. Und
die Makroſporen konnten um ſo leichter,
während fie noch am Pflanzenſtocke ſaßen,
durch angewehte Mikroſporen befruchtet
werden, je mehr ſich ihre Vorkeimentwick—
lung beſchränkt hatte, in je jugendlicherem
Alter ſie alſo Archegonien mit befruchtungs—
fähigen Eizellen hervorbrachten. Aber außer
dieſen durch ſpärliche Ueberrieſelung des
Bodens bedingten Abänderungen mußte die
Ausſcheidung eines Flüſſigkeitstropfens aus
dem Makroſporangium, oder irgend eine
andere das Auffangen zugewehter Mikro—
ſporen bewirkende beſondere Abänderung auf—
getreten ſein, ehe eine Befruchtung durch
Vermittlung des Windes erfolgen konnte.
War eine ſolche an den durch Trockenheit
des Bodens bedingten Grenzen des Ver—
breitungsbezirkes der Stockpflanzen einmal
aufgetreten, ſo mußten dann nicht nur die
eben genannten, eine Kreuzung durch den
Wind überhaupt ermöglichenden, ſondern
auch alle weiterhin auftretenden, dieſelbe
begünſtigenden Abänderungen durch Natur-
züchtung erhalten werden und zur Aus-
prägung einer neuen Pflanzenfamilie führen,
welche, frei von der Concurrenz ihrer
Stammeltern, ſich ungehindert über die
trocknen Landſchaften ausbreitete und die—
ſelben zum erſten Male mit ſchattigen
Wäldern überkleidete.
Als ſolche weiterhin aufgetretene Abän—
derungen, welche die Kreuzung durch den
Wind begünſtigt und endlich völlig geſichert
haben, dürften folgende zu betrachten ſein:
Die Entwicklung der Makroſporenvorkeime,
welche ihre urſprüngliche Bedeutung verloren
hatten, wurde noch mehr und mehr verkürzt.
Da die Makroſporen nun für immer ver—
einigt blieben, ſo wurden alle diejenigen
Bildungen, welche die ſchützende Umhüllung
und beſondere Ausſtattung der einzelnen
Makroſporen bewirkten., überflüſſig, und
fielen zunehmender Verkümmerung anheim.
Dagegen wurde eine ſchützende Umhüllung
der im jugendlichen Zuſtande frei der Luft
ausgeſetzten Makroſporangien nothwendig
oder wenigſtens vortheilhaft und gelangte
durch Naturausleſe zur Ausprägung. In⸗
dem dieſe Umhüllung als umſchließender
Wall bis weit über den Gipfel des Makro—
ſporangiums (Knospenkerns) emporwuchs,
ehe ſie ſich in eine engere Oeffnung zu—
ſammenzog, bewirkte ſie zugleich, daß der
vom Makroſporangium (Knospenkern) zur
Blüthezeit ausgeſchiedene, darauf verdunſtende
oder wieder aufgeſaugte Flüſſigkeitstropfen
die von ihm aufgefangenen, vom Winde
zugeführten Mikroſporen in einen wohlum—
ſchloſſenen Raum dicht über dem Gipfel
des Makroſporangiums zuſammenführte.
Durch dieſe Umwandlungen wurde aus dem
Makroſporangium der ungleichſporigen Stock—
pflanzen die Samenknospe der Archiſpermen,
in welcher, da eine Vielheit weiblicher Be—
fruchtungskörper zu einem einzigen ſich ver—
ſchmolzen hatte, von vorn herein durch dieſe
Verſchmelzung der Anlaß zu ſtufenweiſe
4 108
weiterer Verkümmerung der nutzlos gewor—
denen Individuen gegeben war. Die Re—
duction der Makroſporen (Embryoſäcke)
auf eine einzige hat ſich ſchon bei den
Archiſpermen vollendet, während wir endlich
bei den Metaſpermen auch von den Arche—
gonien (Corpusculis) der einzigen übrig
gebliebenenen Makroſpore des (Embryoſacks) |
nur noch ein einziges erhalten und ſelbſt
dieſes auf eine oder zwei Zellen (Keim—
bläschen), nämlich die Eizelle und in der
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Regel noch eine zweite, die „Kanalzelle“,
reducirt ſehen.
Weniger umfaſſenden Umbildungen durch
Naturzüchtung waren die männlichen Be- |
fruchtungskörper unterworfen, da eben nicht
die Mikroſporangien, ſondern nur die ein—
zelnen Mikroſporen die Möglichkeit darboten
und thatſächlich dazu gelangten, vom Winde
losgeriſſen auf die weiblichen Befruch—
tungskörper übertragen zu werden. Wäh—
rend daher bei den weiblichen Befruchtungs—
körpern die Anpaſſung an Kreuzung durch
den Wind eine zwiefache Reduction einer
Mehrzahl von Individuen auf die Einzahl
zur Folge hatte, nämlich 1) die der Makro—
ſporen deſſelben Makroſporangiums, 2) die
der Archegonien derſelben Makroſpore, konnte
bei den männlichen Befruchtungskörpern
nur eine einzige ſolche Reduction ſtatt finden
und fand thatſächlich ſtatt: Die nutzlos ge—
wordene Zerſpaltung des Mikroſporen—
Protoplasmas in Vorkeimzellen und zahl—
reiche Spermazellen ging ein, die ebenfalls
nutzlos gewordene Selbſtbeweglichkeit und
Schwimmfähigkeit des nun einheitlich blei—
benden männlichen Protoplasmas ging gleich-
falls ein, und ſo wurde die Mikroſpore zum
Pollenkorn, und dieſes wurde bei den Coni—
feren durch flügelartige Anhänge zu noch
leichterer Uebertragung durch den Wind be—
fähigt. Außer dieſer Umbildung der ein—
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
zelnen Makroſporangien und Mikroſporen
ſind die koloſſale Steigerung der Zahl der
von einem Pflanzenſtocke erzeugten Pollen—
körner, ihre und der Samenknospen (Makro-
ſporangien) dem Winde ausgeſetzte Stellung,
und in vielen Fällen (bei Coniferen) die
Entwicklung immer höher in die Luft empor-
ragender Baumſtämme als die Kreuzung
durch den Wind ſichernde und deshalb durch
Naturzüchtung ausgeprägte Eigenthümlich—
keiten der Archiſpermen zu betrachten. So
ſtellt uns denn die dritte Entwicklungsſtufe
des Pflanzenreichs, die Klaſſe der Archi—
ſpermen, eine Pflanzengeſellſchaft dar, welche
durch die ſoeben erörterten neu erworbenen
und zugleich durch Getrenntgeſchlechtigkeit
und andere von den ungleichſporigen Stock—
pflanzen ererbte Eigenthümlichkeiten in wirk—
ſamſter Weiſe für die Kreuzung durch den
Wind ausgerüſtet und dadurch zur Be—
ſiedelung von Bergeshöhen und trockenen
Feſtlandsſtrichen befähigt iſt.
Wir ſind damit zu demjenigen Punkte
gelangt, wo der Urſprung der Blumen
anhebt. Nachdem nämlich die Archiſpermen
die Erzeugung einer überſchwenglichen Pollen—
menge in dem Grade geſteigert hatten, daß
dadurch ihre Kreuzung durch den Wind
unausbleiblich geworden war, konnte es nicht
ausbleiben, daß ihrer Nahrung wegen in
der Luft umherfliegende Inſekten, die Dieſes
und Jenes auf ſeine Genießbarkeit probirten,
auch dazu kamen, die bequem erreichbaren
nährſtoffreichen Pollenkörner der Archi—
ſpermen zu verzehren, ja daß manche In—
ſekten dieſe ergiebige und concurrenzfreie
Nahrungsquelle mit Vorliebe benutzten.
Die hervorſtechende Farbe der frei in die
Luft ragenden Antheren erleichterte ihnen
dabei ohne Zweifel in hohem Grade das
Auffinden der geſuchten Speiſe, wie wir ja
noch heute zahlreiche windblüthige Pflanzen
nur durch die Farbe ihrer Antheren Pollen
ſuchende Inſekten an ſich locken ſehen. Aber
da die Archiſpermen, in Folge ihrer Her—
kunft, ſämmtlich getrennt⸗geſchlechtig waren,
fo konnten ihnen die ihre Antheren plün—
dernden Inſekten den unbewußten Liebes⸗
dienſt der Kreuzung nicht erweiſen, ſo lange
nicht Abänderungen der Archiſpermenblüthen
eintraten, welche entweder männliche und
weibliche Befruchtungsorgane in derſelben
Blüthe vereinigten oder die Inſekten auch
zum Beſuche der weiblichen Blüthen ver⸗
anlaßten. Und auch wenn ſolche die Kreu⸗
zung durch Inſekten ermöglichende Abände⸗
rungen eintraten, konnten ſie bei Pflanzen,
deren Kreuzung durch den Wind geſichert
war, ſelbſtverſtändlich durch Naturzüchtung
nur dann erhalten und zu neuen, für Kreu—
zung durch Inſekten ausgerüſteten Pflanzen⸗
formen ausgeprägt werden, wenn der
Uebergang von der Windblüthigkeit zur
Juſektenblüthigkeit für das Leben der Pflanze
mit einem bedeutenden Vortheile verknüpft
war. Da nun thatſächlich von der aus den
Archiſpermen hervorgegangenen, jetzt vor—
herrſchenden, höchſten Entwicklungsſtufe des
Pflanzenreichs, den Metaſpermen, die weit
überwiegende Mehrzahl für die Kreuzung
durch Inſekten ausgerüſtet iſt, ſo dürfen
wir nicht zweifeln, daß der Uebergang von
der Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit
in der That von außerordentlichem Vortheile
für die Pflanzen geweſen ſein muß. Die
Natur dieſes Vortheils müſſen wir alſo
uns klar zu machen ſuchen, wenn wir uns
von dem Urſprunge der Blumen eine klare
Vorſtellung bilden wollen.
Die Sicherung der Befruchtung durch
den Wind iſt bei den Archiſpermen, wie
wir geſehen haben, durch außerordentlich
maſſenhafte Pollenentwicklung erreicht wor—
den, und dieſe genügt zwar wohl, um
|
109
Individuen deſſelben mehr oder weniger
geſchloſſenen Beſtandes, aber nicht, um
weit von einander entfernt ſtehende Indi—
viduen zu kreuzen. Nur ſehr ausnahms—
weiſe mögen die von der Luft getragenen
Pollenkörner auch einmal auf weibliche
Blüthen eines weit entfernt ſtehenden In—
dividuums gelangen. Daß überdieß, wenn
während der Blüthezeit dieſelbe Windrichtung
herrſcht, die Kreuzung aller äußerſten Indivi-
duen auf der Windſeite unterbleibt, mag
als Nachtheil der Windblüthigkeit noch am
wenigſten ins Gewicht fallen. Jedenfalls
ſind aber die windblüthigen Archiſpermen
1) zu einer koloſſalen Pollenverſchwendung
genöthigt; 2) vermögen ſie im Allgemeinen
nur in einigermaßen geſchloſſenen Beſtänden
vorzurücken und ſind nicht im Stande, in
einzelne frei werdende Plätze der Nachbar—
gebiete ſich einzudrängen; 3) wird ihnen der
Vortheil einer Kreuzung mit unter ganz
anderen Lebensbedingungen aufgewachſenen
Individuen nur ausnahmsweiſe zu Theil.
Man ſieht leicht ein, daß der Uebergang
zur Inſektenblüthigkeit in allen drei Be⸗
ziehungen den Pflanzen von entſcheidendem
Vortheil ſein mußte, denn: 1) Wenn der
Blüthenſtaub ſich Inſekten anheftet, die
durch ein ſo mächtiges Intereſſe wie die
eigene Ernährung zum Beſuche zahlreicher
Blüthen derſelben Art getrieben werden,
fo iſt außer dem den Inſekten ſich anhef—
tenden und von ihnen auf die Narben an—
derer Blüthen übertragenen, und dem dabei
nutzlos verſtreuten nur noch ſo viel
Pollen erforderlich, als die übertragenden
Inſekten zu ihrer Ernährung bedürfen.
Ganze Wolken von Blüthenſtaub, welche
eine windblüthige Pflanze dem Winde an—
vertrauen muß, wenn mit einiger Wahr-
ſcheinlichkeit Kreuzung getrennter Individuen
erfolgen ſoll, werden alſo durch den Ueber-
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
I
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gang zur Inſektenblüthigkeit erſpart, und
das mußte für die Pflanzen von größtem
Vortheile ſein. 2) Trotz dieſer Erſparniß
wird die Kreuzung getrennter Individuen
durch den Uebergang zur Inſektenblüthigkeit
eine viel geſichertere. Die Inſekten, welche
mit beſtimmten Blüthen als ergiebigen
Nahrungsquellen einmal vertraut ſind, halten
ſich gern andauernd an dieſelben und ſuchen
ſie, in der Luft umher fliegend, auch in
größerer Entfernung auf. Inſektenblüthler
vermögen daher nicht nur in geſchloſſenen
Schaaren in noch unbeſetzte Landſtriche vor—
zudringen, ſondern auch in ſchon dicht be—
ſetzten Nachbargebieten einzelne frei ge—
wordene Stellen zu beſetzen oder im Einzel—
kampfe ſich neue Plätze zu erobern. Darin,
daß ſolche einzelne Vordringlinge an ver—
ſchiedenen Punkten ganz verſchiedenen gün—
ſtigen und feindlichen Einflüſſen, nament⸗
lich aber ganz verſchiedenen Combinationen
von Einwirkungen ſie umgebender Pflanzen
und Thiere ſich anzupaſſen haben, iſt offen-
bar ein Hauptgrund zu ſuchen, weshalb
mit dem Uebergange zur Inſektenblüthigkeit,
mit der Entſtehung der Blumen, die Man-
nigfaltigkeit der Pflanzenformen ſich fo
außerordentlich geſteigert hat, und an die
Stelle einförmiger Nadelwälder ein aus
den mannigfachſten Arten bunt zuſammen—
gewirkter Pflanzenteppich getreten iſt. Die
geſteigerte Möglichkeit, neue Wohnſitze zu
gewinnen, wenn auch oft nur unter erheb—
licher Abänderung ererbter Eigenthümlich⸗
keiten, iſt aber unſtreitig für die von der
Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit über-
gehenden Pflanzen ebenfalls ein bedeutender
Vortheil geweſen. 3) Wie die Darwin'-
ſchen Verſuche beweiſen, iſt es ein außer—
ordentlicher Vortheil für eine Pflanze, ſo—
wohl in Bezug auf die Kräftigkeit, als in
Bezug auf die Fruchtbarkeit ihrer Nach—
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
kommen, wenn ſie mit einem friſchen Stocke,
d. h. mit einem nicht verwandten und
unter ganz anderen Lebensbedingungen auf—
gewachſenen Individuum, gekreuzt wird.
Und dieſen außerordentlichen Vortheil, der
ihnen durch Vermittlung des Windes ge—
wiß nur ſelten zu Theil wird, ſichern ſich die
Pflanzen ebenfalls durch den Uebergang
zur Juſektenblüthigkeit.
Dieſen durchgreifenden Vortheilen ge—
genüber darf jedoch ein leicht verhängnißvoll
werdender Nachtheil nicht unerwähnt bleiben,
mit welchem der Uebergang zur Inſekten—
blüthigkeit faſt unvermeidlich verknüpft war.
Während nämlich die zur Kreuzung eines
einigermaßen dichten Beſtandes von Wind—
blüthlern erforderliche Luftbewegung während
der Blüthezeit derſelben wohl kaum jemals
fehlen wird, können beſtimmte Inſekten—
arten ſehr leicht während der ganzen Blüthe—
zeit einer Blume durch ſchlechtes Wetter
am Beſuche derſelben verhindert ſein, ſo
daß die Pflanze einer Kreuzung dann voll—
ſtändig verluſtig geht. Während ferner der
Wind ohne Wahl über die ganzen mit
Pflanzen bedeckten Flächen dahin ſtreicht
und allen Windblüthlern in gleicher Weiſe
als Uebertrager ihres Pollens dient, ſind
die Inſektenblüthler von der Wahl ihrer
Beſucher und der Concurenz, welche ihnen
andre Inſektenblüthler machen, in hohem
Grade abhängig und können daher auch
einmal bei nicht beſonders ungünſtigem
Wetter verblühen, ohne eine Uebertragung
ihres Pollens durch Inſekten zu erfahren.
Mit völligem Ausbleiben der Befruchtung
aber würde eine inſektenblüthig gewordene
Art erlöſchen müſſen.
Trotz der hervorragenden Vortheile,
welche die Kreuzung durch Vermittlung der
Inſekten darbietet, haben daher nur die—
jenigen, eine ſolche ermöglichenden Abände—
rungen der Windblüthler durch Naturzüch—
tung ausgeprägt werden können, welche zu—
gleich die in der Unſicherheit des Inſekten—
beſuchs liegende Gefahr beſeitigten. Nun
konnten aber die getrenntgeſchlechtlichen Wind—
blüthler überhaupt nur auf zweierlei Weiſe
zur Kreuzung durch beſuchende Inſekten ge—
eignet werden: 1) indem die getrenntge—
ſchlechtigen Blüthen zu Zwitterblüthen
wurden, ſo daß die beſuchenden Inſekten,
auch wenn fie nur auf Blüthenſtaub aus-
gingen, doch auch die weiblichen Befruch—
tungsorgane berühren mußten; 2) indem
ſie zwar getrenntgeſchlechtig blieben, aber
auch in den weiblichen Blüthen ein Genuß—
mittel darboten — wir kennen als ſolches
nur Honig (Nektar), — durch welches die
urſprünglich nur dem Pollen nachgehenden
Inſekten veranlaßt wurden, beiderlei Blüthen
gleichmäßig zu beſuchen. Im erſteren Falle,
wenn die Blüthen zwitterig wurden, war
damit zugleich die Möglichkeit der Selbſt—
befruchtung und damit die einfachſte und
ſicherſte Beſeitigung der Gefahr gänzlich
ausbleibender Befruchtung gegeben. Im
letzteren Falle, wenn in den getrenntge—
ſchlechtigen Blüthen ſich Honigabſonderung
einſtellte, welche die Inſekten zu gleichmäßi—
gem Beſuche der männlichen und weiblichen
Blüthen veranlaßte, konnte die Gefahr des
gänzlichen Unbefruchtetbleibens nur unter
beſonders günſtigen Umſtänden, durch äußerſt
wirkſame Anlockung einer niemals gänzlich
ausbleibenden Beſucherſchaar, beſeitigt wer—
den. Daher iſt die Mehrzahl der Wind—
blüthler nicht zur Inſektenblüthigkeit ge—
langt, ohne zugleich zwitterblüthig zu wer—
den. Nur äußerſt wenigen iſt dieß mit
Beibehaltung der Getrenntgeſchlechtigkeit,
durch bloße Honigabſonderung gelungen.
Von Pflanzen, welche durch Zwittrigwerden,
ohne Honigabſonderung, zur Inſektenblüthig⸗
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 111
keit gelangt ſind, iſt Welwitſchia als ein—
ziger bekannter Jnſektenblüthler unter den
Archiſpermen wohl das unzweideutigſte und
deshalb lehrreichſte Beiſpiel. Ihre honig—
loſen Blüthen ſind nur durch Zweigeſchlech—
tigkeit, Ausbildung einer großen, mit Pa—
pillen beſetzten Narbe und vielleicht durch
Klebrigwerden des Pollens lich finde keine
Bemerkung darüber) aus Windblüthen zu
Juſektenblüthen geworden. Ein ebenſo un—
zweideutiges und lehrreiches Beiſpiel der
anderen Art von Uebergang von Wind—
blüthigkeit zu Juſektenblüthigkeit bieten uns
unſere Weiden, die Arten der Gattung
Salix, dar, welche ſich, wie ihr Vergleich
mit der nächſtverwandten Gattung Populus
ergiebt, lediglich durch Honigabſonderung
in den eingeſchlechtigen Blüthen und durch
Klebrigwerden des Pollens einen nie ganz
ausbleibenden Beſucherkreis mannigfachſter
Inſekten geſichert hat, aber freilich nur
unter beſonders günſtigen Umſtänden und
mit theilweiſem Verzicht auf die Vortheile
der Inſektenblüthigkeit. Ein ſo reicher In—
ſektenbeſuch, wie er thatſächlich ſtattfindet
und zur Kreuzung der weiblichen Stöcke
mit den davon getrennten männlichen ſelbſt
bei wenig günſtigem Wetter ausreicht, wird
nämlich den Weiden bloß dadurch zu Theil,
daß ſie in einer Jahreszeit blühen, in der
ihnen von anderen Blumen noch ſehr wenig
Concurrenz gemacht wird, und daß ſie ihren
Beſuchern außer Honig eine außerordent—
liche Menge von Blüthenſtaub darbieten.
Der erſtere dieſer beiden günſtigen Um—
ſtände nun würde ſelbſtverſtändlich auf—
hören, wenn zahlreichere Windblüthler in
gleicher Weiſe wie die Weiden inſekten—
blüthig geworden wären, durch den anderen
zahlreiche Beſucher herbeilockenden Umſtand
aber, durch die Erzeugung einer außer—
ordentlichen Pollenmenge, verzichtet Salix
N 112
auf einen Hauptvortheil, den ſonſt die In—
ſektenblüthigkeit darbietet und der, gerade
in der Erſparung großer Pollenmengen
beſteht.
zwei verſchiedenen Arten des Uebergangs
von Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit
Iſt die ganze Abtheilung der Metaſpermen
als von einer und derſelben archiſpermiſchen
ſind für verſchiedene Zweige der Meta—
formen anzunehmen?
ſchen Thatbeſtande allein läßt ſich eine Ent—
ſcheidung dieſer für die Syſtematik höchſt
wichtigen Frage nicht gewinnen. Im gün—
ſtigſten Falle werden vielleicht die genaueſten
morphologiſchen Vergleiche der den Archi—
ſpermen noch am nächſten ſtehenden Meta—
ſpermen unter ſich und mit den Archi—
ſpermen den verwandtſchaftlichen Zuſam—
menhang erkennen laſſen. Aber es kann
wenigſtens für eine klare Frageſtellung bei
dieſen morphologiſchen Forſchungen nur für-
derlich ſein, wenn auch vom biologiſchen
Geſichtspunkte aus verſucht wird, die denk—
baren Fälle aus einander zu legen und die
für den einen oder andern ſprechenden Wahr—
ſcheinlichkeitsgründe hervorzuheben.
Man könnte ſich nun vorſtellen:
1) Bei einheitlichem Urſprunge der
Metaſpermen:
a) eine archiſpermiſche Pflanze
wäre im windblüthigen getrennt—
geſchlechtigen Zuſtande metaſper—
miſch geworden und ihre Abkömmlinge
wären zwar zum Theil windblüthig ge—
blieben, hätten ſich aber zum viel größeren
Theil, einerſeits durch Zwitterblüthigkeit,
andrerſeits durch Honigabſonderung bei
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
Die ſoeben erörterten Beiſpiele von
drängen uns unmittelbar zu der Frage:
Stammform abſtammend aufzufaſſen, oder
ſpermen verſchiedene archiſpermiſche Stamm
Aus dem biologi-
fortdauernder Getrenntgeſchlechtigkeit in In—
ſektenblüthler verwandelt. Dieſe Annahme
würde ſehr gut die Getreuntgeſchlechtigkeit aller
derjenigen Metaſpermen, in deren Blüthen
ſich keine Spur vorhergegangener Zwitter—
blüthigkeit erkennen läßt, als von archi—
ſpermiſchen Stammeltern ererbt erklären.
Sie würde natürlich zugleich die andere
Annahme nöthig machen, daß der Ueber—
gang zur Inſektenblüthigkeit durch Zwittrig—
werden, unabhängig von einander, bei den
Archiſpermen und bei den Metaſpermen
erfolgt ſei.
b) eine archiſpermiſche Pflanze
(Gnetacee?) wäre erſt nach Er-
langung zweigeſchlechtiger Inſek—
tenblüthen metaſpermiſch geworden.
Dann würde ſich die bei den Metaſpermen
ſo überwiegend häufig vorkommende Zwei—
geſchlechtigkeit und Inſektenblüthigkeit als
von den Archiſpermen ererbt erklären
laſſen. Welwitſchia könnte man dann
entweder als Abkömmling deſſelben archi—
ſpermiſchen Ur-Inſektenblüthlers, oder auch
als ſelbſtändig zur Inſektenblüthigkeit ge⸗
langt auffaſſen. Alle diejenigen getrennt-
geſchlechtigen Metaſpermen aber, in deren
Blüthen ſich keine Spur vorhergegangener
Zwitterblüthigkeit erkennen läßt, müßten
eben ſo gut wie diejenigen, deren männ—
liche und weibliche Blüthen durch überein—
ſtimmenden Bau und verkümmerte Ueber—
reſte des anderen Geſchlechts vorhergegangne
Zwitterblüthigkeit bekunden, als Abkömm⸗
linge zwitterblüthiger metaſpermiſcher In—
ſektenblüthler betrachtet werden. Die Weiden
würden dann, wenn wir bis zu den Stock—
pflanzen zurückgehen, als Ahnenreihe er—
halten: 1) getrennt-geſchlechtige archiſper—
miſche Windblüthler, 2) zwitterblüthige
archiſpermiſche Inſektenblüthler, 3) zwitter—
blüthige metaſpermiſche Inſektenblüthler,
N
trenntgeſchlechtigen, alle
WWW
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 113
4) getrenntgeſchlechtige metaſpermiſche Wind-
blüthler, ähnlich Populus, um ſich endlich
aus dieſen 5) in getrenntgeſchlechtige
metaſpermiſche Inſektenblüthler zu verwan—
deln. Die Unwahrſcheinlichkeit dieſer An—
nahme und vor Allem die Unmöglichkeit,
ſo verſchiedene männliche und weibliche
Blüthen, wie ſie ſich bei Corylus und
zahlreichen anderen windblüthigen Meta—
ſpermen finden, als aus gleichartigen
Zwitterblüthen hervorgegangen vorzuſtellen,
läßt, bei einheitlichem Urſprung der Meta—
ſpermen, kaum eine Wahl, die erſten
Metaſpermen als windblüthig und ge—
trenntgeſchlechtig anzunehmen.
2) Bei mehrfachem Urſprunge der
Metaſpermen
könnte man alle getrenntgeſchlechtigen Meta—
ſpermen, welche keine Spur vorherge—
gangener Zwitterblüthigkeit zeigen, von ge—
zwitterblüthigen
Metaſpermen von zwitterblüthigen Archi—
ſpermen herleiten. Es wäre aber auch
eine ſolche Mannigfaltigkeit anderer Aus—
nahmen möglich, daß es zu Nichts führen
kann, dieſe Möglichkeiten auszuſpinnen, ſo
lange nicht morphologiſche Unterſuchungen
dieſelben in enge Grenzen eingeſchloſſen und
vor Allem, fo lange dieſelben nicht über-
haupt einen mehrfachen Urſprung der Meta—
ſpermen wahrſcheinlich gemacht haben.
Mag nun der Urſprung der Meta—
ſpermen einheitlich oder mehrfach geweſen
ſein, mag ferner die bei den Archiſpermen
zuerſt entſtandene Umhüllung des Knospen—
kerns ſich bei den Metaſpermen zur Knospen—
hülle oder zum Carpell ausgebildet haben,
mag alſo die einfache oder doppelte Knospen—
hülle vor oder nach dem Carpell entſtanden
ſein, aus dem, was wir über die ur—
ſprüngliche Beſchaffenheit der Archiſpermen—
blüthe und über den Urſprung der Jn—
ſektenblüthigkeit feſtgeſtellt haben, laſſen ſich
wenigſtens einige Schlüſſe ziehen, welche
für die Erkennung des verwandtſchaftlichen
Zuſammenhanges der Metaſpermenfamilien
hier und da mit Vortheil verwendet werden
können: 1) Diejenigen getrenntgeſchlechtigen
Arten, deren männliche und weibliche
Blüthen keine Spur des anderen Geſchlechts
und keine Uebereinſtimmung im Bau zeigen,
wie z. B. die Cupuliferen, haben wahr—
ſcheinlich ihre Getrenntgeſchlechtigkeit von
windblüthigen Archiſpermen ererbt. 2) Die—
jenigen getrenntgeſchlechtigen Arten, deren
männliche und weibliche Blüthen Spuren
des anderen Geſchlechts und Ueberein—
ſtimmung im Bau erkennen laſſen, ſind
Abkömmlinge zwittriger Inſektenblüthler.
Ebenſo ſtammen auch 3) die zwittrigen
Windblüthler (Plantago, Gramineen 2c.)
von zwittrigen Inſektenblüthlern ab.
Wir haben im Vorhergehenden den
Urſprung der Blumen nur bis zu ihren
erſten Anfängen verfolgt. Sobald dieſelben
aber einmal erreicht waren, ſobald die
Kreuzung irgend welcher Pflanzen einmal
gänzlich von beſuchenden Inſekten abhängig
geworden war, ſtand der weiteren Aus—
rüſtung und Differenzirung derſelben ein
unabſehbar weites Feld offen. Die man-
nigfachſten Abänderungen konnten nun eine
vollkommnere Anpaſſung an die vorhan—
denen Lebensbedingungen oder eine Be—
ſetzung neuer, noch nicht ausgefüllter Stellen,
welche durch die immer mannigfaltiger wer—
denden Wechſelbeziehungen zwiſchen den Or—
ganismen bedingt waren, ermöglichen und
dadurch zur Entſtehung neuer Arten führen.
Die den Windblüthlern eigenthümliche und
nothwendige Pollenverſchwendung konnte be—
ſchränkt werden, indem fi die Zapfen—
oder Kätzchenform zur einfachen Blumenform
en
zuſammenzog. Die in der Luft umherflie—
genden Inſekten konnten durch Buntfärbung
und Vergrößerung der Blüthenhüllen oder
ſonſtige Steigerung der Augenfälligkeit oder
durch Entwickelung von Gerüchen wirkſamer
angelockt werden. Honigabſonderung konnte
die angelockten Beſucher zu eifrigerer Wie—
derholung ihrer Beſuche veranlaſſen. Be—
ſondere Flecken oder Linien um den Blü—
theneingang herum, beſondere Anflugflächen,
Rüſſelführungen u. ſ. w. konnten den Be—
ſuchern die Auffindung und Gewinnung des
Honigs erleichtern und damit zugleich ihre
Befruchtungsarbeit fördern. Haare, Sta—
cheln, ſpitze Vorſprünge, klebrige Drüſen
u. ſ. w. konnten die Blumen vor Entwen—
dung des Honigs durch unnütze Gäſte
ſchützen. Beſondere Geſtaltungen und Ent—
faltungszeiten der Blüthenhülle konnten be—
ſtimmten Beſuchern den ausſchließlichen Ge—
nuß des Honigs ſichern und dieſelben dadurch
Müller, Ueber den Urſprung der Blumen.
4
zu um ſo regelmäßigerem Beſuche veran-
laſſen. Beſtimmte Stellung und Entwicke—
lungsreihenfolge der Staubgefäße und Grif—
fel konnten eine Kreuzung getrennter Stöcke
durch die beſuchenden Inſekten unausbleiblich
machen. Alle dieſe und die mannigfachſten
ſonſtigen Abänderungen, deren bloße flüch—
tige Andeutung hier ſchon zu weit führen
würde, konnten denjenigen Inſektenblüthlern,
an welchen ſie auftraten, theils zum Siege
über ihre Concurrenten, theils zur Be—
ſetzung neuer, noch concurrenzfreier Stel—
len des Naturhaushaltes verhelfen und
mußten dann durch Naturausleſe erhalten
und ausgeprägt werden, und theils zu wei—
terer Vervollkommnung der einmal vorhan-
denen, theils zur Ausbildung immer neuer
Blumenarten führen. Einzelne dieſer Ab—
änderungen und ihre Wirkung auf die
Naturzüchtung der Blumen werde ich in
ſpäteren Aufſätzen klar zu ſtellen verſuchen.
Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche,
erläutert an den FJormenkreiſen der Gallung Rubus.
Von
Wilhelm Olbers Jocke.
or zwanzig Jahren ſchien noch
wenig Ausſicht vorhanden zu
Y2 fein, daß es ſchon bald gelin—
Der e .
Se gen werde, eine einigermaßen
klare Einſicht in die Entſtehungs—
geſchichte der organiſchen Arten zu erhalten.
Allerdings hatte ſich damals allen unbefange—
nen Beobachtern längſt die Wahrnehmung
aufgedrängt, daß die Grenzen der „Species“
des Thier- und Pflanzenreichs in vielen
Fällen unſicher ſind. Es war indeß noch
ſehr zweifelhaft, ob dieſe Unſicherheit eine
wirklich in der Natur begründete, oder ob
ſie nicht vielmehr nur eine ſcheinbare ſei.
Die allgemeine Annahme ging dahin, daß
die Urſache jeglicher Un gewißheit über den
wahren Umfang der Arten in der Mangel—
haftigkeit unſerer Kenntniſſe geſucht werden
müſſe. Mit dieſer Anſicht ſtand freilich eine
auffallende Erfahrung in grellem Wider—
ſpruche. Unſer Wiſſen in der Naturkunde
wuchs von Jahr zu Jahr an, aber die
Zweifel über den Umfang der Arten ver—
minderten ſich nicht nur nicht in entſpre—
chendem Maße, ſondern traten in ſtets zu—
nehmender Häufigkeit hervor. Allerdings
glückte es zuweilen einmal, über die Arten
einer einzelnen Formenreihe zu größerer
Klarheit zu gelangen, allein im Großen
und Ganzen tauchten für jeden beſeitigten
Zweifel ſicherlich zehn bisher ungeahnte
wieder auf. Man ſprach aber nicht gern
über ſolche unangenehme Erfahrungen; man
behielt ſie meiſtens für ſich und ſuchte ſie
wo möglich ſelber zu vergeſſen. Glaubte
doch Jeder ſich ein Armuthszeugniß auszu—
ſtellen, wenn er geſtand, daß er über die
Artgrenzen in dieſer oder jener Gruppe
nicht in's Reine kommen könne.
Unter den Pflanzen hatte eine Zeitlang
die Gattung Salix (Weide) eine gewiſſe
Berühmtheit als „botanicorum erux atque
scandalum“ genoſſen; es war daher ein
bedeutender Triumph, als es gelang, durch
Ausſcheidung der Baſtarde die Artgrenzen
unter den Weiden wieder ſchärfer zu ziehen.
Die Roſen und Hieracien waren in Koch's
deutſcher Flora in einer Weiſe dargeſtellt
worden, welche vorläufig befriedigte. Ueber
die Brombeeren (Rubus) waren die An—
ſichten indeß ſehr getheilt. Wer ſich dieſe
Pflanzen auch nur oberflächlich im Freien
16
116 Focke, über den Artbegriff im Pflanzenreiche.
*
zu ſein ſchienen, ſondern auch eine ganze
anſah, mußte ſich bald überzeugen, daß die |
Anzahl von Formen, die ich mit größerem
Formen derſelben doch zu weſentlich von
einander abweichen, um ſie mit gutem Ge—
wiſſen alle für Varietäten einer und der—
ſelben Art erklären zu können. Dagegen
meinte man gewöhnlich, daß Weihe und
Nees, die über 40 Arten unterſchieden
hatten, doch wohl zu weit gegangen ſeien.
Bei dieſer Lage der Dinge war es na—
türlich, daß ich meine Aufmerkſamkeit auch
auf die Brombeeren richtete, als ich um
Mitte der fünfziger Jahre nach Formen—
gruppen ſuchte, welche über das Weſen von
„Species“ und „Varietas“ Aufſchluß zu
verſprechen ſchienen. Die erſten gelegent—
lichen Verſuche, mich in der Gattung zu
orientiren, waren nicht beſonders erfolgreich.
Als ich aber im Sommer 1857 nach Wien
kam, fiel mir dort der Kubus tomentosus
auf, eine charakteriſtiſche Brombeere, die ich
drei Jahre früher am Rhein kennen gelernt
hatte. Hier ſah ich alſo eine Pflanze vor
mir, die ihren Typus in verſchiedenen
Gegenden treu zu bewahren ſchien, vie aber
von den meiſten Botanikern nur für eine
„Varietät“ des Rubus fruticosus ge—
halten wurde. Es lag daher die Ver—
muthung nahe, daß R. tomentosus eine
halb fertige Art oder eine der wirklichen
„Species“ ſchon ſehr genäherte Mittelform
oder Uebergangsſtufe zwiſchen Varietät und
Art ſein möchte. Dieſer Umſtand erregte
mein lebhafteſtes Intereſſe, ſo daß ich ſofort
mit einer genaueren Unterſuchung der öſter—
reichiſchen Brombeeren den Anfang machte.
Freilich überzeugte ich mich bald, daß meine
Vermuthung in Betreff des R. tomentosus
irrig geweſen war, da ſich derſelbe in jeder
Beziehung wie eine durchaus ſelbſtändige Art
verhielt. Indeſſen fand ich nicht nur einige
weitere Brombeertypen, die eine beträchtliche
Verbreitung beſaßen und mir wirkliche Arten
Rechte als den R. tomentosus für Mittel
ſtufen zwiſchen Varietäten und Arten halten
durfte. Endlich entdeckte ich auch unfrucht—
bare Zwiſchenformen, deren Baſtardnatur
mir nicht zweifelhaft ſein konnte. Als
ich nun die ſo gewonnenen Anſichten wäh—
rend der folgenden Jahre in Norddeutſch—
land zu prüfen ſuchte, machte ich die Wahr—
nehmung, daß die Brombeeren der nieder—
deutſchen Ebenen von den öſterreichiſchen
weit mehr abwichen, als ich vorausgeſetzt
hatte. Dieſer Umſtand war der Vorſtellung,
daß es ſich in der betrachteten Formen—
gruppe vielfach um werdende Arten handle,
nicht ungünſtig.
Durch die Bekanntſchaft mit Darwin's
„Entſtehung der Arten“ gewannen dieſe
Anſchauungen eine feſtere Geſtalt. Die Fülle
von Stoff, welche der große Naturforſcher
in jenem Werke der Wiſſenſchaft bot, ſowie
die neuen Geſichtspunkte, unter welchen er
die Thatſachen betrachtete, mußten auf Jeden,
der ſich bereits mit den dort behandelten
Fragen näher beſchäftigt hatte, einen außer—
ordentlichen Eindruck machen. Ich erhielt
dadurch eine wirkſame Anregung, die be—
gonnenen Brombeerſtudien mit neuem Eifer
aufzunehmen. Wenn ich auch bald erkannte,
daß zu Unterſuchungen über das Weſen der
Arten andere Formenkreiſe ſich beſſer eig—
nen dürften als die Brombeeren, jo mahn—
ten mich gerade die ungewöhnlichen Schwie—
rigkeiten des einmal gewählten Arbeitsge—
bietes zur Ausdauer. Es erwies ſich bald
als unerläßlich, mich ſchon um der Rubi
willen mit einer ganzen Reihe von bio—
logiſchen Fragen eingehend zu beſchäftigen,
ſo wie Seitenblicke auf zahlreiche andere
formenreiche Pflanzengruppen zu werfen.
Jetzt, nach zwanzigjährigen Brombeerſtudien,
habe ich mich entſchloſſen, über die Ergeb—
niſſe dieſer Unterſuchungen Rechenſchaft ab-
zu einer Schilderung der Formenkreiſe
zulegen. Ich bin weit entfernt, die Auf—
gabe durch Veröffentlichung der betreffenden
Schrift (Synopsis Ruborum Germaniae)
als gelöſt zu betrachten, glaube vielmehr,
daß das von mir zunächſt erſtrebte Ziel,
die Analyſe des ehemaligen Sammelbegriffs
Rubus fruticosus, nur der Ausgangs—
punkt für eine ſtreng wiſſenſchaftliche For—
ſchung iſt. Die einfache Beobachtung wird
freilich zunächſt wenig mehr leiſten können,
als daß ſie zu den Hunderten bekannter
Formen neue Hunderte hinzufügt. Darin
würde ich an und für ſich keinen großen
Gewinn erblicken. Zum Zweck einer wirk—
lichen Förderung unſerer wiſſenſchaftlichen
Einſicht werden wir einen andern Weg,
nämlich den der experimentalen Prüfung,
betreten müſſen.
Die Frage nach dem Weſen und der
Entſtehung der Arten iſt eine ſo vielſeitige
und verwickelte, daß es kaum zweckmäßig
ſein dürfte, dieſelbe innerhalb des Rahmens
eines einzelnen Aufſatzes nach allzu verſchie—
denen Richtungen zu erörtern. Schon die
Unterſuchung der Brombeeren bietet man—
nichfaltige Geſichtspunkte, von welchen aus
die einzelnen Seiten des Gegenſtandes be—
trachtet werden können. Eine Beſchränkung
ſcheint daher in Bezug auf die zu beſpre—
chenden Fragen unumgänglich nothwendig
zu ſein, während andrerſeits die in der
Gattung Rubus beobachteten Thatſachen nur
dann richtig gewürdigt werden können, wenn
ſie mit analogen Erſcheinungen innerhalb
anderer Formengruppen verglichen werden.
Ich möchte daher zunächſt auf einige all-
gemeine Eigenſchaften der Arten
oder Formenkreiſe aufmerkſam machen, und
zwar auf ſolche, deren Berückſichtigung mir
für das Verſtändniß der bei den Brom—
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
117
beeren zu beobachtenden Verhältniſſe beſon—
ders wichtig erſcheint. Sodann werde ich
unter unſeren deutſchen Brom—
beeren und ihrer gegenſeitigen Beziehungen
übergehen. Daran wird ſich eine Ver—
gleichung der entſprechenden bei
andern Artengruppen beobachteten
| Thatſachen reihen; endlich werde ich die
Ergebniſſe
dieſer Studien kurz zu-
ſammenfaſſen, und auf den Weg hinwei—
ſen, deſſen Verfolgung weitere Aufſchlüſſe
verſpricht.
Die allgemeinen Eigenſchaften
der Arten, die mir bei einer Würdigung
der in der Gattung Rubus beobachteten
Thatſachen beſonders beachtenswerth erſchei—
nen, ſind insbeſondere die Ungleich—
werthigkeit der Arten und die rein
relative Bedeutung jedes einzel—
nen Axtbegriffs. Vorher will ich nur
kurz hervorheben, daß die allgemeine Be—
zeichnung „Varietät“ wiſſenſchaftlich völlig
werthlos iſt. Als Varietäten hat man indi—
viduelle Abänderungen, durch den Standort
bedingte Zuſtände, Krankheitsprodukte, Miß—
bildungen, Baſtarde, unbeſtändige Spiel—
arten und conſtante Racen in buntem Ge—
menge neben einander aufgeführt. Nur die
in der Folge der Generationen durch be—
ſtändig wiederkehrende Merkmale ausge—
zeichneten „Racen“ können bei Unter—
ſuchungen über die Speciesfrage neben den
„Arten“ in Betracht kommen. Durch
deutliche Unterſchiede charakteriſirte Racen,
von denen mehrere einander nahe verwandte
den Formenkreis einer Art in weiterem
Sinne (Geſammtart) zuſammenſetzen, nenne
ich Unterarten. Daß die Racen andrer—
ſeits durch unmerkliche Uebergänge mit den
Spielarten, individuellen Abänderungen und
Baſtarden zufammenhängen, braucht wohl
5
118
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
kaum erwähnt zu werden. — Was nun
den Artbegriff ſelbſt betrifft, ſo ſind be—
kanntlich die Meinungen darüber ſehr ge—
theilt, ob die alten, oft viele Racen um—
faſſenden Species oder die neuerdings ſchärfer
unterſchiedenen Unterarten und Racen die
wahren und echten Arten ſind. Nur vom
Standpunkte der Conſtanzhypotheſe kann
man dieſer Frage ein wiſſenſchaftliches In—
tereſſe abgewinnen, da ſie in Wirklichkeit
nur eine rein formale Wichtigkeit hat. Es
ſchließt ſich indeß an die Unterſcheidung der
Unterarten und Geſammtarten die Frage
nach der Natur des Artbegriffs an,
da die Anhänger der Conſtanzhypotheſe die
Arten für geſchloſſene Complexe, für abſo⸗
lute Weſenheiten halten. Ein Blick auf die
thatſächlichen Verhältniſſe zeigt jedoch, daß
der Artwerth eines Formenkreiſes niemals
an und für ſich, ſondern ſtets nur unter
Bezugnahme auf andere Formenkreiſe be—
ſtimmt werden kann. Jede pflanzenform,
die heut. als Unterart oder nach bisherigem
Sprachgebrauche als „Varietät“ erſcheint,
würde ſofort den Rang einer „guten Art“
erhalten, wenn die andere Form, der ſie
untergeordnet oder nebengeordnet wird, nicht
mehr exiſtirte. Der Artwerth iſt daher ein
relativer Begriff; er wird abgemeſſen
nach der Weite der Kluft, welche den un—
terſuchten Formenkreis von andern Formen—
kreiſen trennt.
Indeß möchte ich die Ungleichwerthig—
keit der Arten noch etwas ausführlicher
beſprechen, da das gewöhnliche Verfahren
der Syſtematiker, die Arten gleichberechtigt
neben einander aufzuführen, die wirklichen
Thatſachen ſehr unvollkommen zum Aus—
druck bringt. Die Arten ſind ungleich—
werthig in Beziehung auf Selbſtändigkeit,
Umgrenzung, Bildſamkeit, Formenreichthum,
Individuenzahl und Verbreitung; dieſe Un—
gleichwerthigkeit beruht nicht etwa auf Män—
geln unſeres Unterſcheidungsvermögens, ſon—
dern ſie iſt eine natürlich begründete; ſie
bleibt beſtehen, ob man weite oder enge
Arten annimmt, ob man die Grenzen
zwiſchen ihnen hierhin oder dorthin ver—
ſchiebt.
Wenn ſich die Thatſache der Ungleich—
werthigkeit der Arten zunächſt auch nur aus
der unmittelbaren Beobachtung ergiebt, ſo
ſprechen doch zwingende Gründe dafür, daß
dieſe Ungleichheiten nicht zufällig entſtanden
ſind, ſondern ſtets auf Naturnothwendigkeit
beruhen und in jedem einzelnen Falle mit
der geſchichtlichen Entwickelung der betreffen—
den Formenreihe zuſammenhängen. Aller-
dings ſetzt die Abſtammungslehre voraus,
daß die organiſchen Geſtalten bildſam und
wandlungsfähig ſind, jedoch nur im Sinne
geſetzmäßiger Fort- oder Rückbildung. Dieſe
Anſchauungsweiſe ſchließt durchaus nicht die
Anerkennung der Thatſache aus, daß es
Arten giebt, welche gegenwärtig ſtreng un—
veränderlich ſind, wenn auch angenommen
werden muß, daß fie ihre Biegſamkeit erſt
im Laufe ihrer geſchichtlichen Entwickelung
verloren haben. Wie von den menſchlichen
Bauwerken, welche zur Römerzeit in Deutjch-
land ſtanden, faſt nichts mehr erhalten iſt,
ſo ſind auch die Pflanzenformen des mio—
cänen Alters bis auf ſpärliche Ueberbleibſel
von der Erdoberfläche verſchwunden. Frei—
lich giebt es einzelne Ausnahmen: Wie eine
Porta nigra ragt z. B. das miocäne Taxo-
dium distichum in die Gegenwart hinein.
Es fragt ſich nun, ob ſich der Vergleich
weiter ausführen läßt, ob man glauben
darf, daß die miocänen pflanzlichen Zeitge—
noſſen des Taxodium zerſtört, die moder—
nen inzwiſchen aus anorganiſchen Stoffen auf-
gebaut worden ſind, wie es ſeit den Römer—
tagen mit menſchlichen Bauwerken geſchehen
iſt? Wer etwa geneigt fein ſollte, dieſe
Frage zu bejahen, wird zunächſt wohl
daran thun, die miocänen und pliocänen
Tulpenbäume, Platanen, Amberbäume,
Kaſtanien, Buchen und Lorbeeren mit den
lebenden zu vergleichen. Wenn man die
Abſtammung des heutigen Taxodium von
feinen miocänen Vorfahren für ſelbſtver—
ſtändlich hält, ſo iſt kein Grund vorhanden,
weshalb man die Vorläufer der heutigen
Vertreter der andern genannten Baumgat—
tungen nicht für deren wirkliche Vorfahren
oder Stammväter halten will. Der Grad
der Verſchiedenheit zwiſchen der alten und
neuen Form iſt beim Taxodium faſt gleich
Null, erreicht aber in andern Gattungen
allmälig etwas höhere Werthe. Nirgends
zeigt fi die Möglichkeit einer ſcharfen Ab—
grenzung. Analog den zeitlich getrennten
Lebensformen der Vorzeit und Gegenwart
verhalten ſich auch die räumlich getrennten
verwandten Formenkreiſe, welche wir noch
heute neben einander beobachten können und
an denen wir vergebens nach den Grenzen
ſuchen, wo die Varietät aufhört, die neue
Art anfängt.
Dieſe Betrachtungen, die ſich leicht weiter
fortführen laſſen, müſſen nothwendig den
lebhaften Eindruck hinterlaſſen, daß die
Arten ihrem innerſten Weſen nach ungleich—
werthig find. Das altehrwürdige Taxo-
dium dürfen wir gewiß mit vollem Rechte
für eine wirklich conſtante und unveränder—
liche Art halten; wir haben nicht den geringſten
Grund zu vermuthen, daß es fähig ſein wird,
in Zukunft Aenderungen einzugehen, da wir
wiſſen, daß es ſeit unabſehbar langer Zeit un—
verändert geblieben iſt. Wir müſſen ferner
zahlreiche andere Formen nach hiſtoriſchem
Maße für conſtant halten, da wir wiſſen,
daß ſie ſchon in oder vor der Diluvialzeit
vorhanden waren, ſich alſo während geo—
| Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
119
logiſch meßbarer Zeitabſtände als beſtändig
bewährt haben. Leichte Abweichungen, wel—
chen man bei lebenden Pflanzen nicht ſelten
ſpecifiſchen Werth beilegt, laſſen ſich freilich
an dem foſſilen Material gewöhnlich nicht
erkennen. Merkwürdiger Weiſe kommen die
Anhänger der Hypotheſe von der Conſtanz
der Species noch immer darauf zurück, daß
das Stroh in altägyptiſchen Ziegeln ebenſo
ausſieht wie heutiges Stroh. Man braucht
aber in der Vergangenheit gar nicht weit
über das Pyramidenalter hinauszugehen,
um organiſche Bildungen anzutreffen, die
keineswegs mehr vollkommen mit den heu—
tigen Lebensformen übereinſtimmen. Schon
auf das Zeugniß der Pfahlbauten kann
man ſich nicht mehr ſo unbefangen berufen,
wie auf das des Pharaonenſtrohs, wenn
man für die Unveränderlichkeit der Arten
plädiren will; jeder Schritt weiter rückwärts
führt uns merklich näher an das Zeitalter
fremdartiger Thier- und Pflanzentrachten
heran.
Die ſprechenden Beweiſe für die Con—
ſtanz und für die Plaſticität der Typen
findet der Forſcher auf jedem Wege, den
er verfolgt, neben einander vor. Merk—
würdiger Weiſe iſt die geiſtige Organiſa—
tion vieler Menſchen ſo beſchaffen, daß
Manche nur die erſte Reihe von Thatſachen
als beachtenswerth aufnehmen, während
Anderen nur die zweite in's Auge fällt.
Die unbefangene Forſchung wird beide Er—
ſcheinungen als Folgen von Erblichkeit und
Variabilität zu würdigen wiſſen und wird
beide für das Verſtändniß der Entwickelungs⸗
geſchichte der Arten verwerthen.
Die vorſtehenden Bemerkungen über
Artbegriff und Artwerth dürften dazu die⸗
nen, die Bedeutung der ſpeciellen Unter-
ſuchungen über die deutſchen Brom—
beerformen ſchärfer zu beleuchten. Die
5
120
Thatſachen, welche man ſonſt nur im Ueber—
beobachten kann, treten auf dem engen Ge—
biete der Brombeerforſchung ſchon in der
Gegenwart und innerhalb kleiner Areale
hervor. Deutſchland iſt nicht groß genug
und klimatiſch zu wenig gegliedert, um
innerhalb der Landesgrenzen den Umfang
der Variation der Arten beſonders häufig
und deutlich zu zeigen. Frankreich und
Oeſterreich-Ungarn ſind in dieſer Beziehung
mehr begünſtigt. Die Brombeeren ſind in—
deß ſchon auf kleinen Arealen durch Formen
von offenbar völlig verſchiedenem Artwerth
und verſchiedener Beſtändigkeit vertreten.
Die Brombeeren ſind allbekannte Pflan—
zen; über ihre Eigenthümlichkeiten möchte
ich nur bemerken, daß ſie ſehr langlebig
ſind und das Vermögen beſitzen, ſich durch
Wurzelbrut oder durch einwurzelnde Schöß—
linge zum Theil ſehr ſchrell auf vege⸗
tativem Wege auszubreiten. Ihre offenen
Blüthen werden von mancherlei Inſecten
beſucht, welche theils eine Fremdbeſtäu—
bung, theils eine Selbſtbefruchtung vermit—
teln. Als Arten unterſchied Linné den
Rubus caesius und Rubus fruticosus,
welche jedoch durch Uebergangsformen ver—
bunden ſind. Gewöhnlich haben die Botaniker
Alles, was nicht deutlicher R. caesius war,
R. fruticosus genannt. Die Himbeere, R.
Idaeus, kommt bei Unterſuchungen über die
(ſchwarzfrüchtigen) Brombeeren zunächſt nicht
in Betracht. 5
Die erſte Frage, welche bei einer Um—
ſchau über die Formenkreiſe der deutſchen
Rubi zu beantworten iſt, wird die nach
Brombeeren ſein.
Conſtanzlehre, welche, wie z. B. Wigand
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
blick über große Raum- und Zeit-Abſchnitte
der ſpecifiſchen Einheit oder Vielheit unſerer |
Es giebt Anhänger der
(Darwinismus I, ©. 23), behaupten, alle
einheimiſchen Brombeeren ſeien nur Varie—
täten einer Art, ſeien alſo nach der Con—
ſtanzdoctrin aus einer einzigen Stammform
hervorgegangen. Wenn ſich dieſe Anſicht
thatſächlich beweiſen ließe, ſo würde die Ent—
wickelungslehre einen großen Triumph feiern.
Wer die Möglichkeit zugiebt, daß ſo ver—
ſchiedene Pflanzenformen, wie die euro—
päiſchen Brombeeren, ſich binnen eines ge—
gegebenen Zeitraums aus einer einheitlichen
Stammart entwickeln können, wird nur einer
entſprechend längeren Zeit bedürfen, um
fi die Differenzirung urſprünglich homo—
gener Formenkreiſe in verſchiedene Unter—
gattungen und Gattungen als möglich zu
denken. Dadurch würde er mitten in der
Entwickelungstheorie ſtehen.
Um einen Begriff zu geben von dem
wirklichen Betrage der Unterſchiede zwiſchen
den vermeintlichen „Varietäten“ des Lin—
neben Kubus fruticosus, ſei hier nur
bemerkt, daß der geſchulteſte Syſtematiker,
der ſich noch nicht mit der Gattung Rubus
beſchäftigt hat, außer Stande ſein würde,
in einer gemiſchten Sammlung europäiſcher
und verwandter amerikaniſcher Brombeeren
zu beſtimmen, was europäiſcher Kubus
fruticosus und was „gute amerikaniſche
Species“ iſt.
Wenn auch für die experimentale For-
ſchung über die Formenkreiſe der Brombeeren
noch ſehr viel zu thun übrig bleibt, ſo
laſſen doch die Beobachtungen in der freien
Natur kaum einen Zweifel übrig, daß ſich
zahlreiche Brombeerformen ſexuell ganz wie
verſchiedene Arten verhalten. Obgleich ſolche
verſchiedene Formen dicht verſchlungen durch
einander wachſen, obgleich zahlreiche In—
ſecten ohne Wahl von Blüthe zu Blüthe
fliegen, findet nur ausnahmsweiſe Arten-
kreuzung ſtatt. Die intermediären und allem
Anſchein nach hybriden Formen dagegen,
welche dennoch nicht ſelten entſtehen, zeigen
meiſtens, ganz wie die Artbaſtarde, eine
ſehr verminderte Fruchtbarkeit. — Die Frage,
ob die europäiſchen Brombeeren eine einzige
Art bilden, dürfte damit wohl als erledigt
zu betrachten ſein. Eine Vereinigung iſt
nach allen ſyſtematiſchen Regeln unmöglich,
mag man auch den Artbegriff ſo weit faſſen,
wie man will.
Während es demnach nicht zweifelhaft
fein kann, daß es mehr als eine europäiſche
Brombeerart giebt, iſt es andrerſeits voll—
ſtändig unmöglich, zu ſagen, wie groß deren
Zahl eigentlich iſt. Wenn man den Verſuch
machen will, ſich eine annähernde Ueberſicht
über dieſe Formen zu verſchaffen, ſo wird
man zunächſt die ausgezeichnetſten Typen
herausheben müſſen. Gewiß wird man
allgemein anerkennen, daß die durch aus—
geprägte morphologiſche und biologiſche
Eigenthümlichkeiten charakteriſirten Formen
vor allen Dingen Beachtung verdienen;
in zweiter Linie wird man auch Häufigkeit,
Umfang des Wohngebiets, Beſtändigkeit,
ſcharfe Umgrenzung und Fruchtbarkeit in
Betracht ziehen. Nach ſolchen Grundſätzen
geſichtet, habe ich in Deutſchland 34 ver—
breitete und gut charakteriſirte Arten unter
ſchieden, von denen jedoch drei keine ho—
mogenen Formenkreiſe, ſondern Sammelarten
darſtellen. Dieſen 34 Arten ſchließen ſich
zunächſt 30 weitere Arten an, welche in ihrer
Tracht und ihren Eigenſchaften kaum weniger
ſelbſtändig erſcheinen, aber noch nicht als über
größere Gebiete verbreitet nachgewieſen ſind.
Zählt man ſtatt der drei Sammelarten
die wichtigeren Unterarten mit, in welche
dieſelben zerfallen, ſo erhält man im Ganzen
etwa 80 bemerkenswerthe Formenkreiſe
unter den deutſchen Brombeeren. Bei ge—
nauerer Bekanntſchaft mit der ſüddeutſchen
Rubus-Flora wird ſich dieſe Zahl noch er—
heblich vermehren, jo daß man annehmen
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
121
kann, daß in Deutſchland im Ganzen etwa
100 ſelbſtändige und einigermaßen ver—
breitete Brombeerarten vorhanden ſind. Es
bleibt indeß unter allen Umſtänden die
Grenzlinie zwiſchen den wichtigeren und den
unwichtigen Arten eine willkürliche. —
Offenbar wird aber für Denjenigen, der
ſich in dem Formengewirre zunächſt nur
orientiren will, das Bedürfniß nach einer
genügenden Würdigung der aus der Be—
trachtung vorläufig ausgeſchloſſeuen Formen—
kreiſe ſehr gering ſein, da es ihm ſicherlich
viel mehr auf eine weitere Auswahl oder
Ordnung unter den 100 oder 80 oder 34
wichtigeren Arten ankommt. Es verſteht
ſich von ſelbſt, daß überhaupt nur von
fruchtbaren und ſamenbeſtändigen Arten die
Rede ſein kann; freilich war es bisher un—
möglich, die Beſtändigkeit jeder einzelnen
Form durch Maſſenausſaat der Früchte
von Blüthenzweigen, die vor Hybridiſation
geſchützt waren, zu prüfen, allein die bisher
vorliegenden Erfahrungen geſtatten nicht,
an der Conſtanz jener Arten zu zweifeln.
Während nun die wichtigeren Brombeerarten
ſich in Fruchtbarkeit und Stetigkeit durchaus
wie normale Species verhalten, zeigen ſie
eine bemerkenswerthe Anomalie in der Be—
ſchaffenheit ihres Blüthenſtaubes. Derſelbe
beſteht nämlich meiſtens nicht aus lauter
gleichartigen, regelmäßigen Körnern, ſondern
enthält neben ſolchen wohlgebildeten Be⸗
ſtandtheilen eine größere oder geringere
Beimiſchung von verkümmerten, mißgeſtalteten
oder doch unregelmäßig geformten Körnern,
die bei Befeuchtung oft nur unvollkommen
aufquellen. Nur drei deutſche Brombeer⸗
arten, nämlich R. ulmifolius, tomentosus
und caesius, machen eine Ausnahme, indem
bei ihnen die Pollenkörner ganz regelmäßig
gebildet ſind. Die Beſchaffenheit des Blüthen⸗
ſtaubes der andern Arten iſt genau dieſelbe,
122
wie man fie bei fruchtbaren Baſtarden an—
zutreffen pflegt. Bei unfruchtbaren, offenbar
hybriden Brombeerformen iſt der Blüthen—
ſtaub manchmal aus lauter verſchrumpften
ſein, zu glauben, daß außer den drei ge—
nannten Arten alle andern deutſchen Brom—
beeren hybriden Urſprungs ſeien. Bei
dieſer Annahme ſtößt man indeß auf die
Schwierigkeit, daß man keine Stammarten
teriſirten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen—
ſtaub möglicherweiſe ableiten könnte. Man
ſähe ſich daher zu der mißlichen Ver—
muthung gedrängt, daß die meiſten ur—
ſprünglichen Stammarten unſerer heutigen
Brombeeren ausgeſtorben ſeien. Es würde
viel zu weit führen, wenn ich hier die Frage
nach der Bedeutung des irregulären Blüthen-
Die wichtigſten derſelben ſind unzweifelhaft
ſtaubes ausführlich erörtern wollte, zumal
da es nicht möglich iſt, ſich mit Beſtimmtheit
über die Urſachen dieſer Erſcheinung aus—
zuſprechen. Gewiß iſt nur ſo viel, daß die
drei Brombeerarten mit regulärem Pollen
durch ausgeprägte Eigenthümlichkeit und
weite Verbreitung alle andern Arten über—
treffen. Ganz ſcharf ſcheint indeß die
Grenzſcheide zwiſchen den Arten mit gleich-
körnigem und denen mit ungleichkörnigem
Blüthenſtaub nicht zu ſein. Es giebt z. B.
eine Brombeerart, welche ich R. gratus
genannt habe, in deren Blüthenſtaub die
Beimiſchung der verbildeten Körner ſo gering
iſt, daß ſie für zufällig gehalten werden
könnte. Dieſe Art zeigt keinerlei nähere
Verwandtſchaft mit einer jener drei Haupt⸗
arten mit regulärem Pollen; ſie iſt aber
bis jetzt erſt innerhalb eines ſehr mäßigen
Verbreitungsbezirkes nachgewieſen, deſſen
äußerſte Punkte Lübeck und Aachen ſind.
Zwar reicht das Wohngebiet des K. gratus
wahrſcheinlich viel weiter, allein es bleibt
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
nichtsdeſtoweniger ein beſchränktes. An
R. gratus reiht ſich im Hinblick auf die
Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes zunächſt
R. Arrhenii an, eine trefflich charakteriſirte,
Körnern gebildet. Man könnte nun geneigt
aber bisher nur zwiſchen Flensburg und
Burgſteinfurt nachgewieſene Art. Dann
folgt etwa R. sulcatus, der allerdings in
faſt ganz Mitteleuropa vorzukommen ſcheint.
Nach der Verbreitung geordnet, würden
ſich indeß andere Formenkreiſe (R. bifrons,
vorfindet, von welchen man die beſtcharak—
villicaulis, plicatus, suberectus, vestitus,
rudis, Bellardii, hirtus u. ſ. w.) neben
dem R. suleatus als die wichtigſten an
die Arten mit regulärem Pollen anreihen.
Noch etwas anders ſtellt ſich die Sache,
wenn man im Anſchluß an die bisher be—
trachteten Verhältniſſe nach den Arten mit
den ausgeprägteſten Eigenſchaften, alſo nach
den am meiſten differenzirten Typen ſucht.
unter den bereits genannten Arten vertreten,
aber es giebt auch manche gut umgrenzte
Arten mit ſehr kleinem Wohngebiete.
Ohne in die ſpeciellere Unterſuchung
dieſer Verhältniſſe näher eingehen zu wollen,
will ich nur erwähnen, daß ich außer den
drei Arten mit regulärem Pollen ſechs
weitere Grundtypen aufgeſtellt habe, an
welche ſich die ſämmtlichen deutſchen Brom⸗
beeren anreihen laſſen. Dieſe Grundtypen
ſind zum Theil durch eine Anzahl nahe
verwandter, wohlcharakteriſirter, einander
ziemlich gleichwerthiger Arten repräſentirt. In
andern Fällen reihen ſich an einen Grund—
typus ähnliche, aber eigenthümlich ent⸗
wickelte und mehr iſolirt daſtehende Arten
an, welche ich als Nebentypen bezeichnet
habe. Die große Maſſe der übrigen deutſchen
Brombeeren beſteht indeß aus Mittel-
formen. Dieſe Mittelformen ſind gewiß
keine einfachen Baſtarde, ſondern ſind durch
Verbreitung, Beſtändigkeit und Fruchtbarkeit
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 123
als wirkliche Arten charakteriſirt, obgleich
die Vermuthung nahe liegt, daß ſie ſich
urſprünglich einmal aus Baſtarden ent—
wickelt haben. — Es giebt nun alle denk—
baren Mittelſtufen zwiſchen weitverbreiteten
beſtändigen Arten einerſeits und ganz lokal
auftretenden Formen und Abänderungen
andrerſeits; auch dürfte es ſchwer ſein,
zwiſchen Arten und Baſtarden eine ſcharfe
Grenze zu finden, wenn auch in der Mehr—
zahl der Fälle eine Unterſcheidung ſehr
wohl möglich iſt. — Eine genaue Schil—
derung ſämmtlicher vorhandenen Formen—
kreiſe würde für die menſchlichen Faſſungs—
kräfte in höchſtem Maße verwirrend ſein.
Nur wenn man Weſentliches und Unweſent—
liches zu ſondern, nur wenn man die wich—
tigeren und dauernden Erſcheinungsformen
überſichtlich zu gruppiren verſteht, kann man
das Verſtändniß der naturhiſtoriſchen That—
ſachen fördern.
Von dieſen Erwägungen geleitet, habe
ich jeder einzelnen Brombeerart, welche ich
keunen lernte, mit Rückſicht auf ihre Selbſt—
ſtändigkeit, Verbreitung, Abgrenzbarkeit
u. ſ. w. einen beſtimmten Artwerth zuge
theilt. Im Ganzen habe ich ſechs Werth—
ſtufen unterſchieden, von denen die erſte nur
die drei weitverbreiteten Arten mit gleich—
körnigem Blüthenſtaub umfaßt, die zweite
dagegen die verbreiteten und beſtcharakteri—
ſirten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen—
ſtaub. Die vierte Stufe enthält die aus—
gezeichnetſten Formen, welche bisher nur in
beſchränkter Verbreitung nachgewieſen ſind;
in die dritte, welche in der Zukunft vielleicht
entbehrlich werden wird, ſtelle ich die aus
bekannten
über deren Zugehörigkeit zur
etwas größeren Wohngebieten
Formen,
zweiten oder vierten Klaſſe ich zweifelhaft
bin. Die fünfte Werthſtufe enthält die ge‘
wöhnlichen Lokalracen, die ſechſte endlich
iſolirt vorkommende Sträucher, muthmaßliche
Hybride und Abänderungen zweifelhaften
Urſprungs, überhaupt ſolche Formen, deren
Samenbeſtändigkeit unwahrſcheinlich iſt und
die deßhalb nicht als Arten oder Racen be—
trachtet werden können.
Obgleich ſich die Stellung vieler Arten
nach dem Maße unſerer Kenntniſſe über
ihre Conſtanz und Verbreitung nothwendig
ändern muß, obgleich außerdem in vielen
Fällen die Beſtimmung des Artwerthes
ziemlich willkürlich iſt, glaube ich, daß der
von mir eingeſchlagene Weg die einzige
Möglichkeit bietet, das Conglomerat von
Formen, welches bisher als Rubus fruti-
cosus bezeichnet wurde, zu entwirren. Aus—
drücklich betonen möchte ich noch den Um—
ſtand, daß bei der vielſeitigen Verwandt—
ſchaft der meiſten Formenkreiſe unter ein—
ander durch Zuſammenfaſſen der Racen
nur in wenigen Fällen einigermaßen nas
türliche und definirbare Geſammtarten oder
Sammelarten gebildet werden können.
Zu näherer Charakteriſtik der von mir
angenommenen Arten ſind noch drei ver—
ſchiedene Eigenthümlichkeiten derſelben zu
beſprechen, nämlich ihre Umgrenzung,
Variabilität und Vergeſellſchaftung.
Im Allgemeinen kann man behaupten, daß
der größere Theil der Arten, welche den
erſten vier Werthſtufen angehören, gut ab—
gegrenzt iſt. Allerdings giebt es manche
Formen, welche ſich einem Arttypus ſehr
nahe anſchließen und von denen man nicht
weiß, ob ſie einfache Abänderungen oder
Miſchlinge oder ſich ſelbſtändig entwickelnde
Nebenformen ſind. Man kann indeß nicht
behaupten, daß directe Uebergänge zwiſchen
zwei im Allgemeinen getrennten Formen—
kreiſen irgendwie häufig ſind. — Sehr ver—
ſchieden verhalten ſich die einzelnen Arten
in Bezug auf Variabilität. Bei va—
|
| riabeln Arten wird man ſich immer die
Frage vorlegen müſſen, ob man es wirklich
mit einem weſentlich homogenen Formen—
kreiſe oder mit einer Sammelart zu thun
hat. In der That habe ich mich veranlaßt
geſehen, mehrere Sammelarten aufzuſtellen,
deren einzelne Beſtandtheile ich freilich zu
ſondern bemüht war, aber nicht mit voll—
ſtändigem Erfolge. Unter den übrigen Arten
iſt der Grad der Variabilität ſehr ver—
ſchieden. Den R. tomentosus (eine Art
mit gleichkörnigem Blüthenſtaub) könnte
man wohl in verſchiedene Arten oder Unter—
arten ſpalten, zumal die äußerſten Glieder
ſeines ganzen Formenkreiſes einander in der
That recht fern ſtehen. Die Gründe für ein
Zuſammenfaſſen der Formen ſcheinen mir
jedoch überwiegend zu ſein. Unter den ver
breiteten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen—
ſtaub zeigen ſich manche ſehr beſtändig,
andere dagegen mehr oder minder veränder—
lich. In einzelnen Fällen ſcheinen die Ab—
änderungen durch ſtandörtliche Verhältniſſe
bedingt zu ſein; in der Regel ſcheinen ſie
auf Racenunterſchiede und beginnende Diffe—
renzirung zu deuten. Zuweilen ſcheint eine
Art in gewiſſen Gegenden durch zwei ihr
nahe ſtehende Unterarten vertreten zu ſein,
zwiſchen
maßen die Mitte hält. In Bezug auf
Vergeſellſchaftung zeigt ſich folgendes
Verhalten. Wenn man innerhalb einer
Lokalflora die Corylifolii Orthacanthi und
Sepincoli ausſcheidet, welche Mittelformen
zwiſchen R. caesius und ſämmtlichen andern
Arten umfaſſen, wenn man ferner die offen—
baren Baſtarde des R. tomentosus und
anderer Arten, die iſolirten, nur in ein—
zelnen Sträuchern oder Strauchgruppen ge-
fundenen Formen, ſo wie endlich die man—
gelhaft fruchtenden Exemplare unberückſichtigt
läßt, ſo behält man innerhalb des Gebietes
welchen die Hauptart gewiſſer⸗
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
jeder Lokalflora eine mäßige Zahl von gut
charakteriſirten Racen übrig, die entweder
überhaupt oder wenigſtens innerhalb des
unterſuchten Gebietes eine beträchtliche Ver—
breitung zeigen. Für das mittlere und
weſtliche Deutſchland beträgt die Zahl der
innerhalb der Grenzen einer Lokalflora vor—
handenen wohl zu unterſcheidenden Arten
zwiſchen 15 und 40; für Oſtdeutſchland
iſt ſie geringer. Die Unterſcheidung der
Arten, welche ſich in kleineren Bezirken
neben einander finden, pflegt keineswegs
beſonders ſchwierig zu ſein, da an jedem
einzelnen Orte die Grenzen viel ſchärfer
hervortreten, als bei Berückſichtigung ſämmt—
licher Abänderungen, die auf größeren
Arealen vorkommen. Viele Eigenthümlich—
keiten und Merkmale, die an einem einzelnen
Orte ſehr ausgeprägt hervortreten, verlieren
ſich, ſobald man die Verbreitung einer Art
weiter verfolgt, während der Typus, die
Geſammtheit der Eigenſchaften, im Weſent—
lichen unverändert bleibt.
Faſſen wir ſchließlich die wichtigſten
Eigenſchaften der Arten innerhalb der
Gruppe der ſchwarzfrüchtigen europäiſchen
Rubus-Arten, ſoweit ſie in Deutſchland
vertreten iſt, zuſammen, ſo gelangen wir
zu folgenden Ergebniſſen:
1) Es giebt in Deutſchland drei Brom-
beerarten mit gleichkörnigem Blüthenſtaub;
dieſe Arten bewohnen ausgedehnte Land—
ſtriche außerhalb Deutſchlands, wenn auch
nur eine durch das ganze Gebiet des deut—
ſchen Reiches verbreitet iſt. Die Mittel—
formen zwiſchen dieſen drei Arten ſind ein—
fache Baſtarde von ſehr geringer Frucht—
barkeit.
2) Es giebt außerdem eine beträchtliche
Zahl von Brombeeren, welche trotz mehr
oder minder ungleichkörnigen Blüthenſtaubes
in jeder Beziehung, insbeſondere durch
Fruchtbarkeit, Samenbeſtändigkeit und an—
ſehnliche Verbreitung, als wohlcharakteriſirte
Arten erſcheinen.
3) Es giebt ferner eine außerordentlich
große Zahl von Brombeerracen, welche zwar
fruchtbar ſind und ſamenbeſtändig zu ſein
ſcheinen, aber eine mehr oder minder be—
ſchränkte Verbreitung beſitzen und ſich mei—
ſtens nur durch geringfügige Merkmale von
den nächſtverwandten andern Arten unter—
ſcheiden laſſen.
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
|
4) Es giebt endlich unter den Brom⸗
beeren eine große Zahl von Uebergangs⸗
formen, welche zwiſchen zwei Arten in der
Mitte ſtehen und welche zum Theil als
einfache Baſtarde, zum Theil als aus
Baſtarden abgeleitete, mehr oder minder
beſtändige Arten (Blendarten) erſcheinen.
5) Eine beſtimmte Grenze zwiſchen den
verbreiteten Arten einerſeits, den Lokalarten,
Blendarten und Baſtarden andrerſeits iſt
nicht vorhanden, vielmehr kommen alle denk—
baren Zwiſchenſtufen in großer Häufig⸗
erhalten pflegt, welche bei wilden Pflanzen
keit vor.
6) Im Gebiete jeder Lokalflora ſind
die dort wachſenden fruchtbaren und beſtän—
digen Formen in der Regel gut gegen ein—
ander abgegrenzt.
7) Die leichte Vermehrung auf vegeta—
tivem Wege begünſtigt bei den Brombeeren
minder zeigen aber auch andere Culturge—
eine dauernde Erhaltung jeder einmal ge—
bildeten Form, mag ſie nun fruchtbar oder
unfruchtbar, ſamenbeſtändig oder bei Aus—
ſaat variabel ſein.
8) Blüthenbau und Vergeſellſchaftung
begünſtigen bei den Brombeeren eine häufige
Kreuzung der Arten und Racen.
Nachdem ich die geſchilderten Eigenthüm⸗
lichkeiten der Brombeerarten kennen gelernt
hatte, neigte ich mich Anfangs dem Glauben
zu, daß die Gattung Rubus eine Aus—
nahmeſtellung in der Natur einnehme. Ein
fortgeſetztes Studium hat mir gezeigt, daß
dieſe Meinung nicht richtig war, daß viel—
mehr die Polymorphie in der Gattung
Rubus ſich nicht dem Weſen, ſondern nur
dem Grade nach von den Formenreihen
anderer Artengruppen unterſcheidet.
Die auffallendſten Aehnlichkeiten mit den
Verhältniſſen der Gattung Rubus zeigen
zunächſt manche Culturpflanzen, na=
mentlich viele unſerer Obſtbäume. Auch
bei den Aepfeln, Birnen, Pflaumen und
Kirſchen ſind Arten und Racen ſchwer aus—
einander zu halten; auch bei ihnen enthält
der Blüthenſtaub vielfach verbildete Körner;
auch bei ihnen findet eine ausgiebige Ver—
mehrung auf vegetativem Wege ſtatt. Da⸗
gegen iſt hervorzuheben, daß der Grad der
Verſchiedenheiten innerhalb jeder Obſtgat—
tung weit geringer iſt als in der Gruppe
der europäiſchen Brombeeren; auch darf man
nicht vergeſſen, daß man bei cultivirten
Gewächſen ſchon ſehr geringfügige indivi—
duelle Abänderungen zu beachten und zu
gänzlich unbemerkt bleiben. Nichtsdeſto—
weniger wird man zugeben müſſen, daß
unter den Aepfeln, Birnen, Kirſchen und
Pflaumen ganz ähnliche Beziehungen der
engeren Formenkreiſe zu einander vorhanden
ſind, wie bei den Brombeeren. Mehr oder
wächſe ein ähnliches Verhalten, ein Umſtand,
der längſt allgemein bekannt iſt. Der junge
Botaniker früherer Jahrzehnte, dem man ein—
ſchärfte, daß er nur „gute Arten“ ſammeln
dürfe, wurde ſtets ganz beſonders vor den
Gartenpflanzen gewarnt. Cultivirte Exem⸗
plare werden in den Herbarien allgemein
mit einem gewiſſen Mißtrauen betrachtet.
Andrerſeits ſcheinen ſich noch heutzutage
manche Leute einzubilden, daß die Berüh—
rung der menſchlichen Hand eine ganz be—
126
ſondere Zauberkraft auf die Samen aus—
übe.
gelüſte, welche den Samen innewohnen,
durch die Cultur entfeſſelt werden, während |
andrerſeits alle Varietäten, die im Freien
entſtanden ſind, unter dem Einfluſſe
Cultur reuig zur Stammart zurückkehren
ſollen.
unverändert geblieben“ gilt bei den Flo—
riſten immer noch als die beſte Legitimation
für das „Artrecht“ einer neu aufgeſtellten
Species.
So lächerlich und unſinnig dieſe land—
läufigen Vorſtellungen an und für ſich auch
find, ſo liegen ihnen doch, wie es bei vielen
abergläubiſchen Ideen der Fall iſt, that—
ſächliche Beobachtungen zu Grunde. Ur—
ſprünglich richtige Wahrnehmungen ſind da—
durch gefälſcht worden,
der Speciesdoctrin verquickt- hat.
daher wohl der Mühe werth, den eigent—
lichen Sachverhalt kurz darzulegen.
Der wirkliche Werth der Culturver—
ſuche liegt darin, daß man bei ihnen Samen
von bekannter Abſtammung verwenden, und
daß man durch willkürliche Abänderung der
Lebensbedingungen, der Vergeſellſchaftung
u. ſ. w. die Wirkung vieler einzelnen Yac-
toren auf die Geſtalt und das Gedeihen
der Pflanzen prüfen kann. Nur bei ſtrenger
Beobachtung aller Regeln der naturwiſſen—
ſchaftlichen Experimentirkunſt haben ſolche
Verſuche einen wirklichen Werth; gewöhn—
liche Ausſaaten ohne genaue Berückſichtigung
aller einſchlägigen Verhältniſſe find ent—
weder Spielereien oder ſie haben doch nur
eine bedingte Brauchbarkeit. Für die Be⸗
urtheilung der Variabilität bei den Cultur⸗
pflanzen kommen insbeſondere folgende Punkte
in Betracht:
1) Von jeder begehrten Culturpflanze
werden möglichſt viele verſchiedene Racen
5 ee |
Sie nehmen an, daß alle VBariations- |
der
Ein „Iſt bei mehrjähriger Cultur
daß man ſie mit
Es iſt
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
und Unterarten eingeführt, häufig ſolche,
deren natürliche Standorte weit von ein—
ander entfernt liegen.
2) Aus den abſichtlichen und unabſicht—
lichen Kreuzungen der durch den Menſchen
zuſammengebrachten Racen gehen mancherlei
Blendlinge hervor, deren Nachkommenſchaft
oft ſehr variabel iſt, oft aber auch unter
dem Einfluſſe ſtrenger Inzucht beſtändige
neue Racen liefert.
3) Der Menſch bewahrt und vermehrt
zahlreiche Abänderungen, welche an und für
ſich unfähig ſein würden, ſich im Daſeins—
kampfe zu behaupten.
4) Von nicht zu unterſchätzender Be—
deutung iſt für die Culturgewächſe der durch
vielfachen Samenaustauſch bewirkte Stand—
ortswechſel, welcher zur Folge hat, daß die
einzelnen Generationen der betreffenden Arten
nicht allein oftmals unter ſehr verſchiedenen
Ernährungsverhältniſſen wachſen, ſondern
auch bald der Kreuzung mit andern Schlägen
ausgeſetzt, bald auf ſtrenge Inzucht ange—
wieſen ſind.
Wenn es richtig iſt, daß die Urſachen
für die Variabilität und Polymorphie der
Culturpflanzen in dieſen Verhältniſſen be—
gründet ſind, ſo iſt es klar, daß bei wilden
Gewächſ en das Zuſammentreffen analoger
Bedingungen auch analoge Folgen haben
muß. Bei den Brombeeren find Kreuzungen
offenbar leicht möglich; die lange Erhaltung
einmal gebildeter Formen wird durch die
ſtarke Vermehrung auf vegetativem Wege
begünſtigt; ein ſprungweiſes Wandern wird
durch die harten Steinkerne ermöglicht,
welche mit den ſaftigen Fruchthüllen durch
Vögel, Bären und andere Thiere verzehrt
und dann nach dem Durchwandern des
Darms an oft weit entfernten Orten aus-
geſtreut werden. Es iſt nicht unwahrſchein—
lich, daß die Polymorphie der verſchiedenen
Gruppen der Gattung Rubus zum Theil |
Folge einer durch die Bären früherer Zeit—
alter bewirkten, ſtets wiederholten Miſchung
der Formen iſt.
Es fragt ſich nun, in wie weit andere
wilde Pflanzengruppen ein ähnliches Ver—
halten der Formenkreiſe zu einander zeigen,
wie die europäiſchen Brombeeren. Zunächſt
iſt hervorzuheben, daß ſich innerhalb der
großen Gattung Rubus dieſelbe Erſcheinung |
noch mehrfach wiederholt. Die ſüdaſiatiſche
Gruppe Malachobatus, welche in den Wachs-
thumsverhältniſſen an unſere Brombeeren
erinnert, aber einfache, gelappte Blätter
und unſcheinbarere Blüthen beſitzt, dürfte in
Bezug auf Polymorphie die europäiſchen
Verwandten noch übertreffen. Die Rubi
glandulosi und stipulares der ſüdamerika—
niſchen Anden zeigen ein ähnliches Verhalten.
Die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes bei
dieſen exotiſchen Pflanzen iſt allerdings nicht
bekannt; wo wir aber in Europa eine ana—
loge Vielgeſtaltigkeit antreffen, da zeigen
ſich auch zahlreiche Formen mit ungleich—
körnigem Blüthenſtaub neben wenigen gleich—
körnigen. Unter den europäiſchen Gattungen
verhalten ſich zunächſt Rosa und Crataegus
ganz wie die Brombeeren, eine Analogie,
die ſich auch auf die Genießbarkeit der
Früchte erſtreckt. Mehrere Gruppen von
Potentilla (z. B. verna - argentea) und
faſt die ganze Gattung Hieracium zeigen
ſich ebenfalls in hohem Grade polymorph,
haben aber ungenießbare Früchte. Fernere
Beiſpiele dürften die arktiſchen Draben, die
Dactyloides-Gruppe von Saxifraga in den
Pyrenäen, viele ſüdeuropäiſche Artengruppen
von Galium, Centaurea und Dianthus,
die orientaliſchen Eichen, die ſüdamerika—
niſchen Cinchonen u. ſ. w. bieten, wenn
auch die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes
derſelben nicht bekannt find.
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
127
Während die genannten Gruppen, welche
in Bezug auf Polymorphie mit Rubus
wetteifern, immerhin als Ausnahmsfälle
aufgefaßt werden können, muß man es ge—
radezu als Regel bezeichnen, daß die Arten
des alten Artbegriffs aus mehr oder minder
zahlreichen ſamenbeſtändigen Racen zuſammen—
geſetzt werden. Es iſt insbeſondere Jor—
dan's Verdienſt, auf dieſe Thatſache nach—
drücklich hingewieſen zu haben. In der
Regel ſind die Racen ſtandörtlich getrennt,
auch ſcheinen ſie nicht immer leicht Kreu—
zungen mit einander einzugehen. Die beſt—
charakteriſirten Unterarten ſolcher Sammel—
arten würde man unbedenklich als „gute
Species“ betrachten, wenn die Mittelformen
nicht vorhanden wären. Die Eigenſchaften
einer beſtändigen Unterart werden aber offen—
bar durchaus nicht durch die Thatſache ver—
ändert, daß irgendwo Uebergangsglieder
zwiſchen ihr und einer andern Unterart vor-
kommen. Nur das künſtliche ſyſtematiſche
Schema, welches auch auf die Zwiſchen—
glieder Rückſicht nehmen muß, wird ſich er—
heblich anders geſtalten, wenn zwei Typen
durch Uebergänge verbunden ſind, als wenn
fie iſolirt daſtehen; wiſſenſchaftlich betrachtet,
bleibt der Unterſchied zwiſchen zwei Formen
völlig unverändert, mögen ſie überall ſcharf
getrennt ſein oder nicht. Die Syſtematiker
haben ſich nicht geſcheut, auf die unerheb—
lichſten Merkmale hin zwei Formen für ver-
ſchiedene Arten zu erklären, wenn nur die
Grenze hinreichend ſcharf ſchien (blaue und
rothe Anagallis arvensis, ſchwarzblaue und
weiße Phyteuma), während ſie andrerſeits,
wie das Beiſpiel von Rubus fruticosus,
Rosa canina, Euphrasia officinalis u. |. w.
zeigt, die heterogenſten Typen zuſammen—
pferchten, ſobald ſie keine beſtimmte Scheide⸗
linie ziehen konnten. Ein hübſches Beiſpiel
bietet das Stiefmütterchen, Viola tricolor,
128
welches in einer großen Zahl von beftän-
digen Racen auftritt. Unter dem Einfluffe
unbekannter Verhältniſſe, namentlich in
höheren Gebirgen, kommen von verſchiede—
nen Racen der Viola tricolor gelbblüthige
Unterracen vor. Die Syſtematiker nen⸗
nen nun alle gelben Formen, ſie mögen
unter ſich noch ſo verſchieden ſein, Viola
lutea, während fie für die ſämmtlichen
bunten den Namen V. tricolor beibehalten.
Die Sammler ſehen zwar bunte und gelbe
Formen, die ſich übrigens in jeder Be—
ziehung gleichen, neben einander wachſen,
aber fie bringen nur die ſeltene V. lutea
mit, weil es nach ihrer Meinung nicht der
Mühe werth iſt, ſich um die „gemeine“
V. tricolor zu kümmern.
Nur unter der Herrſchaft der Doctrin
von der Speciesconſtanz konnten ſolche natur—
widrige Grenzlinien durch ganze zuſammen—
hängende Formengruppen hindurchgezogen
werden, nur durch den einſchläfernden Ein—
fluß, den jedes Dogma ausübt, iſt es er—
klärlich, daß man gedankenlos an Erſchei—
nungen vorüberging, die ſo ſehr geeignet
ſind, den Forſchungseifer anzuſpornen. Je
mehr man ſich in der freien Natur umſieht,
um ſo mehr erſtaunt man darüber, wie es
möglich war, die thatſächlichen Verhältniſſe
ſo einſeitig und verzerrt darzuſtellen, wie
es in den ſyſtematiſchen Werken gewohn—
heitsmäßig geſchehen iſt. Die abſonder—
lichſten Bücher-Species, die ureigenſten Pro—
ducte des alten Dogma's, werden von den
Anhängern der Conſtanzhypotheſe mit be—
ſonderer Vorliebe als die ſchlagendſten Beweis-
mittel für ihre Ideen in's Feld geführt.
Dieſer Umſtand zeigt, daß bei ihnen ein
vollſtändiger Circulus vitiosus von Trug-
ſchlüſſen beſteht, aus dem nur ein aus—
dauerndes Selbſtſtudium in der offenen
Natur herausführen kann.
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. |
Die für unſere Unterſuchungen wid
tigſte Thatſache, welche ſich aus der Muſte—
rung der polymorphen Formenkreiſe ergiebt,
iſt die, daß von den leichten Variationen,
wie wir ſie bei einiger Aufmerkſamkeit faſt
an jeder Pflanzenart wahrnehmen können,
bis zu dem Formengewirre ſolcher Arten—
gruppen, wie die Brombeeren und Roſen,
alle denkbaren Mittelſtufen vorkommen.
Wenn man ſich, um mur deutſche Pflanzen
zu nennen, an Suaeda, Salicornia, Ar-
meria und Polygala, dann an Atriplex,
Thymus, Draba, Taraxacum und Sele-
ranthus, endlich an Potentilla, Euphrasia,
Rumex, Galium und Centaurea erinnert,
dann wird man ſich bald von der Richtige
keit dieſer Behauptung überzeugen. Ver—
gegenwärtigt man ſich ferner die Häufigkeit
der Mittelformen, den auf Baſtardbildung
deutenden Blüthenſtaub und die offenbare
Ungleichwerthigkeit der einzelnen Formen—
kreiſe innerhalb jeder dieſer Artengruppen,
ſo wird man ſich ſchwerlich der naheliegenden
Vermuthung entziehen können, daß Kreu—
zungen zwiſchen Racen und Arten einen be—
deutenden Antheil an der Vielgeſtaltigkeit
der betrachteten Formenkreiſe haben. Die
Thatſache, daß aus vielen Baſtardformen
unter Einwirkung beſtimmter Factoren ſamen—
beſtändige Racen, die ich als Blendarten
bezeichne, hervorgehen können, darf wohl
als feſtſtehend betrachtet werden. Aus
Samen einer wenig fruchtbaren, ihren Merk—
malen nach entſchieden hybriden Brombeer—
form (Rub. tomentosus & vestitus) habe
ich eine habituell ähnliche, aber merklich
veränderte, völlig fruchtbare Pflanze erzogen,
welche ſo gut wie vollſtändig mit einer
wohlbekannten ſamenbeſtändigen Brombeer—
race (R. macrophyllus hypoleueus) über-
einſtimmt. Obgleich der vollſtändige Beweis
des Urſprungs dieſer letzten Form dadurch
noch nicht erbracht iſt, ſo ſpricht doch die
Wahrſcheinlichkeit dafür, daß die Sache ſich
Anſchein hat.
häufige Kreuzungen mit fruchtbarer Nach—
Erwägt man ferner die obigen Bemerkungen
über Culturpflanzen und vergleicht damit
die geſchilderten Verhältniſſe bei den Brom—
beeren und andern wilden Pflanzen, ſo wird
man ſich eine ziemlich deutliche Vorſtellung
von den Factoren machen können, welche
für die Beurtheilung der Polymorphie in
Betracht kommen. Racenkreuzung liefert im
Weſentlichen das plaſtiſche Material zu den
aus den Racenblendlingen gehen die geſellig
entſtehenden neuen Typen hervor, ſo daß
Anfängen aus verſchiedenen Racen beſteht.
Unter den neuen Racen werden oftmals
einige kräftiger oder beſſer accommodirt fein,
als die alten Typen, und werden ſich unter
Verdrängung ihrer Mitbewerber weiter aus—
breiten. Stehen ſich die Racen, welche
Verbindungen mit einander eingehen, ferner,
verhalten ſie ſich alſo wie verſchiedene Arten,
ſo ſind die Kreuzungsproducte in ihrer
Fruchtbarkeit geſchwächt. Bei langlebigen
Gewächſen können indeß auch aus ſolchen
hervorgehen.
bildung ſtehen mit keinen bekannten That—
ſachen in Widerſpruch, ſchließen ſich viel—
mehr genau an alle Beobachtungen über
die engſten Formenkreiſe, ſo wie an die
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
jeder Formenkreis gleich in feinen erſten
Artbaſtarden ſchließlich fruchtbare Blendarten
Dieſe Vorſtellungen über die Arten-
|
!
jo verhält, wie es nach dem Verſuche den |
129
Erfahrungen der Gärtner an. Eine weitere,
wie ich vermuthe, äußerſt wichtige Erſchei—
nung iſt die der Differenzirung oder Spal—
tung der Arten in verſchiedene Zweige.
Berückſichtigt man die große Neigung
aller Kreuzungsproducte zur Bildung von
Abänderungen und zur Eingehung weiterer
hybriden Verbindungen, jo wird man die
Polymorphie ſolcher Artengruppen, in denen
Vielleicht werde ich Gelegenheit haben, auf
dieſe Frage ſpäter einmal ausführlich zu—
rückzukommen. Dagegen wird es nützlich
ſein, hervorzuheben, daß von den geſellig
entſtehenden Racen und Arten ſich in der
Regel die einzelnen ſtärkeren und beſſer
kommenſchaft vorkommen, verſtändlich finden.
neuen Racen und zu den zukünftigen Arten;
accommodirten Typen über größere Land—
ſtriche ausbreiten und die nächſtverwandten
Formen verdrängen oder durch wiederholte
Kreuzungen abſorbiren. So findet ſich im
Gebiete jeder Lokalflora von den meiſten
Arten nur eine einzige Hauptrace vor, ein
Umſtand, der viel dazu beigetragen hat,
die Idee von den ſcharfen Artgrenzen zu
ſtützen. Die Brombeeren und Roſen, von
welchen ſo zahlreiche Typen neben einander
beſtehen, bilden durch dieſe Eigenthümlichkeit
allerdings für das nördliche Mitteleuropa
Ausnahmefälle. In Südeuropa, ſo wie in
den Alpen und Pyrenäen wiederholt ſich
ein annähernd ähnlicher Formenreichthum
in vielen Artengruppen.
Die Analyſe der Sammelart K. fruti-
cosus hat mich genöthigt, für die ſyſte—
matiſche Darſtellung ſolcher polymorphen
Formenkreiſe eine neue Methode vorzu—
ſchlagen, nämlich das Herausheben der
wichtigſten und verbreitetſten Typen. Es
würde ſehr fehlerhaft ſein, wenn man die
bisherigen wirklichen Errungenſchaften der
Syſtematik preisgeben wollte. Man wird
ſich nicht mehr darüber ſtreiten, ob die
engen oder die weiten Formenkreiſe die
wirklichen und echten Arten darſtellen. Man
wird beide Auffaſſungen als berechtigt an—
erkennen und wird, ohne irgendwie in—
conſequent zu ſein, je nach dem Zwecke
einer ſyſtematiſchen Arbeit, bald die weiten
z
130
Species, bald die engeren Subſpecies und
Racen, als die normalen ſyſtematiſchen
Einheiten hinſtellen können. Man wird
ferner in polymorphen Gruppen, wie geſagt,
die wichtigeren Typen unter den ſyſtema—
tiſchen Einheiten hervorheben und ihnen die
untergeordneten Formenkreiſe ſo wie die
Lokalracen anreihen müſſen. Mit dem bis—
herigen ſinnloſen Aufzählen von Abände—
rungen des allerverſchiedenſten Werthes
(ſtandörtliche, krankhafte und andere indivi—
duelle Modificationen bunt gemiſcht mit
Hybriden und mit typisch abweichenden
Racen) unter dem Titel Varietas œ, 5, y
u. ſ. w. muß indeß gründlich gebrochen
werden.
ſichtlichkeit, welche man bisher allein er—
ſtrebte, darf nicht preisgegeben werden, aber
neben den tuypiſchen Repräſentanten der
größeren Formenkreiſe wird die neuere
Syſtematik auch die Mittelglieder nicht
unberückſichtigt laſſen, welche ſich nicht den
Geſammtarten naturgemäß unterordnen
laſſen, ſondern vielmehr die einzelnen Typen
mit einander verbinden. Während man
bisher ängſtlich bemüht war, das Vor—
handenſein von Uebergangsformen und
ſchlechten Arten zu verbergen oder zu ver—
tuſchen, damit nur ja nicht der Ruf der
„guten Art“, die man beſchrieb, beein—
trächtigt werde, iſt es die Aufgabe der zu—
künftigen Syſtematik, die Zwiſchenformen
ſorgfältig zu beachten, ihre verwandtſchaft—
lichen Beziehungen zu würdigen und ſie an
den ihnen gebührenden Platz zu ftellen, freilich
nicht in Form von „Arten“, die den nor—
malen Typen gleichwerthig ſind, ſondern in
organiſchem Zuſammenhange und in be—
ſcheidener Unterordnung neben diejenigen
Typen, welche in der gegenwärtigen Periode
der Erdgeſchichte als die hervorragendſten
Vertreter ihres Formenkreiſes erſcheinen.
Die formale, ſchematiſche Ueber-
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
Dieſe Aufgabe der Syſtematik, die L.
Reichenbach ſchon 1837 (Regensb. Botan.
Zeit. S. 217) richtig erkannte, muß in
9
der Gegenwart nothwendig feſt in's Auge
gefaßt werden.
Was wir bisher über die Formen—
kreiſe der Pflanzenarten wiſſen, verdanken
wir vorzugsweiſe der Beobachtung in der
freien Natur, der eingehenden Analyſe der
Sammelarten. Daneben ſtammt aber ein
großer Theil unſerer Kenntniſſe aus Her—
bariumsſtudien, deren Ergebniſſe gegenwärtig
noch viel zu wichtig und bedeutend ſind,
als daß ſie entbehrt werden können. Trockne
Pflanzenbruchſtücke ſind aber offenbar nur
ein mangelhafter Erſatz für die Unterſuchung
der Gewächſe an ihren natürlichen Stand—
orten. Lebendige und entwickelungsfähige
Organismen darf man nicht wie ſtarre
Modelle auffaſſen, was bei den Herbariums—
ſtudien ſo außerordentlich leicht geſchieht.
Um nun aber wirkliche Fortſchritte zu
machen, iſt es unerläßlich, mit der Beob—
achtung der in der freien Natur gegebenen
Thatſachen das Experiment zu verbinden.
Freilich ſtellen die Gärtner unzählige wichtige
Verſuche an, aber die Wiſſenſchaft hat aus
bekannten Gründen keinen Nutzen davon.
Außerdem erfährt man hin und wieder
von wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen über
den Einfluß des Bodens — ohne chemiſche
Analyſe, von Hybridiſationen — ohne
Studium der ſpäteren hybriden Generationen,
von Ausſaatverſuchen — ohne genügende
Rückſicht auf Inzucht und Einwirkung be
nachbarter anderer Racen, von Variations—
ſtudien — ohne Kenntniß der ſpontau vor—
kommenden verwandten Formenkreiſe. Man
wundert ſich dann, daß ſolche „Verſuche“
zu keinen allgemeinen Reſultaten führen.
Streng methodiſche, mit voller Beherrſchung
der einſchlägigen bekannten Thatſachen durch—
geführte Verſuchs reihen gehören noch zu den
größten Seltenheiten. Daß aber Experi—
mente, welche unter Berückſichtigung aller
Nebenumſtände angeſtellt werden, auch auf
dem Felde der wiſſenſchaftlichen Pflanzen—
biologie die glänzendſten Ergebniſſe liefern,
das zeigen am beſten die muſtergültigen
Verſuche Darwin's.
Es iſt klar, daß derartige Verſuche in
irgend größerem Maßſtabe nur von Män—
nern, welche frei über ihre Zeit verfügen,
durchgeführt werden können. Die Ein—
richtung ſelbſtändiger botaniſcher Verſuchs—
gärten muß eine dringende Forderung der
heutigen Wiſſenſchaft werden. Die Auf—
gaben, welche einem Verſuchsgarten zu—
fallen, haben ſämmtlich mehr oder minder
directe Beziehungen zur Artenbildung. Um
indeß directe Unterſuchungen auf dieſem
Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche.
Felde in erfolgreicher Weiſe anſtellen zu
können, muß die Analyſe der polymorphen
Formenkreiſe voraufgehen, welche allein im
Stande iſt, dem Gange der Forſchung eine
beſtimmte Richtung vorzuzeichnen. Durch
planloſe Ausſaatverſuche wird man zwar
zu einer Reihe einzelner zuſammenhangsloſer
Beobachtungen, aber niemals zu ſicheren
allgemeinen Ergebniſſen gelangen. Eine
ſorgfältige Unterſuchung der engeren Formen—
kreiſe iſt daher eine unentbehrliche Vorarbeit
für alle Studien über das Weſen der or—
ganiſchen Species. Ein Experiment iſt
eine Frage an die Natur, welche jedesmal
beantwortet werden wird, wenn die Frag—
ſtellung eine richtige war. Um aber die
Frage richtig ſtellen zu können, muß man
mit den betreffenden Thatſachen genau ver—
traut ſein. .
Kl
Tamarck und Darwin.
Lin Beitrag zur Geſchichte der Sutwidlungslehre.
Von
8 ist ein erfreuliches Zeichen der
wahren Wiſſenſchaftlichkeit, des
a Strebens nach unbefangener Be—
urtheilung der herrſchenden
Thecrien und Hypotheſen in der Natur-
wiſſenſchaft, wenn auch ſie in neuerer Zeit
mehr als je ihren eigenen Entwickelungs—
gang zu verfolgen bemüht iſt.
uns den Charakter, die Eigenſchaften, Fähig—
keiten und Kenntniſſe eines jeden Menſchen
erklären können,
ziehung, ſeinem Bildungsgange, ſeinen Schick—
ſalen und äußern Verhältniſſen bekannt
werden, und wir verſuchen, die Anlagen,
die er mit auf die Welt gebracht hat, von
dem zu trennen, was gleichſam von außen
neu zu ihm gekommen iſt; ſo vermögen
wir uns auch den gegenwärtigen Stand
einer Wiſſenſchaft erſt dann zu erklären,
wenn wir uns einerſeits über das innere
Weſen dieſer Wiſſenſchaft und anderſeits
über ihren Entwickelungsgang ins Klare
geſetzt haben. Im individuellen Entwicke—
lungsgange jedes Menſchen ſind geringfügige
Verhältniſſe bisweilen von beſtimmendem
Einfluſſe, während große Erſcheinungen oft
Wie wir
wenn wir mit ſeiner Er-
Dr. Arnold Lang.
I.
ſpurlos an ihm vorübergehen. Ebenſo
bedingen auch im Entwickelungsgange der
Wiſſenſchaft oft ſcheinbar oder wirklich ge—
ringfügige Entdeckungen und unweſentliche
Beobachtungen ganz neue Richtungen, wäh—
rend ganze große Gruppen zuſammen—
hängender Thatſachen ſich nicht der Re—
flexion der Forſcher aufzudringen vermögen.
Wie der Bildungsgrad eines Menſchen be—
dingt iſt einerſeits durch die Zahl und Art
der Eindrücke, die auf ihn einwirken, ander-
ſeits durch ſeine größere oder geringere
Empfänglichkeit für dieſe Eindrücke; ebenſo
hängt auch die Ausbildung der Naturge—
ſchichte, wie überhaupt aller Wiſſenſchaften,
einerſeits ab von der Zahl und Art der
beobachteten und bekannten Thatſachen und
anderſeits vom Zeitgeiſt.
Unter allen dieſen Geſichtspunkten iſt
es außerordentlich intereſſant, die Entwicke—
lung der Naturgeſchichte und ihrer Verall—
gemeinerungen um die Wende unſeres Jahr—
hunderts zu verfolgen. Es war dies für
die Naturgeſchichte eine Uebergangszeit und
Uebergangszeiten weiſen überall excentriſche
Anſchauungen und Ausſchweifungen auf.
—
Während im vorigen Jahrhundert unter
dem Einfluſſe des Zeitgeiſtes, der, zum
großen Theil beſtimmt durch die Wiſſen—
ſchaften, auf jede einzelne wieder zurück—
wirkt, im Allgemeinen einigen wenigen, oft
unweſentlichen, zum Theil ſchlecht beobach—
teten Thatſachen eine große Bedeutung bei—
gelegt wurde, zeichnet ſich unſer Jahrhun—
dert in der Naturgeſchichte durch das Streben
einer umfaſſenden und mehr gleichmäßigen
Berückſichtigung einer möglichſt großen Menge
von Thatſachen aus. Im achtzehnten Jahr—
hundert konnten Theorien, wie die Evolu—
tionstheorie, zu allgemeiner und herrſchender
Geltung gelangen, Theorien, die ſich auf
wenige, vereinzelte, zudem ſchlecht verbürgte
Beobachtungen ſtützten, denen aber von den
Forſchern eine um ſo größere Bedeutung
beigelegt wurde, je mehr ſie in den engen
Rahmen der ihnen von vorne herein plau—
fiblen Theorien paßten. Zu Anfang un—
ſeres Jahrhunderts nun ſuchte man ſich
von dieſen methodischen Fehlern zu emanci—
piren und das geſammte, inzwiſchen mäch—
tig angewachſene Thatſachenmaterial für
Verallgemeinerungen möglichſt gleichmäßig
zu verwerthen. In Wirklichkeit konnte ſich
aber die Biologie zu Anfang unſeres Jahr—
hunderts der mangelhaften Methodik bei
Verallgemeinerungen nur zum Theil ent—
ſchlagen, ſie blieb auf halbem Wege ſtehen
und erzeugte, begünſtigt durch die damalige
Zeitſtrömung, jene Produkte, die wir unter
dem Namen der ältern franzöſiſchen und
deutſchen Naturphiloſophie zuſammenfaſſen.
Wir können in der allgemeinen Bio—
logie der erſten Decennien unſeres Jahr—
hunderts drei Richtungen unterſcheiden, von
denen die erſte ihrem innerſten Weſen nach
alle die Mängel des Naturphiloſophirens
des vorigen Jahrhunderts beſitzt, die an—
dere neben dieſen Mängeln ſchon die Vor—
Lang, Lamarck und Darwin.
133
theile der neuern naturwiſſenſchaftlichen Me—
thode in ſich aufnimmt, während eine dritte,
eigenthümliche und ſehr fruchtbare Richtung
in der Naturgeſchichte die wahre und rich—
tige Methode der Naturforſchung zur vollen
Geltung bringt, zugleich aber die Reſultate
dieſer Forſchung mit den alten dogmatiſchen
Ueberlieferungen in Einklang zu ſetzen
ſucht.
Die erſte Richtung bildet die ſogenannte
deutſche Naturphiloſophie, das
Philoſophiren eines Oken, Schelling
u. ſ. w. Es mochte den Anſchein haben,
als ob dieſe Männer auf Grund der em—
piriſchen Thatſachen der Naturwiſſeuſchaft
durch Syntheſe ihre Syſteme aufgebaut
hätten. Dem iſt indeß durchaus nicht ſo.
Sie haben zunächſt in der rein formellen
Weiſe eines Hegel aus einem oberſten,
willkürlich geſetzten Principe Kategorien ab—
geleitet, in die ſie dann künſtlich genug
alles Gegebene hinein paßten. Man hat
dieſe deutſchen Naturphiloſophen bisweilen
als Begründer gewiſſer Lehren bezeichnet,
die wie die Zellentheorie, die Wirbeltheo—
rie des Schädels u. ſ. w. ſeither zu großer
wiſſenſchaftlicher Bedeutung gelangt ſind.
Dies iſt indeß nur ſo zu verſtehen, daß
ſie, überall herumtaſtend, über alles philo—
ſophirend, hier und da etwas annähernd
Richtiges getroffen haben, wie ein blindes
Huhn, das auch bisweilen ein Samenkorn
findet. Es iſt die ſogenannte deutſche Na—
turphiloſophie von Oken und Schelling
für die Naturwiſſenſchaft nichts, als ein
bisweilen allerdings geiſtreiches Phantaſiren.
Die zweite angeführte Richtung bildet
die ältere franzöſiſche Naturphilo—
ſophie, deren Hauptvertreter Lamarck
und der ältere Geoffroy ſind. Es ent—
wickelte ſich dieſe Richtung ganz ſelbſtſtändig
und unabhängig von der deutſchen Natur-
134
philoſophie. Vergleicht man beide Richtun⸗
tungen, jo wird mau, wie ich in dem nad)
folgenden Aufſatze mit Rückſicht auf La—
marck darzuthun hoffe, nicht lange darüber
in Zweifel fein, daß die franzöſiſche Natur-
philoſophie der deutſchen vom naturwiſſen—
ſchaftlichen Standpunkte aus weit überlegen
iſt. Wenn auch die franzöſiſchen Natur-
philoſophen in vielen, ja den meiſten ihrer
Schlußfolgerungen zu voreilig, kühn und
unvorſichtig waren und Naturphiloſophie
mit Metaphyſik vermiſchten, wenn fie
auch nicht der Verlockung widerſtehen
konnten, in Disciplinen, deren empiriſcher
Boden ihnen nicht genau bekannt war,
umfaſſende Theorien aufzuſtellen; ſo fühlt
man bei ihnen doch innerhalb ihrer beſon—
dern Wiſſenſchaft, in der ſie Meiſter wa—
ren, das Beſtreben heraus, nur auf Grund
einer möglichſt breiten empiriſchen Baſis
zu immer höhern Verallgemeinerungen ſich
zu erheben.
Die dritte Richtung wird repräſentirt
durch Cuvier, den Schöpfer der ver—
gleichenden Anatomie und Palaeontologie.
In der methodiſchen Sichtung und Bear—
beitung des Materials iſt Cuvier um
übertroffener Meiſter. Die Induktion ver—
bindet er mit der Deduktion zur wahren
naturwiſſenſchaftlichen Methode. In ſeinen
erſten, unmittelbar aus den Thatſachen ab—
ſtrahirten Verallgemeinerungen hat er denn
auch beim damaligen Stand des naturge—
ſchichtlichen Wiſſens das Beſtmögliche ge—
leiſtet. Damit begnügte ſich aber Cuvier
nicht, ſondern auch er wollte, wie es bis
zu ſeiner Zeit, ich möchte ſagen Mode war,
umfaſſende Theorien über die Schöpfungs-
geſchichte der Erde und ihrer Bewohner
aufſtellen. Seine eigenen palgeontologiſchen
Unterſuchungen lieferten Ergebniſſe, die mit
der moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte in der
Lang, Lamarck und Darwin.
genauern Präciſirung Linné's in Wieder—
ſpruch waren. Nun war aber Cuvier
ein ſtrenger Anhänger des Speciesdogmas
und der direkten Schöpfung aller Organis—
menarten. Um die Reſultate ſeiner eigenen
Forſchungen mit dieſen ſeinen vorgefaßten
Anſichten in Einklang zu ſetzen, ſah er ſich
genöthigt, das Princip der Actualität auf⸗
zugeben. Er erſann die Cataclysmen—
theorie, jene „Möblirungstheorie“, wie
Carl Vogt ſie nennt, eine jeder Grund—
bedingung der Naturwiſſenſchaft in's Geſicht
ſchlagende Lehre, die nun bis zum Auf-
treten Darwin's die herrſchende blieb. Mit
dieſer Cataclysmentheorie ſteckt auch noch
der ſcharfſinnige, für die weitere Entwicke—
lung der meiſten zoologiſchen Disciplinen
ſonſt grundlegende Cuvier im naturge—
ſchichtlchen Aberglauben früherer Jahr—
hunderte.
Wir ſtellen uns in den folgenden Zeilen
die Aufgabe, eine der drei angeführten
Richtungen, die ältere franzöſiſche Natur-
philoſophie in ihrem Hauptvertreter Jean
Lamarck, auf ihre Beziehungen zur neuern,
durch die Darwin'ſche Theorie reformirten
Biologie zu unterſuchen. Haeckel war
wohl der erſte, welcher 1866 in ſeiner
„Generellen Morphologie“ mit Nachdruck
Lamarck als den bedeutendſten Vorgänger
Darwin's bezeichnete und als eigentlichen
Begründer der Descendenztheorie feierte.
Er hat indeſſen bloß die wichtigſten Aus-
ſprüche Lamarck's zuſammengeſtellt, ohne
näher den innern Zuſammenhang und Ge—
dankengang ſeiner Schriften darzulegen. Es
hat ſodann Quatrefages 1868 in
ſeinem Artikel „Les précurseurs français
de Darwin“ (Revue des deux Mondes)
die Beziehungen Lamarck's zu Darwin,
jedoch nur kurz und unvollſtändig erörtert;
zudem hat er vorzugsweiſe das Schwache
und Unhaltbare ſeiner Theorie hervorge—
hoben. In neuerer Zeit hat Ch. Martins
Lang, Lamarck und Darwin.
der neuen franzöſiſchen Ausgabe der „Phi-
dient, feinen eigenen Forſchungs- und Ent
losophie zoologique“ und ihrer deutſchen
Ueberſetzung eine Einleitung beigegeben,
welche außer der Biographie La marck's
eine ziemlich eingehende Anführung
Principien enthält, welche Lamarck und
Darwin gemeinſam ſind. Hat die Arbeit
Quatrefage's den Fehler, daß ſie haupt—
ſächlich die ſchwachen Punkte der Lamarck!
ſchen Verallgemeinerungen hervorhebt, ſo iſt
es ein weſentlicher Mangel der Einleitung
von Martins, daß ſie bloß das berück—
fitigt, was auch in der Darwin' ſchen
Lehre zur Geltung kommt. Es bleibt
deshalb, wie auch der Kritiker der „zoolo—
giſchen Philoſophie“ betont, eine nochmalige,
eingehende Analyſe der Lamarck'ſchen Lehren,
„welche die wiſſenſchaftliche Bedeutung und
die phantaſtiſchen Verirrungen derſelben im
Einzelnen klar auseinanderlegt“, ſehr wün—
ſchenswerth.
Will man aus den Lehren eines For-
ſchers vergangener Zeiten Richtiges und
Wahres herausfinden, ſo muß man den
Maßſtab der modernen Wiſſenſchaft an ſie
aulegen, ſich auf den durch dieſe Wiſſen—
ſchaft am meiſten begründeten Standpunkt
ſtellen. Allerdings wird man dann oft
mit einem Maßſtabe meſſen, der ſich im
Einzelnen ſelbſt wieder als unrichtig er—
weiſen kann, denn wir meſſen mit dem,
was wir beim gegenwärtigen Stande un—
ſeres Wiſſens für richtig halten, oder für
richtig zu halten gezwungen find. Die Er-
gebniſſe einer ſolchen Unterſuchung werden
immer mehr oder weniger ſubjectiver Natur,
aber dennoch fruchtbar ſein. Will man
aber einen Forſcher würdigen, ihn begreifen,
ſo darf man dieſen Maßſtab nicht anwenden.
Dann muß man ihn vom Standpunkte des
der
Wiſſens ſeiner Zeit aus beurtheilen und
auch, was indeſſen mehr zu ſeiner perſön—
lichen Würdigung als zu der ſeiner Lehren
wicklungsgang verfolgen. Die erſtere, ſub—
jective Unterſuchungsweiſe zeigt uns das
Richtige und Unrichtige, die letztere, ob—
jective, das Gerechtfertigte und das nicht Ge—
rechtfertigte. Die letztere allein kann un—
bedingt auf dauernden Werth Anſpruch
machen.
Wir werden verſuchen, von beiden
Geſichtspunkten aus Lamarck ſo unbe—
fangen als möglich zu beurtheilen. Immerhin
werden wir am meiſten beſtrebt ſein, dem
objectiven, hiſtoriſchen Geſichtspunkt den
Vorrang zu laſſen und während der ganzen
Unterſuchung die Zeit, während welcher
Lamarck lebte, und den damaligen Stand
des naturgeſchichtlichen Wiſſens im Auge zu
behalten. 5
Wenn wir uns fragen, welches die ein—
zelnen Disciplinen der Naturgeſchichte ſeien,
die eine Theorie, wie die Darwin' ſche
am meiſten ſtützen müſſen, ſo werden wir
wohl in erſter Linie, was alle Naturforſcher
einftimmig anerkennen, die Palaeonto—
logie zu erwähnen haben. Denn die
Palaeontologie oder Lehre von den
Verſteinerungen allein liefert uns abſolut
unbeſtreitbare Anhaltspunkte für die Er-
kenntniß der erdgeſchichtlichen Aufeinander—
folge der Organismen. Die Palaeonto—
logie zeigt uns die wahren Denkmünzen
der Schöpfung. Eine naturgeſchichtliche
Schöpfungstheorie muß vor allem mit den
Thatſachen der Palaeontologie in Einklang
ſtehen. Eine Palaeontologie war aber zur
Zeit Lamarck's noch gar nicht vorhanden.
Es fehlte ihm alſo in erſter Linie dieſe
weſentliche Grundlage für ſeine Schöpfungs—
theorie. Erſt ſpäter hat er ſelbſt, mehr
rr a ET le!
500
{9}
Lang, Lamarck und Darwin.
aber noch fein eminenter Gegner Cu vier, als die erſte Grundbedingung zur Er—
die erſten Grundſteine dieſer Wiſſenſchaft
gelegt.
Eine andere Disciplin, welche uns über
das Weſen der Art unmittelbar und beinahe
ausſchließlich belehrt, welche den Artbegriff
zu kritiſiren ermöglicht, iſt eine ganz genaue,
ich möchte ſagen raffinirte Syſtematik, eine
eingehende Ueberſicht nicht nur aller be—
kannter Arten, ſondern auch einer möglichſt
großen Menge von Individuen einer Art.
Eine ſolche Syſtematik war zwar zu La—
marck's Zeiten ſchon vorhanden, jedoch
bei weitem nicht ſo ausgebildet, wie heute.
Lamarck beruft ſich denn auch ausdrücklich
auf dieſe Disciplin.
Eine dritte Disciplin, welche ebenfalls
direkte Beweismittel liefert, iſt die Bio-
logie im engern Sinne, die Oekologie
der Organismen, welche das Leben der Or—
ganismen, ihre Beziehungen zu einander
und zur unorganiſchen Natur aufzuklären
hat. Auch die Oekologie iſt erſt durch
Darwin und in Folge ſeiner Lehre, zu
höherer Ausbildung gelangt.
Waren dies Lehren, welche direkt und
unmittelbar eine Schöpfungstheorie zu ſtützen
geeignet ſind, und mit deren Thatſachen
eine ſolche durchaus in Einklang ſtehen muß,
ſo giebt es aber noch andere, welche zwar
nicht direkte Beweiſe liefern, dem philoſo—
phiſchen Naturforſcher aber für die Er—
mittelung der Schöpfungsgeſchichte von nicht
geringerer Bedeutung erſcheinen. Hier ſteht
in erſter Linie die Embryologie oder
Ontogenie der Organismen. Auch der—
jenige, welcher nicht anerkennt, daß die
Ontogenie mit der Phylogenie in
urſächlichem Zuſammenhange ſtehe, ein kurzer
und vielfach gefälſchter Auszug der Stammes—
geſchichte ſei, muß doch nothwendigerweiſe
zugeben, daß ſie in neuerer Zeit allgemein
mittelung des natürlichen Syſtemes der Or—
ganismen und folglich ihrer Verwandtſchaft
betrachtet werde. Laſſen wir auch dieſen
Geſichtspunkt unberückſichtigt, ſo ſteht doch
die Thatſache feſt, daß hiſtoriſch die An—
ſichten über die Schöpfung oder Entſtehung
der Organismen immer in enger Beziehung
waren zu den Anſichten über das Weſen
der individuellen Entwickelung. So lange
diejenige Theorie in der Embryologie all—
gemein gültig war, welche die Entwickelung
eines Organismus blos als eine Auswicke—
lung ſeit Urzeiten vorgebildeter Keime be—
trachtete, war eine andere Anſicht, als die
der direkten Entſtehung aller einzelnen Or—
ganismenarten ganz unmöglich, und an
genealogiſche Beziehungen der Organismen
zu einander konnte gar nicht gedacht werden.
Dieſe Theorie war aber noch bis zum
Tode Lamarck's die allgemein anerkannte
und es fehlte alſo auch Lamarck für ſeine
Verallgemeinerungen über die Entſtehung
der Organismen diejenige ontogenetiſche
Grundlage, welche in unſerer Zeit eine ſo
mächtige Stütze der Darw in' ſchen Theorie
geworden iſt.
Von ebenſo großer Bedeutung für die
Erkenntniß der natürlichen Verwandtſchaft
d. h. der Stammverwandtſchaft der Or-
ganismen iſt die vergleichende Ana—
tomie. Auch dieſe Wiſſenſchaft war zu
Lamarck's Zeiten noch wenig ausgebildet;
ſie hatte noch nicht den Character einer rein
morphologiſchen Wiſſenſchaft, zu der ſie
erſt Cuvier machte. Auch dürfen wir nicht
vergeſſen, daß die Zellentheorie, welche
fo außerordentlich zum Verſtändniß der ent-
wickelten und ſich entwickelnden organiſchen
Körper beigetragen hat, erſt Ende der
dreißiger Jahre begründet wurde.
Ich erwähne noch als Hauptſtütze der
Lang, Lamarck und Darwin. 137
Entwickelungstheorie die Thier- und
Pflanzengeo graphie, von der zu
Lamarck's Zeiten durch Buffon kaum die
einfachſten Anfänge gemacht waren. Alles
dies ſind Disciplinen der Biologie, weſche
nur über die Entſtehung der Organismen
Aufſchluß geben können. Nicht minder als
mit den Reſultaten dieſer Wiſſenſchaften,
muß eine richtige Schöpfungstheorie in
erſter Linie auch mit den Thatſachen einer
andern Wiſſenſchaft, der Geologie, völlig
im Einklang ſtehen. Der kindliche Zuſtand
der geologiſchen Wiſſenſchaft zu Ende der
vorigen und zu Anfang dieſes Jahrhunderts
iſt bekannt. Die Geſchichte der Erdober—
fläche war der Gegenſtand abenteuerlicher
Speculationen, welche alle das naturhiſto—
riſche Princip der Actualität mehr oder
weniger außer Acht ließen. Erſt nach dem
Tode Lamarck's wies Lyell nach, daß die
Entſtehung unſerer heutigen Erdkruſte viel
beſſer zu erklären ſei aus natürlichen, heute
noch wirkenden Urſachen, als durch die
Annahme plötzlicher Cataſtrophen, welche
ihre Urſachen in einer außernatürlichen
Kraft haben. Daß die Lehre von der
hiſtoriſchen Entwickelung der Organismen
auf der Erdoberfläche mit der Lehre von
der Entwickelung dieſer Erdoberfläche ſelbſt
in Einklang ſtehen muß, iſt ſonnenklar, und
es iſt beinahe unbegreiflich, wie Cuviers
Cataclysmentheorie in der Palaeontologie
bis zu Darwin's Zeiten allgemein aner—
kannt neben der durch Lyell reformirten
Geologie fortbeſtehen konnte.
Faſſen wir Vorſtehendes zuſammen, fo
ſehen wir, daß zur Zeit, als Lamarck
ſeine Verallgemeinerungen über die Ent—
ſtehung der Organismen begann, alle Dis—
ciplinen, die nothwendiger Weiſe Grundlage
ſolcher Verallgemeinerungen ſein müſſen,
entweder noch gar nicht vorhanden, oder
doch in höchſt unvollkommener Ausbildung
waren. Es wird ſich nun fragen, in wie
weit Lamarck auf Grund der damaligen
empiriſchen Baſis Vermuthungen, Hypotheſen
oder Theorien aufzuſtellen berechtigt war;
es wird ſich ferner fragen, ob Lamarck dieſe
empiriſche Baſis und zwar unter ausſchließ—
licher Hinzuziehung des allein naturwiſſen—
ſchaftlichen Princips der Actualität für ſeine
Theorien umfaſſend verwerthet oder ob er
haltloſe und empiriſch unbegründete Hypo-
theſen aufgeſtellt hat; es wird ſich ſchließlich
fragen, wie viel Richtiges und Wahres in
denſelben von dem Standpunkte der Dar—
win' chen Theorie aus enthalten ſei. Auch
wird zu beachten ſein, ob die Lamarck'ſchen
Lehren vor den andern herrſchenden ſeiner
Zeit durch ausſchließliche Erklärungsverſuche
aus natürlichen, heute noch wirkenden Ur—
ſachen einen entſchiedenen Vorzug bean—
ſpruchen dürfen. Zunächſt werden wir
einige Bemerkungen über die allgemein
philoſophiſchen Anſichten Lamarck's machen,
dann ſeine geologiſchen Theorien beſprechen
und ſchließlich ausführlicher eingehen auf
ſeine Anſichten über das Verhältniß der
Organismenwelt zur anorganiſchen Natur,
der Thiere zu den Pflanzen, und über die
Entſtehung der Organismen. Die großartig
angelegte Pſychologie Lamarck's darzuſtellen
und zu critiſiren, überlaſſen wir einer ge—
übteren Feder; ebenſo werden wir die phyſi—
kaliſchen, meteorologiſchen und chemiſchen
Schriften als für unſern Zweck werthlos
und lauter haltloſe, unbegründete Phantaſien
enthaltend, übergehen. In Betreff der
Lebensgeſchichte Lamarck's verweiſe ich auf
Ch. Martin's biographiſche Einleitung zu
den neuern Ausgaben der „zoologiſchen
Philoſophie“.
Chronologie der in Betracht kommenden
Lamarck'ſchen Schriften:
158
Hydrogeologie; 1802.
Recherches sur l’organisation des
corps vivans 1802. (?)
Philosophie zoologique.
Jahrg. X.
Ausgabe 1830; neue Ausgabe 1873;
Lang, Lamarck und Darwin.
|
rungen
1809 2.
uns mit feinen biologiſchen Verallgemeine—
beſchäftigen können. Wir machen
keinen Anſpruch auf vollſtändige und gleich—
mäßige Behandlung der Lamarck'ſchen
precedee d'une introduction biographique
de Charles Martins. Zoologiſche
Philoſophie, mit einer biographiſchen
Einleitung von Charles Martins aus
dem Franzöſiſchen überſetzt von Arnold
Lang. 1876.
Histoire naturelle des animaux
sans vertebres. Introduction.
1815. Zweite Auflage, durchgeſehen und
vermehrt von Deshayes und Milne
Edwards 1835.
sances de
1830.
positives
1
Zur Weltanſchauung Lamarck's.
Bevor wir uns zu der Betrachtung der
Philoſophie, beſchränken uns vielmehr dar—
auf, die weſentlichſten Punkte hervorzuheben
und die Aufmerkſamkeit der Philoſophen
auf dieſen Mann zu lenken, der auch von
ihnen vollſtändig ignorirt worden iſt.“)
In den verſchiedenen Werken Lamarck's
finden ſich vielfach innere Widerſprüche mit
ſeiner Philoſophie. Wir benutzen deshalb
hauptſächlich zwei Werke, in denen ſich eine
ziuſammenhängende Darſtellung findet, näm-
Systeme analytique des connais- | 5 ung | Be
homme lich erſtens, die oben erwähnte Einleitung zur
Naturgeſchichte der wirbelloſen Thiere und
| dann ein kleines, ausſchließlich philoſophi⸗
biologiſchen Theorien Lamarck's wenden,
erſcheint es nicht überflüſſig, einen kurzen
Blick auf feine philoſophiſchen Anſichten zu
Denn wie feine biologiſchen Ver-
allgemeinerungen, ſo zeigen uns auch ſeine
allgemeinen philoſophiſchen Betrachtungen,
werfen.
wie er, einerſeits noch im Dualismus
ſeiner Zeit ſteckend, anderſeits doch ſich ent—
ſchieden zu einer einheitlichen mechaniſchen
Auffaſſung der Welt hinneigt. Auch in
der Philoſophie zeigt ſich bei Lamarck
jener in der Einleitung erwähnte Uebergang.
Wenn wir zuerſt mit der Betrachtung
der Lamar ck'ſchen Weltanſicht beginnen,
ſo geſchieht dies nicht, weil etwa ſeine bio—
logiſchen Theorien als Poſtulate eines von
ihm vorher aufgeſtellten Syſtems aufzufaſſen
ſind, ſondern deshalb, weil wir dann nach—
her zuſammenhängend und ununterbrochen
ſches und pſychologiſches Werk, das La⸗
marck ſchrieb, als er ſchon erblindet war,
nämlich das „Systeme analytique
des connaissances positives de
l’homme.“
Lamarck ſtellt ſich in erſter Linie die
Frage: „Auf welchem Wege gelan—
gen wir zu ſicheren Erkenntniſſen?“
Er antwortet darauf: Alle ſicheren
Kenntniſſe, die ſich der Menſch
verſchaffen kann, entſpringen aus
der Beobachtung; die einen erlangen
wir durch die direkte Beobachtung; die an⸗
dern dadurch, daß wir die richtigen Con—
ſequenzen aus ihr ziehen. Die erſteren ſind
vollſtändig, ſicher und exact; die letzteren
nähern ſich mehr oder weniger der Wahrheit,
je nach dem größeren oder geringeren Grade
der Vernunft, d. h. der Richtigkeit
) Wir finden z. B. Lamarck in Lange's
Geſchichte des Materialismus, obſchon er doch
dieſelben Probleme wie Condillae, Caba—
nis und das Systeme de la nature
eingehend behandelt, mit keiner Silbe er—
wähnt.
ſum iſt die unthätige, paſſive, mit
der Urtheile der Individuen. Außer
dem, was aus der Beobachtung ſtammt,
iſt alles, was wir zu denken vermögen,
Produkt unſerer Einbildungskraft,
Illuſion. — Wenn alſo nur die Kennt—
niſſe, die wir direkt oder indirekt durch die
Beobachtung gewonnen haben, ſicher ſind,
fo fragt es ſich nunmehr, was denn über-
änderliche, in allen ihren Verrichtungen
was beobachtbar ſei. Wir können, ſagt
Lamarck, blos die Stoffe und Kör-
per, die wir wahrnehmen, die Bewe⸗
haupt der Beobachtung zugänglich, d. h.
gungen, Veränderungen, Eigen—
ſchaften und verſchiedenen Erſcheinungen,
welche dieſe Stoffe und Körper uns dar—
bieten, und endlich die Geſetze, nach denen
dieſe Bewegungen, Veränderungen und Phä—
nomene vor ſich gehen, beobachten. Alle
dieſe beobachtbaren Dinge bilden im
Gegenſatz zum Gebiet der Einbil—
dungskraft das Gebiet der Reali—
täten. Blos die Kenntniß der zu letz—
terem Gebiete gehörenden Dinge kann dem
Menſchen wahrhaft nützlich ſein; alle Er—
zeugniſſe der Einbildungskraft hingegen,
mit Ausnahme eines einzigen, der Hoff—
nung, ſind ſchädlich. —
Alle Körper, die wir beobachten können,
ſind in ſteter Veränderung und Be—
wegung begriffen. Oft gehen dieſe Ver—
änderungen und Bewegungen jo langſam
vor ſich, daß wir ſie nicht wahrnehmen
können. Nichts deſto weniger herrſcht in
Wirklichkeit nirgends abſolute
Ruhe. Lamarck ſchließt daraus auf
eine allgemeine Macht, welche die Ur—
ſache aller dieſer Bewegungen und Verän—
derungen ſein müſſe, und nennt dieſe Macht
die Natur.
Lamarck unterſcheidet die „Natur“
vom „Univerſum“. Das Univer—
Lang, Lamarck und Darwin.
keinen eigenen Kräften ausgeſtattete Summe
aller exiſtirenden Stoffe und
Körper.“ “)
„Die Natur iſt eine Ordnung der
Dinge, die aus der Materie frem—
den und durch die Beobachtung der Kör—
per beſtimmbaren Objekten beſteht, deren
Summe eine ihrem Weſen nach unver—
abhängige und beſtändig auf alle
Theile des Univerſums einwir—
kende Macht bildet.“ **)
Natur und die dem Univerſum zu
Grunde liegende Mater ie faßt Lamarck,
wie wir gleich ſehen werden, ihrerſeits
wieder auf als Wirkung einer erſten Ur—
ſache, Gottes. Von der Gottheit können
wir blos wiſſen, daß ſie exiſtirt, ewig, un—
beſchränkt und allmächtig ſei. Die Idee
Gottes ſei kein Produkt unſerer Einbildungs—
kraft, ſondern, wie er glaubt, eine noth⸗
wendige Conſequenz unſerer Beobachtungen,
eine zwar indirekte, aber ſichere Erkenntniß.
Ebenſo ſei die Allmacht Gottes eine ſolche
Erkenntniß. Gott konnte, ſagt Lamarck,
in Folge ſeiner Allmacht bei der Schöpfung
in zweierlei Weiſe zu Werke gehen.
„Es war entweder ſein Wille, alle Körper,
die wir beobachten können, unmittelbar und
jeden für ſich zu erſchaffen, ihre Verände—
rungen, ihre Bewegungen oder ihre Thätig—
keiten zu regieren, jeden einzelnen von ihnen
beſtändig im Auge zu behalten und Alles,
was dieſelben betrifft, unaufhörlich durch
ſeinen höchſten Willen zu regieren“, oder
er konnte „ſeine Schöpfung auf eine geringe
Zahl beſchränken und eine allgemeine, con—
ſtante, immer durch Bewegungen belebte,
überall Geſetzen unterworfene Ordnung der
*) Introd. 2. Ausgabe, Seite 258; Syst.
analyt. Seite 45.
) Introd. S. 260; Syst. analyt. ©. 50.
19
5 140
Dinge in's Daſein rufen, mit Hülfe deren
alle exiſtirenden Körper, alle Veränderungen,
welche ſie erleiden, alle Eigenſchaften, die
ſie beſitzen, und alle Erſcheinungen, welche
viele von ihnen darbieten, erzeugt werden
können.““) Die Beobachtung der Natur-
körper und ihrer Veränderungen wird es
nun möglich machen, zu erkennen, welchen
von dieſen beiden Wegen der Schöpfer ein-
geſchlagen hat. Haben wir dies durch um—
faſſende und übereinſtimmende Beobachtungen
erkannt, ſo werden wir getroſt und ohne
Vermeſſenheit behaupten können, daß es
eben Gottes Wille war, den betreffenden
Weg einzuſchlagen. Alle Beobachtungen
weiſen nun nach Lamarck übereinſtimmend
und überzeugend darauf hin, daß Gott bei
der Schöpfung ſeiner Werke in der zuletzt
angeführten Weiſe zu Werke ging.
Zwiſchen „Erſchaffen“ und „Her—
vorbringen“ macht Lamarck einen
ſcharfen Unterſchied. Hervorgebracht
iſt alles, was auf natürliche Weiſe,
durch mechaniſche Urſachen entſtanden
iſt. Erſchaffen iſt alles das, deſſen na—
türliche Entſtehung wir uns nicht vorſtellen,
nicht denken können. Die Beobachtung lehrt
nun, daß alle Körper und alle Erſchei—
nungen durch mechaniſche, natürliche
Urſachen hervorgebracht werden, daß alles
nach beſtimmten und conſtanten Ge—
ſetzen geſchieht. Nie und nirgends be—
obachten wir ein direktes Eingreifen der
göttlichen Allmacht. Alle Erſcheinungen
laſſen ſich auf die geſetzmäßige, me—
chaniſche Ein wirkung der Natur, auf
die Materie zurückführen. Das Zuftande-
kommen der Natur und der Materie
ſelbſt aber können wir uns nicht mehr aus
natürlichen mechaniſchen Urſachen erklären.
) Syst. analyt. Seite 8 u. 9.
= Te Teer
Lang, Lamarck und Darwin. |
Lamarck nimmt deshalb, wie ſchon ge-
jagt, für fie eine erſte auß er- und über-
natürliche Urſache, Gott, an; giebt
zugleich aber noch die andere Möglichkeit
zu, daß Materie und Natur unend-
lich und ewig ſeien. In dieſem Falle
ſei die Annahme eines Schöpfers, eines
Gottes, überflüſſig.
Ob Gott außer der Natur und der
Materie noch etwas anderes erſchaffen,
können wir, ſagt Lamarck, nicht wiſſen,
da alle unſere Kenntniſſe aus der Beobach—
tung ſtammen. Daß er aber bei ihrer
Schöpfung keine andere Abſicht hatte, als
daß ſie exiſtiren, und daß er nicht etwa
bezweckte, die Entſtehung irgend eines be—
ſondern Körpers, irgend einer beſonderen
Erſcheinung (auch des Menſchen nicht aus—
geſchloſſen) herbeizuführen, das iſt für
Lamarck unumſtößliche Gewißheit. Blos
die Exiſtenz der Natur und der Ma-
terie iſt Zweck Gottes. Alle Körper,
alle Phaenomena, die wir beobachten, find
die not hwendigen Reſultate der nach
rein mechaniſchen Geſetzen geſchehenden
Einwirkung der Natur auf die Materie;
mit einem Wort: das Univerſum im
Sinne Lamarck's iſt das nothwendige,
mechaniſche und natürliche Produkt der Natur
und der Materie.
Die Materie ift, wie alles direkt Er—
ſchaffene, unzerſtörbar und unver—
gänglich. Auch nicht das kleinſte Theilchen
derſelben geht wirklich verloren, keines wird
wirklich neu gebildet. Nur Gott hat die
Macht, ihre Exiſtenz aufzuheben. Er hat
verſchiedene Arten von Materie erſchaffen,
die den Elementen entſprechen. Die Materie
iſt ſehr theilbar, aber nicht bis in's Un⸗
endliche, nur bis auf die weſentlichen Mole—
küle. Sie iſt vollſtändig paſſiv, träge,
ohne eigene Bewegung und Thätig—
keit. Sie kann aber bewegt werden und tig, keine Intelligenz. Sie iſt ab-
Bewegungen mittheilen. Sie iſt nothwen—
digerweiſe ausgedehnt, ſie iſt endlich,
weil ſie eine Stelle im Raume einnimmt.
Sie bildet die alleinige Subſtanz der
Körper. Je nachdem nun ein Körper aus
der Vereinigung oder Verbindung ver⸗
ſchiedener Arten von Materie beſteht, und
je nach den Beziehungen, welche letztere zu
einander und zu den umgebenden Medien
haben, werden verſchiedene Eigenſchaften be-
dingt.
der Materie find undurchdringlich und
untheilbar, wodurch ſie ſich von den
integrirenden Molekülen der zu—
ſammengeſetzten Stoffe unterſcheiden, die
Die weſentlichen Moleküle
Körper hervor.“
theilbar, veränderlich und zer ſtör⸗
bar ſind. Die Materie hat nur Eigen—
ſchaften, keine Fähigkeiten.
die Bewegung iſt ihr nicht eigen.
beobachtete oder beobachtbare Erſcheinung
iſt nothwendigerweiſe entweder das Produkt
einer Veränderung im Zuſtande eines
Auch
Jede
Stoffes, oder das Produkt von Beziehungen
Modification eines Körpers, welcher ſeine
zwiſchen verſchiedenen Arten von Materie,
von denen wenigſtens eine in Bewegung iſt.
Sehen wir nun des Näheren, was
Lamarck unter Natur verſteht.
Vorerſt
iſt fie. bei ihm etwas abſolut Im ma-
terielles. „Die Materie iſt dem, was
wir unter Natur verſtehen, vollſtändig
fremd.“ Sie beſteht, um die Redeweiſe
Lamarck's zu gebrauchen, aus einer
„Ordnung der Dinge“, welche eine
Macht bildet, die beſtändig auf die Ma—
terie und in Folge deſſen auf alle Theile
des Uni verſums einwirkt. Sie wirkt
blind, nothwendig, mechaniſch,
hat keine Abſichten, keinen Zweck
und kann unter gleichen Verhältniſſen nur
gleiche Wirkungen hervorbringen. Sie iſt
weder ſelbſtbewußt, noch ver nünf—
hängig und beſchränkt. Wie alles
direkt von Gott Erſchaffene bleibt ſie in
ihrem Ganzen beſtändig gleich. Nur Gott
kann ſie aufheben. Die Materie iſt
ihr einziger Wirkungsbezirk. Ohne
ein einziges Theilchen von ihr wegnehmen
oder zu ihr hinzufügen zu können, ver—
ändert und modificirt ſie dieſelbe beſtändig
in der mannigfaltigſten Weiſe. Durch das
unaufhörliche Einwirken dieſer Macht auf
die Materie werden alle die verſchieden—
artigen Körper und Erſcheinungen hervor—
gebracht, die wir beobachten. „Die Natur
bringt nicht die Materie, ſondern die
Sowohl die anorga—
niſchen Körper, als die Thiere und Pflanzen
ſind Reſultate dieſer Einwirkung der blind,
gefegmäßig wirkenden Macht der Natur
auf die Materie. Die „Ordnung der
Dinge“, welche die Natur ausmacht, be—
ſteht:
1) Aus der Bewegung, zu deren
Kenntniß wir durch die Beobachtung „der
Lage verändert“, gelangen. Sie iſt uner-
ſchöpflich, überall vorhanden, aber der
Materie und den Körpern vollſtändig fremd.
2) „Aus verſchiedenartigen conſtanten
und unabänderlichen Geſetzen, nach welchen
alle Bewegungen, alle Veränderungen, denen
die Körper unterworfen ſind, vor ſich gehen
und welche im Univerſum, deſſen Theile
ſich immer verändern, das ſich aber als
Ganzes immer gleich bleibt, eine unzer—
ſtörbare Ordnung und Harmonie her—
ſtellen“.
Die Natur verfügt unaufhörlich über
den Raum, der unbeweglich, durch—
dringbar und beſtimmt ift, und über
die Zeit oder die Dauer, welche nur
eine unendliche oder endliche Continuität
nn
142 Lang, Lamarck und Darwin.
der Bewegung oder der Exiſtenz der
Dinge iſt.
Thätigkeit, Geſetze und endloſe |
Mittel find alſo für die Natur charakte-
riſtich; die Summe aller paſſiven und
weſentlich unthätigen Körper bildet das
Univerſum, das einzige Wirkungsfeld
der erſteren.
Das iſt in kurzer, gedrängter Dar-
ſtellung Lamarck's Philoſophie. Den |
Encyclopädiſten wird man leicht heraus-
finden. Sehr vieles erinnert an das
„Systeme de la nature“: „Das Wort
Zufall drückt nur unſere Unkenntniß der
Urſachen aus.“ „Die Unkenntniß der
Natur iſt Urſache des Unglücks der Men—
ſchen“. Im Sinne des „Systeme de la
Nature“ iſt auch die von Lamarck behaup-
tete Relativität des Guten und Böſen ꝛc. —
Werfen wir noch einen kurzen kritiſchen
Blick auf die Philoſophie Lamarck's,
ſo ſehen wir in erſter Linie, daß Lamarck,
je mehr er zu höheren Abſtractionen empor=
ſteigt, um fo mehr in einen ausgeſprochenen
Dualismus verfällt. So der craſſe Dua-
lismus in ſeiner Unterſcheidung der Natur
und des Univerſums, in der Annahme
einer Einwirkung eines Immateriellen auf
ein Materielles. Zu oberſt erſcheint dann
wieder der bekannte deus ex machina,
jener „Pſeudo-Kraftbegriff“, den Caſpari
im erſten Hefte dieſer Zeitſchrift ſo treffend
charakteriſirt hat. Mag nun auch Lamarck
in ſeiner Philoſophie noch fo ſehr dua—
liſtiſch und z. Th. teleologiſch, in
allen Dingen, insbeſondere in der Auf—
faſſung der Seuſationen, des Raums und
der Zeit, durchaus nicht kritiſch ſein,
immerhin wahrt er ganz ausdrücklich für
das ganze Gebiet der Naturforſchung
das Geſetzmäßige, Mechaniſche. |
nothwendig herbeigeführtes Re—
Huta iſt “
=——— — — — ͤ—ůb
Dies zeigt uns am beſten ein ausgezeich-
neter Ausſpruch Lamarck's, den wir hier
in getreuer Ueberſetzung anführen wollen
und der zugleich uns in das Studium
ſeiner naturgeſchichtlichen Lehren einzuführen
geeignet iſt:
„Hauptſächlich bei den Orga—
nismen und ganz ſpeciell bei den
Thieren glaubte man in den Ver—
richtungen der Natur einen Zweck
zu erblicken. Ein ſolcher Zweck iſt
indeß hier, wie anderswo, blos
Schein, nicht Wirklichkeit. Die
Wirklichkeit hat bei jeder beſon—
dern Organiſation unter dieſen
Naturkörpern eine durch natür⸗
liche Urſachen und ſtufenweiſe zu
Stande gekommene „Ordnung der
Dinge“, durch eine fortſchreitende,
von den Umſtänden bedingte Ent—
wickelung von Theilen das herbei—
geführt, was nur Zweck erſcheint,
und was in Wahrheit reine Noth—
wendigkeit iſt. Das Klima, die
Lage, die Medien, in denen die
Organismen leben, die Mittel
zum Leben und zur Selbſterhal—
tung, kurz, die ſpecifiſchen Ver-
hältniſſe, in welchen jede Art lebte,
haben die Gewohnheiten dieſer
Art herbeigeführt; dieſe haben die
Organe der Individuen umge—
modelt und angepaßt. Die Folge
davon iſt, daß die Harmonie, die
zwiſchen der Organiſation und den
Gewohnheiten der Thiere exiſtirt,
uns als vorbedachtes Reſultat
erſcheint, während ſie blos ein
) Introd. Seite 266 u. 267.
we
Die neueſten Ausgaben des Romans
von der Urweisheit des Menſchengelchlechts.
Von
Carus Sterne.
alter, in welchem alle Thiere
zahm und giftlos, die Menſchen
ohne Sünde und Krankheit in göttlicher
Faulheit bei unſterblichem Ueberfluſſe dahin
lebten, parallel mit dieſer, in dem ewig
jungen Sange von der guten alten Zeit
und der verderbten Gegenwart fortklingen—
den Herzwunſch-Mythe der Menſchheit geht
die andere, von dem goldenen Zeitalter des
Geiſtes und der urſprünglichen Allwiſſen⸗
heit des gotterſchaffenen Menſchen. Gehörte
der Paradieſestraum dem armen, hungern—
den, überbürdeten und leidenden Volke an,
fo ſchwelgten in dem Urweisheits-Rauſche
ſeit jeher die mit ihrer Erkenntnißſtufe un⸗
zufriedenen, dürſtenden Forscher. Dieſelbe
Phantaſie wird uns heute in einer andern
Abſicht vorgeſpielt, nämlich gleichſam als
Haupttrumpf und letztes Mittel, um uns
Civiliſation emporgearbeitet habe, ſondern
umgekehrt von der höchſten Bildungsſtufe
in die tiefſte Rohheit herabgeſunken ſei,
daß die Lehre von dem Sündenfall eine
tiefe Wahrheit enthalte, und daß Plato
vollkommen Recht habe, wenn er fordere,
daß der göttliche Geiſt des Menſchen ſich
zurückbeſinnen ſoll auf Alles das, was er
feit feiner Inkarnation vergeſſen habe.
Mr. Alfred Ruſſel Wallace, den man
den Stiefoheim der Darwin'ſchen Theorie
nennen möchte, weil er ſeine Nichte ſehr häufig
mißhandelt, und von dem es bisweilen
ſcheint, als arbeite er abwechſelnd mit einer
oppoſitionellen Hirnhemiſphäre, wenn ſeine
andre, beſſre Hälfte gerade müde iſt, hat
mit obiger düſtern Melodie die anthropolo-
giſchen Sitzungen des vorjährigen Natur-
forſcher-Congreſſes von Glasgow eröffnet.
Im Grunde machte ſich der geiſtvolle Forſcher
dabei nur zum Echo einer gleichgeſtimmten
zu beweiſen, daß die Wiſſenſchaft wirklich
umkehren müſſe, da die Menſchheit ſich nicht
aus einem Zuſtande der Barbarei zur
Behandlung deſſelben Thema's, welche Mr.
Albert Mott ſchon 1873 als Präſident
der Liverpooler philoſophiſch⸗literäriſchen Ge-
144 Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ıc.
ſellſchaft vorgetragen hatte, obwohl er noch
einige Zweiglein und Blumen einflocht, die
in dem Garten des bekannten ſchottiſchen
Aſtronomen Piazzi-Smyth gewachſen
ſind.
Da ſich die Spitze dieſer neuerweckten
Doktrin gegen die böſen Fortſchrittler der
Naturwiſſenſchaft kehrt, welche vermuthen,
daß das Menſchengeſchlecht ſich umgekehrt
aus ſehr niedern Anfängen emporgearbeitet
habe, ſo hat dieſelbe einen ſehr angenehmen
Klang für alle wohlgeſinnten, conſervativen
Elemente der Gelehrten-Republik gewonnen.
Die Rückſchrittstheorie iſt förmlich Mode
geworden, und auf ihre Statuten ver—
pflichtet ſich ein Geheimbund, deſſen Ziel
iſt, zu beweiſen, daß die moderne Willen-
ſchaft ſich auf gänzlich verkehrtem Wege be—
findet. Welche Perſpektive thut ſich ihnen
auf, wenn ſie von dem göttergleichen Adam,
wie ihn die fromme Bourignon in ihren
Viſionen geſehen, zurückblickt auf den
Darwinianer, der ſich nicht mehr ſchämt,
eine gewiſſe körperliche Aehnlichkeit mit dem
Affen einzugeſtehen, ja bis zu dem Neger
und Buſchmann, welcher dieſer Rückbildung
wirklichen körperlichen Ausdruck leiht! Hat
doch bereits Mivart angedeutet, daß es
am Ende leichter ſei, die vier Linien der
Menſchenaffen vom Menſchen herzuleiten
als umgekehrt dieſen von ihnen, und es
ſchließen ſich dann wunderhübſch daran die
vielſeitigen modernen Beſtrebungen, Am—
phiorxus und Sackwürmer als degenerirte
Wirbelthiere, ja die ganze Schöpfung als
eine durch den Sündenfall aus dem gott—
gleichen Adam hervorgegangene Familie von
Rückſchrittlern aufzufaſſen, wie das ja in allem
Ernſte bereits geſchehen iſt. Es verlohnt
ſich mithin wohl einmal, dem Urſprunge
dieſer modiſchen Parodie der Darwin 'ſchen
Theorie nachzugehen.
Es ſcheint, daß die älteſten Spuren der—
ſelben im alten Babylon anzutreffen waren.
Die Prieſter dieſes allerdings ſehr alten, viel—
leicht älteſten Kulturvolkes rühmten ſich, wie
Beroſus verrathen hat, ſeit zwanzigtauſend
Jahren aſtronomiſche Beobachtungen ange—
ſtellt zu haben, und man ſprach von einer
vor der großen Fluth bereits zur höchſten
Blüthe gediehenen Wiſſenſchaft, deren ſchrift—
liche Aufzeichnungen Kiſuthrus, der chaldäiſche
Noah, nachdem ihm die Fluth angekündigt
worden war, in der Nähe der alten
Sonnenſtadt Sippara vergraben haben ſollte,
um ſie den Ueberlebenden zugänglich zu
machen. Nach hieran ſich knüpfenden egyp—
tiſchen Sagen wäre dies auch gelungen und
der Prieſter Manethos ſollte ſeine Auf—
zeichnungen aus derartigen in Stein einge—
grabenen, vorſündfluthlichen Nachrichten ge—
ſchöpft haben. Mit faſt abgöttiſcher Ver—
ehrung blickten die Griechen auf die Ueber—
bleibſel jener in Indien, im alten Chaldäa
und in Egypten gepflegten Urweisheit, und
ihre Philoſophen pilgerten nach jenen Ländern,
um wenigſtens einen Bruchtheil der antedi-
luvianiſchen Philoſophie heimzutragen.
Fragen wir, worin dieſelbe beſtand, ſo
heißt es, daß es nicht erlaubt war, darüber
offen zu ſprechen, daß man ſie nur in
ſymboliſcher Sprache von Mund zu Mund
und unter dem Siegel der größten Ver—
ſchwiegenheit verbreiten durfte. Diodor
ſagt uns ausdrücklich, daß in den ſamo—
thrakiſchen Myſterien die Weisheit eines
durch die große Fluth vertilgten Urvolkes
mitgetheilt werde; Plato, Cicero, Strabo
und andere vollwichtige Autoritäten ſtimmen
in der Andeutung überein, daß dort der
tiefſte Grund der Dinge, welcher dem Volke
nur unter Bildern zugänglich ſei, gelehrt
werde. Man ließ durchblicken, daß dieſe
Urweisheit der Altvordern eine offenbarte
geweſen, daß fie als Mitgift des Schöpfers,
als von vielen Inhabern leider vernachläſſigte
Erbweisheit zu betrachten ſei. Die
Babylonier wollten dieſe Offenbarungen von
einem fiſchgeſtalteten Gott Jannes, die
Egypter von Thoth, die Etrusker von
einem Sohne des Jupiter erhalten haben.
Aber wie geſagt, die Menſchen achteten das
göttliche Geſchenk nicht, ſie ließen es bis
auf wenige Spuren verkommen, ſanken
herab bis zum Nullpunkt des Verſtandes,
wie ihn etwa die Auſtralier darbieten, ja
immer noch tiefer, bis auf jene Stufe der
negativen Weisheit, in der es beſonders
einige Freunde unſerer Zeitſchrift weitgebracht
haben ſollen.
Ohne vorgefaßte Meinungen würde man
kaum ein Recht haben, die Möglichkeit einer
ſolchen, durch Fluthen oder andre Erd—
umwälzungen vernichteten Kultur in Abrede
zu ſtellen. Allein noch niemals hat man
in angeſchwemmten Schichten, — es wären
denn ſolche unſerer Strom- oder Meeresufer,
— Spuren entdeckt, die man auf eine höhere
antediluvianiſche Kultur beziehen könnte,
und die Parteigänger derſelben werden ſich
bemühen müſſen, dieſelben in von den Meeres—
wellen überſchwemmten Vorwelten, wie etwa
auf der vielumfabelten Inſel Atlantis, oder
auf dem vielleicht ausſichtsreicheren ſubmarinen
Erdtheil Lemuria zu ſuchen. Dem gegen—
über glauben Mott und Wallace den
voll ausreichenden Beweis, daß auch unfre |
Vorfahren die herabgekommenen, in Un⸗
wiſſenheit gefallenen Kinder einer viel weiſeren
Vorzeit geweſen ſeien, aus den Ruinen der
Vorzeit führen zu können. Wenn ſich auch
dabei von einem anfänglich niedern Zu—
ſtande aus, zu dem die allmälig in die
Höhe geſtiegenen Kulturen in einem unge—
heuren Kreislaufe zurückkehren, ſo verräth
Wallace den Anſchein giebt, als gehe er
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 145
doch feine Bundesgenoſſenſchaft mit Piazzi-
Smyth, daß im Hintergrunde ſeiner Ge—
danken neuerdings wohl die Erbweisheits—
Theorie Platz gegriffen hat, wie er ſich
denn auch in ſeiner Rede redliche Mühe
gegeben hat, die Annäherungen zwiſchen Menſch
und Thier hinwegzuleugnen. Sein Schluß—
ergebniß lautet: „daß mehrere, vielleicht die
Mehrzahl unſrer wilden Völker, (warum
nicht alle?) die Abkömmlinge gebildeterer
Racen ſeien, wie denn auch die ihnen be—
kannten Kunſtfertigkeiten in entfernten Con-
tinenten mit einander eine erſtaunliche
Aehnlichkeit darböten, und auf einen ge—
meinſamen Urſprung von civiliſirteren Na-
tionen hindeuteten.“ Insbeſondere glaubt
Wallace mit dem Dr. Daniel Wilſon bei
den Urbewohnern Nordeuropa's, die durch
das Klima leicht erklärbaren Spuren einer
Decadence zu erkennen, da der Menſch
wahrſcheinlich in ungeheuer zurück liegenden
Zeiten in wärmeren Strichen zuerſt aufgetreten
ſei. Es würden demnach die ältern Schichten
Zeichen einer größern Kunſtfertigkeit als die
darauf liegenden jüngern aufweiſen müſſen.
In dem wohldurchſuchten Europa findet
dieſe neue Anſchauungsweiſe weniger Stützen.
Aber in Nordamerika, woſelbſt die Europäer
bei der Entdeckung nur ziemlich rohe In—
dianerſtämme antrafen, verbergen die Erd—
ſchichten in der That Ueberbleibſel einer un—
leugbar höheren und dennoch gänzlich ver—
geſſenen Geſittung; auf oceaniſchen Inſeln,
wo heute Kannibalen hauſen, finden ſich
Spuren von Denkmälern und Bilderſchriften,
deren Urheber ſicher geiſtig höher ſtanden,
als die heutigen Bewohner. In Trümmern
liegen die Wunderbauten der alten Indier,
Perſer, Chaldäer, Egypter und andrer
Völker, die vor Jahrtauſenden ſtolz auf
barbariſche Nachbarn herab ſahen; wilde
Horden, die keine Ahnung von der Weihe
er
des Bodens haben, haufen in den Trümmern.
Die Blüthe Griechenlands iſt für immer
verwelkt, und die Ruinen ſeiner Tempel,
die Fragmente ſeiner Bildwerke ſcheinen be—
deutungsvoll auf den Verfall der Kunſt
und Geſittung hinzudeuten, deſſen Endziel
mithin wäre, daß die Menſchen ſich endlich
ſelbſt verzehrten und zu Raubthieren würden.
Gewiß enthält die ſtumme Predigt der
Ruinen, wie ſie einſt Volney in Worte
gekleidet, tiefernſte Mahnungen, zweifellos
ſind in unzähligen Ländern die Menſchen
von hohen Kulturſtufen hinabgeſunken, faſt
bis zur Grenze des Thieres, und ſicher iſt
das Gerede von einem nothwendigen, ge—
raden Fortſchreiten der Geſittung ebenſo
falſch, wie das andere von einem zielbe—
wußten Aufſteigen der Thierwelt bis zum
Menſchen. Wir haben hier nicht zu unter—
ſuchen, wie weit das, was wir Kultur
und Civiliſation nennen, den Keim des
Verderbens in ſich trägt, nach welchen Ge—
ſetzen etwa die Staaten entſtehen und ver—
gehen, ob die Cultur nach Weſten oder
Oſten ſchreitet; die Frage iſt vielmehr: ob,
von dem Hinſterben eines einzelnen Cultur—
volkes abgeſehen, ganz im Allgemeinen der
Meuſch ſich aus einem Zuſtande der Bar—
barei und höchſten Rohheit emporgearbeitet
habe zur höchſten Bildungsſtufe und theil—
weiſe raffinirtem Luxus, oder ob der um—
gekehrte Weg der allgemeine ſei. Aus der
Allverbreitung von Steinwaffen in Schichten,
die kaum jemals über den Trümmern
wirklicher Culturſtätten, nicht ſelten aber
unmittelbar unter denſelben gefunden wor-
den ſind, hat man bekanntlich die Lehre
von dem prähiſtoriſchen Menſchen auf-
gebaut, an deren Stelle Mott und
Wallace, nunmehr auf einige amerikaniſche
und ozeaniſche Vorkommniſſe geſtützt, diejenige
von dem poſthiſtoriſchen Barbaren
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ze.
ſtellen möchten. Einer der kühnſten Vor—
kämpfer dieſer verkehrten Welt-Ordnung,
Herr Hippolyt Clauzel“) hilft ſich noch
ſchlauer, indem er ſagt: „Der Irrthum,
daß das Menſchengeſchlecht mit einem Zu—
ſtande der Wildheit begonnen habe, während
vielmehr umgekehrt dieſer Zuſtand das
Endergebniß eines allmäligen, durch die
Zerſtreuung und Iſolirung auf weiten Ge—
bieten verurſachten Verkommens geweſen
iſt, hat unglaubliche Dummheiten (bévues)
im Gefolge gehabt.“
Die Herren Boucher de Perthes,
Chriſty und Lartet, Fraas, Lyell,
Lubbock, Virchow und tauſend andere
Verblendete meinten bekanntlich, in ge—
wiſſen mehr oder weniger bearbeiteten
Steinen die rohen Waffen und Werkzeuge
einer auf den erſten Schritten der Cultur
befindlichen Urbevölkerung erkennen zu müſſen.
Thorheit ohne Gleichen! Jene vermeintlichen
Meſſer und Beile waren nach Clauzel
die religiöſen Symbole des weiſen Urvolkes,
ja die in egyptiſchem Styl gehaltenen Dar—
ſtellungen der vom Himmel herab ge—
tropften Urweisheit ſelbſt! Sie
waren zugleich die Abbilder der Paradies-
frucht, welche die von dem Cherub ver—
triebenen Menſchen auf allen Wanderungen
mit ſich führten, wie Hausgötter verehrten
und einander als Erinnerung an den gött—
lichen Urſprung in's Grab legten. „Alle
dieſe Steine“, jo hatte Leguay geſagt,
„haben den Sinn von Votivgaben; ſie
entſprechen ſozuſagen den Immortellenkränzen
und ähnlichen Liebeszeichen, die wir auf die
*) Le triomphe du Christ, ou de
couverte d’une science immense perdue de-
puis 5000 ans. Bergerac 1875. Die hier
mitgetheilten Stellen ſind dem 3. Kapitel
(S. 115 — 164) des köſtlichen Buches ent-
nommen. j
Gräber unſrer Verwandten und Freunde
legen, einem Brauche folgend, der ſich im
Dunkel der Zeiten verliert . . . .. Zu
allen Zeiten, auf jeder Culturſtufe em—
pfand der Menſch den Drang, ſeiner Trauer
äußerlichen Ausdruck zu leihen ..... In
jenen fernen Epochen nun verfertigte Jeder
ſeine Opfergabe ſelbſt, formte ſeinen Kieſel,
und trug ihn ſelbſt herbei. Dieſer Auf—
faſſung würde am beſten die Verſchiedenheit
der in den Gräbern zerſtreuten Kieſelſtücke
einer großen Zahl von weniger geſchickten
Händen gearbeiteter Stücke unter ihnen.“
Zu dieſer wohldurchdachten Vermuthung
über die Bedeutung der maſſenhaften Werk—
zeuge in manchen Gräbern, bemerkt Clauzel:
verſinnlichte, der roheſte Splitter dieſelbe
Bedeutung
hatte. Indeſſen, es iſt bemerkenswerth,
licherweiſe zu Sägen und Schabſteinen
machen möchte, faſt regelmäßig und zum
Beweiſe ihrer myſtiſchen Bedeutung die
Form eines dreiſeitigen Prisma's, als Dar—
ſtellung der Dreieinigkeit, darboten.“
rohen Formen dieſer vermeintlichen Werk—
zeuge und Waffen ſchließen dürfe, daß man
damals keine beſſeren im gewöhnlichen Leben
verwendet habe, ebenſowenig dürfe aus den
megalithiſchen Bauwerken, den Steinkreiſen
und rohen Opfertiſchen geſchloſſen werden,
daß die Erbauer darin etwas ihnen Eben—
bürtiges, oder gar ihr Höchſtes geleiſtet
hätten, während ſie doch anderwärts Wunder—
bauten vollführt hätten, die wir uns ver—
geblich bemühen, nachzuahmen. Clauzel
erinnert zur Erklärung der Rohheit dieſer
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc.
nicht aus behauenen Steinen
würde entweiht werden, wenn du ihn mit
dem Meißel berührteſt“, eine Vorſchrift,
fluthlichen Kinder der
dem Cultus gewidmeten Monumente der
147
Vorzeit an das göttliche Gebot: „So du
mir einen Altar errichteſt, ſollſt du ihn
erbauen, er
die man ſo gut es anging, noch beim
erſten Tempelbau zu Jeruſalem durchzu⸗
führen ſuchte. Dieſe Bauten der vorſünd—
Weisheit, waren
eben abſichtlich roh gehalten, um die
Afterklugheit des neunzehnten Jahrhunderts
entſprechen und insbeſondere die Roharbeit
zu äffen. Von der hohen mathematiſchen
Bildung legt aber die Bewegung und Auf—
richtung der koloſſalen Maſſen allein ſchon
vollgiltiges Zeugniß ab. Daß die Griechen
und andre Völker in einem wohlüberſehbaren
Entwicklungsgange begannen, die geheime
„Man darf nicht vergeſſen, daß in jener
Zeit, in der man die Gottheit durch Steine
Mathematik ihrer Urahnen anzuwenden und
mit Meißel und Loth immer ſchönere
Tempel zu bauen, war alſo, wie es ſcheint,
wie das beſtgeformte Stück
bereits Profanation und Decadence, und
die rohen Bildwerke der Oſterinſel ſind als
daß dieſe Splitter, die man heute lächer-⸗
abſichtlich roh gehaltene Skulpturen viel—
leicht von dieſem höheren Geſichtspunkte aus
„unſrer lieben Frau“ von Melos weit
vorzuziehen.
So ſcharfſinnig dieſe von der Rohheit
der Steinwaffen und der eyklopiſchen Bauten
Ebenſowenig, wie man alſo aus den
hergenommenen Gründe für die Superio—
rität der Urmenſchen auch ſein mögen, man
kann doch nicht läugnen, daß ſie mehr
negativer Art ſind, etwa wie man die
Klugheit am Schweigen und den wahren
Philoſophen, ſeit Sokrates, am Geſtänd—
niſſe ſeiner tiefgefühlten Unwiſſenheit er—
kennt. Allein auch mit poſitiven Gründen
hat man die niederſchmetternde Botſchaft
von dem tiefen Sturze des ehemals erha—
benen Geiſtes zu unterſtützen gewußt, indem
man gewichtige Spuren einer Urweisheit
nachzuweiſen ſuchte, welche ſchlechterdings
nicht irdiſcher Abkunft ſein könnten. Zuerſt
148
hat man in dieſer Beziehung auf die ſchon
im Alterthum angeſtaunten aſtronomiſchen
Kenntniſſe der Chaldäer und alten Indier
hingewieſen, welche letzteren den herabge—
kommenen Söhnen ein Verfahren hinter⸗
laſſen haben, nach dem ſie Sonnen- und
Mondfinſterniſſe faſt mechaniſch an den
Fingern ausrechnen, indem ſie ein Gedicht
herſagen und darnach den Termin der näch—
ſten Finſterniß aus dem vorigen berechnen.
Beſonders Bailly in ſeiner „Geſchichte
der Aſtronomie“ bei den Alten hat viel
dazu beigetragen, daß die aſtronomiſchen
Kentniſſe der Alten in's Fabelhafte über—
trieben worden ſind, ſo daß wirklich der
Zweifel rege werden mußte, ob denn ein
ſolcher Wiſſensſchatz ſelbſt erworben ſein
konnte ſchon zu einer Zeit, die nur we—
nige hundert Jahre nach dem angenommenen
Geburtsjahre der Menſchheit fiel. Die
neuere Zeit hat, nachdem die Entzifferung
der Keilſchriften gelungen iſt, dieſe Angaben
an ſichern Dokumenten kontroliren können
und der unheimlichen Urweisheit näher auf
die Finger geſehen. In der Bibliothek von
Ninive wurde unter andern eine größere
Anzahl von Tafeln gefunden, die zu einem
großen aſtronomiſchen Werke, Namar Bel
betitelt, gehören, und wie die meiſten
dieſer Werke im Jahre 700 v. Chr. auf
Befehl König Sargon's II nach Tafeln ko—
pirt ſind, die vielleicht tauſend Jahr und
darüber alt waren. A. H. Sayce und
andere Keilſchriftkenner haben dieſe Sargon’-
ſchen Tafeln überſetzt, und es tritt uns
daraus ein reſpectables Beobachtungsmaterial
entgegen. Aber einmal zeigen ſich dieſe
Kenntniſſe tief geſättigt mit aſtrologiſchem
Aberglauben, dem deutlichſten Merkmal
einer kaum den Kinderkrankheiten entron—
nenen Wiſſenſchaft, auf der andern Seite
begegnet man Angaben über Finſterniſſe,
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc.
die nicht zur berechneten Zeit eingetroffen
waren, wahrſcheinlich, weil man nur ver—
ſtand, den regelmäßigen Cyclus der Finſter—
niſſe, nicht aber zu berechnen, an welchen
Orten der Erde ſie ſichtbar ſein würden.
So hat man ein Tüfelchen gefunden, auf
welchem der offizielle Aſtronom Abal-Iſtar
dem Könige Meldung über eine derartige
ausgebliebene Sonnenfinſterniß macht. Die
offenbarte Urweisheit hält alſo im Punkte
der Aſtronomie keinen Vergleich aus mit
unſerer ſündlichen, ſelbſterarbeiteten Wiſſen⸗
ſchaft.
Zahlreiche Andeutungen gelehrter Män-
ner des ſpätern Alterthums hatten, wie
ſchon oben erwähnt, durchblicken laſſen,
daß in den Myſterien die Reſte der Ur—
weisheit, tiefe phyſikaliſche und kosmiſche
Lehren vorgetragen würden, und die my—
thologiſche Schule, welche in den erſten
Jahrzehnten unſres Jahrhunderts herrſchend
war, die Kanne, Creuzer, Schelling,
Barth u. A. verſuchten es denn auch,
alle Mythen des griechiſchen Olymps phy—
ſikaliſch zu verſtehen, wie es Dupuis
früher und im Allgemeinen mit mehr Glück
unternommen hatte, dieſelben aſtronomiſch
zu deuten. Der gelehrte Hallenſer Phyſiker
Prof. C. Schweigger unternahm es in
dieſem Sinne, in zahlreichen Abhandlungen
den Beweis zu liefern, daß die griechiſchen
und römiſchen Prieſter die Geſetze des da—
mals eben erkannten Electromagnetismus
mindeſtens ebenſo genau gekannt hätten,
wie Oerſtedt und Ampere, und daß
man nichts beſſeres thun könne, um den
Studirenden die ſchwierigſten Probleme an—
ſchaulich zu machen, als zu der Bilderſchrift
der griechiſchen Tempel zurückzugreifen. Auf
Veranlaſſung der neueren Entdeckungen von
Dümichen und Brugſch, nach denen
die altegyptiſchen Tempel bereits vor vier—
tauſend Jahren mit Blitzableitern verſehen
geweſen zu ſein ſcheinen, habe ich vor einigen
Monaten dieſes Feld noch einmal gründlich
durchgeackert, und bin dabei zu bemerkens—
werthen Reſultaten gelangt, die ich ander—
wärts veröffentlicht habe, allein ich habe
mich nicht überzeugen können, daß das Alter—
thum über die leicht zu erwerbende Kenntniß
der Thatſache, daß die Luftelectrizität ſich
an metallenen Gegenſtänden herableiten und
anhäufen läßt, weit hinausgekommen ſei.
Vor Allem aber haben einige Winke
des alten Herodot und Strabo, nach
denen in den äußern Ausdehnungen der
großen Pyramide von Gizeh gewiſſe mathe—
matiſche Verhältniſſe und beſtimmte Maß—
einheiten niedergelegt ſeien, die Alterthums—
forſcher gereizt, hier ein unvergängliches
Denkmal der offenbarten Urweisheit zu
erkennen, und daraus die tiefſten Geheim—
niſſe der Welt abzuleiten. Bereits im
Jahre 1637 ſuchte der Oxforder Profeſſor
John Greaves dieſe Geheimniſſe der
großen Pyramide mit der Meßſchnur zu
ergründen, und die Gelehrten der fran—
zöſiſchen Expedition Le Pere und Cou—
telle fanden, daß die Angabe des Strabo,
die Höhe des Baues gleiche genau einem
egyptiſchen Stadium, bewunderungswürdig
zutreffe, woraus weiter folge, daß die
alten Egypter vor undenklichen Zeiten
Gradmeſſungen mit einer Genauigkeit aus—
geführt hätten, die man damals kaum
übertraf. In unſerm Jahrhundert widmete
zuerſt der engliſche Oberſt Howard Vyſe
der großen Pyramide ein dreibändiges
Werk (1837), in welchem er auf Grund
der Meſſungen ſeines Ingenieurs Perring
wunderbare Dinge entdeckt hatte. Ihm
folgte der Ingenieur Wild aus Zürich,
der in dem Verhältniſſe der Maße eine
großartige architektoniſche Vorführung des
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc.
149
pythagoräiſchen Lehrſatzes erkannte. Mr.
John Taylor aus London veröffentlichte
jodanı 1864 die große Entdeckung, daß
in dem Maßverhältniß der Pyramidenhöhe
zur Summe der Baſis-Kanten die Lu dolf'-
ſche Zahl mit Ludolf'ſcher Genauigkeit
mehrere tauſend Jahre vor demſelben archi—
tektoniſch verewigt ſei.
Aber alles das waren nur die Vor—
läufer der pyramidalen Entdeckungen, welche
der ſchottiſche Aſtronom Piazzi-Smyth
an der großen Pyramide machen ſollte,
Entdeckungen, die darauf abzielen, zu zeigen,
daß dieſe Pyramide ein von Gott in—
ſpirirtes Werk iſt, in welchem die
größten phyſikaliſchen und aſtronomiſchen
Entdeckungen unſerer Tage, die Maße des
Weltalls, vorweg deponirt ſind, vor welcher
die Kepler, Newton, Herſchel und
Humboldt das Haupt neigen ſollen, in
Demuth bekennend, daß ſie mit der ge—
offenbarten Weisheit der großen Pyramide
keineswegs concurriren können. Seit dem
Jahre 1864 hat Piazzi Smyth eine
Bibliothek von ſechs, zum Theil ſehr dicken
Bänden über das ehrwürdige Bauwerk ver—
öffentlicht, von denen wir hier nur auf
den letzten verweilen”), da er die vollſtän—
digſte Ueberſicht giebt. Wir wollen die
wunderbaren Reſultate dieſer Pyramiden-
weisheit zur Beſchämung der modernen
Forſchung hier nochmals zuſammenſtellen:
1) Die Höhe der Pyramide entſpricht einem
Milliardſtel der Entfernung der Sonne
von der Erde, mit einer Genauigkeit, wie
man ſie 1867 noch nicht erreicht hatte,
und erſt in den jüngſtverfloſſenen Jahren
berechnet hat. 2) Die Pyramide iſt ſo
genau nach den Himmelsgegenden orientirt,
wie es z. B. Tycho de Brahe bei ſeiner
) Our Inheritance in the great Pyramid.
II. Ed. London. 1874.
150
Sternwarte auf Uranienberg trotz allen
augewendeten Fleißes nicht eyreichen konnte.
3) Das Gewicht der Pyramide entſpricht
auf ein Haar dem Hundertbillionften Theil
des Erdgewichtes. 4) Ein halbes Milliard—
ſtel des Erddurchmeſſers entſpricht genau
dem Pyramidenzoll, der Maßeinheit der
Stiftshütte und des Weltalls. 5) Die
Baſis-Kanten ergeben in Pyramiden-
ellen die Tage eines Jahres bis auf den
Bruch. 6) Die Länge des Jahreswegs der
Erde um die Sonne beträgt auf den
Schritt genau hunderttauſend Millionen
Pyramidenzolle. Ich will nur noch ſumma—
riſch erwähnen, daß in dem Innern der
Pyramide ein Gefäß gefunden wurde, deſſen
Inhalt mit Waſſer gefüllt, zur Beſtimmung
des Pyramidenpfundes dient und zugleich
die mittlere Erddichtigkeit ausdrückt, daß
die Richtung des geneigten Hauptganges
der Pyramide das Erbauungsjahr angiebt,
und gleichſam den unverrückbaren Zeiger
der Weltenuhr darſtellt, welcher das durch
das Vorrücken der Nachtgleichen gegebene
große Weltenjahr abmißt, nach welchem
die Conſtellationen des Weltalls wieder—
kehren.
Man kann ſich denken, mit welchem
Enthuſiasmus die Reſultate dieſer Unter—
ſuchungen, welche die moderne Wiſſenſchaft
vor der offenbarten Urweisheit demüthigen
ſollen, von chriſtlich konſervativen Männern
aufgenommen worden ſind. Eine Menge
derſelben, von denen ich nur Prof. Hamilton
Smith in New-York, Sir John Vincent
Day in Glasgow, Mr. James Simpſon,
Mr. Waynman Dixon, Sir John
Herſchel erwähnen will, haben ſich mit
Smyth vereint, um den Triumph der offen—
barten Weisheit voll zu machen und Sir
Alfr. Ruſſel Wallace hatte Recht, ſich
in ſeiner Rede über die richtige Auffaſſung
Re
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc.
des Entwicklungsganges der Menſchheit
hauptſächlich auf die großen Entdeckungen
Smyth's zu berufen. Man darf gewiß
auch ferner noch auf die überraſchendſten
Enthüllungen aus dieſem Kreiſe für die
Verbreitung höherer Wahrheit rechnen.
Schon haben ſie entdeckt, daß in der großen
Pyramide nicht nur, wie in einem Grund—
ſteine, der Bauplan und die Maße des
Weltalls niedergelegt ſeien, ſondern daß
darin auch das Jahr der Sündfluth, der
Geburt und des Leidens Chriſti, des Welt—
untergangs u. ſ. w. zwar nur in Maß⸗
zahlen, aber dem geſchärften Auge deut—
licher als wenn es geſchrieben ſtünde,
niedergelegt ſind. Mein verehrter College,
der Herausgeber des Pariſer Kosmos,
Abbé Moigno, einer der eifrigſten Partei—
gänger der Pyramidenweisheit, hat die bis—
herigen Reſultate derſelben in einem Buche?)
geſammelt, welches ich den auf ein weiteres
Eindringen in dieſelbe begierigen Leſern
empfehlen kann. i a
Es bleibt mir nur noch übrig, auf
einige Umſtände hinzuweiſen, welche alle
dieſe hochgelehrten Herren für unweſentlich
halten und darum in ihren Schriften zu
erwähnen unterlaſſen, nämlich darauf, daß
wir eigentlich gar nicht genau feſtſtellen
können, wie hoch die Pyramide, wie lang
ihre Kanten und ſonſtigen Dimenſionen
geweſen ſind. Bekanntlich fehlt derſelben
die ſcharfe Spitze und die geſammte äußere
Bekleidung, und je nachdem man die letz—
tere etwas dicker oder dünner annimmt,
kann man durch Multipliciren und Di—
vidiren jede beliebige Zahl herausrechnen,
die man ſich zu finden vorgeſetzt hat. So
hat denn auch einer der begabteſten Schüler
*) La grande Pyramide, ses mer-
veilles, ses mysteres et ses enseignements.
Paris 1875.
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc—
Smyth's, Herr A. Dufeu, Mitglied
des egyptiſchen Inſtitutes zu Paris, in
vollem Ernſte, aber zum Entſetzen des Mei—
ſters, aus den Dimenſionen der großen Py—
ramide herausgerechnet“), daß deren Erbauer
wahrſcheinlich Amerikaner geweſen ſind,
was vortrefflich mit der Hypotheſe des
Herrn Wallace von der Urweisheit in
Nordamerika ſtimmt.
Nicht ganz ſo ernſthaft ſind vielleicht
die Rechnungen des Herrn Prof. Wacker—
barth in Upſala zu nehmen, der nach An—
leitung des ſchottiſchen Aſtronomen aus den
Dimenſionen ſeines Fortepiano die wunder—
bare Zahl ebenfalls herausrechnete und
dieſelbe ferner in der Höhe der Pauls—
kirche (314 Fuß) ausgedrückt fand, wäh—
rend Sir Henry James aus dem merk—
würdigen Umſtand, daß die Länge eines
Aequatorgrades 365,234 engliſche Fuß be—
trägt, alſo durch 1000 dividirt genau die
Tage des Jahres ergiebt, ſich zu dem
Schluſſe berechtigt fand, daß der engliſche
Fuß ebenſo gut ein inſpirirtes Weltallsmaß
ſein müſſe, wie die famoſe Pyramidenelle.
Clauzel glaubt aus dem Umſtande, daß
das „älteſte Gebäude der Welt“ zugleich
das „gelehrteſte Haus“ ſei, ſchließen zu
dürfen, daß ſehr wohl die Völker der ſo—
genannten Steinzeit die heruntergekommenen
Nachkommen eines weiſen Urvolkes, deſſen
Bildungsſtufe der unſrigen gleichkam oder
ſie weit übertraf, geweſen ſein können; wir
ſchließen uns hingegen lieber der Meinung
Wackerbarth's an, daß Zahlen in der
Hand eines Träumers ein gefährliches
Spielzeug ſeien, und daß man ein ſehr
„gelehrtes Haus“ ſein könne und doch Ein—
) Decouverte de Page et la véritable
destination des quatres Pyramides de Gizeh,
prineipalement de la grande Pyramide. |
Paris 1873.
151
fälle haben kann, wie das bekannte ein—
fältige alte Haus.
Da die Parteigänger der pyramidalen
Urweisheit insgeſammt ſtarke Bibelgläubige
ſind, ſo will ich ihnen in allem Ernſte zu
bedenken geben, daß ihre Lehre höchlichſt
entſchieden der Bibel zuwiderläuft.
Denn dieſe lehrt bekanntlich, daß gerade
mit dem Genuſſe vom Baume der
Erkenntniß die Sünde in die Welt kam,
und dieſe Mythe iſt in ihrer Art zehnmal
gedankenreicher und ſchöner als die, daß
eine im Beſitze der höchſten Weisheit
befindliche Menſchheit ſo dumm geweſen
ſein ſollte, dieſelbe freiwillig wieder zu ver—
ſcherzen. Indiſche, perſiſche und turaniſche
Sagen ſtimmen darin völlig mit der ſe—
mitiſchen Mythe überein, und ich kann den
Herren Smyth und Moigno nur ſoweit
Recht geben, als ſie behaupten, die Urheber
dieſer Mythen ſeien ſchlauer geweſen als
ſie ſelbſt. Dem Herrn Hippolyt Clauzel,
der in den ſteinernen Werkzeugen der Vor-
zeit gleichzeitig das himmelstropfenförmige
Symbol der Urweisheit und des Apfels,
durch den ſie verloren ging, erkennen will,
und der in den geſammten religiöſen Bild—
werken des Erdballs nichts als Wieder—
holungen dieſer Sündenfall-Mythe zu er—
kennen im Stande iſt, deſſen erſte Frage
ſtets lautet: Oü est la femme? und die
zweite: Oü est la pomme? — möchte ich zu
bedenken geben, ob nicht vielleicht die Auf—
faſſung des Herrn Victor Guerin bibel-
gemäßer ſei, der vor drei Jahren einen
Haufen ähnlicher Kieſelwerkzeuge, die er in
einer Höhle fand, für die Werkzeuge er—
klärte, deren ſich Joſua zu ſeiner berühmten
gaſſenoperation bedient hat, und von denen
ein Theil ja wohl über die geſammte Erde
verftrent worden fein mag. Die andern,
die mich tadeln möchten, derartigen Träume—
— — —
152°
reien ſoviel Rückſicht geſchenkt zu haben,
mögen ſich zu meiner Entſchuldigung des
alten Wortes erinnern: Diffieile est, satiram
non seribere!
Mit dieſen Urweisheits-Doctrinären,
welche ſagen: „die Wilden aller Zeiten waren
und find Abkömmlinge urweifer Menſchen,“
kann ein Mann von dem weiten Blicke
Wallace's natürlich nicht in allen Stücken
gemeinſchaftliche Sache machen. Er wünſcht
zunächſt nur Zweifel zu erregen, ob man
ein Volk der Vorzeit oder Gegenwart,
überhaupt nach der Beſchaffenheit ſeiner
Geräthe und Lebensweiſe prähiſtoriſch nennen
dürfe, und für dieſen Einwurf darf ihm
die prähiſtoriſche Forſchung dankbar ſein,
obwohl ſie denſelben Grundſatz längſt, z. B.
den jetzt ſo tief rangirenden Auſtraliern
gegenüber, geltend gemacht hat. Wir würden
dieſes Muſterbeiſpiel für ſehr viel glücklicher
halten, als die beiden von Wallace aus—
führlich dargelegten Beiſpiele der Urbe—
wohner Nordamerika's und der Oſterinſeln.
Die Steinbildwerke der Letzteren bezeichnen
unſres Bedünkens keine beſonders bemerkens—
werthe Culturſtufe und von den Urameri—
kanern ſchließt Wallace ſelbſt, aus dem
unähnlichen Profil der Pfeifen-Bildwerke,
daß ſie nicht die Ahnen der nachherigen
Landinhaber geweſen ſeien. Laſſen wir der
Kürze halber die Beweiskraft jener plafti-
ſchen Schöpfungen unangezweifelt, ſo ſtehen
wir nur einer amerikaniſchen Parallele zu
der lokalen Vernichtung alteuropäiſcher Cultur
durch aſiatiſche Horden gegenüber.
Nur auf einen Umſtand möchte ich zum
Schluſſe noch aufmerkſam machen. Wallace
meint, daß zu einer derartigen Degeneration
Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc.
2 )
BET EEE IE
ähnliche ungeheure Zeiträume gehören möchten,
als zur Erwerbung einer durchaus ſelbſtän—
digen Cultur. Abgeſehen davon, daß wir
in einzelnen europäiſchen Ländern während
des Zeitraums weniger tauſend Jahre
mehrere Schwankungen von ausgezeichneter
Cultur zu verhältnißmäßig auffallender
Verwilderung verfolgen können, ſo werden
unter Umſtänden ſogar wenige Generationen
hinreichen, um aus den Kindern eines hoch—
gebildeten Volkes „Steinmenſchen“ zu machen.
Man braucht nur an die Robinſonaden zu
denken, deren Urbild Grimmelshauſen im
Simpliciſſimus geſchaffen hat. Denkt man ſich
einige Familien der gebildetſten Klaſſen
Rußlands oder Frankreichs nach einem
öden Theil Sibiriens verwieſen oder nach
einer iſolirten Inſel deportirt, ſo wird ihre
Nachkommenſchaft ohne Spezialkenntniſſe in
der Metallgewinnung oder Mineralkenntniß,
vielleicht ohne Erze, gar bald wieder in
den Zuſtand des Steinmenſchen hinabſinken
können. Wallace deutet indirekt darauf
hin, daß ein ſolches Verhältniß auch viel—
leicht bei dem europäiſchen Urmenſchen an—
zunehmen ſei, und will ſich, wie es ſcheint,
daraus erklären, daß die Schädelunterſchiede
zwiſchen dem vorhiſtoriſchen und dem heu⸗
tigen Durchſchnitts-Europäer fo gering aus-
fallen. Weit entfernt die Nützlichkeit ſolcher
Erwägungen zu verkennen, hielten wir es
doch für angezeigt, zugleich auf die Aus—
wüchſe der Degenerations-Hypotheſe hinzu—
weiſen, zu welcher die Gegenwart in Be—
folgung der weltgeſchichtlichen Regel, welcher
die Echternacher Springproceſſion thatſäch—
lichen Ausdruck giebt, lebhaft hinzuneigen
ſcheint.
Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Tieder
der Ehrüer
von
1 Dr. Martin Sckultze.
e enn Jemand das verdienſt- großen Ganzen fallen jedoch jene vier Pe—
liche, aber freilich ſchwierige
> Werk, eine Geſchichte der
\ Mythologie zu Schreiben,
b übernehmen wollte, ſo würde
er wahrſcheinlich dazu kommen, ſeinen Ge—
genſtand in folgende vier Perioden einzu—
theilen:
1) Die Zeit der Mythenbildung,
2) Die Zeit der Tradition,
3) Die Zeit der Kritik,
4) Die Zeit der Reconſtruction.
Natürlich gelten dieſe vier Perioden nicht
für die ganze Welt, ſondern höchſtens für
ein einzelnes Volk. Während z. B. im ge—
bildeten Europa die Mythologie bereits in
ihre letzte Phaſe eingetreten iſt, befindet ſie
ſich bei den „culturloſen“ Völkern andrer
Erdtheile noch heute in der erſten. Ja
ſogar innerhalb deſſelben Volkes decken ſich
die Perioden nicht ganz. Während man in
den Metropolen der Intelligenz bereits re—
conſtruiert, oder wenigſtens kritiſiert, blüht
in ſtillen Gebirgsthälern noch die Tradition,
wenn nicht gar die Mythenbildung. Im
rioden mit denjenigen der Culturgeſchichte
zuſammen.
In der vorhiſtoriſchen oder, wenn
der Ausdruck erlaubt iſt, „culturloſen“
Zeit bilden ſich die Mythen in der Weiſe,
daß zunächſt auffallende Vorgänge des täg—
lichen Lebens beſprochen werden. Hauptge—
genſtände dieſer Beſprechung ſind: die Be—
reitung künſtlicher Nahrungsmittel, die Er—
zeugung des Feuers, die Herſtellung von
Waffen, Kleidungsſtücken und Geräthen,
ſowie, bei ſeßhaften Völkern, die landwirth—
ſchaftlichen Arbeiten. Wenn der kräftige
Mann mit dem Grabſtocke, ſpäter mit dem
Pfluge, Furchen in den Erdboden riß, um
dann die Saat hinein zu ſtreuen, und zwar
im Herbſt, vor dem erſten Schneefall, ſo
hieß es: „der Starke folgt dem Rei
ßenden, bis der letztere im Schnee fteden
bleibt.“ — Sodann werden die menſchlichen
Verhältniſſe auf das Außermenſchliche über—
tragen. Man beſprach die auffallenderen
Naturerſcheinungen in ähnlicher Weiſe. Wenn
z. B. im Hochſommer die gelb flammende
Sonne mit verſengendem Strahl die Men—
ſchen traf, ſo ſagte man: „der Starke iſt
zum gelben Mähnen-Löwen geworden.“
Mit dem Beginn der Geſchichte,
d. h. zu der Zeit, wo die Völker ſich auf
ſich ſelbſt beſinnen, die Thaten ihrer Vor—
fahren im Gedächtniß behalten und ſpäter
ſogar aufzeichnen, da wird aus dem Be—
ſprechen ein Erzählen, aus der Mythen—
bildung eine Tradition. Beſtimmte Hel-
den treten an die Stelle der unbeſtimmten,
ſtets wechſelnden Perſonen der frühern Pe—
riode. Es heißt nicht mehr: „der Starke
folgt dem Reißenden“, ſondern „der
ſtarke Sohn der Alkmene folgte dem
reißenden (erymanthiſchen) Eber bis in
den Schnee.“ Ferner: „derſelbe ſtarke Held
warf die gelbe Löwenhaut über die Schultern.“
Dies iſt die Zeit, in der einerſeits die
breite Proſa-Erzählung zur Entwickelung
kommt, wie bei den Semiten, andrerſeits
die epiſche Poeſie ihre erſten Blüthen treibt,
wie bei den Indogermanen.
Wenn es dann zur Bildung der Wiſſen—
ſchaft kommt, d. h. wenn die Völker an-
fangen, darüber nachzudenken, ob das Ge—
auch die Mythologie in das Stadium der
Kritik. Dieſe Periode iſt, wie es in
der Natur der Kritik überhaupt liegt, nicht
die bisherige Entwickelung, iſt jedoch nichts—
deſtoweniger nothwendig als Vorſtufe zur
Erkenntniß der Wahrheit. Sie, die Periode
des Zweifels, beginnt für die griechiſche
eythologie bereits im Alterthume. Das
chriſtliche Mittelalter ſodann negiert zwar
die Berechtigung der alten Mythen über—
haupt, begnügt ſich indeß mit dieſem allge—
meinen Proteſte, ohne im Einzelnen Kritik
zu üben. Erſt die neuere Zeit nimmt dieſe
wieder auf. Immer ſicherer wird die Unter—
154 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer.
glaubte auch wahr und wirklich iſt, ſo tritt
ſcheidung zwiſchen Geſchichte und Sage.
Man bleibt jedoch hierbei nicht ſtehen, ſon—
dern ſucht auch bereits den Sinn der
Mythen zu deuten, ſo gut man es ver—
mag. Dieſe Deutungsverſuche ſind zuerſt
völlig phantaſtiſcher Natur. Man traut den
mythenbildenden Völkern eine Beobachtungs—
gabe, einen Schönheitsſinn, eine Natur-
ſchwärmerei zu, die ſie nie gehabt haben.
Inzwiſchen iſt die vergleichende Sprach—
wiſſenſchaft erſtanden, und ihr folgt nun
auf dem Fuße die vergleichende My—
thologie. Bisher unverſtandene Namen
werden jetzt richtig gedeutet, und man lernt,
durch Vergleichung verwandter Sagen, das
Wichtige vom Unwichtigen, das Nothwen—
dige vom Zufälligen ſcheiden. Dabei geht
man jedoch einſeitig zu Werke, indem man,
ohne Rückſicht auf die gegebenen Verhält⸗
niſſe, der Sprachwiſſenſchaft allein das
Recht zuerkennt, in Sachen der Mythologie
zu entſcheiden.
Endlich erhebt die rationelle Natur-
forſchung unſrer Tage ihr Haupt; und
hiermit tritt die Mythologie in ihr viertes
Stadium, das der Reconſtruction.
Soll einmal ein einzelner Name genannt
werden, fo könnte wohl auch hierfür der-
jenige Darwin's als epochemachend gelten.
Man fängt an, den Menſchen ſelbſt als
productiv, ſondern hemmt im Gegentheil
Naturproduct anzuſehen und, beſonders in
ſeinen tieferen Entwickelungsſtufen, zu ſtu—
dieren. Dadurch fällt ein unerwartetes Licht
auf die vorhiſtoriſchen Zuſtände der Cultur⸗
völker, und wie mit einem Schlage er—
ſteht in zauberhafter Klarheit die alte.
Märchenwelt vor unſern Blicken wieder.
Es iſt, als ob Herbſtnebel bis dahin die
Ausſicht gehemmt hätten. In ihnen wogte
es wohl von Geſtalten; dieſelben waren
aber alle mehr oder weniger dunkel und
unerkennbar. Jetzt tritt der erſte Froſt ein,
Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer.
und plötzlich ſehen wir mit Erſtaunen vor
uns die ſilberne Pracht des bereiften Waldes.
Er iſt zwar todt; die herrlichen Sagenge—
ſtalten der Vorzeit ſind nicht mehr fähig,
ſich weiter zu entwickeln. Aber wir ſehen
ſie nun greifbar vor uns; wir brauchen
blos die Hand auszuſtrecken, um den Duft
der Poeſie abzuſtreifen und dann den Stamm
des uralten Baumes ſelbſt zu faſſen. Frei—
lich iſt dieſer innerſte Kern der Sagen
lange nicht fo ſchön, wie die ihn umklei—
dende Hülle ahnen ließ.
Dieſen Weg hat die griechiſche Mytho—
logie, und mit ihr die indogermaniſche
überhaupt, genommen. Anders iſt es der
ſemitiſchen, ſpeciell der ebräiſchen, er—
gangen. Während die griechiſche Mythologie |
durch das Chriſtenthum gewiſſermaßen ge—
tödtet wurde, durfte die ebräiſche ſich zwar
nicht in voller Freiheit weiter entwickeln,
wie etwa die indiſche, wurde jedoch noch
im Stadium der Tradition von der neuen
Religion aufgenommen und als Heilig—
thum ſorgfältig conſerviert. Als es daher
ſchon lange zu einer kritiſchen und ſogar
reconſtructiven Behandlung der griechiſchen
Sagen gekommen war, galt es noch immer
als Sacrilegium, die ebräiſchen Mythen,
die uns Geneſis, Richterbuch u. ſ. w.
(natürlich in der Form von Geſchich te)
darbieten, mit kritiſcher Hand anzutaſten.
Erſt im fünften Jahrzehent dieſes Jahr—
hunderts wagte F. Nork von einer „My—
thologie“ der Bibel zu ſprechen. Freilich
fehlte ihm noch der Schlüſſel, den uns
nicht allein die Sprachwiſſenſchaft, ſondern
vor allen Dingen die Naturkunde (Anthro—
pologie, Ethnologie) darbietet. Zur För—
derung der Kritik haben dann mit mehr
oder weniger Glück beigetragen: Schwenk,
J. Braun, H. Steinthal, F. Grill,
J. Goldziher u. A. Ich ſelbſt habe es
155
verſucht, die Reſultate der Naturforſchung
mit denen der Sprachvergleichung zu ver—
einen, um ſo eine Reconſtruction der ebräi—
ſchen Mythologie anzubahnen, nicht ohne
darin von Männern wie O. Caspari,
A. de Gubernatis, Fr. von Hell-
wald, H. Pfannenſchmid unterſtützt
und ermuthigt, von anderer Seite natür—
lich angegriffen zu ſein. Oft habe ich ge—
wiß noch zu kurz, bisweilen auch wohl
über das Ziel hinaus geſchoſſen.
Im Folgenden iſt der Verſuch gemacht,
den ſpärlichen Reſten der alt-⸗ebräiſchen
Volkspoeſie, ſoweit fie ſich auf den Yand-
bau beziehen, mit vorurtheilsfreiem Blicke
zu begegnen, und zwar mit der beſtimmten
Erwartung, in ihnen nicht unwichtige Auf—
ſchlüſſe über Sitten und Sagen der Ebräer
zu finden.
Zum richtigen Verſtändniß der in den
Text der bibliſchen Bücher eingeſtreuten
Lieder iſt Folgendes zu beobachten. Die
Lieder ſind offenbar älter als der Proſatext.
Beſonders die Ueber- und Unterſchriften
(Ex. 15, 1; Gen. 49, 28) gehören einer
ſpätern Zeit an und find ganz bedeutungslos.“
Auch ſpruchartige Einſchiebſel und An—
hängſel (Gen. 49, 18; Richt. 5, 31) ſind
auszuſcheiden. Die Lieder ſind nur aus
ſich ſelbſt, nicht aus der ſie begleitenden
Erzählung, zu erklären. Bei der Neigung
jüngerer ebräiſcher Schriftſteller, die Pro—
ducte der älteren zu ihren Zwecken zu ver—
wenden und tendenziös umzugeſtalten,
kommt es hauptſächlich darauf an, die
Tendenz zu entdecken. Da die große Mehr-
zahl der ſpäteren Schriftſteller dem Levi—
tismus angehört, ſo iſt beſonders auf dieſe
Richtung in den Liedern, die im Uebrigen
ein alterthümliches Gepräge haben, zu
achten und die Ausſcheidung der dahin
zielenden Stellen und Ausdrücke zu ver—
21
156
ſuchen. In den allerälteſten Liedern, be—
ſonders in denen iſraelitiſchen Urſprungs
(Nicht. 5), iſt auch der Gottesname Jah ve
(Jehova) verdächtig. Entweder ſind ganze
Stellen, in denen er vorkommt, als unächt
auszuſcheiden, oder an ſeiner Statt iſt ein
anderer (etwa Baal, Adon, El zu denken.
Auch darauf iſt zu achten, daß die Sprache
der älteſten Lieder eine andere iſt als die
der ſpäteren Schriftſteller, und daß manche
Ausdrücke, die der ſpätere Redactor vielleicht
ſelbſt nicht mehr verſtand, aber doch als
werthvolle Trümmerſtücke in dem überar-
beiteten Texte ſtehen ließ, nicht aus der
gewöhnlichen ebräiſchen Schriftſprache erklärt
werden dürfen, ſondern aus einer Ver—
gleichung derſelben mit andern ſemitiſchen
Dialecten, beſonders mit dem Arabiſchen
und Aramäiſchen. So iſt zu addirim,
Richt. 5, 13, ſyr. edr-o, Tenne, zu ver-
gleichen, zu gidgöt, Richt. 5, 11, arab.
gad dat, cadaqat, Gabe, Geſchenk.
Wenn wir dieſe Grundſätze zunächſt
auf das kleine Lied anwenden, das der
levitiſche Erzähler dem Joſua in den
Mund legt (Joſ. 10, 12), ſo können wir
nicht umhin, es für ein benjaminitiſches
Schnitterlied zu erklären und, in freier
Form, etwa ſo zu überſetzen:
Ach, bleib', du Sonne, bleibe,
In deinem Haus zu Gibeon!
Verbirg die helle Scheibe,
Du Mond, im Thal von Ajalon!
Habak. 3, 11 wird geſchildert, wie
Sonne und Mond beim Herannahen des
Gewitterſturmes ſich in ihren „Wohnungen“,
d. h. hinter Wolkenmaſſen, bergen, oder,
wie es im Texte heißt, in ihrer Wohnung
„ſtehen bleiben“ Camad zebuläh). Hier
in unſerm Liede bitten, meiner Anſicht nach,
die bei der „ländlichen Campagne“ be-
ſchäftigten Schnitter die Sonne und den
Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer.
Mond, ſie mögen „aufhören“ (dom), näm⸗
lich zu wandern, alſo „ſtehen bleiben“, na—
türlich nicht irgend wo auf dem Wege,
ſondern in ihren Wohnungen, hinter Wolken.
Der Himmel möge ſich mit Wolken bedecken
während der Ernte, das iſt der Wunſch
der Arbeiter und der Sinn dieſes kleinen,
aber viel beſprochenen Liedes. Daß Gibeon
und Ajalon genannt werden, läßt auf ben—
jaminitiſche Sänger ſchließen.
Die verſchiedenen Sprüche, die dem
Simſon in den Mund gelegt werden
(Richt. 14, 14, 18 und 15, 16), haben
es zweifellos mit dem Landbau zu thun
und bilden, wie es ſcheint, ein Ganzes.
Ich habe hier verſucht, daſſelbe, natürlich
auch in freier Form, wieder herzuſtellen,
und möchte es als danitiſches Ernte—
lied bezeichnen.
Von dem Würger kam Speiſe,
Und Süßes vom Starken. —
Was iſt ſüßer als Honig,
Was ſtark wie der Löwe? —
Doch vor Allem iſt nöthig
Zur Löſung des Räthſels:
Mit dem Pfluge zu folgen
Dem Wagen der Sonne. —
Dann erliegen wohl Tauſend
Den kräftigen Streichen;
War es gleich nur die Sichel,
Die nieder ſie ſtreckte.
Der „Würger“, der mähnenumflatterte
Löwe, iſt das Sinnbild der ſtrahlenden
Sommerſonne, deren menſchliche Incarnation
Sim ſon iſt. Die Sonne giebt Speiſe,
indem ſie das Getreide reift, ſie giebt auch
die Süßigkeit des Honigs, den die Bienen
im Sommer ſammeln. Doch von ſelbſt
wächſt kein Getreide; es muß erſt geſäet
ſein. Darum iſt es nöthig, „mit Simſon's
(alſo der Sonne) Wagen zu pflügen“,
d. h. mit der Sonne aufzuſtehen und, ſo⸗
lange ihr Wagen (oder Rad) am Himmel
8 5
Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 157
rollt, mit dem Pfluge zu arbeiten. Der den ſchwerſten Aufgaben der Exegeſe jeder
Ausdruck GLI IJ, mit Vocalen egläti,
der gewöhnlich durch „mein Kalb“ überſetzt
wird, iſt wohl richtiger durch „mein Wa—
gen“ wiederzugeben, v. a gala h. Der
Sonnengott beſitzt zwar, nach einer andern
Vorſtellung, auch Rinder, nämlich die
vor der Sonne herziehenden Wolken. Mit
dieſen Rindern wird aber nicht gepflügt,
alſo ganz gewiß nicht mit einem einzigen
Kalbe. Erſt der ſpätere Proſabericht,
der dem Simſon ein Weib gab, verſtand
den Ausdruck ſo.
Ueber den Ausdruck „Eſelskinnbacken“,
1E hi hamör, der ein Wortſpiel bildet
mit „ein Haufen, zwei Haufen“, hamör
hamorätajim (wie der Schnitter zählt,
wenn er mit jedem Streiche eine Schwade
niederſtreckt) bitte ich, mein „Handbuch der
ebr. Mythologie“, S. 170, 187 u. 86,
zu vergleichen. Hier nur ſo viel, daß ſich
derſelbe möglicher Weiſe, wenn wir uns die
Wörter vocallos und defectiv geſchrieben
denken (alſo LH HMR), auch 18 ah (oder,
in archaiſtiſcher Weiſe, mit vocaliſchem Aus-
gang, lEhi) hömer leſen und durch
„Kraft der Erde“ überſetzen ließe. In
jedem Falle iſt darunter die in der älteſten
Zeit aus Feuerſtein, dem kräftigſten
Product des Erdbodens, geſchlagene Sichel
zu verſtehen, die in ihrer Form allerdings
dem Kinnbacken eines Eſels gleicht.
Mit ihr werden die Tauſend Getreide—
halme niedergemäht, gerade ſo, wie die den
Furchen entſproſſenen „Männer“ der Ar⸗
gonautenſage durch den „Stein“, welchen
Jaſon unter ſie wirft, umkommen. —
Das wunderbarſte und wohl auch älteſte
größere Stück der ganzen Bibel iſt das
„Deboralied“, Richt. 5. Leider iſt es von
den levitiſchen Redactoren ſo gründlich ver—
arbeitet worden, daß ſeine Erklärung zu
Richtung gehört. Nur bei ausgedehnteſter
Anwendung der oben angegebenen Grund—
ſätze iſt es möglich, den urſprünglichen
Sinn des ſchönen Liedes zu deuten.
Wie daſſelbe jetzt vorliegt, läßt es ſich
in fünf Abſchnitte zerlegen, die ſehr ver—
ſchieden find an Alter und Werth. Die
Einleitung, Richt. 5, 2—3, iſt ohne Zweifel
unächt, d. h. jünger als der Kern des
Gedichts. Ebenſo unächt iſt der Schluß,
V. 28 ff., der von der Mutter Siſſera's
handelt. Von den übrigen drei Abſchnitten
iſt der mittelſte, V. 14 18, urſprünglich,
wie mir ſcheint, eine beſondere kleine Dich—
tung geweſen, welche in alterthümlich ein—
facher Weiſe die zehn Stämme des iſrae—
litiſchen Volkes aufzählt und kurz charak⸗
terifiert. Etwas Aehnliches beſitzt die angel—
ſächſiſche Literatur in dem „Wandererliede“,
wo ein alter Sänger ebenfalls kurze No—
tigen über die ihm bekannten Völker und
Stämme giebt. Aus der älteſten griechiſchen
Literatur gehört der homeriſche „Schiffs—
katalog“, Il. II, 484, hierher. Der in
Rede ſtehende Abſchnitt des Deboraliedes
dürfte urſprünglich, wenn man die nicht
hinein gehörigen Beziehungen ausſcheidet,
etwa ſo gelautet haben:
Du, Ephraim beſchirmſt des Landes Grenze,
Nebſt Benjamin, der Beduinen Nachbar.
Verſtänd'ge Richter ſandte uns Machir.
Vom Stamme Sebulon kam Mancher her,
Der mit des Sängers Stab das Land durch—
zog.
Zum Thal hinab erſtreckt ſich Iſaſchar.
An Bächen lagert Ruben, hohen Muthes.
Vom Jordan öſtlich hauſet Gilead.
Auf Schiffen wandert Dan; auch Aſſer
wohnt,
Des Meeres Strand entlang, an ſeinen Häfen.
Das Volk von Sebulon und Naphthali
Plagt mit des Feldes Arbeit ſich zu Tode.
P — , K
Ze
158 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. N
Dieſer „Deboraſegen“ iſt eins der äl—
teſten und wichtigſten hiſtoriſchen Documente.
Nur Stä werden genannt. Weder . f
Nur zehn Stämme 9 Du Barak, auf, ergreife deinen Raub!
Juda, noch Levi und Simeon ſtehen in
irgend welcher Verbindung mit Iſrael,
ſondern dieſelben werden noch, wie es ſcheint,
von den ſüdlich ſchweifenden „Beduinen“
(im Texte: Amalekitern) nicht unterſchieden.
Ephraim „beſchirmt des Landes Grenze“,
nach dem Texte: hat ſeine Wurzel, d. h.
ſein äußerſtes Ende, in Amalek. — Der
Stamm Machir heißt ſpäter Manaſſe, der
Stamm Gilead: Gad. Von der danitiſchen
Colonie zu Lais (Richt. 18) weiß das Lied
ichts, ſondern berichtet nur, daß die
Ba 0 15 „das Da liegt er rund zu ihren Füßen nun. —
Daniter am Meere wohnen. Daß Machir
zwiſchen Ephraim und Sebulon genannt
wird, ſcheint zu beweiſen, daß darunter
Weſt-Manaſſe zu verſtehen iſt, nicht
der gleichnamige Stamm, der öſtlich vom
Jordan hauſte.
Es bleiben noch die beiden Abſchnitte
des Deboraliedes übrig, die recht eigentlich
hierher gehören und die ich als Lied auf
den Kreislauf des Jahres bezeichnen
möchte, nämlich Richt. 5, 4 — 13 und
19 — 27. Ich überſetze dieſelben, natürlich
ganz frei, wie folgt:
Von Süden zieht der Herr der Welt heran,
Von Edom's Feld, es bebt der Erde Grund,
Des Himmels Wolken ſtrömen Regen nieder.
In Jael's Tagen ſind die Wege leer,
Und Straßenwandrer ziehen krumme Pfade.
Es feiert noch die Schnitterſchaft im Land,
Solange, bis Debora ſich erhebt
Und eine Mutter wird in Israel.
Dann kommt's zum Kriege mit den Stachel—
trägern,
Obwohl nicht Schild, noch Speer in Israel.
Dann reitet Niemand wohl auf ſchönem Zelter,
Und Keiner ruht auf weichem Teppich dann,
Auch wandert Niemand auf des Landes Wegen,
Der nicht mit Freuden lauſchte dem Geſange
Der Schnitter, die da ſchreiten in den Furchen
en
Und Gottes Güte, wie des Landes Frucht,
Die reichlich wachſende, im Liede feiern.
So ſing', Debora, nun auch du dein Lied;
Dann ſteigt der Reſt hinab zu weiten Tennen
Nun ziehen die Berather in den Streit.
Um Silber freilich wird hier nicht gerungen-
Des Himmels Strahl hat Siſſera gereift.
Schon wallt es auf wie in des Kiſon's Fluthen.
Tritt auf, o meine Seele, nun mit Kraft!
Und nieder raſſelt's wie von Roſſes Hufen.
Geſegnet ſei im Zelt die Zauberin,
Die Milch ſtatt Waſſer reicht in weitem Kruge.
Zum
Schmiedehammer greift ſie mit der
Rechten
Und ſenket Siſſera ins Haupt den Pflock.
Ob die erſten Verſe (V. 4 und 5)
dem urſprünglichen Liede angehört haben,
oder ob daſſelbe mit: „In Jael's Tagen“
begann, wage ich nicht zu entſcheiden. Sicher
iſt die zweite Hälfte von V. 5 einer der
ſpäteren Zuſätze; ebenſo die Worte: „in
Samgar's Tagen“ ꝛc. (V. 6.). Auch V. 9
bleibt wohl am beſten weg, ebenſo ſcheinen
die Worte: „da ſtieg das Volk Jahve's
zu den Stachelträgern hinab“, V. 11, nur
eine Wiederholung aus V. 8. Unächt iſt
ferner der Zuſatz „Sohn Abinoam's“ bei
dem Namen Barak, V. 12.
In der zweiten Hälfte des Liedes iſt
die Ortsbeſtimmung „zu Thaanach am
Waſſer von Megiddo“, V. 19, wohl ſpä—
terer Zuſatz. Sicher iſt endlich V. 23
unächt, wo dem zweifelhaften „Meros“
und ſeinen Bewohnern geflucht wird. Der
Gottesname iſt natürlich überall zu ändern.
Wenn der Sonnengott ſeinen tiefſten
Stand im Süden erreicht hat und, im
Mittwinter, wieder aufzuſteigen beginnt,
alſo ſcheinbar von Edom her nach Iſrael zieht,
da „triefen die Wolken von Waſſer“,
dem in Paläſtina gewöhnlichen Herbſt- oder
Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer.
Früh-Regen. Auch Gewitter find in dieſer
Zeit nicht ſelten, vor ihnen erbebt die
Erde. Dies Alles könnte auch ein ſpäterer
Zuſatz ſein, der unter dem „Heraufziehen
des Herrn“ das Herankommen eines Ge—
witters von Süden her verſteht, wie Habak.
3, 2 ff. Von hier an aber iſt der Sinn
des Liedes klar.
Der Name Jael bedeutet den Srein—
bock. Wenn die Sonne in ſeinem Zeichen
ſteht, im December, bedeckt das Regen—
waſſer, möglicher Weiſe ſogar der Schnee,
alle Straßen; die wenigen Wanderer müſſen
„krumme Pfade“ gehen, auf hervorragende
Steine treten. Auch wenn man annimmt,
daß das Lied aus einer Zeit ſtammt, wo
auf die himmliſchen Zeichen noch nicht ge—
achtet wurde, ließe ſich doch der Steinbock,
das winterliche, in hohen Berggegenden
heimiſche Thier, als Sinnbild des Winters
auffaſſen, ſowie die Biene, Debora, als
das des Sommers.
Die Schnitterſchaft (peräzön; vgl.
arab. faraza, trennen, abſchneiden) feiert,
bis die Biene (Deböräh) ſich erhebt (ſchwärmt)
und zur Mutter wird, d. h. bis die junge
Bienenbrut erſcheint, im Frühling, wo die
Ernte in Paläſtina beginnt. Die Stadel-
träger (eigentl. die Struppigen, Starren—
den, V. 8 und 11), mit denen es nun
zum Kriege kommt, ſind nichts weiter, als
die Getreide-Aehren, die von den Schnittern
abgemäht werden. Nun vernimmt man
überall die Stimme der „Schneidenden
zwiſchen den Waſſerrinnen“, wie es wört—
lich heißt (V. 11). Der „Geſang der
Debora“ (das Summen der Bienen) wird,
während der Ernte, immer lauter. Es
ſcheint beinahe, als ob das viermal wieder—
holte ür, „erhebe dich“, dies Geſumme
nachahmen ſollte. — Jetzt aber ergreift
Barak (der Feuerſtrahl, Feuerbrand)
193
jeinen Raub, d. h. die Stoppeln der Halme
werden mit Feuer abgebrannt, wie dies
im Orient noch heute üblich iſt. Gleich—
zeitig ſteigt der Reſt (die abgeſchnittenen
Aehren) hinab zu den Tennen (V. 13),
wörtlich „den weiten“ (Flächen), wo die
Körner von Rindern oder andern Thieren
ausgetreten werden, wie ebenfalls noch
heute im Orient. Damit iſt die Ge—
treide-Ernte, gegen Pfingſten, zu Ende,
und auch die erſte Hälfte des Liedes.
Die zweite Hälfte (V. 19 ff.) ſchildert
die Weinleſe, die in Paläſtina im Oc—
tober beginnt. Unter den „Königen Ka—
naan's“, wie der Text hat, ſind gewiß
nicht Feinde Iſrael's zu verſtehen, wie der
ſpätere Redactor es erſcheinen läßt, ſondern
die iſraelitiſchen Winzer ſelbſt. Ich habe
das Wort für „König“ durch Berather
überſetzt, ſeinem Verbalſtamme entſprechend.
Vielleicht hatte der urſprüngliche Text ein
anderes Wort. Die Ortsbeſtimmung „zu
Thaanach“ iſt wohl, wie ſchon bemerkt,
ſpätere Zuthat, obwohl ſich annehmen
läßt, daß gerade dort der Weinbau ganz
beſonders blühte.
„Des Himmels Strahl hat Siſſera
gereift“. Im Text ſteht dafür: „die Ge—
ſtirne von ihren Bahnen haben mit Siſſera
gekämpft“. Den Namen Siſſera (bei
den LXX Iroaee) erkläre ich, aus dem
Arabiſchen, als Milch (si) des Muthes
(sara) und verſtehe darunter den Wein,
der auch dem Feigen Muth giebt.
„Tritt auf, meine Seele, mit Kraft!“
mögen ſich wohl die Kelterer zugerufen
haben, wenn es im Keltertroge, unter
ihren Füßen, roth aufwallte, wie wenn
des Kiſon's Woge Blut und Leichen dahin
wälzt. Daß in der fröhlichen Zeit der
Weinleſe viel geſungen und gerufen wurde,
wiſſen wir auch aus andern Stellen. Der
160
gewöhnliche Ruf der Winzer war he dad
el. 16, 9; Jer. 25, 30) oder hed
(Ezech. 7, 7).
Die Stelle, wo „Meros und feine Be- |
Perſonification des „Zaubers“ (Heber der
wohner“ verflucht werden (V. 23), ift
offenbar eingeſchaltet als Gegenſatz zu dem
folgenden Segen über das „Weib des
Zaubers“ (heber), das in ſeinem Zelt
(dem Gährungs-Gelaß) Milch (den weißen
Gährungsſchaum) ſtatt Waſſer reicht. In
vielen Weinſagen iſt es ein ſchönes Weib,
das den „Göttertrank“ ſpendet. Ich er—
innere nur an Medea, die dem Rieſen
Talos, d. h. dem Weinkruge oder Faße,
ſchloſſen; die Zauberin ſchlägt dem „Siſ—
den Pflock aus dem „Halſe“ zieht, worauf
er ſich verblutet (der rothe Wein heraus—
fließt), und au die indiſche Mohini, die
den Göttertrank aus dem Milchmeere herauf
hebt; verweiſe jedoch auf die eingehendere
Erklärung dieſer Sagen in meinem „Hand—
buch der ebräiſchen Mythologie“.
Ob die
Medea unſres Liedes, das ſchöne Zauber-
Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer.
weib, urſprünglich Jael, Steinbock, ge
heißen hat, iſt mir zweifelhaft. Der Name
dürfte ſich wohl aus dem Anfange des
Liedes hierher verirrt haben. Auch die
Keniter) iſt wahrſcheinlich jünger. In der
Ueberſetzung iſt beides unberückſichtigt ges
blieben.
Man ſucht bei der Zauberin Waſſer
(fo ſchien der friſche Moſt), erhält aber
Milch (den mit weißem Schaum bedeckten
Wein) in dem weitbauchigen Gährungsge—
fäße. Sobald ſich dieſe Milch über dem
Gefäße gezeigt hat, wird daſſelbe ver—
ſera“, der nun als runder Krug zu ihren
Füßen liegt, den Pflock (Spund) in den
„Kopf“, gerade wie Medea (wenn die
Weinkrüge ſpäter wieder geöffnet werden,
in Athen beim Feſte der ZIrFoyie) dem
„Talos“ den Pflock wieder aus dem „Halſe“
zieht.
“
ET m: . . 3
9 Ber: = N
Kampf um's Daſein unter den
Korallen. 8
s iſt eine gewöhnliche und ſelbſtver—
ſtändliche Erſcheinung, daß ſich ver—
„ſchiedene Korallen-Species gleichzeitig
auf den abgeſtorbenen Gerüſten an—
thatſächlich lebendig begräbt.
ſchen Muſeum befindet
„Theil des abgeſtorbenen und anſcheinend
im Meere umgeſtürzten Stammes einer
Hornkoralle (Liopathes compressa), auf
dem ſich verſchiedene Steinkorallen angeſetzt
haben, nämlich eine Sternkoralle (Dicho—
coenia uva) und zwei Arten von Poren—
korallen (Porites). Die eine der letzteren
(Porites elavaria) wächſt in dichten,
aufſtrebenden Büſchen mit dicken,
Im briti⸗
dagegen ſolide Maſſen von kugeliger Geſtalt,
nicht unerheblich durch die Beſchaffenheit
Species aus dieſer Thiergruppe einen
activen Kampf ums Daſein mit einander
führen, und wie die eine die andere
Kleinere Mit
derer Arten anſiedeln, aber es war mir
neu zu ſehen, wie zwei nahe verwandte
|
a
lumen.
ihrer Polypenkelche und bilden eben zwei
gut getrennte Species. Nun haben ſich
die betreffenden Exemplare (die übrigens
alle nur von geringer Größe ſind) augen—
ſcheinlich im Gaſtrula-Stadium auf den
Aeſten der todten Hornkoralle nicht fern
von einander feſtgeſetzt, ſich dann durch
Knospung vergrößert und kleine Korallen—
ſtöcke in Geſtalt unregelmäßiger Klumpen
gebildet, die ſich endlich berührten. Nun
begann ein Ringen um den ſehr beſchränkten
Platz — die Aeſte der Hornkoralle find
ſich der untere
.
meiſt |
keulenförmigen, gabeltheiligen Aeſten; die
andere (Porites astraeoides) bildet
nur einige Millimeter dick. Die Porites
elavaria war in dieſem Streite (wohl in
Folge der Art und Schnelligkeit ihres
Wachsthums) ſo entſchieden im Vortheil,
daß ſie nicht nur ihren Platz behauptete,
ſondern auch ihre unbehülfliche Schweſter
faſt vollſtändig überwucherte und erdrückte.
An zwei verſchiedenen Aeſten der Horn—
koralle, an denen die beiden Porites in
Contact gekommen ſind, iſt jedesmal die
Porites astraeoides von der anderen
Species überwachſen und eingehüllt.
An der einen Stelle iſt ihr eine Seite
des Liopathes-Aſtes (vermuthlich diejenige,
die dem Meeresboden zugekehrt war) frei—
meiſtens mit leicht wellenförmig höckeriger
Oberfläche; beide unterſcheiden ſich außerdem
geblieben; an dem anderen Orte ragt nur
noch ein kleines Stückchen der Astraeoides
unter der Clavaria hervor. An einer
Be,
Fruchtknotens oder auf den unterſten Theil
der Blumenblätter, auf denen ſich dann
zwiſchen je 2 Staubfäden je 1 oder 2
kleine runde Nektarien ausbildeten. So
ſpaltete ſich der gemeinſame Gentianaſtamm
in zwei Zweige, welche beide dann durch An—
paſſung an engere, aber emſigere Beſucher—
kreiſe zur Sicherung der Kreuzung fort⸗
ſchritten. |
Der eine Zweig mit Honigabſonderung
am Grunde der Blumenkrone, gelangte zur
Sicherung der Kreuzung bei eintretendem
Beſuche langrüſſeliger Inſekten, durch Ver—
wachſung der Blumenblätter zu einer Röhre,
welche die Befruchtungsorgane ſo dicht um—
ſchließt, daß jeder zum Honig vordringende
Rüſſel erſt die breite Narbe, dann eines
er
dritten Stelle endlich, wo die Astraeoides
von ihrer fatalen Concurrenz unbehelligt
blieb, iſt es ihr gelungen, einen Korallen—
ſtock von etwa Taubeneigröße zu Stande
zu bringen.
London.
Kleinere Mittheilungen.
F. Brüggemann.
Die geſchichtliche Entwicklung der
Gattung Genkiana.
In zwei kürzlich veröffentlichten Auf—
ſätzen *) habe ich die Abſtufungen erörtert,
welche die Gentiana-Arten Deutſchlands
und des Alpengebietes in Bezug auf An—
paſſung an Befruchtung durch Inſekten er-
kennen laſſen, und aus denſelben in Bezug
auf die geſchichtliche Entwicklung der Gat—
tung Gentiana folgende Vermuthungen als
die wahrſcheinlichſten abgeleitet:
Die gemeinſamen Stammeltern aller
heutigen Enzianarten hatten vermuthlich
völlig offene Blüthen, bis gegen den Grund
hin getrennle Blumenblätter, aus einander—
ſtehende Staubgefäße, zwei zurückgekrümmte
Griffeläſte, deren Narbenpapillen gelegentlich
von dem einen oder andern Staubgefäße
berührt wurden, und Honig, welcher, im
Grunde der Blüthe, in den Winkel zwiſchen
dem unterſten Theile der Blumenkrone und
des Stempels, abgeſondert und beherbergt,
den mannigfachſten Inſekten frei zugänglich
war. Trotz der Mannigfaltigkeit des In—
ſektenbeſuchs war bei ihnen Kreuzung nicht
geſichert und die Möglichkeit der Selbſtbe—
fruchtung nothwendig. Bei den Nachkommen
dieſer Urgentianen beſchränkt ſich die Honig—
abſonderung entweder auf den unterſten
Theil des dann fleiſchig anſchwellenden
) Fertilisation of flowers by insects.
XV. XVI. Nature, vol. XV. No. 380. 387.
der Staubgefäße ſtreifen muß, und zur
Sicherung gegen Fliegen und andere un—
nütze Gäſte durch ein den Eingang der
Blumenröhre verſchließendes Gitter, welches
nur langrüſſeligen Bienen und Schmetter—
lingen den Eingang geſtattet. Er entwickelte
ſich durch Ausprägung dieſer Ausrüſtungen
zur Untergattung Endotricha, welche die
gleichzeitig der Befruchtung durch Bienen
und durch Schmetterlinge angepaßten Arten
(campestris, tenella, nana u. |. w.) um⸗
ſchließt.
Der andere Zweig, mit Honigabſonde—
rung am Grunde des Fruchtknotens, bietet
uns in G. lutea ein noch fortlebendes ver—
einzeltes Zweiglein dar, welches ſich in
ſeiner übrigen Blütheneinrichtung in nichts
über die gemeinſamen Stammeltern der
Gattung erhoben hat und wie dieſe von
einer bunten Mannigfaltigkeit verſchieden—
artiger Inſekten beſucht wird, ohne die
Möglichkeit der Selbſtbefruchtung entbehren
zu können. Daneben aber iſt aus dem—
ſelben Zweige, durch Anpaſſung an Hum—
meln, die große Untergattung Coelanthe
Kleinere Mittheilungen.
hervorgegangen, und zwar durch folgende,
durch Naturausleſe gezüchtete Abänderungen:
Die urſprünglich faſt ganz getrennten Blumen—
blätter ſind zu einer Blumenglocke ver—
ſchmolzen, die weit genug iſt, um den
ganzen Leib einer Hummel in ſich aufzu⸗
nehmen. Der Stempel mit ſeinen beiden
zurückgekrümmten Griffeläſten iſt unver—
ändert in der Blüthenachſe ſtehen geblieben,
aber die urſprünglich aus einander ſtehenden
Staubgefäße haben ſich dicht um den Griffel
herum zuſammengelegt; ihre nach außen
aufſpringenden Staubbeutel umſchließen ein
Stück unter den beiden Narben den Griffel
mit einem breiten Ringe von Blüthenſtaub,
ſo daß die den Honig aufſuchenden Hummeln
erſt die Narben, dann den Blüthenſtaub
ſtreifen und daher in jeder folgenden Blüthe
Kreuzung bewirken müſſen. Die Baſis
der Blumenglocke hat ſich zuſammengezogen
und iſt mit dem unteren Theile der Staub-
fäden verwachſen, ſo daß dieſe den ſchmalen
Zwiſchenraum zwiſchen Fruchtknoten und
Blumenkrone in fünf enge Kanäle abtheilen,
die zwar den Hummelrüſſeln den Zugang
zum Honige geſtatten, Fliegen und andere
unnütze Gäſte aber vom Genuſſe deſſelben
ausſchließen. Dadurch, daß die Hummeln
dem ihnen allein verbleibenden Honig um jo
eifriger nachgehen und dabei gezwungen
find, Fremdbeſtäubung zu bewirken, iſt den
Arten dieſer Untergattung (G. punctata,
acaulis, excisa u. ſ. w.) Kreuzung ges
ſichert und die Möglichkeit der Selbſtbe⸗
fruchtung entbehrlich geworden und that—
ſächlich verloren gegangen.
Aus dieſer Untergattung Coelanthe
iſt, vermuthlich in hochalpinen Gegenden,
in denen Hummeln ſelten, Schmetterlinge
verhältnißmäßig häufig ſind, die Unter—
gatt ung Cyelanthera hervorgegangen, in—
dem durch Naturzüchtung alle, eine Kreu-
zung „durch Schmetterlinge begünſtigenden
Abänderungen erhalten und ausgeprägt
wurden. Durch Verengerung der Blumen-
röhre und Verbreiterung der Griffeläſte zu
einer den Blumeneingang ſchließenden papil—
löſen Scheibe wurde es den dünnen Schmelter-
lingsrüſſeln unmöglich gemacht, in die Blüthe
einzudringen, ohne erſt die Narbe, dann
den Blüthenſtaub zu ſtreifen. Durch ge—
ſteigerte Empfindlichkeit gegen Sonnenwärme
und weitere Ausbildung der das Zuſammen—
drehen der Blüthenhülle vermittelnden Falten
zwiſchen den Blumenblättern paßten ſich die
hochalpinen Gentiana-Arten der vom Sonnen—
ſchein abhängigen Thätigkeit ihrer Befruchter
derart an, daß ihre Blüthen ſich öffnen,
ſobald die Sonnenſtrahlen die Falter zum
Beſuche hervorlocken, ſich dagegen zuſammen—
drehen und ſchließen, ſobald die Sonne ſich
hinter Wolken verſteckt und die Schmetter-
linge ſich zurückziehen; ?) Gentiana bava-
rica, verna, nivalis u. ſ. w. gehören zu
dieſer Gruppe.
Als ein Mittelglied zwiſchen der Unter—
gattung Coelanthe und der aus ihr hervor—
gegangenen Untergattung Cyelanthera dürfte
Gentiana prostrata zu betrachten ſein,
welche in allen übrigen Stücken die Eigen—
thümlichkeiten der Cyclanthera-Gruppe er-
langt hat, in den zurückgekrümmten Griffel—
äſten aber mit den Coelanthe-Stammeltern
noch übereinſtimmt.
Lippſtadt.
Hermann Müller.
) Daß die Wärme, nicht das Licht, das
Oeffnen dieſer Gentianablüthen veranlaßt,
wurde durch beſondere Verſuche an G. bavarica
und verna von mir feſtgeſtellt.
164
Neues über die Stachelhäuter.
Während der jetzt beendeten Weltumſeg—
und unter jenen, welche aus dem ſüdlichen
Ocean gefiſcht wurden, gibt es viele, welche
nicht nur eine Ausnahme von dem ge—
wöhnlichen Entwicklungsgange aufweiſen,
inſofern als die Jungen direct, ohne Da—
zwiſchenkunft einer ſogenannten Ammenform
welche darauf abzielen, den Jungen während
ihrer hilfloſen Jugendzeit Schutz zu ge—
währen. In einigen Fällen iſt die Analogie
dieſer Einrichtungen mit jenen der beutel—
tragenden Säugethiere Auſtraliens ſo über—
raſchend, daß man mit Recht von „mar—
ſupialen“ Stachelhäutern ſprechen könnte.
Sir C. Wyville Thomſon hat in den
acht Exemplare dieſer ſeltſamen Schutzver—
ſchrieben, wovon die Popular Science
in einem längeren Aufſatze Notiz nimmt.
In der Claſſe der Seewalzen oder Holo—
thurien bezeichnet Sir Wyville Thomſon
zwei Species, in welchen die Entwicklung
direct zu ſein ſcheint; aber die Einrichtung
für die Unterkunft der Jungen iſt ſehr ver—
ſchieden.
Brutbeutel.
Species, etwa 4 Zoll lang mit 1½ Zoll
Durchmeſſer, von ſafrangelber Farbe und
wurde ſehr häufig an dem rieſigen Macro-
eystis (Seetang) hängend geſunden, welcher
in 510 Faden Tiefe in Stanley Harbour
Er der öſtlichen Falkland-Inſel ſchwimmt.
lung des „Challenger“ wurde eine große
Zahl intereſſanter Echinodermaten geſammelt,
oder die Bildung proviſoriſcher Organe, er-
zeugt werden, ſondern auch ganz ſeltſame
Einrichtungen verſchiedener Theile beſitzen,
Verhandlungen der Linns'ſchen Geſellſchaft
bindung zwiſchen Mutter und Jungen be
Review (January 1877, S. 50— 63)
Die eine ward mit Cladodactyla
crocea Lesson identificirt und hat keinen
Es iſt eine kleine, elegante
Kleinere Mittheilungen.
Die zehn Mundtentakel find lang und zart
gegliedert, die Haut iſt dünn und halb—
| durchſichtig und geſtattet vollkommen die
Muskelbänder und andere innere Organe
zu ſehen und zu beobachten. Fünf Am—
bulacralrinnen mit zahlreichen und wohl—
entwickelten Tentakularfüßen (Saugfüßchen,
Pedicelli), ziehen am Körper von einem
Ende zum andern, aber nicht auf gleiche
Entfernungen von einander; drei davon
ſtehen auf der einen Seite des Thieres,
zwei auf der andern,
zwiſchen beiden Gruppen iſt auf beiden
Seiten größer, als jener zwiſchen zwei
Rinnen derſelben Gruppe. Die Schwell—
füßchen der drei erſten Rinnen ſind größer
als die anderen und bilden auf alle Fälle
beim Weibchen das regelmäßige Bewegungs—
mittel; bei dieſem Geſchlechte dienen aber
die zwei andern (Rücken-) Rinnen einem
ganz verſchiedenen Zwecke, indem ſie ſo zu
ſagen, den Zaun der Ammenſtube bilden,
in welcher das Thier ſeine Jungen herum—
trägt. Dieſe Füßchen ſind kurz und mit
Saugſcheibchen verſehen, deren kalkiges Netz—
werk jedoch noch ziemlich rudimentär iſt.
In dieſen beiden Rücken-Rinnen und
an ihren Saugfüßchen hängend, werden nun
die Jungen vom Mutterthiere ſo lange
herumgetragen, bis ſie groß genug gewor—
den ſind, um für ſich ſelbſt zu ſorgen, was
erſt relativ ſpät zu geſchehen pflegt. Die
| Jungen find faſt vollkommene Miniatur—
bilder ihrer Eltern, nur ſind die Dorſal—
Saugfüßchen noch ganz rudimentär oder
oft bloß angedeutet; dagegen ſind die Bauch—
füßchen völlig entwickelt und gerade mittelſt
dieſer hängen ſie ſich an die Rückenfüßchen
der Mutter an.
Ein noch weit merkwürdigeres und
intereſſanteres Beiſpiel diretter Fortpflanzung,
im Vereine mit dem Vorhandenſein eines
und der Raum
vollſtändigen Brutbeutels, bietet eine kleine
Kleinere Mittheilungen.
Holothurie von Heard Island, zum Ge— |
nus Psolus gehörig (von welcher es eine
oder zwei britiſche Species gibt) und
wahrſcheinlich ein naher Verwandter, wenn
nicht gar eine bloße Varietät vom Psolus
operculatus.
einer kleinen niederen Pyramide von fünf
genau klappenden Kalkblättchen ausgeſtattet,
die feſt ſchließen, wenn der Mund mit
Die Mundöffnung iſt mit
ſeinen umgebenden Tentakeln nach innen
zurückgezogen iſt; desgleichen
Afteröffnung durch einen ähnlichen, aber
weniger regelmäßigen Klappenaparat
ſchloſſen.
ſich am Rücken eine
wird die
ge
Bei dem Weibchen nun befindet
Art Sattel, be⸗
ſtehend aus großen feinkörnigen Kalkplatten
unregelmäßiger Form, welche jedoch ziem- |
die Eier und die daraus direct entſtehenden
lich aneinander ſchließen, und
genau
daher ward das Thier proviſoriſch Psolus |
Entfernen wir eine |
oder zwei dieſer Centralplatten, jo ſehen
Stacheln verſehen find. Sir Wyville Thom—
ephippifer genannt.
wir dieſelben, nicht wie die ſonſtigen Platten
des Periſom (der Haut), theilweiſe oder
ganz in der Cutis (Lederhaut) eingebettet,
ſondern gleich einem Pilze auf einer cen—
tralen Säule aufgerichtet, ſo daß, wenn
geſchloſſen, ſie einen geſchützten Hohlraum
zwiſchen ſich und der Lederhaut frei laſſen.
In dieſem Raume werden nun die Eier
ausgebrütet, und durch Entfernung der
Platten können die Jungen auskriechen.
Es liegt alſo hier ein wahres Marſupium,
ein wahrer Brutbeutel vor, und da der-
ſelbe den größten Theil des Rückenraumes
einnimmt und ſich bis an den Mundrand
erſtreckt, wo auch die Ovarialöffnung ſich
befindet, ſo gelangen die Eier aus dieſer
direct in den ſchützenden Hohlraum, ohne
irgend einer äußeren Gefahr ausgeſetzt zu
ſein.
klaffen die anfänglich feſt ſchließenden Platten
Wenn das Junge größer wird, fo
165
immer weiter auseinander, bis daſſelbe
endlich auskriechen kann.
Unter den Seeigeln (Echinoiden) und
ſpeciell der Familie der Cidariden, iſt noch
kein Beiſpiel einer Fortpflanzung ohne die
Dazwiſchenkunft des ſogenannten Pluteus—
Stadiums bekannt. Dieſe Larve wurde
früher für ein ſelbſtändiges Thier gehalten.
Nun aber ſind auch bei dieſem wenigſtens
höchſt merkwürdige, bislang völlig unbe—
kannte Gewohnheiten des Mutterthieres
beobachtet worden. Die Eier einer der Ci—
daris papillata ſehr verwandten Gattung
wandern nämlich nach ihrem Austritte aus
den Genitalöffnungen nach dem Munde,
wo ſie in einer Art offenen Zeltes em—
pfangen werden, das die kleineren Stacheln
über dem Munde bilden. Darin verbleiben
Jungen, bis ſie einen Durchmeſſer von
etwa Yo Zoll erreicht haben und voll—
ſtändig mit Kalkplatten überzogen und mit
ſon nannte dieſen Seeigel vorläufig Cidaxis
nutrix. Bei Goniocidaris canaliculata,
welche hauptſächlich auf die kühleren Theile
des ſüdlichen Oceans beſchränkt iſt, geſchieht
daſſelbe am anderen Pole des Körpers.
Das gleiche Princip findet ſich endlich bei
der zweiten Abtheilung der Echinoiden, bei
den Petalosticha, nur iſt die Specialiſirung
des Apparates eine noch viel complieirtere.
In den Aſteriden oder Stelleriden
(Seeſterne) hat ſchon Sars an einer nor—
diſchen Species, an Pteraster militaris,
eine Marſupialentwicklung der Jungen be—
obachtet. Prof. Thomſon beſchreibt ein
ähnliches Verhalten bei einer großen Species
von Archaster, die er vorläufig A. exca-
vatus getauft hat und die mit dem nordiſchen
A. Andromeda verwandt iſt. Der hier
beobachtete Vorgang erinnert an den bei
—
2
Psolus beſchriebenen. Ein anderer dieſer
brütenden Seeſterne gehört zur weitver—
breiteten Species Hymenaster, einem Ge⸗
ſchlecht, das überall im Ocean in Tiefen
von 400 — 2500 Faden vorkommt. Hyme-
naster nobilis, die von Thomſon neu be⸗
ſchriebene Species, iſt ſehr groß, wohl einen
Fuß im Durchmeſſer von einer Spitze zur
andern, deren Zwiſchenräume durch fleiſchige
Gewebe ausgefüllt werden, ſo daß der
ganze Körper das Ausſehen eines regel—
mäßigen Pentagons gewinnt, hierin dem
Genus Pteraster ſehr ähnlich, das mit
dem Hymenaster nahe verwandt iſt. Auch
dieſes Thier beſitzt am Rücken einen wunder⸗
vollen Klappenapparat, unter dem eine
fünfeckige Kammer zur Aufnahme der Jungen
verborgen liegt. Endlich wurden an einem
Schlangenſtern, Ophiocoma didelphys,
ähnliche Beobachtungen über das Aufbringen
der Jungen gemacht.
Natürlich iſt, obwohl die Benennung
Marſupium auf die jungenbergenden Hohl-
räume der Stachelhäuter angewendet wurde,
die Analogie mit den echten Beuteln der
Marſupialier bloß auf den Schutz be—
ſchränkt, den beide den Jungen gegen äußere
Gefahren gewähren; die Jungen werden
dadurch mit dem Mutterthiere ſo lange in
einer gewiſſen Verbindung erhalten, bis ſie
ſich ſelbſtändig fortbringen können; eine
directe Ernährung der Jungen durch die
Mutter, wie bei den auſtraliſchen Beutel-
thieren, findet aber bei den Echinodermaten
nicht ſtatt.
(Ausland No. 9. 1877.)
Kleinere Mittheilungen.
Reue Hoffnungen und Enttäuſchungen
hinſichtlich der Auffindung von
Urmenſchen.
Seit der erſten Ausdehnung der Ab-
ſtammungslehre auf den Menſchen hoffen
oder fürchten die Anthropologen, je nach
ihrer Stellung zu derſelben, daß doch viel
leicht in irgend einem verſteckten Winkel
unſres Planeten noch ein iſolirtes Reſtchen
ungewöhnlich affenähnlicher Menſchenbrüder
der Cultur, die alle Welt beleckt, entſchlüpft
ſein könnte, um plötzlich aufzutauchen, wie
die ſeit dem Alterthum angezweifelten afri⸗
kaniſchen Zwergvölker, welche Schweine
furth erſt vor wenigen Jahren der Mythen
entriſſen hat. Nachdem alle fünf Welttheile
ſich von dieſem — Verdachte mehr oder
weniger gründlich gereinigt haben und ein
untergegangener Continent für die Wiege des
Menſchengeſchlechts gehalten wird, haben ſich
die letzten Hoffnungen, reſp. Befürchtungen,
auf einige von Papuas bewohnte Inſeln
des als Melaneſien zuſammengefaßten, an⸗
thropologiſchen Welttheils gerichtet, den
man weder zu Aſien noch Auſtralien ziehen
kann, obwohl er mit dem letzteren vom
thier⸗ und pflanzengeographiſchen Geſichts—⸗
punkte aus näher verwandt erſcheint, als
mit Aſien. In anthropologiſcher Hinſicht
galt, wie geſagt, der ganze Strich unge⸗
heurer Inſelländer von Neuguinea über
Ceram und Celebes bis Borneo für nicht
ganz geheuer, und insbeſondere hatten die
nichtmalayiſchen Ureinwohner Ceram's,
welche im gebirgigen Innern der dreihundert
Quadratmeilen umfaſſenden Inſel hauſen,
die Alfuren oder Haraforen, ſich durch
ihre unzähmbare Wildheit in einen bedenk⸗
lichen Ruf gebracht. Man erzählt beiſpiels⸗
weiſe, die jungen Mädchen verlangten von
ihrem Liebhaber ein Feindeshaupt als Hoch⸗
zeitsgabe und „wer niemals einen Kopf
geſchnellt, der ſei kein braver Mann“ bei
ihnen und dürfe noch nicht heirathen. Die
moderne Forſchung aber, die zuletzt jeden
Schlupfwinkel der Mythe auskehrt, iſt nun⸗
mehr endlich auch in das Myſterium der
Berg⸗Alfuren eingedrungen und hat fie ihres
— wenn man ſo ſagen darf — Raubthier-
und Affen-Nimbus beraubt. Der erſte
Eindringling in dieſe gefürchteten Regionen
war ein Deutſcher, der in niederländiſch—
oſtindiſchen Dienſten ſtehende Capitän
Schulze, welcher mehrere Jahre als Be—
fehlshaber auf der Inſel weilend, einen
zehnmonatlichen Streifzug in das Innere
vornehmen mußte, um einen Stamm zu
züchtigen, aus deſſen Mitte ein niederlän⸗
diſcher Soldat getödtet und ſeines Kopfes
beraubt, wie der Kunſtausdruck ſagt, „ges
ſchnellt“ worden war. Aus dem ſehr in—
tereffanten Berichte, welchen der zur Zeit
in Europa weilende Capitän Schulze am
17. März e. in der berliner anthropologiſchen
Geſellſchaft über ſeine Beobachtungen er—
ftattete, entnehmen wir nachſtehende Einzel—
heiten.
Die Berg-Alfuren ſind von chokolade—
brauner Hautfarbe, kräftigem, wiewohl
ſchlankem Wuchſe, und zum Theil in einer
allerdings an Affen erinnernden Weiſe an
den verſchiedenſten Körpertheilen auffallend
ſtark behaart. Das Haupthaar iſt wellig,
der Mund unförmlich groß, die Lippen
aufgeworfen. Nach ihrer Zählmethode zer—
fallen ſie in Stämme, die bis neun zählen
(Pattah-siwah), und ſolche, die nur bis fünf
zählen Pattah-lima). Ihre Wohnungen
ſind durchweg Pfahlbauten, oft von
ſolcher Größe, daß ſie bis zu hundert Per—
ſonen als Obdach dienen. Namentlich beſteht
in jeder Gemeinde ein großer Geſellſchafts—
Pfahlbau (Bailéo) für die unverheiratheten
Kleinere Mittheilungen.
167
Männer, und ein anderer, in welchen ſich
die Frauen zu Zeiten zurückziehen. Uebrigens
leben ſie in ſtrenger Monogamie. Das
Naturell macht eher den Eindruck einer
kindlichen Gutmüthigkeit, die allerdings im
Kampfe und Streite einer raſenden Wild⸗
heit Platz macht. Gegen Ihresgleichen
beobachten fie die weitgehendſte Gaftfrennd-
ſchaft und ſtrenge Sittlichkeit; Diebſtahl
und Ehebruch ſollen kaum vorkommen.
Ihre Waffen gleichen denen der, mit Ma-
layen vermiſchten, Strandbewohner; ſie haben
eine Lanze, ein langes Schwert, Pfeil und
Bogen, dazu einen ſchmalen Schild, mit
welchem ſie auf 70 Schritt einen Pfeil
aufzufangen wiſſen, ſchließlich eine Triton—
muſchel als Kriegstrompete. Dem über—
wundenen Feinde wird, wie geſagt, der
Kopf abgeſchnitten und die geſchnellten Köpfe
oder Haarbüſche als Trophäen im Jung
geſellenhauſe aufgehangen. Neben dieſem
Kriegsgebrauche iſt aber auch ein heimliches,
meuchelmörderiſches Kopfſchnellen ſtark in
Uebung. Ein den mittelalterlichen Vehm—
gerichten ähnlicher Geheimbund (Kakian)
verhängt gewiſſermaßen amtlich, als Embryo
und Urzuſtand der Sicherheitspolizei, dieſe
volksthümliche Exekution gegen ſolche Perſonen,
die ſich den anerkannten Grundanſchauungen
nicht fügen wollen. Die mit der Aus-
führung betrauten Freiwilligen ſchleichen
nun oft wochenlang um das Opfer, welches
gewöhnlich eine Perſon iſt, die ſich in Furcht
zu ſetzen gewußt hat, beſchießen es aus
ihrem Hinterhalte mit Pfeilen, worauf der
Furchtloſeſte unter ihnen ihm den Kopf
abſchlägt, und dadurch, wenn er noch un—
verheirathet iſt, den unbeftrittenen Anſpruch
auf das ſchönſte Mädchen ſeines Stammes
erwirbt. Seine Begleiter tauchen ihre
Schwerter in das Blut der Leiche, und man
ſcheidet ſtill, um ſich nach längerer Zeit in
75
168
dem Heimathsdorfe beim feierlichen Todten—
tanz (Kahuwa) wieder zuſammenzufinden.
ſcheinen die Theilnehmer ſämmtlich
Blumen und bunten Zweigen geſchmückt,
welche maleriſch von den Oberarmringen
über den halb oder dreiviertel nackten Körper
herabhängen. Die Matadore im Kopf-
ſchnellen erkennt man an dem Ring und
Federſchmuck auf dem Haupte, während die
Zahl der geleiſteten Häupter durch Kreiſe
auf einem Streifen Baſt vermerkt wird, den
ſie an den Hüften tragen. Die Frauen
glänzen in ihrem beſten Schmucke von Glas—
perlen und Muſchelringen um Hals, Schulter
friſchen Baumblättern umhüllten natürlichen
Chignon gethürmt. In bunter Reihe, ſich
verbundenen Kreis, der ſich unter dem
Jauchzen der Männer unaufhörlich von
rechts nach links dreht, wobei der „geſchnellte
Kopf“, von einer Schönen mit Betel und
Tabak verſehen, über leichtem Kohlenfeuer
dem wilden Tanze aſſiſtirt. Das Muſikchor
wird von alten Frauen gebildet, welche auf
einfelligen Trommeln, Gongs und Triton—
muſcheln einen Höllenlärm vollführen. Wäh—
rend die alten Frauen ſo als Muſikanten
verwendet werden, haben die ganz alten
Herren als Kindermädchen zu dienen, den
Bei dieſem gemeinſamen Nationaltanze er-
mit
|
|
und Arme; ihr Haar ift zu einem mit
jungen Nachwuchs auf ihren Schultern zu
tragen, damit er früh durch die Freuden
und Ehren, die ſeiner warten, für die Kopf—
ſchnellerei begeiſtert werde. Dem Capitän
Schulze erſchien es, als ob die Alfuren
eine Uebergangsraſſe zwiſchen Malayen und
Papua's darſtellen.
Hinſichtlich der Urmenſchenfrage bemerkte
derſelbe Beobachter, daß er im Jahre 1860
auf Borneo einen ſogenannten „geſchwänzten
Menſchen“ geſehen habe, und daß das freie
“x
Kleinere Mittheilungen.
Schwanzwirbelrudimente bei den Frauen
von hinten umfaſſend, ſchließen fie einen eng⸗
Hervorragen der für gewöhnlich verwachſenen
dieſer Inſel häufiger als anderswo vor—
kommen ſolle. Uebrigens tauchen an Stelle
der entſchwänzten Alfuren ſchon wieder neue
Aſpiranten für dieſe hintere Körperzierde
auf. Das „Ausland“ erzählt darüber
(1877 Nr. 6) Folgendes: Der Reverend
George Brown kehrte im Oktober 1876
von einem längern Aufenthalte auf den
Inſeln Neu-Britannien und Neu-Irland
nach Sidney zurück und erzählte, daß die
Eingebornen von Blanchebay ihm und ſeinem
Begleiter, dem Naturforſcher Coquerell
aus Queenstown in pofitivfter Weiſe behauptet
hätten, daß im Innern von Neu-Britannien,
in einer Kali genannten und niemals von
Europäern beſuchten Gegend Menſchen mit
richtigen Schwänzen exiſtirten. Auf die
Einwendung, daß ſie wohl von Affen
ſprächen, antworteten dieſe Kannibalen un⸗
willig mit den Gegenfragen: „Ob denn
Affen mit Speeren kämpften, ob Affen
Yams pflanzten und Häuſer bauten?“
Wahrſcheinlich handelt es ſich um Menſchen,
die einen Thierſchwanz hinten als Zierrath
tragen, wie z. B. die von Schweinfurth
abgebildete Bongo⸗Schöne.
Im Uebrigen darf man nicht behaupten,
daß ein derartiger weitgehender Atavis—
mus — denn die menſchenähnlichen Affen
ſind ſämmtlich ſchwanzlos — nicht auch
einmal in weiterer Ausdehnung vorkommen
könne, und daß jene von de Laet beſchriebene
braſilianiſche Hochzeits-Ceremonie, bei welcher
die Nachkommen in effigie engliſirt wurden,
nicht irgendwo ihre Berechtigung finden
könnte; denn eine Vermehrung des dem
Menſchen gebliebenen Erbreſtes von Schwanz—
wirbeln kommt ſogar in civiliſirten Ländern
gar nicht ſo überaus ſelten vor. Doch
mögen nicht alle von Aerzten erzählten
Fälle diefer Art auf einer wirklichen Appo⸗
fition von Wirbeln beruhen, wie nach—
ſtehender von Virchow mitgetheilter Fall —
beweiſt. Gegen Ende des Jahres 1874
erhielt dieſer Forſcher von dem Chefarzte
der griechiſchen Armee ſchriftliche Mitthei—
Kleinere Mittheilungen.
lungen und Photographieen eines in der
Kreuzbein- Gegend auffallend behaarten
Menſchen, den der Chefarzt für einen
richtigen homo caudatus anſah.
Virchow würde kaum Bedenken getragen
haben, den neuen Fall jenen andern in der
mediciniſchen Literatur verbürgten Fällen von
Zahlenvermehrung und freiem Hervorragen
der Schwanzwirbel hinzu zu zählen, wenn er
nicht zufällig an demſelben Morgen, an
welchem die ſehr merkwürdige Photographie
aus Athen eintraf, Mittheilung über eine
Prof.
thiere beſchränkt.
mehreren Forſchern,
1698
dieſer Mißbildungen erblich geworden
war? K.
Foſſiles Vorkommen des Dingo.
Die allgemeine Ueberzeugung der Zoo—
logen geht bekanntlich dahin, daß der auſtra—
liſche Wildhund ebenſowohl wie der Menſch
dort eingewandert ſein muß, da die autoch—
thone Säugethierfauna ſich eben auf Beutel—
Nun war aber von
wie M' Coy und
Sol vyns, berichtet worden, daß ſie foſſile
in Berlin gerade zur Sektion vorliegende
weibliche Leiche erhalten hätte, die ebenfalls
auf der Rückengegend eine ungewöhnlich
behaarte Stelle aufwies. Eine genauere
Unterſuchung ergab aber, daß es ſich in
dieſem Falle um eine ſogenannte Spina
bifida oceulta d. h. eine Art von Rück—
gratsſpaltung handelte, alſo um ein durchaus
pathologiſches Vorkommen, welches nicht das
Allermindeſte mit Atavismus zu thun hatte.
Die vermeintliche Zugabe war nur ein die
Mißbildung nach außen andeutendes, ſehr
ſtark und lang behaartes Muttermal. Es
iſt alſo hier nothwendig, zwiſchen ganz ver—
ſchiedenen Vorkommniſſen zu unterſcheiden,
und dieſe Unterſcheidung iſt in Radſchputana
vielleicht nicht unwichtig, da die Dſchaitwas
einen ſolchen Appendix für die natürliche
Mitgift ihrer Fürſten halten, die ſich vom
Affengotte Hanuman herleiten, wie die
chineſiſchen Selbſtherrſcher vom großen
Drachen. Wer kann ſagen, ob dort nicht
wirklich einmal eine Familie herrſchend ge—
weſen fein mag, in der die urwüchſigere
Ueberreſte vom Dingo gefunden hätten. In
der Sitzung der Berliner anthropologiſchen
Geſellſchaft vom 17. Februar e. berichtete
Prof. R. Hartmann, daß er ſelbſt der—
artige unzweifelhaft foſſile Knochen des
Dingo, die in der Nähe des Murray—
fluſſes mit Reſten von Känguruh's und
Wombat's zuſammen gefunden worden waren,
unterſucht habe. Es geht alſo daraus her-
vor, daß der Dingo bereits ſehr früh dort
eingewandert iſt, und es iſt die Frage auf—
geworfen worden, ob dieſe Einwanderung
unabhängig und vor derjenigen der Menſchen
geſchehen ſein könne. Dagegen ſpricht aber
die große Aehnlichkeit des Dingo mit dem
Schäferhunde, und es würde hier der in—
tereſſante Fall vorliegen, daß die Reſte
eines heute wilden Thieres die Gegenwart
des Menſchen, der ihn zahm dorthin ge—
bracht haben dürfte, für Zeiträume wahr—
ſcheinlich macht, für welche andre Anhalts—
punkte fehlen. Allerdings iſt die Brücke
dieſer Schlüſſe eine ſehr wankende, aber
wenn man andrerſeits annehmen wollte,
das Stammthier habe ſchwimmend den
fernen Welttheil erreicht, ſo müßte man zur
Erklärung der Nachkommenſchaft eine Ge—
ſellſchaftsreiſe vorausſetzen, oder annehmen,
170
das dorthin verſchlagene Thier fer ein träd-
tiges Weibchen geweſen, eine Hypotheſe,
die der erſteren an Wahrſcheinlichkeit nicht
voranſteht. K.
Chemiſche Bedenken gegen die
Wirbelthier-Verwandtſchaft des
Lanzetthiers.
Herr Profeſſor Hoppe-Seyler hat
ſich das Verdienſt erworben, die Aufmerk—
ſamkeit der Forſcher auf das ſo ſehr ver—
nachläſſigte Studium der chemiſchen Ver—
ſchiedenheiten, ſowohl im Aufbau der Körpers
bei den einzelnen Thierklaſſen, als hinſicht—
lich der phyſiologiſchen Vorgänge, nament—
lich der Verdauung zu richten (Pflüger's
Archiv für Phyſiologie. Bd. XIV.
S. 395). Er kommt dabei zu einigen
Schlüſſen, die ſich gegen die heute am all⸗
gemeinſten angenommene Hypotheſe der
Wirbelthier-Abſtammung zu richten ſcheinen,
und ſagt in dieſer Beziehung: „Es ſcheint
höchſt auffallend, mit welcher Bereitwillig—
keit die ſyſtematiſche Zoologie den Amphioxus
den Wirbelthieren zugeordnet hat, lediglich
in einſeitiger Berückſichtigung einer Chorda
dorsalis und der Lagerung des Nervenſtrangs
über, und des Verdauungskanals unter der-
ſelben. Eine geſunde Syſtematikfaßt Gattungen
zuſammen, die nicht allein in einer morpho⸗
logiſchen Hinſicht, ſondern in der ganzen
Organiſation zuſammengehören. Amphioxus
hat außer der Chorda nichts mit den Wirbel-
thieren gemein; er beſitzt kein geſchloſſenes
Gefäßſyſtem mit rothen Blutkörperchen, keine
Leber, die Galle bildet, kein ordentliches
Gehirn, ja er enthält nicht einmal leim⸗
gebendes Gewebe, welches allen Wirbel—
thieren eigen iſt und außerdem den Cephalo—
poden, aber keiner andern Abtheilung
Kleinere Mittheilungen.
wirbelloſer Thiere.
In ihrer ganzen hoch—
entwickelten Organiſation ſtehen wohl die
Cephalopoden den Wirbelthieren am nächſten;
dem Amphioxus wird weiter abwärts eine
Stelle gefunden werden müſſen.
Geht man die Zuſammenſetzung der
Gewebe vergleichend von den niedriger or—
ganiſirten zu den höher entwickelten Thieren
durch, ſo findet man zuerſt das Auftreten
von mucin⸗(ſchleim-)gebenden Geweben, dann
von chondrin-(knorpelleim-)gebenden, endlich,
auch in den Cephalopoden, das Auftreten
von glucin-(knochenleim- gebenden Geweben;
die Ausbildung wirklicher Knochen iſt nicht
einmal allen Wirbelthieren eigen, fehlt den
Cephalopoden gleichfalls. Ganz dieſelbe
Reihenfolge ergiebt ſich, wenn man die
Stadien der Entwicklung eines Embryo
z. B. des Hühnchens im Ei verfolgt, und
ich kann mir nicht denken, daß dieſe Ueber⸗
einſtimmung nur eine zufällige ſei. Faſſen
wir aber das Ganze zuſammen, ſo finden
wir unzweifelhafte Beziehungen der chemiſchen
Zuſammenſetzung der Gewebe und der
chemiſchen Funktion der Organe zu den
Stufen der Entwicklung, die ſich im z00-
logiſchen Syſteme, ſowie in den jugend⸗
lichen Stadien jedes einzelnen, höheren Or—
ganismus zeigen, Beziehungen, die gewiß
einer weiteren Beachtung und Erforſchung
werth ſind, und in vielen Punkten die
Schwächen und Fehler in der Claſſifikation
und Beurtheilung der Organiſation der
Thiere, welche der bisher allein maßgebenden
einſeitigen, morphologiſchen Forſchung an—
hängen, zu vermeiden und zu verbeſſern
befähigen werden.“
Gewiß wird der Morphologie die
Bundesgenoſſenſchaft der phyſiologiſchen
Chemie ſehr erwünſcht ſein und gute Dienſte
leiſten. Aber nur, wenn ſie einträchtiglich
mit der Morphologie ans Werk geht. Denn
die einſeitige Anwendung, wie fie im Obigen
verſucht worden iſt, bringt die größten
Gefahren mit ſich. Wir erfahren dort,
daß vom chemiſchen Standpunkte aus Ce—
phalopoden faſt näher zu den Wirbelthieren
gehören würden als der Amphioxus, weil
ſie nämlich leimgebendes Gewebe beſitzen.
Grade ſo einſeitig könnte man auch ſagen,
die Regenwürmer ſtänden den Wirbelthieren
näher als der Amphioxus, weil ſie rothes
Blut haben, oder die Sackwürmer ſtänden
den Pflanzen viel näher als dem Amphio—
zus, weil fie Celluloſe abſcheiden. Die
Sache liegt doch einfach ſo, daß die Trias
von Blutfarbſtoff, Gallenpigmenten, und
leimgeben dem Gewebe, um bei dem ge—
wählten Beiſpiele ſtehen zu bleiben, ſämmt—
lichen wirbelloſen Thieren ebenſowohl fehlt,
wie den Anlagen der Wirbelthiere ſelbſt.
Dieſe Körperbeſtandtheile müſſen alſo noth—
wendig im natürlichen Entwicklungsgange
an irgend einer Stelle zum erſten Male
und neu erſcheinen. Die rothen Blut—
körperchen (und wenn ich nicht irre, auch
die aus dem Hämoglobin gebildeten Gallen—
farbſtoffe) treten nun zuerſt bei den Rund—
mäulern auf, deren nahe Verwandtſchaft
mit dem Amphioxus zweifellos aus ihrer
Entwicklungsgeſchichte hervorgeht.
Naturforſcher, welche jede Annäherung des
Amphioxus an das Wirbelthierreich ſo eifrig
wie der h. Georg diejenige des Drachens
Logik, daß man aus einer Kette zuſammen—
gehöriger Gedanken nicht einen einzelnen
thun. Wenn ſie conſequent
wollen, müſſen ſie wenigſtens auch die
Rundmäuler vom Wirbelthierſtamme los—
weißen, trotz der Gegenwart des rothen
Blutes und der Galle, des Gehirns und
Die
bekämpfen, vergeſſen eben die Regel der
herausreißen darf, um ihn für ſich abzu⸗
verfahren
leimgebenden Gewebes. Es geht hieraus
Kleinere Mittheilungen.
a
wohl zur Genüge hervor, daß die chemiſche
Beſchaffenheit der Körpertheile viel weniger
charakteriſtiſch und verwendbar iſt für die
Zwecke einer geſunden Syſtematik, die nicht
nur auf die Trennung, ſondern auch auf
die Wiedervereinigung bedacht ſein ſoll, als
der anatomiſche Bau und die Entwicklungsge—
ſchichte derſelben, und daß die Morphologie
nach dieſer Richtung immer die Führung be—
halten wird, ſo erwünſcht ihr, wie geſagt,
die Hülfstruppen ſein müſſen, die ihr Herr
Profeſſor Hoppe-Seyler zuführen will.
N.
Chemiſche Ausblicke auf die Ur—
zeugungs Hypotheſe.
Für die Urzeugungs-Alchemiſten und
gemäßigten Homunkulus-Fabrikanten haben
einige neue Arbeiten von Berthelot in
Paris bedeutendes Intereſſe. Derſelbe fand
nämlich, daß die an ſich ſchwache Affinität
des trägen Stickſtoffs und der übrigen
Organogene zu einander, bedeutend geſteigert
werden könne durch ſchwache elektriſche Span—
nungen und allmählige, dunkle Entladungen.
Kohlenwaſſerſtoffe und ſogenannte Kohlen—
hydrate (feuchte Celluloſe, Dextrin u. ſ. w.)
nahmen unter dem Einfluße ſchwacher
elektriſcher Spannung aus der Luft oder
aus reinem Stickſtoff beträchtliche Mengen
des letzteren auf, amidartige Verbindungen
bildend, während ſie ohne eine ſolche Span—
nung, die übrigens durchaus nicht im Stande
war, den Sauerſtoff in Ozon zu ver—
wandeln, in derſelben Zeit keine Spur von
Stickſtoff banden. Dieſe Verſuche ſind zu—
nächſt dadurch lehrreich, daß ſie einen für
die Landwirthſchaft gewiß ſegensreichen Faktor
im Naturhaushalt kennen lehren, dann aber
auch indem ſie zeigen, wie wenig bisher
23
855
die Kräfte der Natur, welche bei Bildung
organiſcher Verbindungen in Betracht kommen,
bei den Verſuchen, dergleichen Verbindungen
künſtlich zu erzeugen, erſchöpft worden ſind.
Zugleich liefern dieſe Verſuche einen Finger—
zeig zur Complikation der phyſikaliſchen
Bedingungen für die Urzeugungsverſuche.
Daß die ſtillen Ausſtrömungen den Lebens—
prozeſſen in keiner Weiſe hinderlich ſind,
bewieſen grüne Algen, die ſich in zweien
der elektriſchen Röhren Berthelot's auf dem
feuchten Papier angeſiedelt hatten, und grade
in dieſen beiden Röhren war die Stickſtoff—
aufnahme am ſtärkſten geweſen. Es ſcheint
mir, als müſſe man in jenen Verſuchen
erſt auf Protoplasma (Moneren)- Bildung
und nicht ſogleich auf Monaden und In—
fuſorien-Fabrikation losgehen, wie es die
meiſten Experimentatoren ſeither gethan
haben. Vielleicht liefern ihnen die im drei-
und vierundachtzigſten Bande der Comptes
rendus beſchriebenen Verſuche Berthelot's
neue Ausgangspunkte.
Auf die ſehr auseinandergehenden An—
gaben über die zur Tödtung organiſcher
Keime ausreichende Temperatur wirft eine
Betrachtung von Dr. Emil Jacobſen in
Berlin Licht. „Ich glaube,“ ſagt derſelbe
(Jnduſtrieblätter 1877. N. 7) „die Er-
klärung iſt unſchwer herbeizuführen. Der
Inhalt aller Keimzellen iſt eiweißhaltig;
mit dem Coaguliren des Eiweißes hört die
Keimfähigkeit auf. Dieſes Coaguliren iſt
(abgeſehen von der Coagulation durch Salze
oder Alkohol) ſtets mit einer Aufnahme
Kleinere Mittheilungen.
und chemiſchen Bindung von Waſſer ver—
knüpft. Fehlt das Waſſer, jo kann Ei-
weiß bis zum Bräunen erhitzt werden, ohne
zu coaguliren. Sogenanntes Albuminpapier
der Photographen kann man über der Licht—
flamme beiſpielsweiſe bis zur beginnenden
Verkohlung des Papiers erhitzen. Der Ei—
weißüberzug bleibt im Waſſer löslich; ſo—
bald man aber erhitzten Waſſerdampf da⸗
gegen ſtrömen läßt, wird das Eiweiß
augenblicklich coagulirt und im Waſſer un⸗
löslich gemacht. Waſſerarme Keime oder
ſolche, die durch langſames Trocknen ihres
Waſſergehaltes beraubt find, werden alſo
ganz bedeutende Temperaturen aushalten
können, ohne daß ihr Eiweißgehalt zum
Coaguliren gelangt. Eine Waſſer abſtoßende
oder doch für Waſſer ſchwierig zugängliche
Beſchaffenheit der Oberhaut der Sporen
wird das Coaguliren des Inhalts ſelbſt in
feuchter Hitze hinauszuſchieben vermögen.“
Dieſe Betrachtungen erklären ſehr ſchön
die kürzlich von Tyndall gemachte Be—
obachtung, daß die organiſchen Keime in
jüngerem Heu ſchneller durch Kochen mit
Waſſer ihrer Entwicklungsfähigkeit beraubt
wurden, als diejenigen, welche in einem
mehrere Jahre alten Heu enthalten waren.
Bei einem Heu, welches 1876 geerntet
war, reichte bereits ein fünf Minuten
langes Kochen mit alkaliſchem Waſſer aus,
um alle darin enthaltenen Keime zu tödten;
älteres Heu mußte bedeutend länger ge—
kocht werden, um daſſelbe Reſultat zu er—
reichen. K.
Offene Briefe und Antworten.
Aus einem Briefe von
Mr. Charles Darwin
an die Redaktion.
S J will suggest one
point which you as Editor will perhaps
|
ſatze huldigt:
find an opportunity of urging on your
readers, and which seems to me of
paramount importance with respeet to
the descent theory, — namely the in-
vestigation of the causes of variability.
Why for instance are the wild eattle |
which roam over the Pampas uniformly
coloured, whereas they are half do-
mesticated, they are said by Azara to
change colour; and so in endless other
cases. We want to know what is the
nature of the change in the environ-
ment which induces variability in each
particular instance, and why one part
of the organisation is affeeted more
than another; though it seems hopeless
at present to attempt solving this latter
problem. J cannot but think that
light might be thrown on this diffieult
subject by experiments and observations
made on freshly domesticated animals
and cultivated plante.
Ueber das Zuſammenwirken von
Anthropologie und Ethnologie.
Eine Auseinanderſetzung zwiſchen Herrn
Profeſſor Dr. Friedr. Müller und Herrn.
Friedrich von Hellwald.
J.
Es thut mir leid, meine Beiträge zum
Kosmos mit einer Polemik gegen einen ge—
ſchätzten Mitarbeiter und lieben Freund be—
ginnen zu müſſen; ich glaube aber mir dies
um ſo mehr erlauben zu dürfen, als auch
mein Freund F. v. Hellwald dem Grund—
„Amieus Plato, amieus
Aristoteles, sed magis amica veritas.“
Hellwald will in ſeinem Aufſatze „Be—
deutung und Aufgaben der Völkerkunde“ “)
gegenüber der von mir nachdrücklich betonten
Scheidung der Authropologie und Ethno—
logie, die „Völkerkunde“, eine Verquickung
beider Wiſſenſchaften, zu Ehren bringen,
wobei er ſpeciell auf Peſchel ſich beruft.
Wir hätten gegen ein ſolches Vorgehen nichts
einzuwenden, ſofern es um eine einzelne
Leiſtung, ein einzelnes intereſſant geſchriebenes f
Buch ſich handelt, ebenſo wenig als wir
gegen einen begabten Schriftſteller, der uns
mit einer „Menſchenkunde“, einer Verquickung
von Anatomie, Phyſiologie, Pſychologie
und noch anderen Wiſſenſchaften, beſchenken
würde, den Vorwurf der Vermengung
mehrerer von einander geſchiedenen Wiſſens—
zweige erheben würden.
Hingegen müßten wir doch, falls Jemand
die „Menſchenkunde“ in dem bewährten
Sinne als Wiſſenſchaft proclamiren und an
die Stelle der Anatomie, Phyſiologie und
Pſychologie ſetzen wollte, energiſchen Proteſt
gegen eine ſolche Vermengung der Wiſſen—
ſchaften erheben. Und warum? Weil jede
Wiſſenſchaft, falls ſie dieſen Namen
verdienen ſoll, vorausſetzt und
fordert, daß derjenige, welcher ſie
treibt, in allen ihren Fragen voll—
kommen zu Hauſe ſei, ſich ein ſicheres
) Kosmos, Heft 1 Seite 45.
FRE
174
Urtheil bilden und in allen ihren
Problemen Rede und Antwort ſtehen
könne. Ein auf bloße Autorität hin
Offene Briefe und Antworten.
gefälltes Urtheil hat, wie bekannt, in der |
Wiſſenſchaft abſolut keinen Werth.
aber Jemand, der in der Anatomie, Phyſio—
Darf
logie und Pſychologie, ſammt deren pro-
pädeutiſchen Wiſſenſchaften nicht tüchtig ge-
arbeitet hat, ein ſelbſtändiges Urtheil in
irgend einem etwas ſchwierigeren Problem
dieſer Diſciplinen ſich anmaßen?
Das was Hell wald über den innigen
Zuſammenhang der anthropologiſchen und
ethnologiſchen Forſchung mit einander be—
merkt, beweiſt ebenſo viel, als die Noth—
wendigkeit, in phyſiologiſchen Fragen auf
die Lehren der Phyſik und Chemie ſich zu
beziehen, ja von ihnen auszugehen, um die
Verquickung der Phyſik, Chemie und Phyſio—
logie zu einer einzigen Wiſſenſchaft wünſchens⸗
werth erſcheinen zulaſſen. — Jede Wiſſenſchaft
ſteht ja mit einer Reihe anderer Wiſſen—
ſchaften im Zuſammenhange und muß viel-
fach auf dieſelben ſich beziehen. Daraus
aber darf nimmermehr die Nothwendigkeit
einer Verſchmelzung dieſer Wiſſenſchaft ab—
geleitet werden.
Hellwald verſucht es, jene Selbſtbe—
ſchränkung d. h. das Vertreten bloß jener
Wiſſenſchaft, die man verſteht, als un—
wiſſenſchaftlich hinzuſtellen. Er ſagt „die
reine Ethnographie, welche ſich lediglich mit
der Beſchreibung der Sitten, Gebräuche,
Anſchauungen, Sprachen und dgl. der
einzelnen Völker beſchäftigt, braucht ſich um
die Stellung jedes einzelnen dieſer Völker
eigentlich gar nicht zu bekümmern.“ Wir
möchten gern wiſſen, welchem Ethnographen
dieſes Geſtändniß entnommen iſt. Wenn
Hellwald dabei an unwdiſſenſchaftlich ge—
ſchriebene Monographien denkt, ſo iſt der
Satz unrichtig, da ſolche Publicationen nicht
in die Wiſſenſchaft der Ethnographie gehören;
denkt er aber dabei an Darſtellungen der
Ethnographie als Wiſſenſchaft, ſo hätte
dabei das Buch, welches die Wiſſenſchaft
ohne ein beſtimmtes Syſtem darzuſtellen
unternimmt, näher bezeichnet werden ſollen.
Bekanntlich habe ich es in meiner 1873
erſchienenen „allgemeinen Ethnographie“
unternommen, die Ethnographie als die Lehre
vom Menſchen, inſofern er einer natür-
lichen, d. h. durch Sprache, Sitten u. ſ. w.
geeinten Geſellſchaft angehört, ſyſtematiſch
darzuſtellen, wobei ich nach der von mir
gegebenen Definition von Raſſe und Volk,
von der anthropologiſchen Grundlage, aus—
ging. Ich habe in meinem Syſtem beide
Richtungen, Anthropologie und Ethnologie,
ſtreng aus einander gehalten; ſie ſind nicht
bei mir ſo verquickt, daß eine Richtung
von der andern abhängig wäre. Mein
ethnologiſches Syſtem vermag ich ſel b⸗
ſtändig zu vertreten und bin ſtets bereit,
mich mit Fachgenoſſen in Erörterungen
darüber einzulaſſen; dagegen iſt das von
mir adoptirte anthropologiſche Syſtem (für
das ich wohl Verſtändniß habe, das ich
aber nicht ſelbſtändig zu vertreten vermag)
fremdes Eigenthum. Es bildet blos den Aus-
gangspunkt meines ethnologiſchen Syſtem's
und könnte auch, falls ein beſſeres ſich mir
darbieten würde, durch dieſes, ohne irgend
welche Veränderung in meinem ethnologiſchen
Sy ſtem hervorzurufen, erſetzt werden.
Ein ſolches Auseinanderhalten anthro—
pologiſcher und ethnologiſcher Forſchung ſcheint
mir für den Fortſchritt der Wiſſenſchaft
förderlicher zu ſein als jene Verquickung,
wie ſie Peſchel in ſeiner „Völkerkunde“
durchgeführt hat, und die nun Hellwald in
die Wiſſenſchaft einführen möchte. Durch
dieſe Bemerkung wird — wir müſſen dies
ausdrücklich betonen — Peſchel's Buch
keineswegs betroffen. Das Buch Peſchel's
iſt ein geiſtreich geſchriebenes, in ſeiner Art
claſſiſches Werk, das blos ein Peſchel
ſchreiben konnte. Es nimmt aber ebenſo
wenig in den Wiſſenſchaften der Anthro—
pologie und Ethnologie eine beſtimmte
Stellung ein, als ewa Humboldt's Kosmos
in der Anatomie, Phyſiologie und dergl.
Peſchel war bekanntlich vergleichender
Geograph, aber weder Natur- noch Sprach-
forſcher von Fach. Seine Anſichten ſtützen
ſich, ſofern ſie auf die beiden letzteren Ge—
biete ſich beziehen, auf beſtimmte Autori—
täten. Das iſt Wiſſen, glänzendes Wiſſen,
aber nicht Wiſſenſchaft, wie man ſie heut
zu Tage verſteht, nämlich „zunftmäßige
Wiſſenſchaft.“
Während Peſchel's Buch nur von
einem Peſchel geſchrieben werden konnte,
hätte jeder mit meinen Fachkenntniſſen und
Studien ausgeſtatteter Mann meine „all—
gemeine Ethnographie“ zu Stande gebracht.
Mit dieſem Geſtändniß habe ich die
Vorzüge und Mängel zugleich der Arbeit
Peſchel's, ſowie ſeiner Richtung, die
Hellwald in die Wiſſenſchaft einführen
möchte, getroffen. — Das Werk Peſchel's
blendet, es iſt mit tiefen philoſophiſchen
Betrachtungen durchflochten und anziehend
geſchrieben. Es iſt mehr für die erhebende
Lectüre als für das zünftige Studium
beſtimmt. Es fehlt ihm jedoch die eigene
Grundlage; dieſelbe beſteht vielfach aus „in
fremdem Garten gepflückten Blumen“; in
anderen Fällen iſt fie durch den Eklekticismus
(eine Folge davon, daß Peſchel nicht
Fachmann war) gewaltig erſchüttert.
Wie man heutzutage Wiſſenſchaft treibt,
ſo wird von jedem ihrer Jünger zunächſt die
genaueſte Kenntniß ihres Handwerkszeuges
und ihrer Methode gefordert. Der Umfang
einer jeden Wiſſenſchaft iſt heutzutage derart,
Offene Briefe und Antworten.
175
daß nur Jemand, der ſich auf eine be—
ſtimmte Richtung beſchränkt, Bedeutendes,
für die Wiſſenſchaft Werthvolles zu leiſten
vermag. Ob ein Jemand im Stande iſt,
zwei ſo verſchiedene Wiſſenſchaften, wie ver—
gleichende Anatomie und vergleichende Sprach—
kunde (und dieſe beiden bilden doch zuletzt die
ſicheren Grundlagen einerſeits der anthropolo—
giſchen, andererſeits der ethnologiſchen For—
ſchung) zu umfaſſen, d. h. wiſſenſchaftlich zu
umfaſſen, dies iſt eine Frage, die ich
im Hinblick auf meine eigenen Kräfte ent—
ſchieden verneinen möchte.
Wir bleiben alſo bei unſerer bereits
gemachten Bemerkung, daß wir, wenn Je—
mand als Schriftſteller Anthropologie und
Ethnologie verquickt, alſo eine „Völkerkunde“
ſchreibt, nichts Weſentliches dagegen einzu—
wenden haben; daß wir aber, ſofern es ſich
um die Wiſſenſchaft, d. h. zunftmäßige
Wiſſenſchaft handelt, auf ein ſtrenges Aus—
einanderhalten beider Richtungen dringen
müſſen. Nur durch eine ſolche Vertheilung
des gewaltigen, zwei ganz verſchiedenen
Wiſſensgebieten angehörenden Stoffes, durch
genaue ſyſtematiſche Bearbeitung deſſelben
von eigens dazu geſchulten Kräften, wird
ein Ausbau der Wiſſenſchaften der Anthro—
pologie und Ethnologie möglich ſein; glück—
lichere Zeiten, als es die unſere iſt, mögen
dann meinetwegen den ſtolzen Tempel der
„Völkerkunde“ vollenden.
Wie wir glauben, mag Hellwald
im tiefſten Grunde zu ſeinen Ausführungen
durch den Umſtand veranlaßt worden ſein,
daß ſein Gewiſſen ſich ſträubt, die Wiſſen—
ſchaft vom Menſchen überhaupt aus dem
Bereiche der exacten Wiſſenſchaften auszu—
liefern, daher er fie wiederholt den Natur-
wiſſenſchaften zuzählt. Dem liegt aber eine
ſtillſchweigende Identificirung der Natur-
wiſſenſchaften mit exacter Wiſſenſchaft über—
.
enn al
176
haupt zu Grunde, eine Identificirung, der
wir auch bei vielen Sprachforſchern (z. B.
Schleicher) begegnen. Daß aber eine ſolche
Identificirung nicht richtig iſt, geht ſchon
daraus hervor, daß Manches in das Ge—
biet der Naturwiſſenſchaften gehören kann,
ohne deswegen exact zu ſein, und umgekehrt
manches dem Gebiete der Geiſteswiſſen—
ſchaften Angehörende exact ſein kann. Wer |
will behaupten, daß z. B. Perty's bekannte |
Arbeiten über die Geiſtererſcheinungen (ein
ſtreng naturwiſſenſchaftliches Object!) den
Namen einer exacten Forſchung ver—
dienen? Und verdient die vergleichende
Grammatik irgend eines Sprachſtammes
weniger den Namen einer exacten Leiſtung
als eine Arbeit über die Schädelbildung
dieſer oder jener Raſſe? Man erſieht wohl
daraus leicht, daß der Umſtand, ob eine
Arbeit exact ſei oder nicht, nicht ſo wohl
darauf, ob das Object den Natur- oder
den Geiſteswiſſenſchaften angehört, ſondern
vielmehr darauf beruht, mit welcher Methode
Offene Briefe und Antworten.
beider Wiſſenſchaften anſtrebe. Weit entfernt,
ſie ausgeführt worden iſt. In der Me—
thode ruht der eigentliche Cha—
rakter — der Fortſchritt der
Wiſſenſchaft.
Friedrich Müller.
II.
Die Einwendungen, welche Profeſſor
Friedrich Müller in Wien gegen meine
Auffaſſung der „Völkerkunde“ erhebt, konn—
ten mir von keiner angenehmeren Seite
kommen als gerade von ihm, mit dem
mich eine langjährige Freundſchaft verbindet.
Es wird daher nicht ſchwierig ſein, zu einer
Verſtändigung in der aufgeworfenen Frage
zu gelangen, welche auch für weitere Kreiſe
Intereſſe haben dürfte, und wir haben ſo—
gar alle Urſache, dem Wiener Sprachgelehr—
ten unſeren aufrichtigſten Dank dafür zu
zollen, daß er dieſes Thema einer näheren
kritiſchen Beachtung werth erachtet hat. Mit
Vergnügen folge ich daher meinem lieben
Freunde auf dieſem Boden und will im
Folgenden ſo knapp als möglich meine An—
ſichten präciſiren, wobei ſich wahrſcheinlich
herausſtellen wird, daß, wenn überhaupt,
eine nur ſehr unerhebliche Meinungsdiffe⸗
renz zwiſchen uns beſteht.
Müller irrt entſchieden, wenn er
meint, daß gegenüber der von ihm nach—
drücklich betonten Scheidung der Anthro⸗
pologie und Ethnologie ich eine Verquickung
Müller hierin zu opponiren, rechne ich
ihm gerade die ſcharfe Sonderung der bei—
den Wiſſenszweige zum höchſten Verdienſte
an; hat doch er zuerſt der Verſchwommen⸗
heit ein Ende gemacht, welche lange Zeit
die beiden Begriffe umnebelte. Qui bene
distinguit, bene docet; dieſer alte Satz
hat auch hier ſeine volle Geltung. Wenn
ich dennoch die „Völkerkunde“ in dem Sinne
nahm, wie Peſchel deren Grundriſſe
feſtgelegt, ſo geſchieht dies keineswegs, um
den Unterſchied zwiſchen Anthropologie und
Ethnologie wieder aufzuheben, noch auch
um aus der „Völkerkunde“ eine beſondere
Disciplin zu machen. Aus vollem Herzen
unterſchreibe ich alles, was Fr. Müller
über Peſchel's Buch ſagt; die Stellung
der „Völkerkunde“ im Kreiſe des menſch—
lichen Wiſſens nach meiner Auffaſſung
glaube ich jedoch am beſten an zwei con—
creten Beiſpielen klar machen zu können.
Faſſen wir zunächſt die ſeit mehreren
Jahren ſehr erfolgreich betriebenen urge—
ſchichtlichen Studien, oder wie Manche mit
einem Fremdworte ſagen, die Prähiſtorie
des Menſchen ins Auge. Unterſuchen wir
die Programme und den Wirkungskreis der
Offene Briefe und Antworten. 177
ſich mit dieſem Wiſſenszweige befaſſenden
Geſellſchaften in Deutſchland, in Oeſterreich,
in Frankreich, in England, überall finden
wir, daß dieſelben mindeſtens drei be—
ſtimmte, geſonderte Disciplinen: Anthro—
pologie, Ethnologie und Urgeſchichte um—
faſſen. Jede dieſer drei Disciplinen ſteht
für ſich völlig unabhängig, ſelbſtſtändig da;
nur wenn ſie alle drei ſich vereinen, ver—
mögen wir aber ein Verſtändniß für die
menſchliche Prähiſtorie zu gewinnen. Wer
die Urzuſtände unſeres Geſchlechts erforſchen
will, muß nothwendiger Weiſe alle drei
Disciplinen mit gleicher Sorgfalt berück—
ſichtigen, und erſt die Ergebniſſe aus allen
dreien conſtituiren die prähiſtoriſche Wiffen-
ſchaft. Werden aber darum die drei Dis—
ciplinen in ihrer Selbſtſtändigkeit verletzt?
Keineswegs. Man wird immer ganz aus—
ſchließlich blos anthropologiſche, blos ethno—
logiſche oder blos urgeſchichtliche (dann
richtiger archäologiſch zu nennende) Forſchun—
gen anſtellen und auf jedem dieſer Gebiete
Großes leiſten können; nur wird die bloße
Beherrſchung eines dieſer Wiſſensfelder allein
niemals zur Herſtellung des Begriffes ge—
nügen, welchen wir mit der prähiſtoriſchen
Wiſſenſchaft verbinden. Noch beredter ſpricht
das näher liegende Beiſpiel vom Arzte,
worauf Müller ſelbſt hindeutet, indem
er fragt, ob Jemand, der in der Anatomie,
Phyſiologie und Pſychologie ſammt deren
propädeutiſchen Wiſſenſchaften nicht tüchtig
gearbeitet hat, ein ſelbſtſtändiges Urtheil in
irgend einem ſchwierigeren Problem dieſer
| ſchmelzung oder Verquickung das Wort zu
reden, glaube ich damit gerade auf dem
es, daß die ärztliche Wiſſenſchaft nur aus
Disciplinen ſich anmaßen darf? Gewiß
nicht, antworte ich; aber ebenſo gewiß iſt
der Vereinigung aller dieſer Disciplinen
und noch anderer hervorgeht. Man kann
ein tüchtiger Anatom, oder Phyſiologe, oder
Pſychologe ſein, iſt aber deshalb lange
noch kein Arzt. Erleiden aber dieſe einzelnen
Disciplinen dadurch, daß ſie alle insgeſammt
zur ärztlichen Wiſſenſchaft gleich nothwen—
dig ſind, irgend eine Beeinträchtigung an
ihrer Selbſtſtändigkeit, oder werden ſie da—
durch etwa mit einander verſchmolzen?
Sicherlich nicht im Geringſten, und ganz
thöricht wäre es von uns, die Selbſtbe—
ſchränkung, d. h. das Vertreten blos jener
Wiſſenſchaft, die man verſteht, als unwiſſen—
ſchaftlich hinzuſtellen. Kein Gedanke konnte
mir ferner liegen, und Müller's dies—
bezügliche Annahme beruht wohl nur auf
einem vielleicht von mir durch undeutliche
Ausdrucksweiſe hervorgerufenen Mißver—
ſtändniſſe. Die reine Ethnographie, welche
ſich lediglich mit der Beſchreibung der Sit—
ten, Gebräuche, Anſchauungen, Sprachen
u. dgl. der einzelnen Völker beſchäftigt,
braucht ſich um die Stellung jedes einzelnen
dieſer Völker eigentlich gar nicht zu be—
kümmern. So ſagte ich, und mein ge—
ſchätzter Freund fragt, welchem Ethnographen
dieſes Geſtändniß entnommen ſei. Glück—
licherweiſe gar Keinem, denn ich hatte
dieſes eben nur in abstracto und unter
„Stellung jedes einzelnen dieſer Völker“
die anthropologiſche Stellung gemeint.
In abstracto wohnt aber dem Satze wohl
die nämliche Berechtigung inne, als wenn
ich ſage, daß die Anatomie ſich eigentlich
nicht um die Pſychologie, die Anthropo—
logie ſich nicht um die Archäologie zu
kümmern brauche. Jedes bildet eben eine
Disciplin für ſich, und ſtatt einer Ver—
Standpunkte Müller's zu ſtehen, den
ich nicht nur in dieſer, ſondern auch noch
in anderen Fragen verfechte. Nur glaube
ich, daß es Wiſſenſchaften giebt, welche erſt
aus der Vereinigung der Reſultate mehre—
178
rer Disciplinen erwachſen, was von einer |
Verſchmelzung oder Verquickung derſelben
doch himmelweit verſchieden iſt. Solche
Wiſſenſchaften find die Prähiſtorie, die Heil—
kunde und — meiner Anſicht nach — die
Völkerkunde. Daß Fr. Müller offenbar
der nämlichen Anſchauung huldigt, geht
übrigens aus ſeiner eigenen trefflichen
„Allgemeinen Ethnologie“ hervor, in wel—
cher er zwar beide Richtungen, Anthropo—
logie und Ethnographie, ſtreng aus einander
hält, dennoch aber die erſtere Disciplin,
ſogar, wie er ſagt, in einem adoptirten
Syſteme, überall zur Geltung gelangen
läßt, ſtatt dieſelbe gänzlich auszumerzen,
wie es logiſch wäre, wenn er ſie in
ſeinem Buche nicht für nöthig erachtete.
Ueberall läßt Müller — und mit voll-
ſtem Rechte — die Schilderung des leib—
lichen Typus, d. h. das anthropologiſche
Moment, der ethnographiſchen Schilderung
vorangehen, ein Beweis, daß auch ihn
eine allgemeine Ethnographie, welche ſich
nur mit Sitten, Gebräuchen, Anſchau—
ungen, Sprache der Völker befaßt, unbe—
friedigt gelaſſen hätte. Daß Müller
beide Richtungen ſtreng aus einander ge—
halten, ſo daß keine von der anderen ab—
hängig erſcheint, verdient hohe Anerkennung,
nicht minder aber auch, daß er beide den
noch neben einander gleichmäßig einherführt.
Mit dieſem Satze iſt, glaube ich, der Boden
für eine Verſtändigung, ſowohl mit dem be—
freundeten Forſcher wie mit dem Leſer dieſer
friedlichen Auseinanderſetzung, gewonnen,
und wird Prof. Müller nicht mehr im
Zweifel ſein können, daß ein Widerſpruch
zwiſchen unſeren Anſichten nicht beſteht.
Offene Briefe und Antworten.
Vielleicht trüge es zur Klärung ähn—
licher Discuſſionen bei, wenn man der
Terminologie eine größere Schärfe geben
könnte. Die Definition, welche Müller
für die „Wiſſenſchaft“ aufſtellt, iſt an und
für ſich unbeſtreitbar; da aber Müller
ſelbſt zur genaueren Bezeichnung ſich des
Beiwortes „zunftmäßig“ bedient, ſo dürfte
man vielleicht den Vorſchlag wagen, dieſe
„zunftmäßigen Wiſſenſchaften“ „Disci—
plinen“, kurzweg „Wiſſenſchaften“ aber jene
Wiſſensfelder zu nennen, deren Bebauung
das Zuſammenwirken mehrerer Disciplinen
erfordert. In dieſem Sinne wären z. B.,
um nur einige zu nennen, Heilkunde, Ge—
ſchichte, Erdkunde und auch Völkerkunde,
(die ja nur die deutſche Umſchreibung
des Wortes „Ethnographie“), weil der
Mitwirkung verſchiedener Disciplinen bedürf-
tig, Wiſſenſchaften, während Anatomie,
Phyſiologie, Pſychologie, oder auf geſchicht—
lichem Gebiete Numismatik, Epigraphik
u. dgl., endlich auf jenem der Erdkunde Geo—
logie, Paläontologie, Phyſik, ſo wie die
verſchiedenen Zweige der „Naturwiſſen—
ſchaften“ als Dis ciplinen zu gelten hätten.
Was die Scheidung zwiſchen Natur- und
Geiſteswiſſenſchaften anbelangt, ſo lege ich
keinen ſo großen Werth darauf, ob die
Wiſſenſchaft vom Menſchen zu dieſen oder
zu jenen gezählt werde, da — ſo ſehr ich
Müller's Ausführungen beipflichte —
dieſe Scheidung mir noch eine ziemlich ſub—
jective erſcheint, zumal es nicht an Stimmen
fehlt, welche in gewiſſem Sinne alle
Wiſſenszweige den Naturwiſſenſchaften zu-
rechnen.
Friedrich von Hellwald.
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
Gedanken über Dererbingseriheinungen und
Dererbungswelen
von
Dr. Ludw. Moerzier.
(Schluß.)
nennenswerthen Verſuch,
den Hergang bei der Vererbung
mit ſeiner Hypotheſe der Pan—
geneſis gemacht, die der britiſche Forſcher
jedoch ſelbſt als eine nur „proviſoriſche“
bezeichnet. Darwin nimmt an, „daß die
Zellen kleine Körperchen (Keimchen, Gem—
mulae) abgeben, welche durch das ganze
Syſtem (des Körpers) zerſtreut werden;
daß dieſe, gehörig genährt, ſich durch
Selbſttheilung vervielfältigen und ſchließ—
lich zu Einheiten (oder Zellen) entwickelt
werden, gleich denjenigen, von welchen ſie
urſprünglich abgeleitet ſind. Sie ſammeln
ſich aus allen Theilen des Körpers, um
die Geſchlechtselemente zuſammenzuſetzen,
und ihre Entwickelung in der nächſten Ge—
neration bildet ein neues Weſen; aber ſie
ſind gleicherweiſe auch fähig, in einem
) Charles Darwin, Das Variiren
der Thiere und Pflanzen im Zuſtand der
Domeſtikation. 2. Aufl. 1875. 27. Kapitel.
ſchlummernden Zuſtande an künftige Ge—
nerationen überliefert und dann erſt ent—
wickelt zu werden. Ihre Entwickelung hängt
ab von ihrer Vermiſchung mit anderen,
theilweiſe entwickelten oder entſtehenden
Zellen, welche ihnen im regelmäßigen Ver—
lauf des Wachsthums vorausgehen.“ Es
wird ferner von ihm angenommen, „daß
Keimchen von jeder Einheit oder Zelle
nicht nur während ihres erwachſenen Zu—
ſtandes abgegeben werden, ſondern auch
während jedes Entwickelungszuſtandes eines
jeden Organismus; aber nicht nothwendig
während der fortgeſetzten Exiſtenz derſelben
Zelle.“ Endlich nimmt er an, „daß die
Keimchen in ihrem ſchlummernden Zuſtande
eine gegenſeitige Verwandtſchaft zu einander
haben, welche in ihrer Anhäufung entweder
zu Knospen oder zu Sexual-Elementen
führt.“
Aehnliche Vorſtellungen, daß der Same
gleichſam ein Extrakt des ganzen Körpers
ſei, finden ſich ſchon bei Schriftſtellern der
[| Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
Alten; der Same ſtrömt, nach Hippo—
krates, von allen Theilen des Körpers
her, und iſt geſund oder ungeſund, je nach—
dem die Theile geſund oder ungeſund ſind.
Nach Demokrit wird der Same vom
ganzen Körper ausgeſchieden und belebt
durch eine körperliche Kraft; der Same
jedes Körpertheils erzeugt den beſtimmten
Theil wieder.
Der Lehre Demokrit's ſchloß ſich
Paracelſus an, und dieſelbe wurde als
neue Zeugungstheorie im Anfang dieſes
Jahrhunderts von Ben. Höſch aufgeſtellt:
er hält die Zeugungsſtoffe für Gemiſche
von Grundſtoffen des ganzen Körpers, von
Keimen aller Organe, die von den Saug—
adern aufgenommen und durch das Blut
in Hoden und Eierſtock geführt werden.
Auch die Buffon'ſche Lehre der Erb—
lichkeit, wonach die Keime Extrakte des
ganzen Körpers ſind, die ſich mit einander
miſchen, ſowie die neueren Hypotheſen *)
ſtimmen im Princip mit Darwin's
Pangeneſis überein.
His“) weiſt zur Widerlegung der
Pangeneſis auf die Kritik hin, welche be—
reits Ariſtoteles auf die ganz ähnliche
Hypotheſe ſeines Zeitgenoſſen geſchrieben
habe. Wenn auch, bei dem fortgeſchrittenen
Standpunkte der hiſtologiſchen Forſchung,
Darwin's Pangeneſis gegen mehrere der
Ariſtoteliſchen Einwürfe ſich vertheidigen
läßt, ſo bleibt doch immer das eine
wichtige Bedenken, welches auch His an—
führt: „Wollen wir ſelbſt die Möglichkeit
zugeben, jede Ganglienzelle bilde ihre
) Vgl. Dr. Emanuel Roth, Hiftorifch-
kritiſche Studien über Vererbung. Berlin 1877.
Verlag von Aug. Hirſchwald.
) His, Unſere Körperform und das
phyſiologiſche Problem ihrer Entſtehung.
Leipzig 1875. Verlag von F. C. W. Vogel.
*
Ganglienzellenkeime und gebe je nur
einen an einen neuen Geſammtkern ab,
und daſſelbe gelte von jedem andern un—
ſerer Elementarbeſtandtheile, ſo bleibt ſtets
noch ſicher, daß eine Summe von diminu—
tiven Theilrepräſentanten oder von Organ—
ſplittern nicht ein diminutives Ganze liefern
wird, ſondern ein regelloſes Gemenge, das
auf den Namen eines Organismus keinen
Anſpruch machen darf.“ Selbſt wenn man
annimmt, daß gleichartige Keimchen ſich
finden, ſo iſt damit doch immer noch nicht
erklärt, warum ſie, nachdem ſie ſich gefun—
den haben, den anderen Keimchencomplexen
gegenüber in einer der Schichtungsweiſe des
elterlichen Organismus ſo ganz ähnlichen
Weiſe bei ihrer Schichtung ſich verhalten
werden, warum beiſpielsweiſe die Keimchen-
complexe der Muskeln zu denen der Nerven
genau ebenſo ſich lagern, wie dies bei den
Muskeln und Nerven des elterlichen Or—
ganismus der Fall war. Was giebt den
Keimchen die wunderbare Organiſation,
daß ſie, etwa von der degenerirten Zehe
ſtammend, im Keim ſich zu der ganz ähn—
lich gebauten kindlichen Zehe ſammeln?
Bei aller Hochachtung und Verehrung,
welche Darwin verdient, muß man ſich
geſtehen, daß er das zu Erklärende in die
Keimchen ſelbſt zurückverlegt hat und ihnen
Eigenſchaften zuweiſt, die ebenſo unerklärt
und ſtaunenerregend find, wie der makro—
ſkopiſche Bau des Thieres, der durch ſie im
Keime vorgebildet werden ſoll.
Wenn Blumenbach, in Weiter⸗
bildung der früher ſchon von Mauper—
tuis und Needham ausgeſprochenen
Idee annahm, daß „nachdem der vorher
rohe und ungebildete Zeugungsſtoff der orga—
niſchen Körper zu ſeiner Reife und an den
Ort ſeiner Beſtimmung gelangt ſei, in ihm
ein beſonderer, dann lebenslang thätiger
Bez
en),
Trieb rege wird, eine jedesmal beſtimmte
Geſtalt anzunehmen, lebenslang zu erhalten
und, wenn ſie etwa verſtümmelt worden, wo—
möglich wieder herzuſtellen,“ ſo kann die
Aufſtellung eines ſolchen Bildungstriebes
ſo lange nichts erklären, als dasjenige, was
dieſen Trieb treibt, nicht durchſchaulich wird.
Iſt ein ſolcher „Bildungstrieb“, oder ſind
vielmehr ſolche Bildungstriebe weniger
ſtaunenerregend, als die vollendeten Ge—
ſtalten ſelbſt? Und ſagt dieſe Erklärung
vielleicht etwas Anderes, als daß die For—
men ſo ſind, weil ſie ſo getrieben ſind?
Von eben ſolchen Trieben, obwohl er ſie
verurtheilt, ſpricht im Grunde genommen
auch der Verfaſſer von „Unſere Körper—
form“. Er glaubt das phyſiologiſche
Problem ihrer Entſtehung der Löſung nahe
gebracht zu haben, indem er dem mütter—
lichen Ei eine ſpecifiſche Vertheilung der
Wachsthums-Erregbarkeit zuerkennt, welche
durch die verſchiedene ſpecifiſche Erregung
durch die Samenfäden in Wirkung ver—
ſetzt wird. Iſt es aber nicht eine wunder—
bar geſchickt vertheilte Wachsthumserregbar—
keit des Eies, und iſt es nicht ein wunder—
lich geſchickt erregender Stoß der Samen—
fäden, wenn das Endreſultat derſelben das
jedesmalige Werden eines ſpecifiſchen In—
dividuums iſt? Wodurch wird im Ei
dieſe Wachsthumserregbarkeit ſo hübſch ver—
theilt, was legt in die Samenfäden die
ebenſo hübſch vertheilte erregende Kraft,
daß aus dem Ei nach Contakt mit den
Samenfäden ein Weſen wird, welches die
mütterlichen und väterlichen Eigenſchaften
oft bis zu den minutiöſeſten Kleinigkeiten
in ſich vereinigt? Wo ſind mit anderen
Worten die Urſachen der inneren Ur—
ſachen?
Wenn His ſich als Ziel die mecha—
niſche Erklärung der Ontogeneſe ſtellt und
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
ö g ) 9 0
181
dieſe auf phyſiologiſchem Wege dadurch zu
erreichen ſucht, daß er „ein allgemeines
Grundgeſetz des Wachsthums“ aufſtellt, ſo
iſt das gewiß anzuerkennen, wenn er aber
als Urſache der verſchiedenen Wachsthums—
formen einen dem Keim anhängenden
Wachsthumstrieb annimmt, dann darf er
gewiß den nisus formativus Blumen-
bach's nicht zu ſehr von oben herab be
trachten. Klarer über das Endziel cauſaler
Naturerklärung denkt jedenfalls Häckel.
„Auch ich,“ ſagt derſelbe in Beantwortung
des His'ſchen Angriffes, *) „verfolge in
allen meinen Arbeiten über Entwickelungs—
geſchichte das Hauptziel, ſämmtliche Erſchei—
nungen der Ontogeneſis mechaniſch zu
erklären, freilich nicht mit Ausſchluß,
ſondern mit Hülfe der Phylogeneſe; aber
ebenfalls auf phyſiologiſchem Wege. Iſt
doch das ganze neunzehnte Kapitel der „ge—
nerellen Morphologie“ bemüht, die beiden
formbildenden Erſcheinungen der Vererbung
und Anpaſſung, mit denen die bisherige
Schul-Phyſiologie ſich jo gut wie gar nicht
beſchäftigt hat, als phyſiologiſche Funktionen
der Organismen nachzuweiſen, auf die
Funktionen der Fortpflanzung und Ernäh—
rung zurückzuführen, und als ſolche mecha—
niſch, d. h. durch chemiſch-phyſikaliſche Ur—
ſachen zu erklären.“ Und weiter: „Ich befinde
mich alſo bei Stellung meiner Hauptaufgabe
zunächſt ganz auf demſelben Boden, wie
His, auf dem Boden des Monismus, und
erkenne als den auf unſer gemeinſames Ziel
hinführenden Weg den mechaniſchen, im
Gegenſatz zum teleologiſchen an. Denn ich
theile die Anſicht Kant's, daß der Me—
chanismus allein eine wirkliche Erklärung
einſchließt, und daß es ohne das Princip
) Ernſt Häckel, Ziele und Wege der
heutigen Entwickelungsgeſchichte. Jenaiſche
Zeitſchrift. X. Band. Supplementheft.
“
182
des Mechanismus keine Naturwiſſenſchaft
geben kann. Auch darin, daß das Wachs—
thum als nächſtes formgeſtaltendes Princip
die geſammte individuelle Entwickelung be—
herrſcht, ſtimme ich ganz mit His über—
ein. Wir beide erkennen ja damit im
Grunde nur den Satz an, welchen Baer
ſchon vor 47 Jahren als das allgemeinſte
Reſultat ſeiner Forſchungen erklärte: „Die
Entwickelungsgeſchichte des Individuums iſt
die Geſchichte der wachſenden Individualität
in jeglicher Beziehung.“ Wie kommt aber
das Wachsthum dazu, in den ungezählten
Tauſenden von organiſchen Formen überall
verſchiedene und ewig wechſelnde Formen
anzunehmen? Hier ſcheidet ſich der Er—
klärungsweg von His fundamental von
dem meinigen; ich wende mich zur Phylo—
genie, um die hiſtoriſche Entſtehung der
verſchiedenen Wachsthumsformen zu erklären,
und ſuche in der Wechſelwirkung der Ver—
erbung und Anpaſſung den völlig genü—
genden Erklärungsgrund. His hält dieſen
„weiten Umweg“ für ganz überflüſſig und
ſucht direkt die Ontogenie aus ſich ſelbſt
zu erklären.“ Es dürfte nicht ſchwer hal—
ten zu zeigen, daß auch Herr Profeſſor
His das Bedürfniß, über die Ontogeneſe
hinaus durch die Phylogeneſe zu einer cau—
ſalen Erklärung des ontogenetiſchen Wachs—
thums zu gelangen, gefühlt hat. Er faßt
ſeine Unterſuchungen in die Behauptung zu—
ſammen, daß die Körperform eine unmittel—
bare Folge des Keimwachsthums und bei
gegebener Anfangsform des Keimes aus
dem Geſetze des Wachsthums abzuleiten
ſei. Sein Beſtreben geht 1) auf empiriſche
Feſtſtellung des Wachsthumsgeſetzes und
2) auf die Ableitung der ſich folgenden Formen
des entſtehenden Körpers aus dieſem Ge—
ſetz. Weiterhin iſt ihm das Keimwachs—
thum eine Folge der Eigenſchaften des eben
„
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
befruchteten Keimprotoplasmas. Dieſe ſind
eine Folge von den Eigenſchaften der elter—
lichen Keimſtoffe und der Art ihres Zu—
ſammentreffens. Wir bekommen ſomit nach
His folgende Reihe zu leiſtender Erklä—
rungen:
1) Erklärung der Körperform aus dem
Wachsthum des Keimes; 2) Erklärung des
Keimwachsthums aus den Eigenſchaften
des befruchteten Keimprotoplasmas und aus
den Bedingungen feiner Entwickelung (Tem—
peratur, Ernährungsbedingungen u. ſ. w.);
3) Erklärung der Eigenſchaften des befruch—
teten Keimprotoplasmas aus den Eigen—
ſchaften der elterlichen Keimſtoffe und den
beſonderen Bedingungen ihres Zuſammen—
treffens. 4) Erklärung der Eigenſchaften
der Keimſtoffe aus dem Gange der
elterlichen Körperentwickelung.
5) Erklärung der beſonderen Bedingungen der
Befruchtung aus den Lebens verhält—
niſſen der beiden Erzeuger u. ſ. f. Sue
dem er aber die Eigenſchaften des Keim—
protoplasmas auf die Eigenſchaften der
elterlichen Keimſtoffe, dieſe wieder auf den
Gang der elterlichen Körperbildung und
letztere, ganz oder zum Theil, auf die Le—
bensverhältniſſe der Erzeuger zurückführt,
muß er aufſteigend zu Stammformen kom—
men, welche immer mehr Eigenſchaften ſich
erwerben. Wenn His an anderer
Stelle an dem Ausſpruche feſthalten will,
daß „die im individuellen Leben erworbenen
Eigenſchaften ſich nicht vererben,“) fo
ſcheint es uns, daß er dadurch nicht nur
den Thatſachen, ſondern auch der eigenen
Begründung ſeines „Wachsthumsgeſetzes“
widerſpricht. Stellenweiſe ſpricht His ſo,
daß man ſich mit ihm einverſtanden erklären
könnte, jo z! B. am Schluß von „Unſere
) His, Unſere Körperform ꝛc. S. 158.
TERN,
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
0 FA
Körperform“, wo er jagt: „Beſäßen wir
die ideale Klarheit jenes von Laplace
gedachten Geiſtes, dem der Weltproceß in
einer mathematiſchen Formel vorliegt, dann
würden uns auch die Wachsthumsformeln
organiſcher Weſen nach ihrem letzten Aus
drucke bekannt fein, und wir vermöchten
ſie nach ihrer Form und innerhalb jeder
Form nach dem Werth ihrer conſtanten
Glieder zu ordnen. Den höchſten über—
haupt denkbaren Anforderungen an die
Syſtematik wäre damit Genüge geleiſtet.
Würden wir alsdann die Formeln nach
ihrer phylogenetiſchen Succeſſion zuſammen—
ſtellen, dann würden auch dieſe Reihen
fortlaufende Aenderungen der Coefficienten
neben ſteigender Complication der Formeln
nachweiſen, und aus den dabei zu Tage
tretenden Geſetzen müßte wohl ohne Wei
teres erkennbar ſein, ob die im Laufe der
Generationen erfolgten Umbildungen ihren
Grund im Weſen der Entwickelung ſelbſt
gehabt haben, oder ob ſie ſchließlich aus
Anpaſſungen an äußere Verhältniſſe hervor—
gegangen ſind.“ „Die phſiologiſche Ab—
leitung der thieriſchen Körperformen und
die Aufſuchung ihrer phylogenetiſchen Ge—
ſchichte ſind zwei Aufgaben, deren Wege
für die nächſte Zeit getrennt neben einan—
der herlaufen.“
So mag denn Herr His verſuchen, auf
dem Boden der Ontogeneſe zu der Klar
heit dieſes idealen Geiſtes vorzudringen,
einſtweilen ſteht er, wenn er die Vererbungs—
erſcheinungen und ihr Weſen durch dieſe
allein urſachlich erklären will, rathlos da;
möge er dann aber auch die phylogenetiſche
Forſchungsweiſe ſchon allein deshalb mit
etwas mehr Achtung behandeln, weil ſeine
phyſiologiſchen Beſtrebungen im Grunde
genommen doch nur ein kleiner Theil der
von Häckel mit Geiſt und Scharfſinn
ſchen Auffaſſung der
183
gezeichneten morphologiſchen Disciplinen ſind.
„Was His erſtrebt,“ ſagt Hädel*), „das
iſt eine Phyſiologie des Wachsthums, alſo
ein Theil der Phyſiontogenie oder der
„Keimesgeſchichte der Funktionen.“ (Anthro—
pogenie S. 18.) Da dieſer Zweig der
Entwickelungsgeſchichte faſt noch gar nicht
bearbeitet iſt, kann His darauf Anſpruch
machen, dieſen Specialzweig der Phyſio—
logie der Keimung zuerſt ernſtlich in
Angriff genommen zu haben; auch werden
ſicherlich mit der Zeit dabei manche werth—
volle Reſultate erzielt werden. Nur ſoll
His nicht glauben, damit die Morphologie
der Keimung erklärt zu haben.“ His
mag auf dem von ihm eingeſchlagenen Wege
dahin gelangen, die in der Keimesentwicke—
lung ſtattfindenden Wachsthumsverhältniſſe,
günſtigen Falls ſogar ihre Abhängigkeit
von den censogenetiſchen Beeinfluſſungen
durch den umhüllenden mütterlichen Orga-
nismus feſtzuſtellen, damit hat er aber das
Weſen der Vererbung nicht enthüllt, auch
nicht gezeigt, warum die organiſchen Keime
gerade den ihnen eigenthümlichen und keinen
anderen Entwickelungsgang nehmen. Wohl
mag es an der Zeit ſein, auch die ſpeci—
fiſche Eigenthümlichkeit des Keimprotoplas—
mas mehr wie es bis jetzt geſchehen in
Betracht zu ziehen; man darf aber dann
deſſen Anpaſſungsfähigkeit an äußere Be—
dingungen nicht unberückſichtigt laſſen; mit
dieſer einen Conceſſion würde aber His
auf den Boden der Darwin-Häckel'-
organiſchen Natur
hinübertreten und zu der ahnenden Vor—
ſtellung gelangen, daß auch ein guter Theil
der von ihm als primitiv angenommenen
Keimeseigenſchaften durch Anpaſſung wäh—
rend der Stammesentwickelung erworben
) Ziele und Wege a. a. O.
184
und durch Vererbung auf die jedesmaligen
Nachkommen übertragen ſein dürfte.
Kölliker's Theorie der heterogenen Zeu—
gung, oder, wie er ſie ſpäter genannt hat, der
Entwickelung aus inneren Urſachen,“)
kann eine moniſtiſche ſein, doch iſt ſie zu—
gleich ein ſolche, daß ſie auch wohl dua—
liſtiſch verwerthbar iſt. Sie geht davon
aus, „daß der Entwickelung der ge—
ſammten Welt der Organismen, wie der
Natur überhaupt, Geſetze zu Grunde lie—
gen, welche dieſelbe in ganz beſtimmter
Weiſe zu immer höherer Entwickelung trei—
ben. Wie ſchon in das befruchtete Ei des
höheren Organismus die Triebfeder der
ganzen weiteren Entwickelung gelegt iſt und
Stufe um Stufe geſetzmäßig ſich entfaltet,
wie ferner eine Mutterlauge von beſtimm—
ter chemiſcher Zuſammenſetzung mit Noth—
wendigkeit eine beſtimmte Kryſtallform an—
ſchießen läßt, ſo enthalten auch die Urkeime
aller Organismen und die organiſche Materie
bei ihrer erſten Entſtehung die Möglichkeit
für alle ſpäteren Bildungen in ſich, und
bringen dieſelbe geſetzmäßig und in ganz
beſtimmter Weiſe zur Verwirklichung.“
„Nenne man“ jagt Kölliker, „dieſes
ſchaffende Princip, dieſe ſchöpferiſche Thätig—
keit, wie man wolle, ſo iſt doch ſicher, daß
dieſelbe an beiden Orten mit Nothwendig—
keit, d. h. in regelrechter Folge von Urſache.
und Wirkung thätig iſt und ergiebt ſich
ſomit nicht die geringſte Nöthigung, bei der
Entwickelung der Organismen irgend wel—
chen äußeren Einwirkungen, heiße man ſie
Zufall oder ſonſt wie, eine weſentliche Rolle
zuzuſchreiben“. Wir hätten die etwas weg—
werfende Hinweiſung auf dieſes Wörtchen
) Kölliker, Morphologie und Ent—
wickelungsgeſchichte des Pennatulidenſtammes.
Frankfurt a. M. 1872. Verlag von Chriſtian
Winter. S. 26.
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.“
„Zufall“ gern vermißt, da dem Natur-
forſcher, welcher nach cauſalem Verſtänd—
niſſe der Formen ringt, Alles und auch
wieder Nichts Zufall iſt, da alles dem
Zuge der Nothwendigkeit folgt. Köl—
liker will dabei ſtehen bleiben, daß
dem Keim von Anfang an ein innerer
Eutwickelungstrieb zugetheilt ſei, der ihn
befähigt, die ihm zugewieſene Reihe zu
bilden. Dabei kann er nicht umhin, die
Thatſache der Varietätenbildung anzuerkennen,
er will ſie aber nur auf innere Urſachen
zurückführen. Wenn aber auch nur ein ein—
ziger Fall vorläge, welcher klar beweiſt, daß
ein Organismus nach Aenderung von Luft,
Licht, Wärme ec. ſich ändert, und dieſe
Aenderung, mag ſie noch ſo minimal ſein,
auf die Nachkommen überträgt, dann iſt
für das Cauſalitätsbedürfniß des denkenden
Menſchen ein neues weites Feld der For—
ſchung eröffnet; dann muß er ſich fragen:
Iſt es nicht möglich, daß im Wechſelverkehr
mit den äußeren Einflüſſen, wie ſie der
Zufall — wir bitten, das Wort richtig im
cauſalen Sinne zu faſſen — mit ſich bringt,
das, wenn man will, tauſendſach verſchie—
dene Protoplasma die zur Bildung höherer
Formen führenden Eigenſchaften erwarb?
Soll das Urprokoplasma im Wechſelverkehr
mit den verſchiedenſten Baſen, Säuren, Sal—
zen ꝛc., ausgeſetzt den variirenden Feuchtig—
keits-, Wärme-, Druck- und Beleuchtungs-
verhältniſſen ſich ohne Aenderung ſtets gleich
geblieben ſein, während doch im ganzen
Bereiche der ſideriſchen und auch unorga—
niſchen telluriſchen Welt das Gebildete jedes—
mal das Produkt aller combinirten Kräfte
iſt? Wenn man denn nach dem juridiſchen
Beweiſe für die Annahme der ſtetigen Um—
bildung der ſpecifiſchen Keimſtoffe fragt, wo
iſt dann der juridiſche Beweis für ihre
Conſtanz? Was entſpricht mehr den Regeln
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
1
der Wahrſcheinlichkeit, daß alles im ſteten
Wechſel unter neuen Verhältniſſen zu neuen
Formen ſich geſtaltet, oder daß bloß für
den ſpecifiſchen Keim dieſes Geſetz der Kräfte—
und Stoffwandlung aufgehoben iſt? Mögen
dann diejenigen, welche es lieben, immer
neue und neue Beweiſe vom Darwinismus
zu fordern, ſelbſt einmal mit dem Schatten
eines ſolchen für ihre Anſchauungen heraus—
rücken! Kölliker ſelbſt iſt zu intelligent
und geiſtvoll, als daß er zu der ſtarren
Conſtanz der Species ſich flüchten möchte.
Wenn aber die Species nicht conſtant iſt,
dann ändert ſie ſich, und wenn ſie ſich
ändert, dann ändert ſie ſich nicht allein von
innen heraus, ſondern in Folge der Wechſel—
wirkung der ſchon beſeſſenen Protoplasma—
eigenſchaften mit den äußeren Einflüſſen.
Der Weg, den die Entwickelung nimmt,
iſt die Reſultante beider. Wenn aber
ein äußerer Einfluß zur Geltung gelangen
und vererbt werden kann, dann müſſen wir
wieder fragen, auf welchem Wege das Er—
worbene feſtgehalten und bei der Fortpflan—
zung vererbt wird? Wie kommt es, daß
beiſpielsweiſe eine durch gewerbliche Beſchäf—
tigung erlangte Krümmung der Arme, der
Wirbelſäule oder der Beine erblich über—
tragen wird? Wo iſt der Vermittler, welcher
den äußern Einfluß ſo auf das Protoplasma
überträgt, daß eine ſpecielle Bildung nur
an einer beſtimmten Stelle des kommenden
Embryo's und nur an dieſer auftritt? Die
Annahme der heterogenen Zeugung, der
Entwickelung aus inneren Urſachen, iſt alſo
nicht erſchöpfend, weil ſie die äußeren Ein—
wirkungen unberückſichtigt läßt; ſie kann
ferner die Frage, was denn das Weſen der
Vererbung ſei und wodurch dieſe vermittelt
wird, nicht umgehen. Damit iſt aber die
Kugel des Descendenzprincips, die an dem
Steine der heterogenen Zeugung in ihrem
185
Laufe gehemmt ſchien, wieder ins Rollen
gebracht und die logiſche Vorausſetzung
einer Variation der inneren Protaplasma—
Eigenſchaften der weiteren Erklärung bedürftig
geworden. Die einzig befriedigende Ant—
wort hierauf iſt aber nur auf dem Boden
Darwin-Häckel'ſcher Auffaſſung der organi—
ſchen Natur zu erwarten. Nach ihr haben
die durch Autogonie entſtandenen organiſchen
Keime den Kampf ums Daſein zu beſtehen;
was ſich den Exiſtenzbedingungen anpaſſen kann,
bleibt erhalten und vererbt die erworbenen
Eigenſchaften auf die Nachkommen, was ſich
dieſer Anpaſſung nicht fügen kann, muß
untergehen. Dieſe Darwin-Häckel'ſche Natur-
auffaſſung, einfach und groß wie die Natur
ſelbſt, trägt in ihrer Einfachheit, Durch—
ſchaulichkeit und logiſchen Folgerichtigkeit die
Gewähr des Sieges über jede, noch fo
ſcharfſinnig zuſammengeſetzte, andere Hypo—
theſe. Es würde einer ſolchen ergehen,
wie dem Verſuche Tycho de Brahe's,
welcher auf höheren Wunſch an Stelle des
Kopernikaniſchen Syſtems ein anderes ſcharf—
ſinnig erdachtes, aber complicirteres Syſtem
ſetzen wollte, um die geocentriſche Würde
der Erde zu retten. Tycho de Brahe's
Syſtem ſchlummert ruhig den Schlaf der
Vergeſſenheit, während die kopernikaniſche
Lehre heute von Frommen und Unfrommen
anerkannt wird.
Einen geiſtvollen Verſuch, das Weſen
der Vererbung zu enthüllen, verdanken wir
dem Verfaſſer der generellen Morphologie.
Häckel hebt in ſeiner Perigeneſis der
Plaftidule*) hervor, daß er von viel zu
) Ernſt Häckel, Die Perigeneſis der
Plaſtidule oder die Wellenzeugung der Le—
benstheilchen. Ein Verſuch zur mechaniſchen
Erklärung der elementaren Entwickelungsvor—
gänge. Berlin 1876. Verlag von Georg
Reimer.
186 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
hoher Verehrung für Charles Darwin,
von viel zu aufrichtiger Bewunderung für
ſeine leitenden Ideen erfüllt ſei, als daß
er einer ſo umfaſſenden und großartig an—
gelegten Hypotheſe, wie die Perigeneſis ſei,
hätte entgegentreten und ihre Widerlegung
verſuchen wollen, ohne irgend etwas Anderes
an ihre Stelle ſetzen zu können. Wenn er
jetzt dieſen Verſuch wage, ſo geſchehe es, weil
einige, vor zehn Jahren in der „generellen
Morphologie“ niedergelegte Keime ſich in—
zwiſchen zu einer eigenen Hypotheſe entwickelt
hätten, die ihm mehr innere Wahrſcheinlich—
keit als die Perigeneſis zu beſitzen ſcheine und
von der er hofft, daß ſie ſich zum Range
einer genetiſchen Molekular-Theorie werde
ausbilden laſſen. Er bezeichnet dieſe Hypo—
theſe, die auch er als eine proviſoriſche be—
trachten möchte, als die „Perigeneſis der
Plaſtidule“, die „Wellenzeugung der Lebens—
theilchen“. Er erinnert zunächſt an die
heutige, durch Virchow's cellular-patho-
logiſche Unterſuchungen begründete biologiſche
Auffaſſung, daß der hochentwickelte Orga—
nismus ein Zellenſtaat ſei, der ſich im Laufe
vieler Millionen Jahre ohne vorbedachten
„Zweck“ ganz ebenſo nothwendig durch das
Zuſammenwirken und die hiſtoriſche Aus—
bildung der conſtituirenden Zellen entwickelt
habe, wie ſich der menſchliche Culturſtaat
im Laufe weniger Jahrtauſende Schritt für
Schritt durch die Wechſelwirkung und die
fortſchreitende Arbeitstheilung der Staats—
bürger herausgebildet hat. Die Arbeiten
von Cohn, Schultze, Mohl, Hux—
ley, Strasburger, Hertwig, Auer—
bach, Bütſchli, Jäger, Häckel und
Anderen, erweiterten jedoch den Begriff der
Zellentheorie zu dem der Plaſtidentheorie.
Darnach iſt die Zelle nicht, wie man bisher
annahm, der einfachſte älteſte und niederſte
Elementar-Organismus; es geht vielmehr
der echten, kernhaltigen „Zelle“ die niedere
kernloſe „Cytode“ voraus. Cytode und Zelle
nannte Häckel bereits in ſeiner generellen
Morphologie Bildnerinnen oder Plaſtiden,
da ſie in Wahrheit die plaſtiſchen Künſt⸗
lerinnen ſind, durch deren Thätigkeit das
ganze wundervolle Gebäude des organiſchen
Lebens errichtet wird. Den in der Cytode
vorhandenen eiweißartigen Bildungsſtoff, aus
dem Protoplasma und Coccoplasma (Nuclein)
ſich ſondert, nannte er „Plaſſon“. Es muß
die nächſte Aufgabe der Phyſiogenie ſein,
eine möglichſt erſchöpfende Kenntniß von der
Natur dieſes wichtigſten „Lebensſtoffes“,
dieſer wahren „phyſikaliſchen Lebens-Grund—
lage“, wie Huxley ihn nennt, zu erlangen.
Die Plaſſon-Moleküle nannte Häckel nach
dem Vorgange Elsberg's „Plaſtidule“ und
die Moleküle des Protoplasma und Cocco—
plasma der Kürze halber Plasmodule und
Coccodule. Häckel nimmt nun an, daß
die Plaſtidule nicht nur die allgemeinen phy-
ſikaliſchen Eigenſchaften beſitzen, welche die
Phyſik und Chemie den Molekülen der
Materie im Allgemeinen zuſchreibt, ſondern
auch noch andere Attribute, die ihnen aus—
ſchließlich eigenthümlich ſein ſollen. Jedes
phyſikaliſche Atom beſitze eine inhärente
Summe von Kraft und ſei in dieſem Sinne
„beſeelt“. Häckel ſpricht daher von einer
„Atomſeele“. „Luſt und Unluſt, Begierde
und Abneigung, Anziehung und Abſtoßung
müſſen allen Maſſen-Atomen gemeinſam
ſein; denn die Bewegungen der Atome, die
bei Bildung und Auflöſung einer jeden
chemiſchen Verbindung ſtattfinden müſſen,
ſind nur erklärbar, wenn wir ihnen Em—
pfindung und Willen beilegen“. „Wenn
der Wille des Menſchen und der höheren
Thiere frei erſcheint im Gegenſatz zu dem
„feſten“ Willen der Atome, ſo iſt das
eine Täuſchung, hervorgerufen durch die
* + * y *
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
höchſt verwickelte Willensbewegung der erſte—
ren im Gegenſatze zu der höchſt einfachen
Willensbewegung der letzteren. Die Atome
wollen überall und jederzeit daſſelbe, weil
ihre Neigung dem Atom jedes anderen
Elementes gegenüber eine conſtante und un—
abänderlich beſtimmte iſt; jede ihrer Be—
wegungen iſt daher determinirt. Hingegen
erſcheint die Neigung und willkürliche Be—
wegung der höheren Organismen frei und
unabhängig, weil in dem unaufhörlichen
Stoffwechſel derſelben die Atome beſtändig
- ihre gegenſeitige Lage und Verbindungsweiſe
verändern und daher das Geſammtreſultat
aus den zahlloſen Willensbewegungen der
conſtituirenden Atome ein zuſammengeſetztes
und unaufhörlich wechſelndes iſt.“ „Wie die
Maſſe des Atoms“, ſagt Häckel, „unzer—
ſtörbar und unveränderlich, ſo iſt auch die
damit untrennbar verbundene Atom-Seele
ewig und unſterblich. Vergänglich und ſterb—
lich ſind nur die zahlloſen und ewig wech—
ſelnden Verbindungen der Atome, die un—
endlich mannigfaltigen Modalitäten, in denen
ſich die Atome zur Bildung von Molekülen,
die Moleküle zur Bildung von Kryſtallen
und Plaſtiden, die Plaſtiden zur Bildung
von Organismen vereinigen. Dieſe mo—
niſtiſche Auffaſſung der Atome allein iſt im
Einklang mit den großen Geſetzen der „Er—
haltung der Kraft“ und der „Erhaltung
des Stoffes“, welche die Naturphilo-
ſophie der Gegenwart mit Recht als ihre
unveräußerlichen Fundamente betrachtet.“
Empfindung und Willen werden demnach
nicht mehr als ausſchließliche Vorzüge der
thieriſchen Organismen betrachtet. Die Plaſti—
dule ſollen ſich jedoch von den anorganiſchen
Molekülen durch die „Fähigkeit der Repro—
duktion oder des Gedächtniſſes, welche bei
jedem Entwickelungs-Vorgang und nament—
lich bei der Fortpflanzung der Organismen
des bewußten
wirkſam iſt“, unterſcheiden. „Das Ver—
mögen der Vorſtellung und Begriffbildung,
des Denkens und Bewußtſeins, der Uebung
und Gewöhnung, der Ernährung und Fort—
pflanzung beruht, wie Häckel mit Ewald
Hering!) ſagt, „auf der Funktion des
unbewußten Gedächtniſſes, deſſen Thätig-
keit viel bedeutungsvoller iſt, als diejenige
Gedächtniſſes“. Häckel
möchte jedoch in ſoweit die Darſtellung
Hering's ergänzen, als er nur der wirk—
lich lebenden, nicht aller organiſirten Materie
dieſes Gedächtniß zuſprechen will. Häckel
führt nun aus, daß nach ſeinem „biogene—
tiſchen Grundgeſetz“ „der Mikrokosmos des
ontogenetiſchen Zellen-Stammbaumes das ver-
kleinerte und verzogene Abbild von dem
Makrokosmos des phylogenetiſchen Arten—
Stammbaumes“ **) fer, und daß, da der Ent-
wickelungsprozeß Beider das Bild einer
verzweigten Wellenbewegung lie—
fere, auch die molekulare Plaſtidul-Bewegung
das Bild einer ſolchen darſtellen müſſe.
Nur bei dieſer Vorſtellung ſei die Möglich—
keit gegeben, den verwickelten Gang des bio—
genetiſchen Proceſſes auf mechaniſche Bewe—
gung der Maſſen-Atome zurückzuführen.
Das Verzweigtſein der Bewegung, welches
ſie von anderen ähnlichen periodiſchen Pro—
ceſſen unterſcheide, beruhe auf der „Repro—
duktionskraft“ der Plaſtidule, und dieſe ſei
wieder durch deren atomiſtiſche Zuſammen⸗
ſetzung bedingt. „Dieſe Reproduktionskraft,
die allein die Fortpflanzung der Plaſtiden
ermögliche, ſei aber gleichbedeutend mit dem
„Gedächtniß“ der Plaſtidule“. Ich geſtehe,
daß ich mich an der Einführung der Ter—
) Ewald Hering, Ueber das Gedächt—
niß als eine allgemeine Funktion der organi—
ſchen Materie. Wien 1870. In Comm. bei
Gerold's Sohn.
) Perigeneſis S. 64.
188
mini: „Empfindung, Willen und Gedächt—
niß“ in die Atomiſtik geſtoßen habe, aber
nach mehrmaligem Durcharbeiten der Peri-
geneſis zu der Anſicht gekommen bin, daß
den Häckel'ſchen Anſchauungen ein ge—
ſunder Kern zu Grunde liegt. Nur muß
ſich ein Moniſt fragen: Welcher materiellen
Eigenſchaft entſpricht dieſes pſychiſche Empfin—
den und Wollen, woher kommt ſo urplötzlich
das Gedächtniß der Plaſtidule her, und in
welcher entwickelungsgeſchichtlichen Beziehung!
ſteht daſſelbe zu den chemiſch-phyſikaliſchen
Eigenſchaften der Atome? Beſteht Autogonie,
dann muß ſich doch wohl das „Gedächtniß“
der Plaſtidule aus den Eigenſchaften der
Moleküle und Atome aufbauen. Wie kommt
es ferner, daß das Gedächtniß jedesmal am
richtigen Orte, zur richtigen Zeit und in
der richtigen Weiſe eingreift, um zur Wieder—
holung der biogenetiſchen Erſcheinungen den
Anſtoß zu geben und was iſt es, wodurch
ſchließlich das Gedächtniß angeregt wird?
Das Gedächtniß wird alſo wieder als die
Folge chemiſch-phyſikaliſcher Urſachen auf—
gefaßt werden müſſen, und da dieſes bei
Häckel der Fall iſt, giebt uns der Ter—
minus dieſes „unbewußten Plaſtidul-Ge—
dächtniſſes“ ein Hülfsmittel, vermöge deſſen
wir dem Verſtändniß des biogenetiſchen Pro⸗
ceſſes wieder etwas näher rücken, namentlich
aber zum Aufbau einer Entwickelungs—
geſchichte des Pſychiſchen die Funda—
mente legen lönnen.
Vielleicht kann man jedoch auch ohne
Zuhülfenahme dieſes Terminus weiter
kommen. Jäger's durchdachte Arbeiten
über die chemiſche Natur der Eiweißſtoffe
und Protoplasmaſubſtanzen dürften in dieſer
Hinſicht als willkommene Ergänzung zu
Häckel's Perigeneſis zu betrachten ſein.
Wo der Eine von Bewegungen ſpricht, be-
handelt der Andere die chemiſch-phyſikaliſchen
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
Eigenſchaften des Plasmas, die aber doch
in letzter Inſtanz nur durch Bewegungen
übertragen und geändert werden können.
Die hohen Atomzahlen, welche die Elemen—
tar⸗Analyſe der Eiweißſtoffe liefert, und
die zahlreichen Iſomerien, welche ſelbſt
Stoffe von weit geringerem Atomgehalt
| bieten, laſſen erwarten, daß die das Proto—
plasma zuſammenſetzenden Eiweißſubſtanzen
die mannigfaltigſten rationellen Formeln
zeigen würden, wenn wir ſolche bereits ent—
werfen könnten. Jäger nimmt nun an,
daß, wie die weißen Blutkörperchen in ihrer
Umbildungsfähigkeit das plaſtiſche Repara—
turmaterial für das ſteter Abnützung unter—
liegende Zellenbauwerk liefern, ſo auch als
Urſache für die Gewebsdifferenzirung die
Differenz der Exiſtenzbedingungen zu be—
trachten ſei, welche ſich bei Bildung eines
Zellconglomerats nothwendig unter den
einzelnen Zellen je nach ihrer Lage inner—
halb der Zellgeſellſchaft einſtellen müſſen;
jede einmal eingetretene, wenn auch noch
fo geringgradige Differenz jet ferner rich—
| tunggebend für das Endziel der Differen-
zirung. In ähnlicher Weiſe werde die
Ausbildung des Thierkörpers beherrſcht
durch die beſtimmte, chemiſch-phyſikaliſche
Beſchaffenheit des Keimprotoplasmas, wel—
ches bei den verſchiedenen Typen, Claſſen,
Familien, Gattungen, Arten u. ſ. w. ein
verſchiedenes ſei.“)
) Bezüglich des Näheren muß auf Jä—
ger, Zoologiſche Briefe (Wien, 1876. Verlag
von Wilhelm Braumüller) verwieſen werden.
Auch Jäger's Lehrbuch der Zoologie (Ernſt,
Günther's Verlag in Leipzig), deſſen II. Ab-
theilung, die Phyſiologie umfaſſend, ſich
augenblicklich unter der Preſſe befindet, jedoch
in Aushängebogen dem Verfaſſer, leider etwas
ſpät nach Abſchluß der Arbeit, freundſchaft—
lichſt übermittelt wurde, enthält viel werth-
volles und ſchätzbares Material.
Die phylogonetiſche Fortentwickelung be-
ſtehe nun darin, daß das durch alle Gene—
rationen hindurch continuirliche, nur bei
jeder neuen Generation in einen Hüll—
organismus eingekapſelte Keimprotoplasma
zu feinen bereits vorhandenen morphologiſch—
wirkſamen, aus beſtimmten chemiſch-phyſika—
liſchen Qualitäten beſtehenden Dispoſitionen
in einer beſtimmten zeitlichen Reihenfolge
ſtets ueue hinzu erwirbt. Bei der ontogeni—
tiſchen Entwickelung kommen alle morpho—
logiſchen Protoplasmadispoſitionen zur Ent-
faltung, die während der Phylogeneſe er—
worben wurden, und ihre Entfaltung iſt
an die gleichen zeitlichen, räumlichen und
phyſikaliſchen Bedingungen geknüpft, wie
bei der Phylogeneſe. Die Folge dieſer
Uebereinſtimmung iſt eine gewiſſe räumliche
und zeitliche Wiederholung der Phylo—
geneſe durch die Ontogeneſe. Bezüglich
des urſachlichen Wechſelverhältniſſes beider
möchte auch Jäger ſich dahin entſcheiden,
daß neue Charactere zuerſt von dem je—
weiligen Träger des Keimprotoplasmas
während ſeiner individuellen Entwickelung
durch eine Aendernug der Entwickelungs—
bedingungen erworben werden müſſen,
und daß ſie dann erſt erblich werden, wenn
ſie derart ſind, daß ſie in den Reifungs—
proceß des Keimprotoplasmas eingreifen
können. Es erregt ein beſonderes Intereſſe,
daß in beiden Reihen der Waſſergehalt mit
fortſchreitender Entwickelung abnimmt. Für
die Deutung der Entwickelung und Ver—
erbung des umfaſſenderen Gruppencharakters
leiſtet die Jäger'ſche Theorie alles, was
man verlangen kann. Sowohl das räum—
liche wie das zeitliche Verhalten der Proto—
plasmadispoſitionen iſt in ſeiner urſachlichen
Beziehung zur Entwickelung der Stamm—
formenreihe durchſchaulich. Es fragt ſich nur,
ob es auch zur Deutung der Vererbung
Oyoerzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
189
der Art- und Individual⸗Charactere aus⸗
reicht. Auch in dieſer Hinſicht hat Jäger
bereits vorgearbeitet. Er geht davon aus,)
daß für Thiere ebenſogut wie für Pflanzen
nicht nur jede morphologiſche Art ihren
ſpecifiſchen Ausdünſtungsgeruch hat, ſondern
auch jede Raſſe, jede Varietät und zuletzt
ſogar jedes Individuum. Ebenſo giebt
es ſpecifiſche Gerüche der Gattungen, Fa—
milien, Ordnungen und Claſſen, mit ande—
ren Worten, die Aehnlichkeit und Ver—
ſchiedenheit der Geruchs- und Geſchmacks—
ſtoffe ſteht in genauer Beziehung zu dem
Grade der morphologiſchen Verwandtſchaft.
Der Ausdünſtungsgeruch und -Geihmad
entſtammt nun zum Theil der jeweiligen
Nahrung, der andere, weit überwiegende
Theil haftet der lebendigen Subſtanz des
Thieres an, iſt ſein Protoplasmageruch
und Geſchmack. Während der erſtere für
die Anpaſſung von Bedeutung wird, ſpielt
der letztere bei der Vererbung eine Rolle.
Die ſpecifiſchen ſaporigenen und odorigenen
Subſtanzen kommen nämlich bereits im
ſpecifiſchen Keimprotoplasma vor und
nehmen nur bei der Entwickelung an Inten-
ſität und Specifikation in gleichem Maße
zu, wie die morphologiſche Detaillirung
des Körpers. Der Parallelismus zwiſchen
den Geruchs- und Geſchmacksſtoffen einer—
ſeits und den ontogenetiſchen und ſyſtema—
tiſchen morphologiſchen Differenzen anderer-
ſeits begründet, wie Jäger bemerkt, einen
jo dringenden Verdacht eines Cauſal—
zuſammenhangs, daß, wer die Lehre von der
Vererbung vom Fleck bringen will, an
dieſer Thatſache nicht länger vorbeigehen
) Prof. Dr. Guſtav Jäger, Ueber
die Bedeutung der Geſchmacks- und Geruchs—
ſtoffe, Kölliker's Zeitſchrift für wiſſenſchaft—
liche Zoologie, Bd. 27. S. 319 ff. ſowie
Kosmos, Heft 1.
190 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
darf. „Als Regulatoren für die Nahrungs—
auswahl erhalten ſie während der Ontogeneſe
die ſpecifiſche Protoplasmazuſammenſetzung
aufrecht, ſo daß eine Generation der anderen
gleicht; als Regulatoren des Fortpflanzungs⸗
inſtinktes ſorgen ſie dafür, daß das Keim—
protoplasma ſtets die gleiche Miſchung aus
Eiprotoplasma und Samenprotoplasma iſt;
ſie ſind alſo nicht blos die Träger der
Vererbung überhaupt, ſondern auch der Con—
ſtanz der Vererbung.“ Die hohe Bedeutung,
welche den Geſchmacks- und Geruchs-, ſowie
auch den Farbſtoffen, für die continuirlichen
Verrichtungen des Protoplasma zukommt,
veranlaßt Jäger zur Auſſtellung ſeiner
„chemiſchen Transmutationstheorie“, der—
gemäß eine phylogenetiſche Abänderung nur
zu erzielen iſt, wenn es gelingt, eine ſapo—
rigene, odorigone (oder chromogene) Meta—
morphoſe des Keimprotoplasmas zu bewerk—
ſtelligen. Die eingehendere Beſprechung
der bei der Aſſimilation und Bildung der
protoplasmatiſchen Subſtanzen auftretenden
Spaltungsprodukte der Eiweißſubſtanzen ſo—
wie eine Auseinanderſetzung über die
nähere Funktion der ſpeciſiſchen Geſchmacks—
und Geruchsſtoffe bei dem Geſchäfte der Er—
nährung und Fortpflanzung wurden bereits
von Herrn Prof. Dr. Guſtav Jäger
im erſten Hefte des „Kosmos“ geliefert.
Es iſt nicht zu verkennen, daß dieſe
chemiſche Betrachtungsweiſe uns Ausſicht
bietet, experimentell der Vererbungsfrage
immer näher auf den Leib zu rücken und
dieſelbe ſchließlich ſoweit zu löſen, als über-
haupt die Frage nach den Eigenſchaften
der Materie experimentell enthüllbar iſt.
Auch werden die Anpaſſungen und Vererbun—
gen bis in die complicirteſten Verhältniſſe
hinauf immer nur aus einem Aſſimilations—
reſp. Ernährungsproceſſe hergeleitet werden
müſſen, der aber durch die Variation der
Wärme⸗, Licht- und wohl auch elektriſchen
Beeinfluſſung bei den Individual-Charakteren
für die Analyſe und Syntheſe ſchwieri—
ger zu verfolgen iſt. Die „Entwidelungs-
bewegungen des reifen Keimes“ ſagt in
dieſer Hinſicht Biſchoff, “) „ſind nicht allein
abhängig von den mit dem Reifezuſtand des
Eies gegebenen Umſetzungsbewegungen; ſie
und ihre Fortſetzung ſind auch nicht allein
abhängig von dem Einfluſſe des Spermatozo⸗
iden, ſondern wir wiſſen, daß dieſelben weſent⸗
lich auch noch von anderen Bedingungen
beeinflußt werden. So von einem gewiſſen
Wärmegrad, der offenbar auch nur als
Bewegungsmoment wirkt; von einem ge—
wiſſen Grade von Feuchtigkeit, ohne wel—
chen die betreffenden Molekularbewegungen
nicht vor ſich gehen können, von der Ein—
wirkung des atmoſphäriſchen Sauerſtoffes,
welcher unumgänglich nothwendig erſcheint
für die nothwendigen Umlagerungen des
Keims. Selbſt das Licht hat, wie neuere
Beobachtungen von Schnetzler bei Froſch—
eiern beweiſen, einen entſchiedenen Einfluß
auf die Entwickelung derſelben.“ Indem
wir aber in letzter Inſtanz die chemiſchen
Wirkungen als Bewegungsreſultate deuten
müſſen, treten wir aus der chemiſchen Be—
trachtungsweiſe hinüber in die allgemein-
phyſikaliſche, ſpeciell in die mechaniſche,
und gewinnen ein Verſtändniß dafür, wenn
ich Häckel's Perigeneſis mit Jäger's che—
miſcher Theorie auf denſelben Grundgedanken
zurückzuführen ſuchte. Die Frage, warum
eine beſtimmte chemiſche Subſtanz immer
unter gleichen Verhältniſſen in derſelben Weiſe
wirkt, iſt in letzter Inſtanz eine mechaniſche,
) Prof. Dr. Th. L. W. Biſchoff,
Hiſtoriſch-kritiſche Bemerkungen zu den
neueſten Mittheilungen über die erſte Ent⸗
wickelung der Säugethiereier. München 1877.
Th. Riedel.
15
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 191
inſofern wir nach dem Geſetze von der Er—
haltung und Umwandlung der Kraft
Wärme, Licht, Elektricität, chemiſche Affi—
nität u. ſ. w. als verſchiedene Arten von
Bewegung aufzufaſſen haben. Wenn
Jäger, der chemiſchen Anſchauungsweiſe fol—
gend, aus der Continuität des Keimproto—
plasmas und den parallelen Reihen der in
der Phylogeneſe und Ontogeneſe auftretenden,
jedoch auf ihre innere Struktur noch näher
zu unterſuchenden Dispoſitionen des Keim—
protoplasmas die Anpaſſungs- und Ver⸗
erbungserſcheinungen cauſal zu deuten ſucht,
ſo hat Häckel, auf die Urquelle aller
materiellen Verſchiedenheit zurückgehend, die
Continuität der Bewegung und die paral—
lelen Reihen der in der Phylogeneſe und
Ontogeneſe auftretenden Bewegungsände—
rungen als bewirkende Urſache für An—
paſſung und Vererbung hingeſtellt. Nur
hätte er vielleicht auch das Gedächtniß auf
ſeinen mechaniſchen Werth zurückführen
können. Wenn eine Tonwelle den Reſonanz—
boden in entſprechende Schwingungen ver—
ſetzt und umgekehrt die anfänglich erregende
Stimmgabel wieder durch die von der
Reſonanz erzeugten Schwingungen zur Er—
regung des gleichen Tones bei gleichen
Schwingungen veranlaßt wird, ſo ertheilt
die theoretiſche Phyſik den Stimmgabelmole—
külen kein Gedächtniß; ebenſowenig braucht
die ſtete, gleiche Lagerung des Staubes der
Ch ladni'ſchen Klangfiguren als Folge
eines Gedächtniſſes der Scheiben-Moleküle
betrachtet zu werden. Es iſt ferner be—
kannt, daß aus einer, verſchiedene Salze
enthaltenden Löſung ein beſtimmtes Salz
ausgeſchieden wird, wenn man einen Kry—⸗
ſtall deſſelben Salzes in die Löſung bringt;
der Kryſtall wächſt, indem vorzugsweiſe
die gleichartigen Salztheilchen an ihn ſich
Geſetzt in der Löſung wären
anſetzen.
auch iſomorphe Subſtanzen vorhanden ge—
weſen, ſo würde etwa an den reinen Kalk—
ſpath auch iſomorphes Magneſia- oder
Eiſencarbonat ſich anſetzen und der Kryſtall
würde durch Anpaſſung in der Außenſchicht
zum Braunſpath werden, ſo daß jetzt die
braunſpathbildenden Salztheile von der
äußeren Kryſtallſchicht angezogen würden.
Hier hätten wir alſo ſelbſt aus dem Reiche
des Anorganiſchen das Beiſpiel einer Weiter—
entwickelung, die dort nur deshalb ſeltener
vor Augen tritt, weil der direkte Uebergang
aus dem flüſſigen in den feſten Zuſtand
die fortſchreitende Umbildung erſchwert und
nur Anlagerung der neuen Moleküle ge—
ſtattet, während die höheren Kohlenſtoff—
verbindungen, welche die Organismen auf—
bauen, in Folge ihres teigartigen Zuſtandes
nicht nur Intusſusception und Aſſimilation
im Inneren, ſondern auch eine allmälig
fortſchreitende Entwickelung geſtatten. Zur
Erklärung der Auswahl der gleichartigen
Salztheile durch den Kryſtall braucht
aber dem Kryſtall kein Gedächtniß zuge—
ſchrieben zu werden. Man kann die me—
chaniſche Erklärung zulaſſen, daß die
Schwingungen der Kryſtallmoleküle eine
Wellenbewegung erzeugen, welche die gleich—
artig ſchwingenden Salzmoleküle zur An—
ſetzung bringt. Was hier in den erſten
Anfängen auf chemiſch-phyſikaliſche Urſachen
zurückführbar iſt, wird in den complicir—
teren Fällen organiſcher Entwickelung noch
als Folge von Anpafjung und Vererbung
gedeutet, indem, bei unſeren ungenügenden
Kenntniſſen von dem chemiſch-phyſikaliſchen
Verhalten der Eiweißſtoffe, die Endurſache
weniger durchſchaulich iſt.
In ähnlicher Weiſe dürfte auch die
Wiederholung der Plaſtidulbewegungen als
die rein mechaniſche Urſache der Vererbung,
und die Abänderung der Plaſtidulbewegung
192
in Folge ablenkender Außenbewegungen als
die Urſache der Anpaſſung aufzufaſſen ſein.
Ebenſo läßt ſich das Bild der verzweigten
Wellenbewegung beibehalten, wenn auch das
Plaſtidul ſelbſt keine verzweigte Wellen—
bewegung hat, da es ſich dann ſpalten
müßte. Für den fortſchreitenden Entwicke—
lungsproceß der Arten, Keime und auch
der Plaſtidule iſt aber dieſe Bezeichnung
mehr als eine bildliche. Die Unterſuchungen
Jäger's haben das Vortheilhafte, daß ſie
uns ein Mittel bieten, durch Ergründung
des Stoffumſatzes der Frage auch experi—
mentell näher zu rücken. Nur ſollte mir
Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.
ſcheinen, daß zum Verſtändniß der erblichen
Uebertragung individuell erworbener Eigen-
thümlichkeiten, namentlich hoch organiſirter
Weſen mit wohlentwickeltem Nervenſyſtem
auch die pſychiſchen Affekte, freilich aufgelöſt
in ihre mechaniſchen Theilerſcheinungen,
nicht außer Acht zu laſſen ſeien. Je mehr
wir von den Pflanzen zu den ſenſiblen
Thieren aufſteigen, um ſo mehr muß
neben dem Stoffwechſel, als dem Vermittler
der Vererbung, auch dem Nervenſyſtem eine
direkte oder indirekte Betheiligung zuerkannt
werden. Darüber jedoch bei einer ſpäteren
Gelegenheit.
Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypothele.
Von
Carl du Prel.
Si les phenomenes ne sont pas enchaines les uns
eder Sinneseindruck bedarf, um
e uns bewußt zu werden, einer
BEN entſprechenden Zeit, die je nach
der Enmpfindungsfähigkeit des
Individuums verſchieden iſt. Nehmen wir
mit den Phyſiologen als das mittlere Maß
dieſer Zeit / Sekunde an, fo geht ſchon
daraus hervor, daß, wenn wir Gedrucktes
ſehr raſch durchleſen, nicht jedem einzelnen
Buchſtaben jedes einzelnen Wortes die Zeit
gelaſſen wird, den Sinneseindruck zu voll—
ziehen. Wäre dem nicht ſo, ſo würde das
Auffinden von Druckfehlern viel leichter
ſein, als es in der That ſogar dann iſt,
wenn wir etwa mit dieſer alleinigen Ab—
ſicht Druckbogen durchleſen.
Da nun der Sinn des Geleſenen gleich—
wohl aufgefaßt wird, ſo geht daraus her—
vor, daß raſches Leſen mehr oder minder
ein Errathen iſt, indem wir die mangel—
haften Eindrücke ſelbſtändig ergänzen, aus
wenigen Buchſtaben auf das Wort ſchließen.
Das Leſen iſt daher mehr oder minder
eine ſynthetiſche Funktion des menſchlichen
aux autres il n'y a pas de philosophie.
Diderot.
Geiſtes, und wenn wir abſehen vom In—
halte des Buches, von der intellektuellen
Auffaſſungsgabe des Leſers und der Menge
der in ſeinem Gehirn latent ruhenden Be—
griffe, zu welchen die Ergänzung ſtattfindet,
ſo wird unter ſonſt gleichen Umſtänden die
Leichtigkeit, womit wir trotz unvollſtändiger
Sinneseindrücke das Wort zu finden ver—
mögen, alſo die Fähigkeit ſchnell zu leſen,
immerhin noch abhängig ſein vom Grade
dieſer ſynthetiſchen Anlage. Unterſtützt wer—
den wir dabei allerdings durch den ſinn—
vollen Zuſammenhang, innerhalb deſſen
viel unvollſtändigere Eindrücke genügen, ein
Wort zu errathen, als wenn daſſelbe iſo—
lirt ſtünde.
Auch das Leſen im Buche der Natur
iſt eine ſolche ſynthetiſche Funktion unſeres
Geiſtes; denn nicht nur ſteht dieſes Buch,
in ſo ferne als uns die cauſale Verbindung
ſo vieler Erſcheinungen fehlt, gleichſam in
ſeine Worte und Buchſtaben zerfallen vor
uns, deren Aneinanderreihung von uns zu
geſchehen hat, ſondern ein großer Theil der
Beſtandtheile dieſes Buches iſt uns ſogar
er
ganz unbekannt. Es iſt Sache des Natur-
forſchers im engeren Sinne, die Einzel—
erſcheinungen mit möglichſter Genauigkeit
analytiſch zu prüfen; er tritt aber bereits
in die Reihe der Philoſophen über, wenn
er weiter geht, und verſucht, in dem netz—
artigen Geflechte der Erſcheinungen die
durch das unſichtbare Band des Cauſalitäts—
geſetzes verbundenen zuſammenzuſtellen, wo—
bei es vom Grade feiner ſynthetiſchen Fähig-
keit abhängt, die nähere oder entferntere,
direkte oder Seitenverwandtſchaft zu durch—
ſchauen, in welcher ſolche Erſcheinungen zu
einander ſtehen. Oft aber iſt dieſes nicht
anders möglich, als indem er, die Lücken
unſeres Wiſſens ergänzend, wie wir es
beim Leſen thun, auf die Exiſtenz nicht
ſichtbarer Erſcheinungen als Mittelglieder
nur ſchließt, mit Hülfe welcher erſt es ihm
gelingt, aus den empiriſchen, lückenhaft ge-
gebenen Erſcheinungen Worte, Sätze und.
Kapitel zuſammenzuſetzen.
Mehr oder minder ſind bereits alle
Zweige der Naturforſchung in dieſes Sta—
dium getreten, wobei die weitere Entwick—
lung von der ſynthetiſchen Anlage des
menſchlichen Geiſtes abhängt, der erſt dann
ſeine vielleicht unerreichbare Aufgabe erfüllt
haben wird, wenn er die Fülle der Vor—
ſtellungen zu einem begrifflichen Abbilde der
Welt verknüpft haben wird, wobei wir freilich
nicht vergeſſen dürfen, daß auch dann nur
erſt ein Kapitel aus dem Buche der Natur
feſtgeſtellt fein wird, welches zu einem
begrifflichen Abbilde auch der Geſchichte des
Kosmos in Richtung der Vergangenheit
wie Zukunft ergänzt werden muß.
Wenn die Wahrheit in dieſem Sinne
zu definiren iſt als die Uebereinſtimmung
der Vorſtellungen mit den Dingen, ſo er—
ſcheint das Auffinden der Wahrheit als
ein Denkproceß, in welchem die ſubjektiven
du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe.
Vorſtellungsglieder in einer mit der Ver—
knüpfung der objektiv gegebenen Erſcheinungen
übereinſtimmenden Weiſe verbunden werden.
Die ſubjektive Aſſociation muß ſich mit der
objektiven decken.
Dieſer Syntheſis verdanken alle jene
großen Hypotheſen ihren Urſprung, welche
epochemachend in der Geſchichte des menſch—
lichen Geiſtes aufgetreten ſind.
Je größer die Fülle des erforſchten
empiriſchen Materials iſt, deſto leichter voll—
zieht ſich die Syntheſis. Gleichwohl iſt es
als eine häufige Erſcheinung zu verzeichnen,
daß die großen Entdeckungen nicht in die
Epochen reichhaltiger Anſammlung des
Materials fallen, und nicht immer treffen
die Worte Georg Zimmermann's („Von
der Erfahrung in der Arzneikunſt“) zu:
„Je mehr die Augen geſehen haben, deſto
mehr ſieht auch der Geiſt.“ Vielmehr er—
eignet es ſich ſehr oft, daß in ſolchen Epochen
der Wald vor lauter Bäumen nicht geſehen
wird, daß dagegen in anderen das Genie
anticipirend auftritt, indem es eine relativ
noch geringe Summe empiriſcher Daten mit
großer Oekonomie des Geiſtes zu ſolchen
Hypotheſen verwerthet, die oft erſt ſpäter,
wenn die Summe der beſtätigenden Er—
ſcheinungen beträchtlich angewachſen iſt, die
allgemeine Anerkennung finden.
So können alſo derartige Verſuche des
menſchlichen Geiſtes, die Einzelerſcheinungen,
zwiſchen welchen die ideale Verknüpfung
noch nicht hergeſtellt iſt, ſynthetiſch zu ver-
binden, und aus dem Aggregate der Er—
ſcheinungen gleichſam den Organismus des
Kosmos begrifflich zu conſtruiren, ver-
glichen werden mit dem Unternehmen, aus
abgeriſſenen Worten einer ſtark beſchädigten
Urkunde den Text zu ergänzen.
In dieſem Sinne aber giebt es wohl
wenige Verſuche, die uns ſo große Be—
wunderung abnöthigen, als das Unternehmen
Kant's, aus dem zu ſeiner A. höchſt
mangelhaft gegebenen empiriſchen Materiale
die Geſchichte der kleinen kosmiſchen Inſel
zu conſtruiren, die wir das Sonnenſyſtem
nennen. 5
Was wußte Kant von unſerem Sonnen—
ſyſteme?
Wenn wir von den Cometen, die er
nicht verwerthete, abſehen, ſo kannte er ſechs
Hauptplaneten nebſt neun Monden, die gleiche
Richtung, in der ſich dieſe Weltkörper um
die Sonne bewegen, die Ringe des Saturn,
die annähernde Kreisform der Planeten-
bahnen und das annähernde Zuſammen—
fallen ihrer Bahnebenen.
Was dagegen kennen wir? Nicht nur
hat ſich die Zahl der Planeten (mit Ein—
ſchluß der Aſteroiden) ſeither um 164 ver⸗
mehrt, auch die Anzahl der Monde iſt auf
18 geſtiegen, und alle dieſe Himmelskörper
beſtätigen die Nebularhypotheſe. Wir kennen
ferner den intereſſanten Verſuch Plateau's,
der die Entſtehung des Sonnenſyſtems im
Kleinen nachbildete, indem er in einer
Miſchung von Waſſer und Weingeiſt eine
Kugel aus Olivenöl in Rotation verſetzte,
alſo vom Standpunkte der Univerſalität
der irdiſchen Geſetze die Berechtigung der
Kant' chen Hypotheſe erwies; wir kennen
ferner die kosmiſchen Nebel — die von
Kant erſchloſſene Urmaterie, — deren dunſt—
förmige Beſchaffenheit durch die Spektral-
analyſe bewieſen wird, ja das Teleſkop läßt
uns ſogar dunſtförmige Ringe erkennen,
welche, analog den Ringen des Saturn,
dieſe Nebelmaſſen umſchweben; endlich ſind
zahlreiche veränderliche und neu auflodernde
Sterne entdeckt worden — Worte, die in
dem von Kant durchforſchten Texte faſt
ganz fehlten, die uns aber den Dienſt ſehr
wichtiger Mittelglieder leiſten, wenn wir
du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe.
daran gehen, die Geſchichte des Kosmos
zu ſchreiben, — und ſo iſt es denn kein
Wunder, daß wir in der Nebularhypotheſe
eine der Gewißheit ſehr nahe kommende
Wahrſcheinlichkeit anerkennen. Daß aber
im Gehirne des Königsberger Philoſophen
eine Vorſtellungsreihe verlief, deren Ueberein—
ſtimmung mit der Reihe längſt vergangener
Ereigniſſe er nur an wenigen Punkten zu
conſtatiren vermochte, in welche aber alle
ſeither geſchehenen Entdeckungen, wie Glieder
einer Kette, ſich zwanglos einſchieben ließen,
das verdient unſere höchſte Bewunderung.
Kant war freilich weit von dem Glauben
entfernt, hiermit der Forſchung ein Ruhe—
kiſſen bereitet zu haben; aber faſt ſcheint
es, als vergäßen wir über der Vermehrung
der die Nebularhypotheſe beſtätigenden Ma—
terialien ganz, die durch keine Entdeckung
ausfüllbaren Lücken derſelben und die Mängel,
die derſelben unbeſtreitbar noch anhaften, zu
beachten. Iſt ja doch ſchon in dem Kant
ſelbſt vorgelegenen Materiale, wie wir ſehen
werden, ſolches zu finden, welches zu einer
Umbildung derſelben uns treiben ſollte.
Wir tragen Bauſteine zuſammen, ohne zu
bedenken, daß nach Maßgabe des zugeführten
Materials auch der Bau ſelbſt in die Höhe
ſtreben ſollte. Wir verwechſeln alſo die
Mittel mit dem Zwecke; da aber im Kos—
mos die Erſcheinungen ſyſtematiſch ver—
bunden ſind, kann es unſere Aufgabe nicht
ſein, dieſelben vereinzelt in unſerem Ver—
ſtande aufzuſammeln, es muß vielmehr auch
in unſerem Vorſtellungsbilde der Welt
Alles ſyſtematiſch verknüpft ſein.
Kant und, weniger gründlich als er,
Laplace haben wohl in allgemeinen Um—
riſſen den Proceß angegeben, wodurch unſer
Sonnenſyſtem entſtanden iſt, und durch
welchen die gemeinſamen Eigenſchaften der
Planeten und Monde ihre Erklärung finden;
26
*
196
aber die Verſchiedenheit derſelben in Bezug
auf Maſſe, beſtimmte Entfernung von der
Sonne — die nach dem bekannten Titius'-
ſchen Geſetze annähernd in geometriſcher
Progreſſion vorhanden iſt —, Geſtalt der
Bahnen und Geſchwindigkeit der Bewegung,
findet ihre Erklärung nicht. Und doch ſind
es eben dieſe Verſchiedenheiten, hauptſächlich
die räumliche Vertheilung der Maſſe, wor—
auf die Stabilität des Syſtems beruht.
Das teleologiſche Reſultat des Entſtehungs—
proceſſes aus natürlichen Geſetzen zu er—
klären, iſt demnach eine noch zu löſende
Aufgabe. Wir müſſen alſo entweder der
urſprünglichen Materie außer der Eigen—
ſchaft der Schwere auch noch eine ſolche
beilegen, welche das teleologiſche Reſultat
erklärt, oder aber annehmen, daß aus der
Eigenſchaft der Schwere eine wichtige, von
Kant überſehene Folgerung ſich ergab. Nur
die letztere Annahme aber wäre wiſſenſchaft—
lich und frei von Willkür.
Aus dem Gravpitationsgeſetze
heraus iſt alſo die Nebularhypotheſe um—
zubilden, und zwar ſind folgende Aufgaben
zu löſen:
1. Die zweckmäßige Maſſenvertheilung
der Planeten und Monde muß erklärt
werden. Es genügt nicht zu ſagen, daß
die Sonne ſich ruckweiſe zuſammenzog und
äquatoriale Ringe abtrennte; denn darum
handelt es ſich hauptſächlich, daß gerade
in den gegebenen Abſtänden Planeten von
gerade der entſprechenden Geſchwindigkeit
und Maſſe umlaufen, und daß an keinem
dieſer Faktoren ohne Umwälzungen etwas
geändert werden könnte.
2. Die Cometen und Meteoriten müſſen
in die Nebularhypotheſe eingefügt werden,
und zwar muß die überwiegende Mehrzahl
derſelben gegenüber den Planeten als eine
nothwendige Folge des Gravitationsgeſetzes
du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe.
ſich erweiſen. Wenn Laplace ſagt: „Dans
notre hypothese les comètes sont etran-
geres au systeme planétaire“ (expos.
d. syst. d. monde p. 475. Paris 1846),
ſo ſcheint dies bei jeglichem Mangel eines
Beweiſes dafür, daß dieſelben auch in Wirk—
lichkeit fremder Abkunft ſind, als ein bloßer
Verlegenheitsausſpruch, und es iſt unzu—
läſſig, uns von den Cometen durch die
willkürliche Annahme zu befreien, daß ſie
insgeſammt, rechtläufige wie rückläufige,
erſt im ſpäteren Verlaufe des Proceſſes aus
den Regionen der Fixſterne zu uns herab—
geſtiegen ſeien, — ganz abgeſehen davon,
daß hierdurch das Räthſel nur zurückge—
ſchoben wird. f
3. Es iſt zu erklären, warum wir trotz
der ungeheueren Ausdehnung des urſprüng—
lichen Sonnenballs nicht mehr Planeten
vorfinden, warum ferner die Planeten ge—
rade mit der gegebenen Anzahl von Satel—
Erſcheinungscomplexe, die
liten umgeben ſind. Die Berechtigung zu
letzterer Frage insbeſondere ergiebt ſich mit
Evidenz aus der Thatſache, daß die Anzahl
der Monde zwar im Allgemeinen, aber
nicht im Einzelnen, mit den Rotations-
geſchwindigkeiten der zugehörigen Planeten
übereinſtimmt. Die Aſtronomie iſt nur
ein Specialgebiet der Mechanik; ſehen wir
daher, daß z. B. Mars faſt ebenſo ſchnell
rotirt, als die Erde, und doch mondlos
iſt, ſo dürfen wir unmittelbar folgern, daß
der nach mechaniſchen Principien theoretiſch
ſich ergebende Marsmond auch in Wirklich—
keit vorhanden geweſen ſein muß.
Es handelt ſich nun darum, dieſe drei
nothwendiger
Weiſe in näherer oder entfernterer Ver—
wandtſchaft ſtehen müſſen, ſynthetiſch zu
verbinden, wie es immer zu geſchehen hat
bei Erſcheinungen, die, für ſich allein be—
trachtet, uns nichts ſagen.
5
2
%
EN
NG
—
5
Eine ſolche Erſcheinung ift das Fehlen
des Marsmondes. Sie ſagt uns nichts,
wird aber ſehr beredſam, wenn wir ſie in
Verbindung ſetzen mit den beiden anderen
Punkten der zu löſenden Aufgabe. Zu
nächſt, wenn wir bedenken, daß im Bil—
dungsgange des Sonnenſyſtems auch Eli
minationsproceſſe ſtattfanden, erſcheint es
zuläſſig, ſolche auch bezüglich ehemaliger
Planeten vorauszuſetzen. Halten wir nun
dieſe Eliminationsproceſſe wiederum an die
sub 1. berührten Erſcheinungen, ſo erhellen
ſie ſich gegenſeitig, und wir werden un—
willkürlich zu der Folgerung getrieben: Die
zweckmäßige Maſſenvertheilung des Sonnen-
ſyſtems iſt das Reſultat von Eliminations-
proceſſen, durch welche diejenigen Planeten
und Monde beſeitigt wurden, welche den
Mechanismus des Sonnenſyſtems ſtörten.
Dieſe Erklärung trägt nicht nur der er—
wähnten Anforderung Rechnung, auch die
teleologiſchen Eigenſchaften des Sonnen—
ſyſtems aus der Schwere abzuleiten, ſon—
dern ſie erweiſt ſich als die allein richtige
auch durch ihre Uebereinſtimmung mit den
Geſetzen der Logik, welche uns gebieten,
zweckmäßige Erſcheinungen, in welchem Ge—
biete der Natur wir ſie auch wahrnehmen
mögen, niemals als fertig in die Natur
tretend, ſondern als Reſultate eines Ent—
wicklungsproceſſes anzuſehen. Will aber
die Wiſſenſchaft, welche doch die zweckmäßi—
gen Principien zu verſchmähen gehalten iſt,
gleichwohl die Möglichkeit zweckmäßiger
Reſultate darthun, ſo kann ſie dieſes nur
durch die Annahme einer indirekt geſchehen—
den Ausleſe, und dieſe wiederum iſt be—
dingt durch die Exiſtenzunfähigkeit aller
unzweckmäßigen Gebilde in einem ſyſtema—
tiſch verbundenen Ganzen.
Die Entwicklung des Kosmos erſcheint
unter dieſem Geſichtspunkte, wie a priori
du Prel, Ueber die nothwendige Umdildung der Nebularhypotheſe. 197
erwartet werden darf, ganz analog der Ent—
wicklung aller übrigen Naturreiche. Wie
z. B. in der Biologie die Anpaſſung an
die Lebensbedingungen nur indirekt durch
den Ausjätungsproceß erzielt wird, der in
der Elimination der exiſtenzunfähigen Orga—
nismen beſteht, ſo beſorgt in der Mechanik
des Himmels das Gravitatiousgeſetz durch
indirekte Ausleſe die Zweckmäßigkeit der
Syſteme, indem jene Himmelskörper, welche
in Anſehung des Ganzen mit einem Wider—
ſpruch belaſtet ſind, ausgeſchieden werden.
Die Perturbationen, d. h. jene Störungen,
welche in Folge der gegenſeitigen An—
ziehung der Planeten entſtanden, haben in—
direkt, durch Elimination des größten
Theiles der ehemaligen Begleiter der Sonne,
die Ausleſe jener geringen Zahl unſerer
Planeten beſorgt, die nur vermöge der Ir—
rationalität ihrer Umlaufszeiten trotz ihres
gegenſeitigen Gravitirens beſtandesfähig ſind.
Die Natur verfährt gleichſam wie der
Holzſchneider, der die Zeichnung nur indi⸗
rekt, durch Vertiefung der Zwiſchenfelder,
zu Relief bringt.
So nur läßt ſich aus dem ungehemm—
ten Walten natürlicher Geſetze jenes teleo—
logiſche Reſultat begreifen, das natürlich
eine hyperboliſche Erklärungsweiſe zu for-
dern ſchien, jo lange man ſtatt der ſucceſ—
ſive eintretenden indirekten Ausleſe die ein⸗
mal geſchehene direkte Ausleſe vorausſetzte.“)
) Wenn daher einer der neueren Recen—
ſenten meiner nachſtehend erwähnten Schrift
meint (Philoſ. Monatshefte. 1873. Nr. 3); „Gibt
es einen Forſchritt, d. h. werden in der Welt
Zwecke, ſei es durch Evolution, ſei es auf
irgend eine andere Art erfüllt, ſo reicht das
Geſetz des Mechanismus zum Verſtändniß
einer ſolchen Welt nicht mehr aus; oder die
blinde Nothwendigkeit regiert allein, dann
darf von Zweckmäßigkeit in der Welt auch
nicht länger die Rede ſein“ — ſo vermag ich
2
Kosmiſche Probleme dürfen nur jo ge—
löſt werden, daß man aus Vorgängen, die
ſich in der Erfahrung bieten, auf die Ver—
gangenheit zurückſchließt. Die Perturba-
tionen ſind aber bekannte Erſcheinungen im
Planetenſyſteme, haben indeſſen nur zur
Folge, daß die Planeten in geringem Maße
von der regelmäßigen Bahn abgelenkt wer—
den. Daß ſie aber auch jene in obiger
Schlußfolgerung ihnen zugemuthete höhere
Wirkſamkeit, nämlich die Elimination von
Weltkörpern aus dem Syſteme, ausüben
können, das lehren die Cometen, deren Bah—
nen nicht ſelten in Folge von Störungen
ganz und gar umgeſtaltet werden.
darin eine kritiſche Bemerkung nicht zu er—
kennen. Zwecke, etwa eines extramundanen
Weſens, die der Herr Recenſent wohl retten
möchte, werden allerdings im Weltproeeſſe
nicht realiſirt; aber in jedem Kräfteſyſtem
erzeugt die Ausgleichung entgegengeſetzter
Kräfte mehr und mehr ſtabile Zuſtände, und
die Stabilität unſeres Sonnenſyſtems darf
doch als eine mechaniſche Zweckmäßigkeit be—
zeichnet werden, wenn nicht etwa ein bloßer
Wortſtreit eintreten ſoll. Will aber der Herr
Recenſent zweckmäßige Reſultate als natür—
liches Ergebniß nicht für möglich halten, ſo
war es doch unlogiſch, mir das entgegenzu—
werfen, d. h. ſich gerade auf jenes Vorurtheil
zu ſtützen, welches zu widerlegen eben der
ganze Zweck meines Buches war, — er hätte
denn die Unzulänglichkeit meiner Beweiſe dar—
gethan, was er wohlweislich gar nicht ver—
ſucht hat. Wenn er zudem die befremdliche
Behauptung aufitellt, daß ich an Stelle der
Darwin'ſchen „natürlichen Auswahl“ die in—
direkte Auswahl ſetze, ſo hat er wohl nicht
erkannt, daß Darwin's „natürliche Aus-
wahl“ eben eine indirekte Auswahl iſt. —
Wenn dagegen ein anderer Recenſent („Die
Natur“ 1877. Nr. 6) meint: „Die Descendenz
im anorganiſchen und phyſikaliſchen Reiche
hat nichts mit jener Darwiniſtiſchen im Reiche
der Organismen zu thun“ — ſo beweiſt er
damit nur, daß er den philoſophiſchen Kern
du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe.
dewton hat bewieſen, daß bei dem
quadratiſchen Anziehungsgeſetze die Planeten—
bahnen nur Kegelſchnitte mit dem Anziehungs—
centrum als Brennpunkt ſein können, und
zwar, je nach dem Verhältniſſe der Schwer—
kraft zu ihrer Centrifugalkraft, Kreiſe,
Ellipſen von verſchiedener Länge, Parabeln
oder Hyperbeln. Eine eigentliche Elimina—
tion von Weltkörpern konnte alſo nur ein-
treten, wenn dieſes Verhältniß der Schwer—
kraft zur Centrifugalkraft ſo bedeutend ge—
ändert wurde, daß entweder bei eintretender
Vermehrung der Schwerkraft die Spiral-
bewegung gegen das Anziehungscentrum
eintrat, oder — falls nämlich die Störung
die Centrifugalkraft bedeutend vermehrte —
wenn die urſprüngliche Kreisbahn in eine
nicht geſchloſſene Bahn, Parabel oder Hyperbel,
verwandelt wurde. Dagegen verblieben alle
diejenigen Planeten im Syſteme, deren Bah—
nen nur in langgeſtreckte Ellipſen verwan—
delt wurden.
Solche Planeten finden ſich aber in
der Darwin'ſchen Theorie herauszuſchälen
nicht vermochte, und daß er über die zu
einem Analogieſchluſſe nöthige Phantaſie nicht
verfügte. Erſteres iſt aber nöthig, weil nur
ſo die Analogie zwiſchen den biologiſchen und
kosmologiſchen Problemen als eine reale
Analogie ſich darſtellt. Nur ſo aber habe ich
es auch gemeint, und habe nicht etwa die
Fixſterne für Säugethiere gehalten. Wären
die angeführten Worte des Herrn Recenſen—
ten richtig, ſo war das Lob, das er im
Uebrigen meinem Buche ertheilt, ganz und
gar nicht am Platze; denn alsdann hätte ich
nichts Neues geſagt, und hätte nur das zwei—
felhafte Verdienſt, aus 99 vorhandenen Bü—
chern das hundertſte zuſammen geſchrieben zu
haben. — Beide Beiſpiele beweiſen eben wie—
der, daß der Styl, um für alle Köpfe ver—
ſtändlich zu ſchreiben, leider noch nicht erfun—
den iſt; ich konnte darum auch keinen Ge—
brauch davon machen.
un
Wirklichkeit nicht vor. Nur Cometen und
Meteoritenſtröme bewegen ſich in ſolchen ge—
ſtreckten Ellipſen, — eben jene Weltkörper,
welche in die Nebularhypotheſe einzufügen,
wie erwähnt, als eine weitere Aufgabe uns
obliegt. Es iſt aber nicht nur zur Gewiß—
heit erhoben, daß die Meteoriten Bruchſtücke
ſind, die ehemals zu großen Weltkörpern
verbunden waren, ſondern Schiaparelli
hat auch den Zuſammenhang zwiſchen Co—
meten und Meteoriten nachgewieſen, während
es nach den Unterſuchungen Zöllner's ſehr
wahrſcheinlich wird, daß die Cometen ledig—
lich Meteoriten von verdampfungsfähiger
Materie ſind.
Es erübrigt alſo nur mehr der Nach—
weis, daß planetariſche Körper, welche durch
die anfänglichen Perturbationen in lang—
geſtreckte Bahnen verwieſen wurden, in Folge
deſſen dem Stadium des Zerfalls ſchneller
zueilen mußten als jene, welche nur in ge—
ringem Grade von der Kreisbahn abgedrängt
wurden, — eine Unterſuchung, bei der uns
die vergleichende Aſtronomie des Planeten
ſyſtems von großem Nutzen ſein wird, in
ſo ferne als ſchon bei unſeren Planeten und
Monden, deren Zuſtände verſchiedene Phaſen
des gleichen Entwicklungsganges repräſen—
tiren, jene von den Meteoritenſtrömen dar—
geſtellte Endphaſe mehr oder minder deutlich
bereits angedeutet ſein muß. Ich glaube
jedoch ein näheres Eingehen auf dieſes
Thema hier um ſo mehr unterlaſſen zu
dürfen, als ich es anderwärts ausführlich
erörtert habe.“) —
Nach der Nebularhypotheſe muß die
unſer Syſtem bildende Materie einſt bis
über die Grenzen der Neptunsbahn aus—
) Vgl. „Der Kampf ums Daſein am
Himmel. Verſuch einer Philoſophie der Aſtro—
nomie.“ 2. umgeſtaltete und vermehrte Auf—
lage. Berlin, Denicke. S. 227 — 310.
du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe.
199
gedehnt geweſen ſein, und man hat berechnet,
daß die bis zu ſolcher Ausdehnung ver—
flüchtigte Materie dieſes Syſtems nur eine
Dichtigkeit vom zehnmillionſten Theile des
leichteſten der bekannten Gaſe, Waſſerſtoff—
gas, beſitzen konnte. Die Ungeheuerlichkeit
einer ſolchen Verdünnung, für welche eine
verurſachende Wärmeentwicklung kaum vor—
ſtellbar iſt, dürfte allein ſchon genügen, uns
zu der Annahme zu treiben, daß ehemals
in dem von der Neptunsbahn umſchriebenen
Raume viel mehr Materie zu finden war,
als derzeit, zu Weltkörpern verdichtet, darin
ſchwebt, daß alſo der urſprüngliche Nebel
weit weit weniger verdünnt geweſen ſei als
in obiger Annahme liegt. So aber müſſen
uns die Meteoritenſtröme und Cometen ſo—
gar ſehr willkommen erſcheinen, um unter
der Annahme, daß auch ſie in dieſem Raume
aufgelöſt waren und erſt in Folge ſpäterer
Perturbationen die Grenze überſchritten, dem
urſprünglichen Nebel einige Aehnlichkeit mit
jenen kosmiſchen Nebeln zu ertheilen, welche
das Spektroſkop entdecken ließ. Bedenken
wir zudem, daß diejenigen urſprünglichen
Begleiter der Sonne, welche, in paraboliſche
und hyperboliſche Bahnen gelenkt, das Syſtem
ganz verließen, ebenfalls noch herangezogen
werden dürfen, den von der Neptunsbahn
umſchriebenen Raum auszufüllen, fo gelan-
gen wir wenigſtens zu einem vorſtellbaren
Grade der Verflüchtigung der urſprünglichen
Materie des Sonnenſyſtems.
Die Anzahl der gänzlich aus unſerem
Syſteme eliminirten Himmelskörper kann
freilich nur annähernd und indirekt beſtimmt
werden, wenn wir nämlich annehmen, daß
die Fixſterne gleich reichlich mit Begleitern
verſehen ſind, daß auch in dieſen Syſtemen
Eliminationsproceſſe vorkommen, und daß
unſere Sonne von den benachbarten Fix—
ſternen mit mindeſtens ebenſo vielen Aus—
2
200 du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypetheſe.
gewieſenen bedacht wird — die ſich als—
dann hyperboliſch wieder empfehlen —, als
ſie ihrerſeits ausgewieſen hat.
Als ſolche Fremdlinge dürfen wir alle
rückläufigen Cometen und Meteoriten
betrachten; zum Theile haben dieſelben in
Folge planetariſcher Einflüſſe geſchloſſene
Bahnen erworben und ſich dauernd in
unſerem Syſteme niedergelaſſen.
Wenn nun aber die langgeſtreckten Bah—
nen der rechtläufigen Cometen und
Meteoriten uns nicht hindern dürfen, in
ihnen Fragmente ehemaliger Planeten unſeres
Syſtems anzuerkennen, ſo bleibt als Gegen—
ſatz zu den Bahnebenen der Planeten, die
mit der Aequatorebene der Sonne faſt zu—
ſammenfallen, nur noch der Umſtand zu er—
klären, daß der Winkel ihrer Bahnebenen
mit der Erdbahn zum Theile ſehr beträcht—
lich iſt. Aber auch dieſe Schwierigkeit hebt
ſich, wenn wir dieſe Neigung gegen die
Erdbahn als eine durch Perturbationen erſt
erworbene betrachten. So hatte z. B. der
Comet von Brorſen 1846, den uns nach
d' Arreſt 1842 die Anziehung des Jupiter
zuführte, eine Neigung von 41 Grad gegen
die Erdbahn, und wurde dieſelbe durch dieſe
einzige Störung auf 31 Grad vermindert.
Es kann alſo unter entſprechenden Um—
ſtänden auch eine eben ſo bedeutende Ver—
mehrung eintreten. —
So zeigt es ſich denn, daß wir zu
einer moniſtiſchen Vorſtellung von der Ge—
ſchichte unſeres Sonnenſyſtems nur dadurch
gelangen, daß wir die indirekte Ausleſe des
Zweckmäßigen durch Elimination des Un—
zweckmäßigen im Entwickelungsproceſſe an-
nehmen, welche in allen Naturgebieten Gel—
tung hat. Dadurch wird, aus einem Punkte
heraus, nicht nur die zweckmäßige Maſſen—
vertheilung im Planetenſyſteme erklärt, ſon—
dern auch der Dualismus beſeitigt, in dem
man bisher die Cometen neben den Planeten
unvermittelt herlaufen ließ.
Wir müſſen alſo Kant und
Laplace durch Darwin ergänzen.
837
n
Die Organanfünge.
Von
Prof Dr. Guftao Jäger.
15
Die Anfänge des Gehörorgans.
Fährend das Auge eine ein—
fache ſchöne Entwickelungsſkala
von einem einfachen Pigment-
fleck bis zu einem wunder—
J bar complicirten Organapparat
aufweiſt, zeigt das Gehörorgan weder einen
ſo einheitlichen Anfang, noch einen ſo ein—
heitlichen Entwickelungsgang in der auf—
ſteigenden Reihe der Thiere, noch überhaupt
eine ſolche vergleichsweiſe beharrliche und
frühzeitige Lokaliſation wie das Auge. Wir
werden in der Folge ſehen wie und warum.
Bei der Betrachtung des Gehörſinns
muß zuerſt an den Umſtand erinnert wer—
den, daß Hören und Taſten ſehr nahe mit
einander verwandt ſind. Wir fühlen die
Schwingungen einer Saite oder einer Stimm—
gabel ebenſo gut, wie wir ſie hören, und
der Schwerhörige benützt ſeinen Taſtſinn
als Beihülfe beim Hören. Dieſe Verwandt—
ſchaft iſt auch begreiflich; beim Hören wie
beim Taſten iſt der Reiz, um deſſen Wahr—
nehmung es ſich handelt, eine Druckſchwan—
kung, die durch eine Maſſenbewegung erzeugt
wird. Wenn wir von der Tonunterſchei—
dung abſehen und nur die Schallempfindung
im Auge haben, ſo iſt der ganze Unter—
ſchied der, daß Taſtempfindung in der Regel
durch die unregelmäßigen Bewegungen eines
feſten Fremdkörpers erzeugt wird, während
es ſich beim Hören im Allgemeinen um eine
Druckſchwankung des Aufenthaltsmediums
(Luft oder Waſſer) handelt.
Wie in dem vorigen Artikel ein—
leitend geſagt wurde, iſt Empfindung
ſtets mit Abſorption, d. h. Vernichtung
der Bewegung, die empfunden werden ſoll,
verbunden, alſo ein der Leitung beziehungs—
weiſe Reflexion einer Bewegung entgegen—
geſetzter Vorgang.
Empfindlich für Schallwellen kann alſo
nur ein Körper ſein, der den Schall ſchlecht
leitet und ſchlecht reflektirt und, da Hören
und Taſten auf daſſelbe hinauskommen, der
auch mechaniſche Bewegungen ſchlecht leitet
und ſchlecht reflektirt. Einen ſchlechten Leiter
202 Jäger, Die Organanfänge.
für mechaniſche Bewegung nennen wir
weich und bekanntermaßen ſind weiche
Körper auch ſchlechte Schallleiter: der Schall
wie die mechaniſche Bewegung werden um
ſo beſſer geleitet, je feſter ein Körper iſt.
Die Reflexion von Schall und mechaniſcher
Bewegung hängt von dem Elaſticitätsgrad
ab; je unelaſtiſcher, deſto ſchlechter
fällt die Reflexion aus.
Nun wiſſen wir, daß die lebendige Sub—
ſtanz in ihrem einfachen und urſprünglichen
Zuſtande ein ſehr weicher, ganz un—
elaſtiſcher Stoff iſt und ſchon daraus
allein geht hervor, daß dieſelbe ebenſo em—
pfindlich für mechaniſche Druckſchwankungen
als für Schallwellen ſein muß, daß ſie
alſo ſchon an und für ſich nicht blos fühlt,
ſondern auch hört. Unſere Unterſuchung
hat mithin nur feſtzuſtellen, auf welchem
Wege die Schallempfindlichkeit geſteigert
und ſchließlich von der Taſtempfindlichkeit
geſondert und einem eigenen Organ über—
antwortet wird.
Das erſte Mittel zur Steigerung der
Schallempfindlichkeit iſt das Ausſtrecken der
Wurzelfüße, jener zarten, oft ſelbſt wieder
veräſtelten, lebendigen Fortſätze, welche die
lebendige Subſtanz in ihrer urſprünglichſten
Verfaſſung bei niederſten Organismen in
oft großer Zahl hervortreibt und wieder
einzuziehen vermag. Jeder Wurzelfuß, der
in einer die Bahn der Schallwelle kreuzen—
den Richtung ſteht, iſt erſtens eine Ver—
größerung der Schall auffangenden Oberfläche,
und zweitens muß derſelbe in transverſale
Bewegungen verſetzt werden, wodurch ener—
giſche, weil mit Hebelgewalt wirkende Druck—
ſchwankungen an der Anſatzſtelle des Wurzel—
fußes entſtehen. Wir können mithin ganz
gut ſagen: Wenn ein Wurzelfüßer — ſo
bezeichnet man jene einfachſten Organismen,
die nichts ſind als ein Stückchen lebendige
Subſtanz — alle ſeine Wurzelfüße voll
entfaltet hat, ſo befindet er ſich im Zuſtand
einer beträchtlich geſteigerten Schallempfind-
lichkeit, alſo gleichſam in lauſchender
Haltung.
Da die Wurzelfüße ſelbſtverſtändlich
zugleich der Sitz einer und zwar erhöhten
Taſtempfindlichkeit find, fo find hier Taft-
und Gehörſinn noch nicht anatomiſch ge—
trennt. Man würde aber gewiß fehl gehen,
wenn man deshalb den Wurzelfüßern die
Unterſcheidung von Hören und Taſten ab-
ſprechen wollte. Beim letzteren werden nur
in einzelnen Wurzelfüßen Druckſchwankungen
erzeugt, während die Schallwelle alle Wur—
zelfüße erregt, welche die Bahn derſelben
kreuzen und zwar in ganz methodiſcher
Weiſe.
Ein ganz anderer, gleichſam entgegen—
geſetzter Weg zur Erhöhung der Schall—
empfindlichkeit der lebendigen Subſtanz
iſt die pflockartige Einpflanzung von
Hartgebilden, die mit einem Theil ihrer
Länge über die Oberfläche hervorragen.
Als Stoff hierzu find z. B. bei den Ra-
diolarien Kieſelnadeln, bei den See—
ſchwämmen theils Kieſelnadeln, theils
Kalknadeln verwendet. Solche Hartgebilde
ſind ſehr gute Schallleiter und mit ihrer
Anweſenheit iſt deshalb mehrfaches für die
Schallempfindlichkeit gewonnen:
1. Da eine Nadel, die die Bahn einer
Schallwelle kreuzt, von ihr in Bewegung
verſetzt wird, ſo bildet die Beſtachelung
ebenſo eine Vermehrung der ſchallauffangen—
den Fläche, wie das Ausſtrecken der Wur—
zelfüße.
2. Da das Exzittern einer ſolchen
Nadel, unter dem Einfluß einer Schallwelle, in
der ganzen Ausdehnung der Berührungs—
fläche zwiſchen Nadel und lebendiger Sub—
ſtanz Druckſchwankungen erzeugen muß, jo
wird ein weit größerer Theil der Geſammt—
maſſe des Körpers direkt vom Schallreiz
getroffen, als wenn die Nadeln fehlten und
die Schallwelle nur auf die Oberfläche eines
glatten Körpers auffallen würde. Für eine
einzige Nadel muß ſich die Verſtärkung der
Wirkung durch das Verhältniß zwiſchen
dem Querſchnitt eines Cylinders und der
Flächenausdehnung des Cylindermantels aus—
drücken laſſen.
3. Die vom Schall ſeitlich getroffenen
Nadeln werden, wenn ſie lang und dünn
genug ſind, auch in quere Schwingungen
verſetzt, welche ſehr energiſch auf den Bo—
den wirken müſſen, in welchem ſie ſtecken.
Daß ſolche ſteife Stäbe, in empfind—
licher Subſtanz ſteckend, zugleich ausgezeich—
nete Taſtwerkzeuge und außerdem noch Ver—
theidigungswerkzeuge ſind, bedarf keiner
Erörterung, ebenſo wenig, daß hier ſo gut
wie bei den Wurzelfüßen eine Unterſchei—
dung zwiſchen Taſten und Hören ſtattfinden
kann.
Noch in anderer Form treten harte
Skelettheile als Steigerer der Schallempfind—
lichkeit auf. Der verkalkte Wurzeltheil einer
Steinkoralle, der mit einer ſehr ge—
dehnten Fläche mit dem lebendigen, ihn wie
eine Kruſte überziehenden Theile in Be—
rührung ſteht, iſt ein ſo guter Schallleiter,
daß wir ohne weiteres ſagen dürfen, eine
Steinkoralle höre beſſer als ein Fleiſchpolyp.
Jäger, Die Organanfänge.
In Seewaſſeraquarien läßt ſich das auch
ſehr leicht conſtatiren: Wenn man eine kalk— |
ſchalige Bryozoencolonie, oder eine Cyathine
oder eine Oculinencolonie entfaltet ſehen
will, ſo hat man ſich dem Gefäß mit
einiger Vorſicht zu nähern, während die
fleiſchigen Seeanemonen in dieſer Bezie—
hung äußerſt ſtumpfſinnig ſind.
Ferner darf es uns auch nicht Wunder
nehmen, daß man bei den Stadel-
häutern (Seeſternen, Seeigeln ꝛc.) keine
geſonderten Gehörapparate nachzuweiſen ver—
mag. Ihre ganze Leibeswand iſt ſo ſehr
von gut ſchallleitenden Theilen durch—
ſetzt, daß eine relativ ziemlich hohe
Schallempfindlichkeit in ihnen vorhanden ſein
muß, was nur ihrer im Allgemeinen geringen
Empfindlichkeit wegen weniger in die Augen
ſpringt. Die Stachelhäuter, insbeſondere
die Seeigel, theilen eben mit allen über—
mäßig ſtark beſchützten Thieren (Landſchild—
kröten, Igeln, Gürtelthieren, Dorneidechſen
ꝛc.) die große Unempfindlichkeit und Träg—
heit aller Lebenserſcheinungen.
Die Mollusken haben zwar, wie wir
ſpäter ſehen werden, ein ganz beſtimmtes
Gehörorgan, allein daneben darf ſicher die
große Schallleitungsfähigkeit ihrer ſtein—
harten Schalenſubſtanz als Quelle einer
allgemeinen Schallempfindlichkeit nicht unter—
ſchätzt werden; ich habe wenigſtens in
Aquarien Auſtern unter Umſtänden ſich
ſchließen ſehen, die auf eine Schallleitung
durch die Schale hinweiſt.
Noch günſtiger ſind feſte Körperbedek—
kungen dann, wenn ſie zugleich elaſtiſch und
im Stande ſind, transverſale Schwin—
gungen auszuführen. Hierbei müſſen wir
aber noch auf einen Punkt aufmerkſam
machen: Da das Waſſer die Schallwellen
viel beſſer leitet als die Luft, ſo befinden
ſich die Waſſerthiere bezüglich der Schall—
wahrnehmung in einer günſtigeren Lage
als die Luftthiere; ſie hören unter ſonſt
gleichen Umſtänden weiter und ſchneller.
Außerdem hören ſie aber auch ſicherer,
weil die Schallwelle aus dem Waſſer viel
leichter in die wäſſerig durchtränkte thieriſche
Subſtanz oder in die Hartgebilde eintritt,
als dies in die gleichen Stoffe aus der Luft
geſchieht. Günſtiger geſtaltet ſich das Ver—
hältniß für das Luftthier erſt dann, ſobald
196 du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe.
aber die Verſchiedenheit derſelben in Bezug
auf Maſſe, beſtimmte Entfernung von der
Sonne — die nach dem bekannten Titius'-
ſchen Geſetze annähernd in geometriſcher
Progreſſion vorhanden iſt —, Geſtalt der
Bahnen und Geſchwindigkeit der Bewegung,
findet ihre Erklärung nicht. Und doch ſind
es eben dieſe Verſchiedenheiten, hauptſächlich
die räumliche Vertheilung der Maſſe, wor-
auf die Stabilität des Syſtems beruht.
Das teleologiſche Reſultat des Entſtehungs—
proceſſes aus natürlichen Geſetzen zu er—
klären, iſt demnach eine noch zu löſende
Aufgabe. Wir müſſen alſo entweder der
urſprünglichen Materie außer der Eigen—
ſchaft der Schwere auch noch eine ſolche
beilegen, welche das teleologiſche Reſultat
erklärt, oder aber annehmen, daß aus der
Eigenſchaft der Schwere eine wichtige, von
Kant überſehene Folgerung ſich ergab. Nur
die letztere Annahme aber wäre wiſſenſchaft—
lich und frei von Willkür.
Aus dem Gravitationsgeſetze
heraus iſt alſo die Nebularhypotheſe um—
zubilden, und zwar ſind folgende Aufgaben
zu löſen:
1. Die zweckmäßige Maſſenvertheilung
der Planeten und Monde muß erklärt
werden. Es genügt nicht zu ſagen, daß
die Sonne ſich ruckweiſe zuſammenzog und
äquatoriale Ringe abtrennte; denn darum
handelt es ſich hauptſächlich, daß gerade
in den gegebenen Abſtänden Planeten von
gerade der entſprechenden Geſchwindigkeit
und Maſſe umlaufen, und daß an keinem
dieſer Faktoren ohne Umwälzungen etwas
geändert werden könnte.
2. Die Cometen und Meteoriten müſſen
in die Nebularhypotheſe eingefügt werden,
und zwar muß die überwiegende Mehrzahl
derſelben gegenüber den Planeten als eine
nothwendige Folge des Gravitationsgeſetzes
ſich erweiſen. Wenn Laplace ſagt: „Dans
notre hypothèse les comètes sont étran-
geres au systeme planétaire“ (expos.
d. syst. d. monde p. 475. Paris 1846),
jo ſcheint dies bei jeglichem Mangel eines
Beweiſes dafür, daß dieſelben auch in Wirk—
lichkeit fremder Abkunft ſind, als ein bloßer
Verlegenheitsausſpruch, und es iſt unzu—
läſſig, uns von den Cometen durch die
willkürliche Annahme zu befreien, daß ſie
insgeſammt, rechtläufige wie rückläufige,
erſt im ſpäteren Verlaufe des Proceſſes aus
den Regionen der Fixſterne zu uns herab—
geſtiegen ſeien, — ganz abgeſehen davon,
daß hierdurch das Räthſel nur zurückge—
ſchoben wird.
3. Es iſt zu erklären, warum wir trotz
der ungeheueren Ausdehnung des urſprüng—
lichen Sonnenballs nicht mehr Planeten
vorfinden, warum ferner die Planeten ge—
rade mit der gegebenen Anzahl von Satel—
liten umgeben ſind. Die Berechtigung zu
letzterer Frage insbeſondere ergiebt ſich mit
Evidenz aus der Thatſache, daß die Anzahl
der Monde zwar im Allgemeinen, aber
nicht im Einzelnen, mit den Notationg-
geſchwindigkeiten der zugehörigen Planeten
übereinſtimmt. Die Aſtronomie iſt nur
ein Specialgebiet der Mechanik; ſehen wir
daher, daß z. B. Mars faſt ebenſo ſchnell
rotirt, als die Erde, und doch mondlos
iſt, ſo dürfen wir unmittelbar folgern, daß
der nach mechaniſchen Principien theoretiſch
ſich ergebende Marsmond auch in Wirklich—
keit vorhanden geweſen ſein muß.
Es handelt ſich nun darum, dieſe drei
Erſcheinungscomplexre, die nothwendiger
Weiſe in näherer oder entfernterer Ver—
wandtſchaft ſtehen müſſen, ſynthetiſch zu
verbinden, wie es immer zu geſchehen hat
bei Erſcheinungen, die, für ſich allein be—
trachtet, uns nichts ſagen.
Eine ſolche Erſcheinung iſt das Fehlen
des Marsmondes. Sie ſagt uns nichts,
wird aber ſehr beredſam, wenn wir ſie in
Verbindung ſetzen mit den beiden anderen
Punkten der zu löſenden Aufgabe. Zu
nächſt, wenn wir bedenken, daß im Bil⸗
dungsgange des Sonnenſyſtems auch Eli
minationsproceſſe ſtattfanden, erſcheint es
zuläſſig, ſolche auch bezüglich ehemaliger
Planeten vorauszuſetzen. Halten wir nun
dieſe Eliminationsproceſſe wiederum an die
sub 1. berührten Erſcheinungen, ſo erhellen
ſie ſich gegenſeitig, und wir werden un—
willkürlich zu der Folgerung getrieben: Die
zweckmäßige Maſſenvertheilung des Sonnen-
ſyſtems iſt das Reſultat von Eliminations—
proceſſen, durch welche diejenigen Planeten
und Monde beſeitigt wurden, welche den
Mechanismus des Sonnenſyſtems ſtörten.
Dieſe Erklärung trägt nicht nur der er—
wähnten Anforderung Rechnung, auch die
teleologiſchen Eigenſchaften des Sonnen—
ſyſtems aus der Schwere abzuleiten, ſon—
dern ſie erweiſt ſich als die allein richtige
auch durch ihre Uebereinſtimmung mit den
Geſetzen der Logik, welche uns gebieten,
zweckmäßige Erſcheinungen, in welchem Ge—
biete der Natur wir ſie auch wahrnehmen
mögen, niemals als fertig in die Natur
tretend, ſondern als Reſultate eines Ent—
wicklungsproceſſes anzuſehen. Will aber
die Wiſſenſchaft, welche doch die zweckmäßi—
gen Principien zu verſchmähen gehalten iſt,
gleichwohl die Möglichkeit zweckmäßiger
Reſultate darthun, ſo kann ſie dieſes nur
durch die Annahme einer indirekt geſchehen—
den Ausleſe, und dieſe wiederum iſt be—
dingt durch die Exiſtenzunfähigkeit aller
unzweckmäßigen Gebilde in einem ſyſtema—
tiſch verbundenen Ganzen.
Die Entwicklung des Kosmos erſcheint
unter dieſem Geſichtspunkte, wie a priori
du Prel, Ueber die nothwendige Umdildung der Nebularhypotheſe.
a
197
erwartet werden darf, ganz analog der Ent—
wicklung aller übrigen Naturreiche. Wie
z. B. in der Biologie die Anpaſſung an
die Lebensbedingungen nur indirekt durch
den Ausjätungsproceß erzielt wird, der in
der Elimination der exiſtenzunfähigen Orga—
nismen beſteht, ſo beſorgt in der Mechanik
des Himmels das Gravitationsgeſetz durch
indirekte Ausleſe die Zweckmäßigkeit der
Syſteme, indem jene Himmelskörper, welche
in Anſehung des Ganzen mit einem Wider—
ſpruch belaſtet ſind, ausgeſchieden werden.
Die Perturbationen, d. h. jene Störungen,
welche in Folge der gegenſeitigen An—
ziehung der Planeten entſtanden, haben in—
direkt, durch Elimination des größten
Theiles der ehemaligen Begleiter der Sonne,
die Ausleſe jener geringen Zahl unſerer
Planeten beſorgt, die nur vermöge der Ir—
rationalität ihrer Umlaufszeiten trotz ihres
gegenfeitigen Gravitirens beſtandesfähig find.
Die Natur verfährt gleichſam wie der
Holzſchneider, der die Zeichnung nur indi—
rekt, durch Vertiefung der Zwiſchenfelder,
zu Relief bringt.
So nur läßt ſich aus dem ungehemm⸗
ten Walten natürlicher Geſetze jenes teleo—
logiſche Reſultat begreifen, das natürlich
eine hyperboliſche Erklärungsweiſe zu for-
dern ſchien, fo lange man ſtatt der ſucceſ—
five eintretenden indirekten Ausleſe die ein-
ſenten meiner nachſtehend erwähnten Schrift
meint (Philoſ. Monatshefte. 1873. Nr. 3): „Gibt
es einen Forſchritt, d. h. werden in der Welt
Zwecke, ſei es durch Evolution, ſei es auf
irgend eine andere Art erfüllt, ſo reicht das
Geſetz des Mechanismus zum Verſtändniß
einer ſolchen Welt nicht mehr aus; oder die
blinde Nothwendigkeit regiert allein, dann
darf von Zweckmäßigkeit in der Welt auch
nicht länger die Rede ſein“ — ſo vermag ich
725
Zellen, welche dieſe ſteifen Fäden hervor—
treiben, ſetzen ſich auf ihrer entgegengeſetzten
Seite mit Nervenfäden in Verbindung und
werden ſo zu Hörzellen, und indem die
Hautfläche, deren Grenzzellen zu Hörzellen
werden, ſich taſchenartig einſtülpt, iſt hier
ebenfalls der Anfang zu einem geſonderten
Gehörorgan gelegt.
Der Weg zur Abſcheidung des Gehör—
ſinns vom Taſtſinne iſt alſo bei Inſekten,
Krebſen und Wirbelthieren der ganz gleiche
d. h. Verſenkung der ſchallempfindlichen
Theile in die Tiefe; aber das Material
hierzu iſt genau ſo verſchieden, als die drei
Thiergruppen ſich auch ſonſt von einander
unterſcheiden.
Damit iſt jedoch die Zahl der Gehör—
organanfänge noch nicht erſchöpft, denn wir
haben bis jetzt der Mollusken, Würmer
und Quallen noch nicht gedacht. Bei
dieſen iſt das Gehörorgan ein in die Tiefe
des Leibes verſenktes, rundum geſchloſſenes
Bläschen, das mit Nervenendzellen aus—
tapeziert iſt. Die letzteren tragen ſteife
Haare, die in die Lichtung des Bläschens
vorſpringen. In der das Bläschen er—
füllenden Flüſſigkeit ſchwimmt entweder ein
einziger größerer Hörſtein oder eine Gruppe
vieler kleiner Hörſteine. Auch hier tritt zu—
nächſt die nahe Verwandtſchaft von Taſt—
empfindung und Schallempfindung hervor:
Wenn eine Schallwelle die Wand des Bläs—
chens trifft, ſo müſſen die Schwingungen
einen Zuſammenſtoß der Hörſteine mit den
Hörhaaren, alſo einen Taſteindruck hervor—
bringen, der von anderen Taſteindrücken nur
deshalb unterſchieden wird, weil er eine
andere Stelle des Körpers trifft und einen
gewiſſen Rhythmus hat. Die tiefe Ver—
ſenkung des Molluskenohrs in den Körper
ſichert allerdings die Sonderung von Taſtſinn
und Gehörſinn in hohem Grade, allein man
u
Jäger, Die Organanfänge. |
iſt verſucht zu fragen, ob dadurch nicht die
Zugänglichkeit des Gehörorgans für Schall—
wellen ſehr beeinträchtigt iſt. Bei den im
Waſſer lebenden Mollusken und Würmern
— und das iſt weitaus die Mehrzahl —
wird die Leichtigkeit, mit der die Schall—
wellen aus dem Waſſer in die wäſſerig durch—
feuchteten Thierkörper eintreten, eine genügende
Leiſtung ſicherſtellen, aber darüber belehrt
uns doch die Beobachtung, daß die Mollusken
nicht zu den feinhörigen Thieren gehören.
Bei den Landmollusken kommt in Betracht,
daß die feſten Körper, auf denen ſie ſitzen,
gute Schallleiter ſind, und daß damit für ſie
ſchon ziemlich viel erreicht iſt; für Schall—
wellen in der Luft ſind ſie aber ſehr wenig
empfindlich.
Darüber, ob dieſer Anfang der Gehör—
organbildung etwas ganz für ſich beſtehen—
des iſt oder ob er an eine der andern
bereits beſprochenen Organanfänge an—
knüpft, läßt ſich zur Zeit nicht entſcheiden.
Möglich iſt in der letzten Richtung zweierlei:
1) Wenn die geſchloſſene Gehörblaſe der
Mollusken durch Abſchnürung einer ur-
ſprünglichen Hauttaſche entſteht, dann liegt
derſelbe Vorgang vor, wie bei den Wirbel—
thieren; die Hörhaare dürfen dann als mo-
dificirte Flimmerhaare betrachtet werden.
2) Wenn der Hörſteinſack aber nicht durch
Einſenkung der Haut, ſondern durch Modifi⸗
cation eines innerlich gelegenen Nervenendes
entſteht, dann müßte man an die Hörſtift—
bildung bei den Inſekten denken; der Hör—
ſtein wäre die Modifikation eines Hörſtiftes.
Nun müſſen wir aber noch etwas über
die äußerlichen Bedingungen der Gehör—
organentwickelung ſprechen, da man dieſen
Punkt, wie mir ſcheint, noch zu wenig ins
Auge gefaßt hat.
Wir wiſſen längſt, daß unter die Be—
dingungen der Entwickelung des Sehorgans
Be
der Aufenthalt in beleuchteten Räumen ge—
hört, denn Thiere, welche ſeit vielen Gene—
rationen im Dunkeln leben, ſind entweder
augenlos oder haben verkümmerte Augen.
Es hat nun wohl noch niemand daran ge—
dacht, daß der Blindheit der Dunkel—
thiere die Taubheit ſolcher Thiere ent—
ſprechen müßte, die in ſtummer Umgebung
leben. Man wird nun ſagen, die Natur
ſei nirgends ſtumm und deshalb gäbe es
keine tauben Thiere. Das mag ſein, aber
daß große Unterſchiede in dieſer Beziehung
vorhanden ſind, muß zugegeben werden.
Vergleichen wir z. B. Luft- und Waſſer⸗
leben, ſo ſpringt in die Augen, daß im
Vergleich zum letzteren die Luft das Reich
der Töne iſt. Die meiſten Waſſerthiere
ſind ſtumm und zwar nicht blos in ſofern
als ſie keine wirkliche Stimme haben, ſondern
die Glätte ihres Körpers und die Schmieg-
ſamkeit des Waſſers hat auch zur Folge,
daß ſie nur unter ganz beſonderen Verhält—
niſſen bei ihrer Fortbewegung im Waſſer
Geräuſche hervorbringen. Das Toben der
Brandung, das Heulen des Seeſturms iſt
allerdings eine gewaltige Muſik und ſie zu
hören für ein Seethier ſehr wichtig, weil
es gilt einer Gefahr auszuweichen, allein in
der purpurnen Tiefe der Hochſee muß es
doch faſt eben ſo ſtill als dunkel ſein, und
wenn die dortigen Thiere nicht blos blind,
ſondern auch relativ taub wären, ſo würde
ich das völlig natürlich finden. Wir müſſen
uns aber recht verſtehen: So wenig ein
augenloſes Thier völlig unempfindlich gegen
das Licht iſt — wovon wir uns bei jedem
Regenwurm überzeugen können — ebenſo we—
nig nehme ich an, daß irgend ein Thier völlig
taub iſt; eine gewiſſe allgemeine Schall—
empfindlichkeit kommt ihnen ſicher ebenſo gut
zu, als den blinden Thieren eine gewiſſe,
oft auffallend ſtarke Lichtempfindlichkeit.
Jäger, Die Organanfänge.
207 |
Mit dieſer Einſchränkung aber erlaube
ich mir eine große Anzahl von Seethieren
für taub zu erklären.
Die Kehrſeite zu dem Vorſtehenden iſt
die Thatſache, daß bei den tönenden Thieren
auch die Gehörorgane unter ſonſt gleichen
Umſtänden eine höhere Entwicklungsſtufe
zeigen als bei den ſtummen. Unter den
Inſekten haben die ſtimmbegabten Heuſchrecken
und Grillen die einzigen gut lokaliſirten Ge—
hörorgane und unter den Wirbelthieren ſind
die Gehörorgane der ſtummen Fiſche ent—
ſchieden niedriger organiſirt (weil ſie keine
Schnecke an ihrem Labyrinth haben) als
die der Luftwirbelthiere, die entweder ſtimm—
begabt ſind oder doch wenigſtens bei ihrer
Fortbewegung Geräuſche erzeugen.
Einen weiteren Einfluß auf die Ent—
wickelungshöhe des Gehörorgans (wie aller
Sinnesorgane) hat die Höhe der Intelligenz,
weil mit ihr die Häufigkeit des Gebrauchs
ſteigt. So lege ich mir die Thatſache zu—
recht, daß die Gehörorgane der Säugethiere
höher entwickelt ſind als die der Vögel,
trotzdem daß die letzteren ſtimmbegabter ſind,
als die erſteren.
Zum Schluß noch eine Vergleichung von
Gehör- und Geſichtsſinn. Beide ſtehen näm—
lich in ähnlichen Beziehungen zum Taſtſinn.
Letzteren zerlegen die Phyſiologen ſchon ſeit
länger in den Temperaturſinn und den
Druckſinn. Wie aber der Gehörſinn
eine Abzweigung des Druckſinns, gewiſſer—
maßen ein Diſtanzdruckſinn iſt, jo
iſt der Geſichtsſinn ein Diſtanztem—
peraturſinn.
Berühren wir einen tönenden Körper
mit dem Finger, ſo fühlen wir ſeine Be—
wegungen mittelſt des Druckſinns, mit dem
Ohr fühlen wir ſie auf Diſtanz. Beim
Sehen iſt das Eigenthümliche, daß die höher
organiſirten Augen die ſogenannte dunkle
200
gewieſenen bedacht wird — die ſich als—
dann hyperboliſch wieder empfehlen —, als
ſie ihrerſeits ausgewieſen hat.
Als ſolche Fremdlinge dürfen wir alle
rückläufigen Cometen und Meteoriten
betrachten; zum Theile haben dieſelben in
Folge planetariſcher Einflüſſe geſchloſſene
Bahnen erworben und ſich dauernd in
unſerem Syſteme niedergelaſſen.
Wenn nun aber die langgeſtreckten Bah—
nen der rechtläufigen Cometen und
Meteoriten uns nicht hindern dürfen, in
ihnen Fragmente ehemaliger Planeten unſeres
Syſtems anzuerkennen, ſo bleibt als Gegen—
ſatz zu den Bahnebenen der Planeten, die
mit der Aequatorebene der Sonne faſt zu—
ſammenfallen, nur noch der Umſtand zu er—
klären, daß der Winkel ihrer Bahnebenen
mit der Erdbahn zum Theile ſehr beträcht—
lich iſt. Aber auch dieſe Schwierigkeit hebt
ſich, wenn wir dieſe Neigung gegen die
Erdbahn als eine durch Perturbationen erſt
erworbene betrachten. So hatte z. B. der
du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypetheſe.
Comet von Brorſen 1846, den uns nach
d' Arreſt 1842 die Anziehung des Jupiter
zuführte, eine Neigung von 41 Grad gegen
die Erdbahn, und wurde dieſelbe durch dieſe
einzige Störung auf 31 Grad vermindert.
Es kann alſo unter entſprechenden Um—
ſtänden auch eine eben ſo bedeutende Ver—
mehrung eintreten. —
So zeigt es ſich denn, daß wir zu
einer moniſtiſchen Vorſtellung von der Ge—
ſchichte unſeres Sonnenſyſtems nur dadurch
gelangen, daß wir die indirekte Ausleſe des
Zweckmäßigen durch Elimination des Un—
zweckmäßigen im Entwickelungsproceſſe an—
nehmen, welche in allen Naturgebieten Gel—
tung hat. Dadurch wird, aus einem Punkte
heraus, nicht nur die zweckmäßige Maſſen—
vertheilung im Planetenſyſteme erklärt, ſon—
dern auch der Dualismus beſeitigt, in dem
man bisher die Cometen neben den Planeten
unvermittelt herlaufen ließ.
Wir müſſen alſo Kant und
Laplace durch Darwin ergänzen.
Die Organanfänge.
Von
Prof Dr. Guſtav 4
I
ü ger.
Die Anfänge des Gehörorgans.
Fährend das Auge eine ein—
fache ſchöne Entwickelungsſkala
von einem einfachen Pigment⸗
fleck bis zu einem wunder—
bar complicirten Organapparat
aufweist, zeigt das Gehörorgan weder einen
ſo einheitlichen Anfang, noch einen ſo ein—
heitlichen Entwickelungsgang in der auf—
ſteigenden Reihe der Thiere, noch überhaupt
eine ſolche vergleichsweiſe beharrliche und
frühzeitige Lokaliſation wie das Auge. Wir
werden in der Folge ſehen wie und warum.
Bei der Betrachtung des Gehörſinns
muß zuerſt an den Umſtand erinnert wer—
den, daß Hören und Taſten ſehr nahe mit
einander verwandt ſind. Wir fühlen die
Schwingungen einer Saite oder einer Stimm—
gabel ebenſo gut, wie wir ſie hören, und
der Schwerhörige benützt ſeinen Taſtſinn
als Beihülfe beim Hören. Dieſe Verwandt—
ſchaft iſt auch begreiflich; beim Hören wie
beim Taſten iſt der Reiz, um deſſen Wahr-
nehmung es ſich handelt, eine Druckſchwan—
kung, die durch eine Maſſenbewegung erzeugt
wird. Wenn wir von der Tonunterſchei—
dung abſehen und nur die Schallempfindung
im Auge haben, ſo iſt der ganze Unter
ſchied der, daß Taſtempfindung in der Regel
durch die unregelmäßigen Bewegungen eines
feſten Fremdkörpers erzeugt wird, während
es ſich beim Hören im Allgemeinen um eine
Druckſchwankung des Aufenthaltsmediums
(Luft oder Waſſer) handelt.
Wie in dem vorigen Artikel ein—
leitend geſagt wurde, iſt Empfindung
ſtets mit Abſorption, d. h. Vernichtung
der Bewegung, die empfunden werden ſoll,
verbunden, alſo ein der Leitung beziehungs—
weiſe Reflexion einer Bewegung entgegen—
geſetzter Vorgang.
Empfindlich für Schallwellen kann alſo
nur ein Körper ſein, der den Schall ſchlecht
leitet und ſchlecht reflektirt und, da Hören
und Taſten auf daſſelbe hinauskommen, der
auch mechaniſche Bewegungen ſchlecht leitet
und ſchlecht reflektirt. Einen ſchlechten Leiter
210
Angriffen nur in geringem Grade aus—
geſetzt ſind. — Charles Darwin
prüfte Wallace's Neſttheorie und ſagt in
ſeinem Endergebniß darüber („Abſtammung
u. ſ. w.“ Bd. 2, S. 149 der deutſchen
Ueberſ.): „Trotz der im Vorſtehenden auf—
gezählten Einwürfe kann ich nach Durchleſen
von Wallace's ausgezeichneter Abhand—
lung nicht zweifeln, daß im Hinblick auf
die Vögel der ganzen Erde eine bedeutende
Majorität der Species, bei denen die
Weibchen auffallend gefärbt ſind (und in
dieſen Fällen find die Männchen mit
ſeltenen Ausnahmen in gleicher Weiſe auf—
fallend gefärbt) verborgene Neſter zum
Zwecke eines Schutzes bauen
Wallace glaubt, daß in dieſen Gruppen
die brillanten Färbungen in dem Maße,
als die Männchen dieſelbe durch geſchlecht—
liche Zuchtwahl allmälig erlangt haben,
auf die Weibchen überliefert und wegen des
Schutzes, welchen dieſelben bereits durch die
Art und Weiſe ihres Neſtbaues erhielten,
nicht wieder beſeitigt wurden. Dieſer An—
ſicht zufolge wurde die jetzige Art und
Weiſe des Niſtens früher erlangt als die
jetzt dieſe Vögel ſchmückenden Farben. Es
ſcheint mir aber viel wahrſcheinlicher zu
ſein, daß in den meiſten Fällen die Weib-
chen, wie dieſelben dadurch immer mehr
und mehr brillant gefärbt wurden, daß
ſie an der Färbung des Männchens Theil
nahmen, allmälig dazu geführt wurden,
ihre Inſtinkte zu verändern (allerdings
unter der Annahme, daß ſie früher offene
Neſter bauten!) und ſich Schutz zu ſuchen
durch das Errichten kuppelförmig verborgener
Neſter“. Dieſem werden Beiſpiele
veränderter Gewohnheit beigefügt, die ſich
leicht vermehren ließen.
Es kann für vollkommen ſicher erachtet
werden, daß beide Anſichten betreffs des in
„2
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
Rede ſtehenden Gegenſtandes, ſowohl die
Wallace'ſche, als die Darwin 'ſche, zu-
treffend ſind; die erſtere ſcheint mir aber in
den meiſten Fällen, die letztere mehr in den
Ausnahmefällen haltbar zu ſein. Daß es
nicht allzu wahrſcheinlich iſt, daß alle
Höhlenbrüter erſt ſpäterhin zu ihrer Brut—
weiſe gekommen ſein ſollten, wie Darwin
meint, zeigt die vortreffliche Auseinander—
ſetzung Wallace's, indem der Bau eines
offenen Neſtes für manche Familien gerade—
zu eine phyſiſche Unmöglichkeit genannt
werden muß.
„Die Caprimulgidae,“ ſagt Wallace,
„haben die unvollkommenſten Werkzeuge
von allen, Füße, welche ſie nur auf einer
ebenen Oberfläche tragen, und einen außer—
ordentlich breiten, kurzen und ſchwachen
Schnabel, der faſt gauz zwiſchen Federn
und Borſten verſteckt iſt. Sie können kein
Neſt von Zweigen und Faſern, von
Haar und Moos, wie andere Vögel, bauen
und ſie enthalten ſich im Allgemeinen daher
ganz des Neſtbaues, indem ſie ihre Eier
auf die nackte Erde oder auf den flachen
Aſt eines Baumes legen. Die plumpen
Hakenſchnäbel, der kurze Hals, die kurzen
Füße und die ſchweren Körper der Papa—
geien machen ſie ganz unfähig, ein Neſt
zu bauen. Sie können keinen Aſt hinauf
klimmen, ohne ſowohl Schnabel als auch
Füße zu gebrauchen; ſie können ſich ſelbſt
nicht auf ihrem Sitze umwenden, ohne ſich
mit dem Schnabel feſt zu halten. Wie
alſo ſollten ſie die Materialien für ein Neſt
ineinander legen oder mit einander ver—
flechten? Demzufolge legen ſie alle ihre
Eier in Baumlöcher, auf die Spitzen ver-
faulter Stümpfe oder in verlaſſene Ameiſen—
neſter, deren weiche Materialien ſie leicht
aushöhlen können.“ — Bei den Spechten
herrſcht dieſelde Urſache, ebenſo bei den
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 211
Tukans, Eisvögeln, Bienenfreſſern u. ſ.w. —
„Viele Seeſchwalben und Strandläufer legen
ihre Eier auf den nackten Sand des See—
ufers, und zweifellos hat der Herzog
von Argyll Recht, wenn er ſagt, daß
die Urſache dieſer Gewohnheit nicht darin
liegt, daß ſie unfähig ſind ein Neſt zu
bauen, ſondern darin, daß in einer ſolchen
Lage jedes Neſt auffallen und zu der Ent—
deckung der Eier führen würde.“ Darwin
führt dazu an, in der Bemerkung des Her—
zogs von Argyll liege viel Wahres, „daß
ein großes kuppelförmiges Neſt einem Feinde
viel auffälliger iſt, beſonders allen auf Bäumen
jagenden fleiſchfreſſenden Thieren, als ein
kleineres offenes Neſt.“ Die Richtigkeit
dieſer Bemerkung muß indeß doch ſehr be—
ſtritten werden; im Gegentheil gewährt ein
ſolches kuppelförmiges Neſt verſchiedene
Vortheile; denn 1) verwehrt es allen im
Fluge jagenden Raubvögeln die Möglichkeit,
einen Fang zu thun, weil ſie den Inhalt
nicht ſehen können oder dieſer ihnen un—
zugänglich iſt; 2) iſt es durch Größe und
Form den Angriffen vierfüßiger Raub—
thiere gewiß nicht mehr ausgeſetzt, als
das offene Neſt, da jene meiſt der Naſe
oder dem Gehör nachgehen; nach viel—
fältigen Beobachtungen, die ich an Katzen,
Füchſen, Hunden und Wieſeln anſtellen
konnte, bin ich zu dem Schluß gelangt, daß
das Ausſpähen der Beute faſt ausnahms—
los nicht mit dem Auge, ſondern mittelſt
Naſe oder Gehör ſich vollzieht, das Auge
tritt erſt hinzu — Ausnahmen ſind höchſt
ſelten und ſah ich erſt eine einzige —
wenn die Beute ſich wirklich bewegt und
erſt dadurch für dieſen Sinn die Bedeutung
eines lebenden Weſens erhält. Ferner iſt
durch Stellung und Bauart des Neſtes
ſowohl vielen Raubſäugethieren, als auch
Vögeln und Schlangen der Eingang ſehr
Theorie indeß noch hinzufügen.
erſchwert und oft unmöglich gemacht.
Andere ſcheinbare Gegenbeweiſe ſind durch
Wallace oder Darwin beſeitigt worden;
einige Punkte will ich der Wal lace'ſchen
Die Ko⸗
libri's bauen tiefnapfförmige Neſter, welche
wenigſtens ſeitlich vollſtändigen Schutz ge—
gen feindliche Augen gewähren, und be—
feſtigen dieſelben meiſt an einem dünnen
ſchwanken Zweige, Stiele oder Blatte, wo—
hin vierfüßige Thiere ſchwerlich gelangen
können. Von Adlern und Falken dürfte
das kleine, ſchmetterlingsartig gefärbte Weib—
chen theils leicht überſehen werden, theils
auch aus dem Grunde für ſich ſelbſt
wenigſtens keine Gefahr laufen, weil es ſich
noch im letzten Augenblicke vermöge ſeiner
außerordentlichen Fluggewandtheit retten
kann. Wahrſcheinlich werden aber die Raub—
vögel eine ſo kleine und erfahrungsgemäß
nicht beikömmliche Sylvie kaum berückſich—
tigen. Den Baumſchlangen vermögen nur
beſonders geſchickte Hängeneſterfertiger zu
entgehen; es können dieſe Reptilien alſo
wohl auch nur in dieſer Richtung von Be—
einfluſſung geweſen ſein. Es giebt auch
Vögel mit nicht auffälligen Weibchen, welche
doch in Höhlen brüten — hier iſt die
Niſtweiſe wohl meiſtens ſecundär; Wallace
erklärt dieſe Erſcheinung ſehr einfach und
gut durch den erfahrungsmäßigen Schutz
vor Regen, Wind und Sonnenſtrahlen,
welchen ſie dort finden. Daß intelligentere
Vögel beſonders hierzu neigen, liegt auf der
Hand. Aber Darwin führt noch zwei
nach ſeiner Anſicht wichtige Ausnahmefälle
der Wall ace'ſchen Theorie an, welche in—
deſſen, je mehr ich ſie betrachte, den Cha—
rakter als Ausnahme verlieren. Sie be—
treffen Monticola eyanea und Dromolaea
leuerura, zwei Wüſtenbewohner, welche
auffallende Farben zeigen. Näheres über die
* 2
Pr
er
212
Niſtweiſe der Monticola ift mir zwar nicht
bekannt, aber das Weibchen iſt nicht hell—
blau, ſondern braun und weiß gefleckt.
Aller Wahrſcheinlichkeit nach ſtimmt aber
dieſes Gefieder, aus einiger Entfernung
geſehen, ſehr wohl mit der ſteinigen Um—
gebung des — noch dazu vielleicht in Fels—
ritzen ſtehenden — Neſtes überein; denn,
wie der Name ſchon ſagt, hält fi Monti-
cola nicht in der flachen, goldgelben Sand—
wüſte, ſondern auf den Geſteins- und
Bergzügen auf, welche einen großen Theil
der Wüſtenlandſchaft ausmachen. In Be—
zug auf die Dromolaea- Species bin ich
ſicherer unterrichtet. Das Weibchen iſt
nicht ſo ſchwarz wie das Männchen, ſondern
rußbraun, alſo minder in die Augen fallend.
Nach Alfr. Brehm paßt die Dromolaea zu
den Gebirgen, wie die Steine ſelbſt, aus denen
die Felſen beſtehen. „Sie zieht dunkles Ge—
ſteiu dem helleren vor; denn ſie weiß, daß
ſie dieſem angehört.“ Den Trauerftein-
ſchmätzer ſchützt zum Ueberfluſſe noch die Art
ſeines Niſtens. Derſelbe vorzügliche Beobachter
ſagt darüber: „An paſſenden Niſtplätzen fehlt
es ihm nicht; denn überall findet er in den
hohen, ſteilen Felſenwänden eine Höhlung,
welche noch von keinem Steinſperlinge in Beſitz
genommen wurde und die er alſo benutzen
kann . . . Ein ſolches Neſt fand ich im An—
fang des Juli 1857 in der Sierra de los
Anches bei Murcia. Es ſtand in einer
ziemlich geräumigen Höhle, welche durch
das theilweiſe Zerbröckeln und Herabfallen
des Geſteines gebildet worden war, auf
einem breiten, von einem andern überdachten
Steine, wie auf einem Geſimſe.“ Daß
viele Vögel, welche offene Neſter bauen,
nicht beſonders oder gar nicht brillant
gezeichnete Männchen haben, beweiſt nichts
gegen Wallace's Auseinanderſetzung, welche
durchaus nicht verlangt, daß dies der Fall
Wi
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
ſein müſſe, ſondern nur hervorhebt, daß dem
oft ſo ſei: Entweder ließ die natürliche Zucht—
wahl bei beiden Geſchlechtern glänzende
Farben nicht aufkommen, oder die geſchlecht-
liche Zuchtwahl brachte ſolche bei dem weit
weniger exponirten Männchen hervor, indem
ſie hier aus unbekannten Gründen ſich bildende
Schmuckzeichen fixirte, (wie Darwin in jo
ausgezeichneter Weiſe klar gelegt), während
ſie dieſe bei dem Weibchen nicht zu
Stande kommen ließ (ſexuelle Vererbung).
In den Fällen, wo das Weibchen bunt und
das Männchen unſcheinbar ausſieht, brütet
das letztere, und iſt die Richtigkeit der
Wallace'ſchen Anſicht damit bewieſen.
Die bunten Männchen ſchützend gefärbter
Weibchen betheiligen ſich zwar auch zuweilen
beim Brüten und Füttern der Jungen, je
doch nur in ſehr beſchränktem Grade: die,
welche brüten helfen, thun dies ſelten zu
einer andern Zeit, als in der Mittagsgluth,
wenn das Weibchen zur Tränke fliegt und
ſein Gefieder reinigt. Zu dieſer Zeit aber
jagen die meiſten Raubthiere nicht.
Es ſcheint die Anſicht vieler Forſcher
zu ſein, als ob natürliche Zuchtwahl bei
den Vogeleiern ſich gar nicht bethätige, und
wenn man bedenkt, daß die Eier faſt
andauernd und vollſtändig von dem Weib—
chen bedeckt werden, ſo möchte man
allerdings zweifeln, wie eine Auswahl da
möglich ſein ſollte, wo kein Vortheil zu er—
reichen iſt. In Wahrheit aber liegt die
Sache anders. In der erſten Zeit, ſo lange
noch neue Eier zu den ſchon gelegten hin—
zukommen, bleiben dieſe Produkte faſt im—
mer unbedeckt und ſind dann den Blicken
der eierſuchenden Raubvögel ausgeſetzt. Das
eine Weibchen legt dunklere Eier als das
andere: die dunklen werden überſehen, die
hellen aufgeſpeiſt. Von den Nachkommen
des erſteren Weibchens legen wieder einige
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
dunkle Eier und dieſe vermögen ihre Gattung
Mit einem Worte, die Eier
zu erhalten.
brauchen nur zu variiren, und zwar ſelbſt
verſtändlich die Eier verſchiedener Weibchen |
oder verſchiedener Gelege, was dasſelbe tft,
und der natürlichen Zuchtwahl iſt freier
Spielraum gelaſſen. Nun ſind aber in
der That die Gelege der offen brütenden
Weibchen ungleich; die Eier, namentlich die—
jenigen verſchiedener Weibchen, variiren.
Ich beſchränke mich, da hier von einer un—
umſtößlichen Thatſache die Rede iſt, nur
auf Anführung einiger Beiſpiele: 1) Die
Gelege verſchiedener Neuntödterweibchen
(Lanius collurio) ſind in hohem Grade
ungleich, ebenſo 2) die der Haidelerche
(Chorys arborea.) Ich ſelbſt habe die
Eier von zwei Haidelerchen hinweggenommen;
das eine Gelege iſtübereinſtimmend gelblich,
über und über ſo dicht erdbraun geſprenkelt, daß
nur dieſe Färbung hervorſticht, das andere in
gleicher Weiſe grünlichbodenfarbig mit eiſen—
grauen großen Flecken und Punkten. 3) Die
Gelege der Schneeammer (Pleetrophanes
nivalis) ſind außerordentlich veränderlich.
4) Ein Kukuksweibchen legt nach überein—
ſtimmenden Berichten der verläßlichſten Be—
obachter immer ſeine eigens gefärbten Eier, die
mit denen anderer Weibchen derſelben Art oft
ſtark contraſtiren. 5) Kiebitzeier ſind be
kanntlich ſehr variabel; ebenſo 6) Tor—
dalkeneier u. ſ. f. Selbſt unſere Haus—
hühner legen nicht immer weiße Eier, es
kommen auch öfters geſprenkelte vor. Wo
im großen Ganzen keine in das Auge
des Feindes leuchtenden Eier aufkommen
Arten),
konnten, wie es bei den nicht wehrhaften, in
offenen Neſtern brütenden Vögeln der Fall
iſt, wird alſo die Eigenſchaft der Farben-
variation bez. Produktion unterſtützt,
während bei den Verſtecktbrütern das
Gegentheil ſtattfindet. Offenbrüter
213
haben farbige, Verſtecktbrüter
weiße Eier!
Erſte Abtheilung.
Das Neſt ſteht an verborgenem Orte
oder es verbirgt durch die Conſtruction
ſeiner Materialien das brütende Weibchen
und die Eier.
Sympathiſche Schutzfärbung war in
dieſem Falle weder für das Weibchen noch
für deſſen Eier eine Nothwendigkeit, natür—
liche Züchtung nach dieſer Richtung hin
alſo ſo gut wie ausgeſchloſſen; Folge war,
daß 1) der weibliche Vogel die auffallenden
Prachtfarben des Männchens annehmen und
2) das Ei meiſt die einfachſte Färbung,
die des weißen Kalkes, entweder rein oder
mit kleinen Farbſtoffpunkten oder einfarbig
grün, blau oder röthlich beibehalten konnte.
1. Rein weiße Eier legen die Mei—
ſen (Paridae) mit verſtecktem oder kuppel—
oder beutelförmigem Neſt; die Honigvögel
(Nectariniae), Neſt eiförmig mit ſeitlichem
Eingang; die Kletterdroſſeln (Pha-
cellodomi*), Neſt ein Reiſerhaufen mit
verſteckter Mulde; die Töpfervögel
(Furnarii), Neſt groß backofenförmig; die
Gähner (Eurylaemidae), Neſt oben ge—
deckt, über Waſſer hängend; die Spechte
(Pieidae 320 Arten), Wendehälſe (Yun-
gidae), Bartvögel (Megalaemidae 81
Arten), Tukans (Rhamphastidae 51
Arten), Bananenfreſſer (Musophagidae
18 Arten), Raken (Coraciidae 19 Arten),
Trogons (44 Arten), die Nashorn-
vögel (50 Arten) und Papagaien (386
die ſämmtlich in Baumhöhlen
brüten; mehrere gedeckt brütende Roth—
ſchwanzarten (Rubicillae); die Bart—
kukuke (Bucconidae), Jacamars (Gal-
bulidae), Bienenfreſſer (34 Arten),
Eisvögel (125 Arten), Waſſeramſeln,
Großfußhühner (Megapodidae 20 Ar-
ten), Höhlenenten (Cassarca fadorna),
Sturmſchwalben (Oceanides), Sturm-
tauder (Puffini) , Schmucktaucher
(Phaleres) und Papageitaucher (Mor-
mon), welche alle in Erd- oder Felshöhlen
brüten; die meiſten Emuſchlüpfer (Sti-
piturus), die meiſten Schmetterlings—
finfen, die Erdkukuke (Centropus),
die alle kuppelförmige Neſter haben; die
Honigkukuke (Indicator), die ihre
Eier in die Neſter von Höhlenbrütern legen;
die Segler (Cypselidae 53 Arten), die
in Fels- oder Baumlöchern oder an ſchwan—
ken Aeſten oder an Felſen über Waſſer
ihre glacirten Neſter anbringen; die Ko—
libris (Trochilidae 390 Arten), Neſt
tief napfförmig; die Tauben (Colum-
bidae*) von denen allerdings nur ein Theil
in Höhlen brütet; die Hockohühner
(Craeidae*) wohl zum Theil Höhlenbrüter;
die meiſt in Höhlen brütenden Eulen.
2. Weißgrundige röthlich be—
punktete Eier legen: die Laubſänger
(Phyllopneustes), die Goldhähnchen
(Regulus), einige Emuſchlüpfer (Stipi-
turus), die Zaunkönige (Troglodytes),
der Hängevogel (Arachnothera), die
Baumläufer (Certhia), der Mau er—
läufer (Tychodroma), Spechtmei—
ſen (Sitta) und ein Theil der Schmetter—
lingsfinken, die alle gedeckte Neſter
haben oder in Höhlen oder Felsſpalten
brüten.
3. Weiß punktige oder ſonſt wie
gefleckte Eier haben: Sittella, Eier mit
grünlichem Fleckenkranz, Neſt ſehr verſteckt
in Baumzweigen, und die Wiedehopfe
(Upupidae“) mit nicht conſtanter Nift-
weiſe, meiſt in Löchern.
4. Einfarbig ſpangrüne oder
blau grüne oder bläulichweiße, alfo
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
ebenfalls leicht ſichtbare Eier haben: ein
Theil der Rothſchwänze (Rubieillae),
die meiſten Steinſchmätzer (Saxicola), die
Steinröthel (Petroeinelus), Trauer—
fliegenfäng er (Muscicapa), und Staare,
die alle in Höhlen oder gedeckt brüten.
5. Einfarbig röthlich weiße,
alſo ebenfalls leicht ſichtbare Eier haben:
Schmuckvögel (Ampelidae), Neſt kugel—
förmig in Baumlöchern oder im aufgewühl⸗
ten Boden ſtehend, und die Witt wen
(Vidua colinpasser) mit ſackförmigem Neſt.
Am ſchönſten illuſtriren unſere Theorie
die Schwalben (Hirundinidae). Nach
ihrer Art zu niſten — ſie bauen über
Waſſer an Felſen, geſchützte Neſter an
Bäumen, in Erd-, Felſen- oder Baum⸗
ritzen und Löcher — kann man ſie in drei
Gruppen unterbringen: 3
1. Neſt wenig geſchützt, doch innerhalb
gedeckter Räume: Rauchſchwalben,
Eier weiß, aſchgrau und roth—
braun bepunktet.
2. Neſt unzugänglicher, meiſt an Fel—
ſen: Ariel, Felſenſchwalbe, Fa—
denſchwalbe: Eier weiß, ſpärlich
roth gefleckt.
3. Neſt ganz kugelförmig, in einem
Baumloche oder an ähnlichem Orte (Erd—
loch): Mehlſchwalbe, Uferſchwalbe,
Purpurſchwalbe: Eier rein weiß.
Aus Obigem geht hervor, daß die
Verſtecktbrüter in der Regel rein weiße,
höchſtens röthlich gefleckte, jedenfalls nach ihrer
Farbe mit der Umgegend nicht harmonirende
Eier legen. Eine Anzahl Namen ſind mit
bezeichnet; von den Beſitzern derſelben
hege ich die Meinung, daß dieſelben a priori
Höhlenbrüter geweſen ſind und entweder
a) durch raſche Vermehrung zum Theil ge—
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
nöthigt wurden, von ihrer Gewohnheit ab—
zuſtehen, da ſie ſelbſt nicht im Stande ſind,
ſich eigene Höhlen darzuſtellen; b) die Ge—
wohnheit des Brütens in Höhlen unnöthig
wurde durch Verminderung ihrer natürli—
chen Feinde; e) indem ſie verlorene Bruten
höchſt leicht zu reproduciren vermögen oder
anderen Vögeln, wie der Honigkukuk dies
thut, ihre Eier aufbürden; oder d) wehr—
hafte Vögel ſind, welche ihren jetzigen Brut—
feinden Trotz bieten können, während dies
früher vielleicht nicht in gleichem Grade
der Fall war. Man könnte nun, auf
dieſe Thatſachen geſtützt, wohl verſucht
ſein zu ſchließen, ein weißes Ei gehöre
einem Verſtecktbrüter an; doch iſt dieſer
Satz nur in beſchränktem Grade richtig.
Die hauptſächlichſten Ausnahmen — Vögel
mit weißen oder doch durch ſehr helle Fär—
bung auffallenden Eiern, welche keine Deckung
durch die Art des Niſtens haben — wer—
den folgende ſein:
1. Padda oryzivora, Reisvogel, baut
häufig Neſter, in welche eingeſehen werden
kann; doch werden auch viele zwiſchen die
Schmarotzer und Schlinggewächſe, welche
die Arengapalme umkleiden, untergebracht;
die 6—8 Eier find weiß. Die für einen
Fink bedeutende Eierzahl zeigt, daß der
Mangel einer günſtigeren Neſt- oder Brut-
beſchaffenheit hier wohl durch Maſſenpro—
duction ſeinen Ausgleich findet; zudem kann
es zutreffen, daß die dem Blicke ausge—
ſetzten Neſter noch jungen unerfahrenen
Vögeln angehören und die Zerſtörung der
Nachkommenſchaft in der Folge zur verſteckten
Neſtanlage antreibt.
2. Lagonostieta
minima, kleiner
Senegali, baut ein der Umgebung ſehr
ähnelndes Neſtchen und legt weiße Eier
hinein.
2. Podargus humeralis, Rieſenſchwalm,
215
baut ein ſehr ſchlechtes, theilweiſe durch—
ſichtiges Neſt auf niedere Aeſte und legt
weiße Eier hinein. Die leichtſchnäbligen
Verwandten dieſes Vogels ſind ſämmtlich
Höhlenbrüter und legen weiße Eier; ich
halte es für wahrſcheinlich, daß der Podar-
gus ehemals gleichfalls Höhlenbrüter war.
„Beide Geſchlechter“, heißt es in Brehm's
Thierleben, Band 3, S. 685 f., „theilen
ſich in das Geſchäft der Brut; das Männ—
chen brütet gewönlich nachts, das Weibchen
bei Tage. Erſteres ſorgt allein für die
ausgebrütete Familie. Iſt das Neſt den
Sonnenſtrahlen zu ſehr ausgeſetzt und ſind
die Jungen ſo groß, daß die Mutter ſie
nicht mehr bedecken kann, ſo werden ſie von
den Alten aufgenommen und in eine Baum
höhle gebracht.“ Vielleicht ſtanden die
Schwalme von ihrer urſprünglichen Niſt—
weiſe in Baumhöhlen ab, weil in Auſtralien,
ihrem jetzigen Vaterlande, wenig Raub—
thiere ſind. Geſchickte Neſtbauer ſind ſie
in der That gewiß eben ſo wenig, als die
Tauben. Letztere legen ſämmtlich (meiſt 2)
weiße Eier, ſind beidergeſchlechtlich geſchmückt
und nur in denjenigen Ländern als Offen—
brüter häufig, wo baumkletternde Raubthiere
und gewiſſe Raubvögel fehlen. In Deutſchland
vermag ſich die Hohltaube, Columba oenas,
wohl deshalb am häufigſten zu erhalten,
weil ſie Höhlenbrüterin iſt. Aus eigener
Erfahrung weiß ich beſtimmt, daß die Eier
der Ringel- und Turteltaube ſehr häufig
dem Eier ſuchenden Häher (Garrulus glan-
darius) zum Opfer fallen. Hätten dieſe
Tauben nicht die Fähigkeit, wiederholt, oft
vier- bis fünfmal hintereinander, die Brut
zu erneuern, ſo würde wohl die weiße
Färbung ihrer Eier bei offener Niſtweiſe
ein baldiges Ausſterben zur Folge haben.
4. Crotophagae, Madenfreſſer, niſten
gemeinſchaftlich, legen weiße Eier, ihre nächſten
216
Verwandten bauen kuppelförmige Neſter.
Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß
bei gemeinſchaftlichem Brüteſyſtem die Eier
dem Blicke ſtets verborgen gehalten werden.
5. Pezoporus formosus, Erdpapagei,
iſt ein echter Papagei mit Kletterfüßen;
er hat offenbar ſeine ehemalige Lebensweiſe
geändert und legt ſeine weißen Eier auf
die Erde. Er lebt in Südauſtralien, einem
an Raubthieren armen Lande; ſein ähnlich
lebender Vetter, der Kakapo (Stringops)
niſtet noch in Höhlen, im Boden oder in
hohlen niederen Bäumen.
6. Gyps fulvus, Gänſegeier, Hali-
aetus, Seeadler, Circus, Weihe, und eine
ziemliche Anzahl anderer größerer Raub—
vögel legen weiße, übrigens oft variirende
Eier, ebenſo viele Störche und größere
Schwimmvögel. Die Wehrhaftigkeit ihrer
Beſitzer erklärt dieſen Umſtand, wie ich
glaube, hinlänglich; außerdem werden die
Neſter dieſer Vögel oft an den unzugäng—
lichſten Plätzen — auf hohen Felſen, Rieſen—
bäumen oder im Sumpfe angelegt und die
Sumpf- und Waſſervögel brüten meiſt ge—
ſellſchaftlich. Intereſſant iſt auch, daß
manche Eier durch die Stärke ihrer Schale
geſchützt ſind, z. B. dasjenige des Schwans:
der Rohrweih (Circus rukus), ein arger
Neſtplünderer, vermag es nicht zu zer—
ſtören.
Zweite Abtheilung.
Die Eier werden in ein Neſt gelegt,
welches oben offen iſt und können daher
von vorüberfliegenden Eierräubern leicht
bemerkt werden. Die nicht wehrhaften offen—
brütenden Weibchen tragen in dieſem Falle
eine Färbung, welche mit der Umgebung
übereinſtimmt (z. B. die des Bodens,
dunkler Erde oder hellen Sandes, der
Baumäſte oder des Blattgrüns), während
‚(Caprimulgidae),
von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
die Männchen, welche entweder gar nicht
oder nur ausnahmsweiſe, z. B. in den
ſtillen Mittagsſtunden, brüten, ein durch
geſchlechtliche Auswahl, fixirtes Pracht- oder
Hochzeitsgefieder haben können. Die Eier
ſind entweder durch ihren Grundton oder
durch Fleckenzeichnung ſchützend gefärbt.
1. Die Vögel, welche auf Bäume
und Gebüſche offene Neſter ſtellen, haben
Eier, welche ſehr häufig grün oder hellgrau
(hellbraun ꝛc.) mit dunkleren Zeichnungen
verſehen ſind, der Farbe der Flechten oder
der Niſtſtoffe ſich alſo anpaſſen. Dahin
gehören die Droſſeln (Turdidae 200 Arten),
die meiſten Sänger (Sylviidae 640
Arten), Finken, Ammern und Tangaren,
die entweder in beiden Geſchlechtern oder
wenigſtens im weiblichen auf dem Rücken
ſchützend gefärbt ſind; ferner die Würger
(Laniidae 145 Arten), bei denen inter—
eſſant iſt, daß bei den ſchwächeren Arten die
Weibchen häufiger Schutzfarben tragen, als
bei den kräftigeren; die Raben (Corvidae),
die theils ſchützend gefärbt, theils wehrhaft
ſind und bei denen die verſteckt Brütenden
(Dohle und Elſter) minder gefleckte Eier
haben; die Kukuke (Cueulus), deren
Eier mit der Eierfarbe der Pflegeeltern
harmoniren; bei den Falken haben im
allgemeinen die kleineren Arten beſſere
Schutzfarben an ihren Eiern, als die
großen; von den Lärmdroſſeln (Tima-
liidae mit 240 Arten) bauen die wenigen,
mir nach ihrer Niſtweiſe bekannten Arten
entweder ein flaches Neſt mit ſtarkgefleckten
Eiern oder ein kuppelförmiges mit weißen
ſchwachgefleckten Eiern, welche mithin zur
erſten Abtheilung gehören.
2. Die auf der Erde brütenden Ler—
chen (Alaudidae 110 Arten), Pieper
(Anthus 30 Arten), Ziegenmelker
Sandflughühner
von Reichenau, Die Farbe der Vogeieier.
(Pteroclidae 16 Arten) Streitlauf—
hühner (Turnieidae), Waſſerhühner
und Rallen (153 Arten), Schnepfen—
vögel (121 Arten), Brachſchwalben
(Glareolidae 20 Arten), Regenpfeifer
(Charadriidae 101 Arten) und Trappen
haben alle bodenfarbige Eier und die Thiere
ſelbſt tragen eine Schutzfarbe. Beſondere Er—
wähnung verdienen von den Bodenbrütern fol—
gende: Bei den Tetraoniden (170 Arten) iſt
mindeſtens das Weibchen ſchützend gefärbt
und die Eier ſind um ſo erdfarbener, je
erponirter das Neſt ſteht und umgekehrt;
die Faſan hühner, (Phasianidae) und
Steißhühner (Tinamidae) legen meiſt
weißliche alſo unbeſchützte Eier, gehören
alſo unter die Ausnahmen; die Kraniche
brüten auf ſumpfigem Boden (wie es ſcheint,
mit einigen Ausnahmen, z. B. vom
Pfauenkranich, Balearica); das Weib—
chen des gemeinen Kranichs ſchafft ſich zur
Legzeit nach E. v. Homeyer's Beobachtun—
gen, ſein röthliches Schutzgewand ſelbſt
durch Auftragen von Sumpferde mit dem
Schnabel, und die Eier ſind auf grün—
lichem Grunde braun gefleckt, haben alſo
die Farbe der Niſtſtoffe, des Schilfes und
der Binſen; die Möven und Seeſchwal—
ben (132 Arten) legen ſchutzfarbige Eier
auf den Boden, aber die Färbung dieſer
ſtreitbaren Vögel iſt nur im Jugendkleid
bodenfarbig.
Aus der Menge der angeführten That⸗
ſachen geht hervor, daß alle Offenbrüter,
wenn nicht ganz beſondere Umſtände walten,
ſchützend gefärbte Eier legen. Außer den
ſchon oben angeführten Ausnahmen, deren
ſcheinbaren Widerſpruch mit der aufgeſtellten
Theorie ich zu erklären und zu beſeitigen
verſucht, giebt es aber noch einige andere:
1) Die Tyrannen-Fliegenfünger (Tyranni—
dae) legen in offene Neſter helle Eier; die
217
beiden Gatten, namentlich aber das Männ—
chen, ſind höchſt ſtreitſüchtig, greifen ſelbſt
Habichte und Adler an, und das Weibchen
brütet ſehr feſt. Dieſe Eigenſchaften er—
klären, nach meiner Anſicht, die ſcheinbare Aus—
nahme hinlänglich. 2) Nicht wenige Hühner
aus den tropiſchen Wald- und Dſchungel—
gegenden, zu den Phasianidae und Tina-
midae gehörig, legen im Dickicht auf den
Boden weiße oder doch ſehr helle Eier. An
Raubzeug aller Art fehlt es in den dortigen
Gegenden nicht. Das Weibchen allein brütet
und trägt ein ſchützendes Gefieder, während
das Männchen oft prachtvolle Putzent⸗
faltung zur Schau trägt. Der Niſtplatz
wird ſehr gut gewählt, wodurch viele Feinde
umgangen werden. Die Haupturſache, welche
die Erhaltung der Arten ermöglichte, ſcheint
mir indeß darin zu liegen, daß die Eier
in Menge producirt werden. Die meiſten
Hühner legen mindeſtens 6—18 und mehr
Eier in ein Neſt und haben die Fähig⸗
keit, fehlende zu ergänzen. Wenn nun
blos ein Gelege aufkommt, während
acht andere ihren gänzlichen Untergang
finden, und das gedachte Neſt wie wir im
Durchſchnitt annehmen können, 9 Eier hat,
ſo kommen in einem Jahre, ſelbſt wenn
die übrigen Hennen, was ganz unwahr—
ſcheinlich iſt, nicht mehr brüten ſollten, doch
9 Junge auf. Da nun das durchſchnitt—
liche Lebensalter eines Hühnervogels ſicher
mehr als drei Jahre beträgt, ſo werden die
alten Vögel bald mehr denn erſetzt. Die Ver—
hältniſſe müſſen in der That äußerſt ungünſtig
für die Hühnervögel liegen, und die Brutweiſe
wird hier mit ſchuld ſein, denn ſonſt würde
ihre Vermehrung in's Unglaubliche gehen.
Die kleinen Meiſen legen ebenfalls eine große
Anzahl Eier und bringen ihre Kinderſchaar
meiſt zum Ausfliegen, da ſie in ſicheren Höhlen
brüten. Bei ihnen liegt wohl eine andere
EP PPSESSSESESSEESEESESEEEEEEE
218 von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier.
Urſache zu Grunde, daß ſie ſich nicht rapid
vermehren können: Häher und Sperber
nähren ſich zu Zeiten faſt allein mit den
eine wirkliche Ausnahme von der Regel,
daß Offen- und Erdbrüter, ſelbſt wenn ſie
nicht wehrhaft ſind, immer ſchützendgefärbte
ſchlechtfliegenden noch jugendlichen Thierchen. Eier legen: Die Erhaltung der Art
In geringerem Grade, aber noch oft wird dann erreicht, wenn Maſſen—
genug, fallen die ebenfalls ſchlecht fliegenden production an Stelle der ſchützen—
Hühner ſtärkeren Raubthieren (Säugethieren den Aehnlichkeit tritt.
und Vögeln) zur Beute. — Es giebt alſo
An der unteren Grenze des pflanzlichen Gelchlechtslehens.
Von
Dr. Arnold Dodel- Dort.
deren ab — lehrt uns die
DAR
u) . Höhere ſtammt vom Nie—
Biologie an allen
ſich das Zuſammengeſetzte.
Wir ſelbſt haben uns mit der Wahrſchein—
lichkeit vertraut zu machen, daß unſere
älteſten Vorfahren mikroſkopiſch kleine Lebe—
weſen darſtellten, die vor ungezählten Jahr—
tauſenden in den Waſſern der Urmeere ihr
Daſein friſteten. Und wenn uns im Thal
die Blüthenpracht des Mai erfreut, wenn
wir, im Hochſommer die Alpen durchſtrei—
fend, die Herrlichkeiten der Gebirgsflora
genießen, ſo müſſen wir uns daran erin—
nern, daß alle blühenden Gewächſe von
blumenloſen, niedrigeren Pflanzen abſtam—
men, deren älteſte Vorfahren ebenfalls mi—
kroſkopiſch kleine Organismen darſtellten,
die kaum den Namen einer Zelle verdien—
ten und ebenfalls Bewohner des Salz—
waſſers waren.
Auch heute noch finden wir die niedrig—
ſten Pflanzen und Thiere im Waſſer.
Manche derſelben ſind von ſo einfachem
Bau, daß wir uns nach ihrer Erſcheinung
eine gewiß annähernd richtige Vorſtellung
Enden.
Aus dem Einfachen entwickelte
|
von den erſten Lebeweſen überhaupt zu
bilden vermögen. Ihre ganze Entwickelungs—
geſchichte läßt ſich in zwei Worte zuſammen—
faſſen: Wachſen ohne Gliederung und hier—
auf folgende Zweitheilung in Hälften, die
wieder zu derſelben Größe heranwachſen,
um ſich wieder zu theilen.
Die Natur iſt aber nicht auf derſelben
Stufe ſtehen geblieben. Aus einzelligen
Organismen bildete ſie zwei- und mehr—
zellige, indem die durch Theilung aus einer
Mutterzelle hervorgehenden Tochterzellen
ſich nicht mehr von einander trennten, ſon—
dern als Zellreihe oder Zellſchicht oder
Zellhaufen in einer „Colonie“ vereinigt
blieben. Hat dieſer Zellkomplex eine ge—
wiſſe Größe erreicht, ſo beginnen die durch
weitere Theilung entſtehenden Tochterzellen
ſich wieder vom Ganzen abzulöſen und
jede für ſich iſolirt ein ſelbſtſtändiges Leben
zu führen, wachſend, ſich wiederholt zwei—
theilend, um eine neue Colonie, einen neuen
Zellkomplex zu bilden, der ſich wieder
ebenſo verhält, wie die Muttercolonie.
Die vom mütterlichen Organismus ſich
ablöſenden, eine ſelbſtſtändige Entwickelung
antretenden Tochterzellen ſind die auf dieſer
NETTE
250
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
Stufe noch ungeſchlechtlichen Fort- Weiſe, wie die vegetativen Zellen der jungen
pflanzungszellen. Bei vielen im
Waſſer lebenden Pflanzen ſind es kugelige
oder birnförmige Körper, die lebhaft um—
herſchwimmen und daher den Namen
Schwärmſporen erhielten, wegen ihrer
thierähnlichen Bewegungsart auch Zo o—
ſporen genannt wurden.
während einiger Zeit herumgetummelt, ſo
ſetzen ſie ſich irgendwo feſt und beginnen
entweder ſoſort zu keimen und ſich zu einer
neuen mehrzelligen Pflanze zu entwickeln,
oder ſie machen erſt eine kürzere oder län—
gere Ruheperiode durch, ehe ſie ihre vege- |
tative Entwickelung beginnen und je einer
neuen Zellcolonie das Daſein geben.
Auch hier iſt die ganze Entwickelungs—
geſchichte von der Wiege bis zum Grabe
immer noch ſehr einfach: Die Pflanze be—
ginnt mit einer einzigen Zelle, in unſerem
vorliegenden Falle ſpeciell mit einer zur
Haben ſie ſich
Colonie, einfach durch Zweitheilung.
Aber ein kleiner Schritt führt hin—
über an die untere Grenze des Ge—
ſchlechtslebens.
Die vergleichende Entwickelungsgeſchichte
hat dem Biologen gezeigt, wie die Natur
Schritt um Schritt, langſam vom Ein—
fachſten zum Complicirteſten vorſchreitend,
nach und nach jene hohe Stufe der Diffe—
renzirung zu erreichen vermochte, die wir
heute an den höchſten Pflanzen und Thieren
bewundern.
Natura non facit saltum! Die Na—
tur macht keinen Sprung — ſo lautet ein
Ruhe gelangten Schwärmſpore, die in der
Folge wächſt, ſich dann in zwei Zellen
theilt, von denen jede weiter wächſt und
ſich ebenfalls theilt, ohne die Tochterzellen
aus einander treten zu laſſen, und ſo fort,
bis der Zellkomplex, alſo die neue mehr—
zellige Pflanze, eine gewiſſe Größe erreicht
hat, worauf dann die durch einmalige oder
wiederholte Zweitheilung entſtehenden Toch—
terzellen letzter Generation aus einander
treten und als Schwärmſporen den ge—
ſchilderten Entwickelungsgang wieder von
Neuem beginnen.
Hier zeigt ſich im ganzen Leben der
Pflanze noch keine Spur von Geſchlechtlich—
keit. Die Fortpflanzung erſcheint nur wie
ein ſpeciell für die Vermehrung abgeänder—
ter Vorgang, als ein Wachsthumsproceß
über die Grenze der gewöhnlichen vegetati-⸗
ven Entwickelung hinaus. Die Schwärm—
ſporen bilden ſich ſogar ganz auf ähnliche
Ausſpruch Linné's, für welchen die
Darwin'ſche Abſtammungslehre die Be—
gründung nachlieferte. Die Biologen wer—
den darum auch die Aufgabe zu löſen haben,
an jeder Stelle im großen Lehrgebäude der
neueren Schöpfungsgeſchichte das verbindende
Material für die einzelnen Theile als rich—
tig erkannte Thatſachen beizubringen. Erſt
wenn alle Fugen und Riſſe mit gutem
Baumaterial ausgefüllt ſein werden, können
wir den Coloſſal-Bau der Descendenz-
Theorie getroft allen Unbilden von Sturm
und Wetter preisgeben.
Die geſchlechtliche Fortpflanzung muß
ihren Urſprung aus der ungeſchlechtlichen
Vermehrung genommen haben. Der Ueber—
gang von der einen zur anderen Fort—
pflanzungsart mußte durch zahlreiche Zwi—
ſchenſtufen vermittelt werden; ja dieſe Zwi—
ſchenſtufen mußten ſo zu ſagen nur als
Ergebniſſe eines glücklichen Zufalls ins
Daſein treten, die von der überall wal—
tenden Macht der natürlichen Zuchtwahl er—
griffen und zur weiteren Differenzirung der
lebenden Natur nutzbar gemacht wurden.
Die Entwickelungsgeſchichte der leben—
den Pflanzenwelt hat uns zwiſchen den
zwei Extremen in der Reihe geſchlechtlicher
Fortpflanzungsarten, zwiſchen der niedrig—
ſten Stufe ſexueller Proceſſe — der Co—
pulation zweier gleichartiger Zellen zur
Bildung einer ſogenannten Jochſpore —
einerſeits, und der höchſten ſexuellen Diffe—
renzirung in der Bildung von Eizellen und
Blüthenſtaubkörnern zur Erzeugung eines
in die Samenhüllen eingeſchloſſenen Embryo
andererſeits, zahlloſe Uebergangsformen von
Fortpflanzungsarten eröffnet, ſo daß ſich
heute kein Biologe mehr des Gedankens
der Abſtammung erwehren kann, wenn er
die ganze Reihe jener Erſcheinungen über—
blickt.
Aber es bleibt uns unter Anderem
noch zu zeigen, wie wir uns den Anfang
der geſchlechtlichen Fortpflanzung zu denken
haben. Auch hierüber dürfte uns die lebende
Natur die beſte Belehrung bieten. Suchen
wir danach, ſo werden wir ſie finden.
Einiges hat ſie uns bereits offenbart, was
die Wiſſenſchaft dankbar regiſtrirte.
Zu dem Wichtigſten in dieſer Beziehung
gehört unſtreitig die von Prof. Dr. N.
Pringsheim zuerſt entdeckte Paarung
der Schwärmſporen bei Pandorina
Morum, über welche Erſcheinung er im
Spätjahr 1869 der Berliner Akademie
berichtete. Seine Entdeckung war für die
Erforſchung der pflanzlichen Sexualproceſſe
wohl ebenſo fruchtbringend und anregend,
wie ſeiner Zeit die erſte Entdeckung von
Geſchlechtsorganen bei Farnen, die wir
Nägeli verdanken.
Schon im Frühjahr 1870 beobachtete
Prof. Dr. C. Cramer die Copulation
von Schwärmſporen auch bei der Kraushaar—
Alge (Ulothrix zonata). Zu derſelben
Zeit mit jener Alge beſchäftigt, ward ich
ebenfalls auf den Paarungs-Vorgang auf—
merkſam gemacht, ohne jedoch davon mehr
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
221
zu profitiren als zwei colorirte Tafeln mi—
kroskopiſcher Zeichnungen und einige wenige
Notizen über den dort dargeſtellten Copu—
lations-Akt. Cramer war der erſte, der
über die Copulation der Ulothrix-Schwärmer
einen Aufſatz publicirte (Vierteljahrsſchr.
der naturf. Ge. zu Zürich Bd. XV.),
während meine aus gleicher Zeit ſtam—
menden Zeichnungen die erſten waren, welche
über dieſen Vorgang aufgenommen wurden.
So viel zur Richtigſtellung eines unfrucht—
baren Prioritätsſtreites.
Im Frühjahr 1875 ward ich neuer—
dings veranlaßt, die Kraushaar-Alge einer
Unterſuchung zu unterziehen, die mich wäh—
rend 14 Monaten faſt ohne Unterbrechung
an die intereſſante Pflanze feſſelte. Dieſe
Arbeit brachte eine ſolche Fülle frappanter
Reſultate, daß ich mich entſchließen mußte,
dieſelben in Geſtalt einer Monographie
herauszugeben (vergl. Jahrb. f. wiſſ. Bot.
Bd. X. Engelmann, 1876). Hier ein
kurzer Abriß der Hauptergebniſſe dieſer
Arbeit.
Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata)
iſt ein weitverbreitetes Süßwaſſergewächs,
welches in älteren Pflanzen-Syſtemen unter
den Conferven (Fadenalgen) aufgezählt
wurde. Sie erſcheint ſeit vielen Jahren
regelmäßig jeden Winter in Form von
Fadenbüſcheln an den oberen Baſſins des
Springbrunnens vor dem Polytechnicum
in Zürich, wo ſie oft während der kalten
Nächte in ſtarre Eiszapfen eingefriert um
jeweilen am Morgen wieder aufzuthauen,
ohne in ihrer Entwicklung und Fortpflanzung
dadurch gehemmt zu werden. Die gleiche
Alge habe ich übrigens auch in verſchiedenen
Brunnenbetten von Zürich und Umgebung
in Geſellſchaft mit andern Algen angetroffen,
ebenſo in kleineren Bächen, welche während
der Schneeſchmelze von den Höhen des
eh an
222
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
Zürcherberges thalwärts fließen und auf
ihrem Grunde oft eine vielgeſtaltige Algen-
flora ernähren.
Rabenhorſt giebt in
ſeiner „Kryptogamen-Flora von Sachſen“ ꝛc.
folgende Standorte an: In der Weiſeritz,
Biela, bei Elſter, bei Bautzen und Leipzig,
bei Zittau. Nach verſchiedenen anderen
Kryptogamiſten darf angenommen werden,
daß Ulothrix zonata in ganz Mittel-
Europa bis zu den Alpen häufig vorkommt.
Die Länge der ſattgrünen Ulothrix⸗
Fäden variirt nach Standort und Jahres-
Während ſie in den
zeit ungemein ſtark.
meiſten Fällen kaum mehr als 5— 10 Eenti-
meter erreicht, habe ich doch im März 1876
am Springbrunnenbaſſin vor dem zürche—
riſchen Polytechnicum Kraushaar-Algen ge—
ſehen, welche die anſehnliche Länge von 50
und mehr Centimeter erreichten.
Alle Fäden von Ulothrix zonata find
unverzweigte Zellreihen, deren einzelne Zellen
im vegetativen Zuſtande cpylindriſche
oder ſchwach tonnenförmig aufgetriebene Kam—
mern darſtellen. Die Querwände zwiſchen
den aufeinander folgenden Zellen ſtehen
jederzeit ſenkrecht zur Längsaxe des Fadens.
Die cylindriſche Wand iſt in den meiſten
Fällen kürzer als der Quer-Durchmeſſer
der Zelle; nur bei ganz jungen Zellreihen
(Fig. 1 A & Hv) übertrifft die Länge
der einzelnen Zelle die Fadendicke.
Im vegetativen Zuſtand findet ſich in
jeder Zelle ein grüner Plasmagürtel, welcher
die Mittelzone der cylindriſchen Längswand
einnimmt. Er enthält meiſtens auch ein
bis mehrere „Chlorophyllbläschen“, die als
kugelige Körper von lebhaft grüner Farbe
in's Innere der mit farbloſer Flüſſigkeit
erfüllten Zelle vorſpringen. Häufig erkennt
man auch im Chlorophyllgürtel den wand—
ſtändigen farbloſen Zellkern. Die in Fig. 1
A & II dargeſtellten Faden und Faden—
ſtücke zeigen die typiſche Form der Kraus—
haaralge im vegetativen Zuſtand. Die
hiervon abweichenden Formen habe ich an
genannter Stelle einläßlich beſprochen; wir
können ſie hier übergehen. .
Die Fäden wachſen dadurch in die Länge,
daß ſich jede einzelne Zelle ſtreckt und nach
Erreichung einer gewiſſen Größe ſich durch
eine horizontale Querwand in zwei gleich—
große Tochterzellen theilt, von denen ſich
jede wieder ebenſo verhält, wie die Mutter—
zelle. Dieſes allſeitige Längewachsthum
dauert ſo lange an, bis der Algenfaden
eine beträchtliche Länge erreicht hat und ſich
dann anſchickt, Fortpflanzungszellen, d. h.
Schwärmſporen zu bilden.
Während des Winters pflanzt ſich die
Kraushaar-Alge in der Regel nur durch
große Schwärmſporen, ſogenannte Ma—
krozooſporen fort, die entweder einzeln,
oder zu zwei oder zu vier in jeder Faden⸗
zelle entſtehen. f
Bevor dieſe Schwärmſporen gebildet
werden, vermehrt ſich das grüne Plasma
in jeder Fadenzelle derart, daß die ganze
Innenwand von demſelben bedeckt wird.
Der grüne Gürtel breitet ſich auf die ganze
cylindriſche Zellwand aus und ſchließlich
werden auch die ebenen Querwände von
demſelben bedeckt. Dann kann zweierlei
eintreten: Entweder bildet ſich der ganze
Zellinhalt in eine einzige große Schwärm—
ſpore um, an welcher ſchon in der Mutter—
zelle ein rother Pigmentfleck (r in Fig. 1 B)
ſichtbar wird, oder es theilt ſich der Zell—
inhalt erſt durch eine horizontale Trennungs—
fläche in zwei gleich große Portionen, die
entweder ſofort in Schwärmſporen ver-
wandelt werden oder ſelbſt eine nochmalige
Zweitheilung erleiden, wobei vier Makro⸗
zooſporen reſultiren. (Fig. 1 B und C, m“
und m4).
A. Stück eines Fadens im
vegetativen Zuſtand. Jede
Zelle beſitzt ein gürtel—
förmiges grünes Band.
Stück eines Fadens mit
reifen Makrozooſporen,
die einzeln oder zu zwei
in einer Zelle entſtanden.
Am obern Theil dieſes
Fadenſtücks entleeren zwei
Zellen bereits ihren In⸗
halt in Form je einer
großen Makrozooſpore.
r rother Augenfleck.
5 C. Stück eines Fadens, in
deſſen Zellen ausſchließ—
lich Makrozooſporen ent—
ſtanden und zwar je 2
oder 4 in einer Mutter⸗
zelle. g“ und g“ ver⸗
ſchiedene Geburtsſtadien
je zweier Makrozooſporen.
g“ Geburt von 4 in einer
Zelle entſtandenen Ma⸗
krozooſporen. gb Geburts⸗
ballen einer ſoeben ent-
leerten Zelle, zwei Mafro-
zooſporen enthaltend, gb“
ein Geburtsballen mit je
4 reifen Makrozooſporen.
D. Vier aus einander tretende
Makrozooſporen. uB Um⸗
hüllungsblaſe. eB centrale
E Blaſe.
E. Eine zur Ruhe gelangende
Makrozooſpore. G dieſelbe
ſchief von hinten geſehen.
H. I iv Makrozooſporen u.
die aus denſelben hervor—
2 gehenden Pflänzchen.
Bu, r rother Augenfleck der
. Zooſpore.
Fig. 1.
Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata).
Erſcheinungen der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung.
(Vergrößerung 400 : 1.) 2
5
224
Während des Heranreifens der Schwärm—
ſporen nehmen die Mutterzellen viel Waſſer
auf und ſchwellen mehr oder weniger ſtark
tonnenförmig an. Endlich öffnet ſich die
einzelne Fadenzelle ſeitlich an der eylindriſchen
Wand durch Zerfließen eines Membran—
ſtückes; der raſch noch mehr Waſſer auf—
nehmende Inhalt tritt durch die kleine Oeff—
nung heraus (Fig. 1 B und C, g, g“,
g“) und rundet ſich ſofort zu einem kuge—
ligen Geburtsballen ab. Enthält der letztere
zwei oder vier Makrozooſporen, ſo erkennt
man leicht eine farbloſe, waſſerhelle Um—
hüllungsblaſe (u B in Fig. 1 C, gb, g“,
g“ und D), welche den ganzen Ballen nach
Außen abgrenzt. Im Innern findet ſich
nebſt den 2 oder 4 Makrozooſporen noch
eine kleinere waſſerhelle Blaſe (e B in
Fig. 1 D), die man im Gegenſatz zu jener
die centrale Blaſe genannt hat. Alle Be—
ſtandtheile des Geburtsballens nehmen
während und nach dem Austritt aus der
Mutterzelle ſo raſch Waſſer auf, daß die
Umhüllungsblaſe ſowohl als auch die centrale
Blaſe im Waſſer zerfließen und die ſich
abrundenden Schwärmſporen vollſtändig in
Freiheit ſetzen. Dieſe letzteren zeigen eine
kugelig⸗birnförmige oder eiförmige Geſtalt
und tragen am vorderen farbloſen, ſpitzeren
Pol vier lange Cilien, die ſich lebhaft in
der Fläche eines Kegelmantels bewegen und
den ganzen Körper der Zooſpore alsbald
in eine raſche Rotation verſetzen, wobei ſich
der Schwärmer in der Richtung ſeiner
Längsaxe auch von der Stelle bewegt. In
geringer Entfernung vom vordern cilten-
tragenden Pol bemerkt man im Sporen—
körper eine pulſirende Vacuole (py in
Fig. 1 B m und D. E), die ſich regel—
mäßig alle 12—15 Sekunden plötzlich con—
trahirt, um im Verlauf der folgenden
12—15 Sekunden vom unſichtbaren An-
| |
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
a
fang bis zum Maximum ihrer Größe
wieder heranzuwachſen. Dieſe pulſirende
Vacuole — vermuthlich ein Reſpirations—
organ der thierähnlichen Primordialzelle —
iſt von einem farbloſen, feinkörnigen Plasma
umgeben, welches die Funktion der Zu—
ſammenziehung und Ausdehnung unter ganz
ähnlichen Erſcheinungen vollzieht, wie das
gleichartige Gebilde in einem Infuſorium.
Der dickere Hintertheil der Makrozooſpore
erſcheint zum größten Theil grün gefärbt.
An der Grenze zwiſchen dem grünen und
dem farbloſen Sporentheil findet ſich ein
langgeſtreckter rother Pigmentfleck, der ſo—
genannte rothe „Augenpunkt“. .
Sobald die Makrozooſporen aus der
Umhüllungsblaſe in Freiheit gelangt ſind,
treten ſie ihre Reiſe durch's Waſſer an.
Sie ſchwärmen wie kleine Thiere lebhaft
im Waſſer umher und gelangen erſt nach
längerer Zeit, meiſtens nach ca. 20 Minuten
zur Ruhe. Da ſie etwas leichter ſind als
das Waſſer, ſo ſetzen ſie ſich meiſt an
Körper feſt, die von der obern Waſſerfläche
beſpült werden. Die Cilien verlieren nach
und nach ihre Bewegungsfähigkeit, werden
ſtarr und verſchwinden, während der vordere
hyaline Pol ſich an der feſten Unterlage
niederläßt. (Fig. 1 F, G und III.)
Hierauf beginnt ſofort die Keimung
der Makrozooſpore. Der bisher nackte
Plasmakörper bekleidet ſich mit einer zarten
Holzſtoffmembran, ſtreckt ſich in die Länge
und nimmt keulenförmige Geſtalt an. Der
vordere waſſerhelle, farbloſe Pol der Makro-
zooſpore wird zum dünnen wurzelartigen
Haftorgan, der hintere grüne Zooſporen—
Pol dagegen wird zum Scheitel eines jungen
Fadens. Die Keimpflanze ſteht alſo auf
dem Kopf. Hat der keulenförmige Körper
eine gewiſſe Länge erreicht, ſo theilt er ſich
durch eine horizontale Querwand in zwei
Zellen (Fig. 1 II m), welche ſich in der
Folge weiter ſtrecken und ſich dann ebenfalls
theilen (Fig. 1 H m), wobei ein vier—
zelliges Pflänzchen reſultirt. Der rothe
Pigmentfleck erblaßt in dieſer Zeit. Wachſen
und Theilung der einzelnen Zellen folgen
nun continuirlich aufeinander, bis die neue
Pflanze ſchließlich die Länge der Mutter-
pflanze erreicht hat und endlich — aus
einigen oder vielen tauſend Zellen beſtehend
— ſelbſt zur Schwärmſporenbildung ſchreitet,
um, wie die Mutterpflanze, neuerdings un—
zähligen jungen Individuen das Daſein
gebend, ihr eigenes Leben einzubüßen.
Nirgends zeigt ſich bei dieſer Fort—
pflanzungsart Etwas, das an irgend einen
geſchlechtlichen Vorgang erinnerte. In der
That folgen ſich während des Winters nur
geſchlechtsloſe Generationen, die ſich bei
günſtiger Witterung und an geeigneten
Standorten alle 10—14 Tage wiederholen
können.
Allein mit dem Frühjahr tritt eine
neue Phaſe im Entwickelungsgang der
Kraushaaralge auf. Es erſcheinen auch
Ulothrixfäden, welche in ihren Zellen nicht
ausſchließlich große Schwärmſporen bilden,
ſondern im Theilungsproceß des Zellinhal—
tes Schritt um Schritt weiter gehen, wobei
kleine Schwärmſporen, ſogenannte Mikro—
zooſporen, zu 8, 16, 32 oder noch
mehr in einer Zelle entſtehend, gebildet
werden. Dergleichen Algenfäden bieten ein
eigenthümliches Bild dar. Da ſehen wir
in der einen Fadenzelle 2 große, in
einer benachbarten 8 kleine, in einer dritten
Zelle 4 große, in einer vierten Zelle 32
kleine, in einer fünften Zelle 16 kleine, in einer
ſechsten und ſiebenten Zelle wieder zwei oder
vier große Zooſporen u. ſ. w., am gleichen
Faden die bunteſte Abwechslung in der
| Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 225
Zahl der von den einzelnen Mutterzellen
gebildeten Makro- und Mikrozooſporen.
In der vorgeſchrittenern Jahreszeit
(am Ende des Frühlings oder am Ende
des Sommers) dagegen treffen wir in der
Regel nur noch Ulothrixfäden, die aus—
ſchließlich kleine Schwärmſporen, zu 8, 16
und 32 in jeder Zelle bilden. Dieſe
Mikrozooſporen entſtehen dadurch, daß ſich
der grüne Zellinhalt der einzelnen Faden—
zelle wiederholt zertheilt, indem er erſt in
zwei, dann in 4, 8, 16 oder 32
Theile zerfällt. Es iſt ſelbſtverſtänd—
lich, daß die einzelne Mikrozooſpore um ſo
kleiner iſt, je größer die Anzahl der
Schweſterſporen, mit welchen zuſammen ſie
die Mutterzelle erfüllt. In der That va—
riirt die Größe der Mikrozooſporen ebenſo
ſtark als die Größe der Makrsozooſporen,
da die Größe der Mutterzelle keineswegs
zur Anzahl der in ihr entſtehenden Zoo—
ſporen in Beziehung ſteht.
Die Entſtehungsweiſe, die Form und
Organiſation, wie die Art der Bewegung
der Mikrozooſpooren, alle dieſe Momente
ſtimmen mit den entſprechenden der Makro—
zooſporen jo vollſtändig überein, daß es
zwiſchen den Makro- und den Mikrozoo—
ſporen von Ulothrix zonata keinen andern
durchſchlagenden Unterſchied giebt, als die
verſchiedene Anzahl der Cilien. Während
die Makrozooſporen vier Cilien beſitzen,
ſind die Mikrozooſporen nur mit zwei
Schwingfäden ausgeſtattet; dafür beſitzen
ſie die Fähigkeit, zu zweien eine Paarung
einzugehen.
Die Mikrozooſporen werden ebenfalls
mit einer Umhüllungsblaſe (u B) und einer
centralen Blaſe (e B in Fig. 2 K) geboren.
Der Geburtsmechanismus und das Frei
werden iſt bei Mikro- und Makrozooſporen
identiſch. Der rothe „Augenpunkt“ und
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata).
Geſchlechtliche Fortpflanzung (Vergrößerung 400 : 1).
K Fadenſtück mit Mikrozooſporen. g Geburtsſtadien. eB centrale Bahn. gb Geburts—
ballen. uB Umhüllungsblaſe.
i! Vier in der Mutterzelle gefangen bleibende Mikrozooſporen.
i Einzelne Mikrozooſporen während des Schwärmens. i“ Zwei einander gegenüber—
ſtehende, ſich nur mit den vorderen Cilienenden berührende und gemeinſam rotirende
Mikrozooſporen. co Zwei ſich paarende Mikrozooſporen.
i“ Jſolirte (nicht gepaarte) Mikrozooſporen, zur Ruhe gelangend. Cilien ſtarr.
I. Fadenſtück mit nur zum Theil entleerten Zellen. ik Keimpflänzchen aus nicht copu-
lirten Mikrozooſporen, die in der Mutterzelle gefangen blieben. ik“ Keimpflänzchen aus
nicht entleerten und folglich auch nicht gepaarten Mikrozooſporen (16 in einer Zelle ein—
geſchloſſen). deg degenerirte Mikrozooſporen.
M I. vi Auf einande folgende Copulationsſtadien. vır Eine Gruppe von ſoebeu zur Ruhe
gelangten Zygoſporen.
NI Auf einander folgende Wachsthumsſtadien der Zygoſporen.
P vı-ıx Verſchiedene Zygoſporen, im Innern eine kleinere oder größere Zahl von Zoo—
ſporen enthaltend. 2
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
die pulſirende Vakuole ſind bei den kleinen
Schwärmern ebenſowohl vorhanden, als bei
den großen.
Aber wenn ſie einmal in Freiheit ge—
langt ſind, ſo bieten uns die ſchwärmenden
Mikrozooſporen ein Phänomen ganz eigener
Art dar, das wir bei den Makrozooſporen
umſonſt ſuchen würden: Es iſt die Copu—
lation. Für den Mieroſkopiker iſt die
Paarung (Copulation) der Mikrozooſporen
von Ulothrix zonata jedenfalls eine der inter—
eſſanteſten Erſcheinungen. Dieſer prämi—
tivſte Zeugungsproceß vollzieht ſich folgen—
dermaßen:
An einem Faden (K in Fig. 2)
entleeren ſich gleichzeitig oder kurz nach
einander etliche Zellen, oder es geſchieht
dies an zwei oder mehreren benachbarten
Fäden zugleich. Nach dem Zerfließen der
Umhüllungsblaſen verſchiedener Geburts—
ballen (gb in Fig. 2) wimmelt die
Flüſſigkeit alsbald von Dutzenden oder
Hunderten frei und lebhaft umherſchwär—
mender Mikrozooſporen. An verſchiedenen
Stellen des Geſichtsfeldes ſieht man ein—
zelne Schwärmſporen mit anderen ſcheinbar
in Conflikt gerathen. Es kann dies z. B.
mit den gegenſeitig ſich berührenden Cilien
geſchehen (“ in Fig. 2 K), wobei
beide Mikrozooſporen gemeinſam einige
Rotationen vollziehen, um hierauf wieder
auseinander zu weichen oder ihre gegenſei—
tige Stellung zu verbeſſern. In einem
anderen Fall ſehen wir eine lebhafte
Schwärmſpore eine andere in tollem Tanze
umkreiſen, als ob ſie dieſer die Cour
machen wollte, bis ſie beide ſchließlich mit
dem hyalinen Pol oder auch mit den Sei—
ten ſich berühren. In einem dritten Falle
prallt eine Mikrozooſpore wie ein Trunkener
auf einen anderen Schwärmer gleicher Art
227
und alsbald beginnt ein gemeinſamer, anfangs
ſehr lebhafter Tanz, der nach und nach in
eine beſonnenere, aber unregelmäßigere Rota-
tion übergeht. Damit hat die Copulation
den Anfang genommen. Sobald die zwei
birnfömigen Körper in eine ſolche Lage zu
einander gekommen ſind, daß ihre Längs—
axen parallel verlaufen oder in der Rich—
tung nach vorn convergiren, beginnt der
Verſchmelzungsproceß (Fig. 2 M ı bis Mv)
Dieſer nimmt ſeinen Anfang am farbloſen,
cilientragenden Pol der zwei nach gleicher
Richtung ſchauenden, ſich innig berührenden
Mikrozooſporen und ſchreitet von da rück—
wärts zum grünen, abgerundeten, dickern
Hintertheil. Die Copulationsfläche der
beiden Zooſporen iſt in der Regel ganz
frei von gefärbtem Plasma, die rothen
Augenpunkte ſind einander abgekehrt. Nach
einiger Zeit bilden die Copulations-Objekte
einen herzförmigen Körper mit je zwei
Cilien am vorderen Ende, zwei ſeitlich ge—
legenen rothen Pigmentflecken und einer
ſeichten Einbuchtung am hintern grünen
Pole (Fig. 2. Mu und m). Die Ver⸗
ſchmelzung ſchreitet aber weiter bis das
copulirte Paar nur noch einen einzigen
birnförmigen oder eiförmigen Körper dar
ſtellt, der ſich von einer gewöhnlichen
Schwärmſpore nur noch durch die zwei
rothen Pigmentflecke unterſcheidet. Die Cilien
bewegen ſich immer langſamer, bis nach
kürzern und längern Pauſen ſchließlich
vollſtändig Ruhe eintritt, indem die Cilien
erſtarren und endlich vollſtändig verſchwin—
den (Fig. 2 M ıv bis vn). Der ganze
Paarungs-Vorgang vollzieht ſich in der
Regel ſehr ſchnell, vom beginnenden Schwär—
men bis zur eintretenden Ruhe in 10—20
Minuten. Indeſſen habe ich einmal die
Copulation dreier zu einem Körper zu—
ſammentretender Mikrozooſporen beobachtet,
Y
228 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
welcher Vorgang mehr als eine
Stunde in Anſpruch nahm.
Es iſt wohl zu beachten, daß die
Paarung nur ſtattfinden kann an Schwärm⸗
ſporen, die aus verſchiedenen Mutterzellen
ſtammen, alſo niemals an Schwärmſporen
derſelben Fadenzelle, wohl aber copuliren
ſich Mikrozoo l poren und benachbarte Zellen
eines und deſſelben Fadens.
In der Regel ſind die beiden ſich
paarenden Mikrozooſporen von gleicher
Größe und Beſchaffenheit, ſo daß wir in
der äußern Erſcheinung der zwei Zeugungs—
zellen keinerlei Geſchlechts-Differenzen er—
kennen können.
Das Produkt der Paarung nennen wir
— entſprechend dem homologen Gebilde
bei anderen Kryptogamen mit Copulation
— Zygoſpore oder Jochſpore.
Die zur Ruhe gelangenden Zygofporen
ſetzen ſich, weil ſpeciſiſch ſchwerer als das
Waſſer — auf dem Grunde feſt und
zwar ſo, daß der hyaline Pol, an welchem
die Copulation ihren Anfang nahm, ab—
wärts gekehrt erſcheint, während der grüne,
dickere Hintertheil ganz ähnlich wie bei den
zur Ruhe gelangenden und keimenden
Makrozooſporen, aufwärts ſchaut. Die
Zuygoſpore bildet nun eine Holzſtoffmembran,
nach 2—3 Tagen find die beiden rothen
Pigmentflecke erblaßt. Der grüne Inhalt
zerſtreut ſich nach und nach im ganzen
dickern Theil der Zygoſpore, während der
hyaline Pol als Haftorgan oft in ein
wurzelartiges Gebilde auswächſt. Das
ganze Gebilde — ein geſchlechtlich erzeugtes
Pflänzchen darſtellend — wächſt nun lang-
ſam heran (Fig. 2 N ibis ın), der grüne
Gehalt wird regelmäßig-körnig, die Mem—
bran verdickt ſich und wird geſchichtet.
Mittlerweile rückt der heiße Sommer heran;
alle Ulothrixfäden verſchwinden, von der
ganze
Vegetation bleiben nur noch dieſe kleinen
Zygoſporen-Pflänzchen auf dem Grunde des
Gewäſſers übrig. Auch dieſe ſiſtiren für
einige Zeit ihr Wachsthum und ent—
wickeln ſich erſt weiter, wenn die kältere
Jahreszeit wieder heranrückt. (Fig. 2 N
ıv und v). Haben die Zygoſporen am
Anfang der kalten Jahreszeit eine gewiſſe
Größe erreicht, ſo differenzirt ſich ihr
grüner Inhalt in 2, 3, 4-10 15
Schwärmſporen von ganz ähnlichem Bau,
wie die Zooſporen der Fadengenerationen
(Fig. 2 P vr bis ıx), Die reife Zygo—
ſpore ſelbſt iſt alſo eine Schwärmſporen
bildende Generation ohne Zweifel das An—
fangsglied jener Kette raſch aufeinander
folgender ungeſchlechtlicher Wintergenerati—
onen, in deren Fadenzellen nur Makrozoo—
ſporen entſtehen. Noch bleibt uns eine
Frage zu beantworten übrig: Welches
Schickſal erleiden jene Mikrozoo—
ſporen, welche aus irgend einem
Grunde die Paarung verfehlten,
keine Copulation eingingen, ſon—
dern iſolirt — ich möchte ſagen
Cölibatäre — blieben? Die Ant—
wort, welche uns die mühſam erforſchte
Entwicklungsgeſchichte der Kraushaar-Alge
auf dieſe wichtige Frage ertheilt, iſt
nicht allein an und für ſich ſehr frappant,
ſondern für die ganze Theorie vom Ge—
ſchlechtsleben der Pflanzenwelt und für die
Entwicklungslehre von eminenter Bedeutung.
Ich theile in Kürze die von mir conſtatir—
ten Thatſachen mit.
Beim Schwärmen der Mikrozooſporen
geſchieht es häuſig, daß die eine und andere
der copulationsfähigen Schwärmſporen kein
zweites Ich findet, um eine Paarung ein—
gehen zu können, ſei es, daß ſie ſich zufällig
abſeits von den übrigen Mikrozooſporen ver—
irrt, oder daß ſie nur Schweſterzellen findet,
—
welche aus der gleichen Mutterzelle mit ihr
geboren wurden und daher mit ihr keine
Paarung einzugehen gewillt ſind, ſei es, daß
ſie etwas länger in der Maſſe der zerflie—
ßenden Umhüllungsblaſe eingeſchloſſen blieb |
und erſt in Freiheit gelangte, als es zur
Copulation zu ſpät war. Alle dieſe iſolirt
ſchwärmenden Mikrozooſporen gelangen nach
einiger Zeit ebenfalls auf dem Grund des Ge—
wäſſers zur Ruhe, ganz ühnlich wie die
Zygoſporen. Sie ſetzen ſich ebenfalls mit
dem farbloſen Pol feſt, werfen ihre Cilien
ab und — beginnen zu
Sehr oft find allerdings dergleichen Mikro—
zooſporen-Keimlinge ſo ſchwach, daß ſie früher
oder ſpäter abſterben; häufig aber entwickeln
ſie ſich ganz normal, im Anfang wohl etwas
langſamer und unter mancherlei Erſcheinun—
gen, die wir hier nicht beſprechen können
(vergl. meine citirte Monographie), ſpäter
aber wachſen fie ganz ähnlich wie die Keim
pflanzen aus Makrozooſporen. Sie ver—
mögen auch ſelbſt wieder Zooſporen zu
bilden und verrathen alſo keinerlei Schwäche,
trotz unterbliebener Copulation.
Nicht ſelten findet man auch Ulothrix⸗
Fäden, in denen ſich Mikrozooſporen bilde—
ten, ohne daß dieſe alle entleert wurden.
(Fig. 1 L). Am häufigſten trifft man
vier in einer Fadenzelle gefangen bleibende
Grenze des Geſchlechtslebens.
Mikrozooſporen (Fig. 2 K i)), die gar
nicht zur Copulation gelangen und deshalb
in der Mutterzelle ſelbſt zu keimen beginnen
keimen.
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
229
alle 16 Mikrozooſporen gefangen blieben und
trotz des engen Raumes zu keimen ver—
mochten, 16 jungen Individuen das Daſein
gebend. Nebenan ſehen wir in einer Zelle
16 degenerirte Mikrozooſporen, die bei unter-
drücktem Schwärmen zu Grunde gingen.
Durch dieſe Thatſachen iſt denn der
ſchlagende Beweis geliefert, daß die Mikro—
zooſporen von Ulothrix zonata, dieſe pri-
mitipſten Geſchlechtszellen, noch nicht ſo weit
differenzirt ſind, daß ſie durchaus und
unter allen Umſtänden einen Sexualact ein—
gehen müſſen, um einem neuen Individuum
das Daſein zu geben, ſondern daß ſie, wie
die Makrozooſporen, die Fähigkeit haben,
auch ungeſchlechtlich an der Fortpflanzung
theilzunehmen.
Die Copulation erſcheint hier nur wie
ein häufig eintretender glücklicher Zu—
fall, der ebenſo gut unterbleiben kann,
ohne daß die hierzu befähigten Fortpflan—
zungszellen nutzlos zu Grunde gehen. In
den Mikrozooſporen von Ulothrix wohnen
gleichzeitig zwei Fähigkeiten:: Unge—
ſchlechtlichkeit, durch Vererbung von
den ungeſchlechtlichen Vorfahren überkommen,
und Sexualität, letztere gleichſam erſt er—
wachend, allmälig aufkeimend und daher
(Fig. 2 L ik), während die übrigen, mit
ihnen in der gleichen Zelle entſtandenen
Schwärmſporen in Freiheit gelangten und
eine Paarung eingingen. Dieſe letzteren
bilden alſo Zygoſporen, während jene erſteren
auf ungeſchlechtlichem Wege, ganz ähnlich
wie die Makrozooſporen, neuen Fäden das
Daſein geben. In Fig. 2 L ik“ habe
ich eine Fadenzelle dargeſtellt, in welcher
— —
unbeſtimmten, unfertigen Charakters.
Dieſe Pflanze ſteht alſo an der untern
Ein kleiner Schritt rückwärts im natür-
lichen Syſtem führt uns zu jenen niedrigen
Gewächſen, die ſich blos durch Theilung
fortzupflanzen vermögen.
Ein kleiner Schritt vorwärts leitet da—
gegen hinüber zu andern, etwas höher or—
ganiſirten Pflanzen, bei denen die ſich paa—
renden Geſchlechtszellen ſchon morphologiſch
und phyſiologiſch ſich verſchieden verhalten
und daher in männliche und weibliche
Sexualzellen unterſchieden werden können.
850
Und das Räthſel der Partheno—
geneſis, bei welcher unbefruchtete Ge—
ſchlechtszellen trotz des Unterbleibens einer
geſchlechtlichen Vereinigung zu entwicelungs-
und fortpflanzungsfähigen Individuen her⸗
anwachſen können, löſt ſich mit einem Male
ganz ungeſucht aus den Anfängen des
Geſchlechtslebens überhaupt. Hier bei Ulo-
thrix zonata erſcheint die Parthenogeneſis als
Keimung einer Schwärmſpore, die eine
Copulation mit einer andern gleichgearteten
Zooſpore nicht eingeht. Dieſe Keimung
von nicht⸗copulirten Mikrozooſporen vollzieht
ſich in ganz derſelben Weiſe, wie bei den
geſchlechtsloſen Makrozooſporen. Der Ge—
danke liegt nahe, daß die Parthenogeneſis
in letzter Inſtanz zurückzuführen iſt auf
jene einfache ungeſchlechtliche Fortpflanzung
durch ganz gewöhnliche Schwärmſporen. —
Pringsheim hat in ſeiner epochemachen—
den Arbeit „Ueber Paarung von
Schwärmſporen, die morpholo—
giſche Grundform der Zeugung
im Pflanzenreich“ (Monatsbericht der
Kgl. Acad. der Wiſſenſch. zu Berlin, vom
Oktbr. 1869) eine Theorie aufgeſtellt, wo—
nach alle die verſchiedenen Geſchlechtsprozeſſe
der höheren Pflanzen nur mehr oder weniger
modificirte Copulationsproceſſe urſprünglich
gleichartiger Sexualzellen darſtellen. In der
That bietet die vergleichende Entwickelungs— |
geſchichte der Anhaltspunkte genug, um die
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
Copulation von Schwärmſporen, wie ſie
heute noch an manchen niedrigen Gewächſen
ſich vollzieht, identiſch oder doch ähnlich war.
Wir dürfen uns die Vegetation jener Urzeit
nur als eine ſehr niedrig organiſirte, höchſt
primitive vorſtellen. Damals waren noch
keine höheren Gewächſe vorhanden. Keine
Blume öffnete dem warmen Sonnenſtrahl ihren
farbigen Kelch; noch taumelte kein Schmetter—
ling, keine Biene von Blüthe zu Blüthe,
um Honig oder Pollen zu ſuchen und Fremd—
beſtäubung zu vermitteln, noch wetteiferten
keine Gewächſe mit einander, um durch Far—
benpracht, Nectar und Wohlgeruch die Gunſt
der Inſekten zu erwerben: Gott Amor war
noch nicht geboren — das Geſchlechtsleben
der Pflanzenwelt ſchlummerte noch in der
ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der ſtillen
Urmeer-Vegetation. Die Natur träumte
noch nichts von der erſt werdenden
Schöpfung des allmächtigen Liebelebens, das
ſich erſt in den noch folgenden Weltzeiten
ans dem Einerlei der ungeſchlechtlichen Fort—
pflanzung herausdifferenziren und in den
mannigfachſten Prozeſſen auf hunderterlei
Weiſe entwickeln ſollte.
Nach der Abſtammungslehre muß, wie
wir bereits an anderer Stelle bemerkt haben,
auch das Geſchlechts- oder Liebe-Leben der
Pflanzen- wie der Thierwelt einmal in der
|
Pringsheim'ſche Anſicht, daß die Paa-
rung der Schwärmſporen die morphologiſche
Grundform der pflanzlichen Zeugung dar—
ſtelle, mehr als bloß wahrſcheinlich erkennen
zu laſſen.
Wenn aber die Pringsheim'ſche
Theorie wahr iſt, ſo müſſen wir den An—
fang der Zeugung im Pflanzenreich als
einen vor Jahrmillionen zum erſten Mal
ſtattgehabten Proceß anſehen, der mit der
einfachſten Form begonnen haben; denn die
Natur macht keine Sprünge, ſondern ſchreitet
in ihrem Vervollkommnungsproceß äußerſt
langſam fort, unmerklich, ewig nach etwas
Beſſerem taſtend, ſich in tauſend und millio—
nen Verſuchen ergehend, um nur aus dem
tauſendſten oder millionſten einen kleinen
Nutzen zu ziehen. Aus der Summe kleinſter
Abänderungen reſultiren die verwickelteſten
und ſcheinbar weiſeſten Einrichtungen.
Gelingt es uns, ein auch nur einiger—
maßen der Wirklichkeit entſprechendes Bild
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
von dem langſamen Entwicklungsgang der |
lebenden Natur zu entwerfen, ſo dürfen wir
uns glücklich preiſen.
Allein die Vergangenheit, in wel—
cher ſich die Entwickelungsgeſchichte der Pflan—
zen- und Thierwelt abſpielte, bleibt uns
zum großen Theil ein verſchloſſenes Land.
Und dennoch dürfen wir die Zuverſicht
haben, ihr die wichtigſten Geheimniſſe nach
und nach abzulauſchen; denn ſie ſpiegelt ſich
— wenn auch mit ſtellenweiſe verwiſchtem
Bild — in der Gegenwart. Die Ent—
wickelungsgeſchichte hat uns gezeigt, daß es
heute noch hochorganiſirte Lebeweſen giebt,
die während ihrer individuellen Entwickelung
in kurzen Zügen auch die Geſchichte der
Vorfahren wiederholen. Die moderne Bio—
logie anerkennt mehr und mehr jenen Satz,
in welchem Häckel ſein biogenetiſches Grund—
geſetz zum Ausdruck brachte.
Und die vergleichende Entwickelungsge—
ſchichte hat uns offenbart, daß unter den
heute lebenden Pflanzen und Thieren in
manchen Fällen die verſchiedenen Entwicke-
lungsſtufen, welche ein höheres Thier oder
eine höhere Pflanze der Reihe nach von der
Eizelle an bis zur Geſchlechtsreife zu durch—
laufen hat, lebendig repräſentirt werden
durch niedrigere Organismen, welche auf
jenen tieferen Stufen ſtehen geblieben ſind,
während der höhere Organismus bei ſeiner
Entwickelung je noch um eine Stufe wei—
ter ſchritt.
Haben wir daher eine ganze Reihe ſol—
cher in faſt unmerklich verſchiedenen Ent—
wickelungsſtufen nach einer und derſelben
Richtung auf einander folgender, aber der
jetzigen Lebewelt angehörender Thiere oder
Pflanzen vor uns, ſo ſpiegelt ſich in dieſer
Abſtufung gleichſam die in der Vergangen—
heit liegende allmälige Vervollkommnung
des höchſtorganiſirten Thieres oder der höchſt—
—
231
organiſirten Pflanze, wie ſie ſich ſeit den
fernſten Vorzeiten aus den niedrigſten An—
fängen zur jetzigen Höhe der Entwickelung
vollzogen hat.
In dieſem Sinne können
wir alſo behaupten, daß wir das Höhere
erſt dann richtig erkennen und verſtehen,
wenn wir auch die Erkenntniß des Niedri—
macht, ſondern das wichtigſte
geren erlangt haben.
Darum hat die Erforſchung der niedrigen
Lebeweſen ein ſo großes Intereſſe gewonnen.
Es iſt keine Caprice der Zeit, welche ſich
in der emſig betriebenen Durchforſchung der
niederen Pflanzen- und Thierwelt geltend
Poſtulat,
welches die Wiſſenſchaft an die moderne Bio—
logie geſtellt hat.
Den Fortſchritten auf dieſem neuerdings
mit ſo großem Erfolg cultivirten Felde
biologiſcher Forſchung iſt es zu danken, daß
| wir heute ſogar ſchon wagen dürfen, von
dieſem und jenem Lebeweſen mit vieler
Wahrſcheinlichkeit zu behaupten, daß ſeine
Vorfahren der Reihe nach auf dieſer und
jener niedrigen Organiſationsſtufe geſtanden
haben. So iſt denn auch die Erforſchung
der Fortpflanzungsweiſe niedriger Gewächſe
und Thiere von unberechenbarer Bedeutung
für die Erkenntniß des höheren Geſchlechts—
lebens.
Nur aus der vergleichenden Entwicklungs—
geſchichte konnte Pringsheim geſchöpft
haben, als er ſeine Theorie von der Zeugung
im Pflanzenreich aufſtellte.
Mit der Copulation oder Paarung von
Schwärmſporen ſoll das Geſchlechtsleben im
Pflanzenreich den Anfang genommen haben.
Wenn dem ſo iſt, ſo mußten dereinſt Ge—
wächſe exiſtirt haben, bei denen dieſelben
Schwärmſporen ſowohl zur Copulation, als
auch zur ſelbſtändigen Keimung ohne Paarung
befähigt waren. Die Copulation mußte
in ihren erſten Anfängen ein ſcheinbar ganz
-
©:
232
zufälliger Verſuch geweſen fein, eine vom
glücklichen Zufall begünſtigte Erſcheinung,
die ebenſo gut unterbleiben konnte, ohne
dabei das Stattfinden der Fortpflan—
zung durch die gleichen Schwärmſporen
in Frage zu ſtellen, oder mit andern
Worten: Wenn die Paarung von Schwärm—
ſporen die morphologiſche Grundform der
Zeugung im Pflanzenreich darſtellt, ſo
mußten die erſten ſich copulirenden Zellen
nicht allein unter ſich gleichwerthig erſcheinen,
ſondern auch mit andern Schwärmſporen,
die ſich nicht paarten und dennoch neuen
Individuen das Daſein gaben, übereinſtimmen.
Wir glauben, daß dieſe Schlußfolge—
rung kaum anzufechten ſein wird. Die
Frage iſt nur noch dahin zu ergänzen:
Können wir Hoffnung haben, jemals den
Nachweis zu leiſten, daß es einſtmals ſolche
Pflanzen gab, die mit den beſchriebenen
Schwärmſporen ausgerüſtet waren?
Die Antwort wird entſchieden ver—
neinend lauten; denn derartige vorwelt—
liche Pflanzen waren zur Petrification kaum
geeignet; welcher Palaeontologe wird zu
hoffen wagen, jemals petrificirte Schwärm—
ſporen zu entdecken, von denen 20—40
Millionen auf der Fläche eines Quadrat-
zolles Platz haben?
Aber dafür winkt uns eine Hoffnung
als Erſatz in der lebenden Natur. Und
dieſe einzige Hoffnung, die wir diesfalls
hegen durften, wäre die Entdeckung einer
lebenden Pflanze unſerer gegenwärtigen Vege—
tation, die Entdeckung einer Pflanze, welche |
erſt an der Schwelle des Geſchlechtslebens
angekommen iſt und vor unſern Augen das
wiederholt, was vor Jahrmillionen bei der
erſten zum Liebeleben erwachenden Pflanze
ſich vollzog. Iſt eine ſolche Pflanze ent:
deckt, ſo gewinnt die Theorie Pringsheim's
einen neuen kräftigen Stützpfeiler.
8
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
In der That haben wir dieſe Pflanze
in unſerer Kraushaaralge (Ulothrix
zonata) gefunden. Darin liegt die wiſſen⸗
ſchaftliche Bedeutung dieſer bislang unbe—
achteten Algenfäden; denn ſie ſind zugleich
eines der glänzendſten Belege für die Ent—
wicklungstheorie. Sie variiren in fo hohem
Grade, daß man früher die verſchieden—
artigen Fäden einer und derſelben Art für
Dutzende verſchiedener, ſelbſtändiger Species
gehalten und ſie mit eigenen Artnamen be—
nannt hat. Im Studium ihrer ganzen
Entwicklungsgeſchichte, namentlich in der
Verfolgung ihrer geſchlechtlichen und unge—
ſchlechtlichen Fortpflanzungs-Erſcheinungen
lernt der Biologe das Myſterium vom
Anfang des pflanzlichen Geſchlechtslebens,
wie in einem Spiegel feſt gehalten, zu ent-
hüllen.
Damit will ich keineswegs geſagt haben,
daß die erſten Pflanzen, welche ſich aus
der Ungeſchlechtlichkeit zur ſexuellen Fort—
pflanzung erhoben haben, ſich genau jo
verhielten, wie unſere Kraushaar-Alge. Nur
der Entwickelungs-Modus bei dieſem
Fortſchritt muß ein ähnlicher, morphologiſch
betrachtet, in ſeinem Weſen ein identiſcher
geweſen fein, wie wir ihn bei der Kraushaar—
Alge nur zu deutlich ſkizzirt ſehen, um uns
dieſes Gedankens erwehren zu können. Noch
viel weniger möchte ich die Behauptung
aufſtellen, das erſte geſchlechtlich ſich fort—
pflanzende Gewächs ſei ein Organismus ge—
weſen, der mit unſerer Kraushaar-Alge
übereinſtimmte. Die Natur iſt überaus
erfinderiſch und ſchafft bei übereinſtimmender
Fortpflanzungsweiſe durch Zuchtwahl im
Kampf ums Daſein aus den ewig ab—
änderungsfähigen Organismen die mannig—
faltigſten Geſtalten, wie wir dies bei jeder
natürlichen Pflanzenfamilie oder Ordnung
jederzeit erkennen müſſen.
Durch ſolche Abänderungen entſtanden
unter dem fortwährend thätigen Correktiv der
natürlichen Zuchtwahl aus Jochſporen bilden—
den Pflanzen jene höher differenzirten Ge—
wächſe, welche Ei-Sporen bilden, indem
die einen zur Paarung befähigten Schwärm—
ſporen ruhig in ihrer Mutterzelle abwarten,
durchaus paſſiv bleiben, bis ſie von den
andern Geſchlechtszellen, die wirklich aus—
ſchwärmen, aufgeſucht werden und eine
Copulation eingehen.
Wir nennen die den Paarungs- oder
Befruchtungsakt abwartenden Fortpflanzungs—
zellen Ei-Kugeln (Ooſphären). Sie
ſind in der Regel um das Mehrfache größer,
als die anderen allein ſchwärmenden Sexual-
zellen, welche jene aufſuchen und gar oft
noch unverkennbar die Organiſation von
eigentlichen Schwärmſporen beſitzen. Dieſe
beweglichen kleineren Fortpflanzungszellen,
welche beim Paarungs-Akte allein aktiv find,
nennen wir Spermatozoiden oder
männliche Geſchlechtszellen, im Gegenſatz
zu den paſſiven Eikugeln oder weiblichen
Sexualzellen.
Der Uebergang von den jochſporenbil—
denden Pflanzen zu denjenigen mit typiſch
geſchlechtlichen Fortpflanzungszellen, mit gro—
ßen aber paſſiven Eikugeln und kleinen aber
activen Spermatozoiden, iſt in der jetzt
lebenden Vegetation ſo fein abgeſtuft, daß
Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens.
929
233
ſich der Biologe ſchlechterdings des Gedan—
kens der Abſtammung nicht erwehren kann.
Andererſeits iſt aber auch die weitere
Entwickelung von den eiſporenbildenden
Pflanzen an bis hinauf zu den in höchſter
Vollendung mit prunkenden Blüthen aus—
geſtatteten Dicotyledonen durch alle wünſch—
baren Zwiſchenſtufen ſo deutlich vorgezeichnet,
daß der Botaniker ſich leicht darüber Rechen—
ſchaft zu geben vermag, wie die höchſte
Pflanze mit allen ihren coquettirenden Liebes—
künſten ſchließlich als Endglied in der Reihe
der Geſchlechtspflanzen allmälig reſultiren
mußte.
Und dennoch welche Kluft zwiſchen
der im Waſſer untergetauchten Fadenalge
mit ihren thierähnlich-herumſchwärmenden
und ſich paarenden Mikrozooſporen einerſeits
und dem duftenden, honigabſondernden Veil—
chen andrerſeits, das ſich alle erdenkliche
Mühe giebt, um gelegentlich von Inſekten
beſucht, und der Fremdbeſtäubung unter—
zogen zu werden!
Aber dieſe Kluft iſt vollſtändig hinrei—
chend überbrückt. Der Biologe durchwan—
dert den anſcheinend ſchwindligen Steg
zwiſchen den beiden Extremen des pflanz—
lichen Geſchlechtslebens ſo ſicher, wie der
Aſtronom mit ſeinem Teleſkop den Weg
zwiſchen Polarſtern und Sirius.
Die Anſchauungen des Thomas von Aquin
über die Grundlütze der mechaniſchen Phyſik.
Von
Prof. Dr. S. Bünther.
Ir s iſt zweifellos vom höchſten
> EN Intereſſe, von dem erhöhten
e Standpunkt, auf welchen die
AR’ raſtloſe Forſchungsthätigkeit der
Jahrhunderte geführt hat, einen Rück—
blick auf die vergangene Zeit zu werfen
und die naiven Anſichten früherer Forſcher
einer vergleichenden Unterſuchung zu unter—
ziehen. Vor allem wohl dürfte es den
Tendenzen dieſer Zeitſchrift entſprechen,
ſolche Excurſionen in's alte romantiſche Land
zu unternehmen, und in der That brachte
bereits die erſte Nummer derſelben aus der
Feder eines der Redakteure einen bemerkens—
werthen Artikel über eine originelle Epiſode
aus der Vorgeſchichte der Entwickelungs—
theorie. Wie aber im Gebiete des Orga—
niſchen ſo dürfte ſich Aehnliches vielleicht
noch mehr im Bereiche der exakten Natur—
wiſſenſchaft empfehlen, wo doch zu keiner
Zeit faſt die Auffaſſung in dem Grade
getrübt war, wie in der Lehre von der Ent—
ſtehung und Wechſelbeziehung der Organis—
men. Und ſpeziell die Periode des ſog.
Scholaſticismus verdient als eine ſolche
hervorgehoben zu werden, welche ein nähe—
res Eingehen auf ihre eigenartigen Verhält—
niſſe reichlich lohnt. Das alte Vorurtheil,
als ſeien die berufenen Vertreter der ſchola—
ſtiſchen Lehre durchweg bornirte Köpfe ge—
weſen, deren ganze Geiſteskraft beim Nach—
denken über die Weſenheit der Engel, über
Entität und Übiquität und ähnliche Prin-
cipienfragen ſich aufgezehrt habe, dieſe ganz
unhiſtoriſche und verfehlte Meinung hat
ſeit dem Erſcheinen von Humboldt's
Kosmos einen gefährlichen Stoß erlitten;
man hat ſich gewöhnt, auch das Geiſtes—
leben des dreizehnten Jahrhunderts als
ein in ſeiner Art berechtigtes gelten zu
laſſen, welches noch dazu in mannigfaltiger
Weiſe anregend und befruchtend auf die
Folgezeit eingewirkt habe. Daß zumal in
naturwiſſenſchaftlicher
wie Albertus Magnus und Roger
Bacon eifrig und erfolgreich gearbeitet
haben, weiß wohl jeder, der ſich überhaupt
um das hiſtoriſche Werden unſeres jetzigen
Richtung Männer
Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin.
Wiſſens kümmert; Jeſſen hat uns des
Erſtgenannten Verdienſt um die Begründung
einer rationellen Pflanzenkunde, Peſchel
die zahlreichen guten Bemerkungen geſchildert,
welche ſich in des vielgereiſten Mannes
Schriften über vergleichend-geographiſche
Beziehungen vorfinden, und auch darüber
iſt man einig, daß in der Lehre vom Lichte
kein zweiter Gelehrter des Mittelalters
weiter über die griechiſchen Vorlagen hinaus—
gegangen ſei, als jener engliſche Franzis—
kaner. Gerade des Mannes aber, den
uns die Titelworte dieſes Verſuches nennen,
geſchieht weit ſeltener würdigende Erwäh—
nung. Der Grund liegt freilich nicht eben
ferne. Denn des heiligen Thomas —
ſchon dieſes Epitheton kennzeichnet eine
exceptionelle Stellung — hatte ſich ſchon
bald ausſchließend die Gottesgelehrſamkeit
bemächtigt, kein anderer Theoſoph der ſcho—
laſtiſchen Periode hat auf die bczügliche
Wiſſenſchaft einen ſo nachhaltigen Einfluß
ausgeübt, als er, den die Kirche mit
Stolz ihren Doctor angelieus nannte, und
ſo kam unſchwer die Meinung auf, der
von ſo vielen anderen und nach damaligem
Zuſchnitt unendlich bedeutſameren Aufgaben
in Anſpruch genommene Mann habe keine
Zeit zur Beſchäftigung mit profanen
Dingen übrig behalten. Allein es wäre
ein ſchwerer Irrthum, dies zu glauben.
An und flir ſich ſtand freilich der Aqui—
nate mit der Erforſchung der Natur in
keinem ſo engen Contakt wie ſein Lehrer
Albert; er vermochte den betreffenden
Gegenſtänden keine ſo ausſchließende Thätig—
keit zuzuwenden als jener, der es ja auch
zu einer weit über ein Menſchenalter höheren
Lebensdauer gebracht hat, allein an Geiſt
und Auffaſſungsgabe ſtand er ihm in
keiner Weiſe nach. Eine ausführliche Dar—
ſtellung des phyſikaliſchen Lehrgebäudes der
5 —
235
Scholaſtik kann und ſoll natürlich an dieſer
Stelle nicht gegeben werden; wir werden
uns vielmehr darauf beſchränken, zu ermit—
teln, welche Stellung Thomas zu einigen
Hauptfragen der Phyſik einnahm, ſpeziell
zu ſolchen Fragen, welche zu den brennen—
den der Neuzeit gerechnet werden müſſen.
So reizvoll derartige Studien auch ſind,
ſo tragen ſie doch gleichwohl in ſich den
Keim einer gewiſſen Gefahr, denn nur all—
zunahe liegt die Möglichkeit — und zahl—
reiche abſchreckende Exempel laſſen ſich der
Wiſſenſchaftsgeſchichte entnehmen die
Ausſprüche der Vergangenheit mit allzu
günſtigem Auge zu betrachten und da, wo
es ſich vielleicht nur um unklare inhaltsloſe
Redensarten handelt, ſofort Divinationen,
wo nicht Anticipationen des Richtigen und
Modernen zu erblicken. Mehrfache Uebung
ſoll uns, ſo hoffen wir, davor behüten, in
dieſen Fehler zu gerathen und nicht minder
das andere Extrem, an welchem die neuere
Geſchichtsſchreibung nicht ſelten krankt, zu
vermeiden: gänzliche Mißkennung früherer
Verhältniſſe.
Obwohl die meiſten philojophiich-theo-
logiſchen Werke des gelehrten Heiligen ge—
legentliche Aphorismen über ſolche Punkte
bieten, welche uns hier intereſſiren, ſo
kommt doch vor Allem für unſeren Zweck
der umfängliche Commentar in Frage, mit
welchem er das bekannte kosmologiſche
Werk!?) des Meiſters Ariſtoteles aus—
geftattet hat. An dieſen Commentar wer-
den wir uns demzufolge beſonders anzu—
ſchließen haben, doch wird dabei ſelbſtver—
) Jene Ausgabe, auf welche wir im
Nachſtehenden beſtändig recurriren, iſt folgende:
Aristotelis Stagiritae peripateticorum prin-
eipis Libri de coelo et mundo una cum divi
Thomae Aquinatis praeclarissimo commen-
tario, Venetiis MDXLIII.
EN
236 Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin.
ſtändlich auch auf andere gelegentliche | ſelben die Form als geſtaltendes Element
Aeußerungen Rückſicht zu nehmen ſein.
Und weiterhin werden wir eine Auswahl
zu treffen haben betreffs der Materien,
welche wir voranſtellen wollen. Die mecha—
niſche Phyſik unſerer Tage legt bekanntlich
ein Hauptgewicht auf die jetzt völlig außer
Zweifel geſtellte Identität zwiſchen Wärme
und Arbeit, aus welcher Thatſache dann
unmittelbar die Unmöglichkeit einer in's
Unendliche ſpontan ſich fortſetzenden Arbeits—
leiſtung oder, vulgär zu reden, eines Per—
petuum mobile, entſpringt. An dieſe Er—
rungenſchaften des neunzehnten Jahrhunderts
wollen wir denn auch an dieſer Stelle an-
knüpfen; wir wollen erſtens zuſehen, wie
ſich der heilige Thomas zu der Frage
einer ewig⸗continuirlichen Bewegung ſtellt,
und zweitens wollen wir ſeine Doktrinen
über Weſen und Entſtehung der Wärme
kennen lernen. Intereſſante Vergleichungs—
punkte werden uns bei dieſer unſerer Ana—
lyſe nicht fehlen können.
Die ſcholaſtiſche Phyſik, wie ſie ſich aus
den Schriften des Ariſtoteles allmählich
herausbildete*) ging von dem Grundſatze
aus, daß vom Anfang an, d. h. durch
direkten Schöpfungsakt, die Materie als
eine chaotiſche Maſſe exiſtire; indem zu der—
) Das Schriftchen des Eichſtädter Lyceal—
profeſſors M. Schneid: „Die ſcholaſtiſche
Lehre von Materie und Form“ (Programm
von 1873, ſeitdem aber in vielfach erweiterter Ge—
ſtalt zum zweitenmale herausgegeben) iſt Allen
denen auf's Beſte zu empfehlen, welche ſich
über die charakteriſtiſche Eigenſchaft peripate—
tiſch⸗ſcholaſtiſcher Naturkenntniß unterrichten
wollen. Allerdings ſteht der Autor ſelbſt
ganz auf dem Boden, den er vertheidigt, in—
deß berückſichtigt er auch ziemlich umfaſſend
den Standpunkt der Neueren und iſt über—
haupt ſo unparteiiſch, als man es nur er—
warten kann.
hinzutrat, entſtand die Außenwelt. Vorerſt
aber noch bewegungslos, ſtarr. Damit
ſich auch die Veränderung erklären ließe,
bedurfte es noch eines dritten Etwas, wel—
ches als „Privatio“ bezichnet ward. Dieſe
drei integrirenden Beſtandtheile nun genügten
der Scholaſtik, um ſich mit ſämmtlichen be-
kannten Erſcheinungen der Natur leidlich
auseinanderzuſetzen, und es wird dieſe Art
der Syſtematik, ſo fremdartig ſie dem
Zeitalter der empiriſchen Naturforſchung
immer erſcheinen mag, doch dem vagen
Spiel mit nichtsſagenden Qualitäten vor—
gezogen werden müſſen, in dem ſich die
Naturphiloſophie der Hegel-Schelling'⸗
ſchen Schule gefiel.
Die Frage, ob es in der Natur Be-
wegungen von ewiger Dauer geben könne,
hatte fich bereits Ariſtoteles vorgelegt
und mit Nein beantwortet. Daß Thomas,
der ſich in ſo fundamentalen Lehren ſelbſtver—
ſtändlich gerne an ſein Vorbild anlehnt, zu
dem gleichen Schluſſe gelangt, kann uns
ſonach gleichgültig ſein, wohl aber iſt ſeine
Motivirung von Intereſſe. „Es iſt nicht
vernunftgemäß“, ſo argumentirt er (S. 38
der genannten Edition) „irgend einen Körper
als ewig dauernd und abſolut unveränder—
lich anzunehmen; wenn aber dies richtig iſt,
ſo kann auch die Bewegung, welche wir uns
ja von dem Körper unmöglich losgelöſt zu
denken im Stande ſind, jene Eigenſchaft
beſitzen“. Offenbar iſt dieſer Schluß ſelbſt
nach damaligen Forderungen noch kein völlig
zwingender, denn es wäre ja denkbar, daß
jeder Körper die ihm inhärirende Bewegung
noch vor ſeinem Vergehen an einen anderen
übertrüge, und daß ſolchergeſtalt in einer,
unaufhörlichen Vernichtungen und Neubil-
dungen unterworfenen, Körperwelt gleichwohl
ein ſtetig andauernder Bewegungszuſtand
ſich erhielte. Die Behauptung muß ſomit
noch durch anderweite Gründe geſtützt wer—
den. „Die ſämmtlichen Körper,“ ſo heißt es
weiter, „beſtehen aus den vier Elementen,
und jedem dieſer vier Urſtoffe iſt von An-
fang an eine gewiſſe, nicht mehr zu ändernde
Bewegungsform eingepflanzt, und zwar iſt
dieſelbe geradlinig“. Würde jedoch ein Körper
in gerader Linie ſich ohne Aufhören fort—
bewegen können, ſo würde dadurch — dies
iſt nicht formell ausgeſprochen, aber ſelbſt—
verſtändlich — der oberſte Grundſatz von
der Endlichkeit der Welt negirt, und es
kann keine ſolche Bewegung geben.
Dieſe Art zu ſchließen bedarf für Jeden,
dem die übliche Denk- und Redeweiſe der
peripatetiſchen Philoſophie nicht klar vor
Augen ſteht, einer Erläuterung. Der Kos—
mos (Makrokosmos) bildete ein einziges,
gewiſſermaßen organiſirtes Ganzes von end—
licher, wenn auch unbeſtimmt großer Aus—
dehnung. Daß dem wirklich ſo ſein müſſe,
dafür hatte der große Albert von Boll—
ſtädt mit Aufgebot der feinſten Syllogis—
men den „unumſtößlichen“ Beweis erbracht.“)
Nicht minder feſt ſtand die Ueberzeugung,
daß es fünf „Elemente“ gebe, deren vier
ausſchließlich auf der Erde ſich fänden, wäh—
rend das fünfte nicht minder ausſchließlich
das Material zur Bildung der Himmels—
körper abgegeben habe. Von jenen vier
erſten waren zwei, Erde und Waſſer, ab—
ſolut ſchwer, zwei andere, Luft und Feuer,
abſolut leicht; erſtere ſtrebten nach dem
) In ſeiner unlängſt veröffentlichten
Schrift „Die Lehre von der Erdrundung und
Erdbewegung im Mittelalter“ iſt der Verf.
dieſes jener Lehre näher getreten. Es ward
dort ferner gezeigt, wie auch der hervor—
ragendſte unter den jüdiſchen Scholaſtikern,
Moſes ben Maimon, ausſchließlich in
dieſen kosmologiſchen Vorſtellungen lebte und
webte.
Günther, Die Anſchanungen des Thomas von Aquin.
237
Weltcentrum, welches ja mit demjenigen der
| Erde identiſch war, hin, letztere ſuchten ſich
von ihm zu entfernen; immer aber konnte
dieſe ihnen anerſchaffene Bewegung nur in
gerader Linie vor ſich gehen. Den Geſtirnen
freilich auf der anderen Seite war ebenſo
von Anfang an eine „vollkommene“ kreis—
förmige Bewegung incorporirt, und ſie
werden alſo von den namhaft gemachten
Einwänden Thomas' in keiner Weiſe mit
betroffen.
Allein dies durfte auch nicht geſchehen.
Denn die Körper des Himmels waren aus
überirdiſcher ätheriſcher Materie zuſammen—
geſetzt, eine beſonders zugetheilte Intelligenz“,
welche ſich die frommen Scholaſtiker wohl
am liebſten unter dem Bilde eines Engels
dachten, regulirte ihre Bewegungen, und ſo
war nicht abzuſehen, warum dieſe Cirkel—
bewegung keine ewige ſein ſollte. Auf den
Himmel erſtreckt ſich ſonach die ganze Be—
weisführung nicht, für die Erde aber er—
hellt: Jede Bewegung muß nothwendig
einen Anfang und ein Ende haben, kann
nicht ewig andauern, und ſo kann es alſo
auch kein Perpetuum mobile geben. Stich-
nichts beſſeres zu erlangen, und ſo dürfen
wir es immerhin bedauern, daß man den
an ſich richtigen Lehrſatz ſo ganz ignorirte.
Eine große Summe von Denkkraft und
techniſchem Genie, welche beim Verſuche, et—
was Unmögliches zu bewältigen, darauf
ging, wäre ſo für beſſere und realiſirbare
Zwecke aufgeſpart geblieben.
Vielleicht iſt es angezeigt, der Begrün—
dung des Scholaſtikers diejenige des neun⸗
zehnten Jahrhunderts gegenüberzuſtellen. Von
dem bereits vor längerer Zeit erkannten
Hinderniß, welches Reibung und Widerſtand
des Mittels (welch' letzterer ſich auch der
fr
238
Hauptſache nach auf Reibung der bewegten
|
|
Luft⸗ oder Waſſertheilchen zurückführen läßt)
jeder Bewegung entgegenſtellen, muß dabei
reine Principienfrage handelt.
müſſen wir geſtehen: Erſt die letzten Jahre
haben uns in den Stand geſetzt, a priori
die Unmöglichkeit einer unendlich andauern—
den — wenn auch von allen Hemmniſſen
befreiten — Bewegung darthun zu können.
Indem ein Körper ſich bewegt, leiſtet er
eine gewiſſe Arbeit, und durch dieſelbe muß
Wärme conſumirt werden; einer in Ewig—
keit fortdauernden Arbeitsleiſtung würde
alſo die Vernichtung des geſammten Wärme—
vorrathes und damit abſolute Erſtarrung
nachfolgen müſſen. Abgeſehen von dieſer
Thatſache, welche jedoch nur beſteht, wenn
eben durch die Bewegung zugleich mechaniſche
Arbeit bedingt iſt, würde uns nichts hin—
dern, einen (maſſeloſen) Punkt mit gleich—
förmiger Geſchwindigkeit ſich ſtetig fortbe—
wegen zu denken. Denn wir ſtellen uns
den Raum nicht allein als unbegrenzt, ſon—
dern auch als unendlich vor. Wer freilich
die Möglichkeit oder doch Nothwendigkeit
der letzteren Eigenſchaft in Abrede ſtellt,
der muß ſelbſt einen ſolchen Bewegungs—
modus wie den zuletzt angeführten für un—
ſtatthaft erklären und ſich alſo im Weſent—
lichen zu der Anſicht des Thomas Aquinas
bekennen. Des allgemeinen Intereſſes halber,
welches die neueren Raumtheorien vielfach
erregten, möge noch einen Augenblick bei
dieſem Gegenſtande verweilt werden. Be—
kanntlich hat, geſtützt auf gelegentliche Be—
merkungen von Ganß, der Göttinger
Riemann die Theorie eines „unebenen“
Raumes ausgebildet, der zwar nirgendwo
eine Grenze habe, in dem aber gleichmäßige
Bewegungsfähigkeit nach allen Richtungen
hin nicht nothwendig ſtattzuhaben brauche.
Und da
|
|
|
|
|
Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin.
Gerade Linien laſſen ſich in einem ſolchen
Raume überhaupt nicht vorſtellen. Bis vor
Kurzem mochte die Lehre vom Riemann'-
abgeſehen werden, indem es ſich um eine
ſchen Raum einfach als eine metamathe—
matiſche Doctorfrage erſcheinen, um welche
die im euklidiſchen Raume ſich wohlfühlende
Naturwiſſenſchaft ſich nicht zu kümmern
brauche; allein ſeit Zöllner's berühmtes
Kometenwerk erſchien, iſt das anders ge-
worden, denn dieſer Phyſiker hat ſich bei
ſeinen Unterſuchungen über die Vertheilung
und den Gleichgewichtszuſtand kosmiſcher
Maſſen veranlaßt geſehen, die „Welt“ als
ein Geſchloſſenes, in ſich Zurückkehrendes
aufzufaſſen. In einer ſolchen Welt ver—
bietet ſich die Annahme einer continuirlichen,
niemals aufhörenden Bewegung von ſelber,
und man erkennt ſo, daß die auf die höchſte
Spitze getriebene Verfeinerung unſerer kos—
mologiſchen Vorſtellungen im Weſentlichen
wieder auf jene enge Anſchauung von einer
endlichen Welt mit begrenzter Beweglichkeit
der Beſtandtheile zurückführt, an welcher
ſich das Kindeszeitalter der mechaniſchen
Wiſſenſchaft hatte genügen laſſen. —
Wenden wir uns nun zum zweiten Theile
unſeres Themas und ſtellen wir uns die
Frage: Wie dachte die Scholaſtik und ſpeciell
deren berufenſter Vertreter Thomas über
die Wärme und deren Verhältniß zu an—
deren phyſikaliſchen Grundeigenſchaften?
Der Commentar zum Ariſtoteles
liefert uns hierüber den wünſchenswertheſten
Aufſchluß.“) Es erhebt ſich zunächſt das
Dilemma: Entſtehen Wärme und Licht gleich—
mäßig aus den Geſtirnen, oder hat es mit
ihrer Erzeugung eine andere Bewandniß.
Dem Meiſter zufolge wäre von Erſterem
ganz abzuſehen, und Thomas giebt ihm
) Die Erwägungen, aus denen im Fol-
genden eine Analyſe mitgetheilt wird, begin—
nen auf Blatt 42 unſerer Vorlage.
ER
ri,
Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 239
theilweiſe Recht. „Die Sterne“, jagt er, „find
an und für ſich nicht von feuriger Natur,“)
ſondern ſie produciren Wärme und Licht
dadurch, daß ſie bei ihrer Bewegung durch
die Himmelsräume die Luft zuſammenpreſſen.
Sieht man doch, daß durch Bewegung ſelbſt
ſolche Stoffe, wie Stein und Eiſen, erhitzt
und ſelbſt in Brand geſetzt werden können,
welche dem Elemente des Feuers von Haus
aus ſehr ferne ſtehen; wie viel mehr iſt
dies alſo von dem nahe verwandten Elemente
der Luft zu erwarten.“ Hier bezieht ſich der
Scholaſtiker auf faktiſch beobachtete Erſchei—
nungen, welche wir fünf Jahrhunderte ſpäter
auch von Rumford bei der Conception
der mechaniſchen Wärmetheorie verwerthet
finden. Ein die Luft durchſchwirrender Pfeil,
ſagt er, kann ſo heiß werden, daß „ex
vehementia motus“ das Blei von feiner
Spitze abzuſchmelzen beginnt — bekanntlich
tritt dieſe Erſcheinung bei unſern mit ſo
bedeutend größerer Geſchwindigkeit fortge—
ſchleuderten Flinten-Projektilen noch weit
eklatanter hervor, indem beim Auftreten der
Geſchoſſe ein beträchtliches Quantum mecha—
niſcher Arbeit mit einem male vernichtet
und in Molekular-Arbeit oder Wärme um—
) Principiell ſtand eben Thomas doch
noch ganz bei der alten Lehrmeinung, welche
in der Materie der himmliſchen Körper etwas
Beſonderes, Extratelluriſches erblickte. Schon
deshalb konnte ein thomiſtiſcher Philoſoph
eigentlich an die feurige Beſchaffenheit der
Geſtirne nicht glauben. Und doch war, wie
wir uns gleich nachher überzeugen werden,
der Stifter dieſer Schule ſo vorurtheilsfrei,
fi) theilweiſe von jenen Dogmen zu eman—
cipiren; noch weit energiſcher erklärte ſich
dagegen ſein Gegner, der als Vater des No—
minalismus hochberühmte Duns Scotus.
Wir entnehmen dieſe Daten Schneid's
intereſſanter Monographie „Ariſtoteles in der
Scholaſtik“, Eichſtädt 1875.
geſetzt wird. Drum hat Thomas, der
das Auftreten der Wärme lediglich aus
der Bewegung herleitet, unzweifelhaft den
Hergang richtiger erfaßt, als jener Alexan—
der,“) gegen deſſen Theorie er polemiſirt,
und der dafür hält, die erwärmte Luft er—
hitze erſt den Pfeil.
Wie kommt es nun aber, ſo lautet ein
weiterer Einwurf, daß die Wärme, welche
uns aus dem Himmelsraume zugeführt
wird, nicht immer quantitativ die nämliche
iſt, ſondern ſowohl eine tägliche als jähr—
liche Periode einhält? Die Gründe dieſes
Wechſels liegen natürlich in der verſchiedenen
Entfernung und Stellung der Sonne gegen
die Erde, allein es bleibt noch unterſchieden,
wie ſich dieſe unleugbare und augenfällige
Thatſache aus dem früher normirten Zu—
ſammenhang zwiſchen Wärme und Bewegung
ableiten läßt. Averross betrachtet es ſchlecht—
hin als eine Grundeigenſchaft des Warmen,
zugleich ein Bewegliches zu ſein, allein die
Troſtloſigkeit dieſer Definition und beſonders
deren gänzliche Unzulänglichkeit für die von
ihm aufgeworfene Frage leuchtet dem Aqui—
naten ſehr deutlich ein. „Beweglich,“ meint
er, „iſt jeder Naturkörper, er ſei warm oder
kalt, und die in Kreiſen umlaufenden
Himmelskörper haben mit Wärme oder
Kälte ihrer Weſenheit nach gar nichts zu
thun.“ Und zweitens iſt des Arabers Deu—
tung ein Hyſteron Proteron; die Bewegung
als Urgrund der Wärme betrachten, heißt
nichts anderes als den cauſalen Zuſammen—
) Dieſer Alexander ab Hales, ein
Britte, gehört zu den älteren Vertretern der
wiſſenſchaftlichen Scholaſtik. Obwohl mehr der
theologiſchen als der philoſophiſchen Seite
dieſer Richtung zugethan, genoß er doch als
Doctor irrefragibilis eine große Autorität,
und ſpeciell Thomas beruft ſich gern auf
ihn, wiewohl nicht durchaus zuſtimmend.
240
hang umkehren und die Wirkung zur Ur—
ſache ſtempeln.
Für ihn ſelbſt, den hl. Thomas, iſt
die Wärme eine „Alteration“ der Körper
in Folge der Bewegung. Der eigentliche
Begriff, der mit jenem Terminus verbunden
wird, erſcheint nun allerdings nach unſerem
Gefühle durchaus nicht klar geſtellt, er iſt
viel zu ſehr mit Worten umwickelt, die
nach heutigen Anſchauungen keinen reellen
Inhalt repräſentiren und wohl auch damals
nur theilweiſe repräſentirten. Indeß ſcheint
es doch ſo ziemlich ſicher, daß jene Altera—
tion als eine Zuſtandsänderung der den
Körper bildenden Partikeln aufgefaßt wurde,
welche ſich nach außen hin als Wärme—
Erſcheinung fühlbar machte. Dafür, daß
wir in die Worte des Autors nicht einen
zu hohen und fremdartigen Sinn hinein⸗
legen, können wir aber glücklicherweiſe noch
aus anderen Schriften desſelben einzelne
Zeugniſſe beibringen. In ſeiner Diſputation
„de potentia“ erklärt er ausdrücklich die
Wärme als reine Bewegungserſcheinung,
und in der durch ihre philoſophiſchen Aper-
eus intereſſanten Abhandlung „von der
Seele“ läßt er Licht und Wärme durch
Zuſammendrückung und Expanſion eines
den Raum erfüllenden Mediums entſtehen.
So wenig hiſtoriſch es ſein würde, nun
gleich den Thomas von Aquin zum
Schöpfer der modernen Euler-Fres—
nel'ſchen Lichtlehre zu erheben, jo verdient
doch auf der andern Seite die Entſchieden—
heit Beachtung, mit welcher er ſich gegen
die grobſinnliche Emiſſionshypotheſe und die
ſpezifiſchen Licht-Atome des Democrit er—
klärt. In Zuſammenhang mit dieſer ſeiner
correkteren Auffaſſung der Lichtphänomene
mag es auch ſtehen, daß er in eben dieſem
Commentar zum ariſtoteliſchen Werk „de
Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin.
reelle Thaͤtſache gegen die dem zuwider—
laufenden Velleitäten des Stagiriten ver—
theidigt *).
Nehmen wir jetzt den Faden unferer
Schilderung wieder auf. Thomas tritt, nach—
dem die Art und Weiſe der Wärmewirkung
der Geſtirne (Sonne) wenigſtens zum Theile
feſtgeſtellt iſt, in die Discuſſion der Um—
ſtände ein, welche eine Einwirkung der
Sternwärme auf unſere Atmoſphäre er—
möglichen. Angeſichts der heftigen Kämpfe
welche in allerneueſter Zeit die Streitfrage
der fernewirkenden Kräfte provocirt hat,
iſt die naive und doch durchaus nicht geiſt—
loſe Löſung des alten Forſchers recht be—
merkenswerth. Der Fabuliſt Plinius
erzählt uns — und der arabiſche Natur-
hiſtoriker Kazwini betet es ihm getreulich
nach — daß ein Fiſch, Stupor oder
Schrecken benamſt, wenn er in's Netz ge—
räth, dem dieſes Netz in der Hand halten—
den Fiſcher einen Schauer einzuflößen ver—
mag, von welchem das die Bewegung ver—
mittelnde Garn gänzlich unberührt bleibt.
So denkt er ſich, müſſe es auch im Kosmos
ergehen; die z. B. von der Sonne als
Agens ausgehende Alteration überträgt ſich
von Sphäre zu Sphäre; dieſe ſelbſt er-
leiden gar keine Störung, aber die letzte
von ihnen, an welche die irdiſche Lufthülle
angrenzt, giebt den ihr zugeführten Ein—
druck an dieſe weiter und bewirkt ſo in
letzter Inſtanz die mehr oder minder inten—
five Wärme -Erregung des Luftkörpers.
Wären dem hl. Thomas die Geſetze des
) Für einzelne Individuen tritt, wie
Schneid (S. 87) bemerkt, Thomas aller-
dings der Ariſtoteliſchen Lehre bei. Jedenfalls
bekundet er einen freieren Blick, als der in
Fragen der Naturkunde ihm ſonſt überlegene
Roger Bacon, der die Seintillation als
coelo* das Funkeln der Sterne als eine eine bloße Geſichtstäuſchung anfieht.
0
elaſtiſchen Stoßes bekannt geweſen, er hätte
mit allem Fug das beliebte Experiment von
den in einer Reihe aufgehängten Billard—
kugeln als Analogon dieſer neutralen Be—
wegungs- Uebertragung namhaft machen
können. — Zu einer Zeit, welche zwiſchen
Wärmeleitung und Wärmeſtrahlung noch
keinen Unterſchied zu machen verſtand, iſt dieſe
Denkweiſe wohl kaum auffällig zu nennen ).
Die Phänomene der Diathermanſie
ſchaffen unſerem Gewährsmanne überhaupt
viel Kopfzerbrechen; es iſt ihm nicht recht
erklärlich, wieſo es auf hohen Bergen, die
doch dem wärmeſpendenden Organ weit näher
ſind, kälter ſein ſoll als in der Ebene.
Hätte Simplicius, der Licht und Wärme
durch die „Poren“ der Luft ſich verbreiten
ließ, das Richtige getroffen, ſo ließe ſich
dafür ſchon eher eine Erklärung geben,
allein — und damit kommt Thomas auf
ſeine Undulationstheorie zurück — der Licht—
und Wärmeſtrahl iſt ſicherlich kein „Deflux“
des betreffenden Körpers. Zum Schluß
werden auch den gegenſeitigen Wechſelbe—
ziehungen zwiſchen Licht und Wärme einige
Worte gewidmet, beide ſind unzertrennlich,
und jede Lichtgattung hat die Kraft zu er—
wärmen (vis calefactiva), ſogar das Mond—
licht. Wie lange dauerte es, bis dieſer
richtigen Ahnung durch die ſchönen Experi—
mente eines Melloni und Piazzi Smith
die erfahrungsmäßige Beſtätigung zu Theil
ward!
) Es ſcheint wahrſcheinlich, daß Tho—
mas die Kryſtallſphären des Ariſtoteles
nicht völlig billigte; denn wäre ſeine Ortho—
doxie untadelhaft geweſen, ſo hätte die Durch—
leitung der Kraftanregung durch die durch—
ſichtigen, ja weſenloſen Kugelſchalen wohl
kaum Schwierigkeiten verurſacht. So läßt
ja auch Dante in ſeinen kosmiſchen Poeſieen
Licht und Wärme ohne jedes Hinderniß vom
Empyreum zur Erde wandern.
Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin.
241
Im Allgemeinen iſt die Entwicklungsweiſe
unſeres Philoſophen keine ſo leicht dahin
fließende, daß es ſehr leicht wäre, ſeine
Anſichten in kurzen, präciſen Theſen zu—
ſammenzufaſſen. Seine Wärmetheorie jedoch
macht eine lobenswürdige Ausnahme, denn
mit wenigen markigen Zügen entwirft er
von jener folgendes Bild: „Zweifach ſind
die Quellen der Wärme; als die eine iſt
die Bewegung der Himmelskörper zu be—
trachten, welche Wärme erzeugt und den
irdiſchen Körpern übermittelt, die andere
Quelle iſt das Licht.“ — Der erhabene
Standpunkt der modernen Thermodynamik
hat allerdings dieſe beiden anſcheinend ver—
ſchiedenen Urſachen einheitlich aufzufaſſen
gelehrt, und wir wiſſen zur Zeit, daß die
Sonnenſtrahlen gewiſſermaßen als der einzige
Motor für alle auf unſerem Planeten
thätigen Kräfte gelten müſſen, allein zur
Zeit des eben erſt aus der Finſterniß der
Kreuzfahrerzeit ſich emporſchwingenden ſcho—
laſtiſchen Gelehrtenthums war die Erklärung
des „engliſchen“ Lehrers eine ſolche, die
nicht nur ſeine Zeitgenoſſen, ſondern auch
noch manches ſpätere Jahrhundert vollauf
zu befriedigen im Stande ſein mußte.
Hiermit können wir denn auch unſere
Skizze als beendigt betrachten. Die Ge—
ſchichtsforſchung auf phyſikaliſchem wie auch
auf philoſophiſchem Gebiete hat ſich der
unerläßlichen Pflicht, auch die ſcholaſtiſche
Uebergangsperiode als ein nothwendiges
Glied in der Entwickelungsgeſchichte der
Wiſſenſchaft eingehend zu ſtudiren, bislang
allzuſehr entzogen; ſie wird das nachholen
müſſen, und für junge hiſtoriſche Kräfte
findet ſich hier reichſter Arbeitsſtoff für
monographiſche Themata. Vorſtehende Zeilen
ſollen wenigſtens dazu helfen, das Eis zu
zu brechen; wir geben uns der Hoffnung
hin, daß das Endreſultat unſerer Unter—
8 Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. |
ſuchung von künftigen Bearbeitern der mittel- erſt ſeit Begründung der neueren mechaniſchen
alterlichen Wiſſenſchaftsgeſchichte nicht außer Phyſik im richtigen Lichte erſcheinen. Speciell
Acht gelaſſen werde. Dieſes Reſultat iſt hervorzuheben iſt ſeine originale und an die
folgendes: moderne Schwingungstheorie wenigſtens an—
Wenn auch vielfach beengt durch | klingende Definition von Licht und Wärme
die ſtarren Dogmen des aprioriſtiſchen als verſchiedenen Ausdrucksformen eines und
Ariſtotelismus hat doch Thomas A qui- deſſelben intermolekularen Bewegungszu—
nas als der Erſte richtigere Anſichten über ſtandes.
ſolche Gegenſtände ausgeſprochen, welche uns
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Tamarck und Darwin.
Lin Beitrag zur Geſchichte der Enkwicklungslehre.
Von
Dr. Arnold Tang.
III.
Die „Hydrogeologie* Lamarcks.
N 7
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1 12
er, 5
ON ur forſcher, der fo allſeitige Stu—
I dien gemacht und über das
Q Geſammtgebiet der Natur-
wiſſenſchaften ſo umfaſſende Studien auf—
geſtellt hat, als Lamarck. Von ſeinem
20. bis 49. Jahre hatte er ſich vorwie—
gend mit Botanik beſchäftigt. Außer der
„Flore francaise* hatte er das klaſſiſche
„Dictionnaire de Botanique“ zur „En-
eyelopedie methodique“ von Diderot
und d' Alembert geſchrieben, ferner ein
großartiges Werk unter dem Titel „Illu—
stration des Genres“. Während dieſer
Zeit hatte er ſich außerdem mit Phyſik, Che—
mie und Meteorologie beſchäftigt. — Die
Idee, daß alles, was wir beobachten kön—
nen, geſetzmäßig und natürlich vor ſich
gehe, hatte ſchon frühzeitig im Geiſte La—
marck's Wurzel gefaßt. Als er, der
A
überhaupt ſein ganzes Leben lang mit
Noth und Entbehrung zu kämpfen hatte,
unter den kümmerlichſten äußeren Verhält—
niſſen von ſeinem 20. bis 24. Lebensjahre
in Paris Medizin ſtudirte und ein kleines
armſeliges Dachſtübchen bewohnte, welches
ihm nur die Ausſicht auf den Sternen—
himmel geſtattete, gab er ſich, überzeugt,
daß auch in den ſcheinbar ſo ungeordneten
und zuſammenhangloſen Veränderungen der
Atmoſphäre Geſetzmäßigkeit herrſche, der
Beobachtung der Wolken und Witterung
hin. Obſchon nun alle meteorologiſchen,
chemiſchen und phyſikaliſchen Theorien La—
marck's keinen Werth für die exakte
Wiſſenſchaft haben, da ſie nicht auf dem
Experiment fußen, ſo ſind ſie doch höchſt
charakteriſtiſch für ſein Streben, im Wechſel
der Erſcheinungen das Geſetzmäßige aufzu⸗
finden. Noch bis zu Anfang dieſes Jahr—
A
32
hunderts beſchäftigte er ſich mit den ge—
nannten Zweigen der Naturwiſſenſchaft.
Er wollte ſeine ſämmtlichen Beobachtungen
und Theorien in einem einzigen großen
Werke zuſammenfaſſen. Dieſes Werk ſollte
den Titel „Physique terrestre“ führen
und in drei Theile zerfallen. Im erſten
Theile, der „Hydrogéologie“, wollte er
die Entſtehung der gegenwärtigen äußeren
Erdkruſte erklären; im zweiten, der „Mé—
téorologie“, die Atmoſphäre und ihre
Veränderungen behandeln, und im dritten,
der „Biologie“, ſeine allgemeinen Betrach—
tungen und Theorien über die Organismen
niederlegen.
Dieſes Vorhaben hat Lamarck indeſſen
nicht vollſtändig ausgeführt. Die „Meteo-
Jahre 4801.
rologie“ blieb ungeſchrieben, mehrere kleine
Schriften über dieſe Wiſſenſchaft hat er
um die Wende des Jahrhunderts heraus—
gegeben. Ebenſo hat er auch die „Biologie“
nicht geſchrieben, hat aber in ſeinem kleinen
Werke „Recherches sur organisation
des corps vivans“ die Anſichten, die er
in derſelben ausführlich darlegen wollte,
kurz zuſammengefaßt. Wir können indeſſen
die „Philosophie zoologique* für feine
„Biologie“ halten, da ſich die darin nie—
dergelegten Betrachtungen nicht blos auf
die Thiere, ſondern zum großen Theile
auch auf die Pflanzen erſtrecken. Von
allen drei Theilen erſchien in der urſprüng—
lich beabſichtigten Form nur die „Hydro-
geologie*, die für uns von Intereſſe iſt;
denn es iſt klar, daß Verallgemeinerungen
über die Entſtehung der Organismen ſich
im Einklang befinden müſſen mit den
Thatſachen der Geologie und den durch
ſie geſtützten Theorien. Wir werden nun
ſehen, daß die geologischen Theorien La—
marck's, ſo phantaſtiſch ſie zum Theil
auch ſein mögen, die Entſtehung der Erd—
2
Lang, Lamarck und Darwin.
rinde und Bildung ihrer Oberfläche durch na—
türliche, heute noch wirkende Urſachen als eine
zuſammenhängende, ununterbrochene Entwicke—
lung nachzuweiſen bemüht ſind. Nur unter
einer ſolchen Vorausſetzung konnte er auch
die Entſtehung der heutigen Organismen—
welt als eine zuſammenhängende, allmälige
Entwickelung auffaſſen. So lange in der
Geologie und Paläontologie die zu ſeiner
Zeit allgemein angenommenen und von
Cuvier für lange Zeit zum Dogma ge—
machten Umwälzungstheorien herrſchend wa—
ren, mußte man auf eine Erklärung von der
Entſtehung der Organismen vollſtändig vefig-
niren oder zu der Annahme ſpontaner Schö—
| pfungen ſeine Zuflucht nehmen.
Die „Hydrogeologie* erſchien im
Lamarck ſtellt ſich darin
vier Hauptfragen, deren Löſung ihm für
eine richtige, natürliche Geologie von größ—
ter Wichtigkeit zu ſein ſchien. Dieſe Fra—
gen ſind ſehr gut gewählt. Lamarck be-
gnügt ſich aber nicht damit, nur die durch
Beobachtung erlangten Antworten darauf zu
geben, ſondern er will ſie gleich erſchöpfend
beantworten und dadurch das ganze Problem
von der Entſtehung der Erdoberfläche löſen;
daher die oft wunderlichen und abenteuer—
lichen Gedanken, die in feiner „Hydro-
géologie“ neben manchen wahren und be—
gründeten Anſichten angetroffen werden.
Die erſte Frage lautet:
„Welches ſind die natürlichen
Folgen des Einfluſſes und der
Bewegungen des Waſſers auf die
Erdoberfläche?“
Lamarck hält dieſe Frage mit Recht
für ſehr wichtig, weil ſie, wie er ſagt, der
Phantaſie am wenigſten Spielraum laſſe
und weil ſich ihre Beantwortung nothwen⸗
diger Weiſe auf die Betrachtung noch heute
geſchehender Vorgänge ſtützen müſſe. In
Kirn
erſter Linie unterſcheidet er die Bewegungen
des ſüßen Waſſers auf den Continenten
von den Bewegungen des Salzwaſſers im
Meeresbecken. Beide bringen in letzter
Linie entgegengeſetzte Wirkungen hervor, ſie
halten ſich gegenſeitig das Gleichgewicht.
Die Bewegungen des ſüßen Waſſers auf
dem Feſtlande bewirken eine zunehmende
Degradation und Verringerung deſſelben,
indem ſie beſtändig Theile von ihm los—
löſen, in das Meer tragen und deſſen
Becken auszufüllen ſtreben. Die Bewegun—
gen des Waſſers im Meere hingegen ſollen
nach Lamarck, wie er bei Beantwortung
der folgenden Frage darzulegen verſucht,
die beſtändige Aushöhlung und Vertiefung
des Meeresbeckens zur Folge haben.
An den trockenen Theilen der Erde
nagen die Winde und Orkane, löſt der
Regen und der ſchmelzende Schnee beſtändig
kleine Theilchen ab.
tigkeit und die Einwirkung der Atmoſphäre
zerbröckeln die blosliegenden Theile der Erd⸗
oberfläche. Nichts kann dieſem Wechſel
widerſtehen. Alles verwittert. Die zer—
bröckelten und losgelöſten Theile werden
durch das von der Höhe in die Tiefe ab—
fließende Waſſer mitgeführt. Durch dieſe
Bewegung des Waſſers ſelbſt werden wie—
der Theile losgelöſt.
in Quellen hervor und ſammelt ſich zu
Bächen, dieſe treten zu Flüſſen zuſammen,
die Flüſſe wiederum zu Strömen, die ſich,
immer die losgelöſten feſten Theilchen mit—
reißend, ins Meer ergießen. Im verhält—
nißmäßig ruhigen Meere ſinken dieſe Theil—
chen vermöge ihrer eigenen Schwere zu
Boden. — Dies ſind die Wirkungen, ſagt
Lamarck, welche die Bewegungen des
Waſſers auf dem Feſtlande noch heutzu—
tage haben. Sie ſind für den Menſchen
Der Wechſel von
kalt und warm, von Trockenheit und Feuch-⸗
Das Waſſer tritt
Lang, Lamarck und Darwin.
245
beinahe unmerklich, im Laufe der Zeiten
ſummiren ſie ſich aber und werden höchſt
bedeutend.
Man ſtelle ſich, ſagt Lamarck, vor,
daß jeder Continent urſprünglich eine un—
geheure, ausgedehnte Ebene bildete. In dieſer
Ebene werden dann lokale Regengüſſe Ver—
tiefungen oder Aushöhlungen, in denen ſich
das Waſſer anſammelte, hervorgerufen haben.
Das Waſſer derjenigen Vertiefungen nun,
welche ſich in der Nähe des Meeres be—
fanden, wird ſich im Laufe der Zeiten Wege
zu dem tiefer gelegenen Meere gebahnt haben.
Durch dieſe Wege floß nun das Waſſer
ab und vertiefte allmälig die urſpünglichen
Rinnen. In dem Maße, als ſo die dem
Meere zunächſt gelegenen Vertiefungen be—
trächtlicher wurden, konnte ſich auch das
Waſſer der vom Meere weiter entfernten
Vertiefungen einen Durchbruch zu den tiefer
gelegenen Aushöhlungen und Becken in der
Nähe des Meeres verſchaffen und durch
dieſe in letzteres abfließen.
Aus den anfänglich unbedeutenden Rinnen
und Furchen entſtanden tiefe Flußbetten,
Thäler. Die Ränder der Furchen wurden
zu den Ufern der Flüſſe, zu den die Thäler
umſchließenden Höhen. Dadurch nun, daß
ſich die Bäche, Flüſſe und Ströme ver—
mehrten und vermannigfaltigten, entſtanden
aus den anfänglichen Hochebenen Gräte,
Thäler umgrenzend. Durch Aufſaugung
von Feuchtigkeit ſammelte ſich im Innern
der Gräte Waſſer an, welches äußerlich
in Form von Quellen hervortrat. Durch
die Wirkung des Regens, der Atmoſphäre
und der aus den Quellen entſtehenden Bäche
wurden die Gräte zerklüftet, bildeten Berge.
In dieſer Weiſe iſt nach Lamarck die er—
ſtaunliche Mannigfaltigkeit in der Boden—
geſtaltung der Continente entſtanden. —
Lamarck iſt ganz conſequent, wenn er ſagt:
246
„Es iſt alfo meiner Anſicht nach ganz
evident, daß jeder Berg, welcher nicht das
Reſultat einer vulkaniſchen Eruption oder
irgend einer andern lokalen Kataſtrophe iſt,
in einer Ebene gebildet wurde, in ihrer
Maſſe zu Stande kam und früher ſelbſt
einen Theil derſelben ausmachte, ſo daß die
Gipfel dieſer betreffenden Berge nur Reſte
des alten Niveau's dieſer Ebene darſtellen,
wenn die Abwaſchungen und andere Ur—
ſachen der Degradation nicht ſeither ihre
Verkürzung bewirkt haben.“)“
Lamarck fühlt indeſſen die Unzuläng—
lichkeit dieſer ſeiner Theorie über die Ent—
ſtehung der Berge, hauptſächlich wenn er
an die höhern Gebirge denkt. Er ſieht ſich
deshalb noch nach andern Erklärungsprincipien
um. Ein ſolches findet er in der vulkaniſchen
Thätigkeit und beruft ſich dabei darauf, daß
die höchſten bekannten Berge Vulkane ſeien.
Wir werden gleich nachher noch andere
auxiliäre Erklärungsprincipien bei ihm finden.
Die Bewegung des ſüßen Waſſers auf
den trockenen Theilen der Erdoberfläche
würden, ſagt Lamarck, die fortſchreitende
Erniedrigung der Continente zur Folge
haben und die Erde würde ſich ſchließlich
mit einer gleichmäßigen Waſſerhülle um⸗
geben, wenn nicht die Wirkungen anderer
Urſachen dieſe Wirkung der Bewegung des
Waſſers auf den Continenten ausgleichen
würden. Er findet dieſe Urſachen in ge—
wiſſen Bewegungen des Meereswaſſers, durch
welche das Meeresbaſſin, das ſonſt durch
die von den Flüſſen angeſchwemmten Ma-
terialien immer mehr angefüllt und ver-
flacht würde, beſtändig wieder vertieft und
ausgehöhlt wird. An Hebungen und Sen—
kungen des Bodens denkt Lamarck nicht
und dieſer Umſtand bedingt, wie wir ſehen
) Hydrogeologie, Seite 14.
Lang, Lamarck und Darwin.
werden, die größten Irrthümer ſeiner
geologiſchen Theorien. — Ueber die von
Lamarck ſupponirte Wirkung der Be—
wegungen des Meereswaſſers giebt uns
Auskunft die Antwort auf die zweite Frage:
„Warum hat das Meer beſtän—
dig ein Becken und beſtimmte Gren—
zen, welche es von den immer über
daſſelbe hervorragenden, trodes
nen Theilen der Erdoberfläche
trennen?“ )
Hat ſich Lamarck ſchon bei der Be-
antwortung der erſten Frage keineswegs
ſtreng an das Thatſächliche gehalten, ſo thut
er dies noch viel weniger bei Beantwortung
dieſer Frage. — Das Meer iſt beſtändig
in verſchiedenartiger Weiſe bewegt. Die
einen Bewegungen deſſelben, es ſind dies
die unbedeutendſten, werden durch die Winde
verurſacht. Andere werden durch unterirdiſche
Vulkane hervorgerufen. — Ferner giebt
es beſtimmte Strömungen im Meere. Die
einflußreichſten Bewegungen deſſelben aber
werden durch die Anziehungskraft des Mondes,
zum geringen Theile auch durch die der
Sonne hervorgerufen; es ſind dies die regel—
mäßigen Oscillationsbewegungen des Meeres,
die Bewegungen der Ebbe und Fluth. Alle
dieſe Bewegungen bewirken nach Lamarck
die beſtändige Aushöhlung des Meeres—
beckens und verhindern ſo deſſen Verflachung
durch die fortwährend von den Flüſſen zu⸗
geführten, feſten Beſtandtheile. Dieſe werden
nämlich ſeiner Anſicht nach an den Küſten
wieder durch das Meer ausgeworfen und
zwar in Folge einer Urſache, die Lamarck
bei der Beantwortung der dritten Frage
erörtert, immer an ganz beſtimmten Küſten,
welche vom Meere verlaſſen werden. — Die
Erhaltung der Meeresbecken ſchreibt alſo
) Hydrogeologie, Seite 26.
1
Lang, Lamarck und Darwin.
247 |
Lamarck hauptſächlich der Anziehungskraft dafür, daß es früher an Orten
des Mondes, welche die Bewegung der Ebbe
und Fluth des Meeres bedingt, zu. Wäre
der Mond größer, ſo würden die Meeres—
becken an Umfang abnehmen, aber eine viel
bedeutendere Tiefe erlangen. Wäre der
Mond hingegen kleiner, ſo würden die
Meeresbecken im Gegentheil eine viel be—
deutendere Ausdehnung bekommen, aber auch
entſprechend verflachen. Wenn endlich die
Erde gar keinen Satelliten hätte, ſo würde
das Waſſer um die Erde herum eine gleich—
mäßige, continuirliche Hülle bilden.
Bei Beantwortung der zweiten Frage
gelangt Lamarck noch zu einer anderen
Annahme. Er ſagt, nur wenn das Waſſer
um die Erde herum eine gleichmäßige Hülle
bildete, würde der Mittelpunkt ihrer Geſtalt
mit ihrem Schwerpunkt zuſammenfallen.
Da dem nun nicht ſo iſt, ſo müſſen dieſe |
beiden Punkte nothwendig etwas von ein—
ander entfernt liegen, wenngleich nur ſehr
wenig, da die Tiefe des Meeres und die
Höhe der Berge im Vergleich zum Erd—
radius außerordentlich klein iſt und alſo
die Abweichung, die durch das geringere
ſpezifiſche Gewicht des Waſſers und das
größere ſpezifiſche Gewicht der die Gebirge
bildenden Felsmaſſen entſteht, in Anbetracht
der ganzen Erdmaſſe ſehr klein und unbe—
deutend iſt. Da ſich nun nach Lamarck,
wie wir gleich ſehen werden, die Configu—
ration der Meere und Continente beſtändig
verändert, ſo muß ſich auch der Schwer—
punkt der Erde und die Rotationsachſe
derſelben verändern. — Seine Anſichten
über
Lamarck nieder in ſeiner Antwort auf
die dritte Frage, welche lautet:
„Iſt das Meeresbecken immer
da geweſen, wo es ſich gegenwär—
tig befindet? Giebt es Beweiſe
die Deplacirung der Meere legt
war, wo es jetzt nicht mehr iſt?
Im bejahenden Falle, welches
waren die Urſachen, daß es ſich
da befand und warum befindet
es ſich gegenwärtig nicht mehr
da
Obſchon Lamarck annimmt, daß die
Bewegungen des Meeres, hauptſächlich die
der Ebbe und Fluth, das Meeresbecken,
das ſonſt durch die von den Flüſſen ange—
ſchwemmten Materialien gefüllt würde,
beſtändig aushöhlen, ſo giebt er doch zu,
daß ſich die Meeresbecken, trotz dieſer Be—
wegungen, mit der Zeit anfüllen würden,
wenn ſich die Lage der Meere nicht ver—
änderte. Er behauptet nun einerſeits
a priori, daß die Meere aus allgemeinen
| phyſikaliſchen Gründen ihre Lage verändern
müſſen, und anderſeits a posteriori, es ſei
bewieſen, daß ſie dieſelbe wirklich verän—
dert haben. Das Waſſer der Meere dreht
ſich, wie alle Theile der Erdkugel, von
| Weſten nach Oſten um die Erdachſe. Da
nun das Waſſer vermöge der leichten Ver—
ſchiebbarkeit feiner Theile der Anziehungs—
kraft des Mondes eher gehorchen kann,
als die übrigen, trockenen und feſten Theile
der Erde, ſo muß daſſelbe nothwendiger⸗
weiſe immer ein wenig langſamer um die
Erde rotiren, als dieſe Theile. Daraus
muß ſich nothwendigerweiſe mit Bezug
auf das Feſtland eine langſame Bewegung
des Meeres nach Weſten ergeben. Dieſe
Bewegung iſt unabhängig von den Bewe—
gungen der Ebbe und Fluth, die fortlau—
fend unter den aufeinanderfolgenden Meri⸗
dianen ſtattfinden. Die Folge derſelben iſt,
daß die Waſſermaſſen des Meeres beſtändig
gegen die öſtlichen Küſten der Continente
) Hydrogèologie, S. 39.
er
anprallen, dieſelben alteriven und mit der
Zeit immer mehr überfluthen müſſen, wäh—
rend die weſtlichen Küſten der Continente
nothwendigerweiſe allmälig vom Meere ver—
laſſen werden. Lamarck führt zahlreiche
Thatſachen an, die für die Richtigkeit dieſer
ſeiner Theorie ſprechen ſollen. Wir können
hier nicht näher auf dieſelben eingehen. —
In Folge der allgemeinen Bewegung des
Meeres von Oſten nach Weſten werden die
durch die Flüſſe in daſſelbe geſchwemmten
Materialien nicht an allen Küſten ausge
worfen, ſondern nur an denjenigen, welche
das Meer verläßt, d. h. insbeſondere an
den weſtlichen Küſten der Continente, welche
in Folge vorrücken und höher
werden.
deſſen
Nachdem nun Lamarck bewieſen zu
haben glaubt, daß die Veränderung der
Lage der Meere eine phyſikaliſche Noth-
wendigkeit ſei, will er noch thatſächliche
Beweiſe dafür anführen, daß Theile des
vom
jetzigen Feſtlandes wirklich früher
Meere bedeckt geweſen ſeien.
An den meiſten Stellen der Erdober—
fläche, ſagt Lamarck, auf ſehr hohen
Bergen, in der Ebene, in tiefen Brunnen,
im Innern der Felſen finden wir authen—
tiſche Ueberreſte von Pflanzen und Thieren.
Dieſe Foſſilien finden meiſtens ihre Analoga
in den heute noch lebenden Formen. Durch
ihre Vergleichung mit dieſen laſſen ſich
Schlüſſe ziehen auf die Medien, welche die
lebenden Organismen, von denen dieſe Foſſi—
lien herrühren, bewohnt haben. So können
wir, wenn wir eine verſteinerte, zwei—
ſchalige Muſchel auffinden, nicht daran
zweifeln, daß das dazu gehörige Thier im
Waſſer gelebt hat, denn alle bekannten,
jetzt noch lebenden zweiſchaligen Muſcheln
ſind an das Leben im Waſſer gebunden.
In gleicher Weiſe können wir feſtſtellen,
Lang, Lamarck und Darwin.
ob gewiſſe Organismen, die uns im ver—
ſteinerten Zuſtande erhalten ſind, in der
Luft (auf dem Feſtlande) oder im Waſſer,
im ſüßen oder im ſalzigen Waſſer, in
ſtehenden oder fließenden Gewäſſern, am
Strande des. Meeres oder auf offener
See gelebt haben. — Dieſe höchſt wichtige
und richtige Unterſcheidung, beſonders der
littoralen Foſſilien von den pelagiſchen, hat
Lamarck, wie wohl keiner vor ihm, ſehr
genau durchgeführt.
Um das Vorhandenſein von Meeres—
foſſilien auf dem Feſtlande und ſogar auf
hohen Bergen zu erklären, hatte man da—
mals gemeiniglich große und allgemeine
Cataſtrophen angenommen, in Folge deren
die Meeresorganismen oder ihre Verſteine—
rungen aus dem Meere an dieſe Orte ge—
langt ſeien. — Lamarck beſtreitet dieſe
Theorie aufs heftigſte und behauptet, daß
ſie allen bekannten Erſcheinungen, ſowie dem
bekannten Gange der Natur widerſpreche.
Die Organismen, die wir im verſteinerten
Zuſtande vorfinden, haben im Gegentheil
an den nämlichen Orten gelebt, an denen
wir ſie vorfinden, ſagt Lamarck, und mit
Recht bemerkt er, daß man nicht alle mög—
lichen Arten von Foſſilien bunt zufammten-
gewürfelt antrifft, ſondern daß eine be—
ſtimmte Ordnung unverkennbar vorhanden
iſt, und daß die Thatſache, daß bei den
zweiſchaligen Muſcheln gewöhnlich noch beide
Schalen vorhanden ſind, ſich mit der An—
nahme allgemeiner Cataſtrophen ſchlechter—
dings nicht vereinigen laſſe. — Wenn man
auf dem Feſtlande Verſteinerungen von
Meeresthieren antrifft, jo iſt dies nach La—
marck eben ein Beweis dafür, daß die be—
treffenden Stellen früher zum Meeresboden
gehört haben. Hinſichtlich der Foſſilien von
Süßwaſſer- und Landthieren müſſe man
allerdings annehmen, daß ſie zufällig durch
.
i
——ůůů———ů—ů ——ů—
Lang, Lamarck und Darwin. 249
die Flüſſe ins Meer geführt und dort ab- man in kalten Gegenden Ueberreſte von
gelagert und verſteinert worden ſeien. La-
marck ſcheint nämlich anzunehmen, daß ſich
in Flüſſen und Seen keine Ablagerungen
bilden und keine Organismen verſteinert
werden können. — Wenn man an einer
Stelle Foſſilien von Strandformen findet,
ſo kann man nach Lamarck mit Sicherheit
annehmen, daß die betreffende Stelle früher
zum Meeresſtrande gehörte; findet man in
einer Schicht Hochſeefoſſilien, ſo iſt dieſe
Schicht gewiß am Boden des offenen Meeres
abgelagert worden.
Die Thatſache, daß man überall auf
dem Feſtlande Meeresfoſſilien antrifft, hält
Lamarck für einen Beweis dafür, daß das
Meer in ſeiner Bewegung von Oſten nach
Weſten wenigſtens einmal um die ganze
Erde herumgewandert ſei. Vielleicht ſei dies,
nach gewiſſen Funden zu urtheilen, mehr
als einmal geſchehen. Jede Stelle der Erd
oberfläche, wo man Foſſilien findet, muß
alſo, wie Lamarck ſagt, nothwendigerweiſe
zweimal zum Meeresſtrande und einmal
zum Grunde des offenen Meeres gehört
haben.
Wie ſchon früher bemerkt, hält Lamarck
mit dem Schwerpunkt natürlicher Weiſe auch
die Rotationsaxe der Erde für veränderlich.
Der Schwerpunkt der Erde liege nothwen—
digerweiſe jeweilen der größten Meerestiefe
gegenüber; daraus folge, daß der Schwer—
punkt der Erde einen vollſtändigen Kreis—
lauf um den Mittelpunkt ihrer Geſtalt ge—
macht habe, wenn ſich das Meer einmal
um die ganze Erde herum bewegt habe.
Wie ſich die Rotationsaxe der Erde dabei
nun eigentlich des genaueren verhalten ſoll,
darüber giebt uns Lamarck keinen nähern
Aufſchluß. Er ſagt nur, daß ſie ſich auch
verändere und will damit den Klimawechſel
erklären und dadurch die Thatſache, daß
Irrwege.
Organismen finde, die nur in heißen Kli—
maten gelebt haben konnten. Er glaubt,
daß ſich Europa gegenwärtig dem Nordpol
nähere und daß ſein Klima in Folge deſſen
kälter werde. Wir werden gleich ſehen, daß
Lamarck auch die außerordentliche Höhe
gewiſſer Berge durch dieſe Annahme zu er—
klären ſucht.
Die vierte und letzte Frage lautet:
„Welches iſt der Einfluß der
Organismen auf die Stoffe, welche
ſich auf der Erdoberfläche vorfin—
den und ihre äußere Kruſte zu—
ſammenſetzen, und welches ſind die
allgemeinen Reſultate dieſes Ein—
fluſſes?“ “)
Wir können Lamarck nicht in die
Einzelheiten ſeiner Beantwortung dieſer Frage
folgen. Von grundfalſchen chemiſchen Theorien
ausgehend, geräth er auf immer größere
Die Organismen haben, wie er
ſich ausdrückt, die Fähigkeit, ihre eigene
Körperſubſtanz ſelbſt zu bilden. Die Pflan—
zen bedürfen dazu nur der Luft, des Waſſers,
der Wärme und des Lichts. Die ſo ent—
ſtandenen Organismen werden mit der Zeit
zu Humus. Der Humus kann zu Felſen
werden. So nehmen nach Lamarck die
trockenen Theile der Erdoberfläche durch die
organiſche Thätigkeit der Thiere und Pflau—
zen beſtändig an Höhe zu, indem immer
neue Schichten von Humus gebildet werden.
Aus der Thatſache, daß gewiſſe mächtige
Geſteinsſchichten beinahe auschließlich aus den
reſiſten Theilen von Organismen gebildet
werden, wie die Korallenriffe, Muſchelbänke,
Torf-, Steinkohlenlager u. |. w. zieht er
den bedeutſamen, zum größten Theil richtigen
Schluß, daß aller Kalk auf der Erdober—
*) Hydrogéologie, Seite 91.
| 250 Lang, Lamarck und Darwin.
fläche durch thieriſche, alle Arten von Kohle
durch pflanzliche Thätigkeit entſtanden ſeien.
Er geht aber weiter. Seine falſchen chemiſchen
Theorien von der Umwandlung der Geſteine
bringen ihn auf den Gedanken, überhaupt
ſämmtliche Mineralien und Felsarten, welche
die äußere Erdkruſte zuſammenſetzen, mit
Ausnahme des Quarzes als des Urgeſteins,
als direkte oder indirekte Produkte orga—
niſcher Thätigkeit zu betrachten.
Zum Schluſſe bringt Lamarck noch
eine neue und zwar, wie er nunmehr ſagt,
die wichtigſte Erklärung von der Entſtehung
der hohen Berge. Er erinnert an die Ab—
plattung der Erde an ihren beiden Polen
und an die Wölbung derſelben unter dem
Aequator.
die Pole ihre Lage verändern, ſo müſſen
an den neuen Polen neue Abplattungen und
unter dem neuen Aequator eine neue Wöl—
bung entſtehen. Gegenwärtig entferne ſich
der Aequator von Europa, deshalb finde
man die höchſten Berge nördlich von ihm.
Der Erdſtrich, in welchem dieſe Berge lie—
gen, ſei früher unter dem Aequator geweſen
und dieſe Berge hätten damals einen Theil
von der Maſſe der gleichmäßigen Aequa⸗
torialverdickung gebildet. Damals lag dieſer
Theil der Erdoberfläche unter dem Meeres—
ſpiegel, nachher, als er ſich vom Aequator
entfernte, blieb die Wölbung der feſten
Theile, das Meer aber ſank auf das ent—
ſprechende Niveau zurück und floß von dem
nunmehr hervorſtehenden Feſtlande ab. Durch
die Wirkung der Atmoſpäre, der Vegeta—
tion, der Bewegung des ſüßen Waſſers u. |. w.
kam allmälig die jetzige Bodengeſtaltung des
betreffenden Erdſtrichs zu Stande.
Wir haben die Darſtellung der „Hy-
drogéologie“ Lamarcks beendet. Ein
kritiſcher Rückblick auf dieſelbe findet ſie
unreif. Sie theilt mit ſeinen chemiſchen
Wenn die Erdaxe und folglich
und phyſikaliſchen Theorien den Grund—
fehler, daß ſie auf Grund weniger, dazu
oft noch ſchlecht beurtheilter Thatſachen eine
umfaſſende Theorie aufſtellen will. Die
vielen Widerſprüche, die phantaſtiſchen Ver—
irrungen werden dem kundigen Leſer gleich
aufgefallen ſein. Einerſeits überſchätzt er
die Wirkungen gewiſſer Urſachen viel zu
ſehr, anderſeits ſchreibt er ihnen Wirkungen
zu, die ſie gar nicht haben. Die Tendenz,
die überall in ſeiner Schrift hervortritt, die
Entſtehung unſerer Erdoberfläche aus den
uns bekannten allgemeinen phyſikaliſchen
Kräften zu erklären, iſt ſehr anzuerkennen,
aber jeder wird begreifen, daß ein ſolcher
Verſuch, zumal zu ſeiner Zeit, nicht ge—
lingen konnte; ſind wir ja doch heute noch
nicht im Stande, alle geologiſchen Erſchei—
nungen auf die phyſikaliſchen Kräfte zurück—
zuführen. Vergleichen wir indeſſen La—
marck's Hydrogéologie mit den zu ſeiner
Zeit in Mode ſtehenden erdgeſchichtlichen
Theorien, ſo hat ſie neben vielen andern
beſſern Gedanken, die der Leſer leicht heraus-
gefunden hat, hauptſächlich das große Ver—
dienſt, zur Erklärung blos heute noch wir—
kende Urſachen und Kräfte herangezogen und
auf das Falſche der Lehre von den allge—
meinen und plötzlichen Kataſtrophen hin—
gewieſen zu haben. Darin gerade liegt
eine fundamentale Uebereinſtimmung ſeiner
Theorie nicht nur mit der durch Lyell
begründeten modernen Geologie, ſondern auch
mit der durch Darwin begründeten Ent-
wickelungslehre. Indem ſich nun aber La-
marck in Betreff der Erdgeſchichte gegenüber
ſeinen Zeitgenoſſen auf den charakteriſirten
Boden ſtellte, konnte er auch das Problem
von der Entſtehung der jetzigen Organis—
menwelt auf der Erde unter einem ganz
neuen Lichte betrachten. Wir werden ſehen,
in welcher Weiſe er dies that.
— — —— ——
Kleinere Mittheilungen.
Revolutionäre Ideen eines Zoologen
über die ſogen. Wurzelwörter
an die Adreſſe der Philologen.
=
| Vekanntlich ſucht die Philologie überall |
nach Wurzelwörtern, die eine Eigen-
ſchaft, eine Thätigkeit u. dgl.
IT ausdrücken ſollen und leitet von dieſen
erſt die Wörter, die den Gegenſtand,
die Sache bezeichnen, ab. So werden z. B.
in der Regel auch die Thier- und Pflanzen-
namen auf ſolche, oft nur ſupponirte Wurzel-
wörter, die eine Eigenſchaft u. ſ. w. aus⸗
drücken, zurückgeführt.
Verhält es ſich aber in der That ſo?
Iſt es nicht eher umgekehrt? Man denke
ſich ein Volk in ſeiner Kindheit — denn
nur in ſeiner Kindheit ſchafft ein Volk
wirklich neue Wörter, wie ja unſere
Kinder heute noch —, wie wird ſich das—
ſelbe den Wortſchatz ſeiner Sprache all—
mälig aufbauen? Wird es etwa willkürlich
Worte, Laute für Verbalbegriffe, die
eine beſtimmte Thätigkeit oder dergl. aus-
drücken, erſinnen, darüber übereinkommen
und dann aus dieſen Begriffs worten
erſt die Worte für die Sachen, Gegen—
ſtände, Thiere, Pflanzen ꝛc., die zu jenen
Begriffswörtern in Beziehung gebracht
werden können, bilden? Iſt das pſychologiſch
wahrſcheinlich? Die Abſtraction zuerſt und
dann das Concrete? Wird nicht vielmehr
ein ſolches Volk zunächſt ganz einfach
Namen bilden für die hervorragenden,
ihm aus irgend einem Grunde wichtigen
Gegenſtände ſeiner Umgebung, für Sachen,
Thiere wie Pflanzen u. ſ. f. und
dann erſt, durch Abſtraction, aus jenen
Namen Zeit und Eigenſchafts-Wörter,
d. h. Begriffswörter, bilden, welche
eben eine Haupteigenſchaft jener Sache u. |. w.
ausdrücken?
Ein Beiſpiel mag ſofort erläutern, was
wir meinen.
Ameiſe — emſig. — Was iſt das
Erſte? Nach der philologiſchen Theorie
ſtammt der Name „Ameiſe“ ab von
einem ſupponirten Wurzelwort, das etwa
„ams“, „amos“ oder ähnlich gelautet
haben würde und den Begriff: „thätig,
fleißig ſein“ bezeichnete. Wir aber
glauben, daß emſig, d. h. der Begriff:
„fleißig“ ſich erſt ſecundär ableitete von
dem ſchon vorhandenen Namen des
Inſects, indem es einfach deſſen Haupt
eigenſchaft ausdrückte. Einen fleißigen Men—
ſchen nannte man einfach einen „ameiſiſchen“
Menſchen. So ſpricht ein Naturvolk und
Naturvölker haben ja urſprünglich den
Wortſchatz aller, auch der jetzt höchſten
Sprachen bilden müſſen.
Freilich, es mag ſchwer halten, in den
252
heutigen, ſo vielfach umgeformten und wie
alte Münzen abgegriffenen und abgeſchliffe—
nen Worten unſerer hochgebildeten Cultur—
ſprachen, die noch dazu eine Menge Be—
griffswörter von ganz fremden Völkern
aufgenommen haben, jene primitiven Wur—
zeln, die Namen, noch als ſolche heraus—
zufinden. Die einfachen wortarmen Spra—
chen der ſogen. wilden Völker wären ſicher
hierzu weit brauchbarer, aber wer kennt ſie
genau und wer kennt genau genug die her—
vorragenden Gegenſtände ihrer Umgebung
und ihre Namen (Worte) für dieſelben?
Doch glauben wir, daß es einem Philo—
logen vom Fach nicht ſchwer ſein müßte,
auch in unſeren modernen Sprachen bei
vielen Worten jene alten Namen wieder
herauszuſchälen, wenn nur einmal das
Auge darauf gelenkt iſt.
Uns ſei es geſtattet, nur einige Beiſpiele
hier anzuführen, die uns beim Durchblättern
eines Wörterbuchs der deutſchen Sprache
auffielen.
„Vidan“, gothiſch = „Weide“, leitet
die Philologie ab von einem Wurzelwort
„binden“, „umwinden“,
Wir dagegen glauben, vidan nannte das
ſprachbildende, deutſche Urvolk zunächſt die
Weide und leitete davon als Begriffswort
das Verbum vidan, (binden, umwinden)
ab, indem es damit die für das Volk ſehr
wichtige Haupteigenſchaft jener Pflanze, daß
man damit binden, umwinden konnte, aus—
drückte. Erſt kam die Anſchauung und der
Name für das Konkrete, dann die Ab—
ſtraction, und Alles, was ſich daran knüpft,
— alſo auch z. B. „Vaddja“, gothiſch
— „Wand“ (weil die alten Deutſchen
die Wände aus Weidengeflecht und Lehm
herſtellten) würde, nach unſerem Dafür—
halten mittelbar auf jenen urſprünglichen
in
—
Kleinere Mittheilungen.
Pflanzen-Namen der Weide „vidan“
zurückzuführen ſein.
„Seil“, ſeilen, Seile leitet die
Philologie ab von einem Wurzelwort
binden. Ebenſo
derivirt ſie den Pflanzen-Namen der Sahl—
weide von demſelben Begriffswurzelwort
„ n, een
„silan“ = binden. Iſt nicht die Sache
einfacher zu erklären? Der Deutſche (oder
das Ariſche Stammvolk, wenn man lieber
will) bildete einen Namen für die ihm
ſehr wichtige Sahle (Sahlweide) und
ebenſo oder ähnlich mit einer kleinen Ab—
änderung nannte er dann die gedrehte
Sahlweide „Seil“ und daher salan
— binden.
„Lork“ (von Oken ſehr paſſend als
„Lurch“ hergeſtellt) bedeutet im Altdeutſchen
eine Waſſerkröte, wahrſcheinlich die Unke
(Bombinator igneus). Dies „lork*
wird abgeleitet von „lören“ — ſchreien.
Wir würden dagegen vermuthen, daß
„Lork“ nichts iſt als ein Onomatopoäti-
con des bekannten Ruf's der Unke. Dar—
nach benannte man zuerſt das Thier, dann
ſein Geſchrei, „lören.“
„Schlange“ abgeleitet von „slan—
gan“ — „ſchlingen“, „ſchlängelnde Be—
wegung.“ Ebenſo das engliſche Wort für
Schlange, „snake“, wird abgeleitet von
„snikan“, kriechen, (ſchniekiſch, ein deut—
ſcher Provinzialismus vou ähnlichem Sinn).
Ebenſo das hebräiſche diy (Ariach)
„Schlange“ wird abgeleitet von y („ar-
ach“) ſchnell dahinfliegen. — Auch bei die—
ſen drei Wörtern ſcheint uns die umge—
kehrte Ableitung die natürlichere.
Baſt (die Faſer unter der Rinde vieler
Gewächſe) wird abgeleitet von dem althoch—
deutſchen „bestan“ — „zuſammenſchnüren“,
Für uns wäre es umgekehrt.
f
—
„Bock“ leiten wir nicht ab von
„»bokan“ ſtoßen (ſchwäbiſch „bocken“) ſon—
dern umgekehrt. (In „pochen“, „Pochbrett“
iſt das Verbum noch Schriftſprache).
„Miethe* = „Motte“ wird abge
leitet von dem althochdeutſchen „meit-
zan“ — „ſchneiden.“ — Ob die beiden
Worte überhaupt zuſammenhängen?
Das Beſtreben ſolche Begriffe aus—
drückende Wurzelwörter aufzuſuchen, hat
die Philologen, wie uns ſcheint, überhaupt
öfters irregeführt und ſie veranlaßt, Wörter
in Verwandtſchaft zu bringen, die ſich ſchwer—
lich bewähren dürften, z. B.:
„Miez“, „Miezchen“, unſer be
kannter, freundlicher Name für die Katze
wird abgeleitet von „mutzen“ — verſtüm—
meln. Man habe nämlich urſprüng—
lich nur den verſchnittenen, verſtüm—
melten Kater ſo genannt. Uns ſcheint
Miez, Muz, wieder nur Onomatopos—
ticon von der Stimme der Katze, mi,
miau, und das Wort mutzen — verſtüm—
meln, hängt wohl gar nicht damit zu—
ſammen.
Natter, gothiſch „Naders“ alt
hochdeutſch Nat ha ra wird von dem latein.
nare — ſchwimmen, und natrix — die
Schwimmerin, abgeleitet. Auch hier glauben
wir an keinen Zuſammenhang, denn
Natter, oder, wie man in Süddeutſch—
land ſagt, Ader, Oader, iſt wohl ein
ganz urſprünglich deutſcher Schlangen—
Name.
Ein Kenner der gothiſchen Sprache
würde gewiß unſere obigen Auseinander-
ſetzungen noch mit vielen anderen Beiſpielen
belegen können.
Auch das Hebräiſche, eine, wie
uns ſcheint, in einer verhältnißmäßigen
Urſprünglichkeit gleichſam erſtarrte Sprache,
dürfte zu ſolchen Forſchungen nach Wur—
Kleinere Mittheilungen. >
53
N
1
zel-Namen, wie wir ſie neunen möchten,
ſich eignen.
Dürfen wir bei dieſer Gelegenheit an
die bekannte Thatſache erinnern, daß Moſes
dem erſten Menſchen, als ihn Gott in's
Paradies ſetzte, als allererſte Aufgabe die
Benennung der neuerſchaffenen Thiere
ertheilt? Geneſis 2, 19 und 20: „Denn
als Gott, der Herr, gemacht hatte von der
Erde allerlei Thiere auf dem Felde und
allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte
er ſie zu dem Menſchen, daß er ſähe, wie
er ſie nennete; denn wie der Menſch allerlei
lebendige Thiere nennen würde, ſo ſollten
ſie heißen. Und der Menſch gab einem
jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel
und Thier auf dem Felde ſeinen Namen.“
Noch ehe Adam eine „Gehilfin“ hatte,
noch ehe er mit einem menſchlichen Weſen
ſprechen konnte, läßt Moſes ihn Namen
bilden.
Wir ſind weit entfernt, dies als einen
Beweis für unſere obige Hypotheſe anzu—
führen, aber merkwürdig bleibt es doch,
daß hier die Thiernamengebung als etwas
Urmenſchliches und offenbar ſehr wich—
tiges dargeſtellt wird und die Zoologen
hätten allen Grund, ſtolz darauf zır fein,
daß ihre Thätigkeit nach Moſes eine ſo
uralte, ächt menſchliche iſt. Jedenfalls glau—
ben wir, ſowohl durch Moſes als
durch unſere obigen Auseinanderſetzungen
eine theilweiſe Identität des Berufsfeldes
des Naturforſchers und des Philologen nach—
gewieſen zu haben und nehmen dieſe voll—
auf in Auſpruch, wenn wir ſchließlich die
Philologen, nunmehr als Collegen, um
nachſichtsvolle Kritik unſerer obigen Häre—
ſien bitten.
Wir recapituliren: Unſere Theſe
wäre einfach die: Die Wurzelwörter
der Sprachen ſind nicht Begriffs—
| 254
wörter, die eine beſtimmte Eigen—
ſchaft, Thätigkeit u. ſ. w. aus⸗
drücken, ſondern die Wurzelwör—
ter ſind urſprünglich einfache
Namen für Gegenſtände. Nicht
das Begriffswort wurde zuerſt gebildet,
um die Sache danach zu benennen, ſondern
die Sache wurde zuerſt benannt und aus
dem Namen der Sache erſt das Wort für
den Begriff, für die eine oder andere Haupt—
eigenſchaft der Sache abgeleitet.
Dr. D. J. Weinland.
Die Ciefſee-Lotſungen
und die verſunkene Atlantis.
Der Umſtand, daß die Flora und
Fauna Europas, welche gegenwärtig eng
an diejenige des aſiatiſchen Continents
anſchließt, in der Tertiärzeit eine weit
größere Aehnlichkeit mit der damaligen und
jetzigen Lebewelt Nordamerikas dar—
bot, hat bekanntlich eine Reihe von For—
ſchern zu dem Schluſſe geführt, daß da—
zumal eine Feſtlandbrücke oder wenigſtens
eine große Inſel zwiſchen den beiden jetzt
ſo weit getrennten Continenten beſtanden
haben müſſe, um die Ueberwanderung zu
ermöglichen. Oswald Heer war zu
einer ſolchen Annahme durch Vergleichung
der Küſtenfauna von Europa und Amerika
gelangt, Retzius durch Schädelverglei—
chungen der Ureinwohner Nordamerikas
und Afrikas. Am ausführlichſten hatte
Unger dieſe Hypotheſe in einem 1860
erſchienenen Vortrage über „die verſunkene
Juſel Atlantis“ vorgetragen. Der Name
lehnt an die von mehreren alten Schrift—
ſtellern, am ausführlichſten von Plato in
ſeinen beiden Dialogen Timäus und
Kleinere Mittheilungen.
Kritias berichtete Sage an, nach welcher
in uralten Zeiten vor den Säulen des
Herkules eine Inſel, „größer als Lybien
und Aſia zuſammengenommen“, gelegen
habe, von der die Seefahrer leicht nach
einem jenſeits liegenden Feſtlande kommen
konnten. Dieſe ganze und gewaltige Inſel
Atlantis, deren Bewohner ganz Europa
unterjocht haben würden, wenn Athen nicht
ihrem, Auprall Widerſtand geleiſtet hätte,
ſollte, wie ein Prieſter von Salis dem
Solon erzählt hatte, in einer einzigen
Nacht verſunken ſein. Sei es nun, daß
dieſe Sage, wie ſo viele ihresgleichen ohne
allen thatſächlichen Anhalt aus den Fabeleien
von der Seichtheit des atlantiſchen Oceans
mit ſeinen Fucusbänken entſtanden iſt, oder
daß wirklich die Geſchichte und Erinnerung
der Menſchen ſo weit zurückreicht (wie man
aus dem Umſtande geſchloſſen hat, daß man
unter den Bewohnern Mittelamerikas ähn—
liche Sagen angetroffen hat), ſicher iſt, daß
ſich Anhaltspunkte für das ehemalige Da—
geweſenſein eines atlantiſchen Continents, als
deſſen höchſte Gebirgsſpitzen die Azoren noch
heute emporragen, durch die Peilungen der
engliſchen Schiffe Challenger, Hydra und
Porcupine, des amerikaniſchen Dolphin und
der deutſchen Fregatte Gazelle ergeben haben.
Einem Vortrage, den W. Stephen
Mitchell am 31. März é. in South
Kenſington (London) über die auf die At-
lantismythe beziehbaren Ergebniſſe der Chal—
lenger-Expedition gehalten hat, entnehmen
wir nach einem Referate der Nature
(XV. Nr. 391) nachſtehende Einzelheiten:
Der atlantiſche Ozean zeigte an vielen
Stellen zwiſchen Südamerika und Afrika
eine über 3000 Faden hinausgehende und
bis 3450 Faden ſteigende Tiefe. Aber
ungefähr in der Mittellinie des Ozeans,
über die Inſel Triſtan da Cunja nach As-
cenfion, zieht ſich der Challenger—
Rücken, eine Bodenerhebung, über welcher
die Tiefe nur zwiſchen 1000 — 2000 Fa—
den beträgt, und dieſe Erhebung ſetzt ſich
nördlich von der letzteren Inſel, über die
St. Pauls-Inſeln weſtlich gewendet, bis
nach der braſilianiſchen Küſte fort, läuft
dann, immer die Mittellinie des Meeres—
beckens bezeichnend, nördlich, verbreitert ſich
in der Gegend der Azoren zu einem aus—
gedehnten ſubmarinen Hochplateau und er—
weitert ſich nach einer kurzen Verſchmäle—
rung zu der continentalen Hochebene, welche
ſich zwiſchen Europa und Nordamerika aus—
breitet. Könnte das Meer trocken gelegt
werden, ſo würde jener, meiſt in einer
Breite von 5 — 10 Graden von Süden
nach Norden ſteigende und mehr als 100
Breitengrade durchſchneidende Gebirgsrücken
ca. 15000 Fuß über die Thalebene auf—
ſteigen, und die Inſeln würden als Berg—
ſpitzen von ca. 30000 Fuß Höhe erſcheinen.
Die Kuppen dieſes den Anden vergleich—
baren Gebirgrückens würden ſelbſt unter
dem Aequator wahrſcheinlich mit ewigem
Schnee bedeckt erſcheinen. In der eigent—
lichen Atlantisgegend zwiſchen Südeuropa
und Nordamerika beträgt die Durchſchnitts—
erhebung des dort allerdings ziemlich be—
wegten Terrains etwa 9000 Fuß über
der mittleren Meerestiefe. Der Vortragende
zeigte durch dieſe auf einer Atlantiskarte
eingetragenen Tiefendaten, daß allerdings
ſo zu ſagen ein ungeheurer, lang geſtreckter
ſubmariner Continent ſich zwiſchen der alten
und neuen Welt hinwindet, welcher bei
einer allgemeinen Erhebung des Meeres—
bodens um etwa 2000 Faden als zuſam—
menhängendes Gebirgsland hervortreten
würde, während zu ſeinen beiden Seiten
immer noch eine Seetiefe von 1000 Faden
Uebrigens
und darüber verbleiben könnte.
Kleinere Mittheilungen. 255
verwahrte ſich Mr. Mitchell gegen das
Mißverſtändniß, als wolle er mit ſeiner
Darlegung wirklich das ehemalige Daſein
eines ſo lang geſtreckten Continents, wie
ihn ſeine Karte andeutete, behaupten. Sein
Zweck war nur zu zeigen, wie ſich mancher—
lei Ergebniſſe der Wiſſenſchaft begegnen, um
der Hypotheſe von der verſunkenen Atlantis
eine gewiſſe Stütze zu verleihen, wobei es
aber zunächſt vollſtändig unerörtert bleiben
muß, welche Theile dieſes ungeheuren Hoch—
rückens, wenn überhaupt (und welche bei
einem vorauszuſetzenden Senkungsproceſſe
zuletzt noch), über die Meeresoberfläche
empor geragt haben mögen. Zeigte die Mythe
nicht jenen übertreibenden Zuſatz, daß die
Rieſeninſel in einer einzigen Erdbeben- und
Fluthennacht von dem Meere verſchlungen
worden ſei, und ſpräche ſie ſtatt deſſen von
einer allmäligen Ueberfluthung, jo würden -
die Atlantiden bei dem Zuſammentreffen
ſo mancher Einzelheiten gewiß mehr Sym—
pathien bei den Forſchern unſerer Zeit
finden, denn daß Daſein und Erinnerung
des Menſchengeſchlechts bis zur Tertiärzeit
zurückreichen könnte, iſt nach dem jetzigen
Stande der Wiſſenſchaft nicht abſolut un—
wahrſcheinlich. K.
Die elektriſchen Kiſche
haben ſich als vorzüglich geeignet erwieſen,
der Darwin'ſchen Theorie Schwie—
rigkeiten zu bereiten und als Ein—
würfe gegen dieſelbe zu dienen. Darwin,
der niemals irgendwie Neigung gezeigt hat,
über die ſeiner Theorie entgegenſtehenden Be—
denken mit Stillſchweigen hinweg zu gehen,
oder ſie zu vertuſchen, machte vielmehr ſelbſt
wiederholt und mit Nachdruck auf die hin—
9 256
ſichtlich dieſer Fiſche ſich darbietenden Räthſel
aufmerkſam*). Denn wie ſoll man ſich die
allmälige Entſtehung eines Organs, welches
erſt nützlich werden kann, wenn es ganz
vollendet iſt, durch natürliche Zuchtwahl
vorſtellen, von der Vorausſetzung ausgehend,
daß dieſes Organ nur vorhanden wäre,
um elektriſche Schläge auszutheilen. Aber
dieſe Schwierigkeit kann uns, wie Darwin
hinzuſetzt, nicht überraſchen, da wir nicht
einmal genau wiſſen, worin der allgemeine
Nutzen dieſer Organe beſteht. Beim Zitter—
aal und Torpedo dienen ſie ohne Zweifel
als kräftige Vertheidigungswaffen, vielleicht
auch als Mittel, ihre Jagdbeute zu lähmen
und dadurch bequemer zu fangen. Unter
anderen findet ſich ein analoges Organ im
Schwanze der Rochen, welches wie Mat—
teucci beobachtet hat, nur wenig Elektrizität,
ſelbſt bei ſtarker Reizung des Thieres, ent—
wickelt, und zwar ſo wenig, daß dieſelbe
kaum den genannten Zwecken dienen könnte.
Ueberdies liegt, wie R. M' Donnell ge
zeigt hat, außer dem eben erwähnten Organ
noch ein anderes in der Nähe des Kopfes,
von dem man nicht weiß, daß es elektriſch
wäre, welches aber das wirkliche Homologon
der elektriſchen Batterie bei Torpedo iſt.
Um die Schwierigkeit noch zu erhöhen, bietet
etwa ein Dutzend verwandtſchaftlich ſehr
weit auseinander ſtehender Fiſcharten ana—
tomiſch ganz ähnlich gebaute Organe dar,
die man pſeudoelektriſche Organe ge—
nannt hat, weil ſie keine merkbaren Schläge
austheilen, ohne daß irgend ein anderer
Nutzen oder eine beſtimmte Funktion an
ihnen erkannt wäre. Sie compliciren da—
durch das Problem, weil ſie an ganz ver—
ſchiedenen Körperſtellen liegen, alſo nicht
untereinander und mit den wirklich elektriſchen
) Entſtehung der Arten 5. Aufl.
(deutſche Ausgabe.) S. 206—208.
3
Kleinere Mittheilungen.
Apparaten als homolog betrachtet werden
können, ſo daß man auch nicht annehmen
kann, ſie wären durch Erbſchaft von einem
gemeinſamen Vorfahren übrig geblieben, und
in einigen Fällen durch Nichtgebrauch außer
Thätigkeit geſetzt worden, reſp. in anderen
Fällen ganz verſchwunden. Da die Rochen,
unter denen ſich die meiſten elektriſchen Fiſche
befinden, zu den älteſten Fiſchgeſchlechtern
gehören, fo hätte man bei homologer Lage
und Bildung leicht an ein gemeinſames Erb—
theil der Urfiſche denken können, aber, wie
geſagt, die elektriſchen Batterien und ihre
unwirkſamen Abbilder treten an den ver—
ſchiedenſten Körperſtellen auf, wozu noch
kommt, daß nach den neueren Beobachtungen
von Prof. Franz Boll das elektriſche
Organ des Zitterwels weſentlich verſchieden
konſtruirt iſt von demjenigen der Zitter—
rohen. Man muß alſo wohl an eine un—
abhängige Entſtehung dieſer verſchieden ge—
bauten und gelegenen Apparate denken, und
es würde dies darauf hindeuten, daß man
ſowohl nach einer allgemeinen Grundlage,
wie nach einer allgemeineren Entſtehungs—
urſache zu ſuchen habe. Ganz ſo troſtlos,
wie es im erſten Augenblick ſcheinen könnte,
iſt übrigens die Darwin'ſche Theorie
den elektriſchen Fiſchen gegenüber nicht. Zu—
nächſt hat das Auftreten ſtarker elektriſcher
Spannungen im thieriſchen Körper durch—
aus nichts Auffallendes, da ſchwächere
Ströme nach den berühmten Unterſuchungen
Du Bois-Reymond'?s die beſtändigen
Begleiter des Muskel- und Nervenlebens
ſind. Dieſe Ströme aber, deren Nutzen
wir ebenſo wenig kennen, ſtehen in einer
ſehr beſtimmten Beziehung zu den Willens—
akten, und der genannte Forſcher hat gezeigt,
daß man ein Galvanometer, deſſen Draht—
enden in zwei Gefäße mit Salzwaſſer tauchen,
ſofort in Bewegung ſetzen kann, wenn man
ee een EN
in jedes Gefäß den Finger einer Hand
taucht und den einen derſelben ſtark krümmt.
Ja er zeigte ſogar, daß man auf dieſe
Salzwaſſer, hundert Meilen weit telegraphi—
ren, d. h. Ströme thieriſcher Elektricität
durch Drähte ſo weit ſenden könnte. Da
dieſe Fähigkeit wahrſcheinlich keinem Wirbel—
thiere, vielleicht überhaupt keinem Thiere
fehlt, ja ſogar den empfindlichen Pflanzen
zukommt, ſo ergiebt ſich, daß eigentlich alle
elektriſche Ströme zu verſenden, d. h. Zitterthiere
zu werden. Es iſt nun ſehr verſtändlich, wa—
rum ſich dieſe gemeinſame Anlage nur bei
Salzwaſſerthieren in einigen Fällen aus—
gebildet hat, denn einem Luftthiere wäre
ihre Ausbildung ganz überflüſſig, und das
elektriſche Inſekt aus Braſilien (Arumatia,
eine Phasma⸗Art), von dem Maregrav
erzählt hatte: „Si hominem feriat, aliquem
tremorem exeitat in toto corpore,“ ge—
hört ebenfo der Mythe an, wie die Elektri—
citätsentwickelung der Scolopendra electrica
und wahrſcheinlich auch diejenige eines elek—
triſchen Strauches (Phytolacca electrica),
welchen Herr Lewy (Hamburger Garten—
und Blumen-Zeitung 1877, 1.) entdeckt
haben will, und der, des Nachts ruhend,
am Tage die Vögel, welche ſich auf dem—
ſelben niederlaſſen, und die Menſchen, welche
Zweige abbrechen wollen, durch ſtarke elek—
triſche Schläge verſcheuchen, ja ſogar ohne
Entladung den Compaß ablenken ſoll!
Wenn man annehmen könnte, daß be—
ſtimmte Seefiſche durch eine zufällige Ab-
änderung in den Stand geſetzt worden
wären, etwas ſtärkere Elektricitätsmengen
als ſonſt willkürlich zu entſenden, ſo hätte
ihnen dieſe Fähigkeit bereits nützlich werden
können, wenn ſie auch vorläufig nur hin—
reichte, ganz winzige Thiere zu lähmen, und
Thiere eine Anlage dazu haben, willkürlich
natürliche Zuchtwahl vorſtellen können. Dieſe
Weiſe durch bloße Fingerbewegungen in
Kleinere Mittheilungen. 257
man würde ſich in der That die weitere
Vervollkommnung dieſer Apparate durch
Hypotheſe würde vorausſetzen, daß die
elektriſchen Organe aus Muskeln hervor-
gegangen ſeien, durch eine entſprechendere
Anordnung derjenigen Gewebstheile, welche
die Nerv-Muskelſtröme erzeugen. Es iſt
nun in der That ganz vor kurzem Herrn
Babuchin der wichtige Nachweis gelungen”),
daß die nicht nervöſen, wie die bindegewe—
bigen Beſtandtheile der elektriſchen und
pſeudoelektriſchen Organe bis zu gewiſſen
Entwickelungsſtufen identiſch ſind, mit in
der Entwickelung begriffenen Muskelfaſern.
Das elektriſche Organ der Fiſche beſteht
aus Plattenpaaren ungleicher organiſcher
Materie, ganz wie eine voltaiſche Säule;
das eine Glied jedes Elementes entſteht
aus Muskelprotoplasma, das andere nervöſe
Glied kann als eine Ausbreitung des oder
der in jedes Plattenpaar eintretenden Nerven
betrachtet werden. Die einzelnen Platten—
paare ſind durch eine dem feuchten Leiter
der voltaiſchen Säule vergleichbare Binde—
ſubſtanz getrennt. Der morphogenetiſche
Hauptunterſchied zwiſchen elektriſchen und
pſeudoelektriſchen Organen würde nach Ba—
buchin darin beſtehen, daß bei den erſteren
embryonale, wiewohl bereits contraktions—
fähige, bei den letzteren aber ſchon ganz
entwickelte und funktionirende Muskelfaſern
zu dem metaſarkoblaſtiſchen Gliede (wie
Babuchin die Subſtanz der nicht nervöſen
Plattenſchicht nennt) umgewandelt werden.
Dort geht die aniſotrope Subſtanz der
Muskelfaſer zu Grunde, hier bleibt ſie er—
halten.⸗In Folge deſſen zeigen die pſeudo—
elektriſchen Organe in ihrer Subſtanz eine
) Reichard's und Du Bois-Rey—
mond's Archiv 1876, Heft 4 und 5.
258
Miſchung von einfach und doppelt brechen—
den Elementen, wie die Muskeln, und
bilden ſonach eine den letzteren genäherte
Uebergangsbildung zu den elektriſchen Or—
ganen, die eine ſolche optiſch heterogene
Elementarzuſammenſetzung nicht zeigen und
eben deshalb als durchaus unvergleichbar
mit Muskeln bezeichnet worden waren.
Kleinere Mittheilungen.
in ſeinen erſt kürzlich“) veröffentlichten Unter—
Durch dieſe entwickelungsgeſchichtlichen Stu-
dien erſcheint die Frage nach dem Urſprunge
der elektriſchen Organe gelöſt, und um dem
Wie der Entſtehung näher zu kommen, wird
es zunächſt darauf ankommen, ſich darüber
klar zu werden, ob die pſeudoelektriſchen
Organe Anfänge oder Rückbildungen der
elektriſchen darſtellen, und ob ſie ſonſt irgend
eine nützliche Funktion zu erfüllen im Stande
find. Es erklärt ſich nun aus der Ent—
ſtehungsweiſe auch, daß die elektriſchen Or—
gane trotz ihres ſo ſehr verſchiedenen, bis
in die Elementarbeſtandtheile ungleichen
Baues, ſo vielfache Analogieen mit Muskeln
darbieten. Insbeſondere hat ſich Mat—
teucci bemüht, dieſe Uebereinſtimmungen
im Einzelnen nachzuweiſen. Die Thätigkeit
beider Organe ſteht unter dem Einfluſſe
des Willens, kann aber auch ſowohl reflek—
toriſch, als durch künſtliche Reizungen her—
vorgerufen werden, was freilich auch von
der Thätigkeit der Leuchtorgane, der Drüſen
und ſelbſt des Gehirns gilt. Von beſon—
derem Intereſſe in dieſer Beziehung war
der Nachweis Matteucci's, daß Strych—
nin durch Reizung des Rückenmarks re—
flektoriſch ebenſowohl elektriſche Entladungen
wie ſonſt Muskelzuſammenziehungen her—
vorrief, was freilich nur für die Analogie
der gleichen nervöſen Erregbarkeit beweiſend
iſt. Radeliffe und Marey find noch
weiter gegangen, und haben auf gewiſſe
Aehnlichkeiten der Zitterrochen-Elektricität
mit den Muskelſtrömen hingewieſen. Marey
ſuchungen über die Entladung des Zitter—
rochens ſagt: Wenn man die freiwillige
oder durch einen Reiz hervorgerufene Ent—
ladung des Fiſches theilweiſe durch ein
Lippmann'ſches Capillar-Elektrometer gehen
läßt, ſo ſieht man den Queckſilberfaden in
ruckweiſer Bewegung vorwärts ſich bewegen,
indem er ſtets weiter vorwärts rückt als
er zurückgeht. Es hat ſomit eine Addirung
der ſich folgenden Ströme ſtattgefunden,
indem jeder einzelne noch nicht aufgehört
hatte, wenn der folgende anlangte. Dieſe
Addirung bildet eine auffallende Analogie
zwiſchen der Entladungsweiſe des elektriſchen
Aparates und der Contraktion eines Mus-
kels. Elektriſche Strömungen in dem
einen Falle, Muskelerſchütterungen in dem
andern, folgen ſich in Zwiſchenräumen, die
zu kurz find, als daß jeder einzelne Akt.
Zeit hätte, abzulaufen, bevor der folgende
ankömmt. Schon früher hatte Dr. Rad—
eliffe hervorgehoben, daß in dem elektriſchen
Apparate des Zitterrochens während der
Ruhe eine Ladung vorhanden zu ſein ſcheine,
welche derjenigen entſpricht, die in Muskel
und Nerv während der Ruhe vorhanden
iſt; ſo daß die Entladung bei Torpedo nur
die Folge einer Anhäufung der ſich ſonſt
langſam vertheilenden Elektricität ſein möchte.
Mit dieſer Auffaſſung würde die 1858
von Eckhard und Du Bois-Reymond
gemachte Entdeckung, daß das elckktriſche
Organ, im Gegenſatze zum Muskel, in der
Ruhe ſtromlos erſcheint, nicht im Wider—
ſpruche ſtehen. Es iſt nach alledem inter—
eſſant, zu erfahren, daß bereits der Entdecker
des elektriſchen Organs beim Zitterrochen,
Franz Redi, daſſelbe mit einem Muskel
verglichen hat. Die Vorgeſchichte der Zitter—
) Comptes rendus. T. LXXXIV p. 354.
Kleinere Mittheilungen.
rochentheorie iſt überhaupt ſehr lehrreich
und es verlohnt ſich, zum Schluße noch mit
einigen Worten darauf einzugehen. Die
alten Griechen und Römer wendeten be—
kanntlich die an ihren Küſten häufigen Arten
des Zitterrochen ziemlich allgemein als elek—
triſche Heilapparate an, um Rheumatismus
und ähnliche Nervenübel zu behandeln: die
Elektrotherapie war längſt im Gange, ehe
man eine Ahnung von Elektriſirmaſchinen
oder gar von Induktionsapparaten hatte.
Er⸗
findung der galvaniſchen Säule dem Dr.
Volta um eine lange Reihe von Jahr—
Die Rochen hatten aber in der
tauſenden den Vorſprung abgewonnen.
Im Allgemeinen glaubte man bis zu den |
Zeiten Aldrovandi's, die Galle der
Zitterrochen ſondere einen ſcharfen Saft
ab, der ſich im Waſſer verbreite, und
in ähnlicher Weiſe wie das ätzende
Gift der Quallen und Meerneſſeln einen
chemiſchen Reiz ausübe. Franz Redi
bewies 1666, daß die Galle des Zitter⸗
rochens gar keine Schärfe beſitze und nicht
die ihr von Plinius und Galen zu—
geſchriebene Kraft habe: „ut flaceidum et
imbelle reddat illud cornu, quo (ut
Boccacius noster loquitur) homines
arjetant“ wie er ſchalkhaft ſich ausdrückt).
Aber die Alten hatten ſchon weitere Beobach—
tungen gemacht und wahrgenommen, daß
der Schlag des Zitterrochens ſich durch
metallene Gegenſtände, ja durch feuchte
Netze und Augelſchnuren fortpflanze, ſodaß
der merkwürdige Fiſch ſogar den Händen
der Fiſcher durch ſeine geheimnißvolle Kraft
zuweilen entrann. Ein alter Mathematiker
und Phyſiker, Heron von Alexandrien,
hatte bereits ſeine philoſophiſchen Betrach—
) Franeiseus Redi, Experimenta eirca
varias res naturales. Amstelaedami 1685.
p- 57.
259
tungen über ein feines Fluidum
angeſtellt, welches ſich von dem Fiſche aus
durch die feineren Poren der ihn berühren—
den Körper bis zu den menſchlichen Em—
pfindungswerkzeugen verbreite. Der ur—
ſprünglichſte Entdecker des elektriſchen Or—
ganes war, wie uns Athenäus erzählt,
der alte Naturkundige Diphilus von
Laodicea geweſen, der aus uns unbekannten
Gründen behauptet hatte, nicht von dem
geſammten Körper des Fiſches gehe ſeine
lähmende Kraft aus, ſondern nur von
einem Theile deſſelben. Dieſem wahrſchein—
lich nur muthmaßenden Entdecker folgte
der Vater der Anatomie, indem er das—
jenige Organ im Innern des Rochens als
das Schläge ausıheilende bezeichnete, welches
er in andern Fiſchen nicht gefunden hatte.
Er nahm die beiden ſichelförmigen Körper,
die man beim Genuße allgemein verwirft,
für die Erzeuger der ſchmerzenden Kraft,
über deren Natur er ſich ein Urtheil nicht
erlaubte: „mihi tune quidem videbatur
in his duobus falcatis corporibus vel
musculis, potius quam in ulla alia
parte residere virtus dolorifica torpe-
dinis.“ “) Dieſe Vergleichung mit Muskeln
iſt ſeitdem, und, wie wir nun ſehen, nicht
ohne Grund, gegen allen Schein feſtgehal—
ten worden; Reaum ur glaubte es ſogar
mit einem beſonderen Sprungfeder-Muskel
zu thun zu haben, der langſam zufammen-
gezogen, plötzlich auseinanderſchnelle und ſo
mechauiſch den heimtückiſchen Schlag hervor—
bringt. Nachdem Adanſon die elektriſche
Natur des Schlages vermuthet und J.
Walſh ſie dargethan, ſind die elektriſchen
Fiſche unendlich oft Gegenſtand wiſſen—
ſchaftlicher Unterſuchungen geweſen. Auch
hier knüpfen ſich immer mehr Fragen, je
O
. sr
p- 60.
=
260
weiter die Wiſſenſchaft vordringt, aber als
beſondere Einwürfe gegen die Darwin!
ſche Theorie werden ſie kaum eine Rolle
mehr ſpielen, ſeitdem die Entſtehung der
elektriſchen Organe aus Muskelfaſern nach—
gewieſen wurde. So ſchwindet eine Schwie—
rigkeit nach der anderen. RK.
Schmetterlingsdüfte.
Daß die Blumen nicht darum duf—
ten, um unſere Naſen zu erfreuen, ſondern
um ſich kleineren Weſen trotz der Dunkel—
heit und Unſcheinbarkeit ihrer Färbung
bei Tag und Nacht bemerkbar zu machen,
darauf hat unſer verehrter Mitarbeiter
Dr. H. Müller an verſchiedenen Stellen
ſeines Hauptwerkes ) aufmerkſam gemacht.
Sein Bruder, Dr. Fritz Müller in
Blumenau (Braſilien) vermuthet in einer
vorläufigen Mittheilung“ *), daß auch die
Blumen der Luft, wie Jean Paul ein—
mal die Schmetterlinge genannt hat, ſich
ebenfalls in die Ferne geſendeter Düfte
als einer Art Blumenſprache in Liebes—
angelegenheiten bedienen, ſofern allem An—
ſcheine nach die Männchen durch charakte—
riſtiſche Ausdünſtungen die Weibchen aus
beträchtlichen Entfernungen herbeilocken. Er
fand nämlich die Männchen verſchiedener
Flügeln ausgezeichnet, von denen, ſogar
den Menſchen bemerkbar, charakteriſtiſche
Gerüche ausſtrömen. Dieſe Haar- und
) Die Befruchtung der Blumen durch
)
Inſekten, S. 426—433.
a) Jenaer Zeitſchr. f. Naturwiſſenſchaft,
1877, Heft 1.
Kleinere Mittheilungen.
bilde handeln müſſe.
dann
Arten von Tagfaltern durch eigenthümliche
Haar- und Schuppenbildungen auf den
zahl der Fälle dadurch aus, daß ſie für
gewöhnlich nicht offen der Luft ausgeſetzt
ſind, ſondern eingeſchloſſen liegen, ſei es,
und dies iſt der häufigſte Fall, zwiſchen
dem Innenrand der Hinterflügel und dem
Hinterleibe, ſei es in einem Umſchlage am
Vorderrand der Vorder- oder am Hinter—
rand der Hinterflügel, ſei es endlich in
beſonderen Furchen, Schlitzen oder Taſchen.
Zuweilen treten dieſe Gebilde auch frei auf
der Flügelfläche auf, aber dann ſtets auf
der oberen Seite, ſo daß ſie wenigſtens
bei aufrechter Haltung der Flügel einge—
ſchloſſen werden. Die Schuppen der be—
treffenden Duftflecken pflegen ſehr dicht ge—
drängt und aufrecht zu ſtehen, die Haar—
büſchel und Pinſel ſcheinen ſogar eines
freiwilligen Sträubens fähig zu ſein;
wenigſtens war dies bei einem Haarpinſel
auf der Mittelzelle der Hinterflügel von
Opsiphanis Cassiae der Fall. Schon
längſt hatte das häufige Vorkommen dieſer
Flecke und Haarbüſchel bei männlichen Fal—
tern der verſchiedenſten Gattungen am Vor—
derrande der Hinterflügel zwiſchen Coſtalis
und Subcoſtalis, wo ſie vom Innenrande
der Vorderflügel bedeckt werden, Herrn
Fritz Müller die Vermuthung auf—
gedrängt, daß es ſich hier um eine
beſtimmte, allgemeine Funktion dieſer Ge—
Zufällig bemerkte er
bei einem Männchen von Calli-
dryas Argante, daß von den mähnen—
artigen Haaren der Hinterflügel ein deut—
licher Moſchusgeruch ausſtröme, bei Pre—
pona Laörtes bemerkte er einen anderen
Duft, den feine Kinder als Fledermaus—
Schuppengebilde zeichnen ſich in der Mehr-
Geruch charakteriſirten, bei den Männchen
von Dircenna Xantho wurde Vanilleduft
feſtgeſtellt, und bei Thecla Atys kehrte der
Fledermausgeruch wieder, wobei jedesmal
von verſchiedenen Beobachtern die erwähn—
Kleinere Mittheilungen.
ten Stellen als Ausgangspunkte dieſer Ge
rüche erkannt wurden. Mancherlei Gründe
ſprechen dafür, daß dieſe Bildungen ſpeciell
der Geruchabſonderung und Ausbreitung
nicht bei Abend- und Nachtſchmetterlingen
in noch größerer Ausdehnung finden ſoll—
angepaßt ſind. Bei der erſt- und letzt
genannten Art, ſowie in anderen Fällen,
zeigte ſich die Unterlage der Duftflecken
von baumartig verzweigten
durchzogen. Ueberdem kann man ſich kaum
ein beſſeres Mittel denken, um ein Parfüm
ſchnell durch die Luft zu verbreiten, als
einen damit befeuchteten, aus einander ge-
ſträubten und luftdurchſpülten Haarpinſel,
und daß dieſelben für gewöhnlich der Luft
nicht ausgeſetzt ſind, kann dieſe Auffaſſung
nur noch unterſtützen.
in manchen Fällen ein beſonderer Geruch
nicht wahrgenommen werden, aber man
kann nicht wiſſen, ob die Schmetterlings—
naſen nicht darin empfindlicher ſein mögen.
Uebrigens kommen, wie Herr Fritz Müller
bemerkt, auch noch anderweite Abſonderungs⸗
organe für riechende Subſtanzen vor, ſei
es, daß dieſelben als Anlockungs- oder
Abſchreckungsmittel dienen. So fand er
bei den Männchen der meiſten Glaucopiden
am Ende des Hinterleibes auf der Bauchſeite
zwei aufrichtbare und mit ſich ſträubenden
Haaren beſetzte Hohlfäden vor, die einen
mehr oder weniger ſtarken und widerlichen
Geruch abſonderten, der z. B. bei Belem-
nia inaurata an eine Miſchung von Blau—
ſäure und Chloroform erinnert.
ſelbe als Abſchreckungsmittel dient, mag
Verfolgung ſchützen, auch wenn das Männ—
chen allein ſolche Abſonderungen beſitzt und
umgekehrt, ja die Mimicry begünſtigen,
von welcher Wallace und Leates ſo
merkwürdige Fälle bei Schmetterlingen bes
Dieſe intereſſauten Mit⸗
Inſeln erſtreckt.
obachtet haben.
theilungen ſollen, wie der Verfaſſer an—
Allerdings konnte
Wo der⸗
pflichtet ſind.
die Aehnlichkeit des Weibchens daſſelbe vor
Luftröhren
261
deutet, mehr zu weiteren Beobachtungen
anregen, als daß ſie eine feſtgeſtellte That—
ſache behaupten wollen. Es wäre z. B.
merkwürdig, wenn ſich ähnliche Organe
ten. N.
Die Verbreitung der Menſcheuraſſen
durch Luft- und Waſſer-Strömungen.
Am Schluſſe eines längeren Vortrages,
welchen der Kapitän Freiherr von Schlei—
nitz in den Sitzungen der berliner anthro—
pologiſchen Geſellſchaft vom 11. und 21.
April c. über die anthropologiſchen Ex—
kurſionen der „Gazelle“ hielt, ſtellte derſelbe
eine aus ſeinen Beobachtungen abgeleitete
Theorie über die Richtungen auf, in denen
die Inſeln der Südſee bevölkert worden
ſein möchten. Es erſcheint ihm aus mancherlei
Gründen für ſehr wahrſcheinlich, daß es
ſich hierbei um zwei einander faſt entgegen—
geſetzte Richtungen handeln möchte, in denen
dieſe Bevölkerung ſtattgefunden zu haben
ſcheint, und die mit den herrſchenden Luft—
ſtrömungen übeinſtimmen. Es iſt klar, daß
oceaniſche Inſeln den Winden und Waſſer—
ſtrömungen nicht nur für die Zuführung
von Pflanzenſamen und Flugthieren, ſondern
auch für die unfreiwillige Zuwanderung den
Elementen preisgegebener Kahnfahrer ver—
Es ließ ſich nun zunächſt
aus den Beobachtungen ein keilförmiges
melaneſiſches Dreieck conſtruiren, deſſen
Baſis Neu-Guinea und der Norden Auſtra—
liens bilden, und welches ſich genau in der
Richtung des dort während einiger Monate
des Jahres wehenden weſtlichen Monſuns
mit ſeiner Spitze bis nahe an die Fidſchi—
Dieſes Dreieck iſt offen—
bar von Neu-Guinea aus, d. h. vom Welten
her, mit der Papua-Race bevölkert worden.
Die Bewohner aller übrigen Inſeln ge—
hören der helleren Polyneſier-Race an, deren
Einwanderung von der entgegengeſetzten
Seite her, durch den regelrechten O. S. O-
Paſſat erfolgt ſein müſſe. Ganz deutlich
in der Richtung dieſes Windes erſtreckt ſich
parallel jenem melaneſiſchen Zuge eine
Reihenfolge kleiner, faſt nur von reinen
Polyneſiern bewohnter Inſeln; ein zweiter,
ebenfalls rein polyneſiſcher Streifen führt,
dem erſteren parallel, in etwas größerem Ab—
ſtande über die Gilberts- und Marſchall—
inſeln nach den Karolinen und andern In—
ſeln mit malayiſcher Bevölkerung. Freiherr
v. Schleinitz ſchließt deshalb, daß die
Verwandtſchaft der Malayen und Polyne—
ſier nicht durch eine direkte Bevölkerung
von Aſien aus zu erklären ſei, ſondern
daß ſie durch das außertropiſche Gebiet der
Weſtwinde über Amerika ihren Weg ge—
nommen haben müſſe, da er die Unmög—
lichkeit einer Bevölkerung gegen Meeres—
ſtrömung und Wind in jenen Gegenden
kennen gelernt und als praktiſcher Seemann
erprobt habe. Man wird der Anſicht
eines praktiſchen Seemannes, der zugleich
Anthropologe iſt, in dieſer Frage ein be—
deutendes Gewicht beimeſſen müſſen, aber
bevor man ſeiner Theorie zuſtimmt, dürfte
es doch noch zu erwägen ſein, ob die Ver—
ſchlagungs-Chancen nicht dennoch größer für
geringere Strecken von Inſel zu Inſel (durch
Ausnahmswinde), als für ungeheure ftationg-
loſe Meeresweiten durch die herrſchenden
Winde ausfallen? Haben in neueren Zeiten
nachweislich jemals Landungen amerikaniſcher
Boote an polyneſiſchen Eilanden ſtattge—
funden? K.
Kleinere Mittheilungen.
Parthenogeneſis bei einer deutſchen
Alpenpflanze.
Herr Prof. A. Kerner in Innsbruck
erſtattete der Wiener Akademie der Wiſſen—
ſchaften vor Kurzem Bericht über die von
ihm bei einer deutſchen Alpenpflanze beob—
achtete Parthenogeneſis.
Geburt iſt bekanntlich im Pflanzenreiche
viel ſeltener beobachtet worden, als in der
Zoologie und — Religionsgeſchichte, und
jeder derartige Erkenntnißbeitrag hat An—
ſpruch auf unſer lebhaſtes Intereſſe. Es
handelt ſich um eine Compoſite der höhern
Alpenregion, die eine nahe Verwandte des
allbekannten und allbeliebten Edelweiß oder
Löwentätzchens iſt, nämlich um das Alpen—
Katzenpfötchen (Autennaria alpina). Dieſe
Pflanze iſt gleich dem ſchönen Katzenpfötchen
der Ebene (X. dioica) und anderen Schweſtern
diöciſch, und wurden männliche Exemplare
derſelben nur höchſt ſelten angetroffen. Prof.
Kerner, der die weibliche Pflanze ſeit
1874 im botaniſchen Garten von Innsbruck
pflegte, hat die männliche Form nie zu
ſehen bekommen.
auch die Möglichkeit einer Befruchtung durch
Inſekten mit Pollen der eignen oder ver—
wandten Arten ausſchloß, die Pflanzen
brachten dennoch eine Anzahl reifer Samen,
die er im Frühjahr 1875 ausſäete. Von
dieſen keimten ſechs; vier gingen ein, aber
zwei wuchſen ebenſo üppig auf, wie die
Mutterpflanzen, ohne ein Zeichen von Ba—
ſtardnatur zu zeigen. Da die männlichen
Pflanzen im Freien ſo außerordentlich ſelten
ſind, ſo glaubt Prof. Kerner, daß ſich
auch die wilde Pflanze für gewöhnlich ohne
Befruchtung fortpflanze. Indeſſen wird man
über dieſe merkwürdige Erſcheinung noch
weitere Verſuche anſtellen müſſen, denn ſchon
bei einfachen Blüthen iſt es oft ſchwer genug,
Die jungfräuliche
Aber jo forgfältig er
die Abweſenheit aller und jeder Pollen—
bildung feſtzuſtellen, bei ſo kleinblüthigen
Compoſiten, wie Antennaria, erhöht ſich
dieſe Schwierigkeit noch weſentlich. K.
Der Formenreichthum der
Chinabäume.
Unter den Pflanzenfamilien, welche be—
ſonders geeignet erſcheinen, die Schwierig—
keiten des Artbegriffes zu erläutern, hat
Herr Dr. W. O. Focke in ſeiner Arbeit
im 2. Heft des „Kosmos“ mit gutem Fug
auch auf die Cinchonen hingewieſen. Sie
ſind in der That den Botanikern der neuen
Welt geworden, was jenen der alten die
Weiden, Brombeeren u. ſ. w. geweſen ſind,
und die Pharmakologen haben einen beſon—
deren Ausſchuß von Chinologen deputiren
müſſen, um der ſo ſchwierigen und doch ſo
geſchätzten Formengruppe Herr zu werden,
was ſodann in zahlreichen Monographien
verſucht worden iſt. Der neueſte Bearbei—
ter dieſes edlen Geſchlechtes, Herr Dr.
Kuntze, iſt hierbei nun zu ganz ähnlichen
Ergebniſſen gelangt, wie der oben genannte
Kleinere Mittheilungen.
Naturforſcher, und führte in den diesjäh—
rigen Januar- und Februar-Sitzungen des
botaniſchen Vereins der Provinz Branden-
burg aus, daß er von dem geſammten
großen Heer anſcheinend ſo ſehr verſchiedener
Formen nur etwa vier als wirkliche Arten
anerkennen könne, nämlich Cinchona Wed-
delliana Ktze; C. Pahudiana Howard;
C. Howardiana Ktze. und C. Pavoniana
Ktze.; alle übrigen ſeien Baſtarde. Nörd-
lich vom Aequator kämen beinahe nur Ba—
ſtarde vor, zu denen auch die meiſten der
in Oſtindien, ſowohl am Himalaya wie
auf Java angepflanzten Formen gehören,
diejenigen nicht ausgenommen, welche man
früher mit für Hauptarten angeſehen hat,
wie C. officinalis, laneifolia und cordi-
folia. Dieſe Baſtarde bilden ſich ebenfo
leicht ſpontan, wie ſie ſich künſtlich erzeugen
laſſen, und ſind, was am meiſten bemer—
kenswerth erſcheint und die Verwirrung
ſteigerte, nicht ſelten völlig fruchtbar.
Es ſcheint, daß die Baſtarde ſich leichter
akklimatiſiren laſſen, als die reinen Formen,
und daß unter ihnen die unfruchtbaren
Formen reicher an Chinin ſind, als die
fruchtbaren. K.
Die geſchichtliche Entwicklung des
Farbenſinnes.
nter vorſtehendem Titel hat Herr Dr.
Augenheilkunde in Breslau, durch
9 feine Forſchungen auf den Gebieten
der Phyſiologie und Pathologie des Ge—
ſichtsſinnes in weiten Kreiſen bekannt,
eine kleine Schrift“) veröffentlicht, in
welcher er von ſeinem Standpunkte aus
die von Lazarus Geiger auf ſprachlichen
Grundlagen ausführlich begründete Anſicht,
daß der menſchliche Farbenſinn ſich erſt in
hiſtoriſchen Zeiten aus einfachen Anfängen
entwickelt habe, weiter auszuführen und
phyſiologiſch zu rechtfertigen ſucht. Da
die Frage ein allgemeineres Intereſſe bean—
ſpruchen darf, und der Beifall eines ſo ge—
wiegten Forſchers auf phyſiologiſchem Gebiete
der ſprachlichen und hiſtoriſchen Kritik ein Ge—
wicht giebt, welches ſie bis dahin nicht be—
ſeſſen hat, ſo werden wir der Darlegung
unſerer Bedenken eine ausführliche Analyſe
des Ganges und der hauptſächlichſten Ge—
ſichtspunkte dieſer inhaltreichen Abhandlung
vorausſchicken.
*) Leipzig, Veit & Co. 1877.
61
Literatur und Kritik.
| der Naturmenſchen, die den Kulturvölkern
abhanden gekommen iſt, keinen Einwand
Hugo Magnus, Privatdocent der
Mit Recht hebt der Herr Verfaſſer
im Eingange hervor, daß die vielgerühmte
und thatſächlich beſtehende Sin nesſchärfe
gegen die Annahme, daß die Sinne durch
die Kultur entwickelt werden, begründet.
Denn jene gerühmte Sinnesſchärfe kommt nur
der elementaren Thätigkeit der Organe zu, ſie
betrifft die durch fortwährenden Gebrauch
geübte Fähigkeit, den fernſten Punkt im Netz—
hautbilde richtig zu deuten, das leiſeſte
Geräuſch zu hören, wohl gar, wie die
Thiere, mit der Naſe die Nähe oder das
Dageweſenſein ausdünſtender animaliſcher
Weſen zu „wittern“. Aber wie ſchon
Geiger und Andere bemerkt haben, geht dem
Naturmenſchen der Sinn für angenehme,
harmoniſche Farben, Töne, Gerüche und
Geſchmacksempfindungen mehr oder weniger
ab; ſie würdigen weder die Leiſtungen eines
Farbenkünſtlers noch die eines Contrapunk—
tiſten, ja nicht einmal die Eſſenzen eines
Parfümeurs und die Delikateſſen eines Koch—
künſtlers. Auch bringt das Menſchenkind
gebildeter Klaſſen nicht die Abneigung gegen
Mißgerüche, ſchreiende Farbenzuſammen—
ſtellungen, disharmoniſche Muſik, welche
ſeine Eltern auszeichnet, mit auf die Welt,
ſondern beanſprucht in feinen Sinnegempfin-
dungen Erziehung und Ausbildung, worin
man gewiß mit wohl verſtandener Beſchrän—
kung eine Analogie der Sinnesentwicklung
durch die Cultur erblicken darf.
In einem ähnlichen Sinne glaubte nun
Geiger nachweiſen zu können, daß die Ur-
völker nicht für alle Farben des Spektrums
die gleiche Empfänglichkeit uranfänglich be—
ſeſſen hätten, daß ihnen namentlich die blaue
Farbe kaum aus der Dunkelheit aufge—
dämmert ſei, weshalb ſie dieſelbe häufig mit
Schwarz verwechſelt hätten, und daß nächſt—
dem auch Grün in gleicher Weiſe von ihnen mit
Grau zuſammengeworfen worden ſei. Den
Regenbogen, den wir ſiebenfarbig nennen,
bezeichnet enophanes als eine Wolke:
purpurn, roth und gelbgrün; Ariſtoteles
nennt ihn ebenfalls dreifarbig: roth,
grün und blau, bemerkt aber, daß zwiſchen
roth und grün ein gelblicher Ton erſcheine.
Die Edda ſchildert den Regenbogen als
dreifarbige Brücke. Da ſchon in der
Farbenbezeichnung des Regenbogens ſichtbare
Auffaſſungs-Verſchiedenheiten hervortreten,
glaubt der Verfaſſer von den beſtimmten
Bezeichnungen abſehen zu ſollen, um die
Farben für eine ſolche hiſtoriſche Betrach—
tung lediglich nach ihrer Lichtſtärke zu
klaſſificiren. Es ergiebt ſich hierbei, daß
die Empfänglichkeit für die lichtreichen, dem
rothen Ende des Spektrums näheren Farben,
alſo beſonders für Roth und Gelb, ſich
bis in die älteſten Schriftzeiten verfolgen
läßt. In Perioden, in denen keine andren
Farben genannt werden, begegnen wir doch
ſtets dieſen beiden „Urfarben“. Indeſſen
meinte Geiger, daß dieſe Bezeichnungen
nicht ſchlechthin mit dem, was wir jetzt
darunter verſtehen, zu verwechſeln ſeien;
Roth diejenige von Helligkeit, Lichtfülle
überhaupt, weshalb es in den Rigveda- Beſchränkung an, obwohl er ſtatt En
Literatur und Kritik.
Pythagoras,
Gelb hatte der ſprachlichen Ableitung nach
eher die Bedeutung von Gelbroth und
265
liedern häufig mit Weiß zuſammenfällt.
Es wäre alſo nur eine Empfindung des
Hellen überhaupt geweſen, die man im
Gegenſatz zum Dunkel mit Roth bezeichnete.
Nach der Anſicht von Magnus müßte
man indeſſen annehmen, daß dieſe beiden
Farben nicht allein ihrer Lichtſtärke, ſondern
auch ihrer Farbenqualität nach zuerſt unter—
ſchieden worden wären. Gladſtone hat
bereits 1858 in ſeinen Homerſtudien zu
erweiſen geſucht, daß in der Entſtehungszeit
der homeriſchen Gedichte nur die lichtreichen
Farben Roth und Gelb deutlich klaſſificirt
wurden, während die Farben mittlerer und
geringerer Lichtſtärke: Grün, Blau, Violett,
im Hintergrunde blieben. Die Bezeichnung
für Grün fiel mit dem Begriff des Fahlen,
Gelblichen (XAwgos), für Blau und
Violett mit dem des Dunklen (avaveos)
zuſammen. Gladſtone hat ferner darauf
hingewieſen, wie Homer eine Unzahl Worte
für Helligkeitsunterſchiede verwen—
dete und eine Anzahl anderer Philologen
hat dieſe auffallende Armuth an Farben—
bezeichnung der homeriſchen Schilderungen
im Gegenſatze zu ihrer plaſtiſchen Aus—
malung zum Gegenſtande ihrer Betrachtungen
gemacht. Für Roth, welches am häufigſten
vorkömmt, werden dagegen verſchiedene Be—
zeichnungen verwendet. Der Verfaſſer er—
innert ferner an die Erzählung des Plinius,
daß man zuerſt nur einfarbige Ge—
mälde und zwar rothe mit Zinnober oder
Mennige gemalt habe, ſpäter dann vier—
farbige, nämlich mit weißen, ſchwarzen,
rothen und ockergelben Pigmenten. In
ähnlicher Weiſe führten die alten Philoſophen
Timäus Locrus und
Empedokles nur vier Hauptfarben:
Schwarz, Weiß, Roth und Gelb auf, ja
ſelbſt Theophraſt ſchließt fi noch dieſer
N
5
266 Literatur und Kritik.
Gelbgrün nennt. Ewald in ſeinen neuen
Unterſuchungen über die Farbenbewegung
findet, daß die Vorliebe der Alten für Gelb
eine ungemein große war, während es um—
gekehrt bei uns mißliebig geworden iſt
durch eine Verſchiebung des Farbengeſchmacks.
Die Farben mittlerer Lichtſtärke, dem Grün
entſprechend, würden kaum die Empfindung
der älteren Kulturvölker angeregt haben.
Die zehn Bücher der Rigveda geben nach
Geiger der Erde ebenſowenig das uns
ſo geläufige Beiwort grün, als ſie am
Himmel die Bläue vermerken. Ebenſo
werden im Zendaveſta weder die Erde noch
die Bäume und Pflanzen jemals als grün
bezeichnet. Geiger und Magnus ſchließen
daraus, bei den Alten müſſe die Empfäng-
lichkeit für die grüne Farbe noch gefehlt
haben. Bei den Griechen glauben ſie dann wahr—
zunehmen, wie dieſe Farbenempfindung ſich
allmälig entwickelt und einerſeits vom Gelben,
andrerſeits vom Grauen ſich losringt.
Geiger und Schuſter hoben ausdrück—
lich hervor, daß 4 ss bei Homer gelb
bedeutet und mit 70s, ockerfarbig, als
gleichbedeutend gebraucht wird, Heſiod
dagegen bereits den belaubten Zweig mit
dieſem Worten bezeichnet. Chloros bedeutete
übrigens zunächſt immer Gelbgrün und
Ariſtoteles ſtellte ihm ausdrücklich das
geſättigte Lauchgrün gegenüber. Homer
nennt den Honig und die fahle Farbe der
Angſt IJ οο, allerdings auch einmal
ebenſo die Saat, wodurch die Vermuthung
entſteht, als habe dies Wort urſprünglich
nur überhaupt einen fahlen gelblichen Ton
bezeichnet. Allmälig aber gewann der Aus-
druck die Bedeutung von Gelbgrün, ſo—
dann von Grün überhaupt, als ob er ſich
mit dem Empfindungsvermögen erſt zu
einer beſtimmten Bedeutung entwickelt hätte.
Aehnlich verhält es ſich mit dem egyptiſchen
urſprünglich
Worte tehen, welches nach Pietſchmann
eine vage Bezeichnung wie
chloros iſt und keineswegs bloß Gelb be—
deutete, denn Tehennu hießen die hellfar—
bigen Völker Lybiens und s-tehen bedeutete
„ergrünen laſſen.“ Das ſchon erwähnte Lauch—
grün, me«owog oder co, ſchloſſen
die Naturkundigen phyſikaliſch an die dunklen
Farben an, indem ſie im Gegenſatze zu dem
an das lichte Gelb anlehnenden chloros her—
vorheben, daß es ſehr viel Dunkelheit und
Schwärze enthalte, wobei überall in der
Klaſſifizirung das Beſtreben hervortritt,
die Lichtſtärke der Farben hervorzuheben.
Die Farben geringerer Lichtſtärke, dem
ſpektralen Blau und Violett entſprechend,
wären nach Geiger und Magnus noch
ſpäter als Grün zur ſpecifiſchen Unterſchei—
dung gelangt, denn es ſeien im grauen Alter—
thume die Bezeichnungen für Lichtblau
mit Grau, und für Dunkelblau mit
Schwarz zuſammengefallen. Wir ſähen
ſie an der Hand der Schriftunterſuchung
faſt ſichtbarlich aus der Empfindungsnacht
hervortreten. Der Ausdruck yAavaos, den
man jetzt nicht ſelten mit Hellblau überſetzt,
hätte urſprünglich ebenfalls nur die Be—
deutung einer Helligkeitsſtufe gehabt, ein
fahles Grau, wie es uns in den blaugrauen
oder „glauen“ Augen entgegentritt, nicht
aber ein reines Blau. Geiger will ent—
deckt haben, daß in den vediſchen Büchern,
in dem Aveſta, in der Bibel und ſelbſt
noch in dem Koran () der Himmelsbläue eben—
ſowenig Erwähnung geſchehe, als in den
homeriſchen Schriften.
auch erwähnt werde, niemals erhalte er dieſe
Bezeichnung, ja in allen dieſen Schriften
komme ein Wort für reines Blau über-
haupt nicht vor. Das altnordiſche bla,
das Stammwort für blau und black be-
deutet ſchwarz.
In der finniſch⸗tatariſchen
So oft der Himmel
7
* —
267 3
Literatur und Kritik.
| violetten Farbe gegenüber noch keine ſpezi—
Sprachfamilie heißt kek, kök, urſprünglich
grau, dann blau und grün. Das Ara—
mäiſche hat ebenſowenig wie das Hebräiſche
ein ſelbſtſtändiges Wort für die blaue Farbe
ausgebildet, und die Bibel, welche des Him—
mels 450 Mal erwähnt, konnte ihn nir—
gends blau nennen. Das Wort nil, welches
über einen großen Theil von Aſien ver—
breitet iſt, und jetzt indigblau bedeutet, be—
ſagte urſprünglich ſchwarz. Die romaniſchen
Sprachen mußten ihre Bezeichnung für blau
(biavo, bleu) von dem nordiſchen bla erbor—
gen, welches, wie ſchon erwähnt, ſchwarz
heißt.
Das altchineſiſche Wort hiuan, welches
man heute für Himmelbau gebraucht, be—
deutete ebenfalls urſprünglich Schwarz:
hiuan te heißt nicht blaue Tugend, ſondern
dunkle, verborgene Tugend.
Ebenſo bezeichnete denn auch das griechiſche
Wort xvavsos, welches wir jetzt mit
kornblumenblau überſetzen, beim Homer
ſchwarz. Er nennt das Haar des Hektor,
des Odyſſeus, der Hera und des Zeus kya-
neos, und es fällt Niemand ein, die berühmte
Stelle, nach welcher Phidias ſeinen Zeus
gebildet haben ſoll, etwa zu überſetzen: „Er
ſprach es und mit den blauen Augenbrauen
winkte er.“ An anderen Stellen gebraucht
Homer xvavsos und nel als völlig
gleichwerthig, nur um abzuwechſeln, wo er
z. B. von dem ſchwarzen Trauergewande
der Thetis ſpricht.
Odyſſeus mit der dunkelvioletten Hyacinthe,
Pindar ſpricht von Veilchenflechten und
Veilchenlocken.
ſcheinlich hervorzugehen, daß in den homeri—
ſchen Zeiten die Netzhaut der blauen und
In ähnlicher Weiſe
wird Violett mit Schwarz ſozuſagen ver-
wechſelt. Homer vergleicht die Haare des
Es ſcheint hieraus den er⸗
wähnten und anderen Kritikern als wahr-
fiſche Empfindung beſaß, ſondern ſie ihrer
Lichtſchwäche wegen einfach mit dem Licht—
mangel, der Dunkelheit vermiſchte. Die—
ſelbe ſprachliche Unbeſtimmtheit wie den
griechiſchen Bezeichnungen für Blau, haftet
dem lateiniſchen Worte caeruleus an,
welches urſprünglich die ganze Tonleiter
von Graugrün und Graublau bis Schwarz
bezeichnete und nur allmählig die Bedeutung
eines mehr oder weniger reinen Blau's
gewann. Noch Virgil gebraucht Wen-
dungen wie caeruleus puppis (der
ſtygiſche Nachen des Charon), Valerius
Flaccus giebt der Finſterniß, Statius
der Nacht und dem Schatten daſſelbe Bei—
wort, und Servius bemerkt zu einer
Stelle des Virgil, in welcher caeruleus
als Trauerfarbe figurirt, das Wort ſei auch
mit niger gleichbedeutend.
Aus den vorſtehend in ihren Haupt—
punkten erwähnten Folgerungen vorwiegend 8
ſprachlicher Natur, zieht Magnus
folgende Schlüſſe, die ich wörtlich anfüh—
ren will:
1) „In feiner erſten und primitivſten
Entwicklungsperiode beſchränkte ſich der
Farbenſinn nur erſt auf die Empfänglichkeit
für Roth; jedoch war auch dieſe Empfin—
dung noch keine reine und deutlich ausge—
ſprochene, ſondern fiel zum Theil noch mit
der des Hellen und Lichtreichen zuſammen,
ſo daß Weiß und Noth noch keine ſcharf
geſchiedenen Begriffe waren. Da nun aber
die Empfindung des Hellen, Lichtreichen
und des Dunklen, Schattigen, nicht ſowohl
eine Funktion des Farben-, als vielmehr
des Lichtſinnes iſt, jo dürfte in dieſer Per
riode der Lichtſinn, d. h. die Fähigkeit,
die verſchiedenen Lichtquantitäten zu em-
pfinden, nur erſt die einzige Funktions
äußerung der Netzhaut geweſen ſein, und
folglich der Farbenſinn ſich nur erſt in
— 5
wi.
S
268
wenig charakteriſtiſchen und höchſt unter—
geordneten Spuren bemerkbar gemacht
haben.
2) In der folgenden Phaſe ſeiner Ent—
wicklung tritt der Farbenſinn ſchon in
einen ſcharfen und deutlich ausgeſprochenen
Gegenſatz zu dem Lichtſinn; die Empfäng—
lichkeit für Roth und Gelb löſt ſich von
der des Hellen, mit der ſie bis dahin ver-
ſchmolzen war, vollſtändig los und ge-
ſchen Phyſiker ſie ausdrücklich als Hellig—
winnt den Charakter einer ſelbſtſtändigen
und ſpecifiſchen Farbenempfindung.
3) Im weiteren Verlaufe geſtaltet ſich
die Entwickelung des Farbenſinnes derart,
daß an die Fähigkeit, die lichtreichen Far-
ben Roth und Gelb zu empfinden, ſich die
Empfindlichkeit
Lichtſtärke anſchließt. Im Beſondern ent—
wickelt ſich die Kenntniß der hellen Töne
des Grün aus der allgemeinen Vorſtellung
des fahlen Gelb, während die des dunklen
Grün aus der allgemeinen Vorſtellung
des Dunklen und Schattenreichen her—
vorgeht.
4) Das Empfindungsvermögen für die
lichtſchwachen Farben Blau und Violett
tritt zuletzt auf, indem es ſich ganz all—
mählig aus der Vorſtellung des Dunklen,
in der es bis dahin vollſtändig aufging,
loslöſt. Mithin iſt der Entwicklungsgang,
welchen der Farbenſinn eingeſchlagen hat,
in der Weiſe erfolgt, daß er, entſprechend
der Reihenfolge der prismatiſchen Farben,
bei den lichtreichſten Farben begonnen hat
und, genau an die allmälige Lichtabſchwä—
chung der Spectral-Farben ſich haltend,
durch Grün zu Blau und Violett vorge—
geſchritten iſt.“
In einem letzten und wichtigſten Ka—
pitel fügt der Verfaſſer hinzu, daß jener
erſten Stufe der Empfindung des Rothen
nach dem Entwicklungsgeſetze noch eine
für die Farben mittlerer
Literatur und Kritik.
niedrigere voraufgegangen ſein müſſe, in
welcher die Netzhaut gar nichts von den
Lichtqualitäten, ſondern nur ihre Quanti—
täten, die Schattirungen zwiſchen Hell und
Dunkel, empfand. Dieſe Phaſe würde der
ſchriftloſen, vorgeſchichtlichen Zeit angehört
haben und die griechiſchen Philoſophen,
namentlich Anaxagoras, ſprachen von
einer Zeit, in welcher noch keinerlei Farben
exiſtirt haben ſollten, während die griechi—
keitsquantitäten, als Miſchungen von Hell
und Dunkel, wie ſpäter Göthe, erklärten.
Aber ſelbſt die gegenwärtige Funktions—
fähigkeit unſerer Netzhaut ſpricht, nach
Magnus, ſehr deutlich für die Behaup—
tung, daß in gewiſſen früheren Perioden die
Empfindlichkeit für Farben noch vollſtändig
gefehlt haben müſſe. „Denn die Fähig—
keit, Farben zu empfinden, iſt auch heut—
zutage noch nicht allen Theilen der Netz—
haut in der gleichen Weiſe eigenthümlich,
vielmehr beſchränkt ſich dieſelbe hauptſächlich
nur auf einen mehr oder minder aus—
gedehnten, centralen Theil derſelben, wäh—
rend die peripheriſche Netzhautzone eine höchſt
ausgeprägte Trägheit der Farbenempfindung
zeigt. Die in dem mittleren Theile der
Netzhaut ſich ſehr kräftig bemerkbar ma—
chende Empfindung eines jeden Farbentones
wird gegen die Netzhautperipherie hin nicht
blos auffallend ſchwächer, ſondern ver—
ſchwindet ſchließlich völlig und an dem
farbigen Object wird nicht mehr deſſen
Farbenwerth unterſchieden, ſondern daſſelbe
imponirt dem Auge nur vermitttelſt der _
ihm eigenen Lichtſtärke; ſo daß daher jede
Farbe in gewiſſen peripheriſchen Bezirken
der Netzhaut als mehr oder minder aus—
geſprochenes Grau erſcheint. Wenn wir
alſo beobachten, daß der Zuſtand, welchen
wir als den urſprünglich der geſammten
Literatur und Kritik.
Netzhaut eigenthümlichen vorausgeſetzt haben,
noch heute für gewiſſe Netzhautbezirke der
der Entwickelung begriffen
phyſiologiſche ift: jo wird unſere Behaup- |
tung, daß dieſer Zuſtand in früheren Peri—
oden nicht blos auf einzelne Bezirke der
Netzhaut beſchränkt, ſondern allen Theilen der |
Netzhaut eigenthümlich geweſen ſei, gewiß
erheblich an Wahrſcheinlichkeit gewinnen.“
Damit im Einklang hat der Verfaſſer an
kleinen Kindern die Beobachtung gemacht,
daß anfangs nur lichtreiche Farben, nament—
lich Roth ihre Aufmerkſamkeit erregen, ſo⸗
daß man ſelbſt noch bei Kindern, die über
ein Jahr alt ſind, eine auffallende Gleich—
gültigkeit gegen alle unbeſtimmten Uebergangs—
farben beobachtete. Worin dieſe Vervoll—
kommnung der Netzhautthätigkeit nun be—
ſteht, läßt ſich vor der Hand nur ahnen
und als Steigerung der ſpecifiſchen Ener—
gie des Sinnes betrachten. Vielleicht giebt
die weitere Unterſuchung der Farben—
blindheit, in welcher der Verfaſſer, wie
es auch ſchon von anderen Autoren ges
ſchehen iſt, uicht abgeneigt wäre, eine Art
von Atavismus zu erkennen, d. h. ein
Rückſchlagen oder Verbleiben des Sinnes
organs auf jenen Stufen, wo die Empfäng—
lichkeit für alle Farbentöne noch nicht aus-
gebildet, war weiteren Anhalt. Mit dieſer Bor-
ſtellungsweiſe im Einklange ſchließt der Ver—
faſſer, daß die Entwicklung des Farbenſinnes
mit der gegenwärtig erreichten Stufe
möglicherweiſe noch keineswegs abgeſchloſſen
ſei, „im Gegentheil, wir möchten viel eher
glauben, daß im Laufe der kommenden
Zeiten der Farbenſinn eine noch weitere
Ausbildung erfahren und ſich über das
äußerſte violette Ende des Spektrums noch
in das Gebiet des Ultravioletten hinein
erſtrecken werde. ..... Ohnehin möchten
wir glauben, daß die Empfindlichkeit für
Violett auch heute noch in dem Stadium
269 =
ſei; da fi
beobachten läßt, daß das Unterſcheidungs—
vermögen für gewiſſe Töne von Blau und
Violett ein noch ziemlich ſchwankendes und
ungenügend geſchärftes iſt. ..... Ja
wir müſſen endlich ſogar auch die Möglich—
keit zulaſſen, daß die peripheriſchen Netzhaut—
bezirke, welche gegenwärtig für jede Farben—
empfindung ſo gut wie unempfindlich ſind,
in ſpäteren Perioden auf eine ähnliche
Höhe der Farbenempfindlichkeit gelangen kön—
nen, wie ſie heutzutage nur den mittleren
cetzhautbezirken eigenthümlich iſt . . . .. 1
Was im Vorſtehenden auszugsweiſe
wiedergegeben wurde, ſind gewiß im Munde
eines Ophtalmologen doppelt gewichtige
Gründe für die in Rede ſtehende Auf—
faſſung. Aber ſo ſehr dieſelben im Ein—
klange zu ſtehen ſcheinen mit den als all—
gemein gültig erkannten Geſetzen der Ent-
wickelung, kann ich einer ſolchen Hypo—
theſe, ſoweit ſie grade den Menſchen betrifft,
keineswegs beiſtimmen, und ich werde meine
Gegengründe nunmehr in der Kürze ent—
wickeln, um dem geehrten Herrn Verfaſſer
Veranlaſſung zu geben, ſie vielleicht in
dieſen Heften zu entkräften. Meine Haupt-
bedenken ſind von der Rangſtufe des Men—
ſchen in der Natur hergenommen. Dar—
win, nachdem er die den menſchlichen
Scharfſinn quälende Zweckmäßigkeit der
Naturdinge durch ſein Geſetz der natür—
lichen Zuchtwahl erklärt hatte, frug ſich,
ob man auf dieſelbe Weiſe auch die Schön—
heit der Welt erklären könne. Er mußte
dies verneinen und eine andere Schlußfolge
erſinnen, und fand ſo die Geſetze der
geſchlechtlichen Zuchtwahl, um die
Schönheit der Thiere, den Nutzen der pflanz
lichen Kreuzbefruchtung durch Inſekten,
die Farbenpracht der Blumenwelt zu er—
klären. Dieſe Hauptgeſetze, an die ſich
einige Nebengeſetze (Mimiery u. |. w.)
anlehnen, beruhen im Weſentlichen mit auf
der Vorausſetzung, daß die Farben—
empfindung eine allgemeine und
urſprüngliche, oder ſagen wir,
eine ſehr frühentwickelte Fähigkeit
des Geſichtsorganes iſt. Dr. Her—
mann Müller hat beobachtet, daß ſich
die Honig oder Blumenſtaub ſuchenden
Juſekten viel mehr durch die Farbe, als
durch die Form der Blumen einladen
laſſen, ſofern ein Infekt, welches ſich z. B.
auf die Ausbeutung einer blauen Blume
geworfen hat, von einer blauen Blume
zur andern, wenn ſie auch verſchiedener
Geſtalt iſt, fliegt. Sir John Lubbock
hat ſich vor zwei Jahren experimentell von
dem ausgebildeten Farbenunterſcheidungsver—
mögen der Inſekten überzeugt. Bei den
Reptilien und Vögeln ſcheint ſich der
Farbenſinn bereits zu einer Würdigung
angenehmer Farbenzuſammenſtel—
lungen erhoben zu haben, denn ohne
dieſe Annahme läßt ſich z. B. kaum die
Pracht des Kolibri's, die Schönheit des
Pfauenſchweifes erklären, auf die der Vogel
ſo eitel iſt, und um welche Chryſippus
das ganze Thier erſchaffen ſein läßt. Von
den Schmetterlingen gilt wohl etwas Aehn—
liches. Ein Vermögen aber, welches den
ältern Wirbelthieren, ja ſogar zahlloſen
wirbelloſen Thieren eigen iſt, ſollte dem
Naturmenſchen bis zu den Zeiten Homers
gemangelt haben? Unglaublich!
Indeſſen übereilen wir uns nicht! Wa—
rum ſollten nicht gerade die Säugethiere,
als würdige Vorläufer des Weſens der
grauen Theorie, die lachende Welt ſeit jeher
Grau in Grau geſehen haben? Beinahe
niemals hat die geſchlechtliche Zuchtwahl bei
ihnen Kleider von lebhaften Farben erzeugt,
Literatur und Kritik.
grasgrüne Säugethiere ſind ebenſo unbe—
kannt als himmelblaue, purpurrothe und
violette, oder gar buntfarbige. Lebhafte
und ſchöne Färbungen treten in der That
erſt bei einigen Affen und dem Menſchen
auf; die niedern Säugethiere kleiden ſich,
wie der moderne Menſch, in ſtumpfe, ge—
brochene Farben. Auch muß daran erinnert
werden, daß jener lichtempfindliche purpur-
rothe Farbſtoff in der Netzhaut, den Prof.
Franz Boll erſt kürzlich im Wirbelthier-
Auge aufgefunden hat, und der möglicher
weiſe zum Farbenſehen in beſtimmten Be—
ziehungen ſteht, allerdings kürzlich auch im
menſchlichen Auge nachgewieſen worden iſt,
daß man ihn aber ſchon viel früher und
in größerer Menge in den Augen der
Cephalopoden und Seekrebſe entdeckt hat,
außerdem in den Augen der Heteropoden,
Käfer und Schmetterlinge. Man könnte ferner
aus den farbigen Oeltröpfchen in den Augen
der Reptilien und Vögel, die dem Wirbel—
thierauge fehlen, ſchließen, daß in der That
die Wirbelthiere erſt im Kulturmenſchen
das Vermögen erlangt haben, die Farben—
ſchönheit der Blumen, Vögel und Schmetter—
linge, ja der geſammten Natur zu würdigen.
Wenn nun auch der Nachweis, daß die
Farbenempfindung eine ziemlich allgemeine
Fähigkeit der ſehenden Thierwelt iſt, ge—
eignet erſcheint, die Vermuthung, daß unſre
älteſten Vorfahren vielleicht nicht der ganzen
Farbenſkala mächtig geweſen ſeien, lebhaft
zu erſchüttern, ſo reicht er doch nicht aus,
fie völlig zu widerlegen und wir müſſen
zu andern Hilfsmitteln unſre Zuflucht
nehmen. Ich will hierbei nur auf einen
Punkt hinweiſen, der mir beſonders beweis—
kräftig erſcheinen will. In dem geſammten
graueſten Alterthume und in den älteſten
Schriftdenkmalen wird die Schönheit eines
Halbedelſteines, deſſen Farbe ſich der äußer—
Literatur und Kritik. 2371
ſten Grenze der Farbenentwickelung (nach
Geiger und Magnus) nähert, vor der—
jenigen aller andern Steine geprieſen, näm—
lich diejenige des indigblauen Lapis lazuli.
Es iſt dies der Vaidürya der alten Inder,
der Saphir der Bibel und aller älteſten
Schriftſteller, nicht zu verwechſeln mit dem
Saphir unſerer Zeit. Kein Edelſtein be—
ſaß einen ſo großen Ruf im Alterthume
und hat ſo lebhaften Bergwerksbetrieb und
Handel hervorgerufen, als dieſer Stein, den
wir jetzt centnerweiſe künſtlich bereiten. Die
Beweiskraft dieſes Steines iſt darum ſo
groß, weil er außer ſeiner herrlichen, tief
dunkel indigblauen Farbe gar keine Vorzüge
beſitzt, die ihm ſonſt in den Augen der
Menſchen hätten Werth verleihen können;
er iſt undurchſichtig, ohne Farben—
ſpiel, ohne bemerkenswerthe Schwere oder
Härte, nur die Farbe an ſich konnte
an ihm entzücken. Der Ruhm dieſes
Steines, der einem ganzen Volke (den
Sapiren) ſeinen Namen gab, reicht hin, zu
beweiſen, daß die Alten faſt der geſammten
Farbenſkala mächtig waren, und es iſt kaum
nöthig, zu erwähnen, daß nächſt ihm ein
ebenfalls undurchſichtiger, härteloſer,
hellblauer oder grünlicher Stein, der Türkis,
früh und mehr geſchätzt wurde, als die
rothen, gelben und weißen Edelſteine, die
erſt durch künſtlichen Schliff ihr Farben—
ſpiel und ihre volle Schönheit erhalten.
An vielen Stellen der Bibel, wo dieſe beiden
Edelſteine neben andern genannt werden,
kann man leicht erkennen, daß ſie für die
ſchönſten galten, z. B. Hohe Lied 5, 14
wo Türkis und Saphir allein erwähnt
werden. Auch der violette Amethyſt wird
in der Bibel häufig genannt.
Nach dieſem, wie mir ſcheint, unaugreif—
baren Beweiſe, welchen der Saphir der
Alten an die Hand giebt, müſſen wir nun
verſuchen, die ſprachlichen Abſonderlichkeiten
der alten Literatur hinſichtlich der Farben—
bezeichnung aus der Sprache ſelbſt zu
erklären, und das iſt nicht ſo ausſichtslos
als es erſcheinen mag. Die Gründe für
dieſe Abſonderlichkeiten mögen theils pſycho—
logiſcher, theils ſprachlicher, theils ſpekulativ—
philoſophiſcher Natur geweſen ſein. Es
wird am beſten ſein, bei dieſem erklärenden
Commentar in der Reihenfolge des vor—
ſtehenden Auszugs zu verfahren. Daß wir
erſtens den Regenbogen ſiebenfarbig nennen,
welchen die alten Völker dreifarbig fanden,
beweiſt nur, daß man uns in der Schule
von ſieben Hauptfarben vorgeredet hat,
während es doch überhaupt nur vier oder
höchſtens fünf giebt, und daß wir uns
nunmehr einbilden, alle ſieben Farben im
Regenbogen zu ſehen. Blau, Indigo, Violett
und Purpur als ebenſo viele Hauptfarben
aufzuführen, iſt eine ſchreiende Ungerechtig-—
keit gegen Orange, Gelbgrün und Blau—
grün. Die einzelnen Farben nehmen im
Spektrum einen ſehr ungleichen Raum ein,
das Blau und Violett einen ungebührlich
breiten, das Grün und Gelb oft einen ſehr
ſchmalen, und auf den erſten Blick kann
man ſelten mehr als drei wirklich ausge—
bildete Farben im Regenbogen erkennen.
Die alte Bezeichnung iſt meines Erachtens
viel begründeter als die neue. Daß die
Alten zweitens Erde und Bäume ſo ſelten
grün und den Himmel noch ſeltener als
blau bezeichnen, hat m. E. einen pfycholo—
giſchen Grund. Man vergeſſe nicht, daß
die alten Schriften meiſt unter einem ewig
blauen Himmel, in einer immergrünen
Natur verfaßt wurden, ſo daß es keinen
Sinn gehabt haben würde, dieſe Beiwörter,
ſelbſt wenn ſie exiſtirt hätten, immer im
Munde zu führen. Wenn wir vom blauen
Himmel reden, ſo iſt blau ein Schmuckwort,
272 Literatur
ein ſogenanntes Epitheton ornans, weil der
Himmel bei uns vorwiegend trübe iſt, und
ebenſo ſteht es mit der Bezeichnung des
Erdbodens und Baumes, wenn wir ſie
grün nennen. Es iſt übrigens obendrein
unwahr, wenn Geiger ſagt, in der Bibel
werde nirgend der Himmel blau genannt. Es
heißt z. B. von der Erſcheinung Jahve's
(2. Moſ. 24, 10): „Unter ſeinen Füßen
war es wie ein ſchöner Saphir und wie
das Ausſehen des Himmels, wenn es klar
iſt.“ Hier und an anderen Stellen wird
doch ausdrücklich der Himmel als tief dun—
kelblau bezeichnet. Allein dieſer Nothbehelf
(der Vergleich des Himmels mit dem Saphir)
und Kritik.
führt uns zu dem Kerne der Sache, welcher
pſychologiſch ſehr intereſſant iſt. Es ſcheint
mir nämlich daraus hervorzugehen, daß
unausgebildeten Sprachen die Farbenbezeich-⸗
nungen durchweg zu fehlen ſcheinen. In
während Grün dem Roth an Lichtreichthum
der That wird man bei genauerem Nach—
denken finden, daß die Bezeichnung der
einzelnen Farbentöne erſt dringend wurde,
nachdem man zu einem gewiſſen Kleider—
und Wohnungsluxus gelangt war, ſeitdem
der Färber ſein Amt begonnen hatte. Einem
ganz analogen Falle begegnen wir bei dem
verwandten Sinne des Ohrs. Hier hat
uns nichts genöthigt, den einzelnen Tönen,
die den Farben ſo vielfach verglichen wor—
den ſind, beſondere Namen beizulegen, wir
unterſcheiden ſprachlich nur tiefe und hohe
Töne, wie das Alterthum nur von dunklen
und leuchtenden Farben redete. Ganz das
Verhältniß, welches Geiger beim Studium
der alten Schriftſteller in Erſtaunen ſetzte,
fand Schweinfurth bei den nubiſchen
Moslemin's in Afrika: ſie haben für grau
und grün nur ein Wort (achdär) und
ein anderes für blau und ſchwarz (äsrak) ).
) Im Herzen Afrika's, Leipzig 1874.
Bd II S. 175
5
Es würde aber für einen Reiſenden nicht
allzu ſchwierig ſein, ſich zu überzeugen, ob
dieſe Naturkinder blos ſprachlich oder
thatſächlich außer Stande ſind, blau von
ſchwarz zu unterſcheiden, und da hierüber,
wie dieſe Zeilen beweiſen, Zweifel beſtehen,
wäre es dankenswerth, wenn ein Reiſender
in Zukunft ſie beſeitigen wollte.
Hinſichtlich der Reihenfolge, in welcher
die Farbennamen in Gebrauch gekommen
ſind, theile ich ganz die Anſicht von Dr.
Magnus, daß dieſe Einführung neuer
Bezeichnungen in der Reihenfolge der Spek—
tralfarben geſchehen ſei. Allein meine
Gründe für dieſe Meinungsübereinſtimmung
ſind weſentlich anderer Art. Zuvörderſt
muß ich bemerken, daß ich der abnehmenden
Helligkeit hierbei einen weſentlichen Einfluß
nicht zuſchreiben kann. Im Spektrum iſt
nicht Roth die hellſte Farbe, ſondern Gelb,
kaum nachſteht. Ueberhaupt halte ich die
Lichtquantität der Farben in Bezug auf
ihre Unterſcheidung für untergeordnet gegen—
über der Lichtqualität, der Schwingungszahl
ihrer Wellen. Hierbei zeigt ſich nun als
allgemeine Erfahrung, daß das Auge der
Vögel, Säugethiere und Menſchen durch ein
feuriges Roth am ſtärkſten erregt wird;
ich erinnere nur an die Aufregung des Trut-
hahns, der Stiere in den Schaugefechten durch
rothe Tücher, und an das Gefallen der
Landleute an brennend rothen Kleidern, der
Kinder an rothen Bildern. Die Be—
merkung des Plinius, daß man zuerſt
in Roth gemalt habe, iſt durchaus pſycho—
logiſch wahrſcheinlich, und ſollte es ſich
dabei auch nur um die rothe Bemalung des
eignen Körpers der Wilden handeln. Es iſt
bis zu einem gewiſſen Grade wahrſcheinlich,
daß dieſer erregende Reiz des Rothen in
der langſamen, den Wärmeſtrahlen zunächſt
len, Schattigen, Dunkeln, und nicht weniger
Literatur und Kritik.
verwandten Schwingungsart liegt, allein
auch ſchon der Umſtand, daß die ganze
Natur in blau, grün und gelb gekleidet iſt,
mußte zur Bevorzugung der ſeltener ver—
tretenen Zinnober- und Purpurfarbe führen.
Dazu kommt, daß ſich die rothen und
gelben Farbſtoffe in Thieren, Früchten,
Blumen und Farbhölzern von ſelbſt dar—
bieten, während die grünen und blauen in
der Erde geſucht werden müſſen und aus
den Pflanzen nur durch umſtändliche Prozeſſe
gewonnen werden können. Hier ſind offen—
bar Sprache und Färberei ſelbander ge—
gangen; die Gewänder ſind gewiß lange
Zeit nur roth und gelb gefärbt worden,
bis man auch blaue und grüne Zeugfarben
mühſam ermittelte.
Nach alledem iſt nichts natürlicher, als
daß das Roth auch die erſte Farbe geweſen
ſein mag, die ihren beſondern Namen er—
halten hat, und obwohl die Autorität
Geiger's für mich ziemlich ſtark erſchüt—
tert worden iſt, glaube ich ihm doch völlig,
wenn er ſagt, daß der Begriff des Rothen
urſprünglich mit dem des Leuchtenden,
Weißen und Hellen faſt zuſammenfiel. Wir
ſelbſt ſprechen beſtändig von einem glühen—
den, brennenden, feurigen Roth, während
wir höchſtens in übertragener Ausdrucks—
weiſe von einem brennenden, feurigen Blau
ſprechen würden. Die Sonne erhebt ſich
glühendroth am Morgen, das Feuer leuchtet
roth durch die Nacht, ſo daß ſogar die
rothen Thiere als Symbole des Feuers
und der Sonne gebraucht wurden. Ein
Aehnliches aus ähnlichen Gründen gilt für
das leuchtende, feurige Gelb. Je mehr
nun dieſe Farben ſich dem Lichte und Feuer
verſchmelzen, um ſo natürlicher haftete ſich
an die gegenüberſtehenden Gruppen der blauen
und violetten Farben der Begriff des Küh—
273
naturgemäß verſchmilzt ihr Begriff, fo
lange ein beſtimmter Name nicht in Ge—
brauch genommen war, mit dem des Dunklen
überhaupt. Ueberall in der Natur grenzt
Blau an die Dunkelheit. Das Licht ſchim—
mert gelb oder roth durch den Nebel, die
Dunkelheit aber dämmert, wenn man ſo
ſagen darf, überall bläulich durch den
Schleier dünner Wolken und Vorhänge,
ſei es die Dunkelheit des Weltabgrundes,
der Meerestiefe, der Ferne, des Auges x.
Dazu kommt das allgemeine Verſchmelzen
des Schattens mit dem blauen Reflexlicht
des Himmels im Süden. Alle im Schatten
liegenden Klüfte und Riſſe der Berge er—
ſcheinen im Süden, je nach dem Stande
der Sonne, blau oder violett. Ich kann
mir nichts phyſikaliſch und pſpychologiſch
Nothwendigeres vorſtellen, als daß ein Volk,
welches noch kein beſonderes Wort für Blau
gebildet hat, daſſelbe mit dem Worte „dunkel“
(denn jo und nicht „ſchwarz“ muß wohl kya-
neos überſetzt werden) bezeichnen wird. Wir
haben übrigens noch heute, trotzdem wir
es doch nicht mehr nöthig haben, denſelben
Sprachgebrauch. Die dunkelviolette Hya—
cinthe, der einſt Homer, und vielleicht nicht
weniger der lockigen Perigonzipfel, als der
dunklen Farbe wegen, das Haar ſeines
edlen Dulders verglich, führen unſre Gärt—
nerkataloge als „ſchwarze“ Hyacinthe auf,
die dunkelblaue Gewitterwolke nennen wir
ſchwärzlich, wir ſprechen von „dunklen“
Veilchen u. ſ. w.
Aus dieſen natürlichen Grundlagen bil—
dete ſich nun jene Farbentheorie heraus,
welche von den älteſten Griechenzeiten bis
auf Newton die herrſchende war, und
dann von Goethe noch einmal erweckt
wurde, jene Theorie, welche lehrte, daß das
Gelb und Roth aus vielem Licht und wenig
Dunkelheit, Blau und Violett aus ne
274
Licht und vieler Dunkelheit gemiſcht ſeien,
eine Theorie, welche der einfachſten Beob—
achtungsgabe entſpricht, und für welche, jo
weit ſie ihrem Werthe nach den religiöſen
Mythen an die Seite geſtellt werden muß,
Literatur und Kritik. I,
Haupttönen ift meiſtens ein Werk der jüng—
ſten Zeit, zum Zeichen, wie ſpät ſich die
Goethe als Dunkelmann, trotz ſeines
eminenten Verſtändniſſes der Farbenwirkung,
in die Schranken trat.
in dieſer Theorie eine eigenthümliche Mittel—
ſtelle ein, es iſt gleichſam halb Licht und
halb Dunkelheit, halb Weiß, halb Schwarz
(aus der gelben Lichtfarbe und der blauen
Dunkelheit miſchbar), daher die Verſchmel—
zung mit grauen, fahlen Mitteltönen, fo |
lange das beſondere Wort dafür fehlt.
Wenn man bei Betrachtung einer grünen
Landſchaft die grünen Strahlen durch ge |
eignete Gläſer abblendet, was man durch
Lommel's Erythroſcop erreicht, ſo erſchei—
nen Raſen und Laub leuchtend zinnober—
roth. In dieſer Färbung müßte den Alten
die Vegetation erſchienen ſein, wenn ihnen
das Empfindungsvermögen des Grünen
Das Grün nimmt
gemangelt hätte, und da fie für die Em
pfindung und Bezeichnung des Rothen frü—
her befähigt geweſen ſein ſollen, würden ſie
uns das gewiß nicht verſchwiegen haben,
wenn ihnen der Wald zinnoberroth erſchienen
wäre.
Der ſprachliche Entwickelungsgang war
offenbar derart, daß man ſich mit Ver-
gleichungsobjekten behalf, ſo lange das be—
ſondere Wort fehlte, wie z. B. in der
Bibel der Himmel öfter mit dem Saphir
verglichen wird. Vielleicht ſetzten ſich einige
dieſer Vergleichungsworte als Nenn- und
Atavismus.
Sprachen in dieſer Richtung vollendeten.
Aber wenn die Farbbezeichnungen Lila,
Violett und Penſce die allerjüngſten dar—
unter ſind, ſo leite ich das nicht daher ab,
daß dieſe Farben erſt in neuerer Zeit zur
Geltung gekommen wären, ſondern daher,
weil man erſt in unſerer Zeit die
Flieder-, Veilchen- und Stiefmütterchenfarbe
als Kleider- und Modefarbe zur Herrſchaft
bringen konnte und in der Küpe ſicher zu
treffen lernte. Der blaue Purpur der
Alten mag etwas Aehnliches geweſen ſein.
Doch aus der Kritik wird eine Ab—
handlung, und ſo viel noch über dieſe Dinge
zu ſagen wäre, muß ich mich darauf be—
ſchränken, noch kurz zwei Punkte zu berüh—
ren. Hinſichtlich der geringeren Farben—
empfindlichkeit der peripheriſchen Theile der
Netzhaut giebt Dr. Magnus ſelbſt zu,
daß ſie wohl mehr dem Nichtgebrauch zu—
zuſchreiben ſei. Der andere Punkt betrifft
die Auffaſſung der Farbenblindheit als
Wenn unſere Anſchauungs—
weiſe richtig iſt, daß nämlich die erwähn—
ten Ausdrücke mehr für eine Unvollkommen—
Unterſcheidungsworte feſt, wie karmin, roſig,
orange, indigo u. |. w., welche nur Ab
kürzungen von Wendungen wie „roſen—
fingrige Eos“, „ſafranfarbiger Morgen“,
„lauchfarbiger Grund“ u. ſ. w. vorſtellen.
Die Bezeichnung der Nüancen zwiſchen den
heit der Sprache als des Auges der
Naturvölker ſprechen, ſo fällt dieſe Deutung
in ſich ſelbſt zuſammen. Damit ſteht in
vollem Einklange, daß nicht Blaublindheit,
ſondern Rothblindheit am häufigſten vor—
kommt. Eine weitere Entwickelungsfähig—
keit des Empfindungsvermögens nach der
violetten Seite des Spectrums will ich
nicht in Zweifel ziehen; in Wahrheit ſehen
ſchon jetzt einige Perſonen das ſogenannte
Lavendelgrau, was aber keine nennenswerthe
Bereicherung unſerer Skala zu ſein ſcheint.
Aber obwohl ich faſt alle Aufſtellungen
dieſer kleinen inhaltreichen Schrift habe be—
kämpfen müſſen, muß ich ſagen, daß mir
Literatur und Kritik.
275
dieſelbe ſowohl wegen der darin niedergelegten ſieht, ſo hat ſicherlich dieſes liebenswürdige
Beleſenheit, als auch durch die geiſtvolle kleine Buch einen erheblichen Antheil an
Behandlung des Themas das lebhafteſte dieſer erfreulichen Thatſache. In der leich—
Vergnügen gewährt hat. Und nicht allein ten und gefälligen Art Sir John Lubbock's
Sprachforſcher, die meine Anſchauungsweiſe und mit der ausgeſprochenen Abſicht ver—
etwa näher zu prüfen ſich veranlaßt ſehen faßt, bei ſeinen Kindern jene Liebe zur
möchten, werden aus derſelben die ſtärkſte Naturbeobachtung hervorzurufen, der er „ſo
Anregung erhalten, ſondern auch Natur- viele glückliche Stunden“ verdankt, eignet
forſcher überhaupt. Denn wenn die oben es ſich vorzugsweiſe für alle diejenigen,
mitgetheilten Sätze des Verfaſſers auch auf | welche nicht jo tief in das „entdeckte
den Menſchen keine Anwendung finden ſoll- Geheimniß der Natur“ eindringen wollen,
ten, ſo muß doch die Farbenempfindung wie ſie es vermittelſt der umfang⸗
irgendwo einmal im Thierreiche ihren An—
fang gehabt haben, und es wäre eine ver—
ſprechende Aufgabe für einen Forſcher, zu
verfolgen, ob etwa die obigen Sätze hier
ihre Anwendung fänden, und ob wirklich
Roth nicht allein die reizendſte, ſondern
auch die zuerſt und am allgemeinſten be-
wundertſte Farbe in der Stufenfolge der
Thiere iſt. K.
Sir John Lubbock, Blumen und
Inſekten in
ziehung.
ſchnitten. Berlin, 1877.
träger (Ed. Eggers).
Zur erſten Einführung und Orientirung
über den Gegenſtand, welchen das vor-
erwähnte Werk behandelt, und um die
Luſt zur Selbſtbeobachtung, für die gerade |
dieſes Feld unzähligen Naturfreunden reich—
liche, angenehme und dankenswerthe Ernten
verſpricht, zu wecken, kann es keine beſſere |
Anleitung geben, als das vorliegende Buch,
und wenn man in den naturwiſſenſchaft—
lichen Zeitſchriften Englands den Bienen-
fleiß der Beobachter auf dieſem Gebiete mit
dem Bienenfleiße der Honigſucher wetteifern
S. 154:
ſtatt Samen berichtigen. Die Ausſtattung
iſt wahrhaft ſplendid.
ihrer Wechſelbe⸗
Nach der zweiten Auflage
überſetzt von A. Paſſow. Mit 130 Holz⸗
Gebr. Born⸗
reicheren Werke von Charles Darwin
und Hermann Müller vermögen, oder
die einer leichteren Einleitung dazu bedürfen.
Leider find bei der Reviſion einige recht
ſinnſtörende Fehler unbemerkt geblieben, von
denen wir S. 43 nämliche ſtatt männ⸗
liche Form, S. 121 elektriſche Ströme
ſtatt Schläge, ebenda 1772 ſtatt 1872,
Früchtchen der Boragineen
Profeſſor Dr. Ernſt Häckel, Anthro—
pogenie oder Entwicklungsge—
ſchichte des Menſchen. Gemein—
verſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge
über die Grundzüge der menſchlichen
Keimes- und Stammesgeſchichte. Mit
15 Tafeln, 330 Holzſchnitten und 44
genetiſchen Tabellen. Dritte umgearbeitete
Auflage. Leipzig, Wilhelm Engelmann
1877.
Beim Anblick der dritten Auflage dieſes
Buches dürften den klaſſiſch gebildeten
Gegnern ſeines Verfaſſers jene beiden
Schriften Plutarch's einfallen, die
überſchrieben ſind: „Vom Glücke Alexander
des Großen“, in denen der als Gerechtig—
keitsmuſter berühmte Erforſcher und Ver—
276
gleicher der menſchlichen Werthe erwägt,
ob Alexander ſeine Ruhmestitel mehr dem
Glücke verdanke oder ſeiner Tapferkeit, und
das Ergebniß dieſer Betrachtung iſt dann,
daß eben dem Muthigen das Glück ge—
bühre, und daß man wagen müſſe, um
zu gewinnen. Als Häckel in ſeinem
Werke über die Kalkſchwämme die Ga—
ſträatheorie aufſtellte, da ſchlich ſich gar
mancher ſeiner Mitkämpfer ob dieſer Kühn—
heit bei Seite, und hielt es für beſſer zurück—
zubleiben, ja ſich feierlich loszuſagen von
dem allzukühnen Heerführer.
Heute, wie wir aus der neuen Auflage
der Anthropogenie erſehen können, iſt die
Gaſträa-Theorie abgerundet, wie nur
wenige zoologiſche Theorien es ſind und
was ihr Urheber im Anfange kaum ſelbſt
zu hoffen gewagt hat, iſt geſchehen, er hat
lebende Gaſträaden aufgefunden und Andere
haben die Gaſtrula-Form bis zu den höchſten
Wirbelthieren hinauf in ihrer Entwicklungs—
geſchichte nachgewieſen. Der kühnſte Hand—
ſtreich aber, hinſichtlich deſſen ſeine Gegner
die Fortuna des ſtärkſten Nepotismus be—
ſchuldigen, wurde in der erſten Auflage
der Anthropogenie ſelbſt ausgeführt. Für
eine beſtimmte Entwicklungsperiode des
Menſchen ließen den Verfaſſer nämlich
alle bisherigen Beobachtungen im Stiche.
Man hatte niemals feſtſtellen können, wie
die kindliche Placenta urſprünglich ausſieht,
und Häckel mußte daher ſeinen Spiritus
familiaris, d. h. den Genius der ver—
gleichenden Anatomie citiren, um ſich das
Niegeſehene im Spiegel der Wiſſenſchaft
zeigen zu laſſen. Sofort große Aufregung
unter den lauernden Gegnern. Endlich
hat man ihn bei einem Recognoscirungs—
Zuge ergriffen! Hochnothpeinliche Anklage:
Prof. His, Vorſitzender der heiligen
Literatur und Kritik.
Vehme. Aber Fortuna verläßt die
Muthigen nicht. Sie ſendet zur Zeit der
höchſten Bedrängniß das Niegeſehene dem
Prof. Krauſe in Göttingen zur Prüfung,
und ſiehe da, die Erſcheinungsform iſt
genau ſo, wie ſie Häckel entworfen hatte.
Es ſteifen ſich nun zwar die Ankläger auf
einen alten Paragraphen der heiligen
Vehme, in welchem es heißt, daß Wahrſagen
deb dee Aber es ſcheint, daß das
ein Schreibfehler iſt, und daß in der
Wiſſenſchaft vielmehr das Unwahrſagen
eine üble Nachrede nach ſich zieht. Bei
einer vorherverkündeten und wohlberechneten
Sonnenfinſterniß, ſtehen die Zweifler am
ärgſten im Schatten, und vorſichtige Zoo—
logen, welche eine wortſpielende Vergleichung
mit einem gewiſſen Zoilus vermeiden wollen,
ſchmähen daher immer erſt, wenn ſie ihrer
Sache böllig ſicher ſind, und die Rechnung
ſich ſchon als falſch erwieſen hat. Wir
rechnen dieſe Entdeckung der urſprünglichen
menſchlichen Allantoisform keineswegs zu
denjenigen Entdeckungen, welche amerikaniſche
Ingenieure mit dem Beinamen „Eclipſe“ zu
bezeichnen pflegen, weil, fie alle andern zu
verdunklen geeignet ſind, aber lehrreich iſt
ihre Geſchichte ſehr für diejenigen, die ſie
angeht. Auch glauben wir, daß in der An-
thropogenie noch mehrere ſolcher über—
raſchenden Vorgreiflichkeiten ſchlummern,
denn wenn es auch im praktiſchen Leben
und nach der materiellen Seite wahr ſein
mag, daß den Dummen immer die größten
Kartoffeln wachſen, in der Geſchichte der
Wiſſenſchaften hat man keine verbürgten
Beweiſe für die Wahrheit dieſes Sprich
wortes finden können. In der Wiſſenſchaft
haben nur diejenigen Glück und Erfolge
zu verzeichnen, die dieſelben wirklich ver—
dient haben. K.
— — —́uq—k——
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 4
Aeber Philoſophie der Darwin'lchen Lehre
von
Otto Caspari.
1. Was iſt Darwinismus im
Gebiete der Philoſophie?
über die Verhältniſſe und Be—
ER ce wegungen des organiſchen Lebens,
wie ſie durch die Theorien Dar—
*
win's angebahnt wurde, kann nicht ohne
Rückwirkung ſein auf die allgemeinen
Grundſätze der Philoſophie, und mit Recht
erheben wir daher die Frage: Was ver—
ſtehen wir vom Geſichtspunkte der Philo—
ſophie unter Darwinismus?
Um dieſe Frage aufzuhellen, erſcheint es
räthlich, von vornherein auf beſtimmte
philoſophiſche Grundanſchauungen hinzu—
weiſen, mit denen ſich die moderne Lehre
der Biologie im Sinne Darwin's und
jede ſog. Descendenzlehre in keinem Falle
verträgt.
Die Darwin'ſche Lehre vereinigt ſich
nicht mit der Anſicht, nach welcher ein
über das ganze Univerſum hinauslie—
gender Weltſchöpfer als deus ex
machina das Weltall künſtlich und über-
weltlich leitet und gängelt. Dieſer
abſolute Schöpfer, den man, um ihn zu
illuſtriren, oft mit einem Regiſſeur ver⸗
glichen hat, ſtände hinter den Decorationen
* des Welttheaters, ſähe unter die Verſenk—
Nine ſo tief eingreifende Lehre
ſion), und hätte außerdem das ſchon vor
Aufgang des Vorhangs (ante rem)
ungen (die Zöllner'ſche vierte Dimen—
fertig geſchriebene Drama (den Welt—
plan und den unfehlbaren hiſtoriſchen Ver—
lauf, d. i. die Teleologie) ſtets in der Hand,
um die Acteurs richtig hiernach durch den
Souffleur (d. i. die höhere ſpiritiſtiſche In—
ſpiration) zu unterrichten. Nach dieſer
kindlichen Weltanſchauung fällt das All
künſtlich auseinander, das natürliche Welt⸗
getriebe wird zerriſſen. Hier auf der
einen Seite der myſtiſche Führer des Alls,
auf der anderen die todte paſſive Welt mit
ihren übernatürlichen Eingriffen von oben.
Es iſt überflüſſig, dieſen unmöglichen Dua⸗
lismus näher zu kritiſiren. Ein Schöpfer
hinter und über dem Univerſum, dort
wo es nichts mehr zu denken giebt, hebt
ſich ſelbſt auf. Dieſer in ſich zwieſpaltigen
278
Anſicht gegenüber iſt der Darwinismus
Einheitslehre (Monismus). Nach dieſer
moniſtiſchen Lehre giebt es keinen ſog. Welt—
ſchöpfer und keinen ſchon vor dem All ge—
zeichneten Weltplan (Weltzweck), die Con—
ſtructionen ante rem jedweder Art find
(ſo ideal ſie mit Plato ausgedacht wer—
den mögen) daher zu verwerfen. Dieſer
teleologiſche Weltplan für Bau und Drama
der Bühne des Univerſums beſteht auch
nicht in re, wie man ſich mit Rückſicht
auf Ariſtoteles ausdrücken darf. Das
will ſagen: Man kann den Regiſſeur hin—
ter den Couliſſen fortlaſſen, meinetwegen
auch den Souffleur und kann nun ver—
ſuchen, das Stück dennoch nach allen Kunſt—
regeln abzuſpielen. Die Schauſpieler kön—
nen alle ihre Rollen gut auswendig, ſie
erſcheinen zur rechten Zeit auf der Bühne,
ohne des Anſtoßes vom Regiſſeur zu be—
dürfen, ſie haben ihre Sache gut im Kopfe;
indem ſie ſo alle richtig ſpielen, iſt das
Stück unter ihnen im ariſtoteliſchen Sinne
in re. Sie ſpielen, und da ſie nichts
Sinnloſes ſpielen dürfen und können, ſpielt
ſich eben nothwendig das Weltdrama
ab. Ein anderes Beiſpiel: Es ſoll ein
Haus gebaut werden. Hierzu kann man
vorher einen Plan fertigſtellen, den die
Bauleute nicht genau überſehen und kennen,
ſo wird ein Bauführer nöthig, der
künſtlich leitet; oder die Bauleute, die alle
beſtändig gewöhnt ſind zu bauen und ſchon
viel und immer gebaut haben, können
dieſen Bauingenieur entbehren, haben
alle Regeln der Baukunſt ſo feſt in ſich,
daß ſie ſtets bauen und nothwendig bauen
müſſen, als ſei ein Plan und ein Plan—
macher vorhanden, obwohl er ihnen allen
eben nur im Kopfe ſteht. Indem fie
nun pünktlich und kunſtgerecht in einander
greifend bauen, entſteht ein Haus nach
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
den Regeln der Kunſt, feſt gefügt mit ein
für allemal fixirten und am beſtimmten
Orte feſtſtehenden Wandungen, Zimmern
und Etagen. Dieſe Wände und Zimmer—
räume (Klaſſen, Gattungen u. ſ. w.) können
nicht beliebig verſetzt werden in—
nerhalb dieſes Baues, denn damit ginge
das feſt geordnete Gefüge (der teleologiſche
Plan ante rem oder in re) in Stücke, ja
das ganze Gefüge ginge völlig zu Grunde.
Mit beiden teleologiſchen Grundanſichten,
möge man ſie zu ſerviren verſuchen à la
Plato oder à la Ariſtoteles, läßt
ſich der Darwinismus, wie leicht zu erſehen
iſt, nicht mehr vereinigen. Denn in
dem Darwiniſtiſchen Hauſe des Weltalls
ſteht eben keine einzige Zimmer—
wand für immer feſt. Im Gegen—
theil, die Bauleute ſcheinen hier gar keinen
abſolut feſten Plan zu kennen, denn indem
ſie zugleich den Bau bewohnen, werden ſie
mit ewigen Abänderungen und Umformungen
darin gar nicht fertig. Hier führen ſie
jetzt eine Wand auf und trennen ſich von
ihren Nachbarn (weil dieſe unverträglich
wurden), dort find die Nachbarn mit Rück⸗
ſichten für größere Geſelligkeit und Annehm—
lichkeit übereingekommen, gemeinſchaftlich ihre
Zwiſchenräume niederzureißen, um inniger
zuſammen ſein zu können. Malt man ſich
dieſes Bild weiter aus, ſo kommt man zu
durchgreifend anderen Anſchauungen.
Ging dort alles ſtreng, ſteif und regelrecht
zu, alles dem Plane gemäß, ſo ſchie—
nen ſich dennoch die Bauleute einander
fremd zu ſein, ſie arbeiteten zwar genau
einander in die Hände (entweder weil es
fo vom Ingenieur commandirt wurde
nach Plato, oder weil fie auf den Plan
dreſſirt waren [nah Ariſtotelesl),
dennoch ſchienen ſie nur Automaten und
Streber des Planes zu ſein. Mindeſtens
Plato's
waren ſie alle Schauſpieler, die ihre Rolle
kannten und folgerecht ſpielen mußten. Da-
mit aber waren dieſe Glieder keine Faktoren
mehr, die natürlich auf einander
wirken konnten, um ſich einander dem
Moment gemäß, d. h. improviſirend, an—
zupaſſen oder zu bekämpfen und zu reiben,
zu ſtören, zu reizen, oder aber ſich zu er—
gänzen und zu vertragen u. ſ. w. Die
Begriffe: Störung, Hemmung, Kampf —
damit haben wir getroffen, was die An—
hänger des Weltplaus ſchreckt. Wer den
Plan (die Teleologie) behauptet, im Sinne
ebenſo wie im Sinne des
Ariſtoteles, wird es niemals erklärlich
finden können, daß dem Ingenieur als
Führer des Ganzen plötzlich durch eine
Revolte der Arbeiter ins Handwerk ge—
pfuſcht wird. Sein Plan iſt unfehlbar.
Auch die Schauſpieler im Sinne des A ri—
ſtoteles müßten aus der Rolle fallen,
wenn Mephiſto nicht vorgeſehen wäre
im Weltdrama. Wie aber, wenn Me—
phiſto, der im Stücke nothwendig wird,
von den Acteurs vorzeitig hinausgeworfen
würde, dann wäre doch offenbar das Stück
geſtört, die Schauſpieler wären aus der
Rolle gefallen, hätten improviſirt und hier—
mit den Plan vernichtet. Mephiſto, der Ent-
zünder des Streites, der offenbar wird, und
nur deshalb Mephiſto ift, weil er ab- und
zugehen kann, ohne daß er vermuthet wird,
iſt eben die ſchwierige Perſon, die mit keiner
Unfehlbarkeit und Allwiſſenheitsteleologie
verträglich erſcheint. Wir wiſſen, daß die
verneinende Macht im Weltdrama als die
Erſcheinung des Uebels auftritt und ſchon
hier ſei vorab bemerkt, daß die Teleologie
(und das überſehen meiſtens die ihr an—
hängenden Theologen) keine genügende Theo—
rie des Uebels und der ſich hieran anknüpfen—
2 den Erſcheinungen von extremen Störungen,
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
Dieſe Anſicht
Hemmungen und verneinenden zerſtörenden
Gewalten (als welche Uebel erſcheinen) zu
geben im Stande iſt. Es bleibt mit
Rückſicht auf den unverbrüchlichen Welt—
plan immer nur die Wahl zwiſchen Regie,
Präſtabilismus und Drama, in welchem
mit Hülfe typiſch feſtſtehender Figuren
(darunter muß alsdann auch Mephiſto fein)
ſich alles ſo nothwendig abſpielt, wie es
im vorgeſehenen Ausgange des Stückes
veranlagt iſt. Mitten im Stück darf alſo
unter ſolcher Anſchauung Mephiſto nicht
hinausgeworfen werden, er iſt vor Aus—
gang des Stückes un entbehrlich.
aber bietet keine richtige
Theorie des Uebels: Das Uebel (mögen
wir es im Gleichniß Mephiſto nennen)
muß zu beſeitigen fein noch vor Aus—
gang des Stückes; denn das Welt—
drama ſpielt ewig.
immer auf der Bühne, um bald mit
einander ſich zu ſtreiten, bald nur gegen
einander zu agitiren, bald ſich zu vertragen,
bald ſich zu hemmen, bald ſich zu fördern,
wie es die Umſtände des hiſtoriſchen Ver⸗
laufes mit ſich bringen. Die Acteurs (die
Kräfte) ſind eben keine Automaten oder
präſtabilirte Nußknacker, ſondern natürliche
Kräfte, die auf einander wirken. Durch
dieſe den Umſtänden angemeſſene Aufeinander—
wirkung der Kräfte geſchieht es eben, wie
wir im Folgenden zu zeigen gedenken, daß
ſich Uebel (näher charakteriſirt als extremſte
Unluſtzuſtände) erzeugen, die unter an—
deren (näher zu unterſuchenden) Umſtänden
wieder beſeitigt werden können.
Wir ſehen, daß nur die cauſal-mechaniſche
Grundanſchauung, welche alle Teleologie
perhorrescirt, das Problem über das Uebel
zu löſen im Stande iſt.
Die Acteurs find .
er
5 du
we a FE
85
*
280
2. Kampf, Agitation und canjal-
mechaniſche Wirkung.
Wiederholentlich iſt es ausgeſprochen
worden, und mit Nachdruck muß man es
immer von neuem wiederholen, daß die
biologiſche Weltanſchauung, wie ſie durch
den Darwinismus zur Geltung gekommen
iſt, nur deshalb ſo raſch und ſo vielen
Beifall bei den Naturforſchern fand, weil
es ſehr bald einleuchtete, daß die ausge—
ſprochenen Lehren über den genealogiſchen
Zuſammenhang alles Organiſchen, über
Bewegung und Transmutation aller Dr-
ganismen und organiſchen Theilchen eine
Auffaſſung zuließen, die mit den Grumd-
annahmen mechaniſcher Regeln vereinbar
war. Die Geſetze der Vererbung und An—
paſſung im Hinblick auf die beſtändige
gegenſeitige Reibung der Individuen und
Arten gegen einander, und im Kampfe
ferner gegen die äußeren Exiſtenzmittel von
Nahrung, Boden, Klima und kosmiſche
Bedingungen, waren hergeleitet aus jener
Grundanſchauung, welche das Spiel der
Kräfte mit allen ſeinen mechaniſchen Er—
ſcheinungen von Kraft und Gegenkraft
(Widerſtand) deutlich ins Auge zu faſſen
weiß. Centrifugal und centripetal wirkende
Kräfte ließen ſich feſtſtellen, die Gravita—
tion ſchien deutlich erkennbar in den Wir—
kungen und Nachwirkungen der Ver—
erbung, und die von außen eingreifen—
den Anſtöße der Naturumgebung als Rei—
bungen und Hemmniſſe aller Art (ſogen.
natürliche Zuchtwahl) wirkten dem entgegen
als tangentiale Kräfte und manifeſtirten
ſich in den Formen der Anpaſſung. Die
äußere geographiſche Verbreitung der Arten
und Gattungen, die Wanderungen der Spe—
cies, die Lebensweiſe, die Struktur und
Bauart der Organismen ließen ſich hier—
5
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
mit dem großen, erhabenen Bilde einver—
leiben, das wir uns über den Bau unſeres
Planeten und über das mechaniſch-phyſika⸗
kaliſche Leben und Wirken der innewohnen—
den Kräfte zu machen verſuchen. — Im
äußeren Leben der Individuen unter
einander ſehen wir Erſcheinungen zu Tage
treten, die wir uns gewöhnt haben in ver—
geiſtigter Weiſe anzuſchauen, da ſie dem
von uns erlebten Staats- und Familien⸗
leben nahe treten. Für ſolche ſind wir
gewöhnt, Bezeichnungen zu wählen, die rein
pſychologiſcher Natur ſind. Wir ſprechen
hier von Haß und Liebe, Abſcheu und
Verehrung, Hingabe und Entziehung, Ver—
träglichkeit und Unverträglichkeit, Schutz
und Verfolgung, Lüſternheit und Ekel! ),
Einſchmeichelung und Annäherung gegen—
über von Anwiderung und Trennung u. |. w.
Wenn wir nun die Individuen zu organi⸗
ſchen Theilchen zerlegen, ſo ſtoßen wir
zunächſt immer wieder auf kleinſte Individuen
(Zellen), die in ihrem Leben und Daſein
Erſcheinungen aufweiſen, die in eine ver—
ſtändliche Verbindung zu bringen
ſind mit den hervorgehobenen pſychologiſchen
Phänomenen des äußeren hiſtoriſchen Lebens
der Individuen unter einander. Wie die
Individuen in Staaten, Gruppen, Horden
und Familien, ſo treten die Zellen ver—
einigt auf in Organen, Organſyſtemen und
Geweben; Auswanderungen und Einwan—
derungen finden auch unter ihnen ſtatt,
fortwährende Veränderungen, bedingt durch
veränderte Nahrungszufuhr, und demgemäße
Anpaſſungen, treten auch im mikroſkopiſchen
Kleinleben auf.
Verträglichkeit und
) Siehe Heft 1 dieſer Zeitſchr. S. 17 ff.
Jäger, Phyſiologiſche Briefe. I., und ver—
gleiche hierzu: Caspari, Die Urgeſchichte
der Menſchheit. I. 2. Auflage. Leipzig, 1877.
S. 55 ff.
Brockhaus.
—
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
Un verträglichkeit find daher Erſchei—
nungen, die auch im Innern eines Orga—
nismus eine hervorragende Rolle ſpielen.
Auch im inneren Leibe der Individuen
herrſcht ſomit ein ähnliches Leben wie unter
den Individuen gegen einander. Das Ab—
ſterben und Sichauflöſen der Stoffe, plasma—
tiſche Neubildung und Rückbildung, mit
einem Worte der ſog, chemiſch-phyſikaliſche
Stoffwechſel, der alle Zellen und deren
Theilchen (die ſog. Plaſtidulen) durchdringt,
läßt leicht erkennen, daß ſich in den feinſten
organiſchen Theilchen nur wiederholt
und widerſpiegelt, was im Groben uns
vor Augen tritt im Leben der Individuen
unter einander. Mit Recht kann man da—
her cum grano salis von einem Kampfe
ums Daſein auch der Zellenwelt im Kleinen
reden. Doch iſt bei dieſer an ſich nicht
unberechtigten Anſchauung wohl zu beach—
ten, daß der Begriff „Kampf“ nur im
Allgemeinen das Grundverhältniß von Kraft
und Widerſtand ausdrücken ſoll. Es iſt
daher wohl zu bedenken, daß der Kampf
in dieſem Sinne ſeine verſchiedenen Grade
hat. Gemildert iſt dieſer Effekt eben nur
eine bloße natürliche Reaction von Bewe—
gung und Reibung der Zellen und Plaſti—
dulen gegen einander. Unter dieſer Form
drückt der ſog. „Kampf“, wie erwähnt,
nur die natürlichen,
Aufeinanderwirkungen der Factoren
aus, die unaufhörlich und nothwendig mit
der Exiſtenz aller Einzelnen verbunden ſind.
Sollen die Theilchen nicht erſterben und
ſich auflöſen, ſo müſſen ſie ſtets dieſe
Reactionen der Selbſterhaltung vollziehen,
ſich aneinander reiben, bewegen, reizen und
in chemiſch-phyſikaliſcher Weiſe auf einander
wirken. In dieſer ihrer Wirkungsweiſe
beſteht alles Leben überhaupt, das
eben kein Leben mehr wäre, wenn dieſe
cauſal-mechaniſchen
und Umformungen aller Art im großen
Betheiligten eine Reihe von heftigen Schä—
n
281
Bedingungen fortfielen, um dem Stillſtande
und der Veränderungsloſigkeit Platz zu
machen; denn letztere bedeutet den Tod.
Selbſt wenn wir die Zellentheilchen als
ſog. Plaſtidule noch weiter zerlegen, um
zu der Ordnung der Moleküle überzugehen,
würden wir auch hier dieſelben
Bedingungen des Lebens, Veränderns,
Reizes u. ſ. w. wiederfinden müſſen. In
allen Verhältniſſen ſuchen daher die Theil—
chen auf einander zu reagiren, und dieſe
ihre gegenſeitige chemiſch-phyſikaliſche Reac—
tivität und Reizbarkeit weiſt hin auf den
Kampf um die Exiſtenz, welchen fie führen.
Faſſen wir den ſog. Kampf ums Daſein
der Moleküle daher als chemiſch-phyſikaliſche
Selbſterhaltung und Aufeinanderwirkung
auf, ſo haben wir bei dieſer Vorſtellungs—
weiſe nicht durchaus nöthig an die For—
men eines Kampfes zwiſchen menſchlichen In-
dividuen zu denken, wie er etwa ſich unter
Völkern im Kriege abſpielt. Die einheit—
liche Weltbetrachtung zwingt uns freilich
auch dieſe Erſcheinungen des Kampfes
ins Auge zu faſſen. Nur wolle man be—
denken, daß ſich dieſe Erſcheinungen dadurch
verändern, daß hier ſtets große Maſſen
und Einzelne unter außergewöhnlichen Be—
wegungen und Anreizungen auf einander
ſtürzen, um hiermit ebenſo außerge—
wöhnliche Folgen von Veränderungen
Maßſtabe herbeizuführen, die für die daran
digungen an ihrer Exiſtenz und eine große
Summe von Unluſtzuſtänden in der Ab—
wickelung ihrer Lebensverhältniſſe mit ſich
bringen. Man darf ſich der Betrachtung
nicht verſchließen, daß es Umſtände aller
Art giebt, die im Zuſammenleben der In—
dividuen dahinwirken, daß ſich die Reibun—
gen, Ungleichheiten und Unverträglichkeiten
—
8
282
in hohem Maße mehren; damit verknüpfen
ſich tiefgehende Verſtimmungen und Unluſt⸗
zuſtände der Weſen, die man ſich gewöhnt
hat als „Uebel“ zu bezeichnen. Alle
hierher gehörigen Erſcheinungen bilden das
tiefere Studium des Ethikers. Derſelbe
verſucht durch genaueren Einblick in die
pſychologiſchen Grundverhältniſſe von Luft
und Unluſt die Urſachen zu erforſchen, die
zur Anſammlung von Unverträglich—
keiten und hiermit verknüpften Unluſtreac⸗
tionen führen; er überblickt die Folgen
dieſer Wirkungen und erkennt wie ſich, um
ihnen zu entgehen, hieran Lageverſchiebungen
außergewöhnlicher Art anlehnen. Er weiſt
nach, wie ſich neue Parteiungen zwiſchen
Verträglichen und Unverträglichen bilden
und die natürlichen Reactionen der Indi—
viduen und Theile hiermit extreme und
krankhafte Grade annehmen. Hand in Hand
mit dieſer Steigerung der Reactionen und
Bewegungen geht eine neue
Vertheilung der unterliegenden Subſtanzen
und Theilchen, und mit dieſer außergewöhn—
lichen Umformung treten dem Ethiker ebenſo
ſehr wie dem Pathologen alsdann alle die
Mißformen entgegen, die er deshalb als
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
und Bewegung) erfordert, zwingt daher,
die extremen Grade des Kampfes als
anormale (vorübergehende) Ausnahme—
zuſtände zu betrachten.“) Wenn wir
daher im darwiniſtiſchen Sinne an dem
Satze feſthalten, daß wir allerwegen im
Kosmos den Kampf ums Daſein gewahren,
ſo ſoll das eben mit Rückſicht auf das
Vorausgeſchickte zunächſt nur bedeuten, daß
ſich alle Theilchen reagirend und affi—
cirend (veränderungsfähig und aufernander-
wirkend im mechaniſchen Sinne) verhalten.
veränderte
Inhalt
Dieſe cauſal-mechaniſche (kämpfende) Auf⸗
einanderwirkung (die Afficirung) der Theil-
chen finden wir allerdings ausnahmslos im
ganzen All, von ihr kann nicht abgeſehen
werden, — ſie bildet die lebendige Wir-
kungsweiſe der Einzelnen unter einander
und die Bewegung der Parteien und Maſ—
ſen gegen einander, ſie bildet die natürliche
Agitation, die wie das All ſelbſt un—
endlich ſein muß, da ſie den erlebnißvollen
deſſelben bildet. Mangelt dieſe
Agitation der Dinge, Atome und Weſen
gegen einander, dächte man ſich aus dem
Weltall alle wechſelwirkenden Reizeinflüſſe,
Uebel bezeichnet, weil die an ihnen betheis
ligten Träger ſich naturgemäß danach ſehnen,
dieſen extremen, außergewöhnlichen Zuftän-
den und Unluſtverhältniſſen ein Ende zu
machen. Wie erwähnt, werden die auf—
tretenden Formen und Erlebniſſe, welchen
die darau gebundenen Weſen hiermit unter—
liegen, als tiefe Unluſt, als Schmerz und
Uebel empfunden, und fo arbeiten alle daran
theilnehmenden Weſen und Theilchen darauf
hin, dieſen Zuſtänden keine Dauer zu
ſichern, ſondern ſie raſch zu beenden.
Selbſterhaltung und das natürliche Luſt—
ſtreben des Einzelnen, das ein beſtimmtes
Durchſchnittsmaß von Veränderung (Ruhe
Die
alle Affektionen überhaupt fort, jo man-
gelte alles Bewegen und Leben, wir hätten
einen todten Kosmos vor uns, den vorzu—
ſtellen wir nicht im Stande ſind.
3. Das Uebel
und die Allbarmherzigkeit eines
überweltlichen Regenten.
Die Agitationen und Selbſterhaltungs—
maßregeln der Einzelnen zu ihrer Exiſtenz
haben je nach Umſtänden die verſchiedenſten
Grade und können übergehen in jene
) Vegleiche hierzu: Caspari, Die Ur-
geſchichte der Meuſchheit. 2. Aufl. Theil. I.
S. 61. er
Extreme, die ſich leicht als ſolche gegen-
über dem dauernden Durchſchnittszuſtande
aller übrigen Bewegungen charakteriſiren.
— Um das zu erkennen ein Beiſpiel:
Betrachtet man die Witterungsverhältniſſe
der verſchiedenen geographiſchen Breiten und
Klimate, ſo überſieht man mit der Zeit,
daß die Durchſchnittsmenge an atmoſphäri—
ſchen Niederſchlägen ſich berechnen läßt, auch
die durchſchnittlich vorhandenen Wind—
ſtrömungen ſind nach Wahrſcheinlichkeits—
angaben annähernd für die verſchiedenen
Jahreszeiten zu beſtimmen; außergewöhn—
liche meteorologiſche Ereigniſſe hingegen,
wie Cyclone, Orkane und ähnliche hervor—
ragende Störungen treten den angenommenen
Durchſchnittsverhältniſſen gegenüber als Aus—
nahmen auf. Ließen ſich alle Einzel—
urſachen in einem gegebenen Moment
von einem über alle Thatſachen hinaus-
liegenden Punkte überſehen, und gäbe es
für irgend ein Theilchen einen ſolchen
außer- oder überuniverſellen Standpunkt,
den Punkt des Archimedes, ſo würde
die abſolute Vorausſage auch dieſer
ſein. Aber man bedenke wohl, welche
Conſequenzen dieſe Betrachtung (die von
in ſeinem bekannten Vortrag über die Gren—
zen der Naturerkenntniß angeſtellt hat) nach
ſich ziehen müßte.
verſums auf jenem Punkte des Archimedes!)
ſtände, um alle Ereigniſſe überhaupt nach
Regel und Ausnahme allwiſſend voraus zu
u
) Bekanntlich ift das jener überwelt—
liche Punkt, von dem man künſtlich mit
einem Hebel das ganze Univerſum aus den
Angeln heben könnte.
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
Ausnahmeverhältniſſe allerdings ermöglicht
=
0 *
283
erkennen, hätte ein Intereſſe daran, die von
ihm überſehenen Weſen vor Uebeln und
extremen Unluſtzuſtänden, unter deren un—
ſäglichen Qualen ſie entſetzlich leiden, zu
bewahren, ſo würde eben dieſes allbarm—
herzige Weſen einzugreifen verpflichtet ſein,
um dieſe Zuſtände abzuwenden, die Uebel
wären hiernach unmöglich. Die That—
ſachen hingegen lehren, daß Uebel im oben—
bezeichneten Sinne als weitgreifende Unluſt—
zuſtände vieler Weſen vorkommen, woraus
folgen muß, daß kein ſolches warmherziges,
intereſſevolles Weſen ſich irgendwo auf dem
abſoluten Punkte des Archimedes befand oder
befindet, um von hier aus inhibirend zu
wirken. Man muß ſich daher zu der Ein—
ſicht bequemen, daß wenn Uebel lals tief—
gehende und weitgreifende Unluſtzuſtände
u. ſ. w.) Thatſachen ſind, die cauſal—
mechaniſche Aufeinanderwirkung der Factoren
dieſelben unter Umſtänden herbeiführt, und |
die Allwiſſenheit und Allbarmherzigkeit eben
als keine Thatſache erſcheint. Wir ſehen,
die Transmutationsanſchauung lehrt mit
Rückſicht auf eben dieſe Thatſachen nichts
anderes, als daß die cauſale Wechſel—
wirkung, die ſich als gegenſeitige Reaction
und Affection der Theilchen darſtellt, zu
rein materialiſtiſchen Geſichtspunkten aus
erſt vor kurzem Du Bois-Reymond
Angenommen nämlich,
dieſes Weſen, das als Beſchauer des Uni
erhöhten Graden der Reibung und
Veränderung übergehen kann, ſo daß ſich
die natürlichen durchſchnittlichen Agitationen -
zum Kampfe im engeren Sinne mit ſeinen
unäſthetiſchen Folgen erheben. Nun drängt
ſich die Frage auf: Hat der Anhänger der
cauſal-mechaniſchen Weltanſchauung, wie ſie
der Darwinismus anſtrebt, die Formen der
höchſten Unluſt und Uebel als nothwen—
dige oder zufällige zu betrachten, oder
aber hat er überhaupt gar kein Recht, dieſe
Formen von ethiſch-äſthetiſchen Geſichts—
punkten anzuerkennen, ſondern find fie in
ihren Unterſchieden ganz abzuleugnen,
255 N N
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
ähnlich wie es die Vertreter der Büch—
ner-Mo leſchott'ſchen Schule vielfach
verſucht haben? Sieht man die Theil—
chen als todte Kugeln an, die als Corpus—
die Theorie des Uebels von dieſem Geſichts—
punkte aus zu entſcheiden.
J. Die Conftructionen des Kosmos
keln im leeren Raume ſchwimmen, ohne
jedes innere Gefühl und Leben,
jo mögen ſich dieſelben in irgend einer Lage
gegen einander bewegen, gleichgültig in welcher,
alle ſind abſolut einflußlos für das innere
Gefühl, ſowie für lebensvolle Selbſterhal
tung und erlebte Luſt oder Unluſt der
Theilchen; denn alle Corpuscular-Atome find |
eben nichts als todte Stoffabſoluta, getrennt
durch den abſolut leeren Raum. Wohl und
Wehe, Güte und Uebel als ſolche werden
hier nicht wahrgenommen und empfunden,
alle Conſtellationen ſind daher den in ſich
indifferenten Corpuskeln abſolut gleich-
gültig, unter allen Lagen giebt es hier
keine Uebel. Erheben wir indeſſen, ähn
lich wie Leibniz und ſeine Schüler dies
thaten, die Corpuscular-Atomtheorie zu einer
tonadologie oder Animulartheorie, d. h.“
ſehen wir alle Theilchen als pſychiſch
belebte (Monaden) an, begabt mit inne—
ren Zuſtänden der Selbſterhaltung, die ein
beſtimmtes Maß innerer Veränderung nö—
lebniſſe von Luſt und Unluſt in ihnen rich—
ten, ſo ſtellt ſich dieſe Weltanſchauung zur
Theorie des Uebels völlig anders.
hätten in dieſem Falle eine Art von An—
ſchauung vor uns, die man mehrfach Pan—
pſychismus genannt hat. Das heißt alle Theil—
chen dieſes Panpſychismus ſind irgendwie
ſeeliſch belebt, erſcheinen reizbar und pſychiſch—
reagirend, ſomit Luſt und Unluſt empfin—
dend. Nun wird aber alles darauf an—
kommen, den Panpſychismus richtig zu
conſtruiren; denn nur wenn dies geſchieht
und den Thatſachen Rechnung getragen
Wir
als Panpſychismus und die
Zöllner'ſche vierte Raum
dimenſton.
Man kann ſich nun den Panpſychismus
in zweierlei Art zurecht legen. Ein—
mal kann das geſchehen, daß feine Einzel-
theilchen, aus denen er ſich conſtituirt,
unter die natürlichen Wirkungen der cauſal—
mechaniſchen Grundanſchauung fallen, daß
ſie mit einem Worte einen Kraftconſtitu—
tionalismus) repräſentiren, innerhalb deſſen
die relativ ſelbſtſtändigen Einzel—
theilchen nicht künſtlich und hyper—
mechaniſch durchdrungen und ſomit durch—
griffen ſind von einem prädominirenden
Weſen, das über den Mechanismus als
Conſtitution und deren Geſetzesverfaſſung
hinausgeſtellt iſt. Andererſeits kann
man ſich aber den Panpſychismus als ein
Syſtem des Abſolutismus vorführen. Dieſes
hat dem gegenüber folgende Form: Die
Einzeltheichen werden völlig ihrer relativ
thig haben, nach deſſen Inhalt ſich die Er
ſelbſtſtändigen cauſal-mechaniſch wirkenden
Exiſtenz entkleidet. Sie ſinken herab
zu bloßen Scheinträgern cauſaler Kraft und
müſſen nun aufgefaßt werden als ſog.
Modi und Modificationen des einen Ab—
ſoluten (des All-Einen), aus dem das Sy—
ſtem im Grunde beſteht. Alle dieſe Modi ſind
hier aber im Grunde nur Scheintheile;
denn ſie ſind trotz ihrer Theilung mit
einander identiſch, weil ein und daſſelbige Weſen,
ſie ſind daher eins und im ſelben Athem
nicht=eing, folglich Pſeudoweſen. Beſten—
falls kann man in dieſen Schattenweſen nur
Vergleiche Heft 1 dieſer Zeitſchrift
wird, kann man es verſuchen wollen über S. 16.
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
die willenloſen Diener des omnipotenten
Grundweſens erblicken, das eben in allen
Theilen ſteckt; nur dieſes lebt wahrhaft,
alle Theile und Einzelweſen führen ſomit
ein unſelbſtſtändiges Scheinleben.
Dieſe ſo conſtruirten Theile ſind Schein—
theile, die automatiſch vom Grundweſen,
das in ihnen ſteckt, bewegt werden. Alle
dieſe Theilchen erſcheinen daher nicht als
coordinirte Theile, um Wechſelwirkungen
auszuüben, ſondern ſie ſind vielmehr künſt—
lich eingeſchachtelt in einer höheren Sphäre,
welche die natürliche Grundcoordinirung
hindert, und ſie zu Gunſten der Ein—
ſchachtelung aufhebt. (Vergleiche hierzu
des Verfaſſers Aufſatz: Philoſophie und
Transmutationsphiloſophie in der Zeitſchrift
„Das Ausland“, Jahrg. 1874, Nr. 32,
S. 630 ff.) So, ſehen wir, entſteht die
Pſeudo⸗ Vielheitsauffaſſung. Mit Hülfe
einer ſolchen conſtruirt ſich neuerdings bei—
ſpielsweiſe von Hartmann ſeinen Pan—
pſychismus, und alle diejenigen, welche in
den Neu-Platonismus und in ähnliche
mittelalterliche ſcholaſtiſche Lehren zurück—
fallen, werden ihm leicht hierin folgen.
Dies thut im ausdrücklichen Hinweis auf
Plato in der That neuerdings ſelbſt
Zöllner in Leipzig. Es iſt verwunder—
lich, wie dieſer in den Grundregeln der
Mechanik wohlgeſchulte Kopf, aller Mechanik
zum Trotz, dennoch ſich eine ſog. vierte
Raumdimenſion zurecht macht, durch welche
er ſich offenbar in ein Gebiet des Myſti—
ſchen und Hypermechaniſchen erhebt.
Selbſt wenn wir Zöllner zugeben woll—
ten, daß die Zahl der Dimenſionen für die
raum zeitlichen Weſen vielfach wechſeln
könnte, ſelbſt wenn wir annehmen (und
der Verfaſſer dieſer Zeilen ſtimmt in dieſer
Anſicht mit Zöllner überein), daß im pan—
pſychiſtiſchen Univerſum Weſen auf irgend
einem verödeten Geſtirn nur Flächenwahrneh—
mung beſitzen und daher nur zwei Raumdimen—
ſionen erkennen, während anderswo, etwa
auf einem ſehr hell leuchtenden Geſtirn,
die Weſen durch ſtarken geiſtigen Glanz
innerlich tiefer erhellt ſind, um an allen
wahrnehmbaren Objekten mehr als drei
Raumdimenſionen zu erfafſen, ſo könnte
die hiermit weitergreifende äußere Durch—
dringung, die ein tieferes Ineinander
der Weſen ermöglichte, doch niemals ſo weit
führen, daß die in ihrem äußeren Zu—
ſammenhange tiefer durchſchauten Theil—
chen zu bloßen unſelbſtſtändigen Schein—
und Schattengeſtalten herabſänken für das—
jenige Weſen, dem die Sonne des
vierten Dimenſionserkenntniſſes aufgegan—
gen wäre. Hier iſt zu bedenken, daß bei
der Zu- und Abnahme der räumlichen
Dimenſionsverhältniſſe für die Auffaſſung
zwar ſelbſtverſtändlich auch eine Zu- und
Abnahme der Wahrnehmung und Erkennt—
niß eintreten müßte, ſich alſo auch der
geiſtige Horizont mit der räumlichen Di—
menſions-Anſchauungsweiſe der wahrnehmen—
den Weſen verengert und erweitert. Aber
niemals wird dieſe Ab- und Zunahme der
Erkenntniß jenen Sprung herbeiführen,
auf den Zöllner hinweiſt, indem er das
bekannte Beiſpiel des göttlichen Plato
herbeizieht über die Erſcheinung der Schatten—
geſtalten in der dunklen Höhle gegenüber
dem klaren Schauen der Geſtalten in der
lichten Sonne. Mögen in der That Weſen
exiſtiren, die nur zwei Dimenſionen erken—
nen, während wir uns ſelbſt bewußt ſind,
drei Dimenſionen von den Dingen zu
erkennen, ſo wiſſen wir ja aus der Er—
fahrung an Blindgeborenen, die operirt
wurden, welche Zunahme die Erkenntniß
erfährt, indem wir Einſicht gewinnen in
eine neue Raumdimenſion. Dieſe Zunahme
286 —
iſt gegenüber von vielen Sinnestäuſchungen,
denen man bei Unkenntniß von anderen Di—
menſionen ausgeſetzt iſt, gewiß nicht zu
unterſchätzen, aber es iſt andererſeits
auch zu warnen vor einer Ueberſchätz-
ung dieſer Zunahme. Hier bei dieſer
Zunahme iſt zu beachten, daß auf Grund
derſelben die Dimenſionen der Rauman-
ſchauung (mit der ja die Grundregeln der
Mechanik gegeben ſind) nur eine Erweite—
rung des Grades erfahren, nicht aber ein
Wechſel der Qualität in der Erkenntniß
dieſer empiriſchen Grundverhältniſſe herbei—
geführt wird. — Weſen und Theilchen,
die ſich gegenſeitig nur in zwei Dimenſionen
wahrnehmen, mögen vielfach in ihren
Gegeneinanderbewegungen mit einander col—
lidiren, weil ſie ſich eben vielfach gegen—
ſeitig täuſchen. Dies mag leichter ab—
gehen und mit viel weniger Täuſchungen
verknüpft ſein bei ſolchen Weſen, die ſich
gegen einander in ſehr vielen Dimenſionen
wahrnehmen. Das Ineinander ihrer Be—
wegungen mag hier daher feiner und in—
niger, vielleicht ſelbſt harmoniſcher ſein, aber
immer müſſen dieſe Bewegungen ſtattfinden
auf Grund der erſten gegebenen räumlichen
Grundlagen, auf welchen die Grundregeln
der Mechanik ruhen. Dieſe mechaniſchen
Grundregeln würden ſich aber aufheben bei
der etwaigen Annahme nur einer
Dimenſionz denn wären alle Weſen nur in
dieſer gelegen, ſo könnten ſie alle nicht
einander völlig ausweichen, folglich könnten
auch hiermit ſehr weſentliche mechaniſche
Grundunterſchiede der Richtung von Kraft
und Widerſtand nicht exiſtiren. Dieſe Grund-
regeln der Mechanik würden ſich ferner aber
auch aufheben bei der Annahme von irgend
welchen überempiriſchen Dimenſionen und
Richtungen, die der Qualität nach den em—
piriſchen widerſtreiten und ſie aufheben. Von
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
dieſer Art aber iſt die poſtulirte vierte
Dimenſion Zöllner's. Dieſelbe liegt
nicht in der gegebenen denkbaren Skala der
erſten drei geſetzten Raumdimenſionen, ſon—
dern durch einen salto mortale verſucht
Zöllner ſich einzubilden, daß mit Ein-
tritt dieſer Dimenſion ſo ſehr neue Ver—
hältniſſe eintreten, daß die hier im Irdi—
ſchen angeſchauten ſinnlichen, mechaniſchen
Grundverhältniſſe ſich zu bloßen Schemen
verflüchtigen gegenüber einer neuen Art von
Beziehungen, in welchen die Dinge ſich
ſpiegeln. Mit dieſen ſollen die vorher ge—
ſetzten natürlich-mechaniſchen Bedingungen
des dreidimenſionalen Raumes überboten
werden durch eine völlig über natürlich
neue. Während die natürlichen Grund—
regeln der Mechanik beiſpielsweiſe bedingen,
daß die Dinge von Theilchen zu Theilchen
wirken, weil fie bei ihrem relativen Wider-
ſtand nicht völlig durchdringlich ſind und
durchgriffen werden können, wird hier die
übernatürliche, höhere, hypermechaniſche
Fernwirkung angenommen, die keinerlei
mechaniſche Widerſtände von Zwiſchenglie—
dern kennt, ſondern das Entfernteſte mit
dem Nahen hypermechaniſch vermittelt, gleich—
ſam durch eine Leere hindurchgreifend, in—
nerhalb deren alle mechaniſchen Widerſtände
geſchwunden ſind. Durch dieſe Annahmen
thut ſich hier eine weite Kluft auf zwiſchen
den Grundverhältniſſen der Gliederung der
Dinge unter dem Licht der erſten drei
Raumdimenſionen (wie ſie uns ſinnlich ge—
geben find) und derjenigen der hinzukom⸗
menden vierten, die wie mit einem Zauber⸗
ſchlage die Situation verändert. In dieſer
Kluft eben liegt, wie hervorgehoben, der
Widerſpruch. Mit ihm zerfällt das All
in unvereinbare Hälften. Das Ganze ſinkt
in klaffenden Dualismus. Auf der einen
Seite die hohlen Schattenbilder der Welt,
3
die als bloße Erſcheinungen kein Weſen
an ſich haben, ſondern den Seifenblaſen
gleichen, welche der erſte Hauch zerreißt.
Auf der anderen Seite hingegen das Weſen
an ſich, von dem man nicht abſieht, wie es
erkannten Gegenſtände zu bloßen zuſammen—
jemals Erſcheinung werden kann unter ſo öden
hinfälligen Formen, die einander derartig
reiben, daß ſie beſtändig ſich verflüchtigen
und aufheben. Wir können an dieſem Orte
den überſchraubten und falſchen erkenntniß—
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
theoretiſchen Gegenſatz zwiſchen Weſen und
Erſcheinung nicht kritiſiren.) Ein We |
fen an ſich, das hinter den Erſcheinungen
liegt, ohne ſich mit ihnen und durch ſie völlig
zu offenbaren, hat offenbar keinen cauſalen
Zuſammenhang mehr mit alle dem, was
wir in den Erſcheinungen erleben. Ferner
aber nehmen wir die unumſtößliche That⸗
ſache wahr, daß gewiſſe Erſcheinungen ſo
conſtant und wiederholentlich in
der beſtimmteſten, für uns unverrückbaren
Weiſe auftreten, daß wir ihnen ein
Weſen ſelbſt in der Erſcheinung nicht
abſprechen dürfen. Können aber Erſchei—
nungen ihr Weſen beſitzen, ſo muß auch
das Weſen erſcheinen und cauſaliter ſich
mit den Erſcheinungen vermitteln. Ver⸗
folgen wir dieſe Argumentationen weiter,
ſo erkennen wir, daß eine Unterſcheidung
toto genere zwiſchen Erſcheinung und Weſen
an ſich und daran anknüpfend zwiſchen Sein
und Schein überhaupt (wie es die griechi—
ſchen Philoſophen thaten und mit ihnen
viele Scholaſtiker aus der alten und neuen
Zeit) nicht geſtattet iſt. So viel Schein,
ebenſo viel Hinweis auf ein Sein und um⸗
gekehrt. Nehmen wir nur dieſen Satz ernſt
genug, wozu erkenntniß⸗theoretiſch alle Be—
rechtigung vorliegt, ſo werden wir leicht
) Vergleiche hierüber: Caspari, Die
Grundprobleme der Erkennißthätigkeit (Berlin
1876, bei Theobald Grieben).
287
dahin gelangen einzuſehen, daß die Zöll—
ner'ſche Zerfällung des Alls in drei an—
ſchauliche (erſcheinbare) Dimenſionen und
eine Dimenſion, welche die erſten geſetzten
dermaßen überbietet, daß alle unter ihnen
hängenden Schattengeſtalten herabſinken, un—
denkbar erſcheint. Es iſt überhaupt auffällig
und verwunderlich, wie neuerdings einige
Philoſophen in Leipzig die Raumlehre be
handeln. Nicht als ſei ihnen im Sinne
eines Kant der Raum ein nur ideales
Phänomen im Innern der raumanſchauen⸗
den Weſen, ſondern als ſei derſelbe viel—
mehr etwas an ſich ſelbſt, d. h. ein
reales Gefäß, das aus drei Dimenſionen
beſteht. Nun aber nach Zöllner wird
uns mitgetheilt, daß dieſer reale Behälter
als Unterlage des Dinges an ſich (Hyper—
weſen) ſogar vier concrete Dimenfionen
beſitzen ſoll. Das heißt allerdings Kant
mißverſtehen, und man muß wohl dem
geiftvollen Kant-Interpreten in Graz Recht
geben, wenn er durchblicken läßt, daß man
in Leipzig hier und da mit Kant im
Kriege lebt. Mit Rückſicht auf die kriti⸗
ciſtiſche Raumlehre (miemann-Helm—
holtz), der übrigens Schreiber dieſer Zeilen
ebenfalls anhängt,*) muß man daher unter-
ſcheiden zwiſchen Möglichem und Unmög⸗
lichem. Unmöglich erſcheint aber dieſe Raum⸗
lehre in der überſinnlichen Form jenes pla—
toniſchen panpſychiſchen Abſolutismus, wie
ihn Zöllner ausführt.) Ein ſolcher
Pſychiker tritt auf als myſtiſcher Hellſeher und
ſchaut das Univerſum an als ein durchſichtiges
Glockenſpielwerk, das gefertigt iſt aus Glas
und Kryſtall. Alle einzelnen Glocken find
klar durchſichtig, alle werden in ihren Be—
) Siehe: Grundprobleme der Erkenntniß⸗
thätigkeit S. 99.
%% Vergl.: Zöllner, Elektrodynamik.
288
wegungen völlig durchſchaut vom Ding an
ſich, das über dieſe durchſichtige Welt ſich
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
erhebt. Dieſes höchſte Abſolutum beherrſcht
und durchdringt die Glasglocken und bes
dient ſich ihrer wie ein Spielmann,
der ſich eines paſſiven Werkzeuges bedient |
und hypermechaniſch handhabt.
Kunſt wie in der Naturforſchung, erkannte
ſehr raſch den Unterſchied, der hier bezüg-
lich des Begriffs hypermechaniſch deut
lich gemacht werden ſoll. In ſeinem be—
rühmten Traktate über die Malerei ſagt
er Folgendes: „Man ſagt, daß eine Kennt⸗
niß mechaniſch ſei, welche von der Er—
fahrung erzeugt iſt, daß eine Kenntniß
wiſſenſchaftlich ſei, welche in dem Geiſte
entſpringt und
eine Kenntniß halbmechaniſch (in un⸗
ſerem angedeuteten Sinne hypermechaniſch)
ſei, die in dem Denken entſpringt
und mit einer Ausübung durch die
Hand endigt. Aber mir ſcheint, die
ſind, und die nicht in der Erfahrung
endigen.“ Wir ſehen, der ſcharfſinnige
ſtand, den uns Kunſtobjekte leiſten, die wir
menſchlich mit den Fingern und durch die
Hand bewegen, kein vollgültiger activer
Widerſtand im mechaniſch-empiriſchen Sinne
ſei. Er nennt dieſen Widerſtand halb—
mechaniſch, richtiger aber iſt hypermechaniſch;
denn die hier angewandte Mechanik tritt in
den höheren Dienſt eines künſtlichen Zwi—
ſchenmittels, das keine eigenen Bethä—
tigungen ausübt, ſondern nur arbeitet wie
Hammer und Meißel in der Hand ihres
ee
endigt, und daß
Leo⸗
nardo da Vinci, ein Mann, der ebenſo
ſehr zu Hauſe war in der Ausübung der
1
|
Lenkers. Fügen wir die anuthropomorphi—
ſtiſche Betrachtung, die ſich hier bezüglich
des paſſiven Arbeitens der Werkzeuge er—
giebt, in den Grundzuſammenhang des me—
chaniſchen Ganzen nicht ein, ſondern be—
ſchränken wir dieſe Betrachtung hinſichtlich
des Beginnens und Endigens der mechani—
ſchen Arbeit zwiſchen dem menſchlichen Kopf
bis zur Hand und umgekehrt, ſo hebt ſich
dieſer Zirkel der Betrachtung in das von
uns ſcharf betonte Gebiet des Hyper—
mechaniſchen. Wir ſehen aus dieſen Be-
trachtungen, daß wir einen Panpſychismus
nicht im Sinne ſolcher Anthropomorphismen
und nach dem Muſter obiger Beiſpiele con⸗
ſtruiren dürfen. Leicht aber wäre es, den
„Nachweis zu liefern, daß ſchon vor Jahr—
tauſenden ein Plato ebenſo ſehr wie in
neueſter Zeit Zöllner, nicht minder auch
Hartmann, der Philoſoph des Unbe—
wußten und ſeine Anhänger, ſich einen
Panpſychismus zurechtlegten, der auf das
oben gegebene Beiſpiel des Hypermechaniſchen
zurückzuführen iſt. — Wollen wir uns
Wiſſenſchaften ſeien eitel und voller Irrthü⸗
mer, die nicht aus der Erfahrung,
der Mutter aller Gewißheit, entſprungen
einen klaren Panpſychismus auf Grund des
Kraftconſtitutionalismus, d. h. auf Grund
der natürlichen, cauſal-mechaniſchen Lehre
vor Augen führen, fo muß jeder Abſolu—
tismus, der ins hypermechaniſche Gebiet
Verſtand Leonardo da Vinci's erkennt
hier klar, daß der bloße paſſive Wider-
überſpielt, vermieden werden. Der leben—
dige Mittelpunkt des conſtitutionellen Sy⸗
ſtems beſitzt keine durchbohrende omnipotente
Gewalt an ſich, mit der aller Widerſtand der
untergebenen Theile zum Pſeudowider—
ſtande herabſinkt. So gewinnen hier die
Theilchen jene natürliche Autonomie,
welche die alltägliche Erfahrung lehrt und
den Thatſachen, ſowie den Grundregeln der
Mechanik gemäß für ſie in Anſpruch ge—
nommen werden muß. Was die Theilchen
hier an der Abſolutheit ihrer Durchdring—
lichkeit verlieren, gewinnen ſie ſelbſt an
—
Aprilheft.)
relativer Selbſtſtändigkeit, vermöge deren
fie allein ſich unter einander mechaniſch—
activen, natürlichen Widerſtand leiſten kön-
nen. Nur dadurch erheben ſich alſo die
Theilchen des Panpſychismus zu realen me-
chaniſchen Factoren, daß ſie ſelbſt für den
höchſt gelegenen Punkt im Syſtem
etwas relativ Undurchdringliches
(Selbſtſtändiges, Eigenartiges,
Individuelles) an ſich behalten.
Wer
daher den Begriff der Individuation
gebraucht, muß ſich die Alternative zwiſchen
den Syſtemen eines Spinoza und Leib—
niz genau klar gemacht haben. Es gilt
hier einzuſehen, daß der Accent des Indi—
viduellen die relative Undurchſichtig—
keit der Einzelnen gegen einander be—
dingt.
Aller gegen Alle iſt eben die wirkliche In—
dividuation, ſie fordert eine eigenartige Auto—
nomie für alle Einzelnen, ſelbſt dem der
Lage nach höchſten Punkte im Syſtem ge—
genüber. Dieſe Autonomie der Individuen
ſchauen, ein völliges Durchgreifen und ein
| ift es ſomit, welche ein abſolutes Durch— |
hypermechaniſches Durchbohren durch die
Exiſtenz der anderen hindurch vom höchſten
Punkte aus unmöglich macht. Alle an
den Spinozismus anſtreifenden Grundan-
ſichten, welche ſogar verlangen, daß die
Vielheit und Mannigfaltigkeit der äußeren
Erſcheinungen ſich decken muß mit der Ein—
heit, welche ihnen von innen parallel geht,
um fie fo durchdringend zu umfaſſen, müſſen
Gleichen im
daher aufgegeben werden.“)
) Hartmann ſchmeichelt ſich, die In—
dividuationslehre mit Hinblick auf den Leib—
nizianismus verbunden zu haben mit der
abſoluten Einheitslehre (Spinozismus). (Siehe
Zeitſchrift: Die Gegenwart, Jahrgang 1877,
Offenbar beweiſt Hartmann,
indem er dieſe Einbildung hegt, daß er nicht
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
289
Panpſychismus nach dem Muſter des Ab—
ſolutismus die ſog. Individuationen und
Einzeltheilchen todten', hohlen Seifenblaſen,
welche die Strahlen des Mittelpunktes wie
die Leere abſolut durchdringen und durch—
| bohren, jo gleichen die Individuationen des—
jenigen Panpſychismus, den wir zu charak—
teriſiren unternommen haben, nach dem
Dieſe relative Undurchdringlichkeit
Muſter des Conſtitutionellen, den bewegten,
lebendigen Wellen, welche das Licht nicht
völlig hindurchlaſſen, ſondern einen Theil
deſſelben in feinen Formen reflectiren, um
hiermit das Product jenes wunderbaren
Farbenſpieles hervorzurufen, in deſſen Be—
wegungen und Erſcheinungen Weſen und
Atome in ihren Erlebniſſen ſich erquicken.
Durch tiefere Ausführung dieſes letzteren
Gleichniſſes wird die Auſchauung des Kos—
mos eine völlig andere. Die indi—
viduellen Theilchen des Ganzen gewinnen
durch den Accent der Autonomie, die ihnen
mit ihren ſelbſtſtändigen Reactionen zuge—
ſprochen werden muß, nun jene Prägnanz,
die fie zu thatſächlichen, mechaniſchen Fac—
toren macht, während ſie in jeder Art von
Spinozismus (als Modi) im Grunde nur
Scheinfactoren ſind, die gegen einander
genug ermeſſen hat, warum es ſich hier han—
delt. Die Antinomie zwiſchen Einheit und
Vielheit wird ſo leichten Schrittes nicht ge—
löſt, es ſei denn, daß man vorgebe, das Un—
vereinbare vereinigen zu können. Das Räth—
ſel: wie Gott zugleich ſein Teufel ſein kann
(vergleiche unten S. 292), wußte Hartmann
allerdings zu löſen, die rationale Anſchaulichkeit,
wie 1 im ſelben Athem 3 ſein kann, wäre
durch ihn noch zu erweiſen. In obigen Aus—
führungen ſoll zunächſt nur darauf hinge—
wieſen werden, daß ſog. Zwittereinheiten, wie
etwa ſiameſiſche Zwillinge oder Drillinge,
gegen einander mechaniſch ſtets nur
paſſiv, nicht aber (ohne ſich aufzulöſen) im
vollen Sinne activ auftreten können.
N
S
290
Spiegelfechterei treiben.
philoſophiſche Abſolutismus zur Selbſt—
beſpiegelung, weil ſich alles nur um
den Mittelpunkt oder das abſolute All-Eine
dreht, ſo vertheilen ſich die Spiegelungen
im Syſtem des philoſophiſchen Conſtitutio—
nalismus unter die Summe der autonomen
Einzeltheile als conſtitutive Glieder des
Ganzen. Die Selbſtbeſpiegelung des ab—
ſoluten All-Einen geſtaltet ſich hier zur
Widerſpiegelung und zum gegenſeitigen Aus—
tauſch, ſowie zur Ergänzung aller Glie—
der unter einander. Dort ſind die Ein—
zelnen nur ephemere Scheinexiſtenzen der
vergänglichſten Art, gleichſam nur Seifen—
blaſen, die aus dem Sumpfe des Ur-Einen
aufſteigen, hier hingegen ſind die Einzelnen
Glieder von wirklicher Selbſtſtändigkeit,
gleichſam ſolide Tropfen, in denen ſich die
Erſcheinungen nicht nur flüchtig, ſondern
beſtändig und dauernd widerſpiegeln müſſen.
Iſt jene Gliederung des Abſoluten im beſten
Falle eine ſolche, wie ſie an den ſiameſiſchen
Zwillingen (um jenes vielfach gebrauchte
Beiſpiel herbeizuziehen) zur Geltung kommt,
ſo iſt die Gliederung des Conſtitutionellen
geordnet nach dem Vorbilde einer in ſich
verträglichen Familie. Dort ſind die Glie—
der unſelbſtſtändige Zwittergebilde, hier
ſind ſie harmoniſch geordnete, ſelbſtſtändige
Theile des Ganzen. Ein Panpſychismus,
wie ihn Hartmann conſtruirt, im Hinter-
grunde das Ur-All-Eine, nämlich das Un—
bewußte, fällt unter die von uns charak—
teriſirte Kategorie des philoſophiſchen Ab—
ſolutismus.
5. Abſolutismus
und Conſtitutionalismus des
Panpſychismus.
Der Abſolutiſt, der das Spiel der
5 auflöſt in ein mechaniſches Schein—
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
Führt jeder
manöver, muß in Verlegenheit gerathen,
wenn es ſich darum handelt, die phyſika—
liſchen Thatſachen zu erklären, er wird hier
ſtets myſtiſch und die tangentialen Bewegun-
gen zerfließen ihm neben den Gravitationen
unter der Hand. Unſchwierig wird es dem
Conſtitutionaliſten, paſſende Beiſpiele für
ſeine phyſikaliſche Grundanſchauung zu lie⸗
fern. Der Naturforſcher, der die Reflexionen
der Farben und Lichter, den Grundſtreit
der elektro-magnetiſchen Kräfte, die Summe
der mechaniſchen Vermittelungen und der
mit ihnen verknüpften Vorgänge von An-
ziehung und Abſtoßung in den Natur-
erſcheinungen unterſucht, hat Beiſpiele zu
dieſer Weltanſchauung ſtündlich vor ſich und
zur Genüge vor Augen. Seinem Forſchungs—
geiſte thut ſich die Grundconſtitution der
Kräfte auf von den tiefſten Gliederungen
bis zu den allerhöchſten. In der Gravi—
tation fühlt er das Schwingen tangen—
tialer und feſtknüpfender Kräfte, er erkennt
centripetal und centrifugal wirkende Gewal—
ten, er ſieht wie unter dieſen Einflüſſen
die Theilchen und Maſſen in der Verthei—
lung ſich verſchieben, um ſich zu nähern
und zu entfernen. So löſt ſich ihm das
myſtiſche Weſen der unvermittelten Fern—
wirkungen auf in die cauſal-mechaniſche
Aufeinanderwirkung durch überall nachweis—
bare Vermittelungen und cauſale Beziehun-
gen der Dinge, die unter einander Ketten-
glieder bilden, welche an keiner Stelle ab—
ſolut durchbrochen ſein können.
Die Wirkungen, die wir im phyfifa-
liſchen Leben Gravitation nennen, finden
wir von neuem wieder im Staate und in
der Familie; auch hier ſehen wir die Kräfte
ſich geſtalten nach den gleichen Grundregeln
der kosmiſchen Geſetzesverfaſſung. Auch
unter dieſen Formen höherer Ordnung be—
merken wir, wie die Weſen zu einander
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
gravitirend ſich an einander ſchließen und
ſich in Liebe und Freundſchaft verketten,
oder aber ſich in Gleichgültigkeit, in Haß
und Verfolgung von einander abſtoßen
und entfernen. Selbſt der eentralſte
und höchſte Lagepunkt dieſes conſtitutionellen
Syſtems, deſſen weitgreifender Intellect
immerhin ſo vorgeſtellt werden kann, daß
ihm mehr, weitreichende und eigenartigere
Sinne als uns Menſchen zu Gebote ſtehen
(wenn wir hierbei nur immer im Auge
behalten, daß auch dieſen höchſten Sinnen
wiederum gewiſſe empiriſche Schranken ge—
zogen ſind), iſt nicht im Stande die Geſetz—
gebung, die ſich das Ganze gegeben, um—
zuſtoßen. Dieſer höchſte Intellect nähme
daher nur als erſter Diener des kosmiſchen
Geſammtſtaates theil an der Grundform,
in welche ſich das Ganze gegliedert hat.
Kann dieſer höchſte Intelleet die Glieder
dieſes Syſtems, ſo weit ſie autonom und
ihm ſomit relativ fremd ſind, nicht abſo—
(ut durchſchauen, um fie zu gängeln,
ſo kann er bei höherem Ueberblick dennoch
recht wohl eine Lage einnehmen, die ihm
die Möglichkeit gewährt, in ſehr hohem
Grade für die Selbſterhaltung des Ganzen
einzutreten und die Einzelnen in Bezug auf
ihr Verhalten zu den Grundformen und
Geſetzen zu ſchätzen und zu beurtheilen.
Aber wir erkennen leicht, daß der
Schwerpunkt des Syſtems nach dem Muſter
des Conſtitutiven, ſobald die Theile mit einan-
der ſtreiten, nicht abſolut fixirt iſt. In
jedem Syſtem muß es einen realen Schwer—
punkt geben, ſo auch hier. Da derſelbe
aber im Conſtitutiven zugleich gebunden
iſt an die Form und Verfaſſung als höheren,
idealen Mittelpunkt, an welchem auch die
Uebrigen theilnehmen, ſo kann ſich der
reale Schwerpunkt, hier gezogen von den
Anderen, bewegen und übertragen, und wird
291
ſich jeweils bei demjenigen „erſten“ Diener
des Ganzen thatſächlich befinden, der es den
übrigen Parteien und Einzelnen gegenüber
am tiefſten verſteht, Form und Verfaſſung
des Ganzen zu ſchützen gegen die Schwan—
kungen, denen ein in ſich durch und durch
bewegliches Syſtem variabler Kräfte fort—
an ausgeſetzt iſt und ausgeſetzt ſein muß,
wenn es nicht zu einem todten Schema
erſtarren will. Die Theile, die im Syſtem
des Abſoluten als todter Cadaver oder flüch—
tiger, ſelbſtloſer Schatten dem einzig leben—
den Mittelpunkte gegenüber erſcheinen, treten
hier im Conſtitutiven alſo mit eigener beweg—
licher Selbſtſtändigkeit auf, die ihnen
wirkliches Leben und die Möglichkeit
verleiht, den Trieben zur Transmuta—
tion und Adaption thatſächlich zu ge—
horchen. Iſt der höchſte Lagepunkt im con—
ſtitutiven Weltſyſtem ſeiner Natur nach nicht
abſolut vorauswiſſend (er könnte ja ſonſt
durch die Parteilage nicht gewechſelt werden)
und ſomit nicht unfehlbar, bleibt ihm
vielmehr der Natur der Dinge nach vieles
Einzelne verborgen, ſo weit dieſe Vor—
gänge ſich nämlich innerhalb der autonomen
Theilchen vollziehen, die für den conſtitu—
tiven Mittelpunkt nicht mehr abſolut
durchdringlich (undurchſichtig) ſind, ſo
trägt dieſer höchſte Lagepunkt, als perſön—
liches, individuelles Weſen aufgefaßt, auch
hiermit nicht mehr die völlige Verantwort—
lichkeit in ihrer ganzen ertödtenden und er-
drückenden Laſt für das Zuſtandekommen
aller derjenigen Formen, die als extreme
Unluſtzuſtände, als Diſſonanzen und Aus—
geburten des Teufels, wie ſie der Volks—
mund nennt, d. h. als Thatſachen des Uebels
das Welt- und Parteigetriebe der Weſen
und Kräfte zuweilen durchziehen.
Der ſog. Pſychismus, der, wie beiſpiels—
weiſe der des Herrn von Hartmann,
—
. 292
mit der Form des Abſolutismus identiſch
iſt, hat, wie früher dargethan, keine Er—
klärung für die mechaniſchen,
Grundverhältniſſe von Kraft und Wider—
ſtand. Ferner ſetzt derſelbe ſeinen höchſten
Schwerpunkt,“) als geiſtiges Weſen aufgefaßt,
abſolut vorauswiſſend, die Weltgeſchichte
anticipirend und ſomit unfehlbar. Da-
mit ſinkt das geſchichtliche Weltdrama der
Parteien zur bloßen Farce herab; denn alle
Spieler ſind alsdann nur Marionetten mit
einſtudirten Rollen. Ja, mehr noch, alle
) Man bemerke wohl: Innerhalb der
Form der Conſtitution fällt der ideale Mittel—
punkt der Form in die ſog. Verfaſſung,
der reale Schwerpunkt in den jeweiligen
höchſten Vertreter derſelben, ſei dieſer nun Fürſt,
Miniſter oder Präſident u. ſ. w. In der
Form des Abſolutismus hingegen fällt der
ideale Mittelpunkt der Form (Verfaſſung)
zuſammen mit der Perſon des abſolut
regierenden Fürſten. Im Abſoluten iſt daher
die Perſon des Tyrannen die verkörperte
Verfaſſung ſelbſt. Es verhält ſich hier me—
chaniſch wie mit einem Syſtem von Körpern,
die alle von abſolut gleicher Dichte ſind;
hier (aber nur in ſolchen) fällt alsdann der
ideale Mittelpunkt der Form mit dem realen
Schwerpunkt zuſammen. Wir ſehen, die
Abſolutheit ſetzt die völlige Gleichheit im
Weſen der Theile voraus, welchſelbige die
Individuation eben ausſchließt.
Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre.
tharſächlichen
dieſe Unfehlbarkeitstheorien des Spiritualis-
mus, die ſich auf der Unterlage einer ſpi—
ritualiſtiſchen, hypermechaniſchen Einheits—
lehre aufbauen, kommen in conſequenter
Weiſe hinſichtlich der Erſcheinungen des
Uebels zu dem Schluß, daß das höchſte
Urweſen (ſei es eine Gottheit oder ein Un—
bewußtes) ſein eigener Mephiſtso iſt.
Sehen wir dieſem Nonſens gegenüber im
Folgenden zu: ob es uns gelingt, dieſer
Hypereinheitslehre als Abſolutismus gegen—
über, eine Lehre über den Zuſammenhang
der Dinge zu entwickeln, die ſich beſſer mit
den Thatſachen in der Naturlehre (veip.
der Darwin'ſchen Lehre), beſſer mit un⸗
ſeren modernen Staats- und Rechtsanſchau⸗
ungen, und endlich beſſer mit einer philo—
ſophiſchen Doktrin über den Verlauf der
Geſchichte verträgt. Alle tiefer durchgeiſtig—
ten Lehren von Seite der Abſolutiſten
münden genauer betrachtet dem praktiſchen
Zeitgeiſte zuwider in jene Unfehlbarkeit,
die zugleich im Widerſpruch mit ſich da-
hin führen muß, in dem ſchöpferiſchen, gött—
lichen Weſen ſeinen eigenen Mephiſto zu
ſuchen. Weder die wahre Religion, weder
die wahre Ethik, noch die wahre Philofo-
phie kann den modernen ae und
dieſe Conſequenzen dulden.
(Fortſetzung folgt.)
Bathybins und die Moneren.
Von
Ernft Häckel.
er vielbeſprochene Bathybius
5 exiſtirt nicht; ſeine Annahme
beruhte auf Täuſchungen.
So werden auch die übrigen
Moneren nicht exiſtiren; auch
dieſe angeblichen Urorganismen werden das
Erzeugniß irrthümlicher Beobachtungen ſein.
Mithin iſt einer der wichtigſten Grund—
pfeiler der modernen Entwickelungslehre
gefallen; und ſo werden auch ihre übrigen
Stützpfeiler auf Täuſchungen und Irrthum
gegründet ſein. Der ganze Darwinismus
iſt ein großes Luftſchloß, die Selections—
theorie eine Seifenblaſe, und die Ab—
ſtammungslehre iſt überhaupt nicht wahr.“
So ungefähr iſt der Gedankengang
zahlreicher Artikel, denen wir ſeit einem
Jahre in den verſchiedenſten Zeitſchriften
begegnen. Einzig und allein auf die an—
gebliche Nichtexiſtenz des Bathybius ge—
ſtützt, behauptet man kurzweg, daß es
überhaupt keine Moneren gebe, und daß
damit die ganze Entwickelungslehre den
ſchwerſten Stoß erhalten habe. Am lieb—
ſten wird dieſe Behauptung natürlich von
den Gegnern der Entwickelungslehre vor—
getragen und in den mannigfaltigſten Ton—
arten variirt. Der Clerus triumphirt bereits
über den völligen Untergang der Deſcen—
denztheorie. Aber ſelbſt bei vielen An—
hängern der Entwickelungstheorie gilt die
Nichtexiſtenz des Bathybius als ausgemacht
und es wird daraus eine Reihe von Schluß⸗
folgerungen gezogen, die als mehr oder
minder gewichtige Einwürfe gegen hervor—
ragende Hauptpunkte des Darwinismus
Bedenken erregen. Dieſe Umſtände, ſowie
die Unklarheit, in welcher ſich der größte
Theil des dafür intereſſirten Publicums
über den eigentlichen Thatbeſtand befindet,
beſtimmt uns, hier die Moneren-Frage mit
beſonderer Rückſicht auf den Bathybius
zu erörtern. Ich ſelbſt erſcheine zu
dieſer Erörterung inſofern beſonders be—
rechtigt, ja ſogar verpflichtet, als ich das
zweifelhafte Glück genieße, bei dem „be—
rüchtigten Urſchleim der Meerestiefen“ Ge—
vatter geſtanden zu haben. Als mein
Freund Thomas Huxley 1868 ihm
bei der Taufe den Namen Bathy b ius
Haeckelii beilegte, konnte er freilich
nicht ahnen, daß der arme Täufling, einem
Icarus gleich, in kürzeſter Zeit zu einer
biologiſchen Celebrität werden, die Sonnen—
294
höhe irdiſcher Berühmtheit erlangen und
noch vor Ablauf ſeines erſten Decenniums
in den dunkeln Hades der Mythologie hin—
abſtürzen werde! Sehen wir denn zu, ob
er wirklich todt iſt, ob er überhaupt nicht
exiſtirt hat. Und wenn wir wirklich ſeine
bloß mythologiſche Schein-Exiſtenz zugeben
müßten, ſehen wir weiter zu, was daraus
für die Moneren folgt!
1. Zur Geſchichte der Moneren.
Im Frühling des Jahres 1864 be—
obachtete ich im Mittelmeere bei Villafranca
unweit Nizza ſchwimmende winzige Schleim—
kügelchen von ungefähr einem Millimeter
oder einer halben Linie Durchmeſſer, die
mein höchſtes Intereſſe erregten. Vorſichtig
unter das Mikroskop gebracht, erſchien näm—
lich jedes dieſer Kügelchen wie ein kleiner
Stern, deſſen Mitte aus einem viel kleineren
ſtructurloſen Kügelchen beſtand, während
von der Oberfläche ringsum mehrere Tauſend
äußerſt feine Fäden ausſtrahlten. Die ge—
naue Unterſuchung bei ſtarker Vergrößerung
lehrte, daß der ganze Körper des ſtern—
förmigen Weſens aus einfacher eiweißartiger
Zellſubſtanz, aus Sarcode oder Proto—
plasma beſtehe, und daß die Fäden,
welche allenthalben von der Oberfläche aus—
ſtrahlten, keine beſtändigen Organe ſeien,
ſondern ihre Zahl, Größe und Geſtalt be—
ſtändig ändern. Sie erwieſen ſich als
ebenſo wechſelnde und unbeſtändige Fort—
ſätze des centralen Protoplasma-Körpers,
wie die längſt bekannten „Scheinfüßchen
oder Pſeudopodien“, welche die einzigen
Organe der Wurzelfüßler oder Rhizo—
poden darſtellen. Während aber bei
dieſen letzteren Zellenkerne im Protoplasma
zerſtreut ſind und ihre Körper ſomit den
Formwerth von einer oder mehreren Zellen
Häckel, Bathybius und die Moneren.
beſitzt, iſt das bei jenen in Nizza be—
obachteten Protoplasma-Kügelchen nicht der
Fall. Im Uebrigen war kein Unterſchied
hier und dort zu finden bezüglich der Be—
wegungsform der fließenden Schleimfäden
und der Art und Weiſe, in welcher die—
ſelben als Taftorgane zum Empfinden, als
Contractionsorgane zum Kriechen, und als
Ernährungsorgane zur Nahrungsaufnahme
benutzt wurden. Um die Naturgeſchichte
des kleinen Protoplasmakügelchens von Nizza,
das
zu vervollſtändigen, fehlte es nur noch
an der Beobachtung ſeiner Fortpflanzung.
Auch dieſe glückte ſchließlich. Nach eini—
ger Zeit zerfiel das kleine Weſen durch
einfache Theilung in zwei Hälften, von
denen jede ihr eignes Leben in der—
ſelben Weiſe weiterführte, wie das erſtere.
Ich hatte ſomit den vollſtändigen Lebens—
cyclus eines denkbar einfachſten Organismus
erkannt, und nannte denſelben in Anerkennung
ſeiner fundamentalen Bedeutung Proto-
genes primordialis, den „Erſtge—
bornen der Urzeit.“
ſchreibung gab ich im XV. Bande der Zeit-
ſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie (S. 360,
Taf. XXVI., Fig. 1, 2).
Schon im folgenden Jahre wurden zwei
verſchiedene, dem Protogenes ſehr ähnliche,
höchſt einfache Organismen von dem aus—
gezeichneten Mikroſkopiker Cienko wski
beſchrieben. Im erſten Bande des Archivs
für mikroſkopiſche Anatomie (S. 203,
Taf. XII. - XIV.) veröffentlichte derſelbe
ſehr intereſſante „Beiträge zur Kenntniß
der Monaden.“ Unter den verſchiedenen
Protiſten, die Cienkowski hier unter
dem alten, vieldeutigen und daher ſehr
unſicheren Begriffe der „Monaden“ zu-
ſammenfaßt, befinden ſich zwei mifvoffopi-
ſche Bewohner des ſüßen Waſſers, welche
ich auf das Genaueſte unterſuchte,
Seine genaue Ber
—
ö Fr re
in der vollkommen einfachen und ſtructur—
loſen Beſchaffenheit ihres kernloſen, ſtrahlen⸗
den Protoplasma-Körpers dem Proto—
genes gleichen, die Gattungen Proto-
monas Monas amyli) und Vampy-
rella (letztere mit drei verſchiedenen Arten).
Sie unterſcheiden ſich aber von dem erſteren
durch die Art und Weiſeihrer Fortpflanzung.
Während der Protogenes, nachdem er durch
Wachsthum ein gewiſſes Größenmaß er
reicht hat, dieſes nicht weiter überſchreitet,
ſondern ohne Weiteres in zwei Stücke zer—
fällt, ziehen Protomonas und Vampyrella
ihre Strahlen ein und gehen in einen
Ruhezuſtand über, in welchem ſich die
kleine Protoplasmakugel einkapſelt oder
encyſtirt, mit einer Hülle („Cyſte“) um⸗
giebt. Innerhalb dieſer kleine Hülle zerfällt
die Protomonas in ſehr zahlreiche Kügelchen,
die Vampyrella in vier Stücke (Tetraſporen).
Alle dieſe Theilſtücke werden ſpäter frei
und entwickeln ſich durch einfaches Wachs⸗
thum zu der reifen Form.
Inzwiſchen hatte ich ſelbſt eine vierte
ähnliche Gattung von höchſt einfachen Or⸗
ganismen im ſüßen Waſſer bei Jena be⸗
obachtet, welche einer gewöhnlichen Amoebe
ganz gleich ſich verhält, aber von dieſer
letzteren durch den Mangel eines Zellkerns
und einer contractilen Blaſe unterſcheidet.
Ich nannte ſie daher Protamoeba
primitiva. Während bei den drei erſt—
erwähnten Schleimkügelchen (Protogenes,
Protomonas, Vampyrella) überall zahlreiche
Fäden aus der Oberfläche des centralen Proto—
plasma⸗Körpers ausſtrahlen, ſehen wir ſtatt
deren bei Protamoeba — ganz wie bei der
gewöhnlichen Amoeba — wenige kurze,
fingerförmige Fortſätze ausſtrecken, welche
ihre Geſtalt beſtändig ändern; ſie werden
eingezogen und an einer andern Stelle
wieder vorgeſtreckt. Hat die Protamoeba
Häckel, Bathybius und die Moneren.
295
durch Nahrungsaufnahme (die ebenfalls
wie bei Amoeba erfolgt) eine gewiſſe Größe
erreicht, ſo zerfällt fie durch Theilung iu
zwei Hälften. Ich machte die erſte Mit⸗
theilung darüber in meiner generellen Mor⸗
phologie (Bd. I. S. 133). Später habe ich
von Protamoeba primitiva Abbildungen
gegeben, welche u. A. in die „Natür⸗
liche Schöpfungs geſchichte“ (VI. Aufl. S.
167) und in die Anthropogenie (III. Aufl.
S. 414) aufgenommen ſind.
Geſtützt auf dieſe Beobachtungen, die
ſpäterhin durch die Unterſuchungen an—
derer Forſcher, wie durch meine eigenen noch
beträchtlich erweitert wurden, gründete ich
1866 in der „Generellen Morphologie“
für alle dieſe Organismen von ein—
fachſter Beſchaffenheit eine beſondere Claſſe
unter dem Namen der Moneren, d. h.
der „Einfachen“. Im erſten Bande
(S. 135) ſagte ich damals: 5
„Um dieſe einfachſten und unvoll⸗
kommenſten aller Organismen, bei denen
wir weder mit dem Mifroffop, noch
mit den chemiſchen Reagentien irgend
eine Differenzirung des homogenen Plas⸗
makörpers nachzuweiſen vermögen, von
allen übrigen, aus ungleichartigen Theilen
zuſammengeſetzten Organismen beſtimmt zu
unterſcheiden, wollen wir fie ein für alle
mal mit dem Namen der „Einfachen oder
Moneren“ belegen. Gewiß dürfen wir
auf dieſe höchſt intereſſanten, bisher aber
faſt ganz vernachläſſigten Organismen be—
ſonders die Aufmerkſamkeit hinlenken und
auf ihre äußerſt einfache Formbeſchaffen⸗
heit bei völliger Ausübung aller weſent⸗
lichen Lebensfunctionen das größte Gewicht
legen, wenn es gilt, das Leben zu er—
klären, es aus der fälſchlich ſogenannten
„todten Materie“ abzuleiten, und die
übertriebene Kluft zwiſchen Organismen
296
und Anorganen auszugleichen. Indem bei
dieſen homogenen belebten Naturkörpern von
differenten Formbeſtandtheilen, von „Or⸗
ganen“ noch keine Spur zu entdecken iſt,
vielmehr alle Moleküle der ſtructurloſen
Kohlenſtoffverbindung, des lebendigen Ei—
weißes, in gleichem Maaße fähig erſcheinen,
ſämmtliche Lebensfunctionen zu vollziehen,
liefern fie klar den Beweis, daß der Be—
griff des Organismus nur dynamiſch oder
phyſiologiſch aus den Lebensbewegungen,
nicht aber ſtatiſch oder morphologiſch aus
der Zuſammenſetzung des Körpers aus
„Organen“ abgeleitet werden kann.“
In den folgenden Jahren wurde der
Kreis unſerer Erfahrungen über dieſe
wunderbaren „Organismen ohne Organe“
weſentlich erweitert. Auf meiner Reiſe
nach den canariſchen Inſeln (1866 und
1867) richtete ich natürlich meine ganze
Aufmerkſamkeit auf dieſelben und war denn
auch ſo glücklich, noch mehrere neue Moneren—
Formen zu entdecken. Auf den weißen
Kalkſchalen eines merkwürdigen Cephalopoden
(Spirula Peronii), die zu Tauſenden
an den Küſten der canariſchen Inſeln an⸗
getrieben zu finden find, bemerkte ich zu—
weilen zahlreiche rothe Pünktchen, welche
ſich unter der Lupe als zierliche Sternchen
und bei ſtarker Vergrößerung als orange—
rothe Protoplasma -Scheiben oder Kugeln
zu erkennen gaben, von deren Umfange zahl—
reiche baumförmig veräſtelte Fäden aus—
ſtrahlten. Die genauere Unterſuchung zeigte,
daß auch dieſe (verhältnißmäßig coloſſalen)
Protoplasmakörper kernlos und ſtructurlos
waren und ſich in ähnlicher Weiſe wie Pro—
tomonas fortpflanzten, nämlich dadurch,
daß der kugelig zuſammengezogene und ein—
gekapſelte Körper in zahlreiche kleine Stücke
zerfiel. Ich nannte dieſe intereſſante neue
Moneren-Gattung Protomy xa auran—
Häckel, Bathybius und die Moneren.
Bi:
tiaca und habe fie auf Taf. I. der
„Natürl. Schöpfungsgeſchichte“ abgebildet.
Eine ähnliche ſtattliche Monerenform ent—
deckte ich ſodann in demſelben Jahre (1867)
im Schlamme des Hafenbeckens von Puerto
del Arrecife, der Hafenſtadt der canari-
ſchen Inſel Lanzarote und bezeichnete ſie als
Myxastrum radians. Sie iſt da⸗
durch ausgezeichnet, daß die Theilſtücke oder
Sporen, in welche der kugelige Körper
bei der Fortpflanzung zerfällt, ſich radial
gegen den Mittelpunkt der Kugel ordnen
und ſpindelförmige Kieſelhüllen ausſchwitzen,
aus denen ſpäter das junge Moner aus—
ſchlupft.
Geſtützt auf alle dieſe Beobachtungen,
veröffentlichte ich 1868 in der „Jenaiſchen
Zeitſchrift für Naturwiſſenſchaft“ eine aus—
führliche Monographie der Moneren.
(Bd. IV, S. 64, Taf. II und III).
Hier ſind alle eigenen und fremden Be—
obachtungen ausführlich zuſammengeſtellt
und erläutert. Es ergaben ſich damals
ſieben verſchiedene Gattungen von Moneren.
Durch ſpätere Beobachtungen iſt die Zahl
der Arten auf 16 geſteigert worden, worüber
ich in den „Nachträgen zur Monographie
der Moneren“ berichtet habe. (Jenaiſche
Zeitſchr. für Naturw. 1877. Bd. VI. S. 23)
Die Unterſchiede aller dieſer Moneren beruhen
nur darauf, daß die weiche ſchleimige Körper—
maſſe in verſchiedener Form ſich ausbreitet
und bewegt, und daß die ungeſchlechtliche
Fortpflanzung (durch Theilung, Sporen—
bildung u. ſ. w., auf verſchiedene Weiſe
geſchieht.
2. Zur Geſchichte des Vathybius.
Das hohe Intereſſe, das die Moneren
in morphologiſcher ſowohl, als phyſiologiſcher
Beziehung darbieten, wurde noch geſteigert,
Häckel, Bathybius und die Moneren.
als 1868 der erſte Zoologe Englands,
der berühmte Thomas Huxley, eine
neue, ganz eigenartige Moneren Gattung
unter dem Namen Bathybius Haeckelii
beſchrieb (im Journal of mieroscop.
ee, von r, N. 8. p. 1% Fl.
IV). Abweichend von den übrigen Moneren
ſollte dieſer Bathybius eigenthümlich
geformte mikroſkopiſche Kalkkörperchen ein—
ſchließen: Coceosphaeren und Coccolithen
(Diseolithen und Cyatholithen); die
formloſen Protoplasma-Klumpen deſſelben
aber, von ſehr verſchiedener Größe, ſollten
in ungeheuren Maſſen die tiefſten Abgründe
des Meeres bedecken, unterhalb 5000 Fuß
bis zu 25,000 Fuß hinab. Mit dieſem
formloſen Ur-Organismus einfachſter Art,
der zu Milliarden vereinigt den Meeres—
boden mit einer lebendigen Schleimdecke
überzieht, ſchien ein neues Licht auf eine
der ſchwierigſten und dunkelſten Fragen der
Schöpfungsgeſchichte zu fallen, auf die
Frage von der Urzeugung, von der
erſten Entſtehung des Lebens auf unſerer
Erde. Mit dem Bathybius ſchien der
berüchtigte „Urſchleim“ gefunden zu
ſein, von dem Oken vor einem halben Jahr—
hundert prophetiſch behauptet hatte, daß
alles Organiſche aus ihm hervorgegangen,
und daß er im Verfolge der Planeten-Ent—
wickelung aus anorganiſcher Materie im
Meeresgrunde entſtanden ſei.
Der Tiefſeeſchlamm, welcher die Bath y—
bius⸗Maſſen enthält, wurde zuerſt bei
Gelegenheit der großartigen Tiefgrundunter—
ſuchungen entdeckt, die ſeit dem Jahre 1857
behufs Legung des transatlantiſchen Tele—
graphen-Kabels angeſtellt wurden. Man
fand ſchon damals das „atlantiſche Tele—
graphen-Plateau“, jene mächtige Tiefſee—
Ebene, welche ſich in einer durchſchnitt—
lichen Tiefe von 12,000 Fuß von Irland
297
bis Neufundland erſtreckt, allenthalben mit
einem eigenthümlichen, grauen, äußerſt fein—
pulverigen Schlamme bedeckt: Derſelbe
zeichnete ſich durch zähe, klebrige Beſchaffen—
heit aus und zeigte bei mikroſkopiſcher Unter—
ſuchung Maſſen von kleinen kalkſchaligen
Rhizopoden, insbeſondere Globigerinen, und
ferner, als Hauptbeſtandtheile, die ſehr kleinen,
als Coccolithen bezeichneten Kalkkörperchen.
Aber erſt elf Jahre ſpäter, als Huxley
1868 mittelſt eines ſehr ſcharfen Mikroſkops
eine erneute genaue Unterſuchung deſſelben
Schlammes, auch in chemiſcher Beziehung
vornahm, entdeckte er darin die nackten,
freien, formloſen Protoplasma-Klumpen,
welche neben den genannten Theilen die
Hauptmaſſe des Schlammes bilden. „Dieſe
Klumpen ſind von allen Größen, von
Stücken, die mit bloßem Auge ſichtbar ſind,
bis zu äußerſt kleinen Partikelchen. Wenn
man fie der mikroſkopiſchen Analyſe unter—
wirft, zeigen ſie — eingebettet in eine durch—
ſichtige, farbloſe und ſtructurloſe Matrix
— Körnchen, Coccolithen und zufällig
hineingerathene fremde Körper.“
Lebender Bathybius wurde zuerſt
1868 von Sir Wy ville Thomſon
und Profeſſor William Carpenter,
zwei ebenſo erfahrenen als ſcharfſichtigen
Zoologen, während ihrer nordatlantiſchen
Tiefſee-Expedition auf dem Kriegsſchiffe
„Porcupine“ beobachtet. Sie berichten über
den friſch heraufgeholten lebendigen Tiefſee—
Schlamm: „Dieſer Schlamm war
wirklich lebendig; er häufte ſich
in Klumpen zuſammen, als ob Eiweiß
beigemiſcht wäre; und unter dem Mikroſkope
erwies ſich die klebrige Maſſe als lebende
Sarcode.“ (Annals and magaz. ot nat.
hist. 1869, Vol. IV, p. 151). Ferner
ſagt Sir Wyville Thomſon in ſeinem
höchſt intereſſanten Werke über die Meeres—
tiefen (The depths of the Sea II. Edit.
1874. p. 410): „In dieſem Schlamm
(Globigerinen-Schlamm aus 2,435 Faden
— oder ca. 14,600 Fuß Tiefe, aus der
Bay von Biscaya), wie in den meiſten
anderen Schlamm-Proben aus dem atlantiſchen
Ocean-Bett, war eine beträchtliche Quantität
einer weichen, gallertigen, organiſchen
Materie nachweisbar, genug, um dem
Schlamme eine gewiſſe Klebrigkeit zu geben.
Wenn der Schlamm mit ſchwachem Wein-
geiſt geſchüttelt wurde, fielen feine Flocken
nieder, wie von geronnenem Schleime; und
wenn ein Wenig von demjenigen Schlamme,
an welchem die klebrige Beſchaffenheit am
deutlichſten hervortritt, in einem Tropfen
Seewaſſer unter das Mikroſkop gebracht
wird, können wir gewöhnlich nach einiger
Zeit ein unregelmäßiges. Netzwerk von
eiweißartiger Materie ſehen, unterſcheidbar
durch ſeine beſtimmten Umriſſe und nicht
mit Waſſer miſchbar. Man kann ſehen,
wie dieſes Netzwerk feine Form allmählig
ändert, und die eingeſchloſſenen Körnchen
und fremden Körper ihre relative Lage
darin verändern. Die Gallert-Subſtanz
iſt daher eines gewiſſen Grades
von Bewegung fähig, und es kann
kein Zweifel ſein, daß ſie die Er—
ſcheinungen einer ſehr einfachen
Lebensform zeigt.“ So wörtlich Sir
Wyville Thomſon (a. a. O. S. 411).
Meine eigenen Unterſuchungen des Bathy—
bius-Schlammes betrafen, ebenſo wie die—
jenigen von Huxley, nur todtes, in Wein—
geiſt conſervirtes Material. Das Fläſchchen,
in welchem ich denſelben von den Far-Oer⸗
Inſeln zugeſandt erhielt, trug die Aufſchrift:
„Dredged of Professor Thomson und
Dr. Carpenter with the Steamer Poreupine
on 2435 fathoms. 22. July 1869. Lat.
47038“. Long. 124 “.“ Es war alſo
ve Sa Er
Häckel, Bathybius und die Moneren.
dieſer Bathybius-Schlamm derſelbe, an
welchem die genannten Forſcher ihre Beobach-
tungen über amöboide Bewegungen angeſtellt
hatten. Die Reſultate meiner Unterſuchung
habe ich ausführlich in meinen „Beiträgen
zur Plaſtiden-Theorie“ mitgetheilt
(2. Bathybius und das freie Protoplasma
der Meerestiefen. Jen. Zeiſchr. für Naturw.
1870. Bd. V. S. 499. Taf. XVII.)
Die 80 Figuren, welche ich daſelbſt (auf
Taf. XVII) von den verſchiedenen formloſen
Protoplasma-Stücken des Bathybius und
den geformten Kalkkörperchen, die er einſchließt,
gegeben habe, find bei ſehr ſtarker Ver—
größerung mit Hülfe der Camera lueida .
ganz genau gezeichnet. Einige dieſer Figuren
find auch iu den Aufſatz über „das Leben
in den größten Meerestiefen“ übergegangen,
welchen ich 1870 in Virchow-Holzendorff's
Sammlung publicirt habe. (Nr. 110).
Indem ich dieſen, in ſtarkem Alkohol
ſehr gut conſervirten Bathybius⸗Schlamm
mit Hülfe der neueſten Methoden möglichſt
genau unterſuchte, und namentlich die vor—
theilhafte (von Huxley früher nicht ange—
wandte) Methode der Färbung mit Carmin
und Jod übte, ſuchte ich vor Allem die
Quantität und Qualität der formloſen
Protoplasma-Stüde näher zu beſtimmen,
die überall in Maſſe zwiſchen den geformten
Kalktheilchen ſich vorfanden. Dieſe eiweiß—
artigen, durch Carmin roth gefärbten Stücke
waren ſehr gleichmäßig durch den ganzen
Schlamm verbreitet und ſchienen in den
meiſten unterſuchten Proben mindeſtens ein
Zehntel bis ein Fünftel des geſammten
Volums zu betragen; in manchen Präparaten
ſelbſt die größere Hälfte. Dieſelben Maſſen,
welche durch Carmin ſich mehr oder minder
intenſiv roth färbten, nahmen durch Jod —
und ebenſo durch Salpeterſäure — eine
gelbe Färbung an und zeigten auch im
Häckel, Bathybius
Verhalten gegen andere chemiſche Reagentien
ganz dieſelben Eigenſchaften, wie das gewöhn—
liche echte Protoplasma der Thier- und
Pflanzenzellen. Die Form der meiſten
Stückchen war unregelmäßig, rundlich oder
mit ſtumpfen Fortſätzen, einer Amoebe
ähnlich; andere Stückchen bildeten unregel—
mäßige kleine und größere Sarcode Netze,
ähnlich denen der Myxomyeeten.
Ob die kleinen geformten Kalktheilchen,
die Coccolithen und Coccoſphaeren, welche
in fo großen Maſſen im Bathybius-Schlamme
vorkommen, — und zwar ebenſo wohl
zwiſchen den Protoplasma-Stückchen, als
innerhalb derſelben, von ihnen umſchloſſen,
— wirklich zu ihnen gehören, oder nicht,
dieſe Frage mußte ich um ſo mehr offen
laſſen, als ich ſchon vorher ganz ähnliche
Kalkkörperchen in dem Körper mehrerer
pelagiſchen, an der Oberfläche des canariſchen
Meeres ſchwimmenden Radiolarien gefunden
hatte („My xobrachia von Lanzerote“).
Dieſe ſonderbaren Kalkkörperchen, welche
bald die Geſtalt einer einfachen, concentriſch
geſchichteten Scheibe, bald eines Hemd—
zuſammengeſetzten Kugel u. ſ. w. hatten,
konnten ebenſowohl Ausſcheidungen der Bathy—
bius⸗Sarcode ſein, als fremde Körper, die
zufällig (oder bei der Nahrungsaufnahme)
in das Protoplasma hinein gelangt waren.
In neueſter Zeit hat ſich die größere
Wahrſcheinlichkeit zu Gunſten der letzteren
Annahme herausgeſtellt und die meiſten
Biologen nehmen jetzt an, daß alle dieſe
Körperchen mikroſkopiſche Kalk-Algen ſeien,
verkalkte einzellige Pflanzen.
Durch dieſe Unterſuchungen, die von
299
und die Moneren.
Tiefen zwiſchen 5000 und 25000 Fuß,
ein feinpulveriger Schlamm ſich findet,
welcher u. A. große Mengen einer eigen—
thümlichen, noch kaum individualiſirten Mo—
neren-Art enthält. Der Fehler, den wir
nun begingen, beſtand darin, daß wir die
Reſultate dieſer nordatlantiſchen Tiefſee-Un⸗
terſuchungen allzuraſch generaliſirten und
überall den Boden des tiefen Oceans mit
ähnlichen Moneren bedeckt zu ſehen erwar—
teten. Dieſe Erwartung wurde vollſtändig
getäuſcht. Die ſehr genaue und umfaſſen—
de Unterſuchung der großartigen Chal—
lenger-Expedition, welche in 3½ Jahren
die Erde umkreiſte und in den Tiefen der
verſchiedenen Oceane ſorgfältig nach dem
Bathybius ſuchte, hat ihn nirgends wieder—
gefunden und erzielte nur negative Reſul—
tate. Wir haben keinen Grund, in die
Sorgfalt und Genauigkeit der ausgezeichne—
ten Naturforſcher der bewunderungswürdi—
gen Challenger - Expedition irgend einen
Zweifel zu ſetzen, um ſo weniger, als ja
der vorzügliche Direktor derſelben, Sir
Wyville Thomſon, ſelbſt zuerſt die
5 4 | B Y ' =
de viele Sheibihen. | ewegungen am lebenden Bathybius wahr
genommen hatte.
annehmen, daß an den vom Challenger
Wir müſſen alſo wohl
unterſuchten Stellen des tiefen Meeresbo—
dens die Bathybius-Moneren wirklich fehl—
ten. Folgt aber daraus, daß alle jene
früheren Beobachtungen und Schlüſſe un—
richtig waren?
Wie es ſehr häufig in ſolchen Fällen
| zu gehen pflegt, fo ging auch jetzt plötzlich
die einſeitig übertriebene Anſicht in das
entgegengeſetzte Extrem über. Vorher hatte
man gehofft, überall im Schlamme des
tiefen Meeresbodens die Protoplasma-Klum⸗
mehreren andern Forſchern beſtätigt wur-“ pen des Bathybius in Maſſe zu finden;
den, ſchien feſtgeſtellt, daß auf dem Boden
des nordatlantiſchen Oceans, und zwar in
jetzt wollte man fie mit einem Male nir-
gends mehr anerkennen. Suebefonterch
Häckel, Bathybius
300
glaubte man ſich zu der Annahme berech-
tigt, der früher in Weingeiſt unterſuchte
Bathybius-Schlamm ſei weiter nichts, als
ein feiner Gyps-Niederſchlag, wie er über—
all bei der Miſchung von Weingeiſt mit
Seewaſſer entſteht.
hin widerrief Profeſſor Huxley — wie
mir ſcheint, zu frühzeitig — ſeine frühere
Anſicht vom Bathybius. In der „Nature“
(vom 19. Aug. 1875) und im „Quarter-
ly Journal of microscop. science“
(1875, Vol. XV. p. 392) ſagt derſelbe
wörtlich: „Profeſſor Wyville Thom
fon, theilt mir mit, daß die beſten Be⸗
mühungen der Challenger-Forſcher, lebenden
Bathybius zu entdecken, fehlſchlugen, und
daß ernſtlich vermuthet wird, das Ding,
dem ich dieſen Namen gab, ſei wenig mehr
als ſchwefelſaurer Kalk, in flockigem Zu—
ſtande aus dem Seewaſſer durch den ſtar—
ken Alkohol niedergeſchlagen, in welchem
der Tiefſeeſchlamm aufbewahrt wurde. Das
Sonderbare iſt aber, daß dieſer unorgas |
niſche Niederſchlag kaum von einem
Eiweißniederſchlag zu unterſchei—
den iſt, und er gleicht, vielleicht noch mehr,
dem keimführenden Häutchen an der Ober—
fläche fauliger Aufgüſſe, das ſich unregel-
mäßig, aber ſehr ſtark, mit Carmin färbt,
Stücke von beſtimmtem Umriß bildet und
in jeder Weiſe ſich wie ein organiſches Ding
verhält. Profeſſor Thomſon ſpricht
ſehr vorſichtig und ſieht das
Schickſal des Bathybius noch nicht
als ganz entſchieden an. Aber
da ich hauptſächlich für den eventuellen
Irrthum verantwortlich bin, dieſe merk—
würdige Subſtanz in die Reihe der leben—
den Weſen eingeführt zu haben, ſo glaube
ich richtiger zu verfahren, wenn ich ſeiner
Dieſe Anſicht wurde
zuerſt von einigen Naturforſchern der Chal-
lenger-Expedition ausgeſprochen und darauf
und die Moneren.
oben mitgetheilten Anſicht größeres Gewicht
beilege, als er ſelbſt.“
Dies find die Worte des Profeſſor
Huxley, welche ſo großes Aufſehen erreg—
ten, und nach weit verbreiteter Anſicht dem
armen Bathybius den Todesſtoß verſetzt
haben. Je mehr aber hier die eigentlichen
Eltern des Bathybius ſich geneigt zeigen, ihr
Kind als hoffnungslos aufzugeben, deſto
| mehr fühle ich mich als Taufpathe verpflichtet,
ſeine Rechte zu wahren und womöglich ſein
erlöſchendes Lebensfünkchen wieder zur Gel—
Und da finde ich denn
glücklicherweiſe einen werthvollen Bundes—
genoſſen in einem vielgereiſten deutſchen
Naturforſcher, der erſt in neuerer Zeit
wieder lebenden Bathybius, und zwar
| an der Küſte von Groenland, beobachtet hat.
Der bekannte Nordpolfahrer Dr. Emil
Beſſels aus Heidelberg,
Schiffbruche der Polaris glücklich zurück—
kehrte, macht bei Gelegenheit ſeiner Beſchrei—
bung der Haeckelina gigantea
(eines coloſſalen Rhizopoden, der vielleicht
mit der früher von Sand ahl beſchriebe⸗
nen Astrorhiza identiſch iſt) folgende
wichtige Angaben: „Während der letzten
amerikaniſchen Nordpol-Expedition fand ich
| in 92 Faden Tiefe in dem Smith-Sunde
große Maſſen von freiem, undifferenzirtem
homogenen Protoplasma, welches auch keine
Spur der wohlbekannten Coccolithen ent—
hielt. Wegen ſeiner wahrhaft ſpartaniſchen
Einfachheit nannte ich dieſen Organismus,
den ich lebend beobachten konnte, Proto-
bathybius. Derſelbe wird in dem
Reiſewerk der Expedition abgebildet und
beſchrieben werden.
wähnen, daß dieſe Maſſen aus reinem
tung zu bringen.
der von dem
Ich will hier nur er⸗
Protoplasma beſtanden, dem nur zu
fällig Kalktheilchen beigemiſcht waren, aus
welchen der Seeboden gebildet iſt. Sie
4
er
N
a **
ſtellten äuß erſt klebrige, maſchenar—
tige Gebilde dar, die prächtige
amöboide Bewegungen ausführ—
ten, Carminpartikelchen ſowie
andere Fremdkörper aufnahmen
und lebhafte Körnchenſtrömung
zeigten.
1875. Bd. IX. S. 277. Vgl. auch:
Annual Report of the Secret.
of the navy for 1873). An einem an—
deren Orte, in den von Packard publi-
cirten „Life histories of ani—
mals“ (New- York, 1876 p. 3) iſt eine
Abbildung der Protoplasma-Netze des
Protobathybius von Dr. Beſſels
publicirt. Hiernach möchte ich annehmen,
daß derſelbe von unſerm echten Bathybius
nicht verſchieden iſt. Der Unterſchied, daß
letzterer gewöhnlich viele geformte Kalkkör—
perchen (Coccolithen ꝛc.) umſchließt, der er—
ſtere dagegen nicht, verliert ſeine Bedeutung
durch die immer wachſende Wahrſcheinlich—
keit, daß dieſe Kalkkörperchen einzellige,
als Nahrung aufgenommene Kalkalgen ſind.
3. Zur Kritik des Bathybius.
Nachdem wir jetzt die hiſtoriſchen An—
gaben über den Bathybius zuſammengetra—
gen und die wichtigſten wörtlich angeführt
haben, wenden wir uns zur Kritik deſſelben.
Verſuchen wir, aus einer unpartheiiſchen
Würdigung jener Angaben uns ein ſelbſt—
ſtändiges unbefangenes Urtheil über den
vielverſchrieenen und jetzt faſt aufgegebenen
Urſchleim der größten Meerestiefen zu bil—
den!
Bezüglich des todten Bathybius,
des in Weingeiſt conſervirten Tiefſeeſchlam—
mes aus dem nord⸗atlantiſchen Ocean, find
alle Beobachter, die denſelben genau unter—
ſucht haben, einig, daß derſelbe mehr oder
(Jenaiſche Zeitſchr. f. Naturw.
Häckel, Bathybius und die Moneren.
301
minder anſehnliche Mengen von geronnenem
Protoplasma enthält, welche im mor—
phologiſchen und chemiſch-phyſikaliſchen Ver—
halten die größte Aehnlichkeit mit gewiſſen
Moneren beſitzen. Die Reſultate, welche
Huxley an feinem „Porcupine“ -Material
erhielt, und die ich ſelbſt beſtätigen und
ergänzen konnte, ſind von allen anderen Be—
obachtern, die denſelben Schlamm unter—
ſuchten, als richtig anerkannt worden.
Bezüglich des leben den Bathybius
liegen poſitive Angaben über die cha—
rakteriſtiſchen rhizopoden-artigen Bewegungen
deſſelben von drei bewährten Beobachtern
vor, von Sir Wyville Thomſon, Pro-
feſſor William Carpenter und Dr.
Emil Beſſels. Alle drei ſtellten dieſe
Beobachtungen an Tiefſeeſchlamm aus dem
nord⸗atlantiſchen Ocean an. Dagegen
lieferten die Bemühungen der Challenger—
Forſcher, in verſchiedenen Meeren jene äl—
teren Beobachtungen über Bewegungs-Er-
ſcheinungen zu wiederholen und zu beſtäti—
gen, nur negative Reſultate.
Was folgt nun aus allen dieſen An—
gaben, denen wir ſämmtlich dieſelbe Glaub—
würdigkeit zuerkennen müſſen, und die ſich
doch theilweiſe zu widerſprechen ſcheinen?
Angenommen, daß alle dieſe Angaben rich—
tig ſind, ſo folgt daraus einfach weiter gar
nichts, als daß der Bathybius-Schlamm
eine beſchränkte geographiſche
Verbreitung beſitzt, und daß es eine
voreilige Verallgemeinung war, alle tiefen
Meeres-Abgründe mit demſelben zu bevöl—
kern. Daraus aber, daß die Challenger-
Expedition den lebenden Bathybius nicht
wieder finden konnte, iſt doch wahrlich
nicht zu folgern, daß die an anderen
Orten angeſtellten Beobachtungen der
Porcupine⸗Expedition über lebenden Bathy⸗
bius unrichtig waren! Oder ſollen wir da—
40
=
302
raus, daß die Challenger-Expedition den
merkwürdigen „Radiolarien-Schlamm“ nur
finden konnte, den Schluß ziehen, daß der—
ſelbe überhaupt nicht exiſtirt? Wir wiſſen,
daß die
einen beſchränkten Verbreitungs-Bezirk haben.
tung des Bathybius beſchränkt ſein?
Ich bekenne daher, nicht zu begreifen,
wie Huxley ſeine Anſicht über den Ba—
thybius ſo raſch und ſo vollſtändig ändern
konnte. Noch viel weniger freilich begreife
ich die Art und Weiſe, wie auf der letzten
Deutschen Naturforſcher-Verſammlung in
Hamburg (im September 1876) der Ba—
thybius öffentlich zu Grabe getragen wer—
den konnte. Ich finde darüber in der Ber—
liner Nationalzeitung folgende merkwürdige
Mittheilung (datirt Hamburg 21. Sep⸗
tember), betreffend einen, von Profeſſor
Möbius aus Kiel gehaltenen trefflichen
Vortrag über die Marine Fauna und die
Challenger-Expedition: „Ueber dieſe Ebenen
(— Tiefſee-Ebenen von 3700 bis 4000
Meter Tiefe —) ſollte ſich der geheimniß—
volle Urſchleim, der Bathybius, ausbreiten,
den der berühmte Huxley zu Ehren ſeines
genialen Freundes in Jena Bathybius
Haeckelii genannt hat. Leider aber paſ—
ſirte der Naturforſchung ein böſes Mißge—
ſchick. Der Bathybius, der ſo gut zu den
modernen Anſchauungen von dem Beginne
des organiſchen Lebens paſſte, erwies ſich
als ein Kunſtprodukt, als Niederſchlag von
im Meere gelöſtem Gyps, in Folge des
den Proben zugeſetzten Alkohols. Ueberall
wo man die friſchen Proben an Bord un—
terſuchte, war keine Spur von ihm zu ent—
decken. Es machte einen geradezu erſchüttern—
auf einen verhältnißmäßig engen Verbrei-
tungs-Bezirk des pacifiſchen Oceans bee
ſchränkt fand, und ſonſt nirgends wieder-
allermeiſten Organismen-Arten
Weingeiſt conſervirte Bathybius-Schlamm
Warum ſoll denn nicht auch die Verbrei-
weisführung macht auf alle Mitglieder
Häckel, Bathybius und die Moneren.
den Eindruck auf die Zuhörer, als Herr
Möbius den Bathybius nach einem ſo
einfachen Recepte vor ihren Augen in
einem mit Meerwaſſer gefüllten Glaſe
durch Alkohol-Zuſatz erſcheinen ließ!“
In der That eine merkwürdige Logik!
Weil Weingeiſt in Seewaſſer einen Gyps—
Niederſchlag erzeugt, deshalb iſt der in
nur ein Gyps⸗Niederſchlag! Und dieſe Be—
einer deutſchen Naturforſcher-Verſammlung
„einen geradezu erſchütternden
Eindruck!“ Daß ſtarker Weingeiſt in
Seewaſſer einen dünnen flockigen Gyps—
Niederſchlag erzeugt, weiß Jeder, der See⸗
thiere in Weingeiſt geſammelt hat. Ebenſo
weiß aber auch Jeder, der den Bathybius⸗
Schlamm der Porcupine-Expedition gleich
Huxley und mir genau unterſucht hat,
daß die darin maſſenhaft enthaltenen mo—
neren-artigen Eiweißkörper wirklich aus
einem eiweiß artigen Körper und nicht
aus Gyps beſtehen. Sie färben ſich in
Carmin roth, in Salpeterſäure und in Jod
gelb, werden durch concentrirte Schwefel—
ſäure zerſtört und geben alle übrigen Re—
actionen des Protoplasma, was be—
kanntlich beim Gyps nicht der Fall iſt.
Wenn man gewiſſe Kreide-Arten oder
kreidigen Mergel fein pulveriſirt, ſo erhält
man ein feinkörniges, weißes Mehl, welches
zum Verwechſeln dem merkwürdigen „Ra-
diolarien-Schlamm“ ähnlich iſt, den die
Challenger-Expedition in einem beſchränkten
Bezirke des Paeifiſchen Oceans (und nur
hier!) in einer Tiefe von 12,000 — 26,000
Fuß gefunden hat. Dieſer „Navdiolarien-
Ooze“, den ich eben jetzt unterſuche, beſteht faſt
ausſchließlich aus den zierlichſten und man—
nigfaltigſt geformten Kieſelſchalen von zahl—
loſen Radiolarien. Mit bloßem Auge aber
7
Häckel, Bathybius und die Moneren.
iſt dieſer getrocknete Schlamm — ein wun-
dervolles, mikroſkopiſches Radiolarien-Mu—
ſeum — nicht zu unterſcheiden von jenem
pulveriſirten Kreide-Mergel, der nicht eine
einzige Radiolarien-Schale enthält. Ich
ſchlage nun vor, auf der nächſten deutſchen
Naturforſcher-Verſammlung (im September
1877 in München) den experimentellen Be—
weis zu führen, daß jene coloſſalen und
höchſt merkwürdigen, vom Challenger ent—
deckten Radiolarien-Lager in den Tiefen des
Pacifiſchen Oceans nicht exiſtiren. „Das
Recept iſt höchſt einfach.“ Man zer—
ſtößt in einem Mörſer vor den Augen der
verſammelten Naturforſcher einen von jenen
Kreide-Mergeln, die keine Radiolarien ent—
halten. Das ſo erhaltene weiße Pulver
enthält kein einziges Radiolar — alſo exi—
ſtirt auch der pacifiſche (blos aus Radio—
larien beſtehende) Tiefſee-Schlamm nicht —
denn beide ſind mit bloßem Auge nicht zu
unterſcheiden. Quod erat demonstran—
dum! Wir ſind überzeugt, das ſchlagende
Experiment wird auf alle Zuſchauer „einen
geradezu erſchütternden Eindruck machen“ —
und der Radiolarien-Schlamm exiſtirt nicht
mehr!
4. Zur Kritik der Moneren.
Wir glauben in Vorſtehendem gezeigt
zu haben, daß die Nicht-Exiſtenz des
Bathyb ius nicht erwieſen iſt. Viel⸗
mehr bleibt es ſehr wahrſcheinlich, daß die
Beobachtungen von Wy ville Thom-
ſon, Carpenter und Emil Beſſels
über die Bewegungen des lebenden Bathy—
bius richtig ſind. Wir wollen nun aber
einmal das Gegentheil annehmen und wol—
len zugeben, daß Bathybius kein Moner
und überhaupt kein Organismus ſei. Folgt
daraus, — wie jetzt ſehr oft gefolgert
303
wird, — daß auch die Moneren über—
haupt nicht exiſtiren? Oder dürfen
wir daraus, daß die bekannte Rieſen-See—
ſchlange der Fabel nicht exiſtirt, den Schluß
ziehen, daß es überhaupt keine Seeſchlangen
giebt? Bekanntlich giebt es deren eine
Menge, die Familie der lebendig gebären—
den, ſehr giftigen Hydrophiden (Hy-
drophis, Platurus, Aepysurus ete.),
welche meiſtens im indiſchen Ocean und
Sunda Archipel leben, aber keine beträcht—
liche Größe erreichen.
Es würde unnütz ſein, hier nochmals
darauf hinzuweiſen, daß meine eigenen, viele
Jahre ſpeziell auf dieſen Gegenſtand ge—
richteten und möglichſt ſorgfältigen Unter—
ſuchungen die Exiſtenz von mehr als einem
Dutzend verſchiedener Moneren-Arten theils
im Süßwaſſer, theils im Meere nachge—
wieſen haben. Um ſo mehr will ich aber
hervorheben, daß dieſe Beobachtungen ſeit-
dem von einer Anzahl bewährter Forſcher
wiederholt und beſtätigt worden ſind.
Einige von dieſen Moneren ſcheinen ſogar
im ſüßen Waſſer ſehr verbreitet zu ſein,
ſo namentlich die Gattungen Protamoeba
und Vampyrella. P. agilis und V. spi-
rogyrae kommen in Jena faſt jeden Some
mer gelegentlich zur Beobachtung. P. pri—
mitiva und V. vorax ſind von mehreren
verſchiedenen Beobachtern in ſehr entlegenen
Gegenden geſehen worden. Andere neue
Moneren-Formen ſind erſt ganz neuerdings
von Cienkowski und Oskar Grimm
beobachtet. Wenn erſt die allgemeine Auf—
merkſamkeit der Mikroſkopiker ſich mehr
dieſen höchſt einfachen Organismen zuwen—
det, ſteht zu erwarten, daß unſere Kennt—
niß derſelben ſich noch beträchtlich erweitern
und vertiefen wird.
Ganz abgeſehen alſo davon, ob Bathy—
bius ein echtes Moner iſt oder nicht, kennen
9200
wir jetzt bereits mit Sicherheit eine An—
zahl echter Moneren, deren fundamen—
tale Bedeutung von erſterem ganz unab—
hängig iſt. Wir wiſſen, daß noch heute
eine Anzahl von niedrigſten Lebensformen
in den Gewäſſern unſeres Planeten exiſtiren,
welche nicht nur die einfachſten unter allen
wirklich beobachteten Organismen, ſondern
überhaupt die denkbar einfachſten
lebenden Weſen ſind. Ihr ganzer Körper
beſteht in vollkommen entwickeltem und
fortpflanzungsfähigem Zuſtande aus nichts
weiter als aus einem ſtrukturloſen Proto—
plasma⸗Klümpchen, deſſen wechſelnde, form—
veränderliche Fortſätze alle Lebensthätigkeiten
gleichzeitig beſorgen, Bewegung und Em—
pfindung, Stoffwechſel und Ernährung,
Wachsthum und Fortpflanzung. Morpho-
logiſch betrachtet iſt der Körper eines ſol—
chen Moners ſo einfach wie derjenige
irgend eines anorganiſchen Kryſtalls. Ver—
ſchiedene Theilchen ſind darin überhaupt
nicht zu unterſcheiden; vielmehr iſt jedes
Theilchen dem anderen gleichwerthig. Dieſe
wichtigen Thatſachen und die daraus ſich
ergebenden weitreichenden Folgerungen gelten
für alle Moneren ohne Ausnahme —
mit oder ohne Bathybius! — und es iſt
daher für die Theorie ganz gleichgültig, ob
der Bathybius exiſtirt oder nicht.
Wenn wir dieſe Moneren als „abſolut
einfache Organismen“ bezeichnen, ſo iſt da—
mit natürlich nur ihre morphologiſche
Einfachheit, der Mangel jeder Zuſam—
menſetzung aus verschiedenen Organen, aus—
geſprochen. In chemiſch-phyſikaliſcher Be-
ziehung können dieſelben noch ſehr zuſam—
mengeſetzt ſein; ja wir werden ihnen ſo—
gar auf alle Fälle eine ſehr verwickelte
Molecular - Structur zuſchreiben
müſſen, wie allen eiweißartigen Körpern
überhaupt. Viele betrachten den ſchleim—
Häckel, Bathybius und die Moneren.
artigen Eiweißkörper dieſer Moneren als
eine einzige chemiſche Eiweißverbindung,
Andere als ein Gemenge von mehreren
verſchiedenen ſolchen Verbindungen, noch
Andere als eine Emulſion oder ein feinſtes
Gemenge von eiweißartigen und fettartigen
Theilchen. Dieſe Frage iſt für unſere Auf—
faſſung und für die allgemeine biologiſche
Bedeutung der Moneren von untergeord—
neter Bedeutung. Denn auf alle Fälle —
mag dieſe oder jene Anſicht richtig ſein —
bleiben die Monereu in anatomiſcher
Hinſicht vollkommen einfach: Orga⸗
nismen ohne Organe. Sie beweiſen un—
widerleglich, daß das Leben nicht an eine
beſtimmte anatomiſche Zuſammenſetzung des
lebendigen Körpers, nicht an ein Zuſam—
menwirken verſchiedener Organe, ſondern
an eine gewiſſe, chemiſch-phyſikaliſche Be—
ſchaffenheit der formloſen Materie gebunden
iſt, an die eiweißartige Subſtanz, welche
wir Sarcode oder Protoplasma nennen,
eine ſtickſtoffhaltige Kohlenſtof f—
verbindung in feſtflüſſigem Aggre—
gatzuſt ande.
Das Leben iſt alſo nicht Folge
der Organiſation, ſondern um—
gekehrt. Das formloſe Protoplasma
bildet die organiſirten Formen. Da ich
die außerordentlich hohe Bedeutung, welche
die Moneren in dieſer Beziehung wie in
vielen anderen Beziehungen beſitzen, bereits
in den früher angeführten Schriften aus—
führlich erörtert habe, kann ich hier einfach
darauf verweiſen. Nur die fundamentale
Bedeutung, welche die Moneren für die
hochwichtige Frage von der Urzeugung
behaupten, ſei hier nochmals ausdrücklich
hervorgehoben. Die älteſten Orga—
nismen, welche durch Urzeugung
aus anorganiſcher Materie ent-
ſtanden, konnten nur Moneren ſein.
ER
e eee e ne EL RE Bazar
R d
5 5 ER
Gerade dieſe allgemeine Bedeutung der
Moneren für die Löſung der größten bio—
logiſchen Räthſel iſt es, welche ſie zu einem
beſonderen Steine des Anſtoßes und Aerger—
niſſes für die Gegner der Entwickelungs—
lehre macht.
rühmten Eozoon canadense geſchah,
jener vielbeſtrittenen älteſten Verſteinerung
der laurentiſchen Formation. Die erfah—
renſten und urtheilsfähigſten Kenner der
Rhizopoden-Klaſſe — an ihrer Spitze Pro—
feſſor Carpenter in London und der
verſtorbene berühmte Anatom Max
Schultze in Bonn — haben überein—
ſtimmend die feſte Ueberzeugung gewonnen,
daß das echte nordamerikaniſche Eozoon
(aus den laurentiſchen Schichten in Canada)
ein wirklicher Rhizopode, und zwar ein
dem Polytrema nächſtverwandtes Po-
lythalamium iſt. Ich ſelbſt habe mich
viele Jahre hindurch ganz ſpeciell mit dem
Studium der Rhizopoden beſchäftigt. Ich
Häckel, Bathyhius und die Moneren.
Natürlich benutzen die Letz
teren jede Gelegenheit, ihre Exiſtenz zu be-
ſtreiten, ähnlich wie es auch mit dem be |
habe die zahlreichen, ſchönen Eozoon-Prä—
parate von Carpenter und von Max
Schultze ſelbſt genau unterſucht und hege
danach nicht den mindeſten Zweifel mehr,
daß daſſelbe wirklich ein echtes Polythala—
mium und kein Mineral iſt.
Aber gerade wegen der außerordent—
lichen principiellen Bedeutung des Eozoon,
weil dadurch die Zeitdauer der organiſchen
Erdgeſchichte um viele Millionen Jahre hin—
auf gerückt, die uralte ſiluriſche Formation
als verhältnißmäßig junge erkannt und
ſo der Entwickelungslehre ein großer
Dienſt geleiſtet wird, deshalb fahren die
Gegner der letzteren fort, unbeirrt zu be—
haupten, daß Eozoon kein organiſcher Reſt,
ſondern ein Mineral ſei. Wie aber die
hohe Bedeutung des Eozoon durch dieſe
fruchtloſen Angriffe unkundiger Gegner erſt
recht in ihr volles Licht geſetzt worden iſt,
ſo gilt daſſelbe auch von den Moneren —
mit oder ohne Bathybius! Die echten Mo—
neren bleiben ein feſter Grundſtein der
Entwickelungslehre!
Phyſiologiſche Briefe
von
Prof. Dr. Guſtav Jäger.
II. Ueber Vererbung.
3
Fr
J aben wir uns im erſten Briefe
7 die Bedeutung der ſpezifiſchen
7 g u Stoffe für den Nahrungstrieb
> und den Aſſimilationsvorgang
in das nüthige Licht zu ſtellen
geſucht, ſo ſoll im heutigen Briefe daſſelbe
für das Fortpflanz ungsweſen. ge
ſchehen. Ich knüpfe hierbei an die intereſ—
ſante Mittheilung von Dr. Fritz Müller
über Schmetterlingsdüfte an, über
die im dritten Hefte des Kosmos S. 260
Bericht erſtattet wurde.
Stellt man ſich im Mai in einem lich—
ten Buchenwalde zur Seite eines Stammes
auf, an welchem man ein Weibchen des
Buchenſpinners entdeckt hat, ſo wird man
bald beim Ausſpähen dieſes oder jenes
Männchen da oder dort in gaukelnd revie—
rendem Fluge dahineilen ſehen. Nähert es ſich
auf ſeinem Wege nicht zufällig auf geringere
Diſtanz als 20—30 Schritt dem Stamme,
ſo zieht es vorüber. Hat es dagegen ſein
Flug näher herangebracht — und wenn
es unter den Wind kommt, ſo genügt auch
eine Diſtanz von über 40 Schritten —
ſo ändert es plötzlich ſeine Flugrichtung
und ſtürzt ſchnurgerade auf den Stamm
los, umkreiſt ihn ſuchend und gaukelnd ein
und das andere Mal, bis es das Weib—
chen entdeckt hat, um ſich dann bei ihm
niederzulaſſen. Daß das Männchen nicht
durch den Geſichtsſinn auf die angegebene
Entfernung von der Anweſenheit des Weib—
chens Kunde erhält, wird durch die Fälle
bewieſen, in welchen das Weibchen auf der
entgegengeſetzten Seite des Stammes ſitzt.
Es kann alſo auf der einen Seite nur
der Geruchsſinn, auf der andern nur der
Beſitz eines ſpezifiſchen, auf jo weiten Ab-
ſtand wirkenden Ausdünſtungsgeruches die
Vereinigung herbeiführen.
Auch noch in anderer Weiſe erhält der
Schmetterlingsſammler Beweiſe hiefür. Hat
man ein friſchgefangenes Weibchen eines
Schmetterlings in eine Umhängſchachtel ge—
ſteckt, ſo kann es einem begegnen, daß ſich
ein Männchen der gleichen Art zudringlich
auf die geſchloſſene Schachtel ſetzt: es hat
das Weibchen durch den Deckel hindurch
gewittert.
Hat man das Weibchen eines Schwär—
mers gefangen, ſo kann man, ſelbſt mitten
in Städten, entfernt von jeder Vegetation,
Männchen und zwar oft in ſtaunenswerther
Zahl fangen, wenn man das lebende Weib—
chen Nachts im Zimmer an einem Faden
um den Leib aufhängt; die Männchen ſtür—
men ins Zimmer herein, und zwar nur
ſolche der gleichen Art, und man macht dabei
die Erfahrung, daß der Anflug zum Weibchen
erſt tief in der Nacht, in der Regel erſt nach
Mitternacht beginnt, die Zeit der Dämme—
rung wird nur zum Nektarſchmaus auf
Blüthen benutzt. Hat man nun auch den
größten Reſpekt vor der Befähigung der
Nachtthiere, im Dunkeln zu ſehen, ſo wäre
es doch eine ſtarke Zumuthung, zu glauben,
daß es etwa dem dahinſtürmenden Männ—
chen eines Liguſterſchwärmers gelinge, ein
vielleicht ebenfalls in raſchem Flug vorbei—
eilendes Weibchen ſeiner Art von dem ihm
jo ähnlichen Windigweibchen in ſtockfinſtrer
Nacht zu unterſcheiden, oder die Unterſchei—
dungsmöglichkeit zwiſchen ſo ähnlich gefärb—
ten Arten anzunehmen, wie es Wolfsmilch—
und Labkrautſchwärmer, oder die Wein—
ſchwärmer ſind. Selbſt bei Tagſchmetter—
lingen beſteht für mich kein Zweifel da—
rüber, daß der Geruchsſinn die Zuſammen—
führung der Geſchlechter vermittelt, denn
bei Betrachtung der einander ſo äußerſt
ähnlich gefärbten und gezeichneten Arten
der Bläulinge, der Perlmutterfalter, Scheck—
falter und Augfalter muß man doch billiger—
weiſe zweifeln, daß ſich die Arten mittelſt
des Geſichtsſinns unterſcheiden.
Hierzu kommt noch folgende Erwägung:
das Schmetterlingsmännchen hat ja bezüg—
lich Farbe und Zeichnung des zu ihm ge—
hörigen Weibchens lediglich keine Er—
fahrungen. Weder als Raupe, noch als
Puppe ſieht es dasſelbe und wenn es nach
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
5 7
307
dem Ausſchlüpfen das Weibchen erblickt,
woher ſoll es dann wiſſen, daß dieſer oder
jener winzige Unterſchied in Farbe und
Zeichnung das Kennzeichen ſeines Weibchens
iſt? Dies würde Detailkenntniſſe voraus—
ſetzen, die nur auf dem Wege langer Er—
fahrung und comparativer Beobachtung zu
gewinnen ſind. Im Gegentheil, es iſt nur
das Werk des chemiſchen, durch den
Geruchsſinn vermittelten Inſtink—
tes, der chemiſchen Wahlverwandtſchaft
der ſpezifiſchen Stoffe.
Als letzter Grund iſt für mich dabei
noch maßgebend, daß ich nach dem Bau
ihrer Augen die Inſekten, ich will zwar nicht
ſagen für kurzſichtig im Sinne menſchlicher
Kurzſichtigkeit, jedoch für nicht befähigt
halte, aus der Ferne ſolche Einzelheiten
wahrzunehmen, wie es nöthig wäre, um
auch nur auf einige Meter Diſtanz das
eigene Weibchen von anderen ähnlichen zu
unterſcheiden.
Sehen wir uns bei anderen Thier—
gruppen um, fo treten uns überall That—
ſachen entgegen, welche den Ausdünſtungs—
geruch zum Träger. des Paarungsinſtinktes
ſtempeln.
Unter den Wirbelthieren ſind es am un—
verkennbarſten die Säugethiere, die
im eminenten Sinne Riechthiere ſind.
Bei allen Säugethieren, die ich in der
betreffenden Lage im Wiener Thiergarten
zu beobachten Gelegenheit hatte, geht der
Paarung ausnahmslos ein Beſchnüffeln
voraus. Hier läßt ſich auch noch ein
anderer Umſtand als Beweis für die Rolle
der Riechſtoffe bei der Fortpflanzung bei—
bringen.
Die Paarung iſt bei den meiſten Säu—
gethieren an eine ganz beſtimmte Zeitperiode,
die Brunſtzeit, geknüpft. Es zeigt ſich nun
deutlich, daß in dieſer Periode eine Varia—
Br
308
tion des Ausdünſtungsgeruches und zwar
ohne Zweifel in qualitativer Weiſe auftritt.
Am leichteſten beobachtet man die Sache beim
Hund. Der männliche Hund verhält ſich ge—
gen die Fährte eines nichtbrünſtigen Weib—
chens ziemlich gleichgültig, nimmt dagegen
die einer brünſtigen Hündin ſofort auf,
und dasſelbe gilt von allen Säugethieren.
Der Hund belehrt uns darüber, daß
auch der Menſch in dieſer Beziehung ſich
wie die Säugethiere verhält. Zunächſt
muß ich bemerken, daß nicht blos zwiſchen
den beiden Geſchlechtern einer und derſelben
Art Sympathiebeziehungen beſtehen, ſondern
auch zwiſchen denen verſchie dener Arten.
Am leichteſten kann dies der Menſch an ſich
ſelbſt beobachten.
lingt die Zähmung des Männchens einer
Frau leichter,
Bei wilden Thieren ges
|
|
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
ſame kann nur der Ausdünſtungsgeruch
ſein. Dies zeigt ſich denn auch am Hund
ganz deutlich in dem Umſtand, daß die
männlichen Hunde in der Menſtruations—
periode ihren Herrinnen gegenüber viel lie—
die eines Weibchens dem
Manne; meine beiden zahmen Wölfinnen
z. B. waren an mich und meine Kinder
anhänglich wie Hunde, für Frau und
Magd hatten ſie nur Knurren und böſe
Blicke. Eine Hündin attachirt ſich viel
inniger und leichter einem Manne, als ein
Rüde, während es ſich bei der Frau um—
gekehrt verhält. Mancher Hundefreund würde
viel lieber eine Hündin halten, da die
Frau aber nicht mit ihr auskommt, muß
er ſich mit dem Rüden begnügen. Daß
die männlichen Stiere von einer Magd
ſich viel leichter behandeln laſſen, als von
einem Knechte, iſt eine nicht minder bekannte
Thatſache. Meine Erfahrungen erſtrecken
ſich über Marder, Füchſe, Bären, Antilo—
pen, Hirſche, Katzenarten, Zibethkatzen und
Papagaien, bei welchen letzteren die kreuzweiſe
Sympathie oft ganz eklatant ſich kund giebt.
Daß dieſe Thatſachen auf die dem Ge—
ſichtsſinne zugänglichen morphologiſchen Un
terſchiede der Geſchlechter beim Menſchen
ſpielt.
weibliche Perſonen, denen er, auch bei Abwe—
benswürdiger ſind und in demſelben Falle
auch anderen weiblichen Weſen nachziehen,
die ſie ſonſt ganz unbeachtet laſſen. Auf
der anderen Seite iſt daſſelbe ein Beweis
dafür, daß auch beim menſchlichen Weibe
während der Brunſtzeit (denn als ſolche iſt
die Menſtruation aufzufaſſen) der Ausdün—
ſtungsgeruch variirt wird. Uebrigens giebt
es auch ſehr viele Männer, welche dieſe
Variation ebenfalls wahrnehmen.
Bezüglich der internen ſexuellen Be—
ziehungen beim Menſchen läßt ſich leicht
conſtatiren, daß trotz des überwältigenden
Einfluſſes rein pſychiſcher Faktoren der Aus—
dünſtungsgeruch noch immer ſeine Rolle
Es begegnen dem Manne oft genug
ſenheit jeder etwa durch Unreinlichkeit ent—
ſtehenden Emanation, einen abſtoßendeu Aus—
dünſtungsgeruch zuſpricht. Dieſe Erfahrung
läßt ſich namentlich auf Bällen machen, wo
die durch Körperbewegung vermehrte Haut—
ausdünſtung einen intenſiveren Eindruck
bewirkt. Ueber einen Kretinen wurde mir
mitgetheilt, daß derſelbe öfters eine junge
Dame feiner Umgebung, die ſich feiner be—
ſonderen Zuneigung zu erfreuen hatte, mit
wohlgefälliger Miene beſchnüffelte und da—
zu ſagte: „Riekele, du ſchmeckſt (riechſt) ſo
gut!“ — Wenig Sprichwörter bergen ſo viel
naturwiſſenſchaftliche Wahrheit als das, daß
die Liebe blind ſei, ich möchte aber
daſſelbe dahin ergänzen, daß die Liebe
eine ſehr feine Naſe hat und daß
bei einer großen Zahl ſogenannter Nei—
gungsehen, ohne daß die Betreffenden
u beziehen wären, iſt undenkbar, das wirk- nur eine Ahnung davon hätten, das wahre
3 zieh ‚ . ) ‚
u.
Motiv die in dem individuellen Ausdünſtungs—
geruch gegebene chemiſche Wahlverwandtſchaft
iſt, und umgekehrt, daß das Verunglücken
mancher Vernunftehen nur auf das
Fehlen der richtigen chemiſchen Wahlver—
wandtſchaft zurückzuführen iſt.
Die Rolle, welche die Kosmetik beim
Menſchen ſpielt, iſt deshalb meiner Anſicht
nach eine zweifache: Einmal wirken die mei—
ſten angenehmen Gerüche allgemein und da—
mit auch geſchlechtlich anregend, dann aber
dienen dieſe Fremdgerüche zur Maski—
rung der Individualgerüche, wo—
durch ſich das Gebiet, auf welchem ein
weibliches Weſen erotiſch zu wirken vermag,
vergrößert. Dem entſpricht auch durchaus die
Anwendung, welche das weibliche Geſchlecht
von der Kosmetik macht. Den größten
Conſum an Kosmetika haben die im Dienſte
der Venus vulgivaga ſtehenden Frauen—
zimmer, dann kommen die heiratsluſtigen
Mädchen und gefallſüchtigen Frauen,
während die ſittſame Ehefrau mit völlig
richtigem Gefühl die kosmetiſchen Künſte
verſchmäht und verachtet.
Ueber die enorme individuelle Differen-
zirung des Ausdünſtungsgeruchs beim Men—
ſchen, für welche dieſe interſexuellen Wahl—
verwandtſchaftsverhältniſſe mir ein eben ſo
guter Beweis ſind als die Thatſache, daß
der Hund mittelſt des Geruchsſinns das Ju—
dividuum ſo ſcharf unterſcheidet, wie wir
mittelſt der phyſikaliſchen Sinne, will ich
mich hier nicht äußern, ich behalte mir das
für einen ſpätern Brief vor. Wohl aber
muß ein Punkt, der aus den oben mitgetheil
ten Thatſachen hervorgeht, conſtatirt wer—
den.
In meinen früheren Auslaſſungen über
die ſpezifiſchen Stoffe habe ich nachgewieſen,
daß ein ganz genauer Zuſammenhang zwi—
ſchen der Verſchiedenheit der Riech- und
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
_
309
Schmeckſtoffe ſowie der durch die Syſtema—
tik zum Ausdruck gebrachten morphologi—
chen Differenz der Thierarten beſteht. Hierzu
tritt die neue Thatſache, daß auch die zwi—
ſchen den beiden Geſchlechtern einer und der—
ſelben Thierart beſtehende morphologiſche
Differenz von einer Differenz im Bereich
der ſpezifiſchen Stoffe, ſpeziell der Riech—
ſtoffe, begleitet ift, jo daß meine Behaup—
tung, alle und jede morphologiſche
Differenz ſei von einer chemiſchen
begleitet, auch von dieſer Seite geſtützt
wird.
Ferner ſcheint mir die hohe Bedeutung
der ſpezifiſchen Stoffe für die Vererbung
ganz außerordentlich durch die Thatſache
geſtützt zu werden, daß die ſpezifiſchen Ge—
ſchlechtsgerüche der verſchiedenſten Thierarten
etwas Gemeinſchaftliches haben,
denn das geht unwiderleglich aus den oben
mitgetheilten Thatſachen über die inter—
ſexuelle Anziehung hervor, die jo verſchie—
dene Thiere wie Menſch und Papagai ver⸗
kuüpft. Dem Satze, daß jede morphologiſche
Verſchiedenheit von einer Verſchiedenheit
des Ausdünſtungsgeruches begleitet iſt, wird
der ergänzende Satz an die Seite geſtellt,
daß jeder morphologiſchen Aehnlichkeit —
denn eine ſolche beſteht zwiſchen den Weibchen
verſchiedener Thiere — auch eine Aehnlich—
keit im Ausdünſtungsgeruch entſpricht.
Wir müſſen nun aber der Geruchs-
differenz zwiſchen Männchen und Weibchen
noch etwas näher treten. Aus dem Obigen
folgt, daß der Riechſtoff einer jeden Spezies
in zwei Modifikationen exiſtirt, als männ-
licher und als weiblicher. Die männliche
Modifikation wirkt als Aphrodiſiacum
auf das weibliche Thier, die weibliche als
eben ſolches auf das männliche Thier; wir kön⸗
nen alſo die Differenz aus Mangel einer
exakt chemiſchen Definition ex effeetu die
—
aphrodiſiſche Differenz nennen und uns
die Frage vorlegen: Was lehrt uns die
biologiſche Beobachtung über die
Natur der Differenz? Wir werden
am leichteſten zur Beantwortung dieſer Frage
gelangen, wenn wir ſie mit der im erſten
Briefe beſprochenen Aſſimilations diffe—
renz vergleichen. Damals mußten wir bei
den ſpezifiſchen Schmeck- und Riechſtoffen
zwei einander gegenüberſtehende, aber in
einander überzuführende chemiſche Modifi—
kationen eines und deſſelben Spezifikums
annehmen: Es iſt der Lüſternheits—
ſtoff, welcher die Nahrung dem Thiere an—
genehm und begehrenswerth macht. Bei
der Aſſimilation aber verwandelt das Spezi⸗
fikum ſich in den Ekelſtoff, welcher be—
wirkt, daß der Pflanzenfreſſer das Raub—
thier flieht. Wir ſahen weiter, daß der
Ekelſtoff dem Lüſternheitsſtoff chemiſch über—
legen iſt. Die Frage iſt nun:
Sind Anzeichen vorhanden,
daß es ſich bei der aphrodiſiſchen
Differenz um etwas Aehnliches
handelt wie bei der Aſſimilations—
differenz? Dieſe Frage iſt zu bejahen,
wenn eine Ungleichheit in Bezug auf
chemiſche Wirkung, ein chemiſches Sub—
ordinationsverhältniß beſteht, und wenn der
anziehenden Wirkung des chemiſch ſchwächeren
Stoffes (Lüſternheitsſtoffes), eine gewiſſe
abſtoßende Wirkung des ſtärkeren Stoffes
(Ekelſtoffes) gegenüberſteht. Prüfen wir
die Thatſachen.
Beim Säugethier ſteht unbedingt feſt,
daß der weibliche Ausdünſtungsgeruch auf
das männliche Thier eine ganz entſchieden
ſtärkere Anziehung ausübt als der des
Männchens auf des Weibchen: Während das
männliche Säugethier ſofort die Fährte
des brünſtigen Weibchens aufnimmt, ignorirt
das letztere die Fährte des Männchens
310 Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
vollſtändig. Beim Schmetterling verhält
es ſich ebenſo: Während man mit einem
weiblichen Schmetterling die Männchen her—
beilocken kann, gelingt das Umgekehrte nicht.
Daß bei den Käfern dasſelbe Verhältniß
beſteht, trage ich hier nach. Hat man z. B.
das Weibchen eines Hirſchkäfers gefunden,
ſo kann man damit Männchen anlocken,
während das Umgekehrte nicht gelingt.
Es liegen aber auch auf der andern
Seite Anhaltspunkte genug dafür vor, daß
die inſtinktive Wirkung des Männchens
auf das Weibchen eine gewiſſe Ab-
ſtoßung iſt. Jedermann hat ſchon
beobachtet, wie eine läufige Hündin den ſie
verfolgenden Rüden entflieht und nach ihnen
beißt. Bei den Füchſen ſieht man zur
Ranzzeit Fuchs und Füchſin tagelang ums
her ſchnüren: ſie voraus fliehend, er dicht
hinter drein verfolgend. Jeder Jäger
kennt das Sprengen bei Reh und Hirſch:
das weibliche Thier flieht, das männliche
verfolgt — dasſelbe Verhältniß wie zwiſchen
Raubthier und Beute. Mir iſt kein Thier
bekannt, bei welchem das weibliche Ge—
ſchlecht das verfolgende, überwältigende,
das männliche das verfolgte und Wider-
ſtand leiſtende wäre, es iſt ſtets umgekehrt,
auch in ſolchen Fällen, in denen, wie bei
den Spinnen, das weibliche Thier das
ſtärkere iſt und nach der Begattung ſogar
oft genug das Männchen auffrißt.
Trotz aller Maskirung, die der In—
ſtinkt beim Menſchen durch erzieheriſche Ein—
flüſſe erfährt, verläugnet ſich dasſelbe auch bei
ihm nicht: die Sprödigkeit iſt eine Eigen—
ſchaft des Weibes, die Zudringlichkeit kommt
dem Manne zu.
Die Aehnlichkeit der aphrodiſiſchen Diffe—
renz mit der Aſſimilationsdifferenz tritt
ſogar noch ausgeſprochener in dem Umſtande
hervor, daß das Männchen ſehr häufig
das Weibchen in der Wollufterregung beißt,
daß alſo von dem Ausdünſtungsgeruch — fo
glaube ich es auffaſſen zu müſſen — in
ähnlicher Weiſe ein indirekter Reflexreiz
zu den Beißmuskeln geht, wie vom
Nahrungsgeruch. Ich habe dieſes Beißen
geſehen bei Pferden, Eſeln, Quagga, Katzen—
arten, Mardern, Enten, Hühnern ꝛc., wenn
es auch freilich in manchen Fällen nur ein
Halten des Weibchens mit den Beißwerk—
zeugen iſt. Dabei iſt das Charakteriſtiſche,
daß das Beißende immer das Männchen,
nie das Weibchen iſt. Eine weitere Aehn—
lichkeit beſteht in der Wirkung auf die
Speicheldrüſen: In der Wolluſt—
erregung geifern die männlichen Säugethiere,
ſo weit ich es kenne, mehr oder weniger
deutlich.
Eine andere Aehnlichkeit beſteht darin,
daß das Weibchen überhaupt ſtets das Er—
griffene, Gehaltene, Umklammerte, Gerittene
oder ſonſt wie durch Muskelkräfte phyſiſch
Ueberwältigte iſt, und es iſt mir kein Fall
bekannt, in dem das Umgekehrte ſtatt
findet. R
Damit kommen wir zur zweiten Parallele
zwiſchen aphrodiſiſcher und Aſſimilations-
differenz: Es beſteht offenbar ein chemiſches
Subordinationsverhältniß. Bei der Aſſimi—
lation zeigt ſich dies, wie wir ſeiner Zeit
ſahen, darin, daß der Efelftoffträger den
Küſſternheitsſtoffträger chemiſch überwältigt.
Auf dem Gebiet der ſenſitiven Beeinflußung
iſt dies allerdings bei der aphrodiſiſchen
Differenz nicht ſo deutlich, wie auf dem
ſpäter zu beſprechenden Gebiet der Be—
fruchtungswirkung, allein es iſt doch auch auf
dem erſteren nicht zu verkennen. Schon
der Ausdruck „das Weibchen ergiebt
ſich dem Männchen“ iſt ganz bezeichnend,
denn warum ſagt man nicht umgekehrt?
Es geht eben vom Männchen ein den
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
Widerſtand des Weibches lähmender in—
ſtinktmäßiger Einfluß aus, der dadurch ſeine
Bedeutung erhält, daß der aphrodiſiſche Ein—
fluß, den das Weibchen auf das Männchen aus—
übt, gerade das Gegentheil von
Lähmung und Bewegungshemmung, näm
lich Beſchleunigung und Anregung, zu den
heftigſten Kraftentfaltungen iſt.
Haben wir im Bisherigen die Aehn—
lichkeit zwiſchen der Aſſimilationsdifferenz
und der aphrodiſiſchen Differenz der Spezifika
beſprochen, ſo müſſen wir jetzt auch die
Unterſchiede hervorheben.
Auf dem Gebiete der ſinnlichen Be—
einfluſſung, das wir bisher allein beſprochen
haben, tritt als ein Hauptunterſchied hervor, daß
die aphrodiſiſche Differenz in ihren Wirkungen
geringer iſt als die Aſſimilationsdifferenz.
Dies zeigt ſich nach beiden Seiten hin: Die
aufregende, anziehende, Bewegung auslöſende
Wirkung des weiblichen Sexualgeruchs auf
das Männchen iſt geringer als die des
Nahrungsgeruchs, er treibt dasſelbe zwar
zur Ueberwältigung, aber nicht zur Ver—
nichtung des Weibchens, und die abſtoßende,
lähmende Wirkung des männlichen Sexual—
geruchs auf das Weibchen erreicht nie die
Höhe der Tödtlichkeit.
Ein weiterer Unterſchied iſt qualitativer
Natur. Bei der Aſſimilationsdifferenz
löſt der Lüſternheitsſtoff Thätigkeit der Er-
nährungsapparate (Freß-, Kau- und Ber-
dauungsarbeit) aus, der Ekelſtoff wirkt
auf dieſe Apparate gerade entgegengeſetzt.
Bei der aphrodiſiſchen Differenz geht die
Wirkung auf einen andern Organapparat, die
Geſchlechtswerkzeuge, über, und auf dieſem
Gebiet iſt die Wirkung auf die beiden in
Betracht kommenden Theile nicht entgegen—
geſetzt (d. h. bei dem einen hemmend, beim an—
dern beſchleunigend), ſondern gleichartig, d. h.
beſchleunigend, die Organthätigkeit erhöhend.
312
ſeun müſſen wir uns aber einem an-
dern Punkte, nämlich den Befruchtungs⸗
vorgängen zuwenden.
behandelte,
Gebiet der Sinnesempfindungen,
akte und Reflex-Erſcheinungen iſt in mancher
Beziehung ein ſchlüpfriger Boden,
Das bis jetzt
vom Nervenleben beeinflußte
Willens⸗
weil
hier die durch Erziehung geſchaffene pſychiſche |
Beeinflußung ein ſehr ſchwer zu berechnen—
der, weil gar zu unbekannter Faktor iſt.
Bei der Befruchtung, d. h. der Einwirkung
des männlichen Samens auf das weibliche
Ei, liegen die Verhältniſſe viel einfacher.
Nur erhebt ſich hier der andere Uebelſtand,
daß dieſe Verhältniſſe noch viel zu wenig be—
obachtet ſind, theils weil die Wiſſenſchaft ſie
in dieſer Richtung allzu ſehr ignorirt,
theils weil hier die Beobachtung mit viel
größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Ich hatte beabſichtigt, in den nächſten Herbſt—
ferien hierüber Beobachtungen anzuſtellen
und erſt dann mich darüber zu äußern,
wenn ich die nöthige empiriſche Grundlage
mir verſchafft. Da ich mich aber ſchon jetzt
an der Ausführung dieſes Vorhabens verhin—
dert ſehe, ſo lege ich hier mein Raiſonnement,
von dem ich bei den Unterſuchungen aus—
gegangen wäre, in der Hoffnung nieder,
daß ein glücklicher ſituirter College die An—
regung aufnimmt und die nöthigen Ver—
ſuche und Beobachtungen anſtellt. Ich
richte jedoch dieſe Einladung nicht nur an
die Zoologen, ſondern auch an die Botaniker,
weil bei den Pflanzen die nöthigen Ver—
ſuche unendlich viel leichter anzuſtellen ſind
als bei den Thieren.
Die eine Frage iſt die: Kommt dem
männlichen Samen eine gewiſſe
Diſtanzwirkung auf das Ei zu,
die auf die Emanation ſpecifiſcher
Schmeck- und Riechſtoffe zurück—
zuführen iſt?
u
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
Hier iſt zuerſt die Thatſache zu erwähnen,
daß der männliche Samen einen ſehr leb—
haften, ganz eigenthümlichen Ausdünſtungs—
geruch hat, der zwar bei den Thierarten, die
ich darauf prüfen konnte (Menſch, Schwein,
Pferd, Kaninchen, Hund), entſchieden ähnlich,
aber auch deutlich verſchieden iſt; der erſtere
Punkt iſt ein Seitenſtück zu der Aehnlichkeit der
Hautausdünſtung der weiblichen Thiere,
die wir oben kennen lernten.
Der Geruch iſt ſo auffallend, daß be—
kanntlich vor der Keber'ſchen Entdeckung
vom Eindringen der Samenfäden in das Ei
dieſer Samengeruch, „Aura seminalis“, von
vielen für das befruchtende Princip ge—
halten wurde. So wenig es mir einfällt, dieſe
| jedenfalls einſeitige Befruchtungstheorie wieder
nöthig halte ich es,
aufleben laſſen zu wollen, für ſo dringend
die der Vergeſſenheit
anheim gefallene aura seminalis wieder
aufs Tapet zu bringen und die Behauptung
aufzuſtellen, daß ſie der Träger des Be—
fruchtungsinſtinktes iſt, und zwar ſo:
Daß überhaupt eine Befruchtung ſtatt—
findet, iſt die Folge der Vermiſchung der
Ei⸗ und Samenſubſtanz, allein daß dieſe
Vermiſchung zu Stande kommt und zwar
nur zwiſchen den Geſchlechtsprodukten der—
ſelben oder nahe verwandter Arten, halte
ich für die Wirkung der aura seminalis —
und einer aura ovalis, wenn ich dieſen
Ausdruck gebrauchen darf.
Bei denjenigen Thieren, bei welchen
die Befruchtung im Innern des Körpers ſtatt—
findet, iſt die Conſtanz des Befruchtungsver
hältniſſes Schon durch den von der Hautaus⸗
dünſtung getragenen Begattungsinſtinkt ge—
ſichert und bei Inſtinktverirrungen,
die ja bekanntlich vorkommen, werden ſchon
durch die morphologiſchen Differenzen
Hinderniſſe geſchaffen. Allein bei den
zahlreichen Thieren, bei denen die Befruch—
Ks
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
tung äußerlich vor ſich geht, fällt dieſe
Sicherung gegen Mesallianz vollſtändig fort:
Man hat darauf aufmerkſam gemacht, daß
313
1) Kann er die Quellung des Eiproto—
plasmas beſchleunigen. Daß die Quellung
auf eine mechaniſche Anziehung der Samen—
die Oeffnung der Eizelle (Mikropyle) hier | fäden hinausläuft, kann man bei den
ſtets genau den gleichen Durchmeſſer habe wie
der Kopf des Samenfadens. Daß dies aber
eine höchſt unvollkommene Sicherung iſt,
liegt auf der Hand, inſofern hier nur
die größern, nicht aber auch die ſchmächtigeren
Samenfäden ausgeſchloſſen wären, und die
erſteren nur, wenn die Köpfe der Samen—
fäden völlig unelaſtiſch wären. Es kann ſich
mithin nur um chemiſche Wirkungen handeln,
die wiederum nur von den ſpezifiſchen Be—
ſtandtheilen der chemiſchen Miſchung ausgehen
können, denn die gegenſeitige Befruchtungs—
fähigkeit iſt ſtreng an die ſpezifiſche Zuſammen—
gehörigkeit geknüpft.
Auch aus einem allgemeinen Grunde
müſſen wir die Unterſuchung der aura
seminalis wieder aufnehmen, denn daß
eine fo conſtante Erſcheinung ein lediglich gleich—
gültiges Begleitungsphänomen ſei, iſt von
vornherein höchſt unwahrſcheinlich, fie muß
einen Zweck oder, anders geſagt, eine
wichtige phyſiologiſche Wirkung haben.
Wie ſoll man ſich nun, ehe das
Experiment ſein entſcheidendes Wort geſprochen
hat, die Wirkung des Samen—
geruches auf das Ei denken?
(Dabei möchte ich auf einen formalen Ein
wand antworten: Manche Forſcher ſtellen das
Experiment voran und ſparen ſich das
Nachdenken auf nachher. Ich halte das
nicht für richtig; wer ſich die Frage, die
ihm das Experiment beantworten ſoll, nicht
zum voraus klar legt, hängt vom Zufall ab.)
Wenn der Samengeruch überhaupt eine
Wirkung auf das Ei hat, ſo muß es eine
die Befruchtung d. h. die Vermiſchung
von Samen und Ei vorbereitende ſein.
Hier iſt folgendes möglich:
Forelleneiern deutlich ſehen, denn die Be—
fruchtungsfähigkeit des Eies iſt erloſchen,
ſobald die ſehr bedeutende Quellung des
aus dem Körper ins Waſſer gelangten Eies
vorüber iſt. Hier hätten wir alſo zu be—
obachten, ob das Ei eines ſolchen Thieres
bei Anweſenheit von Samen raſcher aufquillt
als bei Abweſenheit deſſelben, und ob, wenn
dem ſo iſt, dieſe Beſchleunigung nur Wirkung
der aura iſt, alſo auch eintritt, wenn Samen
und Ei durch eine, zwar die aura, nicht aber
die Samenfäden durchlaſſende Scheidewand
getrennt ſind. Dann muß die Prüfung mit
einem fremden Samen gemacht und
unterſucht werden, ob eine fremde aura die
Quellung hemmt oder ganz verhindert oder
aber übertreibt.
2) Kommt es darauf an, ob neben den
paſſiven noch aktive Quellungsbewegungen,
d. h. Contraktionen im Protoplasma des Eies
durch die aura ausgelöſt werden und wie
ſich die adäquate und die fremde aura in
dieſer Beziehung verhalten.
Wir können uns z. B. hinſichtlich die—
ſer zwei Punkte folgende Vorſtellung machen.
Auf dem ſenſitiven Gebiete haben wir
geſehen, daß der vom männlichen Thiere
ausgehende Geruch auf das Weibchen einen
lähmenden, widerſtandsbrechenden, über—
wältigenden Einfluß ausübt. Das Ranke'-
ſche Imbibitionsgeſetz lehrt uns, daß jede
Schwächung der Lebensenergie die Quellungs—
fähigkeit des Protoplasmas ſteigert, daß
alſo der Quellung ein aktiver Widerſtand
von den contraktilen Elementen des Proto-
plasmas entgegengeſetzt wird. Dadurch iſt
die Vermuthung äußerſt nahe gelegt, daß
die Wirkung der adäquaten aura auf
-
Ü Maar
r
314
das Eiprotoplasma eine lähmende und
dadurch die Quellung befördernde iſt. Iſt
dem ſo, ſo kann die Erfolgloſigkeit der
Einwirkung einer fremden aura zweierlei
Urſachen haben:
Entweder iſt der lähmende Einfluß zu
ſchwach: Das Eiprotoplasma giebt ſeinen
Widerſtand gegen die Imbibition nicht auf
und ſo fällt die in der Quellung liegende
Anziehung der Samenfäden weg, ſolche
Samenfäden aber, die trotzdem heran—
kommen, finden die Poren des Protoplasmas,
welche bei der Quellung ſich öffnen, geſchloſſen;
hierbei denke ich nämlich nicht blos an die
Mikropyle, deren Weite von der Quellung
beeinflußt werden muß, ſondern auch an
die Strukturporen des Protoplasmas ſelbſt.
O der der lähmende Einfluß der fremden
aura auf das Ei iſt zu ſtark: Es wird
(durch Ueberquellung oder ſonſt wie)
getödtet — die—
Differenz iſt zur Aſſimilations—
differenz geworden. Hier wären
namentlich künſtliche Befruchtungsverſuche
zwiſchen Raubthieren und ihren Beutethieren
zu machen, um feſtzuſtellen, ob die aura der
Raubthiere eine ebenſo überwältigende, ver—
nichtende Wirkung auf das Ei der Pflanzen—
freſſer beſitzt, wie die andern Riechſtoffe
derſelben. Und wenn man dann die Wirkung
der Raubthier-aura auf das Pflanzenfreſſer—
Ei mit der Wirkung der Pflanzenfreſſer—
aura auf das Raubthier-Ei vergleicht, fo
muß ſich ein tiefer Einblick, nicht nur in
die Phyſiologie der Befruchtung, ſondern
gerade in den Theil der Phyſiologie
eröffnen, der die räthſelhafteſten Erſchein—
ungen birgt.
Wir können uns auch noch einen weiter—
gehenden Einfluß des Samengeruchs denken,
der uns der alten Befruchtungstheorie von
der aura seminalis allerdings noch näher
aphrodiſiſche
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
brächte. Hierbei muß ich jedoch Einiges
vorausſchicken:
Warum entwickelt ſich ein Ei
nicht, wenn es unbefruchtet bleibt?
Meiner Anſicht nach geſchieht es deshalb:
Das Ei beſteht aus zweierlei Beſtandthei—
len, aus aktivem, amöboid contraftilem _
Protoplasma — gebrauchen wir für das—
ſelbe den Namen Bildungsdotter —
und einem paſſiven, nicht erregbaren
Material, das eine Verbindung von Ei—
weiß und Lecithin, eine ſogenannte Nu—
cleinverbindung (Vitellin, Emydin,
Ichthidin ꝛc.) iſt. Dieſes Material — nen⸗
nen wir es Nahrungsdotter oder
Dotterkörner — iſt inaktiv und dem
Bildungsdotter gegenüber Hemmungs—
material, jo daß wir es auch Hem—
mungsdotter und im Gegenſatz dazu
den andern Theil den Beſchleunigungs—
dotter nennen können. Iſt Vertheilung
und Mengeverhältniß der beiden antagoni-
ſtiſchen Dotterarten derart, daß der Be—
ſchleunigungsdotter die Oberhand hat, dann
entwickelt ſich das Ei parthenog ene—
tiſch, d. h. ohne vorgängige Befruchtung.
Halten ſie ſich dagegen die Wage oder
überwiegt die Hemmung die Beſchleunig⸗
ung, ſo iſt Befruchtung nöthig, und dieſe
beſteht darin, daß der aktive Beſchleunig—
ungsdotter die Oberhand gewinnt.
Hierbei liegen aber zweierlei Möglich—
keiten vor: Entweder wird vom Befrucht—
ungsanſtoß ein Beſchleunigungsreiz auf den
aktiven Dotter ausgeübt, oder es wird,
was mir angeſichts der lähmenden Wirk—
ung der aura masculina wahrſcheinlicher
dünkt, die Hemmung durch Zerſtörung (des
miſche Zerſetzung) des paſſiven Dotters
vermindert. 3
Wir haben nun bei Beſprechung der
Aſſimilationsdifferenz gefunden, daß die Er-
ſcheinungen uns zur Annahme zwingen, es
handele ſich um zwei ſpezifiſche Stoffe, von
denen der eine (Ekelſtoff) eine überlegene
Anziehungskraft für den Eiweißkern beſitzt.
Wir ſahen oben, daß bei der aphrodiſiſchen
Differenz eine ähnliche chemiſche Ueberlegenheit
des männlichen Ausdünſtungsgeruches drin—
gend vermuthet werden darf. Könnte es
nun nicht ſein, daß der aura die Fähigkeit
zukäme, den Nucleinförper des Eiprotoplas—
mas in Lecithin und Eiweiß zu ſpalten
und ſo wahrhaft befruchtend zu wir—
ken, aber vielleicht mit der Einſchränkung,
daß der von der aura ausgehende Anſtoß
nicht ausreicht?
Wir können durch das Experiment hie—
rüber ſehr wohl Aufſchluß erhalten, wenn
es uns gelingt, eine Verſuchsmethode zu
finden, bei welcher nur die aura auf das
Ei wirken kann, nicht aber die Samenfä—
an dieſen nur von der aura beeinflußten
Eiern mit ſolchen, die mit Samen in toto
in Berührung kamen, ſowie mit an—
dern, die ganz unbefruchtet blieben, ſo muß
ſich ergeben, ob an meiner Vermuthung et—
was richtiges iſt.
Beſtätigt ſie ſich — das wäre der Fall,
wenn an den nur „auratiſch“ befruchteten
Eiern ein Theil wenigſtens die erſten Ent—
wickelungsſtadien durchmachte, während alle
unbefruchteten dies unterließen — ſo han—
delte es ſich bei dem Mißerfolg der
Fremdbefruchtung dann entweder da—
rum, daß die aura unfähig iſt, die Spal-
tung der Eiernucleine in Eiweiß und
Lecithin zu bewirken oder — bei Aſſi—
milationsdifferenz — darum, daß nicht nur
dieſe Spaltung, ſondern auch noch die
Spaltung des Eiweißes in Pepton und
Spezifikum, gewiſſermaßen Zerſtörung durch
Verdauung, eintritt.
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
den. Vergleicht man dann die Veränderungen
315
Nun müſſen wir uns aber auch noch
in Betreff des Ei's die Frage ſtellen, ob
nicht auch von ihm eine ähnliche Fern wir—
kung auf die Samenfäden ausgeht, wie es
bei dem Ausdünſtungsgeruch des Geſammt—
thieres in ſo hohem Maße ſtattfindet.
Davon, daß die Eier der verſchiedenen
Thiere verſchieden ſchmecken, kann ſich jeder
leicht überzeugen und zwar iſt dabei dreierlei
aus einander zu halten:
1) das Ei eines Thieres ſchmeckt ſtets
anders als das Fleiſch deſſelben;
2) die Eier verſchiedener Thiere ſchmek—
ken ſtets deutlich verſchieden, auch bei ſehr
nahe verwandten Thieren, und um ſo ver—
ſchiedener, je größer die morphologiſche Ver—
ſchiedeuheit der Thiere iſt, aber die Unter—
ſchiede ſind ganz entſchieden geringer als
beim Ausdünſtungsgeruch;
3) die Eier verwandter Thiere haben
bei aller Verſchiedenheit des Geſchmacks
doch auch eine ganz entſchiedene Aehnlichkeit.
Es wird Niemandem die Geſchmacksähnlichkeit
der Vogeleier, der Fiſcheier, der Schildkrö—
teneier oder die Aehnlichkeit des Geſchmacks
von Spinneneiern und Krebseiern entgehen.
Bezüglich des Geruchs weiß ich nur
anzugeben, daß die Eier viel ſchwächer auf
unſere Geruchswerkzeuge wirken als der
männliche Samen, daß ſie aber keinenfalls
geruchlos ſind, davon kann man ſich am
Dotter jedes Hühnereies überzeugen.
Da bei den Thieren die Befruchtung
ſtets in einem wäſſrigen Medium vor ſich
geht, in welchem die Geſchmacksſtoffe ſich
ebenſo verbreiten können, wie die Stoffe,
welche bei uns nur auf den Geruchsſinn
wirken, ſo iſt die Möglichkeit einer chemi—
ſchen Fernwirkung des Eies auf den männ—
lichen Samen nicht in Abrede zu ſtellen.
Kommt nun dieſer aura ovalis, wie ich fie
nennen will, ein Antheil an der Spezifität
r
5
316
der gegenſeitigen Befruchtungsfähigkeit zu,
fo muß ſich das bei künſtlichen Befruchtungs-
verſuchen zeigen. Am beſten wird man von
Kreuzbefruchtungsverſuchen zwiſchen Naub- |
thier und Beutethier ausgehen. Wenn z. B.
Beutethierſamenfäden bei Contakt mit einem
Raubthier-Ei früher abſterben, als wenn man
ſie getrennt hält, ſo würde das ganz ent—
ſchieden für eine chemiſche Fernwirkung
ſprechen.
quater Befruchtung das Benehmen der Sa—
menfäden in der nächſten Umgebung des
als in weiterer Entfernung davon, würde
für einen vom Ei ausgehenden, in die Ferne
wirkenden Beſchleunigungsreiz ſprechen und
es würde ſich weiter beſtätigen, wenn bei
inadäquater Zuſammenſtellung dieſe Er—
ſcheinung ausbliebe oder in ihr Gegentheil
umſchlüge.
So viel ſteht für mich jedenfalls feſt:
Wenn auch nur ein kleiner Theil der Thä—
tigkeit, welche die jetzigen Zoologen der zur
Modeſache gewordenen Unterſuchung der
Dotterfurchung und Embryonalentwickelung
widmen, auf die Anſtellung künſtlicher Be—
fruchtungsverſuche in der angedeuteten Rich—
tung verwendet würde, ſo würde damit
der biologiſchen Wiſſenſchaft auf ihrem gegen—
wärtigen Standpunkt entſchieden mehr ge—
nützt, als durch die nahezu langweilig
gewordene, immer und immer ſich widerho—
lende Unterſuchung der morphologiſchen
Embryonalentwickelung.
Ich ſchließe dieſen Brief mit dem Ab—
druck eines Schreibens, das mir in Folge
des erſten phyſiologiſchen Briefes zuging
und eine andere Rolle der ſpezifiſchen Di—
ſtanzſtoffe bei der Fortpflanzung, nämlich
bei der Jungenpflege, behandelt, zu—
gleich auch den Gegenſtand meines dritten
Briefes vorbereitet, der von der Rolle der
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
Auch der Fall, wenn bei adü- |
—
ſpezifiſchen Stoffe bei der individuellen Va—
riation handeln wird:
Sehr geehrter Herr Profeſſor!
Soeben habe ich den Auszug Ihrer
Arbeit über „die Geſchmack- und Geruchſtoffe
in ihrer Bedeutung für die Biologie“
(Ausland Nr. 2, 1877) geleſen und will,
ſelbſt auf die Gefahr hin, etwas in dem
mir nicht zur Hand befindlichen Original
Stehendes zu erwähnen, Ihnen Thatſachen
mittheilen, welche genügend für das Vor—
handenſein individueller Geruchseigenthüm—
Eies deutlich anders z. B. lebhafter iſt,
lichkeiten bei Wiederkäuern ſprechen und
mir in meiner vieljährigen landwirth—
ſchaftlichen Laufbahn wiederholt bemerkbar
geworden, wie auch jedem Schäfer be—
kannt ſind.
Bei Beginn der Weidezeit im Früh—
jahr werden ſehr häufig die Mutterſchafe
von ihren Lämmern getrennt und allein
zur Weide getrieben, während letztere im
Stalle bleiben. Kommt die Mutterheerde
Mittags oder Abends nach Hauſe, ſo
werden die Lämmer wieder dazwiſchen ge—
laſſen und nun beginnt ein allſtimmiges
Geblöke, wärend deſſen die Mütter und
Lämmer durch einander laufen, um ſich
zu finden. Die Lämmer laufen ſehr
häufig auf das nächſte beſte Schaf zu
und verſuchen zu ſaugen, werden aber
von demſelben ſofort abgeſtoßen, wenn
dieſes nach dem vorgewandten Hintertheil
gerochen und das Lamm als nicht ihm
gehörig erkannt hat. Die Schafe laufen
und beriechen jedes begegnende Lamm, bis
ſie das ihrige gefunden haben und ihm
das Euter bieten können. Näſcher, d. h.
fremde Lämmer, werden ſtets abgeſtoßen.
Ferner: Oft kommt es vor, daß ein
Lamm ſtirbt; um dann nicht die Milch—
periode ſeiner Mutter ungenützt vorüber—
gehen zu laſſen und Mutterſchafe mit Zwil—
Jäger, Phyſiologiſche Briefe.
lingen zu entlaſten, ſucht man eines der
letzteren von der lammloſen Mutter adop-
tiren zu laſſen. Oft gelingt dies ſchon durch
mehrtägiges Zuſammenſperren, ſicher und
ſofort aber, wenn man das dem todten
Lamme abgezogene Fell dem zu adop—
tirenden Lamm überbindet und dieſes dann
zu jener Mutter ſetzt.
Mit dieſer vielleicht willkommenen
Mittheilung den Ausdruck meiner Hoch—
achtung verbindend, zeichne
ergebenſt
Dr. F. Rehm,
k. Lehrer f. Naturgeſchichte u. Landwirthſchaft.
Lichtenberg bei Nürnberg.
Dieſer Mittheilung, die für mich aller—
dings nur in dem Stücke neu war, als ich
die Manier des Verwitterns des Jungen
317
durch das übergezogene Fell bisher nicht
kannte, iſt deshalb ſo beweiskräftig für
das von mir behauptete allgemeine Vor—
kommen von individuellen endogenen, d. h.
dem Organismus des Thieres ſelbſt ent—
ſtammenden Gerüchen, da hier die dem
Menſchen ſo ſehr nahe liegende Vermuthung
wegfällt, als handele es ſich bei den Indi—
vidualgerüchen um äußerliche Zufälligkeiten,
alſo z. B. darum, daß zwei Menſchen in
Folge ihrer verſchiedenen Aufenthaltsorte,
verſchiedener Ernährung und Kleidung ſich
äußerlich mit verſchiedenartigen Geruchſtoff—
miſchungen umgeben, die ihnen eine Unter—
ſcheidbarkeit für einen ſo feinen Geruchsſinn
wie den des Hundes ſichern. An derartiges
kann bei den Lämmern einer und derſelben
Heerde, die unter faſt abſolut gleichen
äußeren Verhältniſſen leben und ſich nähren,
nicht gedacht werden.
Carus Sterne.
> lich tiefſehendſte Pſychologe
gl unter den Seelenmalern un—
HR ſerer Zeit, hat in einem
— kleinen — übrigens tragiſch
endenden — Idyll, „das Glück des Brül—
lerthals“ betitelt, mit ſeiner wunderbaren
Plaſtik geſchildert, wie die Geburt und erſte
Erziehung eines alsbald verwaiſten Kindes
eine Bande von Lumpen und Verbrechern,
welche die Geſellſchaft ausgeſtoßen hat, und
die in Spielſucht, Rauferei und Rohheit
jeglicher Art leiſten, was man in ſo einer
culturvergeſſenen Goldſucherſchlucht irgend
leiſten kann, plötzlich zu zärtlichen Adoptiv-
vätern macht, die nur noch dem einen Ge—
danken nachgraben, das Glück ihres „Glücks“
denn jo haben fie bedeutſam die kleine Bes
ſcheerung getauft — durch ihrer Hände
Arbeit zu ſichern. Nicht ganz ſo draſtiſch,
aber mit demſelben genialen Zuge illuſtrirte
der californiſche Dichter das Paradoxon:
„Wie Erwachſene durch Kinder erzogen
werden“ in mehreren Kapiteln ſeines Ro—
mans Gabriel Conroy, deſſen Held durch
eu
Die Zähmung der Alten durch die Jungen.
Eine Betrachtung über Selbſterziehung in der Natur
von
feine Kinderliebe zu einem förmlich auf-
opferungswüthigen Menſchen wird, während
er auf der anderen Seite den Militärarzt
Duchesne, einen ledigen Spieler, den ſein
nervenerregendes Geſchäft krank gemacht
hat, durch Kinderumgang kuriren läßt. „Ich
habe Sie wenigſtens einen Monat hindurch
mit keinem Kinde reden ſehen“, ſagt dieſer
praktiſche Arzt zu dem profeſſionellen Spie⸗
ler Jack Hamlin, „und ich hätte große
Luſt, Sie nach einem Findelhauſe zu ſchicken,
zum Nutzen und Frommen der Ba⸗
bies, wie zu Ihrem eigenen Vortheil.
Suchen Sie einen armen Ranchero mit
einem Dutzend Kinder ausfindig zu machen.
und geben Sie letzteren Singftunde. ....
dann wird dieſe Mattigkeit bald aufhören,
Sie werden ſchmerzensfrei werden und ſich
wieder ſo wohl und munter fühlen, wie je
zuvor.“
Dieſe mir erſt kürzlich vor Augen ge—
kommenen Anſichten eines großen Herzens⸗
kündigers geben mir den Muth, eine Mei-
nung auszuſprechen, die ich ſtets gehegt
habe, und die darin beſteht, daß jedes
8
Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 319
Kind einen großen Theil der Liebe, die
ihm ſeine Eltern erweiſen, ſchon dadurch
zurückvergilt, daß es ſie ſelbſt zu beſſeren,
vollkommneren Weſen macht, als ſie vor
ſeinem Eintritt in die Familie waren. In
der That, die Menſchen erhalten den letzten
Schliff und die glänzende Politur ihrer
Bildung nicht in ihrem Elternhauſe, noch
in der Schule oder Kirche, ſondern erſt
von ihren eigenen Kindern, und ſollten ſie
das Unglück haben, keine zu bekommen, ſo
werden ſie Mühe haben, den durch dieſe
Lücke hervorgebrachten Mangel ihrer Her—
zensbildung anderweitig zu ergänzen.
Sehen wir uns z. B. einen jungen
Mann an, der, nachdem er eine vorzügliche
Erziehung im Elternhauſe genoſſen, eine
glänzende Schul- und Univerſitätsbildung
erworben hat, in's Leben tritt, und deſſen
Bildung nunmehr, wie die Poeten ſagen,
die Liebe vollenden ſoll. Auf die Gefahr
hin in poötieis der Ketzerei geziehen zu
werden, muß ich dagegen ſagen, daß meiner
Erfahrung nach glückliche Liebe eher über—
müthig, roh, ja gefühllos und blind für
die daraus entſpringenden Leiden macht, als
beſſer. Oder wäre jenes allerwärts ge—
übte frevle Spiel mit den Herzen unerfah—
rener Mädchen, welches unſre Kulturwilden
alle Tage in Scene ſetzen, nicht, wie unſre
geſellſchaftlichen Verhältniſſe nunmehr lie—
gen, der Gipfel aller Schlechtigkeit? Dieſe
jungen Männer find fo wohl erzogen und
barmherzig, daß ſie einem Wurme auf
ihrem Wege ausweichen, aber ſie ſchrecken
nicht davor zurück, ein Weſen ihres Glei—
chen unter dem Deckmantel der Liebe und
Zärtlichkeit für's Leben unglücklich zu machen,
ja ſie halten in achtzig von hundert Fällen
nicht einmal den Verſuch angebracht, den
Geſchädigten irgend einen Erſatz zu ge—
währen. Es übt alſo die Geſchlechtsliebe
offenbar an ſich keine veredelnde Wirkung
auf das Gemüth; ſie verleitet eher zur
Gemüthsverhärtung, Grauſamkeit und Zer-
ſtörungsſucht, wie nicht blos die ſogenann—
ten Don Juan's beweiſen. Eine gute Nach⸗
wirkung der Geſchlechtsliebe tritt vielmehr
nur in denjenigen Fällen ſicher ein, in de—
nen ſie zu einem feſten, gegenſeitige Ent—
äußerung und Aufopferung bedingenden
Bunde geführt hat. Indeſſen wird dieſer
Erſatz auch dann nur mit einiger Sicher⸗
heit erreicht, wenn Nachkommenſchaft leben⸗
dige Unterpfänder dafür liefert. In kinder—
loſen Ehen hält der Enthuſiasmus der
Aufopferung nicht immer vor, ſobald aber
die Mittler da ſind, werden aus den Kul—
turwilden Menſchen im edleren Sinne,
welche die Schlechtigkeiten des ledigen Stan—
des verabſcheuen und ſchwerlich zu beſchö—
nigen geneigt find, was ſie ſelbſt in dieſer
Richtung auf dem Gewiſſen haben.
Worin liegt dieſe gewaltige Macht eines
ohnmächtigen Kindes? Zunächſt offenbar
mehr in feiner Schwäche und Hilflofigfeit
als in ſeinem Aeußern, welches oft mehr
einem geſottenen Krebſe als einem Kauka⸗
ſier bez. Neger gleicht. Bei der Mutter
kommen vielleicht in der Nothwendigkeit,
ihren Nahrungsüberfluß abzugeben, körper—
liche Zuſtände hinzu, die ihr den kleinen
Abnehmer angenehm machen. Jedenfalls
iſt es mehr die Ahnung künftiger Freuden,
als die perſönliche Liebenswürdigkeit des
kleinen Ankömmlings, welche, die Eltern
einnimmt, und bei Raubthieren wird der
erſte Wurf nicht ſelten — aber kaum aus
Liebe — gefreſſen! Nachdem jedoch die
kleinen Weſen aus der erſten Unbeholfen—
heit heraus ſind und die erſten Zeichen
der erwachenden Pſyche geben, nachdem man
ihnen halb mit Gewalt das erſte Lächeln
entlockt hat, entfalten fie eine Liebenswür—
320
digkeit, eine Anmuth des Mienenſpiels und
der Bewegungen, daß die Eltern von
ihren Miniaturbildern förmlich bezaubert
werden, und die Mutter alles, was ſie
als Kind am Phantome d. h. an der
Puppe gelernt hat, mit Entzücken an einem
lebendigen Spielzeuge in's Praktiſche über—
ſetzen kann. Es iſt ein Kurſus der ſelbſt—
loſeſten Hingebung, welcher damit beginnt.
Der Vater, welcher dem Kinde zunächſt
ferner ſteht, und in der Thierwelt oftmals
ſo ferne bleibt, daß die Mutter ſeine eignen
Nachkommen vor ihm ſchützen muß, wird
bei den Menſchen nicht allein durch ſeine
Vernunft, ſondern noch durch andere Um-
ſtände unmerklich in dieſen Zauberkreis mit
hineingezogen. Zunächſt iſt es wohl jener
Heiligenſchein der Wöchnerin, jener unbe—
ſchreibliche Ausdruck glückverklärter Mattig—
keit, wie ihn Rubens in ſeinem dem
Leben der Maria von Medicis gewidmeten
Bildereyklus und Jordan in einem Genre—
bilde von der Zuyderſee zum vollendeten
künſtleriſchen Ausdruck gebracht haben, und
womit die Kette jener Gemüthswandlungen
eingeleitet wird, durch welchen das Baby
aus ſeines Vaters Nebenbuhler auch zu
ſeinem Herrn und damit zum unbeſchränk—
ten Gebieter des Hauſes wird.
Hiermit beginnt zugleich und wahrlich
mit ganz anderer Eindringlichkeit als durch
den Katechismus und die Kanzel die re—
ligiöſe Erziehung des Menſchen.
Aus der Eltern- und Kinderliebe erblüht,
ſelbſt in noch wenig vorbereiteten Gemüthern,
die Frucht der allgemeinen Menſchenliebe:
Das Kind wird zum Erlöſer; der leibliche
Vater zum Vorbilde eines allgütigen, vor—
ſorglichen Vaters im Himmel. Und darum
iſt es ein tiefempfundenes und pſychologiſch
wohl gerechtfertigtes Moment der Entwicke—
lung chriſtlicher Dogmatik, daß ſie früh
Sterne, Die Zähmung der
Alten durch die Jungen.
die Mutter in den Kreis des Göttlichen
hineinzuziehen ſtrebte und die Mutter mit
dem Säugling auf ihrem Schoße endlich
als Madonna zum Mittelbilde der Altäre
erhob. Die „heilige Familie“, welche durch
Raphael zu ihrem tuypiſchen Ausdruck
gebracht wurde, gewinnt noch jetzt die Her—
zen auch in proteſtantiſchen Ländern, wie
man ſehr überzeugend auf der letzten Ber—
liner Kunſtausſtellung beobachten konnte.
Die von geflügelten und ungeflügelten
Kindergeſtalten umſpielte Madonna von
Knaus, deſſen Genius eine glückliche
Kreuzung von Correggio und Murillo mit
einer Doſis Rembrandt zu Stande gebracht
hatte, entzückte mit Recht auch die, welche
nur Gefühl an Stelle des Kunſtgeſchmacks
beſitzen. Und gewiß iſt die „heilige Fa—
milie“ ihres Ehrenplatzes am Altare wür—
dig, denn fie bezeichnet mit Grund die Kin—
derſtube als das Heiligthum, von welchem
die keuſche Flamme der Nächſten- und
Gottesliebe ausgegangen iſt, und aus wel—
chem ſie beſtändig ihre Nahrung empfängt.
Faſt alle unſere glücklich machenden,
oder vielmehr über das Unglück hinweg—
helfenden, religiöſen Verheißungen: der
Glaube an die Unſterblichkeit, an die Auf-
erſtehung und das Wiederſehen nach dem
Tode, ſie beruhen auf der Familie und
dieſe ihrerſeits auf der Nachkommenſchaft.
Es geht aus dieſen Betrachtungen ohne
Weiteres hervor, einen wie großen Kultur-
fortſchritt die monogamiſche Ehe vorſtellte,
indem ſie auch dem männlichen Geſchlechte
die veredelnden Einflüſſe der Kindererziehung
zugänglich macht, und wie die Geſellſchaft
alle Urſache hat, gegen das Evangelium
der ſogenannten freien Liebe anzukämpfen,
welches jenſeits des Oceans ſo begeiſterte
Propheten und Prophetinnen findet. Die
erwähnten Segnungen der Einzelehe ſind
nimmt.
vielmehr ſo groß, daß ich es für keinen
legislatoriſchen Mißgriff halten würde,
wenn der Staat das Hageſtolzenthum be—
ſonders beſteuern wollte, wie es einzelne
römiſche Kaiſer mit der Fettleibigkeit ge—
than haben ſollen.
Was obige ſentimentale Betrachtungen
in einem darwiniſtiſchen Journale zu ſchaffen
haben? Vielleicht doch mehr, als es im
erſten Augenblick den Anſchein hat. Mir
will es nämlich ſcheinen, als ob der thie—
riſche Egoismus, der im Menſchen alle
Schranken zu überſteigen droht, eine cen—
trifugale Tendenz äußert, die ſich ins Un—
endliche ſteigern müßte, wenn ihr nicht eine
centripetale Kraft das Gleichgewicht hielte,
und den Alles für ſein Eigenthum erklä—
renden Menſchen ſo weit verinnerlichte, daß
er ſich dem Ganzen wieder freiwillig unter—
ordnet. Bei allen Thieren, welche lebendig
gebären, oder ihre Eier ausbrüten, begeg—
nen wir dieſem veredelnden Verkehr mit
den Jungen, der z. B. bei der wegen ihres
Egoismus geradezu verſchrieenen Hauskatze
ſo weit geht, daß ſie in der Zeit, in wel—
cher ſie eigene Junge ſäugt, ohne daß der
Milchandrang dazu nöthigte, auch fremde
Junge, als Füchſe, Kaninchen, Häschen,
ja die ſonſt von ihr eifrig verfolgten, jun-
gen Ratten und Mäuſe an ihre Bruſt
Das Raubthier im verwegenſten
Sinne, die Tigerin, wird zu einem harm—
los ſpielenden, jeder Aufopferung fähigen
Weſen, ſobald ſie die in der Unzurechnungs—
fähigkeit der Geburtsſtunde vielleicht das
erſte Mal aufgefreſſenen Jungen nach Er—
kenntniß ihres Irrthums beim nächſten
Male als ihre verjüngten Ebenbilder er—
kannt und an die Bruſt genommen hat.
Freilich giebt es denn auch nichts drollige—
res, als junge Thiere aller Gattungen; der
Zauberreiz der täppiſchen Kindheit läßt in
Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen.
unſeren Augen ſogar die Kleinen der häß—
lichſten Beſtien liebenswürdig erſcheinen.
Und auch die Mutterthiere gewinnen
bei aller ſonſtigen Antipathie unſer Herz,
wenn wir Zeugen ihrer Aufopferung ſein
können. Wir ſehen die Mutterthiere ihre
Bruſt der Haare und Federn berauben,
um den Kleinen ein warmes und weiches
Lager zu bereiten, ja der lebendig gebärende
Skorpion, dem man gewiß keine zärtlichen
Triebe zuſchreibt, läßt ſich allem Anſcheine
nach von ſeinen zahlreichen Jungen den
Lebensſaft ausſaugen, denn er ſchwindet
ſichtlich im Kreiſe der ſchnell wachſenden
Brut dahin. In ähnlichem Sinne wurde
der Pelikan, von dem man glaubte, daß
er ſeine Jungen mit dem eigenen Herzblut
tränke, zum Symbol der göttlichen Liebe
erwählt. Daß Raubthiermütter ihre Jun⸗
gen mit Heldenmuth ſelbſt gegen den Gat-
ten vertheidigen, finden wir natürlich, aber
wie ſelbſt ſcheue und friedfertige Thiere
durch Gefahren, die ihren Jungen drohen,
zu Heldinnen werden, muß unſere Bewun⸗
derung erwecken. Kaum iſt die Gefahr
abgewendet, ſo erſcheint die Heldin-Mutter
wieder ein Kind unter Kindern; ſie ſpielt
mit ihnen, wie man mit Puppen ſpielt,
und ſo iſt denn auch das menſchliche Kind
das Spielzeug der Spielzeuge, welches die
verknöcherten Herzen öffnet, die Alten zu
Kindern macht, denen das Himmelreich
offen ſteht. Dem Vater geht im Thier-
reiche dieſer veredelnde Einfluß der Kinder—
erziehung in allen den Fällen verloren, wo
er nicht ſelber Theil daran nimmt, und das
iſt der häufigere Fall. Aber für die Ge-
ſammtheit iſt dieſer Verluſt nicht groß,
denn wenn die verinnerlichende Kraft der
Kindererziehung überhaupt dauernde Folgen
beim Weibchen zurückläßt, woran man
kaum zweifeln kann,
ſo wird ſie dieſelbe
2
322
auch auf ihre männlichen Jungen übertragen,
ſo daß auch ſie des regulirenden Einfluſſes
der Kinderpflege nicht verluſtig gehen.
In meinem Buche: „Werden und Ver—
gehen“ habe ich dem Nutzen, welchen der
Verkehr der Jungen mit den Alten für
beide Theile abwerfen muß, einen weſent—
lichen Antheil an dem rapiden Aufſchwunge
zugeſchrieben, welchen das Denkorgan bei
den höheren Wirbelthieren nimmt. Bei
den niederen Thieren beſchränkt ſich die
Sorge um die Nachkommenſchaft meiſtens
auf eine geſchickte Bergung der von ſelbſt
auskommenden Eier an einem paſſenden,
Schutz und Nahrung bietenden Ort, ein
Vorgang, dem wir kaum bewußte Abſicht—
lichkeit beilegen möchten, vielmehr in einem
ebenſo zwingenden Triebe zu ſuchen geneigt
ſind, wie er den übrigen Aeußerungen des
Fortpflanzungstriebes zu Grunde liegt.
Die meiſt in einer unausgebildeten Form
heraustretenden Jungen müſſen ohne weitere
Unterſtützung ſeitens der vielleicht längſt
verweſten-Eltern den zu ihrer körperlichen
Ausbildung erforderlichen Nahrungsſtoff
ſelbſt ſuchen, und im Durchſchnitt mögen
dabei neunzig Prozent und darüber zu
Grunde gehen. So iſt der Hergang noch
bei den meiſten Fiſchen und Amphibien,
obwohl ſich bei ihnen die Fälle weitergreifen—
der Fürſorge mehren. Die Reptilien und
die Vögel verſorgen jeden Einzelnen ihrer
jungen Nachkommen im Ei mit ſo viel
Nahrungsſtoff, daß ſie ohne weiteres Nah—
rungsbedürfniß alle ihre Verwandlungen
durchmachen können, um in nahezu voll—
endeter Geſtalt, nur noch eines weiteren
Wachsthums bedürftig, hervor zu treten.
Allein wenn die Eier an einem paſſenden
Orte abgelegt ſind, ſo kümmern ſich die
Reptilien häufig nicht weiter um dieſelben.
Die älteſten Vögel werden es nicht viel
Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen.
FR
anders gemacht haben, wie ſich ſchon dar—
aus ſchließen läßt, daß einige der älteren
Abtheilung angehörige Vögel noch immer
die Wirkung der Erd- oder Sonnenwärme
beim Brüten in Anſpruch nehmen. Schließ—
lich wurde indeſſen das Brüten zur allge—
meinen Gewohnheit, aber auch hierbei laſſen
ſich noch Unterſchiede erkennen, ſofern bei
der tiefer ſtehenden Abtheilung der ſogen.
Neſtflüchter das Junge bald ſelbſtſtändig
wird, nachdem es das Ei verlaſſen hat,
während bei den unleugbar höher ſtehenden
Neſthockern die Jungen einer wochenlangen
Pflege bedürfen, ehe ſie das Neſt verlaſſen
können.
Mit dieſer durch die Unbehilflichkeit der
Neſthocker in Anſpruch genommenen ſtren—
geren Pflegepflicht ſtehen ganz gewiß die
vielfachen Aeußerungen von Barmherzigkeit
und Mitgefühl gegen fremde Junge, die
man bei ihnen antrifft, im Zuſammenhange.
Die Singvögel haben einen wahren Drang
der Aufopferung und man hat beobachtet,
daß Junge, denen ihre Eltern geraubt wur-
den, zwei bis drei mal im Wiederholungs-
falle von Nachbarn adoptirt und groß—
gefüttert wurden, ja einige lockere Vögel
nützen bekanntlich dieſe Pflegeſucht der gut—
herzigen Singvögel regelmäßig in der un—
verſchämteſten Weiſe aus. Ebenſo hat man
erblindete Vögel von ihresgleichen füttern
ſehen, kurz eine Anzahl von Handlungen
bei ihnen beobachten können, für welche die
Menſchen Ehre auf Erden und Wohlge—
fallen im Himmel beanſpruchen, auch eine
innere Befriedigung nicht eher empfinden,
als bis außen ein Orden die betreffende
Stelle der Bruſt markirt. N
Ich glaube nicht, daß man ähnliche
Handlungen bei niederen Thieren, die nicht
gewöhnt find, ihre Jungen zu pflegen, be
obachten wird, und hier wäre es mithin,
wo man den Beginn jenes Kampfes mit
dem Egoismus beobachten könnte, der
ſchließlich zur Selbſtaufopferung und Selbſt—
überwindung, die man den ſchwerſten Sieg
genannt hat, führt. Aus dieſem Kampfe
den höchſten Nutzen zu ziehen, blieb den
Säugethieren vorbehalten, nachdem bei ihnen
die Vereinigung von Mutter und Kind
immer weitere Fortſchritte gemacht hatte,
bis ſie jene an Uebertreibung grenzende
Stufen erreichte, die man den Müttern als
„Affenliebe“ vorwirft. Nicht blos körper—
lich verwächſt das Kind mit der Mutter,
ſondern auch im geiſtigen Sinne wächſt es
ihr ans Herz, und bekanntlich um ſo feſter
und inniger, je mehr Sorgen und Mühe
ihr ſeine Pflege verurſachte.
Als große Hauptſache erſcheint, daß in
dieſem Verhältniſſe die Pädagogik wurzelt.
Die niedern Thiere ſind ſämmtlich Auto—
didakten, und höchſtens die geſelliglebenden
unter ihnen, die Termiten, Ameiſen, Bienen
u. ſ. w. mögen etwas für den Jugend—
unterricht thun, wie fie ja auch einer aus-
gebildeten Brutpflege obliegen. Nun kann
aber ein Autodidakt doch nur in ſeltenen
Ausnahmefällen das leiſten, was ein Schüler
leiſtet, der ſich ſorgſamer Lehrer erfreut,
eine Thatſache, die man alle Tage, bei
von Ihresgleichen oder menſchlichen Lehrern
geſchulten Singvögeln beobachten kann. Ich
habe mich ſchon an obengenanntem Orte
dahin ausgeſprochen, daß ich mir theilweiſe
durch die Einführung des regelmäßigen
Jugendunterrichts bei den Säugethieren, das
wahrhaft erſtaunliche Wachsthum des Ge—
hirns in dieſer Thierklaſſe erkläre. Man
darf nur eine Katze beobachten, wie ſie
ihre Jungen unterrichtet, und faſt fyfte-
matiſch vom Spiel zur Arbeit, vom Leich⸗
teren zum Schwereren übergeht.
es die Schwanzſpitze, mit der ſie, die eine
Erſt iſt.
Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen.
|
299
32
Hälfte ihres Wurfes ſäugend, die andere
zum Beobachten und Feſthalten lebender
Dinge anregt. Dann weiß ſie lebendige
Thiere einzufangen, um den Kleinen die
Elemente der niedern Jagd beizubringen.
Die höhere auf Vögel und Kletterthiere
dürfte einer letzten Stufe vorbehalten ſein.
Aber — ich komme immer wieder darauf
zurück — nicht blos lernen die Jungen
von der Alten, ſondern dieſe lernt bei der
Pflege der Jungen den eitlen Lebensgenüſſen
zu Gunſten Anderer entſagen, und tiefer
nachwirkenden Genüſſen nachzujagen. Wie
weit das führt, kann man an Charakterzügen
aller höheren Thiere ſtudieren. Wir wollen
den Elephanten als Beiſpiel nehmen. Nicht
um ſeines Fleiſches willen, mit demſelben
der Menſchen Nothdurft zu befriedigen,
ſondern wegen eines geckenhaften Gefallens
an Kleinigkeiten, die aus den Stoßzähnen
dieſes edlen Thieres geſchnitzt und ge—
drechſelt werden, erſcheint ſeine ſchleunige
Austilgung beſchloſſene Sache. Um es
deſto ſicherer und müheloſer zu erlegen,
zündet man die Ufergebüſche an, in denen
das Thier ſich verbirgt. Rings von der
Lohe umſpült, liefert es, dem ſicheren Ber-
derben preisgegeben, Proben eines erſchüttern—
den Heroismus. Es achtet nicht der fein
Fell röſtenden Hitze, ſondern ſaugt, wie
Schweinfurth erzählt, den Rüſſel voll
Waſſer und beſpritzt ſein Junges über und
über, um wenigſtens dies dem drohenden
Verderben zu entreißen. Ich wünſchte, daß
man dieſe Geſchichte in allen Schulen er⸗
zählte, um wenigſtens einem Bruchtheil der
künftigen Generation den Geſchmack an
elfenbeinernen Knöpfen, Stock- und Regen⸗
ſchirm-Griffen zu verleiden. Wir gewahren
in dieſem Falle deutlich, wie die Jungen—
liebe ein Thier erfinderiſch macht, wie es
das Kühlungsmittel, welches es im afrikani—
=
— —
394
ſchen Sonnenbrande ausprobirt hat, in der
unvorhergeſehenen Gefahr anwendet, wie
ein Funken höherer Triebe entzündet wurde,
dem ohne dieſe Verbindung alle Nahrung
und anfängliche Entſtehungsurſache gemangelt
haben würde. Und ſo ſchließe ich denn auch,
daß die Regungen des Gemeinſinnes, die
wir bei geſellig lebenden Thieren beobachten,
urſprünglich aus ihrer Kinderzucht empor—
geſproßt ſind, wie der Menſch ſelbſt für
die höhere Religion der werkthätigen Men—
ſchenliebe erſt in ſeiner Kinderſtube die
rechte Weihe empfängt. Ohne Zweifel iſt
ein gut Theil davon längſt in Fleiſch und
Blut übergegangen, wie man aus den in—
ſtinktwven Regungen des Gemeinſinnes und
der Hilfsbereitſchaft erkennt, die nicht ſelten
vorkommen, wenn z. B. Jemand, der gar
nicht ſchwimmen lann, einem Ertrinkenden
ins Waſſer nachſtürzt.
Der hier beſchriebene Regulator des
thieriſchen Egoismus giebt vielleicht die
höchſten Proben ſeiner Leiſtungsfähigkeit,
wenn die Eltern verſuchen, dasjenige, was
gewöhnlich erſt die Kinderſtube und das
Leben lehrt, die Unterdrückung natürlicher
Neigungen, ihren Kindern zwangsweiſe
beizubringen. Gewiß leiden bei ſolchen für
Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen.
wohlthätig erachteten Züchtigungen die Eltern
in der Regel mehr als die Kinder; es
handelt ſich um eine Ausführung des
Kampfes mit ſich ſelber auf der edel—
ſten Stufe, wenn nicht etwa Zorn und
Entrüſtung die Sache erleichtern. Aber
die eminent moraliſche Bedeutung ſolcher
Handlungen hat der Menſchenfreund tief
gewürdigt, der dieſes Erziehungsmittel ſo—
gar auf ſein höchſtes Ideal, auf Gott,
übertrug und ausrief: Wen Gott lieb hat,
den züchtiget er! Es will mir erſcheinen,
als wenn dieſer unerſchöpfliche Quell reli—
giöſer Gefühle, welcher im Familienleben
aufſprudelt, bei unſeren Pſychologen — den
einzigen Caspari ausgenommen — nicht
in dem Maße Beachtung gefunden hätte,
wie er ſie verdient, und vorſtehende kurze
Skizze wird das Höchſte erreicht haben,
was ſie anſtreben konnte, wenn ſie die
Ahnung zu erwecken vermag, daß auch die
Religion der Liebe im Grunde eine Natur⸗
erſcheinung iſt, die nach allen ihren Ent-
wickelungsformen, bis zur Verehrung des
ewig Weiblichen im Madonnenkultus, im
Familienleben die ſtarken Wurzeln ihrer
Kraft gefunden hat.
as jo überaus dunkle Problem
über den Urſprung der Sprache
iſt in den letzten Monaten
wiederholt Gegenſtand der Er—
* örterung in fachmänniſchen
Kreiſen geweſen. Die nachſtehenden Betrach—
tungen — ich ſchicke dies zur Beruhigung
des geneigten Leſers ſogleich voraus — ſollen
anſtreben. Ich bin nicht Sprachforſcher,
habe daher kein Recht in ausſchließlich lin—
guiſtiſche Dinge dreinzureden, maße mir
demnach auch nicht an, neue Pfade auf
fremdem Gebiete betreten zu wollen. Da—
gegen wird Jeder, der anthropologiſchen
und ethnologiſchen Studien obliegt, von
den Reſultaten der Sprachforſchung Notiz
nehmen, ja nothgedrungen ſich damit ver—
traut machen müſſen und mit hohem Juter—
eſſe ihrer Entwickelung folgen, dort wo fie
noch nicht zu feſten Anſichten gelangt iſt.
Niemandem ſage ich Neues damit, daß ge—
Meinungen der Linguiſten noch lange nicht
geklärt ſind.
ſchenden Anſichten muß aber auch den Nicht—
linguiſten um fo mehr geſtattet fein, als
indeß keine neue Löſung dieſer heiklen Frage
Eine Prüfung der herr
Der ſprachlole Armeulch.
Fr. von Hell wal.
das gedachte Problem ſtreng genommen
gar nicht der Entſcheidung der Linguiſtik
anheimfält. Sehr richtig ſagt in einem
Aufſatze, auf den ich in der Folge, wenn
auch nur ſelten wie jetzt beipflichtend, zu⸗
rückkommen werde, Prof. E. Trumpp:
„Die Sprachwiſſenſchaft hat es nur mit
den gegebenen Sprachen zu thun; wo ihr
keine ſprachlichen Documente mehr vorliegen,
hört ihre exacte Forſchung auf. Die Frage
nach dem Urſprunge der menſchlichen Sprache
gehört daher an und für ſich gar nicht in
ihr Gebiet, und wenn ſie ſie ſtellt, ſo be—
tritt fie damit das Gebiet der philoſophi—
ſchen Speculation und der Naturwiſſen—
ſchaften, denen dieſe Frage, weil ſie nur
im Zuſammenhange mit der Frage nach
dem Urſprunge des Menſchen zu löſen, ſpe—
ziell zuzuweiſen iſt. Die Sprachwiſſenſchaft
kann allerdings zur Löſung dieſes Problems
einen nicht unwichtigen Beitrag liefern; ſie
kann das Reſultat ihrer Forſchungen über
rade über die Entſtehung der Sprache die die gegebenen Sprachen, das fie auf induc—
| tiven Wege gewonnen hat, zuſammenfaſſen
und daraus einen Rückſchluß auf den Ur-
ſprung und die Entwickelung der Sprache
machen; etwas Poſitives aber kann ſie
\
—— —
326
darüber nicht ausſagen, weil es ihr an Sprachen hinlänglich erklärt wäre.
jedem feſten Anhaltspunkte fehlt.“) Dies
müſſen wir feſt im Auge behalten, weil’
ſich daraus auch für den Nichtſprachgelehrten
die Berechtigung einer eigenen Meinung
auf das Evidenteſte ergiebt.
Als bekannt darf ich wohl die An—
nahme des homo alalus, des ſprachloſen
Urmenſchen, vorausſetzen. Angeſichts der
klaffenden Verſchiedenheit der auf dem Erden—
rund geſprochenen Idiome iſt bisher jeder
Verſuch, die Spuren eines Urquells menſch—
licher Rede zu entdecken, negativ ausgefallen.
Die einſt allgemein gehegte Idee einer all—
gemeinen menſchlichen Urſprache fand, je
mehr man in der vergleichenden Sprach—
forſchung fortſchritt, immer weniger An—
hänger, und jede Möglichkeit einer ehema—
ligen Sprachgemeinſchaft ward und wird
auch heute noch geleugnet. Es lag nahe,
ſagt ein ſich mit unſerem Thema befaſſen—
den Schriftſteller, daß man aus dieſer fun⸗
damentalen Verſchiedenheit der Sprachen den
mächtigſten Beweis gegen den einheitlichen
Urſprung des Menſchengeſchlechts zimmerte.
Da trat Darwin auf mit ſeiner Lehre,
deren nothwendige Conſequenz die Einheit
des Menſchengeſchlechtes iſt. Natürlich mußte
in Folge dieſer Erkenntniß die Sprach—
forſchung mit ihren negativen Reſultaten
ins Gedränge kommen. Jetzt war nur ein
aut-aut möglich: Entweder haben ſich aus
der Sprache jenes erſten Menſchenvereines die
ſämmtlichen heute geſprochenen Idiome, trotz
aller Verſchiedenheit, entwickelt, oder aber
jener erſte Menſchenverein beſaß noch keine
Sprache, dieſe iſt vielmehr erſt nach den
Wanderungen in den getrennten Gebieten
entſtanden, womit die Verſchiedenheit der
) Die moderne Sprachwiſſenſchaft und
der Urſprung der Sprache (Beilage zur All—
gemeinen Zeitung vom 28. April 1877).
alalus,
dieſem Sinne
nere.
3 8 N X
Die
Unmöglichkeit des erſten Satzes galt für
erwieſen, jo erübrigte nichts als die Hypo—
theſe eines ſprachloſen Urmenſchen, des homo
den zuerſt Häckel, aber auch
zunftmäßige Sprachforſcher erſten Ranges
wie Schleicher und Friedrich Mül-
ler, poſtulirten.“)
Dieſer ſprachloſe Urmenſch fängt nun an,
allen Jenen im hohen Grade unbequem zu
werden, welchen die Darwin'ſche Descen—
denzlehre ein Dorn im Auge iſt; denn ſie
erkennen, daß es eine mächtige Stütze für
die neue Lehre wäre, wenn ſich in dem
homo alalus ein Mittelglied nachweiſen
ließe zwiſchen dem richtigen, ſprechenden
Menſchen und dem menſchenähnlichen, aber
ſprachloſen Affen. Es gilt daher den ſprach—
loſen Urmenſchen wieder zu beſeitigen, was
nur möglich iſt, indem man die alte Idee
einer gemeinſchaftlichen Urſprache wieder ein⸗
mal aufnimmt. Nicht weniger denn drei in
ſich erhebende Stimmen,
darunter zwei, deren Namen Beachtung
gebieten, haben ſich in der letzten Zeit ver—
nehmen laſſen, und ſie ſind es, welche die
folgenden Bemerkungen veranlaſſen. Den
Reigen eröffnet Prof. Dr. G. Gerland,
welcher diesmal in Behm's neueſtem „Geo⸗
graphiſchem Jahrbuch“ (1876) den „Be
richt über den Stand der anthropologiſch—
ethnologiſchen Forſchung“ an Stelle Fried-
rich Müller's, des früheren Referenten,
verfaßt hat und in dem Abſchnitt, welcher
die Sprache und deren Urſprung behandelt,
zu dieſem in ziemlich ſchroffen Widerſpruch
geräth, was ſich im „Geographiſchen Jahr—
buch“ etwas ſonderbar ausnimmt. Daran
ſchließe ich den ſchon oben erwähnten Auf-
*) Joſeph Kuhl, Darwin und die
Sprachwiſſenſchaft. Leipzig u. Mainz, 1877
80. S. 8.10.
von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch.
von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch.
atz des Tübinger Prof. Dr. E. Trumpp
9
in der mit Vorliebe antidarwiniſtiſchen
Tendenzen huldigenden „Beilage zur All—
gemeinen Zeitung“;
Friedrich Müller's großes, epoche—
machendes Werk: „Grundriß der Sprach
wiſſenſchaft“ (Wien, 1876) an und po
lemiſirt gegen den homo alalus, ſowie
natürlich gegen die ſich daraus ergebenden
Schlüſſe. Eine eigene Schrift: „Darwin
und die Sprachwiſſenſchaft“ widmete der
nämlichen Frage endlich Herr Dr. Joſeph
Kuhl, Rektor in Jülich.
tragen und muſtern.
Nach Gerland iſt die Sprache kein
Organismus für ſich, vielmehr nur als
organiſches Produkt eines Organismus
organiſchen Geſetzen unterthan.
folgt ihm, daß Müller's Schluß nach
allen Seiten hin völlig falſch ſei, wenn
dieſer ſagt: „Wir müſſen annehmen, daß
es einmal eine Zeit gegeben hat, in welcher
zwar Racen aber keine Völker exiſtirten.
Es gab alſo damals noch kein Volksthum,
mithin auch nicht die daſſelbe begründenden
Faktoren, Sprache und Sitte.“ Sobald es
Racen gab, menſchliche Racen, meint
der Straßburger Ethnologe, gab es auch
Sprachen, denn mit der Menſchennatur iſt
auch Sprache — nicht bloße Lautung —
gegeben; nur daß freilich bei der erſten
Entſtehung der Racen Race und Volk zu-
ſammenfallen. „Natürlich, fügt Gerland
hinzu, ſind auch die ſogenannten Alalen man—
cher Forſcher eine völlig haltloſe Annahme.“
Nun, ſo ganz natürlich iſt die Sache eben
doch nicht, wie ſich ſpäter zeigen wird.
Dann wendet ſich Gerland zu der Frage,
ob es einen genctiſchen Zuſammenhang für
alle oder nur für einige Sprachen gebe,
und wenn er exiſtirt, wie er ſich nachweiſen
Ich will in
Kürze die Anſichten der Genaunten vor
|
derſelbe kuüpft an
laſſe. Da er den Alalen ſchon für eine
„völlig haltloſe Aunahme“ erklärt, ſo erüb—
rigt ihm ſelbſtverſtändlich nichts anderes,
als einen ſolchen genetiſchen Zuſammenhang,
der nur eine Umſchreibung für „menſchliche
Urſprache“ iſt, zu ſupponiren. Er kehrt ſich
Daraus
deshalb wieder gegen Prof. Müller, wel—
cher ſich auf's Strengſte für vielheitlichen
Urſprung der Sprache ausſpricht, und ge—
gen Schleicher, deſſen Annahme einer
viel größeren Zahl von Urſprachen, als
wir heute Sprachen haben, gleichfalls als
„völlig haltlos“ bezeichnet wird. Er erklärt,
die Ungleichheit der Sprachwurzeln könne
nie gegen urſprüngliche Verwandtſchaft der
betreffenden Sprachen zeugen, und die Be—
hauptung, die Verſchiedenheit der älteſt er—
kennbaren Sprachſtämme — welche er ſcharf
von den erſten Sprachelementen ſcheidet —
mache eine urſprüngliche Einheit der Spra—
Alles.
chen unmöglich, ſei hinfällig. So findet er
in ſeinen Unterſuchungen nichts, was für
eine Verſchiedenheit der ſprachlichen erſten
Anfänge ſpräche, wohl aber die Mög—
lichkeit, ja Wahrſcheinlichkeit, daß die Ur—
ſprache des Menſchengeſchlechts eine einheit—
liche war.
Was nun dieſe letztere Anſicht anbelangt,
ſo muß ich bekennen, daß deren „Wahr—
ſcheinlichkeit“ nach keiner Seite hin durch
Gerland's Ausführungen mir erwieſen
däucht. Die einfache Möglichkeit einer ein—
heitlichen Urſprache will ich dagegen nicht
beſtreiten; in abstracto können wir uns
eine ſolche wohl denken, das iſt aber auch
Dies geht aus den Worten des
Profeſſor Trum pp ſelbſt hervor, der doch
gewiß dem Alalen nicht wohl will: „Ueber
die letzte Form der Sprache, und ob es
nur eine oder mehrere Urſprachen gegeben
hat, kann die Sprachwiſſenſchaft aus nahe—
liegenden Gründen nichts ausſagen; es gilt
328
hier ein ehrliches: non liquet. Die Sprach-
wiſſenſchaft kann ſich negativ nur dahin
ausſprechen, daß von ihrer Seite kein Hin—
derniß im Wege ſteht, eine gemeinſame Ur—
ſprache anzunehmen, die wahrſcheinlich ein—
ſilbig geweſen iſt. Wenn die moderne dar—
winiſtiſche Sprachphiloſophie aus der theil—
weiſe nicht mehr nachweisbaren Verwandt—
ſchaft einzelner Sprachen und Sprachſippen
den Schluß gezogen hat, daß dieſer Umſtand
die Suppoſition einer gemeinſamen Urſprache
unmöglich mache, ſo iſt dagegen einfach zu
erwidern, daß wir die Mittelglieder der
Sprachentwickelung nicht mehr kennen;
würden dieſe uns vorliegen, ſo dürfte der
Schluß vielleicht ganz anders ausfallen.“
Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, d. h.
mit anderen Worten: Wir wiſſen nichts da—
rüber, und für die Urſprache iſt nichts
weiter als die Möglichkeit, keine Spur einer
Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen dargethan.
Da uns alſo die Sprachforſchung die Lö-
ſung des Problems nicht bieten kann, ſo
von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch.
bleibt nichts anderes übrig, als ſie auf
einem anderen Wege zu ſuchen, und wird
ſie auf dieſem gefunden, ſo iſt es klar, daß |
die Sprachwiſſenſchaft ſich vor dem ander—
weitig geſicherten Reſultate zu beugen, das—
ſelbe rückhaltslos anzunehmen hat, da ſie
ja ſelbſt ohnmächtig iſt den Gegenbeweis
zu liefern. Gleichviel ob man ſich für eine
oder für verſchiedene Urſprachen entſcheide,
wer immer an ſprachwiſſenſchaftliche Stu—
dien herantritt, wird dies nur auf Grund
einer dieſer beiden Annahmen thun können,
ſonſt hängt ſein ganzer Bau einfach in der
Luft. Trumpp thut daher ſehr Unrecht,
zu beklagen, daß „Sprachforſcher ihre vor—
gefaßten darwiniſtiſchen Ideen auf die Sprach—
wiſſenſchaft übertragen und a priori den
verſchiedenen Urſprung des Menſchenge—
ſchlechts und der Sprachen behaupten.“
Urſprung der Sprachen wird behauptet,
Denn wenn ſie nicht dieſe Ideen, ſo müſſen
ſie jene von der Urſprache haben, und
dieſe iſt eben jo gut, eine „vorgefaßte“ a
priori-Behauptung wie jene. Da nun ein
ſprachwiſſenſchaftliches Syſtem unter allen
Umſtänden auf einer außerhalb der Sprach—
wiſſenſchaft gewonnenen Anſchauung fußen
muß, ſo wirkt es einigermaßen erheiternd,
wenn Prof. Trumpp „im Intereffe un⸗
ſerer Wiſſenſchaft und einer exacten Forſchung
dieſen Bund ein für alle mal ablehnen“
zu müſſen glaubt, den Bund natürlich „mit
den vorgefaßten darwiniſtiſchen Ideen.“
Liegt da nicht der Gedanke ungemein nahe,
daß der Bund mit anderen als darwini—
ſtiſchen Ideen, etwa mit der Annahme einer
Urſprache ihm weniger ablehnenswürdig dün—
ken möchte? Uebrigens ſcheint der Tübinger
Sprachgelehrte in die Geheimniſſe des Dar—
winismus nicht ſehr tief eingedrungen zu
ſein, ſonſt würde er nicht den groben Ver—
ſtoß begehen und dieſem zumuthen, den ver—
ſchiedenen Urſprung des Menſchengeſchlechts
und der Sprachen zu lehren. Die Descen—
denztheorie predigt vielmehr, wie wir alle
wiſſen, den einheitlichen Urſprung des
Menſchengeſchlechts; nur der verſchiedene
was ſehr zweierlei iſt. Deshalb iſt Trump p
auch in einem tiefen Irrthume befangen,
wenn er behauptet, daß Friedrich Mül⸗
ler verſchiedene Urmenſchen vorausſetze,
„weil er die Einheit des Menſchengeſchlechts
auf ſeinem philoſophiſchen Standpunkt ſchlecht—
hin negirt“! — Ganz im Gegentheile ent—
ſcheidet ſich Müller mit Darwin für
die Anſicht, daß der Menſch nur eine
Species bilde und die Racen den Werth
von Subſpecies haben, eine Anſicht, welche
er in ſeiner „Allgemeinen Ethnographie“
durch Thatſachen zu erhärten ſucht. Auf
die Feage: Bildete der Menſch von Anfang
an mehrere diſtincte oder nur eine Race? —
giebt Müller die von dieſem Standpunkte
einzig mögliche Antwort: „Nachdem wir
uns für die Einheit des Menſchen als
Species ausgeſprochen und die einzelnen
von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch.
Racen als Subſpecies bezeichnet, ferner auch
die allmählige Entſtehung der Arien mit
Darwin angenommen haben, müſſen wir
uns auch ſolgerecht zur Anſicht einer all—
mähligen Entwicklung der menſchlichen Ra⸗
cen aus einer ihnen zu Grunde liegenden
Urform bekennen.“) Dies, fügt er hinzu
iſt auch die Anſicht Häckel's, welcher die
verſchiedenen Racen auf eine Stammart,
den ſogenannten ſprachloſen Urmenſchen
(homo priwigenius alalus) zurückführt.
Es fällt alſo Müller nicht im Traume
ein an verſchiedene Urmenſchen ) zu denken.
Die Erklärung, wieſo aus dieſem
ſprachloſen Urmenſchen der ſprechende Menſch
ſich entwickelt habe, das iſt das große
Problem, worüber die Gelehrten ſich die
Köpfe zerbrechen. Trumpp fragt ſich,
ob das Alles, was die höchſte Vernunft be—
kundet, von einem homo priwigenius alalus
ſeinen Urſprung genommen haben kann,
und beruft ſich auf den bekannten Satz in
der alten indiſchen
Wirkung kann nicht größer ſein als ihre
Urſache“, wobei er nur die umgekehrt
) Friedrich Muller,
Ethnographie. S. 23.
. 5 * rt ich 0 5 3 y * e
1 7 0 F Boll 0 lichen Kindern die Entwickelung der Sprache
N 2 Aa: „
a f aus dem Alalen vor ſich gehen! Daß das
damit nicht die Abſtammung von nur Einem
Paare zu verſtehen iſt, bedarf wohl keiner
beſonderen Erwähnung. Unter Einheit ift
natürlich Einheit der Gattung, nicht Einheit
des Individuums gemeint. Es gab alſo
nicht verſchiedene, wohl aber mehrere oder
viele Exemplare der einen Species: Urmenſch,
— genau jo wie bei jeder anderen zoologiſchen
Species. 2
Philoſophie: „Die
Allgemeine
lautende deutſche Weisheitsregel vergißt:
kleine Urſachen, große Wirkungen. Und
Hr. Kuhl, der im Weſentlichen die bisher
vorgetragenen Ideen vertritt, ſagt gar mit
Emphaſe: „Die Sprache, d. h. die Ver—
bindung bewußter Vorſtellung mit be—
wußten und beſtimmten Lauten gehört ſo
ſehr zum Weſen des Menſchen, daß wir
uns keinen Menſchen denken können ohne
die Sprache, und daß wir dem Weſen,
welchem dieſe Fähigkeit fehlte, den Namen
Menſch verſagen müßten. Wir wollen auch
nicht das Wort des franzöſiſchen Philo—
ſophen hier wiederholen: homme a tou-
jours parle, ou il n’aurait jamais parlé.
Ein Weſen, welches ohne Sprache (d. h.
ohne das, was wir Sprache, nicht bloße
Gefühlsäußerung nennen) war, war nicht
Menſch, ſondern Thier, und hätte nie die
Fähigkeit erlangt, ſich zur Menſchlichkeit
emporzuarbeiten.““)
Ich habe ſchon eingangs erklärt, daß
es nicht meine Abſicht ſein kann, zur Löſung
der Frage nach der Sprachentſtehung einen
neuen Beitrag zu liefern; wie alſo die
Sprache aus dem Alalen entſtanden, unter—
ſuche ich nicht; daß ſie aber aus dem
Alalen wenigſtens entſtanden ſein kann,
ſollte nicht mit ſo viel Geräuſch in Abrede
geſtellt werden. Wohl darf man mit Goethe
fragen: „Wozu der Lärm? was ſteht dem
Herrn zu Dienſten?“ Sehen wir doch alle
Tage un ſer unſeren Augen an unſerer leib—
veugeborne Menſchenkind im vollſten Sinne
ſyrachlos iſt, jo ſprachlos, wie nur je der
Urmenſch gedacht werden kann, wird wohl
Niemand läugnen wollen. Nach Hru.
Kuhl's oben entwickelter Anſiche
iſt das
) Kuhl. A. a. O. S. 11.
„
329 \
Mn
330
ſprachloſe Kind kein Menſch, ſondern ein
Thier, wogegen ich nichts einzuwenden
habe, ſo wenig als dagegen, daß man
den homo alalus der Urzeit für ein Thier
halte, aber für ein Thier in durchaus
menſchlicher Geſtalt, gerade jo wie unfere |
Kinder auch. Ja, ich bin mit dem Ge—
nannten der Anſicht, daß das Kind Menſch
erſt werde mit der Erlernung der Sprache,
was wiederum erſt mit der Erlernung des
aufrechten Ganges möglich iſt. Guſtav
Jäger und Otto Caspari haben wohl
zur Evidenz bewieſen, daß die aufrechte
Gangart das erſte Erforderniß zur Sprach-
entwickelung ſei, und ich finde das Thier
homo alalus ſogar nur unter der Vor—
ausſetzung begreiflich, daß daſſelbe auf allen
Vieren kroch — gerade ſo wie unſere heutigen
Kinder. Nur lernen dieſe das Aufrecht—
gehen und das Sprechen freilich erſt mit
Hülfe ihrer Nächſten. Zweierlei Thatſachen
ſtehen aber doch jedenfalls feſt: Einmal, daß es
ſprachloſe Menſchenthiere wirklich giebt, dann,
daß ſich aus dieſen ſprachloſen Menſchenthieren
die ganze gebildete und hochgeſittete Menſch—
heit mit ihrer Sprache entwickelt. Aber
nicht blos unſere Säuglinge ſind ſolche
ſprachloſen Menſchenthiere, ſondern es iſt be—
kannt und durch genügende Beiſpiele be—
glaubigt, daß das ohne Erziehung in der
Wildniß, ohne menſchlichen Umgang auf—
wachſende Menſchenthier ſprachlos bleibt,
es höchſtens zu unartikulirten Lauten, zu
einfachen Gefühlsäußerungen bringt. Ja
noch mehr; Sprach- und vernunftbegabte
Menſchen, welche der vollſtändigen Iſolirung
preisgegeben werden, büßen allmählich das
Sprachvermögen ein. Solche Fälle von
offenbarer Verwilderung ſind in jüngſter
Zeit wiederholt beobachtet worden. Von
den Taubſtummen, die nur eine anormale
Erſcheinung ſind, rede ich gar nicht. Aber
8
von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch.
Thatſache iſt es, daß es in der Gegenwart
Alale giebt und geben kann, und es iſt
gar nicht einzuſehen, warum ſolche Zu—
ſtände nicht in der Urzeit geherrſcht haben
ſollen. Ja nach meinem Dafürhalten iſt
die Sprachloſigkeit der Kinder einer der
ſchlagendſten Beweiſe zu Gunſten der Dar⸗
win' ſchen Theorie und zugleich der noth—
wendigen Annahme eines einſtigen homo
alalus. Sowie die Ontogenie die abgekürzte
Wiederholung der Phylogenie iſt, ſo muß
auch — ich habe dieſen Satz in meiner
„Culturgeſchichte“ aufgeſtellt und vertreten —
jetzt noch jedes einzelne Individuum in
ſeiner geiſtigen Entwickelung in abgekürz—
ten Zügen die ganze geiſtige Entwickelungs—
geſchichte der Menſchheit durchlaufen. Der
Spruch des franzöſiſchen Philoſophen:
homme a toujours parlé ou il n aurait
parlé, iſt gelinde gejagt ein
Nonſens, denn unſere Kinder ſind wiederum
da, um das Gegentheil ad oeulos zu beweiſen.
Wäre aber die Sprache an ſich ein un—
lösliches Attribut der Menſchheit, hätte es
nie einen ſprachloſen Urmenſchen gegeben, ſo
müßten wir uns von deſſen Gegnern eine ganz
präciſe Erklärung für die Sprachloſigkeit
der Kinder ſprechender Eltern, für die Sprach—
einbuße bei completter Verwilderung aus—
bitten. Hie Rhodus, hie salta. Ich bin
der Anſicht, daß über den homo alalus ſo
jamais
lange nicht zur Tagesordnung geſchritten -
werden kann und darf, bis die erwähnten
Phänomene eine beſſere Erklärung gefunden
haben. Die Sprachloſigkeit der Kinder
lehrt uns auch, was von Kuhl's Meinung
zu halten iſt, daß der ſprachloſe Urmenſch
nie die Fähigkeit erlangt hätte, ſich zur
Menſchlichkeit emporzuarbeiten, und beant-
wortet Trumpp's Frage, ob Alles was
die höchſte Vernunft bekundet, von einem
homo primigenius alalus ſeinen Urſprung
5
Ka a BT Nr
genommen haben könne. Sicher ift, das die
größten Genien der civiliſirten Menſchheit
aus ſolch einem ſprachloſen Menſchenthiere
ſich entwickelten und Niemand bei einem
neugeborenen vernunftloſen Kinde
entwickelnde Menſch dereinſt erklimmen
werde.
So wie die Dinge jetzt liegen, haben
wir demnach — ich recapitulire in Kurzem
Weiſe aus dieſer Urſprache ſich die verſchiedenen
Sprachwiſſenſchaft zu Grunde gelegt werden
das Geſagte — zwei Theorien, welche der
können: Eine einheitliche Urſprache oder den
homo alalus, der erſt ſpäter an verſchiedenen
Planetenſtellen ſich zum ſprechenden Menſchen
emporſchwang, womit zugleich die Verſchieden—
heit der Sprachen befriedigend erklärt iſt.
Weder die gemeinſame Urſprache, noch der
homo alalus der Vergangenheit iſt uns
bekannt. Sollen wir aber zwiſchen beiden
Möglichkeiten wählen, ſo werden wir zweifels—
ohne die höhere Wahrſcheinlichkeit jener
Hypotheſe beimeſſen, für welche wir nicht
blos negative, ſondern auch poſitive Anhalts—
punkte beſitzen. Die Urſprache iſt, wie
geſagt, eine Möglichkeit, aber weiter nichts;
für die Wahrſcheinlichkeit ihrer einſtigen
Exiſtenz liegen keine Gründe vor; für den
ſprachloſen Urmenſchen tritt die Sprachloſigkeit
ſagen
kann, welche geiſtige Höhe der ſich daraus
ſprache zur Wahrſcheinlichkeit zu erheben,
von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch.
331
der Kinder wirkſam in die Schranken. Dieſen
poſitiven Zeugen vermag die Urſprach—
theorie kein, auch nur halbwegs gleichwerthiges
Argument gegenüberzuſtellen. Ihren An—
hängern liegt demnach nicht blos die Ver—
pflichtung ob, die ehemalige einheitliche Ur—
indem ſie die bisher dagegen vorgebrachten
linguiſtiſchen Bedenken hinwegräumen und
den klaren Nachweis führen, auf welche
Sprachſtämme herausdifferenzirten, ſondern
ſie müſſen noch obendrein für unſere ſprachloſe
Kindheit eine genügende Erklärung beibringen.
Geſetzt aber ſogar, es gelänge Alles dieſes,
ſo iſt damit das Problem der Sprachent—
ſtehung noch keineswegs gelöſt, ſondern nur
um ein Kettenglied hinausgerückt; denn die
Folge erhebt ſich dann: Wie iſt denn die
einheitliche Urſprache entſtanden? Und wenn
wir uns nicht der Myſtik in die Arme
werfen wollen, indem wir die Sprache als
eine dem Menſchen nothwendig inhärente
Fähigkeit betrachten — und anderes als
Myſtik, weil nichts erklärend, iſt eine ſolche
Auffaſſung der Sprache nicht — ſo werden
wir am Ende doch wieder auf einen ſprach—
loſen Urmenſchen zurückgeführt.
Die Entſtehungsgelchichte der Kodkunk.
Ein Vortrag, gehalten im Winter 1874/75 im Roſenſaale zu Jena
von
Prof. Dr. Fritz Schultze.
enn einer unſerer größten ſchen der Philoſophie und der Kochkunſt
V deutſchen Denker, Immanuel nicht eben fehlt an Berührungspunkten,
ya Kant, in den Geſchäften des welche, auch ganz abgeſehen von der
Kochens und den Angelegen- ſocialen Wichtigkeit des Gegenſtandes,
Ge heiten der Küche fo ſehr be- einen Philoſophen bewegen können, dieſes
wandert war, daß ſein Freund Hippel Gebiet menſchlicher Thätigkeit ſeiner Be—
jagen konnte, Kant könne ebenſo gut eine trachtung zu unterziehen. Ich glaube daher,
„Kritik der Kochkunſt“ ſchreiben, wie eine daß ich mein Unternehmen rechtfertigen kann,
„Kritik der reinen Vernunft; — wenn wenn ich es wage, einmal von dem höhe-
ein bekanntes Buch „Der Geiſt der Koch- ren Kothurn platoniſcher Ideen und aus
kunſt“, wie ſchon der Titel zeigt, dieſer den lichten Wolken des Abſoluten herabzu—
Kunſt ſelbſt das Höchſte, was wir kennen: ſteigen zu dem nicht ganz unintereſſanten
Geiſt zuſchreibt, und ein Brillat-Sa- Zwiſchenſpiel einer kleinen anthropologiſchen
varin ſie ſogar, was mehr ſagen will, Topfguckerei.
mit Geiſt in philoſophiſcher Weiſe behan— Die Entwickelungsgeſchichte des Kochens
delt; — wenn die phyſiologiſche Pſychologie iſt ein Theil der Entwickelungsgeſchichte der
bemüht iſt, den Zuſammenhang zwiſchen Menſchheit. Wer ſich mit der letzteren
der Verſchiedenheit der Nahrungsmittel und beſchäftigt, darf auch die erſtere nicht ver—
den verſchiedenen Stimmungen des Gemüthes nachläſſigen, wer das Ganze haben will,
nachzuweiſen; — wenn endlich eine materia; muß es aus den auch noch ſo gering ſchei—
liſtiſche Philoſophie dieſen Zuſammenhaug | nenden Theilen aufbauen, oder er verſtößt
ſo weit übertrieben hat, daß ſie zu dem gegen den induktiven Charakter moderner
in ſeinen Conſequenzen höchſt fatalen Satze | Wiſſenſchaft. Auch die Methode der
kam: „Der Menſch iſt, was er ißt“: — Wiſſenſchaft verlangt alſo, daß ſich der
jo können wir aus alledem wenigſtens jo | Philoſoph dieſem Gegenftande zuwende.
viel mit Sicherheit ſchließen, daß es zwi- Das Kochen iſt die Zubereitung der
Nahrungsmittel mit Hülfe des Feuers zum
Zwecke leichterer Aſſimilation. Das Kochen
iſt alſo ein künſtlicher Proceß; es erfordert
Feuer, Geſchirre, künſtliche Werkzeuge. Aber
eben weil es ſo vielen künſtlichen Apparat
vorausſetzt, ſo werden wir vermuthen kön—
nen, daß die Menſchen nicht von Uranfang
an gekocht haben, daß mithin das Kochen
erſt Erzeugniß einer höheren Entwickelungs—
ſtufe iſt. Daß die Menſchen ohne Koch—
kunſt leben konnten, ja, daß Menſchen noch
heute ohne ſie, alſo von rohem Fleiſch und
Früchten, leben könnten, beweiſen die That—
ſachen. Es würde mich indeſſen zu weit
von meinem eigentlichen Thema abführen,
wenn ich dieſe hier erörtern wollte. In
Oskar Peſchel's Völkerkunde findet ſich
das Beweismaterial dafür in reicher Fülle
zuſammengeſtellt.
Das erſte, zum Kochen nothwendigſte
Hülfsmittel iſt das Feuer. Hätte es je
eine Zeit gegeben, wo der Menſch das
Feuer überhaupt noch gar nicht verwendete,
ſo wäre damals ja auch vom Kochen noch
keine Rede geweſen. Haben wir Gründe,
eine ſolche Zeit anzunehmen? In der That
beſitzen wir ältere und neuere Berichte von
Menſchen, denen das Feuer noch nicht be—
kannt geweſen ſein ſoll. Hören wir dieſe
Angaben und prüfen wir fie.)
Der Miſſionar Pater Lafiteau ſagt
in feinem Buche: „Moeurs des sauvages
Américains“ vom Jahre 1724 ſchlechthin,
daß es in Amerika feuerloſe Menſchen gebe.
Einen Beweis dafür liefert er nicht. Der
Pater Lombard von der Geſellſchaft Jeſu,
der im Jahre 1730 aus Kourou in Fran—
zöſiſch-Guyana ſchreibt, ſchildert den Stamm
der Amikuanen vom Fluſſe Oyapok.
„Dieſes Volk,“ ſagt er, „das bisher un—
) Vergl.: Edw. Tylor, Urgeſchichte,
deutſch von Mülker, S. 292 ff.
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
333
bekannt geweſen, iſt äußerſt wild; es hat
keine Kenntniß vom Feuer.“ Auch dieſe
Angabe bleibt unbewieſen. Ebenſo wenig
Beweiskraft können wir der Ausſage Plu-
tarch's: daß es Menſchen ohne Feuer gebe,
zuerkennen.
Die nun ausgeſtorbenen Ureinwohner
der Canariſchen Inſeln, die Guanches, ver—
ſtanden zur Zeit der europäiſchen Expedi—
tionen im 14. und 15. Jahrhundert Feuer
zu machen und zu benutzen. Dennoch er—
klärt Antonio Galvano in einem um
die Mitte des 16. Jahrhunderts geſchrie—
benen Buche, „daß ſie in vergangenen Zei—
ten aus Mangel an Feuer rohes Fleiſch
aßen.“ Derſelbe Schriftſteller weiß noch
eine andere Geſchichte von feuerloſen Men—
ſchen zu erzählen. Als im Jahre 1529
Alvaro de Saavedra von den Mo—
lukken nach der Weſtküſte Mexikos ſegelte,
entdeckte er unter dem 10. oder 12. n. B.
eine Menge kleiner, ebener Inſeln, bewach—
ſen mit Gras und Palmen, die er „Los
Jardines“, die Gärten, nannte. „Die Ein—
geborenen hatten keine Hausthiere, ſie waren
in ein weißes Zeug aus Gras gekleidet,
aßen ſtatt des Brotes Kokosnüſſe und rohe
Fiſche, die ſie in den Praus, ihren Fahr—
zeugen, fingen, welche ſie aus Treibholz
mit ihren Muſchelwerkzeugen verfertigten.
Sie fürchteten ſich vor dem Feuer, denn
ſie hatten es nie geſehen.“ Dieſe Schil—
derung ſteht, bis auf die Angabe hinſicht—
lich des Mangels an Feuer, mit dem, was
wir ſonſt von den Bewohnern der Korallen—
inſeln des ſtillen Oceans wiſſen, durchaus
im Einklang und rührt alſo wohl von
einem Augenzeugen her. Wir dürften da—
her dieſe Angabe nicht ohne Weiteres für
eine Erdichtung erklären, wenn nicht, wie
wir gleich ſehen werden, alle anderen
Zeugniſſe unter dem ſcharfen Blick der
44
334
Kritik ſich als unrichtig erwieſen hätten,
und dieſe Angabe demnach ganz vereinzelt
daſtände.
Im Jahre 1700 erzählt der Jeſuiten—
pater Le Gobien in ſeinem Buche „Hi-
stoire des Isles Marianes“ von den Bes
wohnern der Marianen Folgendes: „Was
am erſtaunlichſten war und was man kaum
glaublich finden wird, iſt, daß ſie niemals
Feuer geſehen hatten. Dieſes ſo nothwen—
dige Element war ihnen gänzlich unbekannt.
Sie kannten weder ſeinen Nutzen, noch ſeine
Eigenſchaften; und fie waren aufs höchſte
überraſcht, als ſie es zum erſten Male bei
Magelhaens' Landung auf einer ihrer
Inſeln ſahen, wo jener etwa fünfzig ihrer
Häuſer verbrannte, um dieſe Inſulaner
für die Beunruhigung zu ſtrafen, die ſie
ihm verurſacht hatten. Anfangs betrachte—
ten ſie das Feuer als eine Art Thier, das
ſich an das Holz klammerte, wovon es ſich
nährte. Weil die erſten, die ihm zu nahe
kamen, ſich verbrannt hatten, waren die
anderen eingeſchüchtert und wagten es nur
noch von ferne anzuſehen, aus Furcht, ſagten
ſie, von ihm gebiſſen zu werden, und da—
mit dieſes ſchreckliche Thier ſie nicht mit
ſeinem heftigen Hauche verletzen möchte. ..“
— Woher hat denn Le Gobien dieſe
Angaben? Die Marianen nebſt den Phi—
lippinen wurden 180 Jahre früher im
Jahre 1521 von Magelhaens entdeckt.
Magelhaens' Gefährte Antonio Pi—
gafetta hat die Sitten und Gebräuche
der Eingeborenen ausführlich beſchrieben,
hat aber nirgends auch nur eine Andeu—
tung, daß das Feuer ihnen fremd geweſen
ſei. Eine ſo merkwürdige Thatſache würde
ihm ſicher nicht entgangen ſein, und er
würde ſie gewiß mitgetheilt haben. Aber
im Jahre 1652, alſo 130 Jahre nach
Pigafetta, führt Horn in einem
F
— nn
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
Werke über die amerikaniſchen Urzuſtände
die Menſchenſtämme an, welche des Feuers
entbehren. Er erwähnt die vorhin bereits
berührten, von Galvano verdädtigten
Bewohner der Canariſchen und der Garten-
Inſeln und fügt dann auf eigene Fauſt
die Bewohner der Philippinen hinzu. Nun
hatte ja aber Magelhaens Philippinen
und Marianen zuſammen entdeckt. Was
alſo von den Philippinen gilt, ſo ſchließt
Le Gobien, muß auch von den Marianen
gelten, und ſo ſetzt denn 50 Jahre nach
Horn der Pater auch die Marianen auf
die Liſte. Alſo auch dieſer Bericht löſt
ſich in eine Fiction auf. Ja, wir können
hier ſogar nachweiſen, woher der Jeſuit die
einzelnen Züge ſeiner Dichtung genommen
hat. „Anfangs“, hieß es bei ihm, „bes
trachteten die Bewohner das Feuer als eine
Art Thier, das ſich an das Holz klammerte,
wovon es ſich nähre.“ Dieſer Zug führt
ſich auf Herodot's Bericht über die
Aegypter zurück: „Die Aegypter haben
auch geglaubt, das Feuer ſei ein lebendiges
Thier und verſchlinge alles, was es ergrei—
fen könne; nachdem es ſich aber mit Nah—
rung gefüllt, ſterbe es an dem, was es
verſchlungen habe.“ Der andere Zug, daß
die Bewohner ſich dem Feuer zuerſt ohne
Furcht und voller Staunen nähern und
erſt zurückweichen, nachdem fie von ihm ge-
biſſen ſind, erinnert an die Erzählung des
alten Geographen Pomponius Mela:
„In Aethiopien giebt es Leute, denen Feuer
vor der Ankunft des Eudoxus ſo gänz—
lich unbekannt war, und die ſich ſo außer—
ordentlich freuten, als ſie es ſahen, daß es
ihnen das größte Vergnügen machte, die
Flammen zu umarmen und brennende Dinge
in ihrem Buſen zu bergen, bis ſie verletzt
waren.“ 5
Die letzte Angabe, die uns vorliegt,
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 335
ſtammt erſt aus den dreißiger Jahren die—
ſes Jahrhunderts. In dem Werke über
die Forſchungsexpedition der Vereinigten
Staaten unter Commodore Wilkes leſen
wir in der Schilderung der Inſel Fakaa—
fo: „Es fand ſich keine Spur von Stel—
len zum Kochen, auch war nichts von Feuer
zu ſehen und man glaubt, daß ſie alle
ihre Lebensmittel roh eſſen. In dieſer An—
ſicht wurde man beſtärkt durch die Beſorg—
niß, welche die Eingeborenen blicken ließen,
als ſie ſahen, wie aus Stahl und Stein
Funken ſprangen, und wie Rauch aus dem
Munde derjenigen hervorging, die Cigarren
rauchten.“ Gleichwohl werden in demſel—
ben Werke Angaben gemacht, welche be—
weiſen, daß die Einwohner mit dem Feuer
vertraut waren. Hale, der Ethnograph
der Expedition, erwähnt nicht blos das
Erſcheinen von Rauch auf der benachbarten
Duke of Vork-Inſel als Zeichen, daß fie
bewohnt ſein müſſe, ſondern giebt auch in
ſeinem Vocabularium der Sprache von
Fakaafo das Wort für Feuer: ali. Ja,
einige Jahre ſpäter erzählt uns der Miffio-
nar George Turner ſogar einen unter
den Eingeborenen verbreiteten Mythus über
den Urſprung des Feuers, der an die grie⸗
chiſche Prometheusſage erinnert, und den
wir nachher mittheilen werden. Er ſpricht
ferner von merkwürdigen Verordnungen
hinſichtlich des Feuers, aus denen ſich dann
auch erklärt, wie Wilkes in den Irrthum
verfallen konnte, den Fakaafoanern die
Kenntniß des Feuers abzusprechen. Die
religiöſen Gebräuche geſtatten nämlich den
Eingeborenen nicht, Nachts in den Häuſern
Licht oder Feuer anzuzünden; zum Kochen
diente ferner ein gemeinſames Kochhaus,
ſo daß in den Wohnungen ſelbſt allerdings
die Spuren des Feuers gänzlich fehlten.
Dieſe Umſtände, dazu das Eſſen roher
Fiſche, das Staunen der Eingebore—
nen über das Rauchen der Fremden und
über die Eigenſchaften des ihnen unbekann—
ten Feuerſteins und Stahls erweckten in
Wilkes die Vorſtellung, die Inſulaner
kennten das Feuer überhaupt nicht.
Wenn wir ſomit die Erzählungen von
Menſchen, welche ſelbſt in neuerer Zeit
noch gar nicht im Beſitze des Feuers ſein
ſollten, als unrichtig zurückweiſen können,
ſo ſind wir nicht im Stande, daſſelbe zu
thun bei einigen Berichten, welche uns von
einem eigenthümlichen Uebergangszuſtande
erzählen: von Menſchen, welche das Feuer
zwar kennen und benutzen, es aber nicht
ſelbſt zu entzünden verſtehen.
Backhouſe hörte von einem Einge—
borenen von Vandiemensland, daß ſeine
Vorfahren vor ihrem Bekanntwerden mit
den Europäern kein Mittel gehabt hätten,
das Feuer ſelbſt zu entzünden; ſie hätten
daſſelbe als ein Geſchenk vom Himmel be—
kommen, hätten auf ihren Wanderungen
ſtets Feuerbrände mit ſich herumgetragen,
und ſeien dieſe durch einen unglücklichen
Zufall erloſchen, jo hätten ſie dieſelben ent-
weder an der noch glühenden Aſche des
letzten Lagerplatzes wieder entzündet oder,
wenn das nicht mehr möglich geweſen ſei,
ſich neues Feuer von einem anderen Stamme
geholt. Dieſer ſeltſame Bericht wird von
einem anderen Forſcher Milligan völlig
beſtätigt. Nach ihm haben die Vandiemens—
länder den Mythus, daß das Feuer gleich
einem Sterne durch zwei Eingeborene vom
Himmel geworfen ſei; die Feuerbringer
ſtehen jetzt ſelbſt am Himmel; es ſind die
von uns Caſtor und Pollux genannten
Zwillingsſterne. So ſind die Tasmanier
zwar im Beſitze des Feuers, können es
aber nicht ſelbſt erzeugen, ſondern tragen
es von einem Lagerplatz mit ſich zum
EN
336
andern. — Und in der Verſammlung der
Britiſh Aſſociation vom Jahre 1864 ev
klärte Mac Donall Stuart, die Ein-
geborenen Süd -Auſtraliens könnten Feuer
durch die Reibung von zwei Stücken Holz
über einem Häufchen dürren Graſes erzeu—
gen, im Norden ſei aber dies Verfahren
unbekannt, die Eingeborenen trügen die
Feuerbrände ſtets mit ſich, und wenn die—
ſelben verlöſchten, ſo hätten ſie oft eine
weite Reiſe zu unternehmen, um von einem
anderen Stamme Feuer zu erbitten.
Für uns, die wir vermittelſt unſerer
Reibhölzer im Nu Feuer zu machen ver—
ſtehen, klingen nun dieſe Berichte, obgleich
ſie von durchaus glaubwürdigen Beobachtern
herrühren, unglaubhaft. Wenn wir aber
bedenken, daß unſer Zündholz nur deshalb
uns blitzſchnell mit Feuer verſieht, weil es
die complicirte, vorbereitende Arbeit un—
zähliger Hände, eine ganze Induſtrie be—
reits in ſich trägt; daß noch vor 50 Jahren
bei uns die Erzeugung des Feuers durch
Stahl und Stein eine langwierige Arbeit
war, ſo daß man vorzog, das Feuer Nachts
Rauf dem Herde unter der Aſche fortglim—
men zu laſſen, wie es noch heute auf dem
Lande vielfach Sitte iſt; wenn wir wei—
ter in Rechnung ziehen, daß bei wilden
Völkern die Feuererzeugung durch Reibung
zweier Holzſtückchen noch viel ſchwieriger
iſt und oftmals ſtundenlange Arbeit meh—
rerer kräftiger Männer erfordert; daß
deshalb auch viele andere wilden Stämme
das Feuer beſtändig glimmend zu erhalten
ſuchen, z. B. die Andamanen in hohlen
Baumſtämmen, ähnlich die Sioux und
viele andere Indianer Amerikas; daß wegen
dieſer Schwierigkeit „Feueranmacher“
der Name für die Prieſter der Muskoge—
Indianer war; daß eben deshalb bei den
rohen Damaras in Afrika die Töchter des
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
Häuptlings fortwährend ein als heilig
verehrtes Feuer in Brand erhalten
mußten; wenn wir bedenken, daß hier
ſich uns der wahre Urſprung der Veſta—
linnen des heidniſchen Tempels, wie der
ewigen Lampe in der katholiſchen Kirche
entdeckt; wenn wir ſomit die Rudi—
mente jener Periode, wo das Feuer jo
zu ſagen erſt halb vom Menſchen gezähmt
war, ſelbſt heute noch vor uns haben, ſo
daß demnach zu der Unantaſtbarkeit jener
Gewährsmänner noch viele Gründe beſtä—
tigend hinzutreten, ſo wird uns dann auch
ein ſolches Uebergangsſtadium wie das eben
geſchilderte weniger zweifelhaft erſcheinen.
Aber wir ſind dann auch berechtigt,
noch weiter zu ſchließen, nämlich wirklich
auf eine Zeit, wo die Menſchen vom Feuer
überall noch keinen Gebrauch machten. Was
ſpricht dafür?
Erſtens alles, was für die moderne
Entwickelungstheorie ſpricht. Hat dieſelbe
Recht, ſo iſt die Annahme feuerloſer Men—
ſchen in der Urzeit eine nothwendige Fol—
gerung aus der Theorie.
Zweitens ſpricht für eine ſolche Zeit
der Umſtand, daß die Feuerzündung bei
allen Völkern, die höchſt civiliſirten nicht
ausgenommen, eine wirklich ſchwierige, com—
plicirte Kunſt iſt, deren Verfahren mit
ſeinen roheren oder feineren Werkzeugen
irgend einmal irgendwo erfunden ſein muß,
wie das einer jeden anderen Kunſt.
Drittens ſpricht dafür die Heilig—
haltung des Feuers, die wir bei allen
Völkern auf geringer Entwidelungsftufe
finden, und die bei dieſen keineswegs erſt
eine ſecundäre Folge der Verehrung der
Sonne iſt. Je vertrauter nämlich und
bekannter der Menſch mit irgend einer ihm
zuerſt imponirenden Naturerſcheinung wird,
um ſo mehr verliert er das ihn beängſti—
gende Grauen oder das ihn erhebende
Staunen, welches ihn anfangs mit heiliger
Scheu vor der Erſcheinung erfüllte und ihn
zu religiöſer Verehrung derſelben trieb. Je
neuer aber und fremder dieſe Erſcheinung
ihm noch iſt, um ſo mehr ehrerbietige
Scheu flößt ſie ihm ein. So beweiſt uns
denn gerade die Allgemeinheit der religiöſen
Verehrung des Feuers in früheſter Zeit,
daß dieſe Erſcheinung dem Menſchen noch
verhältnißmäßig neu war, daß alſo die
Zeit, wo das Feuer anfing, dem Menſchen
wohlthätig zu werden, verhältnißmäßig noch
nicht ſo weit zurücklag, d. h. aber, daß es
eine Zeit gab, wo der wilde Menſch das
Feuer noch nicht benutzte.
Viertens ſprechen für eine ſolche Zeit
alle jene Berichte von feuerloſen Menſchen,
die wir oben anführten. Aber haben wir
nicht vorhin dieſelben alle als unrichtig
zurückgewieſen? Allerdings! Jeder einzelne
Bericht in ſeiner Anwendung auf dieſen
oder jenen heute noch lebenden Stamm
erwies ſich als falſch. Aber wenn wir
fragen, was denn der Entſtehungs—
grund aller dieſer Berichte ſei, die im
Alterthum wie in der Neuzeit an allen
Orten der Erde aufgetaucht ſind, da erhal—
ten dieſelben plötzlich eine ganz andere Be—
deutung. Werfen wir zur Erklärung einen
Blick auf Verwandtes! Die über die ganze
Erde verbreiteten Sagen von Drachen und
Lindwürmern ſind Märchen: es giebt ja
keine Drachen. Aber dieſe Sagen ſind
überall auf der Erde aufgefunden. Und
haben nicht die aus der Erde gegrabenen
verſteinerten Funde uns gezeigt, daß es in
Wirklichkeit früher ſolche ungeheuere Thier—
geſtalten gab? Dieſe Sagen enthalten
alſo doch etwas Hiſtoriſches, die Erinne—
rung an jene Thierformen. Wir
wollen ſelbſtverſtändlich nicht damit
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
337
behaupten, daß dieſe Sagen direkt ſich
herleiteten aus jener Secundärzeit, welche
von den Sauriern bevölkert war — eine
ſolche Behauptung ſchlüge allen Ergeb—
niſſen der Paläo-Anthropologie ins Geſicht.
Aber daß in der That eine Menge jener
Sagen in allen Erdtheilen veranlaßt
find durch Auffindung von Saurier-Ueber—
reſten in früherer Zeit, hat bereits der ſcharf—
ſinnige und überaus vorſichtige Edward
Tylor unanfechtbar in ſeiner vortrefflichen
Abhandlung über hiſtoriſche Traditionen
und Beobachtungsmythen bewieſen. Wie
mit dieſen Sagen, die in ihrer Anwendung
auf das Zeitalter eines drachentödtenden
Dietrichs von Bern u. ſ. w. alle falſch
find, und in ihrer Geſammtheit doch auf
thatſächlich in der Vorzeit Beſtehendes zu—
rückweiſen — wie mit dieſen Sagen iſt es
auch mit jenen Berichten über feuerloſe
Wilde. In ihrer vereinzelten Anwendung
auf heute oder in hiſtoriſcher Zeit noch
lebende menſchliche Weſen ſind ſie alle falſch,
— in ihrer Geſammtheit aber ſind ſie der
verhallende Nachklang aus jener Zeit, wo
das Feuer noch nicht des Menſchen Diener
geworden war.
Mit dieſen inſofern wahren Berich—
ten hängen fünftens eng zuſammen die
Mythen über das Feuer, welche die—
ſelbe Bedeutung haben wie jene Be—
richte, ja die man als eine Unterart
derſelben betrachten könnte. Ich erinnere
nur an Prometheus oder an den Feuer—
vogel, Mythen, wie wir ſie nicht blos bei
den Griechen, ſondern in China, in In—
dien, bei den ariſchen Völkern überhaupt
finden; aber ebenſo, wie wir oben ſchon
ſahen, bei den Vandiemensländern und in
der Mythologie der polyneſiſchen Inſeln.
Auch in dieſen Mythen finden wir bei
allen Völkern die Vorausſetzung einer feuer—
loſen Zeit, und inſofern können wir auch
ſie als eine von Geſchlecht zu Geſchlecht
durch die Jahrtauſende hindurch getragene
Erinnerung an dieſelben betrachten.
Wann dieſe Zeit geweſen ſei, darüber
kann natürlich gar nichts Beſtimmtes
ausgeſagt werden. Aeſchylus legte in
dem verlorenen Schlußſtücke ſeiner Trilogie
dem Prometheus die Worte in den Mund:
„Dreißig Jahrtauſende habe er in Feſſeln
geſchmachtet.“ Der Feuerraub, um deſſent—
willen Prometheus gefeſſelt wurde, wird
alſo ſchon hier weit über die Grenzen
menſchlicher Zeitrechnung hinaus verlegt.
Aber an der Schuſſenquelle in Schwaben
ward ſchon zur Eiszeit künſtlich von Men—
ſchen Feuer erzeugt, alſo noch Jahrzehn-
tauſende vor dem von dem Aeſchyleiſchen
Prometheus angegebenen Zeitpunkte.
Wie kam denn der Menſch zum Feuer?
Die Frage ſcheint leicht beantwortet werden
zu können, findet ſich doch Feuer an ſo
vielen Stellen der Erde vor. Der Blitz
ſchlägt in den Baum, dieſer geht in Flam—
men auf. Indeß die vergleichende Pſycho—
logie lehrt uns, daß der wilde Menſch
ſeinem Charakter nach der Art iſt, daß er
wie das wilde Thier vor einer ſolchen
plötzlich auflodernden Flammenerſcheinung
vielmehr erſchreckt entfliehen als ſich der—
ſelben furchtlos nähern wird. Angenom—
men aber er näherte ſich auch derſelben,
ſo würde er, bisher völlig unbekannt mit
den Eigenſchaften des Feuers, gar nicht
daran denken, es ſich zu bewahren — und
bewahrte er es auch, ſo würde es doch
wieder verlöſchen, ohne daß er ſelbſt im
Stande wäre, es wieder zu entzünden —
aber gerade dies iſt ja die Hauptſache, daß
er ſelbſt die Kunſt, es zu erzeugen, ausübe.
Vielerwärts auf der Erde finden ſich
ſogen. Feuerquellen, d. h. Erdölbrunnen,
Be
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
welche entzündliche Luftarten, nämlich Kohlen—
waſſerſtoffgas, aushauchen. Ich erinnere
nur an derartige Erſcheinungen in den
Vereinigten Staaten, in China, in Italien,
vor allem aber an die heiligen Feuer der
Halbinſel Abſcheron bei Baku am Caspi⸗
ſee, zu denen die frommen Parſi wall—
fahrteten, „um ihrer Flammengottheit ins
Antlitz zu Schauen“. Endlich wird ja unſer
Erdball umzogen von einem Gürtel feuer—
ſpeiender Berge, deren Lavaergüſſe den
Menſchen mit den Wohlthaten des Feuers
bekannt machen konnten. Alexander
von Humboldt berichtet, daß man noch
zwanzig Jahre nach dem Ausbruche des
Jorullo in feinen Hornitos oder Miniatur-
kratern Späne an der glühenden Lava ent—
zünden konnte. — Wenn nun auch viel-
leicht ein Menſchenalter hindurch die Lava
ſtets neues Feuer ſpendete, zuletzt erkaltete
ſie doch und ließ den Menſchen im Stich.
Die Kunſt, das Feuer ſelbſt zu entzün⸗
den, worauf Alles ankommt, konnte alſo
der Menſch auch hier nicht lernen. Das—
ſelbe gilt aber von den flammenden Naphta—
quellen.
Betrachten wir, um der Löſung des
Räthſels näher zu kommen, die primitiven
Methoden des Feuermachens, wie ſie bei
Naturvölkern noch jetzt gebräuchlich ſind
und auch bei unſeren Altvorderen überall
im Schwange waren. Das verbreitetſte
Verfahren iſt das Aneinanderreiben zweier
Holzſtücke von verſchiedener Härte, ſei es
nun, daß das härtere von beiden einfach
auf dem weicheren gerieben wird, oder
daß das härtere in das weichere hinein—
gebohrt und quirlartig darin herumgedreht
wird, bis das weichere ſich entzündet. Neben
dieſem Verfahren findet ſich ein anderes,
aber nur in Amerika, nämlich bei den
Feuerländern, einigen nordamerikaniſchen
Indianern und
manchen Eskimos:
nämlich ein Feuerſtein und ein Stück Eiſen—
pyrit an einander geſchlagen und ſo Funken
erzeugt werden, die dann, mit dürrem Gras
oder Moos als Zunder aufgefangen, die
Flamme erzeugen. Endlich hat man in
Weſtafrika beobachtet, daß Neger einen
Feuerſtein und ein Stückchen Holz, nachdem
ſie etwas Sand dazwiſchen geſtreut, auf
einander rieben und ſo Feuer entzün⸗
deten. Stein und Holz ſind alſo bei
allen Naturvölkern die zur primitiven Feuer-
zündung benutzten Stoffe, und zwar in
der dreifachen Verbindung von Holz
mit Holz, von Stein mit Stein
und von Holz mit Stein.
Nun wiſſen wir, daß dem Metall—
zeitalter das Steinzeitalter voranging,
d. h. eine Zeit, wo die Menſchen die Ver—
wendung und Bearbeitung der Metalle noch
gar nicht kannten, ſondern alle ihre primi⸗
tiven Geräthe lediglich aus Stein und
Holz und aus thieriſchen Knochen und Horn
verfertigten. Innerhalb der Steinzeit
unterſcheiden ſich aber deutlich die beiden
Perioden der ungeſchliffenen und ge—
ſchliffenen Steingeräthe — erſtere die
Zeit, wo der Menſch den Stein ſo roh als
Geräth verwendete, wie die Natur ihn dar-
bot, und ihm höchſtens durch das Abſchla—
gen ſeiner Kanten und Ecken eine brauch—
bare Form gab; letztere die Zeit, wo
ſeine Geſchicklichkeit bereits beträchtlich ge—
ſtiegen war, und wo er die Steine durch
Aufeinanderreiben zierlich ſchliff und polirte
und aus ihnen Waffen und Geräthe von
zierlicher Form herſtellte. Nun beſteht die
überwiegende Mehrzahl gerade der frühe⸗
ſten Steingeräthe aus Feuerſtein, theils
wegen der weiten Verbreitung deſſelben,
theils wegen der Leichtigkeit, mit der man
ihn durch einen bloßen Schlag in ziemlich
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
daß
und Holzwerkzeuge; auch im Holze konn—
339
regelmäßige, klingenartige, meſſerſcharfe
Späne und Splitter zerſpalten kann. Aus
dieſen unzweifelhaften Thatſachen ergiebt ſich
nun die Hypotheſe, welche uns die Feuer—
erfindung völlig erklärt. Bei dem Zer—
ſpalten und Zerſchlagen der Steine ſpran—
gen bereits Funken hervor. So wurde
der Urmenſch aufmerkſam gemacht auf dieſe
leuchtende Erſcheinung; auch konnte er ja
dieſelbe herſtellen nach Belieben, ſo oft er
wollte. Aber man ſpaltete nicht blos
die Steine, ſondern ſpäterhin ſchliff man
ſie in der einfachſten Weiſe, d. h. man
rieb ſie an und auf einander. Nun braucht
man nur zwei Quarzkieſel feſt gegen ein—
ander zu reiben, um ſich auf der Stelle
zu überzeugen, daß ſie zu leuchten beginnen.
Steinſchleifereien zeigen dieſes Leuchten
der Steine im höchſten Grade und je
nach der Verſchiedenheit der Steinart in
mannigfachem Wechſel prächtiger Farben—
ſpiele, worüber u. a. der Mineraloge Nög—
gerath ausführlich berichtet hat. Man
braucht ferner nur einen Blick auf die ſchön
gearbeiteten Steinwaffen zu werfen, um zu
erkennen, daß man denſelben einen großen
Arbeitsaufwand von Reiben und Schleifen
widmete, denn alle Form konnte ja damals
lediglich durch Schlagen und Reiben her—
geſtellt werden. So rieb und ſchliff man
denn Stein auf Stein, und ſo erzeugte
man das Leuchten. Man bearbeitete ja
aber auch das Holz entweder mit Stein
oder auch eine weichere Holzart mit einer
härteren, denn man hatte ja nur Stein-
ten feinere Formen, wie die Abrundung
oder ein Bohrloch, nur durch Schleifen und |
Reiben hergeſtellt werden. So rieb man
alſo Holz mit Stein oder weicheres Holz
mit härterem — da ward aber aus blo—
ßem Leuchten das Glimmen, und dieſem
ar
bung die Flamme.
Feuerzündung faſt nur noch hartes Holz
auf weichem rieb, geſchah deshalb, weil
man die Erfahrung machte, daß ſich da—
durch thatſächlich am leichteſten und ſicher—
ſten Feuer machen ließ. So kam alſo
der Menſch bei der Bereitung ſeiner erſten
Werkzeuge auf die Bereitung des Feuers,
und ſo allein erklärt ſich die Hauptſache bei
der Feuerfindung, daß nämlich der Menſch
nicht mehr vor dem Feuer wie vor der
oder des donnernd ſpeienden Vulkans zu—
rückſchreckte, ſondern ſich allmälig daran
gewöhnte, indem er zuerſt nur die kleinſte
Erſcheinung des Feuers, das bloße Funken—
ſprühen, dann das Leuchten, darauf das
Glimmen, zuletzt die Flamme entdeckte; daß
er zweitens dies Element hervorzaubern
konnte, wann und wo er wollte; daß er
drittens alſo wirklich Herr und Ge—
bieter des Feuers wurde, was alles jene
früher gegebenen Erklärungsverſuche ganz
unerklärt ließen. Die Entdeckung der
Feuerzündung fällt alſo chronologiſch nach
der Zeit des erſten Gebrauches der Steine
und Hölzer als primitiver Werkzeuge. Ein
Blick auf die Natur zeigt uns ein Ana-
logon, das zu weiterem Beweiſe dafür
dienen könnte, nämlich den Umſtand, daß
die anthropoiden Affen das Feuer natür—
lich nicht verwenden, wohl aber bereits
Steine und Hölzer gebrauchen, theils als
Werkzeuge, z. B. zum Aufknacken von
Nüſſen, theils als Waffen zur Vertheidig—
ung. Ehe nun der Menſch alle Eigen—
ſchaften des Feuers kennen und ehe er
es ſo mannigfach verwenden lernte, wie
wir es jetzt thun, darüber verſtrich ohne
Zweifel noch ein ungeheurer Zeitraum.
Aber daß dieſe Erfindung der Feuerzün—
entſprang naturgemäß bei fortgeſetzter Rei-
Daß man zuletzt zur
Flamme des plötzlich auflodernden Baumes
ſcheräh
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
dung zu den größten Erfindungen über—
haupt gehört, ja daß ſie geradezu einen
Wendepunkt in der Geſchichte der Menſch—
heit bildete, das kann eine einfache Betrach—
tung klar machen. Denken wir uns plötz—
lich der Benutzung des Feuers beraubt;
die Folge wäre, daß alle unſere Induſtrie,
unſer Handel, unſer Verkehr, unſere Künſte
und Wiſſenſchaften, alle Bequemlich—
keiten und Nothwendigkeiten eines
civiliſirten Lebens aufhörten, und daß wir
nach wenig Jahren auf eine Stufe zurüd-
gelangt wären, welche unter der des Pe—
läge, denn dieſer benutzt ja das
Feuer. — — —
Auf der oben erwähnten Inſel Faka⸗
afo lautet die einheimiſche Prometheusſage
folgendermaßen: Das Feuer war im Beſitz
einer alten blinden Frau, die in den unter⸗
irdiſchen Regionen wohnte. Talangi, der
Prometheus, ging zu ihr hinab und bat
ſie, ihm etwas von ihrem Feuer zu geben.
Sie weigerte ſich. Als er aber drohte, ſie
zu tödten, gab ſie nach. Zugleich ließ er
ſich ſagen, welche Fiſche mit dem Feuer zu
kochen und welche roh zu eſſen ſeien. „Und
nun,“ ſchließt die Sage, „begann die
Zeit, wo man Speiſen kochte.“
Um nun die Geſchichte der Kochkunſt,
deren Beginn dieſe Südſeeſage richtig an
die Feuerfindung anſchließt, darzulegen,
müſſen wir zunächſt zwei Arten der Speiſe—
bereitung mittelſt des Feuers unterſcheiden,
nämlich das Röſten oder Braten und
das Kochen oder Sieden.
Zum Sieden gehören Geſchirre, in
denen man ſiedet. Die Töpferkunſt iſt aber
eine verhältnißmäßig ſpäte Erfindung. Des-
halb iſt das bloße Röſten, d. h. das Er-
hitzen und Erweichen des Fleiſches unmit—
telbar an oder über dem Feuer ohne Ge—
ſchirre das ältere und urſprüngliche. Dies
geht noch daraus hervor, daß die niedrig—
ſten Menſchenſtämme, nämlich die Auſtralier,
die Feuerländer nebſt einigen anderen ſüd—
amerikaniſchen Stämmen und die Buſch—
männer, noch nichts vom Sieden und
Kochen wußten, auch nicht im Beſitz von
irgend welchem Töpfergeſchirr waren, als
die Europäer ſie zuerſt kennen lernten. So
erzählt uns Lichtenſtein von den Buſch—
männern, daß ſie Stücke Fleiſch einige
Minuten lang unmittelbar in die glühende
Aſche legten und ſie dann bedeckt mit Aſche
und geronnenem Blute, halb verbrannt und
halb roh, gierig hinunterſchlangen. Einen
Fortſchritt über dieſe Buſchmannsart hinaus
ſehen wir bei den Auſtraliern, welche die
Fleiſchſtücke auf Stäbe ſteckten und ſo ins
Feuer hielten und brieten. Sie hatten mit—
hin die Erfindung des primitiven Brat-
ſpießes gemacht. Man kann nicht ſagen,
daß ſelbſt dieſe beiden roheſten Arten zu
braten un mittelbar mit der Feuerfindung
gegeben geweſen ſeien. Irgend ein glück—
licher Zufall mußte erſt lehren, daß Fleiſch,
vom Feuer erhitzt, weicher und ſchmackhaf—
ter wird, und dann erſt begann man mit
Abſicht zu braten.
Aus dem Röſten über dem Feuer ver—
Form das ſogen. Bucaniren entwickelt.
Wenn nämlich Fleiſch viele Stunden lang
über einem gelinden Feuer bleibt, ſo wird
es zugleich geröſtet und geräuchert. Es
kommt dadurch in einen Zuſtand, worin
es ſich ſelbſt in den Tropenländern lange
Zeit hält. Dieſes Verfahren fand ſich in
ſchatka, in Afrika, im indiſchen Archipel
und auf den Pelew-Inſeln. Der Name
„Bucaniren“ kommt von
einem Worte einer braſilianiſchen Indianer⸗
ſprache. So nannten nämlich nach Jean
\
mittelſt des Bratſpießes hat ſich als dritte
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
Nord- und Südamerika, in Aſien in Kamt- |
Feuer entzündete.
boucan,
I
341
de Lery's Bericht vom Jahre 1557 die
Indianer ein aus Stöcken geflochtenes Git
ter, einen hölzernen Roſt, der auf vier
ſenkrecht in die Erde geſteckten, gabelförmi—
gen Pfählen lag. Auf dieſen Roſt wurde
das Fleiſch gelegt, und unter demſelben das
Feuer zum Bucaniren angezündet. Die
franzöſiſchen Jäger von San Domingo,
welche ſich deſſelben Verfahrens bedienten,
erhielten daher den Namen Boucaniers,
und von hier aus bekam dieſes Wort all—
mälig die Bedeutung eines unſtät umher—
ſchweifenden Jägers und Räubers und
wurde endlich, wie bekannt, ſpezielle Benen—
nung der ſpaniſchen Seeräuber des Oceans.
Auf Haiti war der Name für jenen höl—
zernen Roſt barbacoa, und dieſem Namen
verdankt das engliſche Wort to barbecue
ſeinen Urſprung, welches im heutigen Eng—
S
liſch freilich ſo viel heißt wie „ein ganzes
Thier auf einmal braten“.
Daß auch bei der Urbevölkerung Euro—
pas das Bucaniren im Schwange geweſen
ſei, könnte man aus dem noch heute bei
uns gebräuchlichen Verfahren des Räu-
cherns des Fleiſches ſchließen, welches
ja nichts anderes iſt, als eine weiter ent—
wickelte Form des Bucanirens.
Eine fünfte, bei weitem höhere Form
des Bratens, als die am primitiven Spieß,
und die deshalb von größter Bedeutung
iſt, weil von ihr aus der Uebergang zum
eigentlichen Kochen gemacht wurde, iſt die,
daß man ein Loch in die Erde grub, das
ſelbe z. B. bei den Polyneſiern mit Blät-
tern auskleidete, dann das Fleiſch oder die
Pflanzenkoſt hineinlegte, die Grube wieder
zuſchüttete und nun über derſelben ein
Dieſe Art, das Fleiſch
in einem Loch in der Erde zu braten, in
dem primitiven Erdofen, wie man es be
zeichnen könnte, fand ſich (abgeſehen von
vielen anderen Völkern) z. B. bei den Gu-
anchen der Canariſchen Inſeln und bei den
Auſtraliern. Auf Sardinien verfährt man
bisweilen ähnlich noch heutigen Tages.
der natürlich das Fleiſch oben ſtärker als
weiter nach unten gebraten wurde, war
dann ſechstens die, daß man in die
Grube ſelbſt unter und zwiſchen das
durch ein gleichmäßigeres Durchbraten er—
zielt wurde. Dieſe Verbeſſerung des
„Steinbratens“, wie ich es nennen
will, wandten an die Südſee-Inſulaner, die
Bewohner von Madagaskar, Süd- und
Nordamerikaner, viele Auſtralier und ſogar
heute noch oftmals die Beduinen.
Daß in Afrika manchmal die Eingebo—
renen einen großen Ameiſenbau ausräumen,
die Ameiſen tödten und dann die Lehm—
wände des Baues durch Feuer glühend
heiß machen, um zwiſchen denſelben
wie in einem Backofen ihre Rhinozeros—
keulen zu braten, iſt nur ein gelegentliches
Auskunftsmittel und im Prinzip von dem
bisher geſchilderten Verfahren nicht verſchie—
den, wie denn auch unſere Backöfen im
Prinzip nichts anderes ſind als die beſtän—
dig gemachten „primitiven Erdöfen“.
Die Entwickelung des Röſtens oder
Bratens hat demnach ſechs Stufen durch—
laufen: 1) das Röſten in der Aſche; 2) das
Röſten am primitiven Bratſpieß; 3) das
Bucaniren; 4) das Räuchern; 5) das Bra—
ten im Erdofen; 6) das Steinbraten.
Bei weitem intereſſanter als dieſe kurz
ſtizzirte Geſchichte des Röſtens iſt nun die
des eigentlichen Kochens, welche uns nach
den verſchiedenſten Seiten hin ungeahnte
Perſpectiven eröffnen wird. Wir werden
ſehen, wie die Kunſt, in einem Topfe zu
kochen, die uns jetzt ſo ſelbſtverſtändlich
L
Eine Verbeſſerung dieſer Methode, bei |
Fleiſch glühend gemachte Steine legte, wo- |
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
erſcheint, erſt das letzte Glied einer längeren
Entwickelungsreihe iſt, die langſam und
continuirlich, ohne Sprung und Eile, durch
kleinſte Unterſchiede hindurch endlich bis zu
jener höchſten Form des Kochens im
Topfe und damit zur Entwickelung von
Induſtrie und Kunſt uns führt.
Das Kochen iſt hervorgewachſen aus
jener Stufe des Röſtens, die ich das
Braten in einem Loch in der Erde nannte.
Wir ſahen, wie man zum gleichförmigeren
Durchbraten des Fleiſches heiße Steine mit
in die Erdgrube legte. Daraus entſtand
nun die niedrigſte Art des Kochens,
die auf der Erde überall verbreitet geweſen
iſt, und die in der Anthropologie den
Namen des „Steinkochens“ erhalten
hat. Um das Verfahren des Steinkochens
deutlich zu machen, will ich den Bericht
eines directen Beobachters mittheilen. In
Nord-Amerika giebt es einen Indianerſtamm,
mit Namen Aſſiniboins. Dieſer Name
bedeutet „Steinkocher.“ Catlin hat aus
eigener Beobachtung ihr Verfahren folgender-
maßen beſchrieben: Man gräbt ein Loch
in den Boden. An die Wände desſelben
wird ein hinlänglich großes Stück von der
friſchen Haut des zu kochenden Thieres an—
gedrückt. In dieſe ſo ausgekleidete und
nunmehr waſſerdichte Grube gießt man
Waſſer und legt das Fleiſch hinein. In
einem Feuer daneben werden Steine
glühend gemacht und dieſe ſo lange in die
Grube geworfen, bis das Waſſer ſiedet und
das Fleiſch gekocht iſt. — Das nicht eben
reinliche Verfahren iſt nach Catlin „unge—
ſchickt und langwierig.“ Als die Aſſiniboins
von den Europäern Töpfe kennen lernten,
gaben ſie es daher auf, „ausgenommen“,
wie Catlin ſagt, „bei öffentlichen Feſten,
wo ſie wie andere Glieder der menſchlichen
Familie Vergnügen daran zu finden ſcheinen,
ihre alten Gebräuche mit Vorliebe zu hegen
und zu verewigen.“ Nur bei den Auſtraliern
am untern Murray hat man beobachtet,
daß fie die Grube, ftatt fie mit der Haut
auszukleiden, mit Thon ausſtrichen. Um
des Vortheiles einer kurzen Bezeichnung
willen nenne ich dieſe unterſte Stufe des
Steinkochens
Grube.“
Der nächſte Fortſchritt, der gemacht wurde,
beſtand in der Einſicht, daß, da ja das
eigentliche, das Waſſer haltende Gefäß die
Haut in der Grube war, man eine Grube
gar nicht mehr zu graben brauchte. Wenn
man die Haut zwiſchen vier in den Boden
befeſtigten Pfählen muldenartig aufhing
und in dieſe Waſſer, Fleiſch und glühende
Steine legte, ſo erſparte man ſich die Mühe
des Grabens und kam raſcher zum Ziel.
Dieſes „Steinkochen in der Haut“ war
Brauch unter den Sioux- oder Dacota-
Indianern, die den Aſſiniboins nahe verwandt
ſind. Sie bedienten ſich zwar, als ſie mit
den Europäern zuerſt bekannt wurden, bereits
einer um einen Grad höheren Form des
Steinkochens, — die wir gleich kennen lernen
werden — indes ihre eigene Tradition
berichtete, daß ihre Väter das Steinkochen
in der Haut ausgeübt hätten.
in Aſien bei den Oſtiaken, den Renthier—
Koriaken und den alten Schythen dieſes
Verfahren urſprünglich im Schwange war,
geht aus den weiter unten mitzutheilenden
Berichten mit großer Wahrſcheinlichkeit
hervor.
Die höchſte Form des Steinkochens
entſtand folgendermaßen. Die älteſten Ge—
fäße, lange vor der Erfindung von Thon—
gefäßen, waren die Schalen von kürbis⸗
und melonenartigen Früchten, wie ſie als
Kalebaſſen in ganz Afrika noch heute in
Gebrauch ſind, dann auch die Schalen von
„das Steinkochen in der
Daß auch
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
343
Kokosnüſſen oder ſelbſt von Straußeneiern.
Allmählich traten hinzu korbartige Ge—
fäße, die aus Wurzeln und biegſamen Zweigen
ſo feſt geflochten waren, daß ſie ſogar als
waſſerdichte Gefäße dienten. Solche z. B.
aus den eng verwebten Wurzeln der Pech—
tanne geflochtenen Töpfe fertigten noch vor
wenig Jahren viele Indianerſtämme Nord—
Amerikas und heutzutage noch die Betſchu—
anen und Kafirn Süd-Afrikas. Endlich
bereitete man ähnliche Geſchirre aus zu—
ſammengenähter Baumrinde in Aſien und
Amerika, aus Palmenſpathen in Süd⸗
Amerika, aus geſpaltenem Bambus in Indien
und dem indiſchen Archipel, und natürlich
überall auch aus Holz, welches man napf—
artig aushöhlte.
Statt nun in der Erdgrube oder in
der Haut des Thieres mit Steinen zu
kochen, nahm man die bequemeren und
dauerhafteren Holzgefäße und warf in dieſe
die glühenden Steine hinein. Dieſe höchſte
Art des Steinkochens hat man nun als
die verbreitetſte in allen Erdtheilen entdeckt.
So an der Weſt-Küſte und in der ganzen
Nordhälfte von Nord-Amerika bei Indianern
und Eskimos; in Aſien bei den Kamtſchadalen,
welche, auch nachdem die Ruſſen ſie bereits
mit eiſernen Töpfen bekannt gemacht hatten,
noch lange Zeit hindurch das Steinkochen
in Holztrögen beibehielten, weil ſie der
Anſicht waren, die Speiſen geriethen ſchmack⸗
hafter, wenn ſie nach der alten Weiſe
bereitet würden. Auch Neuſeeländer und
die Bewohner vieler polyneſiſcher Inſeln
wie Tahiti, Anamuka, Huaheine, Mar-
queſasinſeln waren Steinkocher. Ja, die
Funde, welche man in Frankreich in der
Landſchaft Perigord, Departement Dordogne,
in der Cro-Magnon-Höhle gemacht hat,
laſſen nach Oscar Peſchel vermuthen, daß
auch die Bewohner Frankreichs zur Zeit,
344
als noch das Renthier in der Nähe der
Pyrenäen ſtreifte, alſo vor vielen Jahrtau—
ſenden, Steinkocher dieſer Art waren. Ja,
Ueberreſte dieſes uralten Verfahrens fanden
fi) ſogar noch in Europa im vorigen Jahr—
hundert. So machte Linné während ſeiner
berühmten lappländiſchen Reiſe im Jahre 1732
die Bemerkung, daß in Oſt-Bothland „das
finniſche Getränk, genannt Lura, wie anderes
Bier bereitet, jedoch nicht gekocht wird,
denn ſtatt deſſen wirft man glühende Steine
hinein.“ In Irland wurden noch um das
Jahr 1600 glühende Steine zum Er—
wärmen von Milch angewendet. Und
Edward Tylor meint, daß die große Menge
verkalkter Steine, die man in Europa an
den Stätten ehemaliger uralter Wohnſitze
findet, möglicherweiſe zum Steinkochen
gedient und daher ihren Kalküberzug hätten.
Das Steinkochen iſt in allen Fällen
eine langwierige Operation. Konnte man
denn nicht das Fleiſch mit Waſſer in
einem Gefäße unmittelbar über das
Feuer ſetzen, wie wir es jetzt thun? Aber
man hatte ja noch keine unverbrennbaren
Gefäße, weder von Thon, noch gar von
tetall. Nun kann aber jeder leicht ein
einfaches und lehrreiches Experiment machen.
Wir biegen die Ränder eines Kartenblattes
aufwärts, gießen Waſſer hinein und halten
dies ſo gefüllte Käſtchen über die Flamme
eines Lichtes. Die Flamme umzüngelt das
Kartenblatt; ſchnell beginnt das Waſſer
zu ſieden, ohne daß das papierne Keſſelchen
verbrennt. Wir nehmen ein Stückchen
Leder und verfahren mit ihm in gleicher
Weiſe: Der Verſuch gelingt auch da —
endlich kochen wir ſogar in einer Schachtel
aus dünnem Holz. Es verſteht ſich von
ſelbſt, daß dieſe Gefäße wenig dauerhaft
ſind, aber bis zu einem gewiſſen Grade,
vorzüglich wenn man ſie nicht unmittelbar
Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
der Flamme, ſondern nur der Hitze derſelben
oder der Gluth von Kohlen ausſetzt, ſind
ſie doch haltbar.
Nun, der erſte Fortſchritt, den der
Menſch vom Steinkochen aus machte, war
der, daß er ſeine Gefäße unmittelbar über
oder an das Feuer ſetzte. Dieſe Gefäße
waren aber bisher nur die zum Gtein-
kochen benutzten, alſo keine andren als die
muldenförmig aufgehängte Haut des Thieres
und hölzerne Gefäße. Daß ich Ihnen
kein Märchen erzähle, werden die Berichte
beweiſen. Von den Bewohnern der Heb—
riden erzählt George Buchanan im Jahre
1528: „In Nahrung, Kleidung und allen
häuslichen Dingen beobachten ſie die
Sparſamkeit der alten Zeit. Jagd und
Fiſcherei verſorgt ſie mit Fleiſch. Das
Fleiſch kochen ſie mit Waſſer im Wanſte
oder in der Haut des geſchlachteten
Thieres; auf der Jagd eſſen ſie es bis—
weilen roh, nachdem das Blut ausgepreßt
iſt.“ Die Oſtiaken Sibiriens kochten
das Blut in dem Wanſte des Thieres;
daſſelbe thaten die Renthier-Koriaken, und
Herodot erzählte uns von den Scythen, daß fie,
wenn ſie keinen geeigneten Keſſel hatten,
das Fleiſch des geopferten Thieres in deſſen
eigenem Wanſte zu kochen pflegten.
Von denſelben Oſtiaken, die wir ſoeben
als Hautkocher kennen gelernt haben, erzählt
der holländiſche Gefandte YJsbraud Ides
im Jahre 1710: daß er unter ihnen Keſſel
von zuſammengenähter Rinde geſehen habe,
„worin ſie über den glühenden Kohlen,
jedoch nicht in der Flamme des Feuers,
Speiſen kochen können.“ Madenzie erzählt
von einem, in der Nähe des Felſengebirgs
am Unijah oder Friedensfluße wohnenden
Indianerſtamm, daß ſie zum Steinkochen
Körbe gebraucht hätten, geflochten aus den
Wurzeln der Pechtanne, — „doch hatten
no
*
Schultze,
ſie auch Keſſel, aus Tannenrinde gefertigt,
die ſie über das Feuer hingen, jedoch in
einer ſolchen Entfernung, daß ſie die Hitze
empfingen, ohne von den Flammen erreicht
zu werden. Eine ſehr langweilige
Operation,“ fügt Mackenzie hinzu.
So werden noch heute in Süd-Amerika
Speiſen in Palmenſpathen gekocht; die
Bewohner von Sumatra und die Stiens
von Combodja kochen ihren Reis in geſpaltenen
Bambusſtücken; auf den Radakinſeln kocht
man in Kokosſchalen und ebenſo auf
Tahiti, nach Cool's Bericht.
Dieſe Holzgefäße waren natürlich nicht
feuerfeſt. Wie konnte man ſie vor dem
zu leichten Verbrennen bewahren? Dieſe Frage
trieb nun zu einem Fortſchritt, zwar einfach
in ſeiner Art und ſehr nahe liegend, wie
wir denken möchten, und doch gewaltig
und großartig in ſeinen Folgen. Wenn
man die korbartigen und die Holzgefäße
ringsum mit Thon beſtrich, ſo wurden ſie
ja durch dieſen Ueberzug gegen den verzehrenden
Einfluß der Flamme geſchützt, und eben
dieſe kleine Verbeſſerung, die nun ſchnell
zu einer neuen, bisher unbekannten Kunſt
führen ſollte, brachte man an. Im Jahre
1503 ſegelte Capitain Gonneville von
Honfleur ab, er landete an einer ſüdatlan—
tiſchen Küſte, wahrſcheinlich in Braſilien.
Dort fand er ein freundliches Volk fe: |
von Jagd, Fiſcherei und ein wenig Ackerbau
lebte; er beſchreibt ihre Mäntel aus Matten
und Häuten, ſchildert ihr Federwerk, ihre
Bogen und Pfeile, ihre Betten von Matten,
ihre Dörfer von 30—80 aus Pfählen
und Flechtwerk gebauten Hütten u. ſ. w.
Dann ſagt er: „Ihre Hausgeräthe ſind
von Holz, ſelbſt ihre Kochtöpfe, aber einen
guten Finger ſtark mit einer Art Thon
bedeckt, welcher das Feuer verhindert, ſie
zu verbrennen.“
Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
345
Daß wir nun in dieſem Beweis nicht
eine bloß vereinzelte Thatſache, ſondern
einen Hinweis auf den urſprünglichen Zuſtand
überhaupt beſitzen, haben die ſonſtigen
anthropologiſchen Forſchungen über die
Eutſtehung der Töpferei bewieſen. Goguet
war wohl der erſte, der im vorigen Jahr—
hundert die Anſicht aufſtellte, man ſei zur
Töpferei gelangt, indem man jene verbrenn—
lichen Gefäße, um ſie zu ſchützen, mit
Thon beſtrich, bis man fand, daß ja der
Thon allein genüge, und man nun die
Gefäße bloß aus Thon formte. Dieſe
Anſicht wurde beſtätigt durch die Unter—
ſuchungen, welche der Reihe nach Price,
Squierund Davis, PrinzMaximilian
von Neuwied, Klemm und Carl Rau
anſtellten, wobei es ſich ergab, daß auf der
erſten Stufe der Töpferei, wie ſie auf den
Fidſchi-Inſeln, bei den fortgeſchritteneren
Indianern Nord-Amerikas und anderwärts—
noch in hiſtoriſcher Zeit beſtand, die Geſchirre
weder aus freier Hand, noch gar mit der
Töpferſcheibe hergeſtellt wurden, ſondern
daß man den Thon über die Außenſeite
von Fruchtſchalen und von geflochtenen Körben
formte, oder auch die Innenſeite dieſer
Schalen und Körbe mit Thon ausſtrich,
und dann dieſelben entweder zuerſt an der
Sonne trocknete und darauf in's Feuer
ſetzte oder auch ſie gleich in's Feuer ſetzte.
In beiden Fällen verbrannten dann die
Schalen und Holztheile, alſo das eigentliche
Modell, während das bloße Thongeſchirr
blieb — und an dieſem blieben natürlich
die Eindrücke des Flechtwerks der
Korbmodelle, die nun als eine regelmäßige
Ornamentik das Thongefäß umgaben. Als
man ſpäter die Korbmodelle nicht mehr
gebrauchte, ſondern bereits aus freier Hand
formte, ahmte man gleichwohl noch die alte
Flechtwerk-Ornamentik nach, indem man
346 Schultze,
Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt.
flechtwerkartige Reihen von Nägeleindrücken alles ſich Entwickelnde auch der menſchliche
an der Außenſeite des Gefäßes eingrub.
So erklärt ſich das häufige Vorkommen
dieſer flechtwerkartigen Zierrathe auf den
älteſten Urnen und Geſchirren. French
hat, indem er das angegebene Verfahren
einſchlug, ſowohl Geſchirre als die Orna—
mentik davon ganz den alten Geſchirren
und ihren Ornamenten ähnlich hergeſtellt.
Die Entwickelung war alſo dieſe: Von
bloßen verbrennlichen Fruchtſchalen und
Holzgefäßen kam man zu Holzgefäßen mit
Thon überzogen — dann zu bloßen Thon—
gefäßen. Dieſe wurden zuerſt über Modelle
geformt, ſpäter aus freier Hand gebildet,
bis endlich durch die Erfindung der Töpfer—
ſcheibe ein Werkzeug gewonnen wurde,
das nun die Herſtellung der vollendetſten
Gefäße ermöglichte.
Um nun auf die Kochkunſt zurückzu-
kommen, ſo durchlief dieſe demnach die
folgenden ſechs Stufen: Der Uebergang
vom Braten zum Kochen wurde gebildet
durch das „Braten mit heißen Steinen in
der Erdgrube.“ Die erſte Stufe des Kochens
war dann „das Steinkochen in der mit
der Haut des Thieres ausgekleideten Grube.“
Die zweite Stufe war: „Das Stein—
kochen in der Haut allein.“ Die dritte
Stufe: „Das Steinkochen in geflochtenen
oder gehöhlten Holzgefäßen.“ Die vierte:
„Das Kochen ohne Steine unmittelbar
über oder an dem Feuer in der Haut oder
in Holzgefäßen.“ Die fünfte: „Das
Kochen in den mit Thon beſtrichenen Holz—
gefäßen.“ Die ſechſte Stufe: „Das
Kochen in bloßen Thongefäßen,“ an die
fi viel ſpäter dann die Metallgefäße
anſchließen.
Wenn die Ihnen vorgeführte Ent—
wickelung ſchon pſychologiſch intereſſant iſt,
inſofern ſie das Geſetz beſtätigt, daß, wie
Bedürfniß des Lebens dienten.
Geiſt ganz langſam und allmählig, aus
den kleinſten Anfängen heraus, ganz ohne
jähe Sprünge ſich entfaltet, ſtets anknüpfend
an das Vorhergehende, zur Zeit immer
nur ein wenig durch kleinſte Unterſchiede
hindurch fortſchreitend, und daß ſo aus
dem kleinen Keime zuletzt jenes wunder—
bare Geiſtesweſen bis zum Genius hin ſich
erhebt, ſo erweckt doch dieſe Entwickelung
noch mehr Intereſſe, wenn wir den weitern
Verlauf und die ſecundären Folgen derſelben
einmal raſch beleuchten.
Der Ausgangspunkt der ganzen ee
wickelung des Kochens war das Loch in
der Erde, in dem man zuerſt nur briet,
dann mit Steinen briet, zuletzt mit Steinen
kochte. Das Ende der Reihe iſt das
erſte fertige Töpfergeſchirr. Aber dieſes
erſte Töpfergeſchirr iſt wieder nur der Anfang
einer anderen gewaltigen Reihe. Aus dem
erſten rohen Topfe wurden allmählig feinere
Gefäße, Schalen, Urnen bis hin zu jenen
prächtigen Vaſenformen, die das Alterthum
auf der Höhe ſeiner Kunſtentwickelung
hervorbrachte und die Neuzeit mit Geſchick
nachbildet. Zuerſt formte man den Thon
nur zu Gefäßen, die dem unmittelbaren
Aber in
dieſer Arbeit um das tägliche Brot wurde
die Hand allmählig geſchickter, das Auge
geübter. Man ſah der Natur neue Formen
ab, man begnügte ſich nicht mehr nur
Töpfe zu formen, man bildete aus dem
Thon nun auch Geſtalten von Thieren und
Menſchen. Und ſo ſehen wir zuletzt aus
dem Töpfer den Thonmodelleur, aus ihm
den Bildhauer werden, der uns endlich jene
wonnigen Göttergeſtalten hervorzaubert, vor
denen wir noch jetzt mit andächtiger Be—
wunderung als vor unerreichbaren Meiſter—
werken der Kunſt uns beugen. Es iſt kein
wurde ihm die Haut abgezogen.
Schultze, Die Entſtehungsge
Paradoxon, es iſt eine Thatſache: Einer
der Ausgangspunkte für die Entſtehung
der höchſten Formen der plaſtiſchen Kunſt,
abgeſehen natürlich von allen anderen, iſt
jenes „Loch in der Erde.“ So hat die
Kochkunſt nicht bloß den phyſiſchen Hunger
geſtillt, ſondern auch mitgeholfen an der
Befriedigung der aeſthetiſchen Bedürfniſſe
des Menſchen.
Aber noch eine andere Perſpective können
wir in dieſer Hinſicht eröffnen. Bei der
Zubereitung eines Thieres zum Kochen
Wenn
man nun dieſe Haut wieder in der Weiſe
zuſammenlegt, wie ſie den Körper des Thieres
bekleidet und ſie mit irgend einem Stoff
z. B. Moos ausfüllt, in der Art, wie unſere
Thierausſtopfer verfahren, ſo ſtellt ſich die
Geſtalt des Thieres wieder her. Wenn
man nun die Haut des Thieres auf dem
Boden ausbreitet und ein Stück dünnes,
biegſames blechartiges Metall, etwa Gold—
blech, genau nach den Umriſſen dieſer Thier—
haut zuſchneidet und darauf dieſes Blech
ſo zuſammenlegt wie vorher die Haut beim
Ausſtopfen, ſo erhält man natürlich in
Blech nachgebildet die Geſtalt des Thieres
wieder, die ſich auch ohne
durch die Elaſticität des Metalls in pla—
ſtiſcher Wölbung erhält. Daß es nun eine
Stufe der Kunſt gegeben hat, wo man
nach dem Modell der Thierhaut die Thier
geſtalten bildete, bewieſen die ganz ohne
Zweifel auf die beſchriebene Art herge—
ſtellten, noch vorhandenen rohen Thiernach-
bildungen, wie z. B. das germaniſche Mu—
ſeum in Jena eine aufbewahrt.
noch einen Einblick in die Entſtehung eines
Zweiges der plaſtiſchen Kunſt. Ob man
etwa auch den Fortſchritt machte, die er—
haltene hohle, blecherne Form zum Eingießen
Füllung
können wir alſo auch ſie als wahrhaft
So ge |
währen uns die Manipulationen der Küche
flüſſigen Metalls und alſo zur Herſtellung
ſolider, gegoſſener Thiergeſtalten zu be—
nutzen, iſt mir nicht bekannt, iſt aber an
ſich nicht unwahrſcheinlich.
Ein anderes: Unſer modernes Leben
in der Eigenthümlichkeit, die es von dem
aller vorhergehender Zeiten unterſcheidet,
baſirt auf unſerer wunderbaren Induſtrie
und dem ſtaunenerregenden Handels- und
Verkehrsweſen. Dieſer ganze großartige
Aufſchwung iſt aber erſt entſtanden durch
die Erfindung der Dampfmaſchine und des
Dampfkeſſels, und dieſe Erfindung führt
die Sage zurück auf einen Kochtopf, deſſen
hüpfender Deckel jenen erſten Erfinder auf
den Gedanken brachte, die Kraft des
Dampfes zu techniſchen Zwecken zu ver—
werthen. Ein Kochtopf war es, der
die Welt völlig veränderte, iſt doch auch
der heutige Dampfkeſſel nichts anderes als
ein großer Kochtopf.
topf, wiſſen wir, führt ſeinen Urſprung
zurück auf jene primitive Kochgrube im
Boden, ſodaß wir in etwas paradoxer
Redewendung ſagen könnten, „jenes Loch
in der Erde“ ſei einer der Keimpunkte
unſerer Induſtrie und unſeres modernen
Lebens. Wie vorhin die plaſtiſche Kunſt,
Erdgeborne betrachten.
Daſſelbe Schlaglicht ſehen wir auf die
Chemie fallen. Die Retorte, dieſes Univerſal—
inſtrument des Chemikers, iſt auch nur ein
Abkömmling des Kochtopfes, welchen der
Alchemiſt,
„Der in Geſellſchaft von Adepten
Sich in die ſchwarze Küche ſchloß,“
allmählich zu der heutigen Retortenform
umbildete. Und ſo kann auch die Chemie
ihr Autochthonenthum nicht leugnen.
Ja, ſelbſt die Muſik hat der Küche
etwas zu verdanken. Ich meine nicht die
Aber dieſer Koch-
5
348
lieblichen Weiſen, die der ſiedende Keſſel
ſummt, und die ſo reizend von Dickens
in ſeinem herzigen „Heimchen am Heerd“
beſchrieben ſind, — es iſt ein roherer Klang,
ein roheres Inſtrument, das der Küche
entnommen und heute der Muſik unent—
behrlich geworden iſt, ich meine die Trommel.
In der That iſt die Trommel urſprünglich
nichts geweſen als ein Holzgefäß, mit einer
Thierhaut überſpannt. Beweis dafür die
noch heute in Afrika gebräuchlichen trommel—
artigen Lärminſtrumente bei Eskimos und
vielen Indianern.
der Keſſelpauken,
ihren plebejiſchen Urſprung hin.
Die Wiſſenſchaft hat uns gelehrt, daß
wunderbaren Formen entſtehen,
Organismen nennen, und deren complicirtes
Der Unkundige entdeckt zwar
einem entwickelten Organismus
vorlegt.
zwiſchen
er findet es wohl gar unglaubhaft, daß
jene complicirten Gebilde aus mikrofkopi—
ſchen Körperchen erwachſen ſein ſollen. Aber
Schultze, Die Entſtehungs
Ja, der Name der
höchſten Ariſtokratie in der Trommelwelt,
deutet noch heute auf
aus einfachen Zellen heraus allmählig jene
die wir
Weſen dem Forſcher ſtets neue Probleme
und der einfachen Zelle keine Aehnlichkeit;
geſchichte der Kochkunſt.
der kundige Forſcher zeigt ihm Stufe für
Stufe der Umbildung und ſtellt ſomit den
Zuſammenhang zwiſchen der einfachſten
Geſtalt der Zelle und dem verwickelten
Organenkomplex als eine unleugbare That-
ſache feſt. Jenes „Loch in der Erde“ iſt
auch eine ſolche einfache Zelle. Wir haben
die Entwickelung derſelben verfolgt, und
wenn es auch unſere Bewunderung erregt,
ſo wird es uns nun doch nicht mehr Wun—
der nehmen, daß großartige Culturgebilde
einen ihrer Keimpunkte, abgeſehen natür-
lich von vielen anderen Keimpunkten, in
jener einfachen Zelle haben, welche der
Menſch in Urzeiten zur Stillung ſeines
Hungers in die Erde grub, und die ſeine
erſte Küche bildete.
Unter dem forſchenden und keine Er—
ſcheinung gering achtenden Blicke der mo—
dernen Anthropologie wirft die Kochkunſt
ihr von Rauch und Ruß geſchwärztes
Aſchenbrödelgewand plötzlich ab, und phönix—
artig hebt ſie ſich zu einer mächtigen
Königin empor. Wer wollte aber einer
Königin den Zutritt in den Tempel der
Wiſſenſchaft verſagen?! —
Kleinere Mittheilungen.
Die Lücken der Kant'ſchen
Weltbildungs-Theorie.
*
|
ieſe Theorie zeigt, wie Freiherr du
rel im vorigen Hefte nachwies,
eine Reihe weſentlicher Lücken, von
denen keine ſo empfindlich erſcheint, als
die Ungewißheit, durch welche Kraft der erſte
Anſtoß zur Rotation der einzelnen Syſteme
hervorgebracht ſein könnte. Der Referent
hatte ſeine Meinung ſchon früher dahin ausge—
ſprochen, daß dieſe Kraft in einem durch
die Anziehungskraft hervorgerufenen excen—
triſchen Stoße geſucht werden müſſe, und
freut ſich, eine ausführliche Begründung
dieſer Meinung in einer Abhandlung zu
finden, die von Mr. Jacob Ennis im
Philosophical Magazine (Vol. III. Nr. 18.
April 1877) veröffentlicht worden iſt, und
von der wir im Folgenden einen kurzen
Auszug geben.
Durch Zuſammenziehung des in dem un—
endlichen Raume vertheilt geweſenen gas—
förmigen Weltſtoffes mußte eine unendliche
Anzahl getrennter, nebelförmiger Maſſen ſich
bilden und, ähnlich den Wolken in unſerer
Atmoſphäre, mußten ſie von ungleicher Größe
und Geſtalt ausfallen, und ſich in unregel—
mäßigen Entfernungen von einander befin—
den, wie dies ſchon Newton erörtert hat.
Durch die Wirkung der Gravitation werden
ſodann diejenigen, welche einander nahe waren,
in einander gefallen ſein, bis die entſtandenen
Maſſen ſoweit von einander entfernt wa—
ren, daß ſie außerhalb der Grenzen merk—
licher Gravitation gegen einander lagen.
So lange aber ein Nebel in einen andern
fiel, konnte er niemals in der Richtung
des Gravitationscentrums fallen, weil er
ſich gleichzeitig unter dem Einfluſſe anderer
benachbarter Nebel befand, welche ihn von.
der direkten Richtung abzogen, und Vverur-
ſachten, daß er ſchräge auffiel. Wenn wir
eine ſchwebende Kugel in der Richtung des
Mittelpunktes anſchlagen, ſo fliegt ſie ge—
radeaus vorwärts, wenn wir ſie aber ſchräg
anſchlagen, dann wird ſie ſich drehen. Ein
ähnlicher Effekt muß durch das ſchräge
Gegeneinanderfallen der Nebel entſtehen,
nur daß die Drehung ſich hier nicht ſo—
gleich der ganzen Maſſe gleichmäßig mit—
theilen, ſondern vielleicht ſehr langſam von
außen nach innen dringen wird, ſo daß erſt
ſehr ſpät dieſe Anfangsbewegung auf die
geſammte Maſſe vertheilt und natürlich ent—
ſprechend verlangjamt werden wird.
Wie langſam aber auch dieſe Rotation
dadurch geworden ſein mag, daß ſie auf
die geſammte Maſſe übergegangen iſt, durch
die Gravitationskraft wird ihre Geſchwin—
digkeit wieder beſchleunigt werden, bis an
der Aequatorialzone die Centrifugalkraft
Kleinere Mittheilungen.
der centripetalen gleich geworden. Bei der
Zuſammenziehung der langſam rotirenden
Nebelkugel wird nämlich jedes Oberflächen—
theilchen ſich in der Richtung einer geneig—
ten Ebene bewegen, und die Gravitation
wird ſeine Bewegung beſchleunigen. Die
Zunahme der Geſchwindigkeit für jeden
einzelnen Punkt der Oberfläche iſt gleich
der, welche er bei einem direkten Fall von
dem früheren Abſtande vom Mittelpunkte zu
dem neuen Abſtande erreichen würde. Wenn
z. B. von der Drehungsgeſchwindigkeit unſres
Sonnennebels, als er ſich noch bis zur
Neptunsbahn erſtreckte, ausgegangen wird,
Geſchwindigkeitsvermehrung,
ſo wird die
welche durch die Zuſammenziehung bis
zur Uranusbahn erzielt wird, dieſelbe ſein,
wie die, welche durch einen direkten Fall
durch den zwiſchen dieſen beiden Bahnen
befindlichen Raum erzeugt werden würde.
Die Rechnung ergiebt, daß die reſpektiven
Geſchwindigkeiten des Neptun und Uranus
ziemlich genau in dieſem Verhältniſſe ſtehen,
nur iſt die des letzteren etwas geringer,
weil beſtändig ein Theil der äußeren Ge—
ſchwindigkeit durch Reibung gegen die lang—
ſamer rotirende innere Maſſe
ging.
Man findet
daß dieſe Beſchleunigung groß genug iſt,
und ſogar mehr als ausreichend, um in
dem äußern Theile einer Nebelmaſſe eine
ſolche Rotationsgeſchwindigkeit zu erzeugen,
daß die Centrifugalkraft der centripetalen
gleich wird, ſodaß ſich Nebelringe von der
Aequatorialzone loslöſen. Indeſſen wird
dieſe Beſchleunigung immer mehr durch die
Reibung gegen die innere Maſſe verzehrt,
je mehr man ſich dem nicht rotirenden
Centrum der ganzen Maſſe nähert. Daher
kommt es, daß die Sonne, deren Aequa—
torialgeſchwindigkeit,, als fie ſich noch bis
ferner durch Rechnung,
|
verloren
Mondringe abgeſchleudert haben;
zur Merkursbahn erſtreckte, 110000 engl.
Meilen pro Stunde betrug, jetzt nur noch
4500 Meilen beträgt, und es erklärt ſich
ferner dadurch leicht, weshalb kein neuer
Planetenring innerhalb der Merkursbahn
abgeſchleudert worden ſein kann. Dieſe dem
urſprünglichen Zuſtande entſprechende Ruhe
im Innern der Nebelmaſſen bildet, wie man
ſieht, ein wichtiges Moment dieſer nach
vielen Richtungen fruchtbaren Vertiefung
der Nebeltheorie.
Da die Theile des abgelöſten planeta—
riſchen Ringes eine ungleiche Geſchwindig—
keit beſitzen, ſo erklärt ſich wohl im All—
gemeinen, wie durch die Zuſammenziehung
derſelben zu einer Kugel eine Rotation der
geſchwinder bewegten Theile um die langſame—
ren, alſo des Weltkörpers um ſich ſelbſt, ent—
ſtehen mußte, aber der Umſtand, daß aus
jedem Ringe nur ein Planet entſtand,
ſcheint noch nicht hinreichend erklärt zu
ſein. Sehr wohl aber erklärt ſich aus die
ſer Theorie, weshalb nur die größeren
Planeten zum Theil in häufiger Wiederholung
die Ne⸗
belmaſſe der Erde reichte gerade noch aus,
um durch ihre eigene Zuſammenziehung die
dazu nöthige Aequatorialgeſchwindigkeit zu
erzeugen; bei Mars, Venus und Merkur
fand dieſer Prozeß nicht mehr ſtatt, weil die
Maſſe nicht hinreichend groß genug war.
Die Venus iſt zwar nur etwa um die
Mondmaſſe kleiner, als die Erde war, da
der Mond ihr noch zugehörte, aber dieſer
Unterſchied reichte gerade aus, um uns den
Mond zu geben, der ihr fehlt.
Am Schluſſe ſeiner Abhandlung ſtellt
Jacob Ennis noch folgende, für die Kos—
mogenie im weiteren Sinne wichtige Sätze
auf. 5
1. Ein ſehr ausgedehnter Nebel,
deſſen urſprüngliche Rotation ſeine ganze
e
Maſſe durchdringt, kann eine Centrifugal—
kraft erlangen, um faſt alle ſeine Materien
weit ab von ſeinem Centrum zurückzulaſſen;
und wie die Contraktion fortſchreitet, werden
ſeine Ringe zerbrechen, und ſich zu Sternen
kondenſiren, die ein ringförmiges Syſtem
bilden, ähnlich dem in der Leyer, oder
ähnlich unſerem eigenen Fixſternſyſtem, deſſen
Sterne hauptſächlich in dem Milchſtraßen—
ringe liegen.
2. Ein Nebel mit einem anfänglich
geringeren Rotationswerthe in ſeinem
Innern wird ſeine hauptſächlichſten Maſſen
nicht ſo weit vom Centrum zurücklaſſen.
Aber es konnte dann eine gleichmäßigere
Vertheilung vom Mittelpunkte zum Um—
fange ſtattfinden, und ein Sternſyſtem ent—
ſtehen, welches aus großer Entfernung als
ſogenannter planetariſcher Nebel erſcheint.
3. Ein Nebel mit einer noch geringe-
ren Größe urſprünglicher Rotation in ſei—
nem Innern wird eine noch geringere
Maſſe ſeiner Subſtanz an der Peripherie,
eine größere Menge hingegen in der Nähe
des Centrums zurücklaſſen, und wird ein
Sternſyſtem mit ſehr vielen, gegen das Cen-
trum dichter ſtehenden Sternen bilden.
Wird ein ſolches Syſtem ſchräge von uns |
geſehen, jo wird es ein „elliptiſcher Nebel“
genannt.
4. Ein Nebel mit einer nur ſeichten
Oberflächen-Rotation im Anfange wird den |
größten Theil feiner Maſſe in einem gro—
ßen Centralkörper ſammeln. Seine zurück—
gelaſſenen Ringe können zwar Millionen
von Sternen bilden; aber aus ſehr großer
Entfernung werden ſie als Nebelmaſſe
rings um einen großen Centralkörper er—
ſcheinen. Ein ſolches Sternſyſtem werden
wir einen „Nebelſtern“ nennen.
Nicht alle Sternſyſteme, die durch die
Wirkung der Gravitation auf langſam ſich
Kleinere Mittheilungen.
351
Nebelmaſſen
zuſammenziehende
wurden, brauchen regelmäßige runde oder
gebildet
elliptiſche Formen zu haben. So kön—
nen Millionen von einzelnen Sonnen um
ihr gemeinſames Gravitationscentrum krei—
ſen, aber unregelmäßig liegen, gerade ſo
wie unſer Sonneuſyſtem aus der Entfer—
nung als ein ſehr unregelmäßiger Stern—
haufen erſcheinen muß. Zum Schluſſe er—
klärt ſich Ennis als Anhänger der
Lockyer'ſchen Hypotheſe, nach welcher die
urſprünglichen Nebel für ungeheure chemiſche
Laboratorien angeſehen werden müſſen, in
denen ſich die Modifikationen der Materie,
die wir als die ſogenannten Elemente be—
trachten, erſt bilden.
Ein neues Schnabelthier auf
Neu-Guinea.
Die bisher aus nur drei Vertretern
gebildete Klaſſe der niederſten Säugethiere
iſt durch die Ermittlung einer neuen, auf
Neu⸗Guinea vorkommenden Art durch Herrn
Bruijn auf der Inſel Ternate um ein
Haupt vermehrt worden. Herr Bruijn
hat zwar das Thier weder lebend, noch todt
geſehen, aber ſeine Sammler haben von
den Gebirgs-Papua's zwei Schädel er—
halten, von denen dem einen noch Reſte
verrotteten Fleiſches anhafteten, zum Be—
weiſe, daß das Thier nicht etwa bereits
ausgerottet iſt. Auch verſicherten die Ein—
gebornen, daß das hundegroße, rauhhaarige
Thier in den Höhlen der Arfak-Berge nicht
ſelten ſei, und von ihnen ſeines Fleiſches
wegen zuweilen gejagt werde. Auf Grund
des freilich etwas defekten und der untern
Kinnlade entbehrenden Schädels, deſſen Ab—
bildung wir nachfolgend derjenigen des auſtra—
„% wer
Kleinere Mittheilungen.
.
.
>>
Schädel des auſtraliſchen
Landſchnabelthieres.
liſchen Landſchnabelthieres gegenüberſtellen, Thieres mit den neuholländiſchen Landſchnabel—
haben Dr. W. Peters und Marquis G. thieren feſtgeſtellt, daſſelbe aber wegen der
Doria in Genua die Verwandtſchaft des ſchon bei oberflächlicher Vergleichung hervor—
Kleinere Mittheilungen. 303
tretenden Abweichungen als beſondre Art |
unterſchieden und Tachyglossus (Echidna)
Bruijnii getauft: Sie verwerfen nämlich
den Namen Echidna, weil derſelbe bereits
1778 von Foſter einer Fiſchgattung bei—
gelegt worden war. Die wiſſenſchaftliche
Beſchreibung iſt im neunten Bande der
Annalen des ſtädtiſchen naturhiſtoriſchen
Muſeums von Genua enthalten. Die Ent—
deckung iſt nicht allein für die vergleichende
Anatomie von hohem Intereſſe, ſofern es
ſich um ein neues Glied der ſo ſehr dezi—
mirten Thiergruppe handelt, welche Reptile,
Vögel und Säugethiere mit einander zu
verknüpfen ſcheint und möglicherweiſe be—
merkenswerthe Aufſchlüſſe für die Trans—
mutations⸗Theorie liefern kann, ſondern noch
ganz beſonders für die Thiergeographie.
Von den drei bisher bekannten Kloaken—
thieren lebt das Waſſerſchnabelthier im
Südoſten Auſtraliens, das langſtachlige
Landſchnabelthier ebendaſelbſt und das kurz—
ſtachlige auf Vandiemensland. Während
alſo aus dem Innern, dem Norden und
Weſten Auſtraliens kein hierher gehöriges
Thier bekannt geworden iſt, ſchließt ſich
dreißig bis vierzig Grade nach Norden den
ſüdlichen Arten eine nördliche an und er—
weckt Hoffnungen, daß auf dem großen
Zwiſchengebiete in Zukunft noch ein oder
das andere Mitglied des zuſammenge—
ſchmolzenen Uebergangsſtammes anzutreffen
ſein möchte. Außerdem iſt obiger Fund
ein weiterer eklatanter Beweis für die
Richtigkeit der Auffaſſung, die Auſtra—
lien mit Neu-Guinea und den benachbarten
kleineren Inſeln längſt als ein beſondres
zoologifches Reich betrachtet hatte, welches
ſich merkwürdig ſcharf gegen das der (zum
Theil ſehr nahen) Sunda⸗Inſeln abgrenzt.
Die Grannen von Ariſtida.
Das Hochland der Provinz Santa
Catharina iſt reich an Gräſern mit dreh—
baren Grannen. Auf zwei Ausflügen da—
hin, im Vorſommer (November, December)
des vorigen und im Nachſommer (Februar, 65
März) dieſes Jahres habe ich gegen zwan—
zig Arten ſolcher Gräſer geſehen. Indem
die Grannen je nach der wachſenden oder
abnehmenden Feuchtigkeit der Luft ſich rechts
oder links drehen, bohren ſich die unten
mit harter, ſcharfer Spitze und einem ſchief
aufwärts gerichteten Barte ſteifer Haare
verſehenen Aehrchen in den Boden ein,
wie es Francis Darwin vor kurzem
bei Stipa ausführlich beſchrieben hat
(Trans. Linn. soc. vol. I. part. 3.
p. 149. 1876). — Unter dieſen Gräſern
unſeres Hochlandes finden ſich auch mehrere
Arten der Gattung Aristida, bei wel-
chen die das Einbohren in die Erde ver—
| mittelnden Einrichtungen den höchſten Grad
der Vollkommenheit erreichen. Es iſt näm—
lich bei ihnen die Granne mehr oder we—
niger tief, bisweilen faſt in ganzer Länge,
in drei Aeſte geſpalten, die ſich beim Trock⸗
nen ziemlich wagerecht ausbreiten (den Sa—
men ſenkrecht ſtehend gedacht). So kann
das trocken zu Boden fallende Aehrchen
niemals flach auf denſelben zu liegen kom—
men, was natürlich das Einbohren erleich-
tert. Je länger im Verhältniß zur Frucht
und zum ungeſpaltenen Theile der Granne
deren Aeſte ſind, um ſo ſteiler wird ſich
daſſelbe ſtellen müſſen; faſt ſenkrecht ſteht
es bei einer Art, deren Grannenäſte etwa
Spannenlänge (0,2 M.) erreichen. Man hat
oft Gelegenheit, die in den Boden einge—
bohrten Früchte dieſer Art zu ſehen. Am
7. März kam ich auf der nordwärts nach
der Provinz Parana führenden Straße in
354 Kleinere Mittheilungen.
der Nähe des Rio das Pedras an einen
kahlen, dürren Abhang, der faſt ausſchließ—
lich mit dieſer Aristida bewachſen war.
In Folge anhaltender Dürre war der
Boden ungewöhnlich hart und ſeit Monaten
nicht von Regen benetzt worden, und doch
war — ein ganz eigenthümlicher Anblick —
die Erde zwiſchen den Grasbüſchen wie beſät
mit eingebohrten Früchten, die alleſammt ſenk—
recht ſtanden und die langen Grannenäſte
wagerecht ausbreiteten. Hier und da ſproß—
ten ſchon die jungen, grünen Grasblättchen
an der Seite der Grannen hervor. Auf
der Erde liegend würden an ähnlichen
Stellen bei trockenem Wetter die Samen
nie keimen können, während der Thau der
Nacht genügt, ſie in die zum Keimen hin—
reichende Feuchtigkeit bietende Erde einzu—
ſenken. Unſerem feuchten Küſtengebiete
ſcheinen Samen mit Drehgrannen ganz zu
fehlen. Dagegen iſt wohl die ganze Gat—
tung Stipa vorzugsweiſe in übertrockenen
Gegenden und an übertrockenen Standorten
heimiſch.
Merkwürdig iſt es, daß eine der Ari—
ſtida-Arten die hochentwickelten Formen zum
Einbohren der Früchte wieder verloren und
ſich in ganz eigenartiger Weiſe der Ver—
breitung durch den Wind angepaßt hat.
Der dünne Halm dieſes Graſes wird etwa
ſpannenhoch und trägt vom erſten Drittel
ſeiner Höhe ab paarweiſe geſtellte, in ver—
ſchiedenen Richtungen ſich ausſpreizende,
gegen 0,1 M. lange, haardünne Aeſte,
welche ihrerſeits in gewöhnlich zwei bis
drei Zweige ſich theilen. Jeder Zweig
trägt ein dünnes Aehrchen, das Aehrchen
gegen 12 Millim. lang, eine ungefähr
gleich lange, ungedrehte, gerade Granne
mit ſeitlichen, nur etwa ein Viertel dieſer
Länge erreichenden Aeſten, die mit dem
mittleren Aſte einen ganz ſpitzen Winkel von
nur wenigen Graden bilden. Im Ganzen
ſind etwa ſechs Hauptäſte des Halmes und
24 bis 30 Aehrchen vorhanden. Zur Zeit
der Reife fällt nun der ganze Halm ab
und wird vom Winde über die Grasfluren
(Campos) hingetrieben. In Fußpfaden
fand ich hier und da völlige Heuſchichten
dieſer ſparrig veräſtelten Ariſtida-Halme zu⸗
ſammengeweht. Die Aehrchen ſcheinen ſich
nie von den Halmen zu löſen. Bricht
man fie ab, jo ſieht man noch die für
bohrende Samen ſo bezeichnende Spitze
mit dem Barte ſchief aufwärts gerichteter
Haare, als Beweis, daß die Vorfahren
auch dieſer Ariſtida einſt das Vermögen
ſich einzubohren beſaßen.
Itajahy, April 1877.
Fritz Müller.
Ueber den Mutzen der Blattdrüfen
für die Pflanzen
hat Herr Francis Darwin in jüng⸗
ſter Zeit in verſchiedenen engliſchen Jour⸗
nalen eine Reihe intereſſanter Studien und
Betrachtungen veröffentlicht, aus denen wir
zuſammenfaſſend das Folgende entnehmen.
Durch die Unterſuchungen ſeines Vaters
über inſektenfreſſende Pflanzen auf dieſes
noch viele Ausbeute verſprechende Feld ge—
lenkt, hatte es ſein Erſtaunen erregt, daß
der Adlerfarn (Pteris aquilina), der in
England äußerſt wenig Feinde zu beſitzen
ſcheint, an der Baſis ſeiner jungen Wedel
reichlich mit Honig ausſondernden Drüſen
beſetzt iſt, welche Ameiſen, insbeſondere
Myrmica-Arten, anlocken, ohne daß dadurch
irgend ein Vortheil für das Gewächs er—
reicht zu werden ſcheint.?) Der Nutzen,
) Linnean Society's Journal Bd. XV.
Kleinere Mittheilungen.
einer ſolchen Einrichtung kann indeſſen oft
ſehr verſteckt ſein, wie das klaſſiſche, von
Obriſt Newmann aufgeſtellte Beiſpiel
des Nutzens der Hauskatze für das Samen—
tragen des rothen Klees (durch Vertilgung
der Feldmäuſe als Hauptfeinde der die
Befruchtung vermittelnden Hummeln) be—
weiſt. In der That theilte Dr. Fritz
Müller dem Genannten hinſichtlich des
auch in Brafilten einheimiſchen Adlerfarns
mit, daß die Honigausſchwitzungen deſſel—
ben ohne Zweifel dazu dienen, die jungen
Wedel vor den Angriffen einer blattzer—
freſſenden Ameiſe (Oecodoma) zu ſchützen,
wie etwas Aehnliches bei der Paſſions—
blume, der Luffa und vielen anderen Pflan
zen nach den Beobachtungen von Delpino,
Belt und Fritz Müller ſtattfindet.
Die Drüſen des braſilianiſchen Adlerfarns
werden nämlich eifrig von einer kleinen,
ſchwarzen Ameiſe (Crematogaster) beſucht,
mit welcher die Erſtgenannte auf dem
Kriegsfuße lebt. Dr. Fritz Müller
beobachtete ſelbſt, daß wenn jene für den
geſpendeten Honig anſcheinend Wächter—
dienſte verrichtende Ameiſe nicht auf dem
Poſten war, die Oecodoma erſchien und
das junge Laub zernagte. Hier wie in
ähnlichen Fällen iſt es nur das junge
Laub, welches eines ähnlichen Schutzes
bedarf, der ältere Wedel kann ohne Gefahr
feine Drüſen einbüßen, weil er keine Lieb—
haber mehr findet. Francis Darwin,
indem er dieſen Brief mittheilt*), bemerkt,
daß ſich allerdings annehmen laſſe, der
Adlerfarn könne in einem Lande zuerſt
aufgetreten ſein, wo er der Ameiſen oder
anderer Thiere als Schutzwachen bedurfte,
aber er hält es mit feinem Vater!“) für
) Nature No. 397, June 1877.
) Die Wirkungen der Kreuz- und Selbſt—
befruchtung. Deutſche Ausgabe, 1877, S. 389.
wahrſcheinlicher, daß die Abſonderung von
Zuckerſäften durch die Blätter und Stengel
mit irgend einem unbekannten Ernährungs-
vorgange in Verbindung ſtehe und ſich
allerdings einigemale zur Anlockung von
Thieren bewährt habe, welche höchſt eifer—
ſüchtig ihre Nutzpflanzen vor Angriffen
aller Art ſchützen, wie es insbeſondere bei
der von Belt ſo ſchön beſchriebenen Aca-
cia sphaerocephala und der von Fritz
Müller ſtudirten Ceeropia peltata der
Fall iſt.
Zu der eben angedeuteten Auffaſſung,
nach der die Drüſen des Adlerfarns eine
Erbſchaft aus früheren Zeiten ſein könnten,
bemerkt Mr. Thomas Belt“): „Prof.
Heer hat gezeigt, daß in den miocänen
Pflanzen-Ablagerungen von Oeningen und
Radoboj die Ameiſen unter den foſſilen
Inſekten die größte Zahl ausmachen, und
im Jahre 1849 konnten bereits mehr als
66 Arten von dieſen beiden Fundſtellen
beſchrieben werden. . . . . Unter den foſ—
ſilen Ameiſen von Radoboj befinden ſich
Arten der jetzt im tropiſchen Amerika vor—
kommenden Gattungen Atta und Ponera,
insbeſondere eine, die der ſeltſamen Atta
cephalotes Südamerikas in dem Flügel—
Geäder wie in der allgemeinen Geſtalt
ähnlich iſt. Da nun jetzt überhaupt nur
40 Ameiſen-Arten in ganz Europa exiſtiren,
ſo iſt deutlich, daß ſie in der Miocän—
Epoche eine wichtigere Rolle geſpielt haben
als jetzt. Es mögen alſo damals Pflau—
zen den Angriffen von Feinden ausgeſetzt
geweſen ſein, die mit der allgemeinen Ver—
armung der Flora und Fauna, welche in
den nachpliocänen Zeiten ſtattfand, unter—
gegangen ſind. Damals aber mag die
Beſchützung der jungen, unentfalteten und
) Nature No. 398, June 1877.
356
zarten Blatttriebe durch von Nektardrüſen
herbeigelockte Ameiſen einigen Pflanzen in
Europa ebenſo wichtig geweſen ſein, wie ſie ſich
heute noch manchen Pflanzen der inſekten—
reicheren Gegenden Südamerikas erweiſt.
Bezüglich der Ausdauer der Nektardrüſen
bis zur Jetztzeit in Europa muß bemerkt
werden, daß viele Pflanzen identiſch ſind
mit ſolchen, die ſchon in der Miocän-Zeit
lebten, und die weltweite Verbreitung der
Pteris aquilina deutet in der That dar—
auf hin, daß ſie eine ſehr alte Art iſt.
Wenn aber eine Pflanze nicht anderweitig
abgeändert hat, ſo beſteht auch kein aus—
reichender Grund, warum ſie es hinſichtlich
der ihr poſitiv nicht ſchädlichen Honigabſon—
derung gethan haben ſollte. Ich habe
kürzlich in meinem Garten beobachtet, daß
die Ameiſen, welche die Drüſen an dem
Blattgrunde der Kirſchen, Pflaumen, Pfir—
ſiche und Aprikoſen ausbeuten, mit ihren
Antennen diejenigen Drüſen
welche ſie bei ihrer Ankunft nicht fließend
finden, gerade wie ſie bei den Blattläuſen
verfahren.
ken können, ob fie damit eine Nektarabſon—
derung erzielten, aber ſeit ich ein Schüler
Darwin's geworden bin, habe ich mich
überzeugt, daß der unbedeutendſte Neben—
umſtand der Beachtung werth iſt, und es
mag ſein, daß die leichte Reizung der
Drüſen hinreichen mag, eine wenn auch
nutzlos gewordene Einrichtung weiter zu
erhalten. Es iſt indeſſen vielleicht zu kühn,
anzunehmen, daß die Drüſen europäiſcher
Pflanzen überhaupt nutzlos wären. Dar—
win weiſt vielmehr auf die große Wahr—
ſcheinlichkeit hin, daß die Abweſenheit der
Drüſen an den Blättern von Pfirſichen,
Nektarinen und Aprikoſen zu Mehlthau—
bildung Anlaß gäbe.“ So weit Th. Belt
in ſeinem Briefe vom 9. Juni 1877.
ſtreicheln,
Ich habe nicht wirklich bemer-
Kleinere Mittheilungen.
Eine
andere
Unterſuchung,
Francis Darwin über eine beſondere
Art von Drüſenhaaren der gewöhnlichen
welche
Kardendiſtel (Dipsacus silvestris) au-
ſtellte, lieferte höchſt merkwürdige Reſul—
tate.“) Die gegenüberſtehenden Blätter
dieſer Diſtel bilden nämlich durch Ver—
wachſung ihrer Ränder, im zweiten
Jahre, in welchem die Pflanze zum Blühen
kommt, Waſſerbehälter, in denen ſich die
atmbſphäriſchen Niederſchläge ſammeln, von
welcher Eigenthümlichkeit die Pflanze ihren
uralten Namen Dipsaeus (divaxog, die
Durſtige) erhalten hat. Man nannte ſie
auch wegen der in mehreren Abſätzen des
Stengels ſich wiederholenden Becken La-
brum Veneris, d. h. Venus' Waſchbecken.
Wir haben ſchon früher im Kosmos **)
der ſehr wahrſcheinlichen Meinung von
Prof. Kerner erwähnt, nach welcher
dieſe Waſſerbecken dem Stengel vor dem
Emporkriechen flügelloſer Infekten Schutz
gewähren. Mit dieſer Meinung verträgt
ſich ganz vortrefflich eine weitere Bildungs—
eigenthümlichkeit des mit Stacheln beſetzten
Stengels. Seine Stacheln enden nämlich
plötzlich über dem Spiegel des Waſſers
in den Tellern und verhindern ſomit, daß
die ertrinkenden Opfer eine Leiter zum
Entweichen finden. Ganz dem an letzt—
genannter Stelle erwähnten Falle bei Po—
lygonum amphibium entſprechend, ſind
die im erſten Jahre, in welchem ſie kein
Waſſer auffangen können, von langen,
ſcharfen Haaren rauhen Blätter nunmehr
faſt völlig glatt, ſo daß die Inſekten,
welche den abſchüſſigen Rand eines Beckens
erreicht haben, dadurch um ſo ſicherer
ihrem naſſen Grabe zugeführt werden.
Quarterly - Journal
of microscop.
0
Science, April 1877.
**) Heft 1, 1877, S. 80.
Kleinere Mittheilungen. 357
Auf denſelben Beckenblättern finden ſich
aber 0,01 Millim. lange Drüſenhaare, die
auf einer cylindriſchen Hohlzelle ein viel—
zelliges, birnförmiges Köpfchen tragen, aus
deſſen domförmiger Wölbung zu Zeiten
ein zitternder, bis einen Millimeter langer
Protoplasma-Faden bis in das Waſſer
hervorſchießt, ſich zu einem Häkchen biegt,
oder in mehrere Fäden mit Knötchen ver—
theilt, dabei unausgeſetzt die zitternden
Brown'ſchen Bewegungen zeigt. Die Maſſe
dieſer Fäden iſt gallertartig, durchſichtig,
ſtark lichtbrechend und körnchenfrei, dagegen
zeigen die chemiſchen Reactionen, daß ſie
ſuspendirte Harztheile enthält. Die merk—
würdigſte Eigenthümlichkeit dieſer Fäden iſt
ihre Fähigkeit, lebhafte Einſchnürungen an
einer Reihe von gleich abſtehenden Punk—
ten, die in der Nähe des freien Endes
beginnen, auszuführen, worauf der Inhalt
des Fadens ſich, wie es in der Kriegs—
ſprache heißt, rückwärts concentrirt und auf
dem Knöpfchen der Drüſe anſammelt. Da
abgebrochene Fäden ihre Vitalität behalten
und fähig bleiben, ſich zuſammenzuziehen,
ſo muß man ſchließen, daß dieſe Lebens—
äußerungen der Protoplasma-Maſſe ſelbſt
angehören. Dieſelben konnten außerdem
künſtlich hervorgerufen und geſteigert wer—
den durch Anwendung der verſchiedenſten
chemiſchen und phyſikaliſchen Reizmittel,
ohne daß es ſich um ein Gerinnen des
Protoplasmas handelte. Beſonders merk—
würdig war das Verhalten gegen die
kohlenſauren Salze des Ammonium, Ka—
lium und Natrium in ſehr verdünnten,
viertel- bis halbprocentigen Löſungen, ſo—
wie gegen eine kalt bereitete Fleiſchbrühe.
In dieſen Flüſſigkeiten nämlich, über deren
Einwirkung auf die Drüſen des Sonnen—
thaus Darwin ſo ergebnißreiche Verſuche
angeſtellt hat, ziehen ſich die Protoplasma—
Fäden der Kardendiſtel nach den Unter—
ſuchungen ſeines Sohnes zuſammen, wer—
den dann von Neuem hervorgeſchleudert
und verwandeln ſich ſchließlich in eine
ballon- oder wurſtförmige Maſſe von ſehr
durchſichtiger und ſtrahlenbrechender Sub—
ſtanz, in der man merkwürdige, freiwillige
Formveränderung und gleichſam amöben—
artige Bewegungen beobachtet.
Fleiſchaufguß hat denſelben
bewirkt das Entſtehen ganz erſtaunlicher
Mengen dieſer durchſichtigen Subſtanz.
Da nun dieſe Fäden ſich in das ſtets
Ammoniakſpuren enthaltende Thau- und
Regenwaſſer der ſogenannten „Venus—
Waſchbecken“ der Kardendiſtel erſtrecken,
deſſen ſalziger Geſchmack bereits den alten
Naturforſchern“) aufgefallen war, und in
denen meiſt auch die Körper ertrunkener
Inſekten verweſen, ſo liegt es nahe, anzu—
nehmen, daß dieſe Fäden einem Ernährungs-
prozeſſe, einer Aufnahme der ſtickſtoff—
haltigen Subſtanzen dieſer kleinen, ſich in
den verſchiedenſten Höhen des Stengels
wiederholenden Waſſerbecken angepaßt haben.
Daß ſie dagegen urſprünglich ausſondernde
Drüſen der verbreiteten Art waren, darauf
ſcheint der Harzgehalt des ausgeſonderten
Schleimes hinzudeuten, wie denn dieſe
Drüſen ganz analog anderen Harzdrüſen
mit einer Schicht Harz bedeckt zu ſein
pflegen, in welcher ſich Spuren der ab—
geſtorbenen Protoplasmaſubſtanz befinden.
Man darf alſo etwa annehmen, daß ur—
ſprünglich bloßen Abjonderungs-
prozeſſe dienende Drüſen ſich hier der
Nahrungsaufnahme bis zu einem ge—
wiſſen Grade angepaßt haben. Indeſſen
finden ſich genau ähnliche Fäden empor—
ſchleudernde Drüſen auch an den Samen—
blättern von Dipsacus silvestris und
Plinius, h. n. XXVII. S. 43.
Verdünnter
Effekt und
einem
47
er
De rm m
358
D. pilosus, und da in keinem dieſer beiden
Fälle Becken gebildet werden, ſo können
dieſe Fäden kaum in Zuſammenhang ge- betreffenden Gegend die Oberhand gewinnen
bracht werden mit der Aufnahme anima-
Die einzige
liſcher Verweſungsprodukte.
Auſicht, welche ſich hier aufdrängt, iſt, daß
die Fäden aus den dieſe Blätter treffenden
Thau- und Regentröpfchen Ammoniak ab-
ſorbiren. Neuere Unterſuchungen haben
gezeigt, daß manche Blätter die Fähigkeit
beſitzen, unendliche Mengen von Ammoniak
zu abſorbiren, und man kann ſich dann
allerdings wohl vorſtellen, daß dieſe An—
paſſung in den Drüſenhaaren der Becken
weitere Fortſchritte gemacht hat. Die
wilde Karde unſrer Wälder iſt durch dieſe
Unterſuchungen zu einem höchſt intereſſanten
Verſuchsobjekte der Wiſſenſchaft geworden,
während die durch die Kultur aus ihr
hervorgegangene Schweſter, die Weberkarde,
ihre praktiſche Bedeutung eingebüßt hat.
Schleunige Vervielfältigung einer
Mißbildung durch Erbſchaft.
In der Sitzung der Pariſer Akademie
der Wiſſenſchaften vom 30. April dieſes
Jahres lenkte Herr Martinet die Auf—
merkſamkeit der Mitglieder auf einen bemer—
kenswerthen Fall von Erblichkeit einer Miß—
bildung. Im Jahre 1871 zeigten mehrere
Hühner einer Pachtung eine Polydactylie,
die ſie von einem fünfzehigen Hahn geerbt
hatten, bei dem dieſelbe freiwillig aufge—
treten war. Die Mißbildung pflanzte ſich
rapide fort, bis im Jahre 1873 eine Epi⸗
demie den Geflügelhof verwüſtete.
konnte nur einen einzigen Hahn und einige
Hennen der anormalen Sorte retten. Heute
aber iſt, ohne irgend eine Auswahl, dieſe
Abänderung bereits wieder ſehr zahlreich
vertreten, ja ſie hat ſich in Folge eines
— ——— —E—— ũ-—
Kleinere Mittheilungen.
Man
Eier-Austauſches auf mehrere benachbarte
Pachtungen ausgedehnt, ſo daß ſie in der
wird, wenn nicht irgend ein natürliches
oder künſtliches Hinderniß dazwiſchen tritt.
Die Lebenszähigkeit des menfd)-
lichen Embryo.
Bei Gelegenheit einer neueren Beobach⸗
tung von A. Zuntz über die auffallende
Lebenszähigkeit der Keime des ſpäter
ſo „anſtößigen“ Menſchen, erzählt Profeſ—
ſor Pflüger in ſeinem Archiv für
Phyſiologie (Band XIV. S. 628),
daß ihm an einem Novemberabend des
Jahres 1861 ein vor einigen Stunden
gebornes Menſchenei gebracht worden ſei,
welches nach ſeiner Größe etwa achtzehn
bis zwanzig Tage alt ſein mochte. Er
legte es zwiſchen zwei Uhrgläſer in die
Schublade einer in einem kalten Zimmer
ſtehenden Kommode, um es erſt am näch⸗
ſten Morgen zu unterſuchen. Bei der Er-
öffnung des Eies auf der Objektplatte fei-
nes Mikroſkopes bemerkte der Beobachter
plötzlich zu ſeinem nicht geringen Erſtaunen,
daß das einen 8 förmig gekrümmten
Schlauch darſtellende Herz ſich in Pauſen
von zwanzig bis dreißig Sekunden regel—
mäßig zuſammenzog, wie er es an andern
Thierembryonen in dieſer Periode oftmals
geſehen hatte. Dieſe, wie die entſprechende
Beobachtung von A. Zuntz zeigen, „daß
ein ſo verletzbares Geſchöpf wie der Menſch,
in feinen allerjüngſten Zuſtänden an Lebens⸗
zähigkeit kaum den niedern Thieren oder
gar deren Keimen nachſteht, — wie in
morphologiſcher Entwickelung, ſo auch in
der funktionellen Entfaltung ſeinen Stamm⸗
baum bezeugend.“
Darwin versus Galiani.“)
s war vor hundert Jahren“ — «>
al
U zählt Du Bois-Rey mond —
AR un Tiſch im Salon des Grand-Val.
Da war beiſammen jene geiftreich-über-
müthige Geſellſchaft, die wir aus Diderot's
Briefen an Mlle. Voland kennen, als wären
auch wir Gäſte unter dem Holbach'ſchen Dache
geweſen. Da war Diderot ſelber, der
deutſcheſte der Franzoſen, und Grimm,
der franzöſiſchſte der Deutſchen, der gräm—
liche Schotte Hoop und der kleine neapo—
litaniſche Abbé Galiaui, deſſen luſtige
Beweglichkeit oft tiefen Sinn barg. Da
waren jene Frauen, deren gefährlichen Rei⸗
zen Rouſſeau's „Confessions“ Unfterb-
lichkeit verliehen, wie Ilias und Odyſſee
denen der Helena.
Man ſprach nach der Gewohnheit jener
guten Zeit, in der die Feſſeln des Aber-
glaubens zerſprengt ſchienen — und die, Sonne
des ſchönſten Tages die geiftige Welt“ erleuch—
tete und erwärmte — viel von dem großen
) Rede, in der öffentlichen Sitzung der
königl. preuß. Akademie der Wiſſenſchaften zur
Feier des Leibniz'ſchen Jahrestages am
6. Juli 1876 gehalten, von Emil Du Bois-
Reymond. Berlin, Verlag von A. Hirſch—
wald.
Titeratur und Kritik.
Friedrich und dem allerwärts angebeteten
Voltaire. Trotz aller Anbetung aber
konnte man's nicht verwinden, daß er
eigentlich ein „unverbeſſerlicher Deiſt ſei“.
„Um's Himmelswillen keine Metaphyſik!“
rief eines Tages Galiani, als dieſe Anſicht
wieder erörtert wurde, dazwiſchen, und er—
zählte von einem Taſchenſpieler, der in
ſeiner Anweſenheit gewettet habe, mit ſeinen
Würfeln jedesmal einen Sechſerpaſch zu.
werfen — und die Wette gewonnen hätte.
„Ihr habt uns zum Beſten!“ rief es
von allen Seiten. „Oder die Würfel
waren falſch!“ N
„Natürlich waren fie falſch — und
das war ja eben der Spaß. Der Taſchen e.
ſpieler hatte gar nicht geſagt, daß er mit
richtigen Würfeln jedesmal einen Sechſer—
paſch werfen werde. Wer ſeine Sinne
beiſammen hatte, konnte im Voraus rathen,
daß die Würfel falſch ſeien, und die, welche erſt
darauf kamen, nachdem ihnen ihr Geld
abgenommen war, wurden tüchtig ausge
lacht. Aber da habt Ihr's! Fallen zwei
Würfel einmal nach einander auf dieſelbe
Seite, ſo haltet Ihr es, denn Ihr ſeid keine
Lazzaroni, für unmöglich, daß dies Zufall
ſei. Ihr ſchließt mit zweifelloſer Gewißheit,
daß eine geheime, auf dieſe Wirkung be—
rechnete Urſache in Geſtalt von etwas Blei
den Würfeln einverleibt wurde. Seht Ihr
aber um Euch her dies Weltall mit feinen
unzählbaren Sonnen, Planeten und Mon—
den, die im Leeren aufgehangen, rhythmi—
ſchen Schwunges Jahrtauſende lang ihre
Bahn vollenden, ohne je einander zu treffen;
ſeht Ihr auf dieſem Erdballe Veſte, Meer
und Luft, Sonnenſchein und Regen ſo ver—
theilt, daß tauſend Pflanzen, Land-, Waſſer⸗
und Luftthiere fröhlich wimmelnd gedeihen;
ſeht Ihr den Wechſel von Tag und Nacht,
von Winter und Sommer allen dieſen
Weſen genau mit den nöthigen Bedingungen
zu Thätigkeit und Ruhe, zu Stillſtand und
Wachsthum ſegensreich begegnen; ſeht Ihr
in Eurem eigenen Körper jedes Theilchen
ſeines unſagbar verwickelten Baues gerade
das leiſten, was des Ganzen Wohl erheiſcht,
wie umgekehrt es allein im Ganzen zu be—
ſtehen vermag; ſeht Ihr in Euren Glied—
Literatur und Kritik.
Ihr die Biene, trotz dem gelehrteſten Aka—
demiker, ihr Zellenproblem löſen, die
Spinne ihr Seilpolygon ſpannen, den
Maulwurf ſeine Minenhöhlen, den Biber
ſeine Deiche ziehen; ſeht Ihr noch dazu in
dem Allem mit dem Nützlichen das Ange—
nehme verbunden, Pracht, Zier und An—
muth verſchwenderiſch darüber ausgegoſſen;
Flora's Kinder lieblich ſich ſchmücken, den
Schmetterling ſchimmernd ſie umgaukeln,
den Pfau ſein Rad ſchlagen; zeigt Euch
endlich Herr Needham unter ſeinen Linſen
jeden Tropfen Eſſig oder Kleiſter wieder
von ſo viel Weſen belebt, wie Herr von
Caſſini mit feinem Rohre Welten Euch
erblicken ließ, ſo ſagt Ihr getroſt, es iſt
maßen, Eurem Auge, Eurem Ohre, des
Mechanikers, des Optikers, des Akuſtikers
tiefſte Weisheit ſo weit überflügelt, daß
Freund d' Alembert, daß dort in
Petersburg der große Euler e tutti
quanti wie Narren davor ſtehen; ſeht
Ihr dieſe Maſchine, neben welcher Eures Le
Roy's feinſte Uhr wie ein plumpes Mühl—
werk, Vaucanſon's ſinnreichſte Androide
wie eine armſelige Spielerei ſich ausnehmen,
durch Uebung ſich ſelber vervollkommnen, und
wenn beſchädigt, ſelber ſich ausbeſſern; ſeht Ihr
ſie gar ſich ſelber vervielfältigen, Mann
und Weib auf das Reizendſte, Mutter und
Kind auf das Liebevollſte einander ange—
paßt; zeigt Euch im Jardin du Roi Herr
von Buffon in hundert Thiergeſtalten,
vom Elephanten bis zur Spitzmaus, eben—
ſoviele Ebenbilder Eurer eigenen Organiſa—
tion, alle in ihrer Weiſe befähigt, ihr
Leben zu genießen, ihrer Beute nachzuſtellen,
ihrer Feinde ſich zu erwehren, ſich fortzu—
pflanzen und ihre Brut zu pflegen; ſeht
Zufall. Und doch bietet uns die
Natur dasſelbe Schauſpiel, als würfe einer
mit unendlich viel Würfeln jeden Augen-
blick einen vorher angekündigten Paſch.
Ich, meine Damen und Herren, urtheile
anders. Ich ſage, die Würfel der
Natur ſind gefälſcht, und dort
oben ſpottet unſer der größte der
Taſchenſpieler!““)
„Der Apolog der des pipés machte
einen gewaltigen Eindruck auf die Encyklo—
pädiſten, wie aus einer Stelle im Systeme
de la nature zu erſehen iſt, wo ſich Hol—
bach vergebens von demſelben zu befreien
ſucht, die Molekeln der Materie ſelbſt mit
falſchen Würfeln vergleicht und endlich zum
Schluſſe kommt, daß der Kopf Homer's
und Virgil's nichts als Aggregate von
) In den Memoires (inedites) de ’Abbe
Morellet ift die Geſchichte von Galiani's
Apolog, und dieſer ſelber etwas anders er—
zählt. Kenner der damaligen Zuſtände, die
über die geſchichtliche Genauigkeit der Erzäh—
lung rechten möchten, ſeien in aller Beſchei—
denheit auf Schiller's Anmerkung zu ſeinem
„Graf von Habsburg“ verwieſen.
E. D. B-R.
N
Molekeln, d. h. derart gefälſchten Würfeln
waren, daß ſie die Ilias und Aeneis her—
vorbringen mußten. Er betont alſo,
daß es in der Natur wie in einer Spiel—
hölle nicht mit rechten Dingen zugehe —
ſo ſehr er ſich vorher gegen Galiani
Literatur und Kritik.
361
Natur. So heißt es an einer Stelle:
„Die wenn auch nur von ferne gezeigte
Möglichkeit, die ſcheinbare Zweckmäßigkeit,
aus der Natur zu verbannen, und überall
blinde Nothwendigkeit an Stelle von End—
ſträuben mochte — ſtatt darzulegen, wie
„nicht für einen beſtimmten Zweck vorge—
richtete materielle Theilchen dennoch zu die—
ſem Zweck zuſammenwirken.“
„Hier iſt der Knoten“, — ſagt darüber
Du Bois-Reymond — „hier die unge—
heure, den Verſtand, der die Welt begrei—
fen möchte, auf die Folter ſpannende
Schwierigkeit. Denn einen Mittelweg
giebt es nicht... Wer der Teleolo—
gie nur den kleinen Finger reicht, langt
ral Theology“ an.“
5 Sind die Würfel der Natur gefälſcht?
Wirft ſie wirklich mit ungezählten fal—
ſchen Würfeln jeden beliebigen Paſch? Sind
ihre Würfel, d. h. die Molekel wirklich
„präformirt“, um einen alt hergebrachten
Ausdruck zu gebrauchen? Giebt es in ihr
Vorherbeſtimmung, Vorbereitung zu ganz
beſtimmten Zwecken; giebt es in ihr ein
höheres Regiment, das Alles zu beſtimmten
Zwecken zurechtlegt, eine Art „Hochdruck
von Oben“, oder jene Teleologie, um deren
Beweis ſich die Gelehrſamkeit von Jahr—
tauſenden nicht ohne Erfolg abgemüht hat?
Dieſe Fragen legt uns Herr Du Bois—
Reymond, an den Apolog der des
pipes von Galiani anknüpfend, vor,
und beſchäftigt ſich mit dieſer brennenden
Frage der heutigen Philoſophie in ſeiner
Schrift „Darwin versus Galiani“.
Vor Allem bekämpft er nun den ein—
gewurzelten Glauben an End-Urſachen und
tritt ein für die blinde Nothwendigkeit
gegen die ſcheinbare Zweckmäßigkeit in der
urſachen zu ſetzen, erſcheint deshalb als
einer der größten Fortſchritte in der Ge—
dankenwelt, von welchem in der Behandlung
dieſer Probleme ſich eine neue Epoche her—
ſchreiben wird. Jene Qual des über die
Welt nachdenkenden Verſtandes in etwas
gelindert zu haben, wird, ſo lange es
philoſophiſche Naturforſcher giebt, Charles
Darwin's höchſter Ruhmestitel ſein.“
Mit wenigen treffenden Zügen charak—
teriſirt Hr. Du Bois-Reymond den
| Zuſtand der Naturwiſſenſchaften unmittelbar
folgerichtig bei William Paley's „Natu- |
vor dem Auftreten Darwin's und es
wird ihm wohl niemand beſtreiten wollen,
daß deſſen „Origin of species! Zoologie,
Botanik und Palaeontologie in einer „ge—
wiſſen doctrinären Erſtarrung“ traf, daß,
während die Kenntniß organiſcher Geſtalten
in geradezu „ſinnverwirrender Weiſe“ wuchs,
an Deutung der aufgeſpeicherten Thatſachen
und Umſtoßung der alten Dogmen kaum
gedacht wurde. Schon hatte man ſich ge—
wöhnt zu glauben, daß das Problem auf
natürlichem Wege unlösbar ſei. An Hand—
langern der Wiſſenſchaft fehlte es nicht, aber
die ſtille Gemeinde der Zweifler an den
alten untrüglichen Dogmen wurde von dem’
Leuten der Schule verketzert. Da trat
Darwin auf.
„Es war ein Schlag, wie die Ge—
ſchichte der Wiſſenſchaft noch keinen ſah: ſo
lange vorbereitet und doch ſo plötzlich, ſo
ruhig geführt und doch ſo machtvoll treffend;
an Umfang und Bedeutung des erſchütterten
Gebietes, an Wiederhall bis in die fernſten
Kreiſe menſchlicher Erkenntniß eine wiſſen—
ſchaftliche That ohne Gleichen. Wie nach
77 855 Literatur und Kritik.
dem Umſturze von Königreichen in deren
Grenzlanden noch lange Erregung und
Wirrſal herrſchen, wenn im Erſchütterungs—
herde ſchon neue Geſtaltungen ſich zu be—
feſtigen anfangen: ſo iſt in Folge der
Darwin'ſchen Bewegung der ſtets unſichere
Grenzſtrich zwiſchen Naturwiſſenſchaft und
Philoſophie noch in wilder Gährung be—
griffen, welche faſt täglich in den trüglichen
Farben dünner Blättchen ſchillernde Literatur-
blaſen aufwirft. Im Lager der Wiſſenſchaft
iſt indeſſen die erſte Beſtürzung ruhigerer
Ueberlegung gewichen. Schon beginnt ein
neues, inmitten der Umwälzung erwachſenes
Geſchlecht friſchen Muthes die Führung zu
übernehmen.“
Du Bois-Reymond beſtreitet im
folgenden die weitverbreitete Anſicht, daß
Darwin's eigentlichſte Leiſtung ſei, den
Sieg der Abſtammungslehre-erfochten zu
haben, und ſagt, daß das Ziel, welches jener
uns zeigt, weit über dieſelbe hinausliege,
inſofern uns durch dieſelbe, inſofern ſie die Ent—
wickelung der organiſchen Natur allein durch
ihre Bildungsgeſetze erklären will, nur wenig
geholfen wird. Ueberhaupt ſeien die Geſetze
der Morphologen bloße Regeln, die nach
Art grammatikaliſcher Regeln vermöge eines
daß auch den beſten organiſchen Bildungs—
ſcheinlichkeit zuſtehe. Der Grund iſt, daß
ſie reine Erfahrungsſätze ſind, in denen
kein ſolcher „in den letzten Gründen wur—
zelnder, logiſch zwingender Inhalt erkannt
iſt, wie in phyſikaliſch-mathematiſchen Ges |
ſetzen.“) Daher komme es, daß im Ab—
weichen der Natur von jenen Regeln nichts
Widerſinniges und Unmögliches liege. (?)
) Daß ein zureichender Grund auch hier
vorhanden ſein müſſe, leuchtet wohl Jedem
ein, und es ſcheint ſehr gleichgiltig für das
*
geſetzen nur größere oder geringere Wahr
Indem Herr Du Bois-Reymond
gegen die Anwendung des ſogenannten
biogenetiſchen Grundgeſetzes im einzelnen
Falle eifert, eine ſolche, „wenn auch
das Princip im Allgemeinen zugegeben ſein
möchte“, ſehr bedenklich findet, und den
Schlüſſen der Ontogenie auf Phylogenie
größere Wahrſcheinlichkeit abſpricht, überläßt
er es gleichzeitig dem ſubjektiven Meinen,
ſich den Weg „im Gewirr unzähliger ſich
verzweigender Möglichkeiten“ nach Belieben
zu wählen und ſich das Werden der orga—
niſchen Natur ſo oder ſo zu denken.
Wenn es mir ſchon ſcheinen will, daß
Herr Du Bois-Reymond im Laufe
dieſer Spekulation ſich widerſpricht und die
bedeutende Nachwirkung und Folgerichtigkeit
der Abſtammungslehre in einem Athem
verficht und anficht, ſo muß ich gegen das
letztere Toleranzedikt einwenden, daß ich
daſſelbe nur ſchwer mit dem ſonſt bis zur
Härte decidirten Weſen Du Bois-Rey⸗
mond's reimen kann.
Merkwürdigerweiſe wird das Anathema
der Gelehrſamkeit ganz unvermittelt dem
Toleranzedikt der Wiſſenſchaft angereiht.
Denn unmittelbar darauf folgt der inhalts—
ſchwere Satz: „Jene Stammbäume unſeres
Cirkelſchluſſes dienen. Ebenſo ſei gewiß,
Geſchlechtes, welche eine mehr künſtleriſch
angelegte als wiſſenſchaftlich geſchulte Phan—
taſie in feſſelloſer Ueberhebung entwirft,
ſie ſind etwa ſo viel werth, wie in den
Augen der hiſtoriſchen Kritik die Stamm⸗
bäume homeriſcher Helden. Will ich aber
einmal einen Roman leſen, jo weiß ich mir
etwas Beſſeres als Schöpfungsgeſchichten.“
Allerdings wird uns gleich darauf ge—
ſagt, daß dies nicht der Punkt ſei, auf den
es hier ankomme. Dennoch muß es uns
Beſtehen einer Geſetzmäßigkeit, ob ſie von
den Menſchen begriffen wird oder nicht.
' Anm. d. Red.
ſcheinen, als wäre nur zu gern die Gelegen—
heit benützt worden, um den Bannſpruch
in einer ſchicklichen Weiſe (?) an den Mann
zu bringen. Scheint es doch, als ob auch
höher organiſirte Gelehrte es nicht
laſſen könnten, ins Horn der überaus zahl—
reichen Handlanger unſerer Naturalienka—
binete, Muſeen und Katheder zu ſtoßen, die
als verknöcherte Specialiſten es für ihre
heiligſte Pflicht halten, einen ernſten Forſcher,
der ihnen, was die Verbreitung und Fort—
entwickelung der Darwin'ſchen Lehren be—
trifft, weit den Rang abgelaufen und in hervor—
ragender Beziehung zum Aufbau einer moder—
nen Naturphiloſophie beigetragen hat, ja,
inſoweit als eine ſolche ſchon gleichſam im
Rohprodukt exiſtirte, und nur auf den Be—
arbeiter, Ordner und Vollender wartete,
ſogar als Ausbilder derſelben zu betrachten
iſt, — ſo lange zu verketzern und zu läſtern,
bis nichts mehr von ihm übrig bleibt als
ein Marktſchreier und falſcher Prophet, der
die größten Errungenſchaften der Wiſſenſchaft
Literatur und Kritik.
in ſelbſtbereiteten Mixturen auf den Jahr
markt getragen hat, um ſie dort als Wun⸗
der ſeines Erfindungsgeiſtes anzupreiſen.
Entdeckungen Darwin's und die
Herr Du Bois-Reymond ſagt uns
des Weiteren, daß, ſelbſt wenn wir das
Schema der Abſtammungslehre als aus—
gefüllt annehmen, gleichzeitig aber nur
Bildungsgeſetze die Entwickelung beſtimmen
laſſen, das Räthſel der Geſtaltung der
organiſchen Natur ſo ungelöſt bleibt wie
vordem. „Durch Bildungsgeſetze allein er—
klärt ſich kein zweckmäßiges, organiſches
Werden.
Das alte, der Menſchheit auf-
gegebene Räthſel bleibt alſo auch bei ganz
fertiger Abſtammungslehre, wenn nicht noch
etwas Anderes hinzutritt, in unveränderter
Dunkelheit beſtehen. Unbezwungen dräut
nach wie vor von ihrer Klippe die Sphinx
der Teleologie. ..
Wir ſind alſo in der
363
Hauptſache um nichts gebeſſert, ſondern haben
nur das Problem umgeformt, ohne es
ſeiner Löſung näher zu bringen.“
Was iſt es alſo mit dem urewigen Räth—
ſel? Sind die Würfel der Natur gefälſcht?
Dieſelbe Frage hat kürzlich Moriz
Carriere, durch die Du Bois ' ſche
Schrift dazu angeregt, erörtert und ſich
in ganz anderem Sinne entſchieden, als der
Verfaſſer der letzteren. Herr Du Bois—
Reymond findet nämlich in der natür—
lichen Zuchtwahl eine „einigermaßen an—
nehmbare“ Auskunft. „In Verbindung
mit den Bildungsgeſetzen würde ſie mit
einem Schlage verſtändlich machen, warum
die organiſchen Weſen einander und der
Außenwelt ſo bewunderungswürdig ange—
paßt ſind; warum ſie in ſich ſelber zweck—
mäßig ſind und doch ſo manche Zweck—
widrigkeit aufweiſen; warum ſie gruppen—
weiſe, ſcheinbar unbeholfen, aus ſtets denſelben
Stücken gefügt, dieſe aber dem jedesmaligen
Zweck entſprechend umgeformt ſind.“ Sehr
richtig werden dem Satz Maupertuis'
von der kleinſten Wirkung die intereſſanten
des
Herrn Wallace auf dem Gebiete der ge—
ſchlechtlichen Zuchtwahl insbeſondere entgegen
geſtellt. „Mit einem Worte, an Stelle der
Endurſachen in der organiſchen Natur träte
zwar eine höchſt verwickelte, aber blind
wirkende Mechanik, und das Weltproblem
wäre auf die beiden Räthſel zurückgeführt:
was ſind Materie und Kraft, und wie
vermögen fie zu denken.“ . . . Ob er im
deſſen mit dieſer Einführung von » und
W in die Gleichung, für das vorherige x
und y, viel zur Verdeutlichung oder nur
etwas zur Auflöſung beiträgt, müſſen wir
doch dahingeſtellt ſein laſſen. Es ſcheint über—
haupt, als ob es Herr Du Bois-Rey⸗
mond nach Art der Algebraiker manchmal
en
© 364
mit den ſogenannten Kunſtgriffen
Transformation einer Gleichung hielte, eine
Operation, die bekauntlich große Vorſicht
erheiſcht, um nicht zu einer identiſchen Glei—
chung geführt zu werden. Wer weiß übrigens,
ob die identiſche Gleichung nicht wirklich
das Ende des alten Liedes iſt, was beſagen
will, daß man mit all dem Problemiſiren
zu keiner neuen Größe, zu keiner frucht—
baren Erkenntniß kommt. Dann freilich
hätte Herr Du Bois-Reymond Recht,
den Caſus für ſehr einfach zu halten, wenn man
das Weltproblem auf die von ihm einge—
ſetzten unbekannten Größen zurückführte.
Wenn aber auch Herr Du Bois—
Reymond auf der einen Seite keinen ge—
nügenden Erſatz für das bietet, was er uns
nimmt, ohne dieſe Hinwegnahme vollſtändig
zu motiviren, ſo widerlegt er auf der andern
zur
Seite ebenſo kurz als treffend die Ein- |
würfe gegen die natürliche Zuchtwahl, unter
denen der gegen das Ausſterben der Zwiſchen—
formen von Ch. Darwin ſelbſt auf das
Beſte widerlegt wurde.
es, zu fordern, daß die natürliche Zucht—
Literatur und Kritik.
wahl alle Bildungen erkläre und hier weiſt
Herr Du Bois-Reymond mit größerem
Scharfſinn nach, wie nur der Compromiß
zwiſchen den Forderungen der Bildungs—
geſetze und den Wirkungen der natürlichen
Zuchtwahl eine befriedigende Erklärung für
die Bildung der Organismen geben könne.
Ebenſo weiſt er ganz richtig nach, daß, ſo—
=
verlangt er, daß der Naturforſcher jeden
Weg einſchlage, um nur die Zweckmäßigkeit
aus der Natur zu verbannen und ſich daher
an die Lehre von der natürlichen Zucht—
wahl wie der Ertrinkende an die Plane,
anklammere.
Was iſt's aber mit der oben aufgeworfene
Frage? Sind die Würfel der Natur ge—
fälſcht oder nicht? „Wir könnten jetzt Ga—
liani darauf antworten“, meint Herr Du
Bois-Reymond, „denn Herr Darwin
hat uns verſtehen gelehrt, warum auch mit
nicht gefälſchten Würfeln die Natur meiſt
(nicht immer) ihren Paſch wirft.“ Es iſt
ſehr richtig zu ſagen, daß der Name
„Zweckmäßigkeit“ nichts Unheimliches mehr
für uns hat. Mir ſcheint nur, als ver—
geſſe er das erlöſende Wort, das all dieſem
Zwieſpalt auf die kürzeſte Weiſe ein Ende
macht. Wir wollen ihm gerne beipflichten,
wenn er die Teleologie aus der Natur
verbannt, inſoweit es ſich um eine Präformi—
rung des Gegebenen zu beſtimmten Zwecken
Ebenſo irrig iſt
der Menſchheit oder eines beſtimmten Lebe—
weſens handeln würde, wie denn von den
Meiſten Teleologie in dieſem ſehr engher—
zigen Sinne verfochten wird. Iſt aber die
Zweckmäßigkeit oder „Zielſtrebigkeit“ wie
ſie Ernſt von Bär, dem verhaßten teleo—
bald die Lehre von der natürlichen Zucht
wahl als aus richtigen Vorderſätzen richtig
abgeleitet erkannt wird, das Wirken der—
ſelben im einzelnen Falle nachzuweiſen nicht
mehr nöthig ſei. Indem er ferner zeigt,
daß es Abſicht des theoretischen
Naturforſchers iſt, die Natur zu begreifen,
die Zweckmäßigkeit der Natur ſich aber
nicht mit ihrer Begreiflichkeit vertrage,
die
zelnen zur Erhaltung des Ganzen.
logiſchen Loſungsworte ausweichend, nannte,
nichts anders als das Wirken von Kräften
im Sinne und zum Zweck des organiſchen
Lebens im Großen und Ganzen, ſo wird
es uns ſelbſt in den Augen des radicalſten
Anti⸗Teleologen, nicht erniedrigen können,
wenn wir von Zwecken der Natur ſprechen,
ſo lange wir überhaupt den Namen der
letzteren noch im Munde führen, und von
einem großen Zweck, der da iſt Erhaltung,
Entwicklung und Fortſchreitung des Ein—
Ich
möchte das, inſofern wir unter Natur den
Literatur und Kritik.
Inbegriff aller uns bekannten organiſchen (und
unorganiſchen) Lebenserſcheinungen und Kräfte
verſtehen, bildlich als Selbſterhaltungstrieb der
Natur bezeichnen, und damit ſagen, daß es
dem menſchlichen Erkennen und Forſchen
nicht möglich iſt, weiter zu gelangen als
bis zu einer Anerkennung jener in allen
Einzelheiten wirkenden und von Herrn Du
Bois- Reymond verfochtenen Cauſalität
aus Naturnothwendigkeit, daß aber auch
dieſe nicht anders als „zum Zwecke eines un-
beſchadeten Beſtehens des Weltganzen“ gedacht
werden könne.
Inwiefern Leibniz mit den Reſultaten
der neueren Forſchung übereinſtimmt, hat
Herr Du Bois-Reymond mit großem
Verſtändniß in einer anderen akademiſchen
Rede dargeſtellt, die in den Abhandlungen
der königl. Akademie der Wiſſenſchaften zu
Berlin (1859. 40. S. 128 ff.) erſchienen
iſt. Daß auch der Standpunkt des Natur⸗
forſchers gegenüber dem letzten Grunde
der Dinge nur Entſagung ſein kann, wird
ihm nicht ſobald jemand ganz widerlegen
können. Nur das Eine möchte ich dem
conſequenten Bekämpfer jeder Zweckmäßigkeit
entgegenhalten, daß unbeſchadet und unge—
achtet der vorkommenden Zweckwidrigkeiten
und Ueberflüſſigkeiten, von denen doch
Niemand, auch Herr Du Bois-Rey—
mond nicht, behaupten kann, daß ſie noch
als einem beſtimmten Zwecke dienend, er—
kannt worden ſind, alle Kräfte zu einem nahe—
liegenden, meiſt leicht erkennbaren Zwecke
wirken, und daß auch ein Endzweck denkbar
iſt, wenn wir darunter eben nur das
Wirken der einzelnen Lebenserſcheinung zum
Ganzen und nicht umgekehrt verſtehen.
Vielleicht wird es mir in nicht allzulanger
Zeit möglich ſein, was ich hier nur halb
und dunkel den lichtvollen Darſtellungen
des Herrn Du Bois-Reymond, denen
365
ich in vielen Dingen, ja vielleicht — indem
über dem berührtem Punkt vielleicht nur ein
Mißverſtändniß waltet — im Großen und
Ganzen beipflichte, entgegenhalten konnte,
in einem ausführlichen Werke darzulegen.
Vorher aber hoffen wir, daß Herr M.
Carriere ſein Verſprechen, in einem Werke
über die ſittliche Weltordnung neue Geſichts—
punkte zu dieſer Frage zu eröffnen, erfüllen
werde.
Friedrich von Bärenbach.
Dr. Martin Schultze, Altheidniſches
in der Angelſächſiſchen Poeſie,
ſpeziell im Beowulfsliede. Ber⸗
lin, S. Calvary u. Co., 1877.
Der bewährte Sprach- und Mythen⸗
forſcher hat in dieſer intereſſanten kleinen
Schrift die hauptſächlichſten heidniſchen Ueber—
bleibſel in der von chriſtlichen Schrift⸗
ſtellern herrührenden altangelſächſiſchen Poeſie
überſichtlich zuſammengeſtellt, indem er die
Vorſtellungen von den Schickſals- und den
elementaren Mächten, die heidniſchen Sitten
in Bezug auf die Lebenden und Todten in
vier Kapiteln behandelt. Um die Reich-
haltigkeit der Anregungen zu erläutern, die
von ſolchen Studien ausgehen, wollen wir
kurz dasjenige hervorheben, was der Ver—
faſſer über den Urſprung des Namens eines
Seeſternes anführt, der in der Darwin’
ſchen Theorie eine hervorragende Rolle ſpielt,
der Gattung Brisinga. In der heutigen
Welt ſtehen die echten Seeſterne und die
ſogenannten Schlangenſterne einander ſo un—
vermittelt gegenüber, daß man ein vollſtän—
diges Ausſterben zahlreicher Mittelformen
annehmen mußte, bis vor ca. 20 Jahren
der ſchwediſche Naturforſcher As björnſen
aus einer großen Tiefe des Hardanger
366
Fjords einen elfarmigen Seeſtern emporzog,
der eine deutliche Uebergangsform zwiſchen
beiden Familien
er nur in der fernſten Vorwelt Verwandte
beſaß.
welches man aus ſogleich zu erörternden
Gründen Brisinga taufte, iſt vor zwei
Jahren von G. O. Sars, dem Sohne
des berühmten norwegiſchen Naturforſchers,
der den Generationswechſel der Quallen
entdeckte, eine Monographie erſchienen, in
welcher er zu der einzigen bisher bekannten
Art eine zweite, Brisinga coronata, fügt, |
die er in der Nähe der Lofoten, in einer
Tiefe von 250 bis 300 Faden entdeckt
hat. Beide Arten ſind aber durch die
neueren Tiefeforſchungen auch in anderen
Bezirken des nordatlantiſchen Ozeans, Br.
coronata zwiſchen Schottland und den
Faröer-Inſeln (500 Faden), ferner bei
Irland (800 Faden), die ſüdlicher gehende
Br. endecacnemos ſogar an der Küſte
von Portugal
worden. Der Verfaſſer betrachtet Brisinga
als eine Urform im Sternthierreiche, hebt
die Aehnlichkeit mit den älteſten foſſilen
Seeſternen (Protaster) hervor, und ſtellt
darſtellt und daher in
keiner von ihnen unterzubringen war, weil
Ueber dieſes merkwürdige Thier,
}
Literatur und Kritik.
win'ſche Theorie genommen ift, und Herrn
| Dr. Schultze dankbar für den Nachweis
ſein, den wir deshalb wörtlich wiedergeben
wollen. Nachdem der Vortragende von
den Schwertern Siegfried's und Wittich's
geſprochen, fährt er fort: „Ein anderes Elfen⸗
werk wird Beowulf 1199 erwähnt. Unter
den Geſchenken, die Beowulf in Heorot er—
hält, wird daſelbſt ein Halsring beſonders
hervorgehoben und für das ſchönſte Kleinod
dieſer Art erklärt: „ſeitdem Heime entführte —
Zu der glänzenden Burg den Broſinger
Schmuck“ (Brösinga mene). Dieſer Bro⸗
ſinger Schmuck iſt längſt mit dem Briſin⸗
ger Geſchmeide (Brisinga men), d. h. der
Halskette Freyjas, verglichen worden, deren
Verfertiger, wie wir aus der Edda wiſſen,
vier Zwerge, alſo Elfen, waren. Sie
wurde dann durch Loki weggeführt, gerade
wie das Broſinger Gold durch Heime, den
(1000 Faden) gefunden
dieſe Gattung damit ziemlich an den Anfang
eines Stammbaumes, deſſen Verzweigung
zu den übrigen Klaſſen der Strahlthiere
er kurz darſtellt. Nebenbei bemerkt, glaubt
Brisinga die Arme ſehr leicht ablöſen und
zuſammen einen weit größeren Theil des
Körpers, als die verhältnißmäßig kleine
Scheibe bilden, eine Stütze für Häckel's
Hypotheſe, nach welcher die Echinodermen
urſprünglich zuſammengeſetzte Thiere, Thier-
ſtöcke, ſeien, zu finden.
logen werden wiſſen, woher der Name
9
nern
Sars in dem Umſtande, daß ſich bei
Waffenbruder Wittichs, der alſo mit deſſen
Vater, dem Schmied Wieland, in gewiſſem
Zuſammenhange ſteht. — Was ſind nun
die Broſinge oder Briſinge, die den
berühmten Schatz verfertigen oder hüten?
Doch wohl die Leute des Bris-Gaues,
die bei Bris-ach, Breiſach, das Gold aus
dem Rheinſand waſchen. Der Name erklärt
ſich aus dem angelſächſiſchen brys -an,
zertrümmern, bros - nian, ſich zerbröckeln.
Das Rheingold findet ſich in kleinen Kör—
oder „Bröſelchen“ (Broſame ahd.
pros-amo, aſ. bros-mo, gehört ebenſo zu
agſ. brys-an, brechen) und jene Bröckchen—
form war gewiß diejenige, in der das Edel—
metall den Germanen zuerſt bekannt wurde.“
Dieſe Ableitung des vielbeſungenen Bri-
singa-men erſcheint glücklicher, als diejenige
Grimm's von dem mhd. brisen, breis,
Nur wenige Zoo⸗
| bohrten Gelenken verfertigt gedacht wird.
dieſes wichtigen Zeugen für die Dar⸗ 8
durchſtechen, ſofern die Halskette aus durch⸗
K.
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
nn m on
F GR NEN N
Biographiſche Skizze eines Kleinen
Rindes
von
Charles Darwin.
*
er ſehr intereſſante Bericht,
welchen Herr Taine über
die geiſtige Entwickelung eines
Kindes veröffentlichte,) hat
mich veranlaßt, ein Tagebuch
. welches ich vor ſiebenund—
dreißig Jahren über eines meiner eigenen
Kinder führte. Ich hatte ausgezeichnete
Gelegenheit zu genauen Beobachtungen
und ſchrieb, was beobachtet wurde, ſofort
nieder. Mein Hauptaugenmerk war der
) Der Artikel von Taine erſchien in
der Revue philosophique (1876, Nr. 1) und
beſchäftigt ſich hauptſächlich mit der Ent-
wickelung der Sprache und Ideenwelt eines
kleinen Mädchens. Als erſter artikulirter
Laut wurde ein mim mit geſchloſſenen Lippen
beobachtet, dann ein kraaaan in tiefen Gut-
turalen, endlich papapapapa in unendlichen
Wiederholungen. Im Alter von vierzehn
Monaten und drei Wochen waren ihm fol—
gende Worte zugleich als Begriffe geläufig:
bebe (Kind), papa, tete (Amme), oua-oua
(Hund), koko (Hühnchen), dada (Wagenpferd)
und mia (Katze). Sehr intereſſant im Ver—
gleiche zu den mythologiſchen Vorſtellungen
der Kindheitsvölker ſind die Beobachtungen
Taine's über die Gewohnheit des Kindes,
Ausdruck, und meine Notizen haben in
meinem Buche über dieſen Gegenſtand Ver—
wendung gefunden; da ich aber gleichzeitig
auf mehrere andere Punkte achtete, dürften
meine Beobachtungen möglicher Weiſe für
einen Vergleich mit denen des Herrn
Taine einiges Intereſſe bieten, ſowie mit
den Beobachtungen, die zweifelsohne ſpäter
noch werden gemacht werden. Nach dem,
0
was ich an meinen eigenen Kindern ge-
ſehen, bin ich gewiß, daß die Zeit der
Entwickelung der einzelnen Fähigkeiten bei
verſchiedenen Kindern verſchieden iſt.
alle Dinge zu perſonificiren. Es frug unauf—
hörlich: „Was ſagt das Pferd? Was ſagt der
große Baum?“ u. ſ. w. Das ſchimmernde
Waſſer feſſelte ſtets ſeine Aufmerkſamkeit,
und als man ihm ſagte, der Mond, den
es ebenfalls mit den Blicken verfolgte, ſo
lange er da war und „mitſpazierte“, gehe
unter (da lune se couche), frug es ſogleich,
wo die Bonne des Mondes ſei? Die deutſche
Literatur beſitzt ebenfalls eine derartige Arbeit
(„Das Kind“, Tagebuch eines Vaters. Leip—
75 H. Hartung u. Sohn, 1876), in welchem
ſich ſchätzenswerthe Beobachtungen in dieſer
Richtung befinden.
An merk. der
Redaction.
368
Während der erſten ſieben Tage wur—
den von meinem Kinde verſchiedene Reflex—
thätigkeiten, nämlich Nießen, Schlucken (d.
h. Aufſtoßen), Gähnen, Sich-recken und
natürlich Saugen und Schreien gehörig
vollzogen. Am ſiebenten Tage berührte
ich die nackte Sohle ſeines Fußes mit
einem Papierſchnitzel, welches es wegſchleu—
derte, indem es ſeine Zehen gleichzeitig ein—
zog, wie wenn ein älteres Kind gekitzelt
wird. Die Vollkommenheit dieſer Reflex—
bewegungen zeigt, daß die äußerſte Un—
vollkommenheit der willkürlichen Bewegun—
gen nicht dem Zuſtande der Muskeln
oder der vermittelnden Centren, ſondern
dem des Sitzes des Willens beizumeſſen
iſt. Schon zu derſelben Zeit, ſchien es
mir klar zu ſein, daß, wenn man ihm
eine warme, weiche Hand auf das Geſicht
legte, in ihm der Wunſch zu ſaugen rege
wurde. Es muß dies als eine Reflex—
oder inſtinctive Thätigkeit betrachtet werden,
denn man kann unmöglich glauben, daß fo,
frühe ſchon Erfahrung und die Verknüpfung
mit dem Gefühlseindruck von ſeiner Mut—
ter Bruſt in Thätigkeit getreten wären.
Während der erſten vierzehn Tage fuhr es
oft auf, wenn es ein plötzliches Geräuſch
hörte und zwinkerte mit den Augen. Der-
ſelbe Umſtand wurde während der erſten
vierzehn Tage auch bei einigen meiner
anderen Kinder beobachtet. Als es 66 Tage
alt war, nießte ich einmal zufällig, worauf
es heftig zuſammenfuhr, das Geſicht verzog,
ganz erſchreckt ausſah und laut zu ſchreien
anfing; eine ganze Stunde lang befand
es ſich in einem Zuſtande, den man bei
einer ältern Perſon nervös nennen würde,
indem es bei jedem geringen Geräuſche
zuſammenfuhr. Wenige Tage vorher fuhr
es zum erſten Male bei einem plötzlich
geſehenen Gegenſtande zuſammen; dagegen
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
ließen es Töne noch lange nachher weit
häufiger zuſammenfahren und mit den
Augen blinzeln, als es Geſichtseindrücke
vermochten; ſo ſchüttelte ich z. B., als es
114 Tage alt war, eine Pappſchachtel mit
Zuckerwerk nicht weit von ſeinem Geſichte,
und es fuhr zuſammen, während, wenn
man dieſelbe Schachtel leer oder irgend
etwas Anderes ebenſo nahe oder noch näher
an ſeinem Geſichte ſchüttelte, dies keine
Wirkung hervorbrachte. Wir dürfen aus
dieſen einzelnen Thatſachen ſchließen, daß
das Zwinkern mit den Augen, welches offen—
bar dazu dient, fie zu ſchützen, nicht durch.
Erfahrung erworben war. Obwohl fo
empfindlich gegen Geräuſche im Allgemeinen,
war es jedoch ſelbſt im Alter von 124
Tagen noch nicht im Stande hinreichend
leicht zu unterſcheiden, woher ein Laut kam,
um ſeine Augen nach der Quelle des Ge—
räuſches zu richten. f
Was das Geſicht betrifft, ſo hefteten
ſich die Augen des Knaben ſchon mit dem
neunten Tage auf ein (brennendes) Licht
und bis zum 45. Tage ſchien nichts An—
deres ſie in gleicher Weiſe zu feſſeln; am
49. Tage wurde aber ſeine Aufmerkſamkeit
durch eine lebhaft gefärbte Troddel ge—
weckt, was ſich daran zeigte, daß ſeine
Augen ſtarr wurden und die Bewegungen
ſeiner Arme ſich einſtellten. Es war er—
ſtaunlich, wie langſam er die Fähigkeit
erlangte, mit den Augen einem nur einiger—
maßen ſchnell ſchwingenden Gegenſtande zu |
folgen; denn er vermochte dies kaum, als
er ſchon achtehalb Monate alt war. Im
Alter von 32 Tagen gewahrte er die
Bruſt ſeiner Mutter, wenn er drei bis
vier Zoll derſelben nahe war, wie ſich daran
zeigte, daß er ſeine Lippen vorſtreckte und
ſeine Augen ſtarr blickten; ich zweifle aber
ſehr, ob dies irgend etwas mit dem Geſichte
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
zu thun hatte; jedenfalls hatte er die Bruſt
nicht berührt. Ob er nun durch den Geruch,
oder das Gefühl der Wärme, oder durch
die natürliche Aſſociation mit der Lage, in
der man ihn hielt, geleitet wurde, will
ich allerdings nicht entſcheiden.
Die Bewegungen ſeiner Glieder und
ſeines Körpers waren lange Zeit hindurch
unbeſtimmt und zwecklos und wurden ge—
wöhnlich zuckend ausgeführt; jedoch fand
bei dieſer Regel eine Ausnahme ſtatt,
die nämlich, daß er von ſehr früh an und
jedenfalls lange ehe er noch 40 Tage alt
war, ſeine Hände nach dem Munde führen
konnte. Im Alter von 77 Tagen nahm
er die Flaſche (mit der er zum Theil ge—
ſtillt wurde) in feine rechte Hand, gleich—
viel, ob ihn feine Wärterin auf dem rech—
ten oder linken Arme hielt, und war, trotz
wiederholter Verſuche, während der nächſten
acht Tage nicht dazu zu bringen, ſie in
die Linke zu nehmen; ſo war alſo die rechte
Hand um eine Woche der linken voraus.
Dennoch ſtellte ſich ſpäter heraus, daß dieſes
Kind linkshändig war, ohne Zweifel nach
ererbter Neigung — ſein Großvater, ſeine
Mutter und ein Bruder waren oder ſind
ebenfalls „links“. Als er 80 bis 90 Tage
alt war, zog er allerhand Gegenſtände nach
ſeinem Munde und konnte dies nach zwei
bis drei Wochen mit einem gewiſſen Ge—
ſchicke thun; oft aber berührte er mit dem
Gegenſtande erſt ſeine Naſe und zog ihn
dann erſt nach ſeinem Munde herab. Meinen
Finger packte er und wollte ihn in den
Mund nehmen, ſeine eigene Hand hinderte
ihn aber daran zu ſaugen; als er jedoch
am 114. Tage auf dieſe Weiſe verfuhr,
glitt er mit ſeiner Hand herab, ſo daß er
meine Fingerſpitze in den Mund bekommen
konnte. Dieſes Verfahren wiederholte er
verſchiedene Male, und offenbar war es
369
nicht Zufall, ſondern vernünftige Abſicht.
Die abſichtlichen Bewegungen der Hände
und Arme waren alſo denen des Körpers
und der Beine weit voraus, obwohl die
zweckloſen Bewegungen der letzteren von
ſehr früh an wechſelweiſe wie beim Gehen
geſchahen. Als er vier Monate alt war,
richtete er den Blick oft feſt auf ſeine Hände
und andere ihm ganz nahe Gegenſtände,
wobei ſeine Augen ſtark nach innen ge—
richtet waren, ſo daß er dabei entſetzlich
ſchielte. Vierzehn Tage ſpäter (d. h. im
Alter von 132 Tagen) bemerkte ich, daß
wenn ein Gegenſtand ſeinem Geſichte auf
Aermchenslänge nahe gebracht wurde, er
ihn zu ergreifen ſuchte, aber oft verfehlte,
daſſelbe verſuchte er jedoch nicht mit weiter
entfernten Gegenſtänden. Ich denke, man
kann kaum zweifeln, daß ihm die Conver—
genz ſeiner Augen den Schlüſſel gab und
ihn reizte, feine Arme zu bewegen. Ob—
wohl nun aber dieſes Kind ſchon ſo frühe
ſeine Hände zu brauchen angefangen, zeigte
es ſpäter in dieſer Beziehung doch keine be—
ſondere Geſchicklichkeit, denn im Alter von
2 Jahren und 4 Monaten hielt es Blei—
ſtifte, Federn und andere Sachen weit un—
geſchickter und unſicherer, als ſeine damals
erſt 14 Monate alte Schweſter, die übri—
gens große angeborne Geſchicklichkeit in
Handhabung alles Möglichen zeigte.
Zorn. — Es war ſchwer zu entſcheiden,
wie früh der Knabe Zorn empfand; den
achten Tag zog er, bevor er ſchrie, die
Augenbrauen zuſammen und runzelte die
Haut um ſeine Augen; dies mag indeſſen
eher aus Schmerz oder aus Unbehagen, als
gerade aus Zorn geſchehen ſein. Als er aber
einmal, ungefähr zehn Wochen alt, etwas
zu kalte Milch bekam, behielt er die ganze
Zeit über, während er ſaugte, die Stirn
gerunzelt, wie etwa ein Erwachſener, der ſich
darüber ärgert, daß er zu etwas gezwun—
gen wird, was er nicht gerne thut. Als
er beinahe vier Monate zählte und viel—
leicht noch früher, konnte man, nach der
Art, wie das Blut nach Kopf und Antlitz
ſtrömte, nicht daran zweifeln, daß er leicht
in heftigen Zorn gerieth. Ein kleiner An—
laß reichte dazu hin; ſo ſchrie er, kaum
ſieben Monate alt, vor Wuth, weil ihm
eine Citrone entglitt und er ſie nicht mit
ſeinen Händen greifen konnte. Wenn man
ihm, als er elf Monate alt war, ein fal—
ſches Spielzeug gab, pflegte er es fortzu—
ſtoßen und zu ſchlagen; ich vermuthe, dieſes
Schlagen war ein inſtinktives Zeichen von
Zorn, wie das Schnappen mit den Kinn—
laden bei einem eben aus dem Ei gekom—
menen Krokodil, und nicht etwa, daß er
dachte, er könne dem Spielzeug dadurch
etwas zu Leide thun. Im Alter von 2½
Jahren war er gleich bei der Hand,
wenn es Jemand bei ihm verſah, mit
Büchern oder Stöcken und dergleichen nach
dem Betreffenden zu werfen; und daſſelbe
war bei mehreren meiner anderen Söhne
der Fall. Andererſeits habe ich nie eine
Spur dieſer Fertigkeit bei meinen Töchtern
wahrnehmen können, ſo daß ich mich zu der
Meinung veranlaßt ſehe, daß Knaben eine
Neigung mit etwas zu werfen angeboren iſt.
Furcht. — Dieſes Gefühl wird wahr—
ſcheinlich mit am früheſten von Säuglingen
empfunden, wie aus ihrem Zuſammen—
fahren mit darauf folgendem Schreien bei
einem plötzlichen Geräuſche, wenn ſie kaum
einige Wochen alt ſind, hervorgeht. Noch
ehe der in Rede ſtehende Knabe fünftehalb
Monate alt war, pflegte ich dicht in ſeiner
tähe mancherlei laute Geräuſche hervorzu—
bringen, die ſämmtlich als vortreffliche
Späße aufgenommen wurden. Um dieſe
Zeit aber fing ich eines Tages, was ich nie
.
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
zuvor gethan, laut an zu ſchnarchen; er
wurde ſofort ſehr ernſt und brach dann in
Thränen aus. Zwei oder drei Tage dar—
auf vergaß ich mich und machte daſſelbe
Geräuſch, was wiederum dieſelbe Wirkung
hatte. Um dieſelbe Zeit (am 137. Tage)
kam ich rückwärts auf ihn zu und blieb
dann regungslos ſtehen: er ſchaute ſehr
bedenklich drein, ſchien verwundert und
würde bald geſchrieen haben, hätte ich mich
nicht umgedreht, worauf ſich die Spannung
ſeines Geſichtes augenblicklich in ein Lächeln
verlor. Es iſt wohlbekannt, wie ſehr ältere
Kinder durch die Furcht vor dem Unbe—
ſtimmten, wie z. B. der Dunkelheit, leiden
können, oder wenn ſie an einem finſtern
Winkel in einer großen Halle vorbei müſ—
ſen u. ſ. f. Ich könnte als ein Beiſpiel
anführen, daß ich denſelben Jungen, als
er 24, Jahre alt war, in den zoologiſchen
Garten mitnahm, wo er ſich ſehr über
alle Thiere, die den ihm bekannten
glichen, wie Hirſche, Antilopen u. ſ. w.,
ſowie über alle Vögel und ſelbſt den
Strauß freute, vor den verſchiedenen grö—
ßeren Thieren in Käfigen ſich aber fürch—
tete. Er ſagte ſpäter oft, daß er wieder
hingehen aber nicht „die Thiere in Häuſern“
ſehen möchte, und wir konnten uns dieſe
Furcht auf keine Weiſe erklären. Dürfen
wir nicht muthmaßen, daß bei Kindern eine
in ſo vielen Fällen unerklärliche, aber ſehr
beſtimmte Furcht, die mit ihrer eigenen
Erfahrung in keinem Zuſammenhange ſteht,
eine ererbte Folge von wirklichen Gefahren
und tiefem Aberglauben aus frühen Zeiten
eines wilden Urzuſtandes ſei? Mit dem,
was wir von der Vererbung eines früher
gut entwickelten Typus wiſſen, ſtimmt es
ganz, daß dieſe Furcht eben in einem
früheren Lebensabſchnitt erſcheint und ſpäter
wieder verſchwindet.
Empfindungen der Luſt. —
Man darf annehmen, daß die Kinder
beim Saugen Luſt empfinden, und der
Ausdruck, wie ſie dabei die Augen ver—
drehen, ſcheint zu zeigen, daß dies der Fall
iſt. Dieſer Knabe lächelte, als er 45 Tage,
ein zweites Kind, als es 46 Tage alt war,
und es war dies ein wirkliches Lächeln,
wie es die Luſt ausdrückt, indem ihre
Augen leuchteten und die Lider ſich leicht—
hin ſchloſſen.
zugsweiſe ein, wenn ſie ihre Mutter an—
ſahen, und war ſonach wahrſcheinlich geiſti—
gen Urſprungs; auch lächelte der Junge
einige Zeit hindurch aus einem innern
Luſtgefühl, denn es geſchah Nichts, was
ihn irgendwie hätte erregen oder beluſtigen
können. Als er 110 Tage alt war, be—
luſtigte es ihn ausnehmend, wenn ein
Tuch über ſein Geſicht geworfen und dann
ſchnell weggezogen wurde, und ebenſo, wenn
ich bei demſelben Spiel plötzlich mein Ge—
ſicht entmummte und auf ihn zufuhr. Er
ſtieß dabei leiſe Töne aus, die der An—
ſatz zum Lachen waren. Hier war Ueber—
raſchung die Haupturſache zur Beluſtigung,
wie dies in überwiegendem Maße auch bei
dem Witze Erwachſener der Fall iſt. Drei
oder vier Wochen, glaube ich, vor der
Zeit, wo er ſich freute, wenn man plötz—
lich ein Geſicht entmummte, nahm er es
als einen guten Spaß auf, wenn man
ihm die Naſe oder die Backen kniff. Ich
war zuerſt überraſcht, daß Scherz von
einem kaum drei Monate alten Kinde ver—
ſtanden würde; wir dürfen jedoch nicht ver—
geſſen, wie ſo frühzeitig junge Hunde
und kleine Katzen zu ſpielen anfangen.
Als er vier Monate alt war, zeigte er
unzweideutig, daß er gern Klavier ſpielen
hörte, womit alſo das erſte Anzeigen
einer äſthetiſchen Empfindung vorzuliegen
Das Lächeln fand ſich vor-
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
371
ſcheint, wenn man nicht etwa die viel
früher gezeigte Freude an lebhaften Farben
dafür nehmen will.
Zuneigung. — Dieſe entſtand wahr—
ſcheinlich ſchon ſehr früh im Leben des
Säuglings, wenn wir danach urtheilen
dürfen, daß er, noch nicht zwei Monate
alt, diejenigen, welche mit ſeiner Pflege be—
traut waren, anlächelte; obwohl ich deutliche
Beweiſe davon, daß er irgend Jemanden
unterſchied und erkannte, erſt bekam, als
er faſt vier Monate alt war. Im Alter
von fünf Monaten zeigte er entſchieden, daß
er zu ſeiner Wärterin wollte. Er war
aber ſchon etwas über ein Jahr alt, als
er aus eigenem Triebe Zuneigung in offen—
kundigen Handlungen an den Tag legte,
indem er wiederholentlich ſeine Wärterin
küßte, die kurze Zeit fortgeweſen war.
Was das verwandte Gefühl der Sympa-
thie betrifft, ſo zeigte ſich daſſelbe klar im
Alter von 6 Monaten und 11 Tagen
durch ſein trauriges Geſicht mit deutlich
niedergezogenen Mundwinkeln, ſobald ſeine
Wärterin that, als ob ſie weinte. Eiferſucht
erſchien deutlich, als er 15½ Monate alt
war, wenn ich mit einer großen Puppe
ſchön that oder ſein kleines Schweſterchen
im Arme wiegte. Da bei jungen Hun—
den Eiferſucht ein ſo ſtarker Affekt iſt,
würden ſie wohl auch Kinder in einem weit
früheren als dem eben angeführten Alter
zeigen, wenn man ſie in angemeſſener
Weiſe reizte.
Ideenaſſociation, Vernunft x.
— Der erſte Akt, der nach meiner Beob—
achtung eine Art praktiſcher Ueberlegung
aufwies, iſt bereits angeführt worden, wo
er nämlich mit ſeiner Hand an meinem
Finger entlang glitt, um ſo deſſen Ende
in ſeinen Mund zu bringen; und zwar fiel
dies auf den 114. Tag. Als er fünfte—
Darwin, Biographifche Skizze eines kleinen Kindes.
halb Monate alt war, lächelte er wieder—
holentlich über mein und ſein Bild in
einem Spiegel und ließ ſich ohne Zweifel
täuſchen, ſo daß er ſie für wirkliche Gegen-
ſtände hielt; er zeigte aber Verſtand, in—
dem er offenbar überraſcht war, daß meine
Stimme von hinter ihm herkam. Wie
alle Kinder ſah er ſich ſehr gerne im Spie—
gel und verſtand in weniger als zwei Mo—
naten vollkommen, daß das ein Bild war;
denn wenn ich ganz lautlos irgend ein
ſonderbares Geſicht ſchnitt, verfehlte er
nicht, ſich auf einmal umzudrehen und mich
Er war, im Alter von ſieben
anzuſehen.
Monaten, jedoch in Verlegenheit, als er
mich von draußen durch eine große Spiegel—
fenſterſcheibe ſah und ſchien zweifelhaft, ob
es ein Bild ſei oder nicht. Eins von
meinen anderen Kindern, ein Mädchen,
war bei weitem nicht ſo klug und ſchien
ganz verblüfft über das Spiegelbild einer
von hinten auf ſie zu kommenden Perſon.
Die höheren Affen, bei denen ich mit
einem kleinen Handſpiegel Verſuche anſtellte,
benahmen ſich anders; ſie fuhren mit der
Hand hinter den Spiegel und zeigten fo
Verſtand, aber weit entfernt, ſich mit Ver—
gnügen anzuſehen, wurden ſie böſe und
wollten nicht mehr hineinſehen.
Als der Knabe fünf Monate alt war,
ſetzten ſich in ſeiner Seele mit einander
verbundene Vorſtellungen feſt, die un—
abhängig von irgend welcher Anleitung
entſtanden; ſo z. B. wurde er, ſobald
er ſeinen Hut und ſein Mäntelchen um
bekam, ſehr ungehalten, wenn man nicht
ſofort mit ihm hinausging. Als er genau
ſieben Monate zählte, that er den großen
Schritt, ſeine Wärterin mit ihrem Namen
zu verbinden, ſo daß er, wenn ich ihren
Namen rief, ſich ſofort nach ihr umſah.
Einer von den anderen Jungen pflegte zum
VV
Scherz ſeinen Kopf zeitweiſe zu ſchütteln;
wir lobten es und ahmten ihm nach, in—
dem wir dabei ſagten: „Schüttle mit dem
Kopf“, und als er ſieben Monate alt war,
that er es manchmal, wenn man es ihm
knüpfte
ſagte, auch ohne alle andere Anleitung.
Während der nächſten vier Monate ver-
dann das in Rede ſtehende
Kind viele Dinge und Handlungen mit
Worten; ſo ſtreckte er ſtets, wenn man von
ihm ein Küßchen verlangte, die Lippen vor
und hielt ſtill; oder er ſchüttelte mit dem
Kopfe und ſagte in ſcheltendem Tone „Ah“
zum Kohleneimer, oder wenn ein Tropfen
Waſſer vergoſſen war, u. ſ. w., weil man
ihn gelehrt, dies als garſtig anzuſehen. Ich
kann noch hinzufügen, daß er im Alter
von neun Monaten weniger ein paar Ta—
gen ſeinen eignen Namen mit ſeinem Bilde
im Spiegel verknüpfte und ſich, gerufen,
nach dem Spiegel umdrehte, ſelbſt wenn er
weiter davon entfernt war. Einige Tage über
neun Monate alt, merkte er ſelbſtändig, daß er
eine Hand oder einen anderen Gegenſtand,
der ſeinen Schatten auf die gegenüberliegende
Wand warf, hinter ſich ſuchen mußte.
Als er noch nicht ein Jahr alt war,
reichte es hin, irgend einen kurzen Satz
in Zwiſchenräumen zwei oder dreimal zu
wiederholen, um in ſeiner Seele eine ge—
wiſſe Verknüpfung von Vorſtellungen ſicher
zu befeſtigen. Bei dem von Herrn Taine
beſchriebenen Kinde ſcheint die leichte Ver—
knüpfung von Vorſtellungen erſt in einem
beträchtlich vorgerückteren Alter ſtattgefunden
zu haben, wenn nicht etwa die früheren
Fälle überſehen worden ſind. In der
Leichtigkeit, mit welcher die einer Anleitung
verdankten und andere, ſelbſtändig entſprun⸗
gene Ideen-Aſſociationen erworben wurden,
ſchien mir der bei Weitem am ſtärkſten
ausgeprägte Unterſchied zwiſchen der Kin⸗
Av
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
desſeele und der des klügſten erwachſenen
Hundes zu liegen. Welchen Gegenſatz bietet
die Seele eines Säuglings gegenüber der
des von Prof. Möbius (die Bewegungen
der Thiere, 1873. S. 11.) beſchriebenen
Hechtes, der volle drei Monate lang bis
zur Betäubung gegen eine Glaswand ſchoß,
die ihn von einigen Elritzen ſchied, und
der dann, als er gelernt hatte, daß er dieſe
nicht ungeſtraft angreifen konnte, wieder zu
jenen in das Aquarium geſetzt, ſinnlos be—
harrlich jeden weiteren Angriff unterließ.
Neugier wird, wie Herr Taine be—
merkt, von Säuglingen ſehr früh gezeigt
und iſt höchſt wichtig für ihre geiſtige Ent:
wickelung; ich habe jedoch keine beſondere
Beobachtung über dieſen Gegenſtand ge—
macht. Nachahmung greift ebenfalls ein.
Als unſer Junge erſt vier Monate alt
war, glaubte ich, daß er Laute nachzuah—
men ſuche; ich mag mich aber wohl ge
täuſcht haben, denn erſt als er zehn Mo—
nate alt war, konnte ich mich vollkommen |
davon überzeugen. Im Alter von 111%,
Monaten hatte er eine gewiſſe Fertigkeit
in der Nachahmung von allerlei Handlungen,
wie mit dem Kopfe ſchütteln und „Ah“ jagen
bei etwas Garſtigem, oder ſorgſam und ſachte
den Zeigefinger in die Mitte des andern
Handtellers legen zu den Kinderreimen:
„Pat it and pat it and mark it with
T.“ Es war unterhaltend den wohlge—
fälligen Ausdruck zu ſehen, wenn er ein
derartiges Kunſtſtück erfolgreich ausgeführt
hatte.
Ich weiß nicht, ob es erwähnenswert)
iſt, inſofern es etwas über die Stärke des
Gedächtniſſes bei einem Kinde erkennen
ließe, daß dieſer Junge im Alter von 3
Jahren und 23 Tagen, als man ihm ein Bild
ſeines Großvaters zeigte, denſelben augenblick—
lich erkannte und eine ganze Reihe von Bege—
benheiten erwähnte, die ſich zugetragen
hatten, während er das letzte mal bei ihm
war, und die in der Zwiſchenzeit thatſäch—
lich nie erwähnt worden waren.
Sittliches Gefühl. — Das erſte
Anzeichen von ſittlichem Gefühl wurde im
Alter von beinahe 13 Monaten bemerkt.
Ich ſagte: „Doddy (ſein Schmeichelname)
will dem armen Papa keinen Kuß geben, —
böſer Doddy“. Dieſe Worte ſchienen ihm
ohne Zweifel ein leichtes Unbehagen zu
verurſachen; und endlich, als ich zu meinem
Stuhl zurück gegangen war, ſtreckte er
ſeine Lippen vor, als ein Zeichen, daß
er bereit wäre, mich zu küſſen; dann
ſchüttelte er ärgerlich ſeine Hand, bis ich
kam und ſeinen Kuß empfing. Nahezu
derſelbe kleine Auftritt wiederholte ſich we—
nige Tage darauf, und die Verſöhnung
ſchien ihm eine ſolche Genugthuung zu ge—
währen, daß er in der Folge mehrere mal
that, als ob er böſe wäre, mir einen
Schlag gab und dann dararauf beſtand,
mir einen Kuß zu geben. Hierin haben
wir einen Zug jener Schauſpielerkunſt,
die bei den meiſten Kindern ſo ſtark aus—
geſprochen iſt. Um dieſe Zeit wurde es
leicht, auf ſeine Gefühle zu wirken und
ihn, wozu man wollte, zu beſtimmen. Als
er 2 Jahre und 3 Monate alt war, gab er
ſeinen letzten Biſſen Pfefferkuchen ſeiner
kleinen Schweſter und rief dann mit hoher
Selbſtbilligung: „O guter Doddy, guter
Doddy“. Zwei Monate ſpäter, wurde er
äußerſt empfindlich gegen Spott und war
ſo argwöhniſch, daß er oft dachte, Leute,
die ſich lachend unterhielten, lachten über
ihn. Ein wenig ſpäter (im Alter von 2 Jah-
ren 7½ Monaten) begegnete ich ihm, als er
mit ungewöhnlich leuchtenden Augen aus dem
Speiſezimmer kam. Da er dabei ein
ſonderbares, unnatürliches oder erregtes
Weſen zeigte, ſo ging ich in das Zimmer
mich, und jede Spur von Schüchternheit
um zu ſehen, wer darin wäre, und fand,
daß er daran geweſen war, geſtoßenen Zu—
cker zu nehmen, was man ihm verboten
hatte. Da er nie irgend wie beſtraft wor—
den war, rührte ſein ſonderbares Weſen
ſicher nicht von Furcht her, und ich glaube,
daß es eher eine angenehme Aufregung im
Kampfe mit dem Gewiſſen war. Vierzehn
handen iſt. Nach einiger Zeit iſt der Laut
je nach der Urſache verſchieden, wie bei
Tage darauf traf ich ihn, wie er aus demſelben
Zimmer kam; er beſah ſein Lätzchen, das
er ſorgfältig zuſammengerollt hatte. Sein
Weſen war wiederum ſo ſeltſam, daß ich
nachzuſehen beſchloß, was in ſeinem Lätzchen
wäre, ungeachtet er ſagte, es wäre nichts
nach Willkür ſchreien zu lernen, oder je—
darin, und mir wiederholentlich „zu gehen“
befahl. Ich fand es mit Pickleſauce befleckt,
ſo daß hier eine ſorgfältig überlegte Täuſchung |
vorlag. Da dieſes Kind einzig durch Ein-
wirkung auf ſeine guten Gefühle erzogen
wurde, wurde es bald ſo wahrheitsliebend,
offen und zärtlich, als nur irgend Jemand
wünſchen konnte.
Unbewußtheit, Schüchternheit.
— Niemand kann ſich mit kleinen Kindern
befaßt haben, ohne daß ihm die unbefan—
gene Art aufgefallen wäre, mit der ſie, ohne
mit den Augen zu blinken, feſt und ſtarr
in ein neues Geſicht ſehen; ein Erwachſe—
ner kann auf dieſe Weiſe nur ein Thier
oder einen lebloſen Gegenſtand anſehen.
Es kommt dies, glaube ich, daher, das
kleine Kinder durchaus nicht über ſich den—
ken, und daher gar nicht ſchüchtern ſind,
obwohl ſie ſich bisweilen vor Fremden
fürchten. Ich ſah bei meinem Kinde die
erſten Zeichen von Schüchternheit, als es
faſt 2¼ Jahre alt war: ſie zeigte ſich
mir gegenüber nach einer zehntägigen Ab—
weſenheit von Hauſe, hauptſächlich dadurch,
daß ſich ſeine Augen um ein Geringes
von mir abgewandt hielten; bald kam er
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
aber, ſetzte ſich auf mein Knie und küßte
verſchwand.
Mittel der Mittheilung. —
Das Geräuſch des Weinens oder vielmehr
Schreiens, da lange Zeit hindurch keine
Thränen vergoſſen werden, wird natürlich
in inſtinktiver Weiſe ausgeſtoßen, dient
aber dazu, um anzuzeigen, daß Leiden vor—
Hunger oder bei Schmerz. Dies wurde
bemerkt, als der Knabe elf Wochen alt war
und, wie ich glaube, noch früher bei einem
anderen Kinde. Uebrigens ſchien er bald
nachdem ſein Geſicht zu verziehen, um
dadurch anzuzeigen, daß er etwas wolle,
Als er 46 Tage alt war, gab er zum
erſten Male leiſe Laute von ſich, ohne Bedeu—
tung, zu feinem Vergnügen, und dieſe wur⸗
den bald mannigfach. Ein Anſatz zum
Lachen wurde am 113. Tage, bei einem
anderen Kinde aber weit früher beobachtet.
Zu der Zeit glaubte ich, wie ſchon be—
merkt, daß er anfinge, zu verſuchen, Laute
nachzuahmen, wie er es zu einer beträcht—
lich ſpäteren Zeit ſicher that. Im Alter
von 5½ Monaten ließ er ein artiku⸗
lirtes „da“ hören, aber ohne irgend
welche Abſicht damit zu verbinden.
Als er etwas über ein Jahr war, ge—
brauchte er Geberden, um ſeine Wünſche
zu erklären; ſo las er, um ein einfaches
Beiſpiel zu geben, ein Stückchen Papier
auf und wies, indem er mir es gab, auf
das Feuer, da er oft hatte Papier ver—
brennen ſehen und dies gerne ſah. Ge—
rade im Alter von einem Jahre that er
den großen Schritt ein Wort für Eſſen zu
erfinden, nämlich „mum“, was ihn aber
Wenn
darauf brachte, entdeckte ich nicht.
ik
a Aare
7 7
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
er nun hungrig war, brauchte er, ſtatt
zu weinen, dieſes Wort in einer de—
monſtrativen Weiſe als ein Verbum, das
da ausdrückte „Gieb mir Eſſen“. Dieſes
Wort entſpricht alſo dem „ham“, das Herrn
Taine's Kind in dem ſpätern Alter von
14 Monaten gebrauchte. Er gebrauchte je—
doch „mum“ auch als ein Subſtantiv von
weiter Bedeutung, z. B. nannte er Zucker
ſhu-mum, und etwas ſpäter, als er das
Wort „black“ gelernt hatte, nannte er Lak—
ritzen black-ſhu-mum, ſchwarzes
Zucker-Eſſen. a
Es fiel mir beſonders der Umſtand
auf, daß wenn er nach Eſſen mit dem
Worte „mum“ verlangte, er dieſem (ich will
die damals niedergeſchriebenen Worte ab—
ſchreiben) „einen ſehr ſtark ausgeprägten
fragenden Ton am Ende“ gab. Auch dem
„Ah“, das er zuerſt vorzugsweiſe brauchte,
wenn er irgend Jemand oder ſein eigenes
Bild in einem Spiegel erkannte, gab er
einen Ton des Ausrufs, wie wir ihn ge—
brauchen, wenn wir überraſcht ſind. In
meinen Notizen bemerkte ich, daß der Ge—
brauch dieſer Betonungen inſtinktmäßig ent—
ſtanden zu ſein ſcheine, und ich bedaure,
daß über dieſen Gegenſtand nicht mehr
Beobachtungen gemacht wurden. Ich be—
richte dagegen nach meinen Notizen, daß er
zu einer ſpäteren Zeit, im Alter von 18 bis
21 Monaten, wenn er etwas durchaus
nicht thun wollte, ſeine Stimme durch ein
trotziges Winſeln modulirte, um jo aus—
zudrücken, „das will ich nicht“; und an—
drerſeits drückte ſein zuſtimmendes „Hm“
aus „Ja gewiß“. Herr Ta ine legt eben—
falls großen Nachdruck auf die höchſt aus—
drucksvollen Betonungen der Laute, die fein
Töchterchen brauchte, ehe ſie hatte ſprechen
lernen. Der fragende Ton, welchen mein
Junge dem Worte „mum“ gab, wenn er
Eſſen verlangte, war beſonders merkwür—
dig; denn wenn Jemand ein einzelnes
Wort oder einen kurzen Satz in dieſer
Weiſe brauchen will, wird er finden, daß
die muſikaliſche Höhe ſeiner Stimme am
Schluſſe beträchtlich ſteigt. Ich ſah damals
nicht, daß dieſe Thatſache die Anſchauung
ſtützt, die ich anderswo aufgeſtellt habe:
daß der Menſch, ehe er ſich artikulirter
Rede bediente, Töne in einer wahrhaft mu—
ſikaliſchen Tonleiter ausſtieß, wie dies der
Menſchenaffe Hylobates thut.
Es machen ſich alſo die Bedürfniſſe des
Kindes zuerſt durch inſtinktive Schreie kund,
die nach einiger Zeit modificirt werden,
theils unbewußt, theils, wie ich glaube, will—
kürlich als ein Mittel der Mittheilung, durch
den unbewußten Ausdruck der Geſichtszüge —
durch Geberden, und in einer ausgeprägten
Weiſe durch verſchiedene Betonungen —
endlich durch von ihm ſelbſt erfundene
Wörter allgemeiner Art, dann von be—
ſtimmterer Beſchaffenheit, die denen nach—
gemacht ſind, die er hört; und zwar werden
dieſe letzteren mit wunderbarer Schnelligkeit
erworben. Ein Kind verſteht innerhalb
gewiſſer Grenzen und, wie ich glaube, in
einem ſehr frühen Lebensabſchnitt, die Ab—
ſicht oder die Gefühle derer, die es warten,
an dem Ausdruck ihrer Geſichtszüge. Es
kann hierüber, ſoweit es das Lächeln betrifft,
kaum ein Zweifel walten, und es ſchien
mir, daß das Kind, deſſen Biographie ich
hier gegeben, im Alter von etwas über
fünf Monaten einen theilnehmenden Ausdruck
verſtand. Als es 6 Monate 11 Tage
alt war, zeigte es ſicher Mitgefühl mit
ſeiner Wärterin, wenn ſie that, als ob ſie
weinte. Wenn ſich der Knabe, als er faſt ein
Jahr alt war, freute, wenn er ein neues
Kunſtſtück ausgeführt, ſtudirte er augen—
ſcheinlich den Ausdruck ſeiner Umgebung.
Wahrſcheinlich rührte es auch von Verſchie—
denheiten im Ausdruck und nicht blos in
der Form der Geſichtszüge her, daß ihm
gewiſſe Geſichter offenbar viel beſſer als
andere gefielen, ſelbſt ſchon in dem frühen
Alter von etwas über 6 Monaten. Ehe
er ein Jahr alt war, verſtand er Betonun—
gen und Geberden, wie auch mehrere Wör—
ter und kurze Sätze. Er verſtand ein
Wort, nämlich den Namen ſeiner Wärterin,
genau fünf Monate, bevor er ſein erſtes
Wort „mum“ erfand; und es ließ ſich dies
auch erwarten, da wir wiſſen, daß die
niederen Thiere geſprochene Wörter leicht
verſtehen lernen!
In Bezug auf die in dieſer Zeitſchrift
begonnene und im vorliegenden Hefte fort—
geſetzte Kritik der Geiger'ſchen Farben—
theorie, hatte der Verfaſſer des obigen Ar—
tikels die Güte, uns brieflich noch folgende
Beobachtungen über die Entwickelung des
Farbenſinnes bei ſeinen Kindern mitzu—
theilen, um zu ferneren Beobachtungen dar—
über anzuregen:
„Während ich ſorgſam die geiſtige Ent—
wickelung meiner kleinen Kinder verfolgte,
war ich erſtaunt, bei zweien oder, wie ich
glaube, bei dreien, bald nachdem ſie in das
Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes.
*
Alter gekommen waren, in welchem ſie die
Namen aller gewöhnlichen Dinge wußten,
zu beobachten, daß ſie völlig unfähig er—
ſchienen, den Farben colorirter Stiche die
richtigen Namen beizulegen, obgleich ich
wiederholentlich verſuchte, ſie dieſelben zu
lehren. Ich erinnere mich beſtimmt, erklärt
zu haben, daß ſie farbeublind ſeien, aber
dies erwies ſich nachträglich als eine grund—
loſe. Befürchtung. Als ich dieſe Thatſache
einer andern Perſon mittheilte, erzählte mir
dieſelbe, daß ſie einen ziemlich ähnlichen
Fall beobachtet habe. Die Schwierigkeit,
welche kleine Kinder, ſei es hinſichtlich der
Unterſcheidung oder, wahrſcheinlicher, hin—
ſichtlich der Benennung der Farben empfin—
den, ſcheint daher eine weitere Unterſuchung
zu verdienen. Ich will hinzufügen, daß
es mir ehemals ſchien, als wenn der Ge—
ſchmacksſinn, wenigſtens bei meinen eigenen
Kindern, als ſie noch ſehr jung waren,
von demjenigen erwachſener Perſonen ver—
ſchieden geweſen ſei; dies zeigte ſich dadurch,
daß ſie Rhabarber mit etwas Zucker und
Milch, welches für uns eine abſcheuliche,
ekelerregende Miſchung iſt, nicht zurück—
wieſen, und ebenſo in ihrer ſonderbaren
Vorliebe für die ſauerſten und herbſten
Früchte, wie z. B. unreife Stachelbeeren
und Holzäpfel.“
Rritilches über die Arzengume.
Von
Profeſſor M. Preyer.
u der Zeit, als noch die Lehre
von der Wechſelwirkung der
Naturkräfte ihre wiſſenſchaftliche
Begründung nicht gefunden hatte,
galt das Suchen nach
Perpetuum mobile für vollkommen be—
rechtigt auch in wiſſenſchaftlichen Kreiſen.
Vorzügliche Köpfe verwendeten ihren ganzen
Scharfſinn darauf, Maſchinen zu erfinden,
die ohne erneuerte Kraftzufuhr von außen
ununterbrochen Arbeit leiſten ſollten. Ja
noch heute verſteht es ſich keineswegs von
ſelbſt bei Laien, daß eine Uhr nicht erfun—
den werden kann, die durch den eigenen
Pendelſchlag ſich ſelbſt aufzöge. Die Er—
kenntniß der Tragweite des Geſetzes von
der Erhaltung der Kraft nicht allein, ſon
dern ſchon das Verſtändniß deſſelben wird
erſt in Zukunft, ſo ſcheint es, in den
Schulen Wurzel faſſen.
Ganz ähnlich verhält es ſich mit dem
Geſetz der natürlichen Entwickelung. Heute
noch gilt es bei ſehr vielen, auch in wiſſen
ſchaftlichen Kreiſen, nicht für thöricht, Expe—
rimente zum Beweiſe einer Urzeugung au
einem
ſpruch mit der Continuität des Lebens ſteht.
Einige Forſcher beſchäftigen ſich in der
That exuſtlich damit, unter Ausſchluß der
Vermittelung alles Lebenden etwas Leben—
diges künſtlich herzuſtellen. Und wenn auch
immer wieder und wieder Andere die Fehler—
quellen ihrer vermeintlich zu poſitiven Er—
gebniſſen führenden Verſuche aufdecken, jene
laſſen nicht ab, fahren vielmehr mit einer
Beharrlichkeit fort, die an die Geduld des
nach dem Stein der Weiſen ſuchenden Al—
chymiſten erinnert. Es ſcheint, daß zu
allen Zeiten ein Bruchtheil der denkenden
Männer in eigenthümlicher Verblendung
mit eiſernem Fleiße thätig ſein muß, um
durch Irrthümer, die den Widerſpruch und
Einſpruch anderer wecken, einen wiſſenſchaft—
lichen Fortſchritt herbeizuführen.
So ſteht es zur Zeit mit der Lehre
von der Urzeugung. Ich habe bereits ge—
zeigt“), daß die Wahrſcheinlichkeit, ein leben—
des Weſen ohne Eltern entſtehen zu ſehen,
verſchwindend klein iſt, nämlich ſo gering
wie die Wahrſcheinlichkeit eines lebenden
) Deutſche Rundſchau, April 1875: Die
Hypotheſen über den Urſprung des Lebens.
378 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
Weſens, das nicht ſtürbe.
des Todes jedes einzelnen Organismus be—
zweifelt Niemand, obſchon ſie nur inductiv
iſt. Die Thatſache der Entſtehung (der
Geburt) jedes einzelnen Organismus aus
anderen Organismen iſt durch mehrtauſend—
jährige Erfahrung gefunden worden,
ſie iſt gleichfalls inductiv feſtgeſtellt, da
noch niemals ein lebendes Weſen beobachtet
wurde, welches nicht von anderen lebenden
Weſen abſtammte. Es iſt ſogar im letzteren
Falle die Zahl der Einzelweſen, welche der
inductiven Generaliſation unterliegen, noch
größer, als im erſten; nämlich um die Ge—
ſammtzahl aller noch jetzt lebenden Orga—
nismen größer, alſo die Wahrſcheinlichkeit
der Urzeugung ſtreng genommen noch gerin—
ger als die Wahrſcheinlichkeit eines unſterb—
lichen Organismus.
Nichts deſto weniger wird immerzu
experimentirt, um niedere Thier- oder
Pflanzenformen ohne Vermittelung von
Lebensproceſſen entſtehen zu laſſen.
Um ſo auffallender iſt dieſes Verfah—
ren, als man gemeiniglich nur dann in
einer Wiſſenſchaft etwas Unbewieſenes an—
zunehmen oder zu dulden pflegt, wenn da—
durch Thatſachen mit einander in einen na—
türlichen Zuſammenhang gebracht werden,
die ſonſt unvermittelt daſtänden. Bei den
Urzeugungs-Experimenten trifft dieſes aber
ganz und gar nicht zu. Denn ſelbſt wenn!
in einem der von dem Engländer Charl-
ton Baſtian, oder dem Franzoſen Oni—
mus, oder dem Holländer Huizinga
angeſtellten Verſuche — ſetzen wir einen
Augenblick den unmöglichen Fall — Leben—
diges entſtanden wäre, ſo würde doch das
eigentliche Problem vom Lebensurſprung
um nichts gefördert ſein, weil die von den
genannten Forſchern beobachteten Mikrozoen
in der Natur nicht in dieſer Weiſe zum
Die Gewißheit
erſten Male entſtanden ſein können. Käſe,
Fleiſch, Blut, Peptone gab es damals noch
nicht. Auch wäre es viel ſchwieriger, das
Eutſpringen der fertigen, ſchon ſehr com—
plicirten Bakterien, Vibrionen u. dgl. aus
unlebendigem Material zu begreifen, als
eine Erklärung ihres Urſprungs ohne die
Urzeugung zu verſuchen, wie ich es vorſchlug.
Höchſtens dürften alſo die erwähnten
Verſuche zum Beweiſe der Urzeugung den
Werth beanſpruchen, zu zeigen, daß einzelne
niedere Lebensformen bei Miſchung von
Kohlenſtoffverbindungen auch ohne Eltern
auftreten, nicht daß ſie einſtmals in der
freien Natur ſo entſtanden ſein können.
Da aber eine ſolche elternloſe Zeugung in
der Gegenwart eine überflüſſige Annahme
iſt und im Widerſpruch mit der Erfahrung
ſteht, ſo ſind derlei Experimente unberech—
tigt. Es verhält ſich mit ihnen alſo fol—
gendermaßen: |
1. Ein poſitives Ergebniß können Die
Verſuche, mit Ausſchluß alles Lebenden Le—
bendes zu erzeugen, nicht liefern, weil aus
logiſchen Gründen die Unwahrſcheinlichkeit
des Vorkommens einer elternloſen Geburt
jo groß iſt, daß man ſie praktiſch der Un—
möglichkeit gleichſetzen muß.
2. Selbſt wenn die Verſuche der ge—
nannten Experimentatoren ein poſitives Er-
gebniß liefern könnten, würde die erſte na—
türliche Entſtehung der künſtlich erzeugten
Weſen nicht begreiflicher ſein, weil die zu
den Verſuchen verwendeten Ingredientien,
ſelbſt Producte von höheren Organismen,
zur Zeit des erſten Auftretens jener Mikro—
zoen nicht exiſtirten, demnach, jo wie im Ya-
boratorium die betreffenden niederen Lebens—
formen, ſicher nicht entſtanden ſein können.
Ich muß ſomit überhaupt dieſe Ver—
ſuche, Lebendiges darzuſtellen, von vornherein
für verfehlt erklären. Solche Experimente
nützen nur
anderer Richtung unſere Kenntni erweitern
können, namentlich in Betreff der Lebens
zähigkeit und Verbreitung niederer Orga—
nismen.
Unter dieſen Umſtänden hat es ein be
ſonderes Intereſſe, die Anſichten hervor
ragender Denker über die Urzeugung mit
einander zu vergleichen.
Ich will hier nur einige wenige zuſam
menſtellen, in der Hoffnung, daß die bei
gefügten Bemerkungen ausreichen, ſolche
jüngere Forſcher, die ſich mit Experimenten
zum Beweiſe der Urzeugung abgeben wollen,
davon abzuhalten und fie zu veranlaſſen,
ihre Kraft und Zeit rationeller zu ver—
werthen.
Es ſei nur noch die Bemerkung voraus—
geſchickt, daß in der Gegenwart namhafte
Forſcher, die durch ihre Leiſtungen ſich als
auf der Höhe wiſſenſchaftlicher Kritik
ſtehend zeigen, nur inſoweit mit Experi—
menten an der Discuſſion über die Ur—
zeugung ſich betheiligen, als ſie die Fehler
quellen nachweiſen, die den Vertheidigern
der Selbſtzeugung entgangen waren.
In Deutſchland befaßt ſich kein Forſcher
erſten Ranges mit Anſtellung von Experi-
menten zum Beweiſe der Urzeugung.
Hören wir nun einige von denjenigen
Denkern, welche nicht ſelbſt zu Gunſten
derſelben experimentirten, aber für ſie ein—
traten.
Zöllner ſagt in feinem Buche über
die Natur der Kometen (S. XXVII): „Da
bei der hohen Temperatur des primitiven
Gluthzuſtandes organiſche Keime in unſerem
heutigen Sinne nicht beſtehen konnten, ſo
muß es auf unſerem Planeten einſt eine
Zeit gegeben haben, in welcher ſich aus
unorganiſcher Materie Organismen ent—
wickelten.“ |
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. ü 379
indirect, ſofern fie nach
art ausgeſchloſſen wäre.
„Der Streit über die Exiſtenz einer
generalio aequivoca und die neuerdings
zu ihrer Widerlegung angeſtellten Verſuche
zeigen . . . ., daß wir bei der Beſchränktheit
unſerer Mittel und unſeres Verſtandes
gegenwärtig nicht im Stande ſind,
die erforderlichen Bedingungen zur ſpon—
tanen Bildung organiſcher Zellen aus
unorganiſcher Materie derartig zu realiſiren,
daß jede Möglichkeit einer anderen Zeugungs
Daß aber einſt
wirklich eine generatio aequivoca ſtatt—
gefunden habe, kann für den menſchlichen
Verſtand nicht anders, als mit Aufhebung
des Cauſalitätsgeſetzes geläugnet werden.“
Alſo Urzeugung iſt nach Zöllner
ſpontane Bildung von organiſchen Zellen
aus anorganiſcher Materie und wird vom
Cauſalitätsgeſetz poſtulirt! Somit verlangt
ihm zufolge das Cauſalitätsgeſetz etwas
Spontanes, d. h. etwas Freiwilliges, was
mit unſeren Mitteln und unſerem Verſtande
z. Z. nicht erzielt werden kann. Sollte
in Zukunft etwa der Verſtand ſo weit
kommen, ſein Cauſalitätsgeſetz lieber als
die ſpontane Entſtehung der Zelle zu
opfern? Oder wird er es lernen, dieſe
ſpontane Bildung als eine nothwendige
Folge eben des Geſetzes der Cauſalität zu faſ—
ſen, welches gerade alles Spontane in der
Natur ausſchließt? Der Widerſpruch iſt
ſtarl. Er beruht auf dem Irrthum: Die
Generatio, spontanea ſei nicht realiſirbar,
aber ſie ſei nothwendig. Ebenſo könnte
man ſagen: Das Perpetwum mobile fe
nicht realiſirbar, aber nothwendig. Zöll—
ner meint, daß das Leben der Pflanzen
und Thiere, alſo das Leben des gegen—
wärtigen Protoplasma, das einzig mögliche
Leben ſei. Daher der kraſſe Dualismus,
daher die Zerreißung der Continuität des
Lebens und die willkürliche Annahme, daß
vor dem Erſcheinen des erſten gegenwärti—
gen Protoplasma alles anorganiſch war.
Weniger entſchieden tritt Brücke für
die Urzeugung ein, nicht die gegenwärtige,
aber die einſtmalige Entſtehung von Or—
ganismen aus „unbelebten und anorganiſchen
Dingen“, wenn er bei Beſprechung der
vermeintlichen Unterſchiede der Organismen
und Maſchinen (in ſeinen „Vorleſungen
über Phyſiologie“, Wien 1874, II. Bd.
S. 2) ſagt:
„Vielleicht mit mehr Glück hat man
als Kriterium aufzuſtellen verſucht, daß
jeder Organismus von ſeinesgleichen erzeugt,
ſein, oder doch von ſeinesgleichen abſtammen
muß. Das iſt ein Kriterium, das aller—
dings auf alle jetzt exiſtirenden Organismen
paßt. Das iſt aber nicht genug. Das Kri
terium, welches wir ſuchen, ſoll auf alle
Organismen paſſen, nicht nur auf diejeni
gen, die jetzt exiſtiren, ſondern auch auf
alle, die exiſtiren werden und auf alle, die
exiſtirt haben. Auf dieſe letzteren aber
können wir dieſes Kriterium nicht anwen
den, denn wir würden dadurch zu
dem Schluſſe gelangen, daß alle
Arten von Organismen, die jetzt exiſtiren,
auch von Ewigkeit her exiſtirt hätten, eine
Annahme, welche aller Erfahrung wider
ſpricht, und zu welcher keine der Schöpfungs—
theorien von den älteſten bis auf die neue—
ſten gelaugt iſt.“
Wie man durch die Annahme des au
gegebenen Kriterium zu dem erwähnten
Schluſſe gelangen muß, iſt nicht erſichtlich.
Vielmehr zeigt die Thatſache, daß die Eltern
den Kindern niemals gleichen, ſondern nur
ähneln, alſo in mancher Hinſicht von ihnen
verſchieden ſind, die Nothwendigkeit, daß
durch Summirung der vielen Unähnlichkeiten
von Generation zu Generation rückwärts
ſchließlich von den jetzt lebenden Organis—
5
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.“
men durchaus abweichende Formen exiſtirt
haben müſſen, womit die Erfahrung über—
einſtimmt. Man gelangt alſo nicht zur
Conſtanz, ſondern zur Variabilität der Art
und damit zur Entſtehung der gegenwärti—
gen Arten aus anderen früheren. Das
Kriterium iſt vollgültig. Es führt zu
keiner unmöglichen Conſequenz, bildet viel—
mehr die Baſis meiner Hypotheſe vom Ur—
ſprunge des thieriſchen und pflanzlichen Lebens.
Aber es ſchließt die Urzeugung ein für
allemal aus. Wer indeß ſich ſcheut, es
anzuerkeunen — hierin nicht der Erfahrung,
die eben das Kriterium gab, folgend —
verfällt nothwendig dem Urzeugungsglauben.
Dem ſtreng inductiv verfahrenden Empi
riker kaun die Wahl, ob das Kriterium
gültig ſei oder nicht, keine Schwierigkeit
bereiten, aber wie, wenige verfahren auf
dieſem Gebiete correct inductiv wie auf
anderen Gebieten ihrer Forſchung!
Selbſt Virchow nicht. Ohne Bei
ſpiel iſt die Stellung, die er in dieſer
Frage einnimmt. Einmal kann er ſich von
der vermeintlichen Nothwendigkeit einer einſt—
maligen plötzlichen Entſtehung lebender
Körper aus anorganischen Stoffen nicht be—
freien, dann wieder verwirft er die Ur—
zeugung. Für ihn muß ſie früher einmal
ſtattgefunden haben, als er ſchrieb:
„War nun damals eine Spontaneität
der Erregung? wurde damals, am fünften
und ſechſten Tage unſeres Weltkörpers das
„Es werde“ der Schöpfung geſprochen?“—
und folgerte: PS
„Wenn es richtig iſt, was man von
der Conſtanz der Materie und von der Con—
ſtanz der Kraft geſagt hat, ſo folgt dar—
aus auch die Conſtanz der Bewegung, und
es bleibt uns dann nichts weiter übrig,
als anzunehmen, daß bei den großen Re—
volutionen der Erde Momente eingetreten
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
1
find, wo die bis dahin beſtandene Beweg- Abhandlungen zur wiſſenſchaftlichen Medi—
ung, vielleicht durch die Beziehungen, welche
der Erdkörper zu anderen Theilen unſeres
Sonnenſyſtems erlangte, plötzlich große
Veränderungen erfuhr, wo die Bedingungen
zur Manifeſtation der chemiſchen und phy—
ſikaliſchen Eigenſchaften der Körper in einer
ganz neuen Weiſe auftraten und“ . . . „das
Wunder d. h. die momentane Offen—
barung des ſonſt latenten Geſetzes geſchah.“
Virchow fährt fort:
„Es iſt damit keineswegs geſagt, daß
die Perioden der Schöpfung geſchloſſen ſind
. f el
oder daß es .. niemals gelingen werde, dieſe
kleinen
ungewöhnlichen Bedingungen im
Maßſtabe willkürlich zu ſetzen, wirklich ein—
mal produktiv zu werden und Eiweiß,
Stärke oder Zellen zu „machen“. Aber
es iſt damit wohl geſagt, daß bis jetzt die
neue Zelle aufbauen könne. Wo eine Zelle
Bedingungen für das Umſchlagen der
gewöhnlichen mechaniſchen Bewegungen in
vitale vollkommen unbekannt ſind, daß die
ungewöhnlichen Bedingungen, unter denen
in den Zeiten der gewaltigſten Erdrevolu⸗
tionen die zu neuen Verbindungen zurück-
tretenden Elemente in statu nascente die
vitale Bewegung erlangten, jetzt nirgend
vorhanden ſind und daß alles Leben, das
uns gegenwärtig erkennbar wird, nur ein
mitgetheiltes, von Einheit zu Einheit ſich
fortpflanzendes iſt.“
Dieſer Auffaſſung zufolge fand alſo
irgend einmal plötzlich die Entſtehung
lebendiger Körper aus anorganiſchen ſtatt,
indem die „mechaniſche“ Bewegung in „rvi—
tale“ umſchlug. Bemerkenswerth iſt da—
bei namentlich, wie das „Wunder“ der
Urzeugung als eine Folge der Conſtanz
der Materie und Kraft aufgeſtellt wird.
Dieſes geſchah in der im Jahre 1862 in
Berlin veranſtalteten zweiten Ausgabe der Ab-
handlung „Das Leben“ (in den geſammelten
«
ein von Rudolf Virchow, S. 25). Und
in demſelben Jahre ſtellt derſelbe Vir—
cho w in der 13. Auflage ſeiner Cellular—
pathologie (Berlin 1862, S. 22) es als
allgemeines Princip hin, „daß überhaupt
keine Entwicklung de novo beginnt, daß
wir alſo auch in der Entwicklungsgeſchichte
der einzelnen Theile, gerade wie in der
Entwicklung ganzer Organismen, die Ge-
neratio aequivoca zurückweiſen. So we—
nig wir noch annehmen, daß aus ſaburra—
lem Schleim ein Spulwurm entſteht, daß
aus den Reſten einer thieriſchen oder pflanz—
lichen Zerſetzung ein Infuſorium oder ein
Pilz oder eine Alge ſich bilde, ſo wenig
laſſen wir in der phyſiologiſchen oder pa—
thologiſchen Gewebelehre es zu, daß ſich
aus irgend einer unzelligen Subſtanz eine
entſteht, da muß eine Zelle vorausgegangen
fein (Omnis cellula e cellula), ebenſo
wie das Thier nur aus dem Thiere, die
Pflanze nur aus der Pflanze entſtehen
kann. Auf dieſe Weiſe iſt, wenngleich es
einzelne Punkte im Körper giebt, wo der
ſtrenge Nachweis noch nicht geliefert iſt,
doch das Princip geſichert, daß in der
ganzen Reihe alles Lebendigen, dies mögen
nun ganze Pflanzen oder ganze thieriſche
Organismen oder integrirende Theile der—
ſelben fein, ein ewiges Geſetz der continnir—
lichen Entwicklung beſteht.“
Man wird es gewiß einem Natur-
forſcher nicht zum Vorwurf machen, wenn
er, durch Erfahrung und Denken belehrt,
ſeine Anſichten ändert — ich ſelbſt habe
noch im Jahre 1869 in einem populären
Vortrage mich zu Gunſten der Urzeugung
beiläufig ausgeſprochen — hier aber wer—
den von demſelben Forſcher zu gleicher Zeit
in zwei feiner bedeutendſten wiſſenſchaftlichen |
Werke über eine fundamentale Frage zwei
ſich völlig ausſchließende Anſichten behaup—
tet. In dem einen Werk wird unter der
Ueberſchrift: „Mechaniſcher Urſprung des
Lebens (S. XI)“ die Urzeugung verlangt,
in dem anderen die Urzeugung geleugnet.
Der berühmte Ausſpruch Harvey's:
„Vos autem asserimus omnia ommno
animalia .. ex 0v0 progigni; primosque
eorum conceptus, e quibus foetus fiunt,
ova quaedam esse, ut el semina plan-
tarum ommium“ (Exercitationes de ge-
neratione animalium , exerc. J.) iſt vor
nun beinahe einem Vierteljahrhundert, ge-
rade von Virchow zu dem obigen epoche—
machenden Satz erweitert worden: Ommis
cellula e cellula.
Da jedoch unmöglich angenommen wer-
den kann, daß die Zellen von Ewigkeit
her als ſolche exiſtiren, wie es dieſem
Satze zufolge ſein müßte und wirklich von
Einzelnen verlangt wurde, obwohl es keine
Befriedigung giebt — ſagte doch nament-
lich H. E. Richter 1865: Omne vivum
ab aeternitate e cellula — fo muß
der Satz noch mehr verallgemeinert werden
und heißen: Omne vivum e vivo.
Vor den Zellen gab es Protoplasma,
d. h. ein Gemenge von Stoffen in leb—
hafter Wechſelwirkung begriffen, welches,
ohne thieriſche oder pflanzliche Organiſation
zu zeigen, lebte. Vor ihm war ein ähn-
liches Gemenge da und ſo fort. Sehr
wohl können zu jeder Zeit an der Erd—
oberfläche ſolche Gemenge, je nach den
Temperaturzuſtänden verſchiedenartig, exiſtirt
haben. Man nennt ſie nur dann nicht
mehr Protoplasma oder Bioplasma, ob—
wohl man die Flamme nicht mit anderen
Namen nennt, je nachdem Kohle und
Waſſerſtoff oder Eiſen und Kieſel ver—
brennen. Das Verbrennungsmaterial iſt
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
ein anderes, ohne daß das Feuer aufhört
feurig zu ſein. So iſt auch das dem
Lebensproceß unterworfene Material einſt
ein anderes geweſen, aber das Leben ſelbſt,
d. h. ein Complex gewiſſer, in hohem
Grade von der Temperatur abhängiger
Bewegungserſcheinungen blieb beſtehen.
Demnach kommt es darauf an, nicht
Protoplasma künſtlich aus Unorganiſchem
ohne Lebensfähiges zu erzeugen — das iſt
ebenſo unmöglich wie ein Feuer aus Aſche
ohne brennbares Material zu erzeugen —
ſondern darauf, zu erforſchen, welche Be—
ſchaffenheit die Vorſtufen des Protoplasma
und ſeine Urahnen auf dem feurigflüſſigen
Erdball gehabt haben können, als ſie noch
lebten. N
Ganz anders freilich E. du Bois—
Reymond. Er ſagt vom Leben (Gren—
zen des Naturerkennens 1872. S. 13):
„Wo und in welcher Form es zuerſt er—
ſchien, ob auf tiefem Meeresboden als
Bathybius -Urſchleim, oder unter Mitwir⸗
kung der noch mehr ultraviolette Strahlen
entſendenden Sonne bei noch höherem par-
tiärem Drucke der Kohlenſäure in der At-
moſphäre, wer ſagt es je? .. . Es iſt da-
her ein Mißverſtändniß, im erſten Erſchei⸗
nen lebender Weſen auf Erden etwas
Supranaturaliſtiſches, etwas Anderes zu
ſehen, als ein überaus ſchwieriges mechani—
ſches Problem.“
Alſo auch hiernach zuerſt eine anorga—
niſche Natur ohne das geringſte Leben,
dann Eintritt jener myſteriöſen Bedingungen,
die ſich hinter dem ultravioletten Licht und
der Kohlenſäure-Spannung verbergen, und
der todte Staub wirbelte ſich zuſammen,
ſodaß das Lebendige aus ihm entſtand.
Im März 1848 ſcheint du Bois—
Reymond ſogar die gegenwärtige Ur⸗
zeugung noch für möglich gehalten zu ha—
ben, da er ſchrieb (Unter. üb. thieriſche
Elektricität, Berlin 1848. I. S. XLVIII):
„So wird es wohl auch Umſtände gegeben
haben, unter welchen die organiſchen Weſen
entſtanden, und wer darf ſagen, daß wir
nicht vermöchten, dergleichen zu verfertigen,
wenn wir vermögend wären, jene Umſtände
herzuſtellen? Gegen ſolche freilich, die es
vorziehen, ſich die Entſtehung der Orga—
nismen zu erklären durch einen willkürlichen
Eingriff in die Naturgeſetze wie ſie noch
heute ſind, gegen ſolche iſt mit Gründen
nichts auszurichten.“
Ich will nun zeigen, daß gerade der—
jenige, welcher die Urzeugung verlangt, einen
willkürlichen Eingriff in die Naturgeſetze,
wie ſie noch heute ſind, verlangt, alſo mit
ſeinem Verlangen abzuweiſen iſt.
Ein Naturgeſetz mag wie immer defi—
nirt werden, ſämmtliche Naturgeſetze, wie
ſie heute beſtehen, ſind nichts als kurze
Ausdrücke für allgemeine Thatſachen *).
Eine ſolche allgemeine Thatſache iſt die,
daß jedes bis jetzt beobachtete lebende Weſen
von einem anderen lebenden Weſen direct
abſtammt. Das Gegentheil iſt unſerer
Beobachtung niemals vorgekommen, wir
ſchließen alſo, daß es überhaupt nicht vor—
kommt, und daß es auch nicht vorkommen
wird, und ſagen: Wer die Reihe der auf—
einanderfolgenden Generationen der Orga—
nismen durch die Setzung einer Geueration
ohne vorhergegangene Eltern unterbricht,
wer alſo die Continuität des Lebens leug—
net, macht ſich einer Willkür ſchuldig, an—
erkennt nicht das jetzt beſtehende Naturge—
ſetz, einerlei, ob es ein Gott geweſen ſein
ſoll, der ſchuf, oder ein anderes nicht an—
gebbares räthſelhaftes Agens, Urzeugung
) Preyer, Ueb. d. Aufgabe der Na—
turwiſſenſchaft. Ein Vortrag. Jena, Dufft,
1876.
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 383
genannt. Eine Schöpfung der lebenden Na—
turkörper aus nicht Lebendem liegt in dem
einen wie in dem anderen Falle vor.
In vollkommenem Einklang mit der
Beobachtung, mit dem Geſetz, ſteht dagegen
die Annahme einer natürlichen Entwicklung.
Da iſt keine Unterbrechung, keine Schöpfung,
keine Urzeugung nöthig. Man muß ſich
nur freimachen von den in der Schule in
früher Ingend eingeimpften Lehren, als
wenn die Moſaiſche Legende wenigſtens
den Sinn hätte, daß das Lebende nicht von
Ewigkeit her exiſtirt. Wie kann Todtes
ſein, wo nicht vorher Leben war? Das
Anorganiſche iſt aber todt, iſt das Uebrig—
gebliebene, Erſtarrte, von der Zeit her,
als noch der heißere Erdball ein viel in—
tenſiveres Leben zeigte. Und wenn man
mir einwendet: die natürliche Entwicklung
zugegeben, ſo muß doch das Protoplasma,
aus dem die gegenwärtigen Organismen
ſchließlich herzuleiten ſind, zu einer gewiſſen
Zeit aus Körpern, die nicht Protoplasma
waren, ſich zuſammengeſetzt haben, ſodaß
die Urzeugung wieder da iſt, dann ant—
worte ich: Das Protoplasma der Ge—
genwart entſtand nicht aus Körpern, die
nicht Protoplasma waren, ſondern aus Pro—
toplasma, das ihm ähnlich war. Aehnliche
Dinge unterſcheiden ſich aber von einander
in Einzelheiten, und ſo gelangt man auch
hier, wie oben bei der Organismenreihe
immer weiter rückwärts die Geſchichte un—
ſeres Planeten verfolgend, ſchließlich zu
Stoffgemengen, die erheblich vom Proto—
plasma abweichen, darin aber ihm gleichen,
daß ſie leben. Ich kann hierfür als ſchlagend—
ſtes Analogon unſere eigene Entwicklung
anführen. Unſer Zuſtand in jedem gegebe—
nen Zeitmoment unſeres intra- wie extra—
uterinen Lebens iſt ſehr ähnlich unſerem
Zuſtande in dem unmittelbar vorhergegan—
384
genen Zeitmoment. Wenn wir aber von
der Gegenwart an rückwärts blicken, immer
den einzelnen ſpäteren Zuſtand mit dem
unmittelbar vorhergegangenen, ihm ſehr ähn—
lichen vergleichend, ſo gelangen wir zu er—
heblich verſchiedenen Zuſtänden. Zwiſchen
dem Manne in ſeiner Vollkraft und dem
Säugling iſt die Aehnlichkeit noch groß,
aber worin ſtimmt das Ei und der Held,
der aus ihm ſich entwickelt, überein —
abgeſehen davon, daß beide Naturkörper
ſind — wenn nicht allein darin, daß
beide leben?
Wende ich mich nun zu den Forſchern,
welche in der Gegenwart aus wiſſenſchaft—
lichen Gründen ohne Einmiſchung irgend
welcher religiöſen Momente, die hier ſo we—
nig wie an irgend einem andern Platz der
Biologie berechtigt ſind, die Urzeugung ver—
werfen, ſo iſt es namentlich H. E. Richter
geweſen, der zuerſt ſich mit Entſchiedenheit
gegen die gegenwärtige und vergangene
Generatio primitiva ausſprach und etwas
anderes an die Stelle ſetzte, nämlich die
Einwanderung fertiger Zellen aus dem
Weltraum vermitteſt der Aörolithen und
Weltwinde. Richter veröffentlichte ſeine
Anſicht, die ich in etwas kritiſcherer Form
als die kosmozoiſche Hypotheſe vom
Lebensurſprung bezeichnete, an ſo verſteckten
Stellen (m Schmidt's Jahrbüchern der
geſammten Medicin, 1865. Leipzig 126.
Bd.: „Zur Darwin'ſchen Lehre“ S. 248,
249, ſowie 148. Bd. S. 60 in dem „Be⸗
richt über mediciniſche Meteorologie und
Klimatologie“ 1870, zweiter Nachtrag,
endlich 151. Bd. S. 321 u. 322 in dem
3. Artikel über „die neueren Kenntniſſe von
den krankmachenden Schmarotzerpilzen“
1871), daß der Ruhm der genialen Idee
noch ſechs Jahre, nachdem er ſie ausgeſpro—
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
Thomſon und Helmholtz zufiel, welche
ſie beide ſelbſtändig im Jahre 1871 noch
einmal ausſprachen, letzterer gleichfalls zu—
erſt in einem Werk, wo man am wenig—
ſten etwas über Urzeugung zu leſen erwar—
ten würde, nämlich in dem Handbuch der
theoretiſchen Phyſik von W. Thomſon
und P. G. Tait (Autoriſirte deutſche
Ueberſetzung von Dr. H. Helmholtz und
G. Wertheim, Braunſchweig, 1. Bd.
2. Theil, 1874, S. XI bis XIII). Dieſe
Stelle wurde zum Theil ſpäter wieder ge—
druckt in einem Zuſatz zu einem 1871
gehaltenen, damals nicht veröffentlichten Vor—
trage (Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge
von H. Helmholtz 3. Heft. Braunſchw.
1876 S. 138 u. 139), In dem Vor⸗
trage ſelbſt, der vom Urſprung des Pla—
netenſyſtems handelt, heißt es (S. 135):
„Die Meteorſteine enthalten zuweilen Koh—
lenwaſſerſtoffverbindungen; das eigene Licht
der Kometenköpfe zeigt ein Spectrum,
welches dem des elektriſchen Glimmlichtes
in kohlenwaſſerſtoffhaltigen Gaſen am ähn—
lichſten iſt. Kohlenſtoff aber iſt das für
die organiſchen Verbindungen, aus denen
die lebenden Körper aufgebaut ſind, charak—
teriſtiſche Element. Wer weiß zur jagen,
ob dieſe Körper, die überall den Weltraum
durchſchwärmen, nicht auch Keime des Le—
bens ausſtreuen, ſo oft irgendwo ein neuer
Weltkörper fähig geworden iſt organiſchen
Geſchöpfen eine Wohnſtätte zu gewähren?
Und dieſes Leben würden wir ſogar viel—
leicht dem unſerigen im Keime ver—
wandt halten dürfen, in ſo ab—
weichenden Formen es ſich auch
den Zuſtänden ſeiner neuen Wohn—
ſtätte anpaſſen möchte.“
Ich habe (a. a. O.) gezeigt, daß dieſe
von Hermann Eberhard Richter zuerſt
chen hatte, nicht ihm, ſondern Sir William ausgeſprochene Hypotheſe keine Thatſache
8 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
gegen ſich hat. Der beſcheidene Mann
dankte mir noch kurz vor feinem Tode,“)
daß ich ihr Anerkennung angedeihen ließ,
ſchrieb auch noch mehreres darüber, ohne
aber den urſprünglichen Gedanken weſent⸗
lich zu ſtützen oder ihm neues Hinzuzufii-
Das haben aber auch Helmholtz
Und es iſt
gen.
und Thom ſon nicht gethan.
zu verwundern, daß in einer ſo fundamen—
talen Frage es bei den wenigen Sätzen ge-
blieben iſt. Uebrigens iſt die Hypotheſe,
wenn auch zuläſſig, doch unzulänglich.
Sollen die kosmiſchen „Keime“ den
jetzigen pflanzlichen und thieriſchen Keimen
ähnlich ſein, ſo iſt die Frage nach dem
Urſprung des Lebens nicht beantwortet,
ſondern nur vertagt, wie auch Zöllner
richtig bemerkt.
Ich behaupte daher (1872), da weder
die Annahme der Kosmozoen, noch die der
Urzeugung ausreicht, den Fragetrieb zu be—
ruhigen, daß die Frageſtellung umzukehren ift |
und frage: wie iſt das Anorganiſche ge—
worden? und ſetze voraus, daß, ehe es war,
Lebensthätigkeit es bildete.
Hierbei muß ich ſtehen bleiben. Es ſcheint
mir in der That dieſe Auffaſſung nicht
nur zuläſſig, ſondern die einzige befriedi—
gende zu ſein, wenn ſie auch als phanta—
ſtiſch von manchen verworfen wird. Denn
ſchon allein der eine Ausſpruch von Helm—
holtz: „Die richtige Alternative iſt offenbar:
organiſches Leben hat entweder zu irgend
einer Zeit angefangen zu beſtehen, oder es
beſteht von Ewigkeit“ — zeugt davon,
daß die allerſtrengſte Wiſſenſchaftlichkeit es
zuläßt, daß nicht zu allen Zeiten das Le—
ben gerade nur an Thieren und Pflanzen
und deren Zwiſchenformen haftete.
Sodann ſind die eigenthümlichen Ans
ſichten Fechners in Einzelheiten im Ein—
Richter ſtarb am 24. Mai 1876.
385
klang mit meiner Auffaſſung, ſoweit ſie
z. B. den einen Hauptpunkt betreffen, daß
das Leben nicht nothwendig ausſchließlich
uns das Dutzend der gegenwärtigen organi—
ſchen Elemente allezeit gebunden geweſen
ſei; aber es iſt im Ganzen mehr die Un—
befriedigung über die Annahme der Urzeu—
gung, was Fechner und mich vereinigt,
als eine Uebereinſtimmung in dem, was
an ihre Stelle geſetzt wird.
Eher iſt, was Tyndall geltend macht,
mit meiner Hypotheſe im Einklang. Er
verwirft die Generatio spontanea und die
Nothwendigkeit einer radicalen Reform
deſſen, was wir Stoff nennen, betonend
ſpricht er die Möglichkeit aus, daß die le—
benden Weſen dem Feuer entſtammen. Von
der Hypotheſe der natürlichen Entwicklung
redend ſagt Tyndall („Fragmente aus
den Naturwiſſenſchaften“ überſ. v. A. H.
Braunſchweig 1874, S. 187 fg.):
„Worin beſteht der eigentliche Kern
und das Weſen dieſer letzteren Hypotheſe?
Eutkleidet man ſie ihrer ſämmtlichen Hül—
len, ſo bedeutet ſie nichts Anderes, als daß
nicht allein die roheren Formen des infuſo—
ſoriſchen oder des thieriſchen Lebens, nicht
allein .. der wunderbar verfeinerte Mecha—
nismus des menſchlichen Körpers, nein, daß
auch der Geiſt des Menſchen, Empfindung,
Verſtand, Willen in allen ihren Erſchei—
nungen einſt latent in einer feurigen
Wolke enthalten waren.“
Dieſer Ausſpruch, ſo paradox er klingt,
iſt nicht ſo unberechtigt wie die ihm ent
gegengeſtellte Archibioſe. Denn wie Tyn—
dall (a. a. O. S. 568) treffend ſagt:
„Das Leben iſt eine Welle, die niemals
im Laufe ihrer Exiſtenz auch nur während
zwei aufeinanderfolgender Momente aus
deuſelben Theilchen beſteht.“
Mit derartigen Aeußerungen iſt ſachlich
—
386
allerdings wenig gewonnen, aber ſie zeigen,
wie auch exacte Forſcher ſich mit der An—
nahme einer Urzeugung im bisherigen
Sinne nicht mehr zufrieden geben und ſich
bemühen, etwas anderes an ihre Stelle zu
ſetzen, ohne dem Myſticismus auch nur
die geringſte Annäherung zu geſtatten. Lie—
ber die ganze Wiſſenſchaft vom Stoffe und
vom Leben revolutioniren und neugeſtalten,
als zugeben, daß ein göttlicher Schöpfungs—
act ſtattgefunden habe, oder daß die Con—
tinuität der natürlichen Entwicklung einen
Riß durch eine Urzeugung erhalte, das
iſt der bewegende Gedanke.
Seine nächſte Conſequenz iſt das Auf—
geben des ſtarren Vorurtheils, als wenn
das Leben nur an dem Protoplasma wie
es jetzt iſt hängen könne, als wenn nicht
auch noch andere Organismen außer den
Pflanzen und Thieren vor dieſen gelebt
haben könnten. Was iſt überhaupt Proto—
plasma? Was iſt Eiweiß? Jedenfalls et—
was höchſt Veränderliches, jedenfalls keine
chemiſche Verbindung, ſondern ein überaus
complicirtes Gemenge von feſten und flüſ—
ſigen Körpern, die in fortwährender Zer—
ſetzung, in ſtets wechſelnden Diſſociationen,
Subſtitutionen, Syntheſen begriffen ſind.
Wer weiß, ob nach Subſtitution eines
Theiles des Kohlenſtoffs im Protoplasma,
etwa durch Silicium, eines Theiles des
Waſſerſtoffs durch Metalle, nicht ein ande—
res Protoplasma erhalten werden kann,
ein anderes exiſtirt hat, welches auch lebte?
Das Eiweiß iſt in jedem Ei ein anderes,
es iſt nicht durch ſeine Kohlenſtoff-, Waſ—
ſerſtoff-, Stickſtoff-, Sauerſtoff- und Schwe—
fel-Atome fähig beim Erwärmen ſich in
den Organismus umzuwandeln, ſondern
durch ſeine moleculare Bewegung.
Bewegung dieſer und anderer Elemente,
Wes⸗
halb ſoll nun nicht eine ähnliche moleculare
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
ehe das Eiweiß beſtehen konnte, bei höhe—
rer Temperatur zu Vorſtufen deſſelben ge—
führt haben?
Wenn man lebendes Protoplasma in
größerer Menge beſchaffen könnte, würde
ſich wohl eine Modification deſſelben künſt—
lich durch Einführung neuer Radicale in
einige ſeiner integrirenden Beſtandtheile
herſtellen laſſen, die auch bei der Tempe⸗
ratur des noch glühenden Erdballs ſich wie
unſer jetziges Protoplasma bewegte, athmete,
ernährte, theilte, die mit einem Worte
lebte. So ſchwer es iſt, am lebenden Pro—
toplasma chemiſche Eingriffe vorzunehmen
ohne es zu tödten — ich habe wenigſtens am
Myxomycetenprotoplasma bis jetzt vergeb—
lich expperimentirt — die Möglichkeit bleibt
beſtehen. Und wenn man ſich über ſeine
erſte Entſtehung aufklären will, ſo müſſen
jene chemiſchen Eingriffe, ſeine ſogenannten
Eiweißmoleküle zu verändern, gemacht wer—
den.
Der einzige einſtweilen vorliegende
Verſuch, wiſſenſchaftlich ſich darüber
Rechenſchaft zu geben, wie dasjenige Ei—
weiß, ohne welches wir in jetziger Zeit
uns kein Leben anſchaulich machen können,
entſtanden fein kann, iſt der von Pflüger.
In ſeiner Abhandlung über die phyſiolo—
giſche Verbrennung in den lebendigen Or—
ganismen, welche Anfang April 1875 in
ſeinem „Archiv für die geſammte Phyſiolo—
gie des Menſchen und der Thiere“ erſchien,
finde ich in einer mir höchſt erfreulichen
Weiſe viele Betrachtungen und Thatſachen
angegeben, die in vollem Einklang ſtehen
mit meiner in akademiſchen Vorträgen ſeit
1872 vorgetragenen und Ende März 1875
veröffentlichten Anſicht vom Urſprung der
gegenwärtigen Lebensprozeſſe. Mit Recht
ſagt Pflüger: „Man ſieht, wie ganz
außerordentlich und merkwürdig uns alle
Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.
Thatſachen der Chemie auf das Feuer
hinweiſen, als die Kraft, welche die Con-
ſtituenten des Eiweißes durch Syntheſe
Das Leben entſtammt
von der Beſchaffenheit des gegenwärtigen
erzeugt hat.
alſo dem Feuer, und iſt in ſeinen
Grundbedingungen angelegt zu einer Zeit,
wo die Erde noch ein glühender Feuerball
war.
Pflüger zweifelt jedoch an der Ge-
tige Zeit. Wenn man aber ſich losmacht
von dem ganz und gar willkürlichen und
factiſch durch nichts wahrſcheinlich gemachten
Gedanken, als wenn nur Protoplasma
leben könnte, jo wird man den einen gro—
ßen Schritt weiter nicht ſcheuen, auch die
einſtmalige Urzeugung fallen zu laſſen und
neratio spontane nur für die gegenwär— |
die Anfangloſigkeit der Lebensbewegung
anerkennen. Omne vivum e vivo!
Beobachtungen an braſilianilchen Achmetterlingen
von
Dr. Fritz Müller.
J. Die Flügeladern
der Schmetterlingspuppen.
n Schmetterlingspuppen, die
ſtreift haben, ſieht man häufig
durch die noch weichen Flügel—
decken die zarten, weißen Luft—
röhren durchſchimmern, welche die erſte
Anlage des Adergerüſtes der Vorderflügel
bilden. Bisweilen laſſen ſich auch die tiefer
liegenden Luftröhren der Hinterflügel er—
kennen, doch vielleicht nie deutlich genug,
um ein vollſtändiges, zuſammenhängendes
Bild ihres Verlaufes zu gewinnen. Mit
dem Erhärten der Puppenhaut pflegt dieſes
Adergerüſt der Puppenflügel undeutlich
oder völlig unſichtbar zu werden; ſelten
nur, beſonders bei grünen Puppen mit
glatten Flügeldecken, z. B. Siderone Ide,
bleibt es für eine Reihe von Tagen ſicht—
bar.
Der Verlauf der Luftröhren in den
Flügeln der jungen Puppen pflegt nun
nicht unerheblich abzuweichen von dem ſpä⸗
teren Adergerüſt der Schmetterlingsflügel,
und wie jo häufig Jugendzuſtände Auf-
klärung geben über die Stammesgeſchichte,
ſo iſt unverkennbar auch in dieſem Falle
der Aderverlauf des Puppenflügels weit
urſprünglicher, dem des Urſchmetterlings
weit näher ſtehend, als das Adergerüſt des
Schmetterlingsflügels.
Gerade für die Ordnung der Schmet—
terlinge muß aber jeder neue Anhalt zur
Feſtſtellung ihrer verwandtſchaftlichen Be—
ziehungen unter einander und zu anderen
Inſekten und ſomit ihres Stammbaumes
hoch willkommen ſein. Sagte doch ſchon
Latreille: „Lepidopterorum ordo en-
tomologorum scopulus“, und daß dieſer
Ausſpruch noch heute gilt, beweiſt unter
Anderem die geringe Uebereinſtimmung
zwiſchen den der neueſten Zeit angehörenden
Anordnungen der Tagfalter von Herrich—
Schäffer, von Kirby und von
Butler.
Doch beſſer als durch allgemeine Betrach—
tungen veranſchauliche ich wohl durch Vor—
führen einiger Beiſpiele die Bedeutung des
Flügelgeäders der Puppen.
Ich zeichne zu-
nächſt in Fig. 1 den
Vorderflügel der
Castnia Arda-
lus und ſtelle in
Fig. 2 den der Si-
derone Ide da⸗
runter. Die große
Verſchiedenheit des
Adergerüſtes ſpringt 2.
ſofort in die Augen. derone eine ein—
Bei Siderone zige einfache Innen—
eine einfache Mittel- a SI vandsader (1b),
zelle und die von ihr während Castnia
nach dem Rande des deren drei beſitzt
Flügels gehenden Längsadern, alle anſchei- | (La, 1b, Le), von denen die beiden hinte—
nend aus zwei Stämmen entſpringend, und ren (la und 1b) durch einen Queraſt
zwar 2 bis 4 aus der Mediana, 5 bis 11 verbunden find.
aus der Subcoſtalis. Bei Castnia Welches der beiden Adergerüſte iſt nun
dagegen entſpringen nur 2 und 3 aus der das urſprüngliche, dem des Urſchmetterlings
Mediana, 7 bis 11 aus der Subcoſtalis, näherſtehende? — Gerſtäcker, welcher
während die dazwiſchen liegenden 4 bis 6 dem Flügelgeäder der Kleinſchmetterlinge
als Aeſte der bei der Siderone fehlen- wegen der drei Innenrandsadern der Hinter—
den Discoidalis erſcheinen, durch welche die | flügel größere „Vollkommenheit“ zuſchreibt,
Mittelzelle der Länge
Außerdem wird durch
einen Queraſt zwi—
ſchen 8 und 9 eine
kleine Nebenzelle ge—
bildet. Zwiſchen
Mittelzelle und In—
verläuft bei Side-
Fig. 2. Vorderflügel von Siderone Ide. (2 : 1.)
nach getheilt wird.
nenrand der Flügel
.
390 Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.
würde wohl das weit einfachere Adergerüſt
der Siderone für unvollkommener und
daher wohl auch für älter erklären, als
das viel verwickeltere der Castnia. —
Dr. A. Speyer, der den Saturnien,
mit nur einer Innenrandsader der Hinter—
flügel, hoch entwickelten Flügelbau zuſchreibt,
und den Weidenbohrer (Cossus), deſſen
Fig. 3.
Flügelgeäder der Puppe von
Siderone Ide. (3: J.)
Das Flügelgeäder der Puppe von Si—
derone Ide (Fig. 3), das ich am erſten
Tage nach der Verpuppung (10. Juni 1876)
zeichnete, entſcheidet ſofort die Frage. Das—
ſelbe gleicht weit weniger dem des Schmet—
terlings, der aus der Puppe hervorgeht,
als dem der Castnia. Wie bei dieſer
finden ſich drei Innenrandsadern (1a, 1b,
le), eine Mediana mit zwei (2 und 3),
eine Discoidalis mit drei (4 bis 6) und
eine Subcoſtalis mit fünf (7 bis 11) Aeſten.
Queradern fehlen noch. — Nach einigen
Tagen verſchmelzen, jenſeits des Urſprungs
der Ader 11, die beiden Hauptäſte der
Subcoſtalis auf eine kurze Strecke, ſo daß
dann auch die von den Aeſten der Sub—
coſtalis umſchloſſene Nebenzelle der Cast-
nia Ardalus nicht fehlt. Später ver-
einigt ſich dieſe Nebenzelle mit der Mittel—
zelle, indem die ſie trennende Ader ver—
kümmert und ſchwindet. An den Flügeln
Vorderflügel im Adergerüſt ſich kaum von
denen der Castnia unterſcheiden, als eine
Form bezeichnet, deren Flügelgeäder dem
der Haarflügler (Phryganiden) und fo-
mit wahrſcheinlich der Urform der Schmet—
terlinge beſonders nahe ſteht, wäre ohne
Frage entgegengeſetzter Meinung.
1%
Fig. 4. Flügelgeäder der Puppe von
Callidryas Argante. (3 : 1.)
verſchiedener Schmetterlinge iſt dieſes ver—
kümmerte Stück des hinteren Hauptaſtes
der Subcoſtalis noch deutlich wahrzunehmen,
häufiger noch der verkümmerte Stamm der
Discoidalis und die vordere Innenrands—
ader (Ic).
Als zweites Beiſpiel gebe ich (Fig. 4)
das Flügelgeäder einer jungen Puppe von
Callidryas Argante; von dem der
Siderone Ide unterſcheidet es ſich da—
durch, daß, wie bei dem Schmetterling, die
beiden hinteren Innenrandsadern (la und
1b) nahe der Wurzel ſich vereinigen, daß
die beiden Hauptäſte der Subcoſtalis ſchon
zur Zeit der Verpuppung verſchmolzen ſind
und ebenſo faſt bis ans Ende die Aeſte 8
und 9; endlich dadurch, daß die Discoida—
lis nur zwei Aeſte hat. Es iſt alſo ſchon
in der Puppe, wie beim Schmetterling und
wie bei vielen anderen Pieriden, eine Ader
weniger vorhanden, als bei Siderone.
Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.
So viel ich weiß, nimmt man bis jetzt
allgemein an, daß die fehlende Ader ein
Aſt der Subcoſtalis ſei; Doubleday
wenigſtens beſchreibt die Subeoſtalis als
nur vieräſtig und bezeichnet die Ader 7
als erſte Discoidalader. Ein Blick auf
die Puppe widerlegt dieſe Annahme und
zeigt, daß die Subcoſtalis ihre gewöhn-
lichen fünf Aeſte vollzählig beſitzt, daß da—
gegen ſtatt der beiden vorderen Aeſte der
Discoidalis (5 und 6) nur ein einziger
vorhanden iſt.
Ich hoffe, dieſe wenigen Beiſpiele wer—
den genügen, dem Verlaufe der Luftröhren
in den Flügeln junger Schmetterlingspuppen
Düfte.
die verdiente Beachtung zuzuwenden.
2. Die Duftſchuppen
der männlichen Maracujäfalter.
Der Geruchsſinn ſpielt im geſchlecht—
lichen Verkehr vieler Thiere eine wichtige
Rolle. Zu dieſen gehören auch die Schmet-
terlinge. Männchen mancher Schwärmer
und Nachtſchmetterlinge riechen auf unglaub—
liche Entfernung ihre der Begattung har
renden Weibchen. Aber auch ihrerſeits ver—
breiten viele Schmetterlingsmännchen Ge—
rüche, die jedenfalls den Weibchen angenehm
ſind und ihre Geſchlechtsluſt reizen. Von
den Männchen des Liguſter- und des Win—
denſchwärmers weiß man ſeit lange, daß
ſie einen im Fluge beſonders ſtark hervor—
tretenden Moſchusgeruch entwickeln, ohne
daß man bisher die Stelle, von der dieſer
Geruch ausgeht, ermittelt hätte. Die En—
tomologen in Europa haben eben Wichtigeres
zu thun. Die Männchen einer Motte der
Gattung Cryptolechia und die der
Glaucopiden, den deutſchen Blutflecken
(Zygaeniden) verwandter Schmetterlinge,
ſtülpen am Ende des Hinterleibes ein Paar
391
hohle, behaarte Fäden aus, bisweilen von
Körperlänge, von denen ein oft ſehr ſtar—
ker, für uns bald widerlicher, bald ange—
nehmer (3. B. wie aus Chloroform und
Bittermandelöl gemiſchter) Geruch ausgeht.
Ebbenſo können bei den prächtigſten der ſüd—
amerikaniſchen Schmetterlinge, den rieſigen
Morpho, die Männchen am Ende des
Hinterleibes jederſeits eine behaarte, riechende
Wulſt hervortreten laſſen; bei dem im
prachtvollſten Blau ſchillernden M. Adonis
und dem ähnlichen M. Cytheris iſt der
Geruch vanilleähnlich. — Weit häufiger
als der Hinterleib ſind die Flügel der
Sitz der das Männchen auszeichnenden
Um nur einige wenige der durch
beſonders ſtarken Geruch ausgezeichneten
Arten zu nennen, ſo iſt bei dem Männchen
des Papilio Protesilaus, eines dem
Segelfalter ähnlichen Falters mit ſchuppen—
armen, durchſichtigen Flügeln, der Innen-
oder Hinterrand der Hinterflügel breit nach
oben umgeſchlagen; werden dieſe Flügel
ſtark nach vorn gezogen, jo öffnet ſich der
Umſchlag und es kommt ein ſich ſträuben—
der, dichter Bart aus langen ſchwarzen
Haaren zum Vorſchein, und zugleich wird
ein lebhafter Geruch bemerkbar. In der
Familie der Weißlinge (Pierinen) zeich—
nen ſich in dieſer Beziehung aus Lepta-
lis Thermesia und der durch leicht ge—
ſchwänzte Hinterflügel merkwürdige Gelb
ling Callidryas Cipris; bei beiden
geht der Geruch aus von einem mit eigen—
thümlichen Schuppen bedeckten Fleck, der
auf der Oberſeite der Hinterflügel nahe
dem Vorderrande liegt und bei Calli-
dryas Cipris noch von einer Mähne
langer Haare bedeckt wird. Bei den Männ-
chen faſt aller Braſſoliden, großer,
den Morpho ähnlicher, aber minder
glänzend gefärbter Falter, die beſonders am
392
find die Hinterflügel mit ſehr verſchieden—
artig gelegenen und gebildeten Duftwerk—
zeugen ausgeſtattet. Einen ungewöhnlich
ſtarken Biſamgeruch bemerkte ich bei einer
auf der Höhe der Serra gefangenen Da-
syophthalma; hier trägt das Männ—
chen auf der bläulich ſchwarzen Oberſeite
der Hinterflügel einen eirunden, ockergelben
Fleck, welchen die Discoſtalader durchſchnei—
Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.
frühen Morgen und gegen Abend fliegen, ungemein große Verdunſtungsfläche ent—
|
falten.
Man iſt wohl berechtigt, allen ähnlichen
unter den Tagfaltern ſehr verbreiteten Vor—
richtungen dieſelbe Deutung zu geben, auch
wenn bis jetzt ein Geruch noch nicht be—
obachtet wurde und ſelbſt wenn ein ſolcher
für menſchliche Naſen überhaupt nicht wahr-
nehmbar wäre.
det, und dahinter in der Mittelzelle einen
Schmetterlinge nicht plötzlich in ihrer jetzigen
langen Pinſel lehmgelber Haare, den der
Falter willkürlich aufrichten und ausſpreizen
kann. Bei den Männchen vieler Thecla-
Arten findet ſich auf der Oberſeite der
Vorderflügel am Ende der Mittelzelle ein
meiſt dunkler Fleck, aus ſehr feſt haftenden,
abweichend geſtalteten Schuppen gebildet;
bei größeren Arten pflegt ein von dieſem
Fleck ausgehender Geruch wahrnehmbar zu
ſein; ſehr ſtark (fo daß er auffällt, ſobald
man das Thier in den Käſcher bekommt)
und dabei widerlich, fledermausähnlich, iſt
derſelbe bei der prachtvollen Thecla
Atys.
Gemeinſam iſt allen dieſen und anderen
Duftwerkzeugen, daß ſie, ſo lange der
Schmetterling ruht, wohl geborgen und
vor Verdunſtung geſchützt ſind, ſei es zwi—
ſchen den Flügeln, oder zwiſchen Flügel
und Hinterleib, ſei es in beſonderen Rin—
nen oder durch Umſchlag des Randes ge—
bildeten Taſchen der Flügel (dahin z. B.
der ſogenannte „Coſtalumſchlag“ am Vor—
derrande der Vorderflügel bei vielen Dick—
köpfen), ſei es im Innern des Leibes, wie
die ausſtülpbaren Wülſte und Fäden der
Morpho und der Glaucopiden.
Beſonders wirkſame Räuchervorrichtungen
bilden die Pinſel und Mähnen, die wäh—
rend der Ruhe mit Riechſtoff ſich ſättigen
und dann plötzlich, ſich ausſpreizend, eine
|
Natürlich find dieſe überaus mannig—
faltigen Duftvorrichtungen der männlichen
Vollkommenheit zu Tage getreten; ſie haben
ſich aus einfacheren Zuſtänden entwickeln
müſſen. Und da nun viele derſelben ver—
hältnißmäßig junge Bildungen ſind, wie
ihre ſehr abweichende Geſtaltung in nahe
ſtehenden Gattungen, oder ſelbſt innerhalb
derſelben Gattung (z. B. Papilio) be—
weiſt, ſo dürfte die Hoffnung nicht unbe—
rechtigt erſcheinen, noch ſolche einfachere Zu—
ſtände aufzuſinden. Da bisweilen ſelbſt
wohlentwickelte Duftflede (3. B. bei Calli-
dryas Philea c') oder Haarbüſchel (z. B.
Mechanitis Lysimnia c') keinen für
uns ſicher wahrnehmbaren Geruch verbrei—
ten, ſo mußte man ſelbſtverſtändlich von
vornherein bei derlei einfachen Formen auf
Erkennen durch die Naſe verzichten und
ihre Deutung anderweitig ſicher ſtellen. Es
laſſen ſich nun in der That auf den Flü—
geln verſchiedener Schmetterlinge Schuppen—
bildungen nachweiſen, die man mit Wahr—
ſcheinlichkeit als einfachere, urſprünglichere
Duftwerkzeuge betrachten kann. Unter dieſen
ſind beſonders merkwürdig, weil ihre Deu—
tung als ſolche wohl kaum einem Zweifel
unterliegen kann, die Duftſchuppen der
männlichen Maracujafalter.
Die Maracujafalter, wie ich ſie
nach den Pflanzen nenne, an welchen, ſo—
weit bekannt, die Raupen aller Arten le—
Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.
ben,) bilden eine auf das wärmere Südame—
rika beſchränkte Gruppe engverwandter Ar—
ten.
ihnen ein ganz eigenartiges Ausſehen, ihre
meiſt ſchönen, reinen, ſatten Farben machen
fie, wie die Morpho, zu einer wahren
Zierde ſüdamerikaniſcher Landſchaften. Man
hat aus ihnen vier Gattungen gebildet,
Heliconius, Eueides, Colaenis und
Dione (-Agraulis) und dieſe Gattun
gen bisher allgemein — unbegreiflicherweiſe
möchte man ſagen, wenn bei der landläu—
figen Syſtematik überhaupt etwas unbe—
greiflich wäre, — in zwei verſchiedene Un—
terfamilien oder Familien, die Heliconinen
und die Nymphalinen vertheilt; man
hat Colaenis und Dione oder ſelbſt
Eueides von dem nächſtverwandten He-
liconius losgeriſſen, um ſie mit Age—
ronien, mit Apaturen, mit Sidero—
nen zuſammenzuwerfen! Unter ſich durch
ihre geographiſche Verbreitung, durch den
Bau der Raupen wie der Falter, ja ſelbſt
durch ihre Liebhaberei für beſtimmte Blu—
men**) auf's Engſte verbunden, ſcheinen
ſie keiner anderen Tagfaltergattung beſon—
ders nahe verwandt zu ſein. Am nächſten
) Von den hieſigen Arten wurden auf
Maracuja (Passiflora) gefunden die Raupen
von Heliconius Eucrate, EueidesIsa-
bella und Aliphera, Colaenis Julia
und Dido, Dione Vanillae und Juno
) Poinsettia pulcherrima wurde
im vorigen Jahre in meinem Garten außer
von zahlreichen Theela- Arten und einigen
Eryeiniden nur ſelten und zufällig von
anderen Tagfaltern beſucht, mit Ausnahme
der Maracujäfalter; dieſe fanden ſich
regelmäßig ein und verweilten andauernd
bei der Pflanze, und zwar faſt alle hieſigen
Arten. Es fehlten nur Eneides Pavana,
den ich überhaupt erſt drei- oder viermal,
ſowie Dione Moneta, den ich erſt einmal
geſehen habe.
Ihre langen ſchmalen Flügel geben
dachziegelartig deckt.
393
ſteht wohl noch Acraea, deren Raupen
in allem Weſentlichen mit denen der Ma—
racujafalter übereinſtimmen.
Bei allen darauf unterſuchten Mäun—
chen der Maracujafalter nun finden ſich
auf der Oberſeite der Hinterflügel nahe
dem Vorderrande, beſonders zahlreich längs
der Coſtal- und Subcoſtalader, zwiſchen
den gewöhnlichen Schuppen einzelne andere
von ſehr auffallender Geſtalt, wie ich ſie
ähnlich nur bei den Männchen eines Weiß—
lings der Gattung Hesperocharis
geſehen habe. Ihr meiſt ziemlich ſtark gewölbter
Endrand iſt dicht mit Franzen beſetzt, welche
wie durch einen fremden Stoff mehr oder
minder mit einander verklebt ausſehen.
Faſt noch rein erſchienen die Franſen bei
einem Männchen von Eueides Ali-
phera, das ich dieſer Tage aus der
Puppe erhielt und im Laufe des erſten
Tages tödtete. — Die Schuppen erſcheinen
bis auf einen hellen Saum längs des befran—
ſten Randes trüb und undurchſichtig; ihr
Stiel iſt, im Gegenſatze zu dem gewöhn—
licher Schuppen, dünn, dünnhäutig, und
ſchlaff; das Grübchen, dem er eingefügt
iſt, iſt mehrfach größer als bei den anderen
Schuppen, kuglig und dabei breit und dun—
kel gerandet, als enthielte es einen ſtark
lichtbrechenden Stoff. Im Uebrigen iſt,
wie nachſtehende Figur zeigt, die Geſtalt der
Schuppen eine ziemlich wechſelnde.
Bei den Männchen von Colaenis
Dido kommen dieſe Schuppen auch ander—
wärts auf der Oberſeite der Flügel vor.
Genauer habe ich ihre Anordnung erſt bei
Heliconius Besckei mir angeſehen. Wie
bekannt, bilden die Schuppen der Tagfalter
Querreihen, von denen jede der Flügelwurzel
nähere die Einfügungsſtellen des folgenden
In jeder Ouerreihe
wechſeln zweierlei Schuppen miteinander ab,
0
Müller, Beobachtungen
Fig. 5
a, Heliconius Apsendes.
Duftſchuppen männlicher Maracujaäfalter.
b Heliconius Besckei.
(Vergrößerung 180 : 1.)
ce Eueides Aliphera. d Colaenis Dido.
e Dione Juno.
die einen, der Flügel—
haut aufliegenden
(Unterſchuppen), ſind
meiſt breiter und
kürzer, die anderen
darüberliegenden
(Deckſchuppen) ſchmä—
ler und länger. Wo
nun an der bezeich—
neten Stelle dieſe
regelmäßige Schup-
penſtellung vollſtändig ausgeprägt iſt, pfle—
gen die Duftſchuppen den Ort von Deck—
ſchuppen einzunehmen. Doch liegen ihre
Fig. 6.
a Unterſchuppen. b Deckſchuppen. e Duftſchuppen.
Linie mit denjenigen der anderen Schup—
pen, vielmehr meiſt der Flügelwurzel näher.
Namentlich längs der Coſtalader, wo die
Duftſchuppen am dichteſten ſtehen, iſt die
Anordnung der Schuppen eine minder
regelmäßige und hier ſind auch die Duft—
ſchuppen anſcheinend ganz regellos zwiſchen
die anderen eingeſtreut.
Was nun die Deutung als Duftſchup—
pen betrifft, ſo ſpricht dafür:
1) ihre Beſchränkung aaf das männ⸗
liche Geſchlecht;
2) ihr Vorkommen an der Stelle, die
vor allen anderen häufig von Duftvorrich—
tungen eingenommen wird. Hier, d. h.
auf dem vom Hinterrande der Vorderflü—
gel bedeckten Theile der Oberſeite der Hin—
terflügel, finden ſich unter den Danaiden
. I e
A m a cc 0 1 NN]
0 | I ı | HIN)
| |
Anordnung der Duftſchuppen bei
Heliconius Besckei.
unter den Morphinen:
die Duftvorrichtun—
gen bei Arten von
Euploea, hier die _
langen Haarpinſel
von Ithomia,
Mechanitis und
den meiſten heliconier⸗
ähnlichen Danatden;
unter den Satyri⸗
nen: der große
weiße Duftfleck von
Haar⸗
Gnophodes Morpena, der
büſchel verſchiedener Mycalesis-Arten; ein
Fleck mit langeu ſchwarzen ſeidenartigen Haaren
Einfügungsſtellen nur ſelten in derſelben
bei Bia Actorion; unter den Elym—
niinen: der Haarbüſchel von Elymnias;
der eirunde le—⸗
derbraune Fleck von Zeuxidia, ſowie ein
Haarbüſchel von Tenaris, Clerome
und Thaumantis; unter den Braſſo—
linen: der eirunde Fleck von Das yo—
phthalma, unter den Nymphalinen:
der Fleck von Lachnoptera; unter den
Pierinen: der Duftfleck verſchiedener Ar—
ten von Leptalis, Callidryas, Na-
thalis u. ſ. w.; unter den Heſperiden
der Haarbüſchel von Caeeina; endlich
unter den Motten (Hyponomeutiden)
der lange graublonde Haarbuſch von
Trichostibas. x
3) die Franſen am Endrande, welche,
wie andere Duftvorrichtungen, ſowohl die
Anſammlung von Riechſtoffen begünſtigen,
fo lange die Flügel auf einander liegen,
als auch eine raſche Verdunſtung derſelben,
ſobald die Flügel ſich von einander ent—
fernen;
4) das Grübchen, in welchem der Stiel
ſitzt, und welches man von ganz ähnlichem
Ausſehen in unzweifelhaften, ſtarken Geruch
verbreitenden Duftflecken antrifft.
Von Gattungen, die man in die Nähe
der Maracujafalter zu ſtellen pflegt, habe
ich nur Acraea, Arg ynnis und Me—
litaea (von letzteren beiden alpine Arten,
die mein Bruder Hermann geſammelt
hat) unterſucht, aber an den Flügeln der
Männchen nichts den Duftſchuppen von
Heliconius, Eueides, Colaenis und
Dione Aehnliches finden können. Selbſt
dieſes ſo unſcheinbare Merkmal beſtätigt
auf's Neue die enge Verwandtſchaft unter
ſich und die Abgeſchloſſenheit der Maracu—
jafaltergruppe.
Außer den Düften, durch welche männ—
liche Schmetterlinge dem umworbenen Weib—
chen ſich angenehm machen, erzeugen manche
Schmetterlinge Gerüche, die Inſecten freſſen—
den Vögeln oder anderen Feinden zuwider
ſind und dadurch gegen deren Verfolgung
ſchützen. Man kann ſie von erſteren leicht
dadurch unterſcheiden, daß ſie bei beiden
Geſchlechtern in gleicher Weiſe auftreten und
daß der Schmetterling ſie losläßt, ſobald
er in Gefahr kommt, ſobald er alſo z. B.
angefaßt wird. Auch die Maracujafalter
beſitzen einen ſolchen, und zwar einen recht
ſtarken ſchützenden Geruch. Fängt man ir—
gend eine Art, fer es Männchen oder Weib:
chen ſo erſcheinen am Ende des Hinterleibes
gelbe Wülſte, je nach dem Geſchlechte ver—
ſchieden geſtaltet und gelegen, aber bei Männ—
Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.“ 395
chen und Weibchen genau denſelben wider—
lichen Geruch verbreitend. Es könnte dieſer
Umſtand gegen die eben gegebene Deutung
der Duftſchuppen Bedenken erregen; es
könnte befremden, daß das Männchen neben
dem ſehr ſtarken, die Feinde abſtoßenden,
noch einen anderen ſehr ſchwachen, für uns
völlig unmerklichen, die Weibchen anlocken—
den Geruch erzeugen ſollte. Darauf läßt
ſich ſagen, daß man bereits wenigſtens
einen Fall kennt, in welchem gleichzeitig
und noch dazu dicht bei einander die bei—
derlei Gerüche vorkommen. Didonis
Biblis, ein hübſcher, mittelgroßer, ſchwar—
zer Falter mit breitem rothen Bande längs
dem Saume der Hinterflügel, beſitzt in beiden
Geſchlechtern auf dem Rücken des Hinter—
leibes, zwiſchen viertem und fünftem Ringe,
eine ſchwärzlich behaarte Doppelwulſt, die
hervorgeſtülpt wird, wenn man das Thier
ergreift; außerdem beſitzt das Männchen
eine dem Weibchen vollſtändig fehlende
weißbehaarte, von dem ſchwarzen Hinter—
leib grell abſtechende Doppelwulſt zwiſchen
dem fünften und ſechſten Hinterleibsring,
die das gefangene Thier niemals freiwillig
hervortreten läßt. Man kann mit einiger
Vorſicht bald die vordere, bald die hintere
Wulſt allein hervordrücken und ſich ſo von
der Verſchiedenheit der Gerüche überzeugen,
von welchen auch für uns der der vordern
Wulſt unangenehm, der der hintern ange—
nehm iſt. Durch dieſen Fall verliert die
überdies kaum zu umgehende Deutung der
Duftſchuppen auf den Flügeln der männ—
lichen Maracujafalter das Befremdliche,
was ſie für einen vereinzelt ſtehenden Fall
haben könnte.
Ueber Turbeupracht und Größe der Alpenblumen“)
von
Dr. Arnold Dodel- Port.
Cr die moderne Naturwiſſenſchaft
* ER erheben, ift wohl feine begrün⸗
deter und wahrer als diejenige,
daß die neuere Biologie mit den Göttern
in der Natur aufgeräumt habe, aber zu—
gleich kein Vorwurf ungerechter, als der,
daß die ſtrenge Wiſſenſchaft ſich mit einer
äſthetiſchen Naturanſchauung nicht ver—
trage und gleichſam darauf ausgehe, die
Menſchheit um den Sinn für das Natur—
ſchöne zu bringen. Mit dieſer Anklage
ſteht in direktem Widerſpruch die That
ſache, daß in keinem Zeitalter mehr als
in der Gegenwart die Freude am Natur—
* Wir dürfen über dieſes anziehende
Problem hoffentlich bald genauere Aufſchlüſſe
erwarten, da der gründlichſte Kenner der
Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und
Inſekten, Oberlehrer Dr. H. Müller in
Lippſtadt, ſeit einer Reihe von Sommern die
Hochalpenflora in dieſer Richtung ſtudirt, und
eben wieder auf ſeinem Beobachtungsfelde
weilt. Schon im nächſten Hefte werden wir
einige diesbezügliche Specialbeobachtungen
mittheilen können. Anm. d. R.
„
genuß ihren intenſiven Ausdruck gefunden
hat im Aufſuchen der ſchönſten Himmels—
ſtriche unſeres Planeten. Und heute mehr
als je find es gerade die exacten Natur-
forſcher, welche an der Spitze jener Co—
lonnen marſchiren, deren Streben im Auf-
finden neuer Punkte für erhabene Natur⸗
genüſſe gipfelt. Freilich verfolgt hierbei
der ernſte Forſcher ſtets auch ſeine ernſten
wiſſenſchaftlichen Zwecke. Er hat vor allen
anderen Naturfreunden noch das voraus,
daß er an tauſend Enden die unzähligen
Lettern zu erkennen vermag, durch welche
die Natur dem Eingeweihten ihre Offen—
barungen, ihre ewigen Wahrheiten enthüllt.
Bei ihm geſellt ſich zum Genuß am Natur-
ſchönen auch der Genuß der Erkenntniß
— und die Freude an letzterer wird ſtets
größer ſein, als die Erregung, welche das
Naturſchöne allein in uns hervorzubringen
vermag. Beiderlei Genüſſe ſchließen ſich
gegenſeitig keineswegs aus, ſondern ſie er—
gänzen und erhöhen ſich beim Naturkenner
eben zu jenem einzigen Hochgenuß, der die
Miſeĩre unſeres eigenen Daſeins vergeſſen
Naturwiſſenſchaft
macht. Die moderne
empfindet die Aufgabe, mehr und mehr
in weiteren Kreiſen das richtige Natur—
erkennen auszubreiten, wie eine Pflicht und
zu jenen geiſtigen Genüſſen, welche bis
heute faſt ausſchließlich den Männern der
Wiſſenſchaft vorbehalten blieben, alle Welt
einzuladen.
Für heute mag uns eine Alpenwan—
derung auf die Blumen aufmerkſam machen,
welche bei einer Beſteigung des Pilatus
ſeit den mittelalterlichen Zeiten, in denen
dieſer Berg zuerſt das Wallfahrtsziel from—
mer Seelen wurde, bis heute, wo er auch
bei den Weltkindern in die Mode gekom—
men iſt, von Tauſenden an ihrem Wege
erblickt worden ſind, aber gewiß nur bei
den Wenigſten tiefere Betrachtungen ange—
regt haben.
Ein Dampfboot führt uns auf dem
Spiegel des Sees hinüber an den Fuß des
ſteinernen Domes. Auf einſamem Feldweg
erſteigen wir leicht den dunkeln Tannen—
wald, der den Rieſen vom Fuß an bis
über die halbe Höhe hinauf umgürtet.
Waldbäche rauſchen in felſigem Bett her—
nieder, Hummeln und Bienen ſchweben von
Blume zu Blume, Schmetterlinge wiegen
ſich taumelnd durch die Lüfte.
Der Weg wird ſteiler, beſchwerlicher,
bald kühl ſchattig, bald brennend heiß von
der hochſtehenden Juli-Sonne. Ja, es iſt
Sommer, das ſagt uns nicht allein die
hohe Temperatur am Bergabhang, das
ſagen uns vielmehr die Tauſende aufge⸗
ſcheuchter Inſekten, die Honigſammelnden
und Blutſaugenden. Ihr Tiſch iſt reich
gedeckt. Da blühen ſie, die unzähligen
Kinder Floras, im reichſten Schmuck, am
Fuße des Berges in wahrhaft üppigem
Wuchs. Klee in mehreren Arten, Akelei,
Eiſenhut, Labkräuter, Sternmieren, Min—
zen, Thymian, Johanniskraut und wie ſie
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
397
alle heißen, die wilden Flachland- und
Vorderalpen-Pflanzen. Weiter oben führt
uns der Weg zwiſchen verwetterte Tannen,
in deren Schatten zahlloſe Farnwedel ihre
Millionen Sporen zur Reife bringen; da
blüht der Alpendoſt, der Bergwohlverleih,
die Bergminze, der ſilberglänzende Alpen—
frauenmantel, mehrere Hahnenfuß- und
Vergißmeinnicht-Arten. — Bald erreichen
wir — ſteiler und ſteiler anſteigend — die
Region der Alpenroſen. Wie's da leuchtet
an allen Enden, an den rauhen Felswän—
den, von dieſen rothen Blumenbüſchen!
Und dort das gelbe Veilchen, dann ver—
ſchiedene Enziane, Glockenblumen, Horn—
kräuter, Mannsſchild (Androsace); das
zierliche Alpenglöcklein hat für uns nur noch
Samenkapſeln, dagegen blüht hier oben noch
— mitten im Sommer! — die bekannte
große Schlüſſelblume (Primula elatior) in
einigen wenigen Nachhinkern und eine ganze
Menge von Kopfblüthlern und Dolden—
gewächſen.
Blumen an allen Enden und auch
reichlich Inſekten. Die Natur hält hier
oben, einige tauſend Fuß über dem blauen
Seeſpiegel, erſt im Juli ihre Hochzeitstage.
Aber welch intenſives Leben erwacht da
mit einem Schlag! Da iſt kein feuchter
Felsblock, kein abgeſtorbener Baumſtamm,
keine zerriſſene Steinwand, an denen nicht
das grüne Leben in vollen Zügen erwachte.
Drunten am See und draußen im Hügel—
land ſchimmern die reif gewordenen Ernte—
felder, hier oben iſt erſt der Frühling ein—
gezogen.
Der angehende Botaniker, der den Pi-
latus zum erſten Mal im Juli beſucht,
wird durch die Fülle des Dargebotenen
höchlichſt überraſcht. Er weiß in den erſten
Stunden kaum, wo er eigentlich mit ſeinen
Studien beginnen ſoll.
—
398
Wir kommen ins Gebiet der Wetter—
tannen: zu Füßen ein arg zerriſſenes Erd—
reich; verwitterte Felsblöcke rechts und
links am ſteilen Bergpfad.
Ein ſchmäch— |
tiger Raſen, ſaftgrün, über und über mit |
Blumen bedeckt, bekleidet die weniger ſteil
abfallenden Halden und Terraſſen.
Gräſer ſind kurzblätterig, gedrungen, mit
vielen Ausläufern verſehen, die ganze
Pflanzendecke dem Erdboden dicht ange-
ſchmiegt, die Sträucher — an geſchützten
Stellen noch kräftig entwickelt — nehmen
hier oben, allen Unbilden einer rauhen
Witterung ausgeſetzt, eine zwerghafte, ver—
krüppelte Geſtalt an. Die Laubbäume ſind
Die
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
blumen, Rapunzelarten (Phyteuma), Augen-
troſt, Ehrenpreis, Veilchen, Hahnenfuß,
Anemonen, Fahnenwicken (Oxytropis), Berg—
linſen (Phacea), Schwarzſtändel, der Alpen-
mohn, der goldgelbe Pipau (Crepis aurea),
die Habichtskräuter und hundert andere
Geſchlechter der blühenden Alpenflora, die
uns faſt ohne Ausnahme durch die leb—
haft gefärbten, weithin ſchimmernden Blü—
then auffallen. Man erſtaunt über dieſe
Verſchwendung in der Blüthenregion ſo
verſchwunden; Nadelhölzer allein behaupten
noch einige Zeit das Feld; allein auch ihre
Reihen werden immer lichter. Sturm und
Hagel, Blitzſchlag und Geröllefall, Kälte
und Feuchtigkeit, Nebel, Reif und Schnee—
geſtöber während neun Monaten im Jahre:
all dieſe feindlichen Elemente haben den
ſchlanken Bäumen mit ihrer dunkeln Blätter—
krone den Charakter des Kummers und
Elends aufgedrückt. Wie ſtruppig, borſtig
ſtehen die halbdürren Aeſte mit den Nadel—
büſcheln! Da und dort ein abgedorrter
Aſt, im Nebel vermodernd, von grauweißen
Flechten ganz bedeckt; drüben ein abgeſtorbener
Baum, als Leiche noch aufrecht ſtehend,
entblättert, zum Theil auch entrindet, oben
im Aſtwerk mit zahlloſen Bartflechten, die
herniederhängen, wie die Graubärte der
Patriarchen: ein Bild des Zerfalles! Und
doch wie ſo reich an hehrer Naturſchönheit!
Die Natur zerſtört das Leben fortwährend,
um Leben zu ermöglichen.
Aber mehr als dieſe verwetterten Ge
ſellen mit ihren maleriſchen Phyſiogno—
mien überraſcht uns die Pflanzenwelt zu
unſeren Füßen: Enzianen, Primeln, Andro—
ſace, Soldanella, Pedicularis, die Glocken—
zwerghafter Pflanzen, die oft kaum den
Muth oder die Kraft zu beſitzen ſcheinen,
ihren prächtigen, großen Blumen einen
entſprechend langen Stengel zu bilden,
gleichſam als fürchteten ſie ſich, die Organe
der Fortpflanzung den Unbilden der ewig
bewegten Bergluft auszuſetzen.
Sehen wir uns dieſe Blumenwelt etwas
genauer an, ſo muß uns auffallen, daß
überall, bei allen Gattungen der blühenden
Alpenpflanzen, die ſicherſten Vorkehrungen
getroffen ſind, um die Befeuchtung der
eigentlichen Geſchlechtsorgane jeder Blüthe
vor der Verſtäubung, reſpective vor der
Befruchtung zu verhindern.
ſind es die männlichen Sexualorgane, die
Staubblätter,
Blumenkrone oder durch irgend einen an—
deren Theil der Pflanze vor dem Zutritt
von Regen, Schnee, Thautropfen u. dergl.
geſichert werden. 5
Bei ſehr vielen Alpenpflanzen ſind die
Blüthen zur Zeit, da der Pollen entleert
und die Befruchtung vollzogen werden ſoll,
nickend, alſo abwärts geöffnet, nach oben
gegen den Einfall der Regentropfen durch
die Kron- und Kelchblätter wie mit einem
Dach geſchützt. Ich erinnere an die in un—
ſeren Alpen und Voralpen ſehr verbreitete
niedere Glockenblume (Campanula pusilla)
und andere Arten derſelben Gattung, an
Namentlich
welche entweder durch die
8
die Drottelblume (Soldanella), an manche
Primeln und Veilchen.
Bei anderen Blüthen iſt die nach oben
geöffnete Blumenkrone abwärts ſo verengt,
daß nur ein enger Garal zu den Geſchlechts—
organen führt. Ein Regen- oder Thau—
tropfen, der die offene Blüthe trifft, kann
dort liegen bleiben, ohne durch den Canal
abwärts dringend den Pollen oder die
Narbe zu erreichen, ſo bei den prächtigen
Mannsſchildarten (Androsace), welche mit
zu den ſchönſten Erzeugniſſen der Pflanzen—
welt unſerer Berge gehören. Wieder an—
dere Pflanzen beſitzen in der Blüthenregion
periodiſch bewegliche Blätter, welche bei
dunkler Witterung (Regen, Nebel) gewiſſe
Bewegungen ausführen, die zum Schutze
des Pollens dienen.
Es wird für Jedermann ein Leichtes
ſein, ſich an ein Dutzend Pflanzen zu er—
innern, die ihre Blüthen abwechſelnd öffnen
und ſchließen, je nach dem Charakter der
Witterung. Wozu denn aber das Oeffnen
der Blume überhaupt? — Die nahe
liegende Antwort: „Damit die Sonne in
die Blüthe hinein ſcheinen könne“, iſt leider
nicht ſtichhaltig.
Denn — ſo fragen wir — was ſoll
denn der Sonnenſchein in der Blume aus—
richten? Giebt es nicht eine Menge Pflan—
zen, die ohne Sonnenſchein blühen und
fructificiren? Ein Jeder kennt ja Blumen,
die ſich erſt nach Sonnenuntergang öffnen
und nur während der ſtillen Sommernacht
ihre Schönheit entfalten.
Wir wiſſen, daß bei der Befruchtung
der großblumigen Pflanzen nicht die Sonne,
wohl aber die geſchäftigen Inſekten eine
Hauptrolle ſpielen. Aber erſt wenn der
Zutritt zum Honigſaft ermöglicht iſt, kann
das Inſekt die Beſtäubung vermitteln.
Von Regen triefende Blüthen werden von
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
399
den Inſekten meiſt übergangen, weil der
Honig in ſolchen verwaſchenen Blumen ſehr
wäſſrig oder gar gänzlich ausgewaſchen iſt.
Es liegt alſo im Intereſſe der Blüthe,
reſpective der Samenbildung, daß die honig-
bereitenden Blumen ſich nicht allein wegen
ihrer empfindlichen, zarten Geſchlechtsorgane
vor Befeuchtung ſchützen, ſondern auch um
der Fremdbeſtäubung durch Inſekten willen.
Dieſe letzteren ſchwärmen zum Theil wohl
auch aus dieſem Grunde nicht während
ſanfterer atmoſphäriſcher Niederſchläge, die
ſie ſonſt am Fliegen nicht behindern wür—
den.
Ja ſie leben in einer böſen Welt, dieſe
herrlich blühenden Alpenpflanzen. Früh⸗
ling, Sommer und Herbſt ſind für ſie in
drei Monate zuſammengedrängt, und ge—
rade in dieſer Zeit des Blühens und
Fruchtbildens müſſen fie die meiſten atmo-
ſphäriſchen Niederſchläge ertragen. Triefen-
der Thau, ſonnige Morgen, neblige Vor—
mittage, Gewitter und Platzregen am Nach-
mittag, Abends Nebel oder auch Sonnen—
ſchein, oft beides raſch mit einander ab—
wechſelnd, Nachts wieder klarer Himmel
und froſtiger Thau oder gar Reif und Eis
— das ſind die Ringe in jener Kette,
welche in buntem Wechſel ohne vermittelnde
Bindeglieder in den ſchroffſten Gegenſätzen
einander berühren und das goldene Zeit—
alter der Alpen-Vegetation repräſentiren.
Keine Pflanze mit ſchnell vergänglichen
Blüthen vermag ſich wegen dieſer ungün—
ſtigen Witterungsverhältniſſe auf die Dauer
hier oben zu erhalten. Jede Alpenblume muß
vielmehr tage-, ja wochenlang ausſchauen,
um die günſtige Stunde der Beſtäubung
abwarten zu können. Oft ſind es während
eines Sommermonats bloß einige wenige
Stunden des trockenen Sonnenſcheins, da
ſich die Blüthenkelche öffnen können, um
400 Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
die ebenfalls nur bei trockener Luft ſchwär—
menden Inſekten anzulocken. Und dieſe
wenigen Stunden ſollen hinreichen, um
den Honigſammlern zu ermöglichen, alle
die tauſend einladenden Blüthen zu beſuchen,
Fremdbeſtäubung zu vermitteln und den
unzähligen, in hunderterlei Farben ſchim—
mernden Kindern der Flora Nachkommen—
ſchaft zu ſichern. Hierin aber liegt allem
Anſchein nach der Schlüſſel zu jenem My—
ſterium von der Blüthenpracht
der Alpenpflanzen.
Wir ſind bereits über der Baumgrenze
angelangt; es umgeben uns nur noch die
niedrigen Kräuter und Gräſer, welche —
dem Erdboden ſich dicht anſchmiegend —
die vielbeſungene Sammetdecke der Berg—
weiden bilden. Drüben am Fuße der
allmälig in Trümmer zerfallenden Fels—
wand, auf dem in ewiger Bewegung be
griffenen Brockengeſtein der Schutthalde,
ſind es nur wenige Pflanzen, die den Kampf
ums Daſein an wüſter Stätte der Ver—
witterung zu beſtehen vermögen: etliche
großblühende Veilchen, der Alpenmohn,
einige Wucherblumen, Anemonen und
Hahnenfußgewächſe. Aber wie hell leuch—
ten ihre Blumen heraus aus dem fahlen
Geſtein!
Hier oben, in der baumloſen Region
der allmälig in Ruinen zerfallenden rauhen
Welt geborſtener Felskoloſſe überraſcht uns
die Natur mit den ſchärfſten Gegenſätzen.
In der grauſigen und öden Umgebung tre—
ten die Effecte der Blüthenwelt um ſo
ſchimmernder hervor.
Wohl erſcheint es uns natürlich, daß
eine armſelige Nahrung und ein rauhes
Klima die Vegetation nieder- und zuſam⸗
mendrückt wie ein Häuflein frierender Kin⸗
der. Der gedrungene Wuchs der Alpen-
pflanzen iſt wie geſagt ſo ſelbſtverſtändlich,
wie derjenige der nahe verſchwiſterten Polar—
pflanzen. Deſto mehr muß der Luxus in
der Blüthen-Ausſchmückung überraſchen.
Es iſt alſo das pflanzliche Geſchlechts—
leben, welches uns dieſen draſtiſchen Gegen—
ſatz zwiſchen der kümmerlichen vegetativen
und üppigen Blüthen-Entwickelung der
Gebirgsflora erklärt.
Wir wiſſen heute, Dank dem befruch—
tenden Einfluß der Darwin'ſchen Zucht—
wahltheorie auf alle Zweige der botaniſchen
und zoologiſchen Forſchung, daß die meiſten
farbigen, wohlriechenden und honigabſon—
dernden Blüthen durchaus von Inſekten
beſucht und mit fremdem Blüthenſtaub be—
fruchtet werden müſſen, wenn ſie kräftige,
entwickelungsfähige Samen bilden ſollen.
Der Inſektenbeſuch wird bei dieſen Pflan—
zen zur Exiſtenzfrage der Nachkommenſchaft;
bleibt er aus, ſo ſtirbt das Individuum
ohne Nachkommen dahin; trifft dieſe Ca—
lamität alle Individuen derſelben Art, fo
ſtirbt die ganze Pflanzenſpecies aus, um
nie wieder auf dem Schauplatz der Schö—
pfung zu erſcheinen. Im Wettlauf um die
Gunſt der Inſekten iſt aus der zum größ—
ten Theil ausgeſtorbenen Schöpfung nicht
luxurirender Blüthenpflanzen vor Zeiten die
ſchöne Welt der buntblühenden Gewächſe
hervorgegangen. Die damals ſo beſcheide—
nen, meiſt grünlichen Blüthen fingen an,
mit bunten Farben zu coquettiren, Honig
abzuſondern und Gerüche zu verbreiten.
Erinnern wir uns nun der Thatſache,
daß der Inſektenbeſuch und die dadurch be—
wirkte Fremdbeſtäubung für ſo unendlich
viele Pflanzen ſich als Wohlthat erwies,
wie er es auch heute noch iſt, ſo leuchtet
ein, daß von den tauſend und tauſend um
denſelben Platz kämpfenden Pflanzen nicht
wenige ihren Sieg gerade dem Umſtand
zuzuſchreiben hatten, daß fie durch Farben—
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 401
pracht, Honig und Aroma ihrer Blüthen
die Mitbewerber im Kampf ums Daſein
überboten und darum am eheſten und
ſicherſten ſich der Wohlthat des Inſekten—
beſuches ausſetzten. 3
Nun ergiebt ſich auch von ſelbſt die
weitere Schlußfolgerung:
Da die Alpenpflanzen in der Regel
viel größere und intenſiver gefärbte Blüthen
beſitzen, als ihre Vettern und Baſen im
Thale — mit denen ſie auf einen gemein—
ſamen Stammvater zurückzuführen ſind —
ſo muß dort oben der Wettbewerb um den
Inſektenbeſuch ſeit alten Zeiten ein viel in—
tenſiverer geweſen ſein als in der Ebene,
zumal die Inſekten hier oben mit weniger
zufrieden ſind als unten im Flachland.
Es dürfte demnach ſofort einleuchten,
daß diejenigen Alpenpflanzen, welche nur
unter Mithül fe der Inſekten durch Fremd—
beſtäubung Samen zu bilden vermögen,
zur Blüthezeit als die heftigſten Rivalen
um die Gunſt der wenigen in dieſer Ge—
birgsregion ſchwärmenden Honigſammler
einander gegenüberſtehen; wer ſich dann
nicht aufs glänzendſte mit bunten und
großen, oder mit weithin duftenden Blüthen
auszuſtatten vermöchte, würde eben von den
wenigen dort ſchwärmenden Inſekten über—
ſehen und ſeine Nachkommenſchaft wäre
unmöglich geworden.
Nun giebt es in der That eine Anzahl
ganz hervorragender Botaniker, welche die
Alpen aus mehrjährigem Beſuch hinlänglich
kennen, um in dieſer Frage ein gewichtiges
Wort mit zu reden, und wirklich haben
mehrere derſelben es auch ausgeſprochen,
daß die honigſuchenden Inſekten in den
Gebirgsgegenden thatſächlich relativ ſchwä—
cher vertreten, in kleinerer Anzahl vorhan—
den ſind, als in der Ebene. Die Theorie
von der Schönheit der Alpenflora ſchien
ſomit hinlänglich bewieſen, was mich denn
auch veranlaßte, in der „Alpenpoſt“
(1874, 25. Januar) etliche kurze Notizen
niederzulegen und die ganze Frage einem
weiteren Publikum, hauptſächlich den vielen
Laien unter den begeiſterten Alpenfreunden,
nahezubringen. Allein wie überall, ſo fand
auch hier der Jünger unſerer Abſtammungs—
lehre nebſt den Freunden richtiger Natur-
erkenntniß zähe Anhänger der alten Zweck—
mäßigkeitslehre, wonach der liebe Gott die
Bäume grün gemacht hat, „weil grün gut
für die Augen des Menſchen iſt“, jener
Zweckmäßigkeitslehre, welche hinter allem
Nützlichen das Uebernatürliche erkennen will,
die weisheitsvolle Güte, welche die Blumen
zur Freude der Menſchen erſchaffen hat.
Das fromme Gemüth, welches aus dieſer
kindlichen Weltanſchauung ſpricht, ſträubt
fi) gegen jeden Fortſchritt der Wiſſenſchaft,
ſobald dieſer auch dort den Vorhang zu
lüften beginnt, wo bisher der menſchliche
Verſtand vor einem ungelöſten Räthſel
ſtehen blieb und daher dem „Glauben“
vollen Spielraum ließ.
Ich conſtatire hierzu folgende That—
ſachen:
Es war im Sommer 1868, als ich
mit einem Studiengenoſſen von einer deut—
ſchen Univerſitätsſtadt aus für zehn Tage in
ein einſames, ödes, vom Fremdenſtrom ge—
miedenes Hochgebirgsthal des Graubündtner—
landes flüchtete, um dort — fern vom
großen Weltlärm — eine Urwelt kennen
zu lernen, wie man ſie eben nur in ent-
legenen, faſt ausgeſtorbenen Bergthälern
finden kann. Unſer Wanderziel war Cani—
cül im ſtillen Aversthal, links der Splügen—
ſtraße, jenſeits der gigantiſchen Via mala.
Dort im armen Bergdörfchen, das nur
von wenigen Geishirten bewohnt wird, zu
dem keine Straße, kein Saumpfad, ſondern
402
nur ein elender Gebirgsfteig führt, herrſcht
noch die ſeltene, auf den Ausſterbe-Etat
geſetzte romaniſche Sprache. Dagegen iſt
die Sprache der Blumenwelt in dieſen
Höhen eine gemeinverſtändliche, dem Bo—
taniker jeder Zunge ſich leicht erſchließende.
An einem Julitage brachen wir mit Bota—
niſirdoſen und munterer Lebensluſt am
frühen Morgen auf, um die nächſtgelegenen
Felskämme zu erſteigen und fleißig einzu—
ſammeln. Der Morgen war ſonnenhell
und klar, der Vormittag wurde heiß; wir
ſtiegen von Fels zu Fels, hoch über die
Baumgrenze hinauf; da waren Pflanzen,
Blumen und Inſekten immer noch in
reichlicher Menge anzutreffen. Auf einem
Schneefeld nahmen wir unſer Frühſtück
und ſtiegen dann bis Nachmittags 2 Uhr
höher und höher über Schutthalden und
Felskämme. Die Pflanzen wurden ſeltener,
auch die Inſekten traten zurück, bis oben,
etwa 10,000 Fuß über dem Meer, nur
noch an geſchützten Stellen einige wenige
Blüthenpflanzen anzutreffen waren. Dort
machten wir Halt auf einem ſchmalen Fels—
kamm zwiſchen dem Val di Lei und dem
Val d' Emet. Die Sonne ſchien — aber
lange Zeit war auch nicht ein einziges
Inſekt mehr zu entdecken, obſchon die At-
moſphäre ſo ruhig lag wie in der Region
der Calmen. Und doch prangten neben
uns an ſonniger Stelle zwiſchen zwei Fels—
trümmern, auf einer Hand voll Erde ihr
Daſein friſtend, ein Dutzend ſtielloſer Blü—
then im zierlichſten Raſen einer zwerghaften
Vergißmeinnicht-Art, die den poetiſchen
Namen „Himmelsherold“ trägt (Erithri-
chium nanum, Schrad. = Myosotis
nana L.). Endlich trug ein warmer Wind-
hauch, der von den unter uns liegenden
Schutthalden bis zu uns heraufſtieg, einen
taumelnden Schmetterling daher. Es war
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
als habe ſich dieſer Bote des Sommers in
unſere Höhe verirrt. In längeren Zwiſchen—
räumen ließ ſich auch das Geſumme einer
Diptere erkennen, die hier oben — in der
Region des ewigen Schnees — nach den
wenigen Blüthen ſpähte. Wir weilten dort
eine volle Stunde, die Sonne ſtand hoch
am Himmel und doch bemerkten wir an
dieſem Juli-Nachmittag nur wenige Inſek—
ten. Wir dürfen daraus ſchließen, daß in
dieſen Höhen in der That ebenſo
wohl wenige Inſekten, als auch
wenige Blüthenpflanzen vorhan—
den ſind.
Aus dieſer Beobachtung folgt aber mit
Nothwendigkeit, daß ſich die natür—
liche Zuchtwahl geltend machen muß.
In der Region der öden, zerriſſenen
Felswände und auf den Todtenfeldern der
langſam verwitternden Schutthalden über
der Grenze des ewigen Schnees iſt das
Pflanzenleben auf ein Minimum reducirt.
Das Gleiche gilt von der Inſektenwelt,
denn dieſe iſt doch wohl unbedingt von der
Vegetation abhängig. Wie nun, iſt es
nicht ſelbſtverſtändlich, daß die wenigen
zwerghaften Blüthenpflanzen, die unter dem
Geſetz der nothwendigen Fremdbeſtäubung
des Inſektenbeſuches abſolut bedürfen, nur
dann ihre Gattung zu erhalten vermögen,
wenn fie alle möglichen Mittel in Anwen-
dung zu bringen im Stande ſind, welche
die Aufmerkſamkeit der wenigen, in ihrer
Umgebung ſchwärmenden Inſekten auf ſich -
lenken? i
Hier haben wir den ſchroffſten Gegen-
ſatz zu den Repräſentanten der Mimicry
in der Thierwelt, zu jenen Schmetterlingen,
Blattläuſen, kleinen und ſchwachen und doch
ſo ſehr verfolgten Thieren aller Klaſſen,
die ſich nur dadurch vor ihren ſtärkeren
Verfolgern, den Raubthieren aller Art,
—
ſchützen, daß ſie die Farbe der Unterlage
annehmen, auf der ſie ſich bewegen. Unſer
Schneewieſel, im Sommer von bräunlicher
Farbe, beſitzt im Winter einen weißen
Pelz, um ſich dem Blicke ſeiner Verfolger
zu entziehen, d. h. das Schneewieſel hat
allgemein durch natürliche Zuchtwahl im
Verlauf der vielen Generationen jenen
ſchützenden, periodiſchen Farbenwechſel an—
genommen, weil diejenigen, die dieſen
Kleiderwechſel nicht vollführten, ausgerottet
wurden. Den Gegenſatz hierzu bilden
jene großblühenden, weithin ſchimmernden
Blumen unſerer zwerghaften Alpenpflanzen,
die auf den öden Trümmerfeldern zerfallen-
der Gebirge nur in wenigen Individuen
vertreten ſind und doch von den wenigen
Inſekten ihres Wohnortes beſucht werden
müſſen, wenn ſie fruchtbare Samen reifen ſollen.
Wer vermöchte hier die natürliche Zucht
wahl zu verleugnen? Hier blüht in den
glänzendſten Farben der zwerghafte Him—
melsherold (Erithrichium nanum, Schrad.);
ſeine himmelblauen Blüthen auf blaß—
grünem Raſen werden von den wenigen
Honigſammlern ſeines Reviers alsbald be—
achtet und die Fremdbeſtäubung iſt geſichert;
— dort drüben aber blüht ein anderer
kleiner Raſen in viel beſcheidenerem Schmuck:
er wird von den Inſekten nicht beachtet,
Fremdbeſtäubung unterbleibt und ſeine
Nachkommenſchaft iſt in Frage geſtellt.
Während auf dieſe Weiſe ganz natürliche
Verhältniſſe den Ausjätungsproceß der we—
nig luxurirenden Pflanzenindividuen in Per⸗
manenz erhalten, ſehen wir gleichzeitig die
beſſer ausgeſtatteten Individuen zahlreiche
Nachkommenſchaft hinterlaſſen, unter welcher
ſich im folgenden Jahr derſelbe Proceß der
natürlichen Ausleſe, das Geſetz der natür—
lichen Zuchtwahl geltend macht.
Ich meine, daß es kaum ein günſtige—
| Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 40:
res Feld gibt, um das Prinzip der Na-
turausleſe an lebenden Pflanzen zu demon—
ſtriren, als dieſe Hochalpenregion, wo auf
großen Trümmerfeldern fahlen Geſteines
und an ſterilen Felswänden nur da und
dort, in ſehr weiten Abſtänden, einige we—
nige Blüthenpflanzen ihr Daſein zu er—
kämpfen vermögen und nur dann entwick—
lungsfähige Samen zu bilden im Stande
ſind, wenn ſie durch weithin ſchimmernde
Blumen ihre beſten Freunde und größten
Wohlthäter, die honigſuchenden Inſekten,
anzulocken wiſſen. Das Gleiche gilt von
den durch intenſive aromatiſche Gerüche aus—
gezeichneten Blüthenpflanzen. Hier vermag
oft das weithin duftende Aroma daſſelbe
zu bewirken, wie eine brillante Blumen—
krone. Die Pflanzenwelt iſt unter dem
Correctiv der natürlichen Zuchtwahl auf
verſchiedene Mittel gerathen, um ſich das—
ſelbe Reſultat zu ſichern. Wir verſtehen
demnach auch jene Thatſache, daß manche
Alpenkräuter ſich durch intenſivere Gerüche
auszeichnen, als die Verwandten im Thale.
Und was von den Alpenpflanzen, das gilt
auch von den erſten Frühlingsblumen des
Tieflandes. Wir verſtehen, warum das
erſte Veilchen, daß an ſonniger Halde und
am Waldesrande blüht, während unten
am ſchattigen Abhang der Schnee erſt zu
ſchmelzen beginnt, eine wohlriechende Art,
das wohlriechendſte Veilchen des ganzen
Jahres iſt. Wir verſtehen, warum die
erſten, aus kaum aufthauender Erde her—
vorſproſſenden Frühlingsboten, die Anemo—
nen, Primeln, Winterlinge (Eranthis),
Crocus- und Seilla-Arten ſo unverhältniß—
mäßig große Blumen darbieten. Alle dieſe
Pflanzen der Ebene und Voralpen ſtehen
zur Blüthezeit unter ähnlichen Verhält—
niſſen, wie die großblühenden oder ſtark—
duftenden Hochalpenpflanzen.
404
Wir ſehen alſo, daß unſere Theorie
von der Blüthenpracht der alpinen Pflan-
zenwelt wenigſtens für die öden Gegenden
über der Schneegrenze, für die Region
der inſektenarmen eigentlichen Hochalpen—
flora gerettet iſt. Für dieſe wunderbare
Welt der extremſten Gegenſätze ſteht unſere
Theorie unantaſtbar feſt.
Sehen wir zu, wie wir mit den Ein-
wänden eines bewährten Entomologen auch
für jene Regionen der Alpenwelt fertig
werden, in welchen zur Blüthezeit wirklich
auch unzählige Inſekten zur Dispoſition
geſtellt ſind; daß nämlich da, wo die Mut⸗
ter Natur mit einem Male ihr reiches
Füllhorn der bunteſten Alpenblumen über
die Sammetgründe der Weiden, Triften
und Abhänge unſerer Berge ausgeſchüttet
hat, die Welt auch von Inſekten in glei-
chem oder gar in günſtigerem Verhältniſſe
belebt ſei, wie unten im Flachlande, wenn
der Frühling erwacht iſt und Hain
und Flur, Feld und Wald im Blüthen-
ſchmuck erglänzt. — Selbſt wenn wir dies,
jedoch mit der Einſchränkung, die wir in
obiger Betrachtung gegeben, zugeſtehen
wollten, ſind wir doch weit entfernt, daraus
zu folgern, daß unſere Theorie blos für
die eigentliche Hochalpenflora zutreffe und
in etwas tieferen Bergregionen keine Au—
wendung finden könne. Wir werden im
Gegentheil den Beweis zu leiſten vermögen,
daß jene Theorie von der Farbenpracht
der alpinen Blüthenpflanzen für die ganze
Alpenflora Geltung beanſpruchen kann und
muß. Wir ſtützen uns auf folgende That—
ſachen: Einmal iſt die eigentliche Frühlings⸗
zeit der Alpenpflanzen, in den Gebirgs—
Thälern ſowohl als auf den Höhen, in
einen ſehr kurzen Zeitabſchnitt zuſammen—
gedrängt; die ganze Vegetationsperiode,
Frühling, Sommer und Herbſt, umfaßt
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
nur die drei Monate Juni, Juli und
Auguſt. Häufig erwacht der Frühling auf
den höhern Alpenweiden erſt dann, wenn
bereits die längſten Sommertage hinter
uns liegen. Der Pilatus, deſſen höchſte
Spitze (das Tomlishorn) ſich nicht mehr
als 6565 Fuß über das Meer erhebt,
alſo noch anderthalbtauſend Fuß unter der
Schneelinie der Alpen liegt, wird von den
meiſten Botanikern erſt im Juli, höchſt
ſelten ſchon um die Zeit des längſten Ta—
ges beſucht. Vier oder ſechs Wochen nach—
her hat hier meiſtens das Blühen ein
Ende. Was aber vom Pilatus geſagt
wird, das gilt von den meiſten Gebirgen
diesſeits der Waſſerſcheide. Hier ſind die
Flitterwochen der Vegetation wie der In⸗
ſektenwelt ſehr kurz zugemeſſen. Aber welch
ein Bild entfaltet ſich da beim Erwachen
der lebenden Natur, wenn der Lenz über
die Höhen ſchreitet und die Bergthäler aus
ihrer Ruhe weckt! Wie auf ein mächtiges
Zauberwort werfen ſich Triften und Wäl—
der in den ſchönſten Schmuck. „Alles will
ſich mit Farben beleben.“ — Und da ſoll
die Inſektenwelt mit einem Mal allen An⸗
forderungen gerecht werden! Gewiß thun
fie ihr Möglichſtes, dieſe fleißigen Honig—
ſammler, ebenſo gut als ihre Verwandten
im Flachlande les während des blühenden
Mai gethan haben.
Aber hier in der Gebirgswelt wirken
andere Faktoren erſchwerend auf die ruhige
Abwickelung des ungeheuren Prozeſſes der
Fremdbeſtäubung an den Millionen und
Milliarden Blüthen und Blümchen. Oft
verſtreicht eine ganze Woche, oft ſogar ein
halber oder ganzer Monat, ehe die Berge
ihren Schleier abwerfen, ehe die Nebel
und Regenwolken weichen, ehe der erſehnte
Augenblick herbeikommt, in welchem die
Fortpflanzung geſichert wird.
7
WWW .
Jeder Alpen-Reiſende, der bei ſonſt
heiterm Wetter die Bergſpitzen nur zu oft
im Nebel gehüllt erblicken muß, kann ſich
ſagen, wie viel ſeltener dort oben die Ho—
nigtage blühen werden, als im ſonnigen
Thale. Ebenſo ſparſam wie dort oben Tage
mit ſchöner Ausſicht blauen, ebenſo ſelten
lächelt, da Reiſe- und Blüthezeit zuſammen—
fallen, den Blumen eine „ſchöne Ausſicht“,
und die ſparſam zugemeſſenen Stunden
müſſen eben ausgenutzt werden.
der Tagesordnung. Dazu kommt, daß kalte
Morgen und kühle Abende in den Gebir—
gen auch während des Sommers nicht zu
den Seltenheiten gehören. Sie ſind, ſelbſt
wenn fie ſonnig und heiter ſich geſtalten,
dem Schwärmen der Inſekten nicht zu—
träglich.
Weiterhin iſt, wie bekannt, auch der
Wind ein Freund der Alpenregion. Iſt
aber die Atmoſphäre ſehr bewegt, ſo ver—
laſſen manche Inſekten, ſelbſt bei hellem
Wetter, ihre Schlupfwinkel nicht und unter—
laſſen jeden Beſuch bei Blumen, bis die
Luft ruhig iſt.
Faſſen wir das Alles zuſammen, ſo
ergiebt ſich, daß die Inſekten der
Alpenwelt eine ungleich größere
Aufgabe in ungleich kürzerer Zeit
zu bewältigen haben, als ihre
Verwandten im Flachlande.
Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe an,
daß in der Alpenregion während der Blü—
thezeit dortiger Vegetation die Stunden
lachenden Sonnenſcheines, die Zeitabſchnitte,
während welcher die Blüthenpflanzen wirk—
lich ihre Blumenkronen öffnen und der
Fremdbeſtäubung ausſetzen konnen, doppelt
ſo kurz zugemeſſen ſind, wie im Tiefland,
ſo muß daraus geſchloſſen werden, daß
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
Die Nie⸗
derſchläge find dort oben grade im Hoch-
ſommer, wo im Thale Dürre herrſcht, an
größere, als in der Ebene.
ai;
dort entweder doppelt jo viele Inſekten nö—
thig ſind, als in der Ebene, wenn das
Verhältniß zwiſchen „Angebot und Nach—
frage“ in Sachen der Frembeſtäubung an
beiden Orten ein ungefähr gleiches ſein ſoll,
oder aber: daß in den Alpen viel mehr
blühende Pflanzen von honigſuchenden In—
ſekten nicht beſucht, alſo der Fremdbeſtäu⸗
bung entzogen werden, als im Flachland.
Die Anzahl der nach Inſektenbeſuch ver—
langenden Blumen iſt faktiſch in den Al—
penthälern während warmer, ruhiger Som—
mertage eine ebenſo große, wenn nicht viel
Iſt aber zur
Bewältigung der Aufgabe eine doppelt
kleinere Stundenzahl eingeräumt, ſo folgt
mit mathematiſcher Gewißheit, daß eine
doppelt größere Zahl von Inſekten auf
dem Arbeitsfelde thätig ſein muß, wenn
derſelbe Effekt erzielt werden ſoll wie dort,
wo den Honigfreunden doppelt ſo viel Zeit
für die Ernte zugemeſſen iſt.
Ferner wird die Durchſchnittszeit, wäh-
rend welcher die Alpenpflanzen ihre Blüthen
entfalten und dem Inſektenbeſuch ausſetzen,
durch den Umſtand noch weiter herabge—
drückt, daß ein großer Bruchtheil dieſer
Pflanzen, vielleicht die Hälfte, zum minde—
ſten ein Drittel, während ſonniger Tage
entweder am Vormittag oder am Nach—
mittag im kühlen Schatten, an Felswän—
den oder an den von benachbarten Bergen
beſchatteten Abhängen ſteht, woſelbſt ſie
entweder gar nicht von den ſonnenfreund—
lichen Inſekten beſucht werden, oder den
Beſuch nicht zulaſſen wegen Mangel an
trockener Luft, Licht und Wärme.
Man denke den ſchroffen Gegenſatz hin—
zu: die meilenweite Haide, die ausgedehn—
ten Sümpfe, die monotone Hochebene des
Lechfeldes oder die üppige lombardiſch ve—
netianiſche Tiefebene, wo vom frühen Mor-
406
gen bis zum ſpäten Abend, jeden Tag
12-16 Stunden lang, die Sonne für alle
Creaturen leuchtet.
Schließlich erinnern wir auch an die
Thatſache, daß hauptſächlich die an wüſten,
felſigen Orten, nicht in großen Beſtänden,
ſondern meiſt iſolirt ſtehenden Alpenpflan—
zen es ſind, welche ſich durch großen Luxus
in der Entfaltung der Blüthen auszeichnen.
Wer ſie einmal an Ort und Stelle geſe—
hen hat, der vergißt ſie nicht ſo leicht; die
Steinbrecharten, Antherieum, Linaria al-
pina, Lilium bulbiferum, jene große weit—
hinleuchtende Feuerlilie, die im Klönthal
an den ſterilen, faſt unzugänglichen Fels—
wänden ihr Daſein friſtet, die Sedum- und
Sempervivum- Arten, die wilden Nelken
und alle jene gefeierten Repräſentanten der
Alpenflora, die um ſo größern Glanz ent—
falten, je größer die todte Stein- oder
Felswüſte, welche ſie rings umgibt. Hier,
in den tieferen Gebirgsregionen, machen
ſich an den wüſten Standorten ganz ähn—
liche Verhältniſſe geltend, wie wir ſie eben
über der ewigen Schneegrenze kennen ge⸗
lernt haben. Die Inſekten, welche bei die—
ſen zerſtreuten, weit von einander abſtehen—
den Alpengewächſen Frembeſtäubung zu
vermitteln haben, müſſen bei dieſem Ge—
ſchäft die weiten unwirthbaren Felswände
und Schutthalden nach allen Richtungen
durchmuſtern, wenn ſie ihrer Aufgabe ge—
recht werden ſollen.
Dieſes Abſuchen nimmt Zeit in Anſpruch.
Die honigſuchenden Inſekten ſind aber wäh—
rend ihrer Erntezeit ſehr haſtige Sammler,
die ſich keineswegs auf ein gemüthliches
Schlendern einlaſſen, ſondern emſig und
unausgeſetzt ihrem Geſchäfte nachgehen:
was iſt nun natürlicher, als daß gerade
dort, im Revier tuypiſcher Alpenpflanzen,
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
riechenden Gewächſe von den Blumenfreun—
den der Inſektenwelt nicht beachtet und da—
her dem Ausſterben preisgegeben werden.
Auch gehört das Abſuchen großer
Trümmerfelder und himmelanſtrebender,
ſpärlich bewachſener Felswände nicht zu den
Paſſionen jedes geflügelten Honigfreundes;
denn je ſteiler und unwirthlicher das dies—
fallſige Excurſionsgebiet, deſto launenhafter
das tückiſche Spiel des Windes. Selten
wagt ſich ein Schmetterling hinauf an die
ſenkrechte Felswand, jeder Windhauch fegt
ihn weg und entführt ihn der Region
ſeiner geliebten Blumenwelt.
Und drunten, an ſonniger, ſaftiggrüner
Halde, wo Pflanze an Pflanze dicht ge—
drängt in tauſend Blumen die unzähligen
Lieblinge der Inſekten, ihren bunten Teppich
ausbreiten, dort muß ſich der Wettbewerb
um die Gunſt der flatterhaften, honigſam—
melnden, haſtigen Geſellen nicht minder
inteuſiv geltend machen, als droben an
öder Felswand. Es mag dort unten von
Inſekten wimmeln, ſie haben auch nur we—
nige Stunden zum Einſammeln des Honigs;
ſie ſind um ſo hungriger, je länger ſie auf
den lachenden Sonnenſchein warten mußten.
Darum iſt ihre Eile und Verlangen ſo groß,
daß ſie gewiß zuerſt den leuchtenden, ſtark
duftenden Blumen zueilen, ehe ſie ſich Zeit
nehmen, auch den kleinern oder weniger
duftenden Blüthen Beſuche abzuſtatten. Auch
hier, auf dem blumenreichen Teppich der
tieferen Alpenweiden, werden die luxurirenden
Blüthen viel eher befruchtet, als die min—
der günſtig ausgeſtatteten; es kann nicht
ausbleiben, daß ſich auch hier ein heftiger
Wettbewerb um die Gunſt der Inſekten
geltend macht, eine Zuchtwahl, die um
ſo rigoroſer eingreift, je größer die Anzahl
gleichzeitig blühender Pflanzen und je kür—
die unſcheinbar blühenden bez. ſchwach | zer die Anzahl der Stunden, in welchen
die Inſekten — und wären es ihrer noch
jo viele — ihre Honig-Ernten feiern.
Man könnte uns entgegenhalten, daß
die Blüthenpracht der Alpenpflanzen ebenſo
gut durch die reinere Luft und das damit
zuſammenhängende intenſivere Sonnenlicht
in den Gebirgsgegenden erklärt werden könne.
In der That hat dieſe Anſicht bis in die
neueſte Zeit ſehr viele Anhänger gefunden;
ſie iſt aber unhaltbar.
Wohl beſteht eine Beziehung zwiſchen
dem Sonnenlicht und dem Blattgrün der
vegetativen Pflanzenorgane. Bekanntlich
bildet ſich das Chlorophyll (mit einigen
wenigen Ausnahmen) nur unter der Ein—
wirkung des Sonnen- oder diffuſen Tages—
lichtes. Allein die Blumenfarben ent—
wickeln ſich auch im tiefſten Dunkel; das
lehren uns alljährlich im Frühling die tief—
blauen Veilchen und Enzianen, die violet—
ten und goldgelben Blüthen mancher Cro—
cus-Arten und Hahnenfußgewächſe, die ihre
Farben in völliger Dunkelheit zu bereiten
wiſſen, um beim erſten ſonnigen Lenzes—
morgen damit die erſten wenigen Inſekten
anzulocken. Und ebenſo bilden Tauſende
der brillant blühenden Sommergewächſe
ihre Blumenfarbſtoffe im dunkeln Innern
mehrfach eingehüllter Knospen.
Alpenpflanzen, die aus der reinen Berg⸗
luft in die Ebene verſetzt werden, behalten
durch zahlreiche Generationen hindurch ihre
wunderbar glänzenden Blüthen bei, obſchon
ſie in ganz andere Beleuchtungs- und At—
moſphären-Verhältniſſe gebracht wurden.
Das bezeugen die Kunſtgärtner, welchen es
Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen.
407 N
gelungen iſt, die reizendſten Bergpflanzen mit
Erfolg zu züchten. (Man vergl. Verlot,
les plantes alpines. Paris 1873).
Und was hat die reine Bergluft, das
intenſive Sonnenlicht mit der Größe der
Blumenblätter zu ſchaffen? Die Phyſiolo—
gie hat zur Evidenz dargethan, daß das
Sonnenlicht dem Wachsthum der Zellen
und dem Zelltheilungsprozeß hemmend ent—
gegentritt. — Die längſten Pflanzenzellen
bilden ſich im Dunkeln, die Bildung neuer
Zellen findet zumeiſt während der Nacht
ſtatt. Nicht durch das intenſive Sonnen—
licht, ſondern durch die Dunkelheit wird
das Wachſen der Pflanzenorgane begünſtigt.
Das iſt eine Thatſache, welche der
uns entgegengeſetzten Theorie direkt wider—
ſpricht.
Auch Aroma und Honigbildung ſteht
zur reinen Atmoſphäre und zum grelleren
Sonnenlicht in keinem cauſalen Verhältniß.
Das wohlriechende Frühlingsveilchen bildet
ja ſeine ätheriſchen Oele und ſeine Zucker—
ſäfte in nebeligkalter Frühlingsluft, im
Schatten einiger dürrer Blätter, die im
Herbſt von der Hecke fielen.
So ſehen wir denn, daß alle Einwände,
welche gegen obige Theorie von der Far—
benpracht alpiner Blüthenpflanzen laut ge—
worden ſind, durch unzählige Thatſachen
widerlegt werden, während anderſeits alle
bis jetzt bekannt gewordenen Erſcheinungen
nur für die eine Anſicht ſprechen, die wir
in dem vorliegenden Verſuch auseinander
geſetzt haben.
Sr Pape KO
54
Lamarck und Darwin.
Lin Beitrag zur Geſchichle der Enkwicklungslehre.
NG ach der Darſtellung der Phi—
loſophie und Geologie La—
N 1 marck's wenden wir uns
Fer nun zu der Betrachtung feiner
biologiſchen Verallgemeinerun—
gen und betreten das Gebiet, auf welchem
dieſer Forſcher ſich ſo glänzend ausgezeichnet
hat. Seine ſyſtematiſchen Arbeiten in der
Zoologie und Botanik haben Lamarck
den Namen des franzöſiſchen Linné ein—
gebracht, und in der That ſind er und
dieſer große ſchwediſche Naturforſcher die
einzigen, welche ſowohl in der Zoologie
wie in der Botanik umfaſſende und höchſt
wichtige, ſyſtematiſche Arbeiten geliefert haben.
Während ſich aber Linné mit der Be
ſchreibung und überſichtlichen, aber künſt—
lichen Claſſification der verſchiedenen Thiere
| und Pflanzen begnügte, war das für La—
IV.
Lamarck's Anſichten über das Verhälkniß der organiſchen zur
unorganifchen Natur. — Seine Annahme der Urzengung.
— Pflanzen und Chiere.
Von
Dr. Arnold Rang.
mard nur ein Mittel zu einem anderen
höheren Zweck. Zu wiederholten Malen
betont er, daß der Naturforſcher nicht nur
darauf ausgehen ſolle, neue Arten zu ent—
decken, ſie genau zu beſchreiben, abzubilden
und in das Syſtem einzureihen, ſondern
daß er auch unabläſſig beſtrebt ſein ſolle,
den inneren Bau der Organismen, ihre
Beziehungen zu einander und zu den übri—
gen Naturkörpern zu erforſchen, die man—
nigfaltigen Erſcheinungen, die ſie uns dar—
bieten, zu erklären und die Urſachen ſowohl
ihrer Exiſtenz und Mannigfaltigkeit, als
ihrer zweckmäßigen Organiſation zu ergrün—
den. „Man weiß, daß jede Wiſſenſchaft
ihre Philoſophie haben muß. Nur dann
macht ſie wahre Fortſchritte. Vergebens
werden ſonſt die Naturforſcher ihre ganze
Zeit darauf verwenden, neue Arten zu
2 Ra: *
„„
0 BIS
„
logiſchen Aufgaben zu machen.
Lang, Lamarck und Darwin.
409
beſchreiben, alle Nüancirungen und die ge- ſtellt.“) Mit Recht beſtreitet Lamarck
ringſten Eigenthümlichkeiten ihrer Abände—
rungen aufzufinden, um die ungeheure Liſte
A 1
nach, daß naturgemäß den Mineralien
dd
der verzeichneten Arten zu vermehren. . .
Lamarck war nun gewiß zu ſeiner Zeit
gerade der Mann dazu, einen Anfang zur
Löſung der angedeuteten allgemeinen bio—
Mit einem
immenſen Schatz von Kenntniſſen in Zoo
logie und Botanik, mit dieſer nothwendigen
Vorbedingung zur Aufſtellung biologiſcher
Verallgemeinerungen, verband er einen die
Probleme ſcharf erfaſſenden, klaren Geiſt,
verband er das Beſtreben, ſich von dog—
matiſchen Ueberlieferungen jeder Art mög⸗
lichſt vollſtändig loszureißen. Wir dürfen
uns daher nicht wundern, wenn er auf
dem Gebiete der Biologie ſchon Anſichten
von weitreichender Bedeutung klar und
deutlich ausſprach, zu deren Anerkennung
man erſt in der neueſten Zeit durch die
überwältigende Macht der Thatſachen g
zwungen wurde. Anderſeits werden wir
in Anbetracht des in der Einleitung kurz
charakteriſirten damaligen Standes der
Wiſſenſchaft und des allzugroßen Beſtre—
02
.
0
i
bens Lamarck's, gleich alles zu erklären,
ein Beſtreben, das nicht ganz ohne Begrün—
dung „Originalitätsſucht“ genannt wurde,
zum Voraus erwarten können, daß er ſich
auch in der Biologie vielfach in große
Irrthümer verwickelte.
Wir beginnen unſere Darſtellung natur—
gemäß am beſten mit der Erörterung der
Lamar ck'ſchen Anſichten über das Ber-
hältniß der organiſchen zur unorganiſchen
Natur. Linné hatte in ſeiner bekaunten
Diagnoſe „Lapides ereseunt; plantae»
vivunt et erescunt, animalia vivunt et
erescunt et sentiunt“ die Mineralien, die
Pflanzen und die Thiere einander als
gleichwerthige Naturreiche gegenüber ge—
dieſe Eintheilung der Körperwelt in drei
gleichwerthige Reiche und weiſt überzeugend
als lebloſen Körpern die Orga—
nis men als belebte Körper gegen—
über geſtellt werden müſſen. Erſt in
zweiter Linie zerfallen die Organismen
wieder in zwei große Hauptabtheilungen,
die Thiere und Pflanzen. — Nicht minder
enſchieden tritt Lamarck einer anderen
Anſicht entgegen, die insbeſondere von Ari—
ſtoteles, Leibniz, Bonnet und vie
len Anderen vertreten wurde, nämlich der
Anſicht, daß ſich alle Naturkörper in eine
einzige ungetheilte Reihe bringen laſſen,
welche mit den Mineralien beginnend, ſich
durch die einfachſten Pflanzen zu den voll—
kommenſten fortſetze und durch dieſe zu
den unvollkommenſten Thieren übergehe,
um mit den vollkommenſten unter dieſen
Geſchöpfen ihren Abſchluß zu finden. Dieſe
Anſicht, an der merkwürdiger Weiſe noch
heute von grob teleologiſchen, ſpeculativen
Philoſophen feſtgehalten wird, obſchon ſie
allen bekannten Thatſachen, allen Ergeb-
niſſen der Naturforſchung Hohn ſpricht,
weiſt Lamarck auf's Entſchiedenſte zurück.
Ausdrücklich leugnet er das Vorhandenſein
von Uebergängen zwiſchen den höchſten
Pflanzen und den niederſten Thieren und
bemerkt, wie wir ſehen werden, ganz rich—
tig, daß der Zuſammenhang zwiſchen beiden
Organismenreichen, wenn ein ſolcher über—
haupt exiſtire, ganz anders zu denken ſei.
Nicht nur fehlen ſeiner Meinung nach dieſe
Uebergänge zwiſchen Pflanzen und Thieren,
ſondern ſie fehlen auch vollſtändig zwiſchen
) Später ſtellte Linné die Steine als
Congesta den Pflanzen und Thieren als
Organisata gegenüber, eine Unterſcheidung,
die jedoch keine Verbreitung fand.
410
den Organismen und Mineralien und ſpe—
ciell, wie obige Anſicht behauptet, zwiſchen
den Pflanzen und Mineralien. Die Welt
der Organismen hält er durch eine große
Kluft, einen gewaltigen Abſtand, von der
Welt der Mineralien, der Anorgane, ge—
ſchieden. Wir müſſen indeſſen gleich hier
betonen, daß Lamarck nicht eine abſo—
lute Verſchiedenheit in der Natur der
Organismen und der Anorgane behauptet.
Der Unterſchied ſei zwar ſehr groß, aber
nur relativ. Das materielle Subſtrat der
Organismen ſei das nämliche wie das der
Anorgane, nur ſeien die chemiſchen Verbind—
ungen bei den Organismen unendlich viel
complicirter. — Es exiſtirt alſo nach
Lamarck kein beſonderer Lebens-
ſtoff. — Auch die Geſetze ſind nach La—
marck für die Organismen wie für die
Anorgane die nämlichen, allgemein gülti⸗
gen, unveränderlichen; die Kräfte dieſelben.
„Man hat in der That behauptet, daß die
Organismen die Fähigkeit haben, den Ge—
ſetzen und Kräften, denen alle lebloſen oder
todten Körper unterworfen find, zu wider-
ſtehen, und daß ſie durch beſondere Geſetze
regiert werden. Nichts iſt unwahrſchein—
licher und in der That unbegründeter, als
dieſe vorgebliche Fähigkeit der Organismen,
den Kräften, denen alle anderen Körper
unterworfen ſind, zu widerſtehen. Dieſe
ziemlich allgemein angenommene, in allen
neueren, einſchlägigen Werken dargelegte
Anſicht ſcheint mir aufgeſtellt worden zu
ſein, einerſeits in Folge der Verlegenheit,
in welcher man ſich bei der Erklärung der
verſchiedenen Lebenserſcheinungen befunden
hat, anderſeits in Folge der innerlich ge—
fühlten Betrachtung der Fähigkeit der Or—
ganismen, ihre eigene Körperſubſtanz ſelbſt
zu bilden, die Verluſte, welche die ihre
Theile bildenden Stoffe erleiden, wieder
Lang, Lamarck und Darwin.
zu erſetzen und endlich Verbindungen her—
vorzubringen, welche ohne fie nie exiſtirt
hätten. So hat man in Ermangelung
anderweitiger Mittel die Schwierigkeit durch
die Annahme beſonderer Geſetze, die man
nicht einmal zu beſtimmen bemüht war,
beſeitigt.““) Es giebt alſo nad La—
marck keine beſondere Lebens-
kraft. Daß diejenigen Bewegungen und
Vorgänge, die man allgemein unter dem
Collectivnamen Leben zuſammenfaßt, den
fundamentalen Unterſchied zwiſchen den Or—
ganismen und Anorganen bilden, das be—
hauptet natürlich auch Lamarck. Allein
das Leben iſt nach ihm eine ganz natür—
liche, den allgemeinen Naturgeſetzen unter-
worfene Erſcheinung. — Bei Betrachtung
der philoſophiſchen Anſichten Lamarck's
haben wir geſehen, daß derſelbe mit dem
Worte „Natur“ die an ſich unveränder—
liche Geſammtſumme der immer geſetz—
mäßigen Bewegungen der Materie verſteht.
Das Leben iſt nun ſeiner Anſicht nach eine
beſchränkte Summe beſtimmter geſetzmäßiger
Bewegungen innerhalb der Geſammtſumme,
der Natur, und von dieſer abhängig, alſo
recht eigentlich ein Stück Natur, eine „na-
tura naturata“ im Sinne Spinoza's.
— Die Principien, die Lamarck beim
Verſuche der Löſung der Frage nach dem
Weſen des Lebens leiten, ſind ſehr richtig
und bezeichnend. Es herrſchen zwar, ſagt
er einleitend, überall in der Natur dieſelben
Geſetze und Kräfte, aber eine und dieſelbe
Urſache bringt nothwendiger Weiſe verſchie—
dene Wirkungen hervor, wenn ſie auf Ge—
genſtände einwirkt, die ihrer Natur und
den Verhältniſſen nach, in denen ſie ſich
befinden, verſchieden find.” **) Ferner:
„Die Natur complicirt ihre Mittel niemals,
) Zool. Philoſ. S. 286.
% Zool. Philoſ. S. 284.
Lang, Lamarck und Darwin. 411
wenn es nicht nöthig iſt; wenn ſie alle
Erſcheinungen der Organiſation, mit Hülfe
der Geſetze und Kräfte, denen alle Körper
allgemein unterworfen ſind, hat hervor—
bringen können, ſo hat ſie dies ohne Zwei—
fel gethan und hat nicht, um einen Theil
ihrer Erzeugniſſe zu regieren, Geſetze und
Kräfte geſchaffen, die denen, welche ſie an—
wendet, um den anderen Theil zu regieren,
entgegengeſetzt ſind.“?) Lamarck ſpricht
hier als conſtitutiven Grundſatz daſſelbe
aus, was ja auch insbeſondere Kant als
regulativen Grundſatz, als Maxime der
Vernunft ausdrücklich hervorhebt, „Prin—
cipia praeter necessitatem non sunt
multiplicanda.“
Von der Ueberzeugung der Einheit der
Geſetze, Kräfte und des materiellen Sub—
ſtrats in der anorganiſchen wie in der or—
ganiſchen Natur geleitet, machte nun La-
marck Erwägungen über das Weſen des
Lebens, indem er zuerſt ſich über die da—
bei zu verfolgende Methode ins Klare zu
ſetzen ſuchte. „Wir müſſen bei der aller—
einfachſten Organiſation unterſuchen, worin
in Wahrheit das Leben beſteht, welches
ſeine nothwendigen Exiſtenzbedingungen ſind,
aus welcher Quelle daſſelbe die beſondere
Kraft ſchöpft, welche die ſogenannten Lebens—
bewegungen erregt. Man kann in der
That erſt nach der Unterſuchung der ein—
fachſten Organiſation wiſſen, was wirklich
für die Exiſtenz des Lebens in einem Kör—
per weſentlich iſt; denn bei einer complicir—
ten Organiſation iſt jedes hauptſächliche
innere Organ derſelben für die Erhaltung
des Lebens nothwendig, wegen ſeiner inni—
gen Verknüpfung mit allen anderen Theilen
des Organſyſtems und weil dieſes Syſtem
nach einem Plane gebildet iſt, welcher dieſe
Organe erfordert. Daraus folgt aber
J Zool. Philoſ. S. 286.
nicht, daß dieſe Organe für die Exiſtenz
des Lebens in jedem Organismus noth—
wendig find.” *) Indem nun Lamarck
dieſen richtigen Weg einſchlägt, gelangt er
dazu, das Leben, wie oben bemerkt, als
eine Summe beſtimmter, ſehr complicirter
Bewegungen der Beſtandtheile eines Orga—
nismus aufzufaſſen und dieſe complicirten
Bewegungen zurückzuführen auf die phyfi-
kaliſche und complicirte chemiſche Beſchaffen—
heit des materiellen Subſtrats des Orga—
nismus. Etwas Näheres und Beſtimm—
teres über die Lebensbewegungen vermag
uns Lamarck ebenſo wenig zu ſagen, als
unſere heutige Phyſiologie. — Zu einem
höchſt fruchtbaren Ergebniß gelangt er aber,
indem er gewiſſe phyſikaliſche Eigenſchaften
des materiellen Subſtrats, zunächſt der ein—
fachſten Organismen, vergleicht mit ent—
ſprechenden phyſikaliſchen Eigenſchaften der
anorganiſchen Körper. „Ein anorganiſcher
Körper,“ ſagt Lamarck, „bildet entweder
eine vollſtändig trockene, feſte Maſſe, oder
eine vollſtändig flüſſige Maſſe, oder ein
gasförmiges Fluidum. Kein Körper aber
kann Leben beſitzen, wenn er nicht von
zwei Arten weſentlich coexiſtirender Theile
gebildet wird, von denen die einen feſt, aber
biegſam und enthaltend, die anderen flüſſig
und enthalten ſind, unabhängig von den
unſichtbaren Fluida (Lamarck meint die
Wärme, Ekektricität u. ſ. w. und dann
Gaſe), welche ihn durchdringen und
welche ſich in feinem Innern entwickeln.“ “)
Daß Lamarck hier das meint, was wir
als feſtflüſſigen Aggregatzuſtand bezeichnen,
leuchtet ein. Er betrachtet dieſen Zuſtand
mit Recht als eine der weſentlichſten inneren
Bedingungen für das Auftreten der Lebens—
bewegungen. Durch ſeine Erkenntniß von
9 Zool. Philoſ. S. 200.
% Zool. Philoſ. S. 208.
der großen Bedeutung dieſes phyſikaliſchen
Zuſtandes, wurde es ihm, wie wir gleich
ſehen werden, möglich, ſich die Haupt—
funktionen des Organismus: die Ernährung,
das Wachsthum und die Fortpflanzung
verſtändlicher zu machen. Lamarck ſpricht
dann ferner auch von den weſentlichen äuße—
ren Lebensbedingungen und betrachtet als
ſolche die Feuchtigkeit (das Waſſer), die
Wärme und die Elektricität. — Von der
Elektricität wiſſen wir nicht, ob ſie eine
nothwendige, äußere Lebensbedingung iſt;
Wärme und Feuchtigkeit hingegen ſind nach—
gewieſenermaßen unentbehrlich; das Licht
hält auch Lamarck für unweſentlich.
Im letzten Jahrhundert hatten Bon—
net, Fontana, Spallanzani und
viele Andere durch ihre Wiederbelebungs—
verſuche eingetrockneter Thiere und Pflanzen
allgemeines Intereſſe erregt. Allerhand
bizarre Anſichten wurden zur Erklärung
aufgeſtellt. Auch Lamarck widmete ſeine
Aufmerkſamkeit dieſem Gegenſtand. Er
ſprach die Anſicht aus, die uns auch heute
noch die einzig plauſible zu ſein ſcheint,
daß nämlich z. B. durch das Eintrocknen
bei den Verſuchen die innere Anordnung
der gröberen und feineren Theile nicht
alterirt, wohl aber dem Organismus eine
nothwendige, äußere Lebensbedingung ent—
zogen worden ſei. Gebe man nun dem
Organismus dieſe Bedingung wieder zu—
rück, ſo könne natürlich auch das Leben
wieder zurückkehren.
Wir ſchließen unſere Erörterung der
Anfihten Lamarck's über das Verhält—
niß der anorganiſchen zur organiſchen Na—
tur, indem wir von ſeinen theils falſchen,
theils begründeten Sätzen über dieſes Ver—
hältniß die wichtigſten anführen:
„Die Anorgane wachſen durch Appoſition
und entwickeln ſich nicht; die Organismen
Lang, Lamarck und Darwin.
wachſen durch Intusſusception und ent—
wickeln ſich. Bewegung in den Theilen
eines auorganiſchen Körpers zerſtört den—
ſelben, Bewegung in den Theilen eines
Organismus iſt für die Erhaltung feines
Lebens abſolut nothwendig. Die Anorgane
können ſich nicht ernähren, die Organismen
müſſen ſich ernähren. Die Anorgane
haben keinen gleichartigen Ur-
ſprung; die Organismen haben
einen gleichartigen Urſprung (un
méme genre d'origine), mit Ausnahme
derjenigen, welche durch Urzeugung ent—
ſtehen. Die Anorgane pflanzen ſich nicht
fort, die Organismen pflanzen ſich fort,
u. D.
Als Schlußreſultat ſeiner Erwägungen
über das Verhältniß der anorganiſchen zur
organiſchen Natur ſtellt Lamarck den
Satz auf: „Der Unterſchied, welcher zwi—
ſchen einem belebten und einem anorgani⸗
ſchen Körper exiſtirt, liegt alſo in Wirk—
lichkeit nur darin, daß der Zuſtand der
Theile des erſteren in ihm die Erzeugung
der Lebenserſcheinungen ermöglicht, deren
Auftreten nur einer erregenden Urſache be—
darf, während bei letzterem die Yebens-
erſcheinungen trotz der Einwirkung irgend
einer erregenden Urſache unmöglich ſind.“ *)
Es iſt von nicht geringem Intereſſe,
nunmehr zu ſehen, wie Lamarck die all—
gemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen
zu erklären verſucht. Wir müſſen bei die—
ſer Gelegenheit ſeine höchſt wichtige Unter—
ſcheidung der allgemeinen, allen Organismen
ohne Ausnahme zukommenden Lebensfune—
tionen von den beſonderen, nur einem mehr
oder weniger großen Theil der Organismen
zukommenden Functionen hervorheben. Alsall—
gemeine Functionen oder Lebenserſcheinungen
* He natur. des animaux sans
vertebres, Introd. p. 60.
bezeichnet Lamarck 1) die Ernährung,
2) das Wachsthum und 3) die Fort—
pflanzung. Von dieſen drei Functionen
bezwecken die beiden erſten die Erhaltung
des Individuums, die letzte die Erhaltung
der Art. In letzter Linie entſpringen auch
die beiden letzten Functionen aus der erſten,
der Ernährung. „Alle Theile des Or—
ganismus,“ ſagt Lamarck, „find in beſtän—
diger Veränderung und Zerſetzung. Der
Organismus würde deshalb bald zu Grunde
gehen, wenn die zerſetzten und unbrauchbar
gewordenen Theile nicht aus ihm entfernt
und durch andere, brauchbare erſetzt wür—
den. Dies wird aber bewerkſtelligt durch
die Ernährung, welche ihrerſeits durch den
feſtflüſſigen Zuſtand ermöglicht wird. Feſte
Stoffe können in das Innere des Körpers
eingeführt, aufgelöſt und zu Beſtandtheilen
der Leibesmaſſe umgewandelt werden. Die
nicht verwendbaren und die Zerſetzungs—
producte werden ausgeſtoßen. Wenn nun
in Folge der Ernährung mehr Stoffe in
den Körper aufgenommen und aſſimilirt
werden, als ſich aus demſelben ausſcheiden,
ſo nimmt derſelbe nothwendiger Weiſe an
Größe und Maſſe zu; daher das Wachs—
thum durch Intusſusception.“ Vom
Wachsthum zur Fortpflanzung über—
gehend betrachtet Lamarck dieſelbe in ihrer
einfachſten Form, wie fie bei den niederſten,
gallertartigen oder ſchleimigen Organismen
vorkommt. Bei dieſen geſchieht die Fort—
pflanzung durch Zerfall, Theilung des
Körpers in zwei Hälften, von denen jede
fortfährt zu leben. Nun die Erklärung
dieſer einfachſten Art der Fortpflanzung!
Der Körper der einfachſten, gallertartigen
oder ſchleimigen Organismen, ſagt La—
marck, hat eine gewiſſe beſchränkte Zähig—
keit, vermöge deren er eine beſtimmte Größe
nicht überſchreiten kann. Wird nun
Lang, Lamarck und Darwin—
=
415
durch ſtarkes Wachsthum in Folge über-
reichlicher Ernährung dieſe Größe über—
ſchritten, jo zerfällt der Körper in zwei
Theile, d. h. er pflanzt ſich fort. Die
Stelle bei Lamarck lautet: „Die Ver—
mehrung und Fortpflanzung dieſer
Körper (nämlich der einfachſten, durch Ur-
zeugung entſtandenen Organismen) iſt das
Product des Wachsthums über
die Zähigkeitsgrenze hinaus, wo—
durch die Theilung bewirkt wird.“?) —
Es iſt unnöthig, hier auf die weitgehende
Uebereinſtimmung zwiſchen Lamarck und
der neueren Biologie, hauptſächlich Häckel's,
des Näheren aufmerkſam zu machen.
Bei Gelegenheit der Erörterung der
einfachſten Fortpflanzungsweiſe durch Thei—
lung weiſt auch Lamarck darauf hin, daß
ſich nur hier die Vererbung als eine
ganz natürliche, unmittelbare Folge der
Fortpflanzung zeige.
Den Tod der Organismen hält La—
marck für eine nothwendige und natürliche
Folge des Lebens. Von falſchen Vorſtel—
lungen über die Aſſimilation ausgehend,
glaubt er die Urſache deſſelben darin zu
finden, daß durch die Ernährung mehr
feſte als fluide Stoffe in den Körper ein—
geführt werden, während ſich mehr fluide
als feſte Stoffe ausſcheiden. In Folge
deſſen ſollen die weichern und biegſamen
Theile der Organismen mit zunehmendem
Alter immer ſteifer werden und ſchließlich,
vermöge ihrer zu großen Steifigkeit die
Lebensbewegungen unmöglich machen und
ſo den Tod herbeiführen. —
Wie die neuere Naturphiloſophie
Haeckel's und anderer, ſo nahm auch
Lamarck die Entſtehung von Organismen
durch Urzeugung an. Die moniſtiſche Na—
) Hist. natur, des animaux sans ver-
tebres, Introd. p. 148.
—— —
5
414
turphiloſophie behauptet, die Urzeugungs-
hypotheſe ſei eine nothwendige Conſequenz
aus der allgemein anerkannten Kant—
Laplace'ſchen Theorie von der Entſtehung
unſeres Sonnenſyſtems einerſeits und aus
der Descendenztheorie andererſeits, ein noth- |
wendiges Poſtulat der mechaniſch-moniſtiſchen
Auffaſſung der Natur.
gelangt aus allgemeinen Gründen zur An—
nahme der Urzeugungshypotheſe. Da ſeiner
Anſicht nach alle Körper auf natürlichem,
mechaniſchem Wege hervorgebracht ſind, ſo
können auch die Organismen nur auf die—
können wir uns aber naturgemäß nur fo
denken, daß alle exiſtirenden Thiere und
Pflanzen durch Umbildung und Fortpflan⸗
zung aus einfachſten Organismen und dieſe
wieder durch Urzeugung unter ausſchließ—
licher Mitwirkung der allgemeinen phyſika—
liſchen und chemiſchen Kräfte aus anorga—
niſcher Materie entſtanden ſind. Das iſt
der eine Grund, weshalb Lamarck die
Urzeugung annimmt. Ein anderer und
zwar der wichtigſte Grund, der Lamarck
zur Annahme der Urzeugungshypotheſe nö—
thigt, iſt der, daß er ſeiner Descendenz—
theorie zu Folge die Exiſtenz noch heute
lebender niederer Thiere und Pflanzen nicht
anders als durch noch heute erfolgende Ur—
zeugung erklären kann. Lamarck hält
übrigens die Urzeugung als eine erwieſene
Thatſache, indem er es für rein unmöglich
hält, daß ſo zarte und ſchleimige Organis—
men, wie z. B. die Infuſorien, jo dauer-
hafte und reſiſtente Sporen und Keimknos—
pen erzeugen können, daß ſie den Winter
zu überdauern vermögen. Dies iſt indeß
bekanntlich durchaus nicht richtig und kein
Beweis. Es iſt auch bis zur heutigen
Stunde weder der direkte Beweis für,
noch der direkte Beweis gegen die Urzeu—
Auch Lamarck
Lang, Lamarck und Darwin.
gung erbracht. Der letztere kann überhaupt,
wie Haeckel richtig bemerkt, gar nicht mit
Sicherheit geliefert werden. — Wir müſſen
noch bemerken, daß Lamarck ausdrücklich
die Annahme von der ſpontanen Entſtehung
hochorganiſirter Thiere und Pflanzen, wie
ſie bis zu Redi von Inſekten, Würmern
und ſogar von Fiſchen behauptet worden
war, verwirft. Nur die allereinfachſten
Thiere und Pflanzen können ſeiner Anſicht
nach aus anorganiſcher Materie enſtehen
oder entſtanden fein. (Autogonie Haeckel's.)
In ſeiner zoologiſchen Philoſophie und in
ſem Wege hervorgebracht worden ſein. Dies
der Einleitung zur Naturgeſchichte der wir-
belloſen Thiere lehrt er, daß unter den Thieren
die einfachſten Infuſorien und zwar die
Monaden durch Urzeugung entſtehen und
entſtanden ſeien, hält aber auch die ſpontane
Entſtehung (generatio aequivoca) der nie—
derſten Eingeweidewürmer für möglich und
wahrſcheinlich, eine Anſicht, die er indeß ſpä—
ter wieder fallen zu laſſen ſcheint. Wie
ſich Lamarck den Prozeß der Urzeugung
im Einzelnen vorſtellt, hat für uns kein
Intereſſe. Es ſind natürlich bloße Ver—
muthungen.
Die geſammte organiſche Welt wird
ſeit den älteſten Zeiten der Naturforſchung
in zwei Reiche eingetheilt, in das Reich
der Thiere und in das Reich der Pflan—
zen. Zu den Zeiten, wo man nur die
größern Organismen kannte, war es leicht
zu beſtimmen, ob ein organiſches Weſen
ein Thier oder eine Pflanze ſei. Die
Grenzſcheide der beiden Reiche erſchien
ſcharf und durchgreifend. Als abſolute
Unterſcheidungsmerkmale, durch welche ſich
die Thiere von den Pflanzen auszeichnen
ſollten, galten beſonders ſeit Linné die Em—
pfindung und die willkürliche Bewegung.
„Plantae vivunt, non sentiunt, anima-
lia vivunt et sentiunt, sponteque se
Lang, Lamarck und Darwin.
movent“
ſagte Linné. Dieſe Anſicht
blieb bis gegen die Mitte unſeres Jahr—
hunderts die allgemein angenommene und
herrſchende. Erſt in den letzten Decennien
wurde ſie in Folge der fortſchreitenden, ge—
naueren Unterſuchungen über Bau und
Entwickelung der niederſten Organismen
aufgegeben. Je mehr dieſe Unterſuchungen
unſere Kenntniſſe bereicherten, um ſo grö—
ßer wurde die Schwierigkeit,
Organismenreiche an ihrer Wurzel ſcharf
zu trennen und durchgreifende, ſich einerſeits
auf alle Pflanzen, andererſeits auf alle
Thiere erſtreckende Charactere aufzufinden.
Bei ſehr vielen niederſten Orgauismen
blieb man in Zweifel, ob man ſie eher zu
Pflanzen oder zu den Thieren zählen müſſe.
Empfindung und
erkannte man als durchaus unzureichende
Unterſcheidungsmerkmale. Bis zur Stunde
iſt die Frage über die Grenzſcheide der bei—
den organiſchen Reiche trotz mannigfaltiger
Löſungsverſuche von Botanikern und Zoo—
logen eine offene geblieben. Einen großen
Schritt weiter hat unſtreitig Haeckel ge—
than, indem er, dem Prinzip nach offenbar
völlig naturgemäß, ein neutrales Zwiſchen—
reich, das Reich der Protiſten, grün—
dete, deſſen Umgrenzung und Charafterifi-
rung jedoch beim dermaligen Stande der
Biologie neue Schwierigkeiten in der prak—
tiſchen Durchführung darbietet. — Nach
dem Geſagten muß es uns überraſchen,
daß Lamarck ſchon im erſten Decennium
dieſes Jahrhunderts ganz energiſch gegen
die Anſicht proteſtirt, daß ſich die Thiere
von den Pflanzen durch Empfindung und
willkürliche Bewegung abſolut unterſcheiden.
Schon 1802 ſagte er:
Anſicht, daß jedes Thier von jeder Pflanze
durch die Fähigkeit der Empfindung und
der freiwilligen Bewegung unterſchieden ſei,
die beiden
willkürliche Bewegung
415
ſcheint mir nicht richtig zu fein. Die Em-
pfindung kann nur da vorkommen, wo ein
beſonderes Organ für dieſe Fähigkeit vor-
handen iſt, und der Wille kann ſich nur
in Folge eines Verſtandesprozeſſes bilden,
welchen man Urtheil nennt und welcher be—
ſtimmt.““) Nichtsdeſtoweniger glaubt La—
mark, daß zwiſchen den Pflanzen und den
| Thieren ein durchgreifender Unterſchied vor—
handen ſei. Er beſtreitet, daß das Reich
der Pflanzen irgendwo in das Reich der
Thiere übergehe. — Zu ſeiner Zeit war
die Meinung vielfach verbreitet, daß die
Zoophyten eine Zwiſchenſtufe zwiſchen den
Pflanzen und den Thieren bildeten. Lamarck
tritt dieſer Anſicht mit Recht entgegen und
erklärt die Zoophyten für echte Thiere, die
mit den Pflanzen nichts gemein haben als
die Stockbildung. Wie ſehr ſich feine An-
ſichten auch in dieſem Punkte den heutigen
nähern und ſeiner Zeit vorauseilen, zeigt
uns folgender Satz: „Es iſt gewiß, daß,
wenn die Pflanzen an irgend einer Stelle
ihrer Reihe mit den Thieren zuſammen—
hingen und in dieſelben übergehen könnten,
dies nur bei denjenigen möglich wäre, de—
ren Organiſation am einfachſten und unvoll—
kommenſten iſt. In dieſem Falle würde die
Natur einen unmerklichen Uebergang von
den unvollkommenſten Pflanzen zu den un—
vollkommenſten Thieren bewirkt haben. Alle
Naturforſcher haben dies gefühlt und es
ſcheinen in der That an dieſer Stelle, d. h.
an derjenigen, welche beiderſeits die größte
Einfachheit der Organiſation darbietet, die
„Die allgemeine
Pflanzen ſich am meiſten den Thieren zu
nähern. Wenn an dieſer Stelle ein Ueber—
gang vorhanden wäre, ſo müßte man an—
nehmen, daß die Pflanzen und Thiere, au-
ſtatt eine Kette zu bilden, zwei unterſchie—
) Recherches sur Porganisation des
corps vivans, p. 186.
416 Lang, Lamarck und Darwin.
dene und an ihrem Grunde wie die beiden
Striche des Buchſtabens V verbundene
Zweige darſtellten. Ich werde aber zeigen,
daß an der angeführten Stelle kein Zu—
ſammenhang ſtattfindet, daß wirklich jeder
Zweig vom andern am Grunde getrennt
iſt und daß ein poſitives Merkmal, welches
durch die chemiſche Beſchaffenheit der Kör—
per, auf welche die Natur eingewirkt hat,
bedingt wird, einen ausgeſprochenen Unter—
ſchied zwiſchen den zu dieſen beiden Zwei—
gen gehörenden Körpern aufſtellt.““) La-
marck nimmt an, daß durch Urzeugung
ſowohl einfachſte Thiere, als einfachſte
Pflanzen enſtehen und entſtanden ſeien. Aus
den durch Urzeugung entſtandenen Thieren
ſeien durch Fortpflanzung und Umbildung
alle andern Thiere hervorgegangen, aus
den einfachſten, durch Urzeugung entſtande—
nen Pflanzen alle andern Pflanzen. Schon
die allereinfachſten Thiere unterſcheiden ſich
ſeiner Anſicht nach von den allereinfachſten
Pflanzen durch die Reizbarkeit. Er
glaubt, daß dieſer Unterſchied bedingt ſei
durch verſchiedene chemiſche Zuſammenſetzung,
indem bei den Thieren der Stickſtoff, bei
den Pflanzen der Kohlenſtoff vorwiege.
Indeß vermag er natürlich das Vorhanden—
ſein oder Fehlen der Reizbarkeit aus die—
ſer verſchiedenen chemiſchen Zuſammenſetzung
nicht zu erklären. Mag dem nun ſein, wie
ihm wolle: die Reizbarkeit iſt nach La-
marck das untrügliche Kriterium, nach
welchem man die Thiere, auch die einfach—
ſten, ganz ſcharf von den Pflanzen unter—
ſcheiden kann. Wir wiſſen heute, daß die
Reizbarkeit oder Contractilität eine allge—
meine Eigenſchaft des Protoplasmas iſt und
kein durchgreifendes Unterſcheidungsmerkmal
zwiſchen Thieren und Pflanzen abgiebt.
Nichtsdeſtoweniger liegt dem Lamar ck'ſchen
) Introduction. Seite 75 —76.
Kriterium eine tiefere Bedeutung zu Grunde.
Bei den Thieren bleiben nämlich die Zel—
len meiſt nackt, während ſie ſich bei den
Pflanzen gewöhnlich in eine ſtarre Cellu—
loſehülle einſargen und ſo die Reizbarkeit
verlieren. Wenn wir daher das Lamarck'ſche
Kriterium, die Reizbarkeit, mit dem vor
und nach ihm allgemein herrſchenden, der
Empfindung und willkürlichen Bewegung,
vergleichen, ſo können wir nicht umhin, in
erſterem einen großen Fortſchritt zu erken—
nen, der leider, das allgemeine Schickſal
der Lamarck'ſchen Theorien theilend, un—
beachtet blieb. Wir müſſen ſeine Einſicht
in dieſer Beziehung um ſo mehr bewundern,
als zu ſeiner Zeit die Zellentheorie noch
nicht aufgeſtellt war. Lamarck ſelbſt
ſpricht zwar ſehr oft von „Zellgewebe“ und
„Zellen“ und widmet in der zool. Philo-
ſophie dem „Zellgewebe“ ein beſonderes Ca-
pitel, er nennt es ſogar „die Grundlage
aller Organiſation“ und wir könnten ihn
deshalb auch als Mitbegründer der Zellen-
theorie bezeichnen, allein das Wort „Zell—
gewebe“ bedeutet bei ihm etwas ganz an—
deres, als das was wir heute darunter
verſtehen. Wir können mit Berechtigung
nur diejenigen zu den Begründern der
Zellentheorie zählen, welche die Individua—
lität der Zelle erkannt haben und dies hat
Lamarck in keiner Weiſe gethan.
Mit vielem Recht ſagt Lamarck bei
ſeinem Vergleiche der Thiere mit den Pflan—
zen ferner, daß die Thiere eine größere
innere, die Pflanzen eine größere äußere
Complication der Organiſation darbieten.
Beide ſtimmen darin überein, daß ſie „ihre
eigene Körperſubſtanz ſelbſt bilden“, das
heißt, daß fie aſſimiliren können; ſie unter
ſcheiden ſich aber dadurch, daß die Pflan—
zen aus einfachen organiſchen Verbindungen
zuſammengeſetzte, organiſche bilden können,
während die Thiere Schon zuſammengeſetzter,
organiſcher Verbindungen bedürfen, dieſe
aber zu noch complicirteren Verbindungen ver—
arbeiten. Mit Ausnahme der letzten Be—
hauptung ſind auch dieſe Sätze im allge—
meinen vollſtändig richtig und verrathen
wichtige Einblicke in den Stoffwechſel der
Organismen.
Es möge uns hier noch erlaubt ſein,
Lamarck als Förderer der Individuali—
tätslehre an die Seite von Wolff und
Goethe zu ſtellen. Die Bäume, Sträu—
cher oder ausdauernden Pflanzen ſind nach
ihm keine einfachen Individuen. Jeder
Lang, Lamarck und Darwin.
Leben führen“.
Pflanzen giebt, ſo exiſtiren auch zuſammen⸗
417
Sproß iſt ein einfaches Individuum; der
Baum aber iſt zuſammengeſetzt aus vielen
einfachen Individuen, „die mit einander
kommuniciren und ein gemeinſchaftliches
Wie es zuſammengeſetzte
geſetzte Thiere, ſagt Lamarck. Die Zoo—
phyten ſind ſolche zuſammengeſetzte Thiere,
deshalb haben ſie durch die Art ihres
Wachsthums und ihrer Verzweigung zu
der irrthümlichen Anſicht Veranlaſſung ge—
geben, daß fie zwiſchen Thieren und Pflan-
zen mitten inneſtehen. —
Ueber die Zulummenletzung des deutſchen Volkes.
Hiſtoriſch-anthropologiſche Studie
von
C.
i Nice Germanos indigenas eredi-
> derim minimeque aliarum gen-
Jtium adventibus et hospitiis
mixtos, zu Deutſch: die Ger—
manen ſelbſt ſind Ureinwohner
und durchaus nicht durch Ein—
wanderungen und Verkehr mit fremden
Völkern gemiſcht, iſt meine Anſicht. So
ſchreibt Tacitus in der Germania im
zweiten Capitel über die damalige ethno—
logiſche Einheit der germaniſchen Stämme.
Bringen wir die Anſicht des römiſchen
Geſchichtsſchreibers unſern Begriffen näher,
ſo will er offenbar ſagen, die Germanen
ſind 1) ein Urvolk und 2) kein Miſchvolk.
Damit iſt aber nicht von ihm behauptet,
daß nicht ſchon damals im Umfange Deutſch—
lands vor 2000 Jahren, vom Rhein bis zur
Weichſel und von der Donau bis an die
Nordſee, ſich fremde Völkerſchaften befanden,
und nicht allophyle Elemente mitten unter
rein germaniſchen Stimmen geduldet wurden.
So berichtet Tacitus von einigen
Völkchen am Erzgebirge, daß ihre galliſche
und pannoniſche Sprache ein Beweis für ihre
Mehlis.
nichtgermaniſche Abkunft fer, und außerdem
der Umſtand, daß ſie Abgaben dulden.
Auch die Suionen im heutigen Schweden
ſcheinen nach ſeinen Mittheilungen keine
reinen Germanen geweſen zu ſein. Die
Peuciner, Veneden (Wenden) und die Fennen
(Finnen) ſtellt er zwiſchen Germanen und
Sarmaten (Slaven) ausdrücklich als Miſch—
volk hin.) Ihre Beſchreibung ſtimmt mit
der Lebensweiſe der Nomadenhorden überein,
wie ſie noch bis heute den Südoſten Europas
durchziehen.
Darnach kennt und nimmt Tacitus
bereits damals in Deutſchland hinlänglich
nichtgermaniſche Elemente im Weſten am
Rhein und im Oſten am Erzgebirge an, welche
ein Licht werfen auf ſeine Anſicht von der
Zuſammenſetzung der Völker auf deutſchem
Boden.
Aber nicht nur in ethnologiſcher
Hinſicht giebt der ſcharfblickende Römer
Differenzen an, ſondern auch in ſo zialer.
) Vergl. Germania des Tacitus 46. Cap.
55 85 % e de ee
265 — 266.
Im 25. Capitel beſchreibt er den Zuſtand
der Sklaven und Freigelaſſenen.
Die Stellung der erſteren entſpricht der—
jenigen der Hörigen im Mittelalter, die
Rechtsverhältniſſe der zweiten denen der
Pfahlbürger in der „guten alten Zeit“.
Zwar ſpricht der Römer davon, daß
auch Freie in den Zuſtand der Knechtſchaft
herabſanken, daß auch Kriegsgefangene zu
Sklaven gemacht wurden, allein das ſind
Ausnahmen. Die ganze ſoziale Einrichtung
von Sklaven und Freigelaſſenen kann nur
auf einer ethnologiſchen Differenz der Herren
und der Sklaven beruhen. Es iſt dieſer
Zuſtand nicht verſchieden geweſen von dem
in Indien, Griechenland und Italien.
Entweder brachten ſie dieſe Knechte ſchon
bei der Einwanderung mit oder ſie unter—
jochten bereits vorgefundene Stämme. In
den Felſenhöhlen und Seewohnungen,
in den Namen und Mythen, in den Sagen
von Rieſen und Zwergen ſind ja noch
hinlänglich Spuren einer ſolchen vorger—
maniſchen Urbevölkerung vorhanden, und
Finnen und Lappen, Kelten und Basken
mögen in zurückgebliebenen Reſten die
Contingente zu jener unfreien Population
geſtellt haben).
Wir können nach den Nachrichten der
alten Autoren, nach den Schlüſſen daraus,
nach den archäologiſchen Momenten, nach
Namen und Sagen als geſichert folgende
Sätze annehmen:
1. Schon vor den Germanen bewohnten
prähiſtoriſche Stämme Deutſchland.
2. Die Germanen unterjochten oder
vertrieben dieſe bei ihrer Einwanderung.
3. Die unterjochten wurden Sklaven
oder Freigelaſſene; in einigen wenigen
) Vgl. Virchow, die Urbevölkerung
Europa's, und Fraas, die alten Höhlen—
be wohner.
Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes.
Gegenden erhielten ſie ihre Unabhängig—
keit.“)
4. Die Germanen mieden in der älteſten
Zeit die Miſchung mit dieſen allophylen
Elementen.
5. Der Prozentſatz der unfreien Be—
völkerung muß in Altdeutſchland ein ſehr
großer geweſen ſein, da ſie als Hörige
das Ackerland bebauten und im Hauſe der
Herren die Geſchäfte verrichteten.
6. Nur im Oſten fand ſchon zur Zeit
des Tacitus eine Miſchung zwiſchen Ger—
manen und Slaven ſtatt.
Fragen wir nun noch, wo ſich im All—
gemeinen die bunteſte Zuſammenſetzung der
deutſchen Bevölkerung bis an die Grenze
der Völkerwanderung im dritten Jahrhundert
ergeben muß, ſo ſind wir auf die großen
Völker- und Verkehrsſtraßen des Rhein—
und Donauthales angewieſen.
Hier in dieſen reichgeſegneten Gauen
vom Bodenſee bis zum Wienerwald, vom
Jura bis an den Niederrhein ſaß ſchon
vor Römern und Germanen eine verhält—
nißmäßig dichte Urbevölkerung, deren
Aktionselement den Kelten und Rhätiern
(Etruskern) ““) zugeſchrieben werden muß.
Noch heute kann man in dem regſamen,
launigen, luſtigen, wechſelnden Charakter
des Rheinländers das keltiſch-galliſche
Ferment erkennen, wie es deutlich Ca eſar
und Ammianus Marzellinus ſchildern.
Noch heute mag in dem metallfundigen
Steyermärker ein Stück von der alten
Geſchicklichkeit ſtecken, welche die Etrusker
zu den Engländern der Vorzeit machte.
) So will Arnold in den Anwohneren
der Schwalm noch keltiſche Reſte erkennen;
in den Cevennen will man nach einer Mit-
theilung im „Gloubs“ Nichtarier entdeckt haben.
e, Steub identificirt Rhätier und
Etrusker, auch K. O. Müller ſpricht ſich nicht
dagegen aus.
„
419
7
420
Dieſe keltiſch-römiſche Bevölkerung, die den
Main und den Neckar, die Altmühl und
den Regen hinauf reichte, verſchmolz binnen
drei Jahrhunderten mit der römiſchen In—
vaſion zu einer neuen ethnologiſchen Einheit,
der romaniſchen Bevölkerung. Deren Grund—
ſtock erhielt ſich trotz dem Anſturme der
Alemannen, der Quaden und Semnonen
in den ſtädtiſchen Centren im Donau—
thale, in Augsburg und Kempten, in Paſſau
und in Wien. Die Germanen ſelbſt wohnten
darum
nicht in Städten und brauchten
die erfahrenen Stadtbewohner zum Handel
und zum Handwerk, zum Verkehr und zur
Culturarbeit.“)
Noch beſſer ſtand es mit der fränkiſchen |
Juvaſion am Rhein. Die Franken hatten |
von Rom gelernt; fie machten die keltiſch—
römiſchen Volkstheile nicht zu Hörigen und
Knechten, wie die Alemannen, ſondern fie |
nahmen ſie unter ſich auf, eigneten ſich ihre
Sprache an und brachten in Sitte und
Glaube, in Miſchung und Ausſehen die
Verbindung des romaniſchen Elementes mit
dem germaniſchen zu Stande. Hier am
Rhein erhielt ſich in Bildung der Seele
und des Körpers der Romanismus am
kräftigſten.““)
Für die römiſch-fränkiſche Epoche können
wir abermals die Reſultate für die Ver—
änderungen der deutſchen Bevölkerung in
folgenden Grundſätzen zuſammenfaſſen:
1. Am Rhein und an der Donau
ſaßen römiſch⸗keltiſche Bevölkerungselemente.
2. Am Rhein und an der Donau
) Eine Reihe wichtiger Geſichtspunkte
für die Völkermiſchung in den Donaugauen
giebt J. Jung, Römer und Romanen in
den Donauländern, beſ. S. 178 — 282; vergl.
auch Correſpondenzblatt der deutſchen Geſell—
ſchaft für Anthropologie ꝛc. 1876. Nr. 5.
W. Schmidt.
) Vergl. Hausrath, die oberrheiniſche
Bevölkerung in der Geſchichte, und des Verf.,
der Rhein und der Strom der Cultur. 1. Th.
Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes.
finden wir die römiſch-keltiſche Cultur im
Contakt mit den germaniſchen Stämmen.
3. Am Rhein und an der Donau
blieb, vorzugsweiſe in den Städten, ein
Reſt der
romaniſchen Miſchbevölkerung
zurück.
4. Beſonders am Rhein haben ſich
die germaniſchen Elemente mit den ro—
maniſchen zu einer neuen eulturellen und
ethnologiſchen Einheit verbunden: der
fränkiſchen. 5
Erhalten wir ſo für den Weſten und
Süden Deutſchlands für die erſten acht
Jahrhunderte unſerer Zeitrechnung die An—
deutungen für die Zuſammenſetzung der
deutſchen Bevölkerung, ſo ergiebt die Ge—
ſchichte der nächſten acht Jahrhunderte ſolcher
genug für den Oſten Deutſchlands von
der Elblinie bis zur Weichſelgrenze.
Im Oſten Deutſchlands waren nach
Abzug der Gothen und Burgunden, der
Semnonen und Bajuvaren auf der Linie
vom Strande der Oſtſee bis hinauf zu
den Alpenfirſten die ſlaviſchen Stämme
langſam aber ſicher eingerückt. Die Thäler
der Oder und Weichſel, der Mitteldonau,
ja ſelbſt den öſtlichſten Theil des Rhein—
gebietes am Main hatten fie occupirt und
coloniſirt. Ihre ungehinderte Einwanderung
ging vom Ende des 5. bis Anfang des 9.
Jahrhunderts vor ſich. Da begann, ſeit
Karl dem Großen, der Kampf gegen das
Slaventhum im Oſten, der ein volles halbes
Jahrtauſend andauerte. Doch wurde auch
das Markenland öſtlich der Elbe bis zur
Oder von ſlaviſcher Herrſchaft gereinigt,
wurden auch die Polaken und Sorben,
die Lutizen und Obotriten im wildeſten
Kampfe der Raſſenherrſchaft zu Tauſenden
niedergemacht — der Grundſtock des Slaven—
thums öſtlich der Elbe wurde nicht ganz
ausgerottet, ja zwiſchen Oder und Weichſel
öfters Reſte ethnologiſcher Differenzen.
blieb er bis auf den heutigen Tag im
Weſentlichen erhalten.“)
Eine Hauptfolge dieſer Unterdrückung des
Slaventhums, beſonders in Nordoſtdeutſch-
land, war die, daß gefangene Slaven oder
Sklaven in alle Himmelsrichtungen Deutſch—
lands verſetzt wurden. Slaviſche Knechte
waren ſeit dem 9. Jahrhundert ſo häufig
in Deutſchland, daß ihr Name Slave
(Sklave) ſtatt des Wortes Knecht (servus)
gebraucht wurde. Wende oder Winde galt
lange Zeit als Schimpfname, wie nachher
Schelm oder Wälſcher“ ), was den Romanen
bezeichnete. In den großen Handelsſtädten
an den deutſchen Küſten fanden bis Ende
des 12. Jahrhunderts große Sklavenmärkte
ſtatt, welche die knechtarmen Gegenden mit
Sklaven verſorgten. Man kann behaupten,
daß vom 9. bis 14. Jahrhundert eine In—
filtration der niederen Bevölkerung in
Deutſchland mit flaviſchen Elementen vor
ſich ging, und zwar gilt dieſer Satz be—
ſonders für die Küſten an der Nord- und
Oſtſee. Außerdem kamen durch die Ein—
fälle der Avaren, Ungarn, Tartaren, und
ihre Gefangennahme, beſonders nach dem
Südweſten Deutſchlands, viele fremde
turaniſche Elemente, die alle dem Sklaven—
ſtande eingereiht, beſonders in die niederen
Claſſen eine noch buntere Miſchung brachten.
Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts
kann man mit Höl der dieſe Fluktuationen
unter der deutſchen Bevölkerung rechnen,
welche beſonders öſtliche, ſlaviſch-turaniſche
) Vergl. das Nähere bei Hellwald,
Culturgeſchichte. 2. Aufl. II. Bd. S. 7783,
und beſonders auch Hölder, Zuſammenſtel—
lung der in Württemberg vorkommenden
Schädelformen. S. 28 — 30, außerdem
Bacmeifter, Alemanniſche Wanderungen.
S. 150-163.
en Donaulanden. „Schimpfnamen“ ſind
Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes.
*) Schelm beſonders am Rhein, Wälſcher
421
Elemente in die Bevölkerung einführten.
Eine Zuſammenfaſſung der Reſultate ergiebt:
1. Der Oſten Deutſchlands wurde bis
an den Thüringerwald und die Saale, die
Frankenhöhe und die Tauber, bis an Inn
und Etſch mit Slaven bevölkert.
2. Der Kampf des Germanismus
gegen den Slavismus rottete links der
Elbe letzteren aus und verſetzte ſeine übrig
gebliebenen Elemente in die Städte des in—
neren Deutſchlands und an die Nordküſten.
3. Im Nordoſten Deutſchlands, be—
ſonders rechts der Oder, hat eine ſtarke
Miſchung flaviſchen Grundſtammes mit
germaniſcher Einwanderung Platz gegriffen.
4. Die Raſſenbewegung findet ihren
Abſchluß Mitte des 14. Jahrhunderts.
Waren jedoch vor dem Einfluſſe des
Chriſtenthums die ethnologiſchen Elemente
Deutſchlands zugleich ſoziale Trennungs—
glieder, ſo hob der Einfluß des Chriſten—
thums, je länger je mächtiger, dieſe Scheide—
wand allmälig auf. Die Raſſeneinheit der
Germanen beginnt ſeit jener Miſchung in
Phyſiognomie und Schädelbildung zu ſchwin—
den); der ſpecifiſche Typus der Germanen,
der lange Schädel, die hellen Haare und
die blauen Augen beginnen ſich allmälig in
den Gegenden, wo die meiſten fremden Ele—
mente eingedrungen, zu verlieren.
In anderen Gegenden, am Rhein und
an der Donau, waren die Germanen nie
vorherrſchend, und wir finden dort nach den
Unterſuchungen der deutſchen anthropologi—
ſchen Geſellſchaft die dunkelſten Complexionen,
die wenigſten Langſchädel, die meiſten Ab—
weichungen von den klaſſiſchen Eigenſchaften
der Germanen. *)
Vergl. Hölder, a. a. O. S. 30.
) Ueber die klaſſiſchen Eigenſchaften der
Germanen vergl. Virchow, Correſpondenz—
blatt d. deutſchen Geſellſchaft für Anthropologie,
1877. Nr. 1. S. 5.
Bedingen im Nordoſten Deutſchlands
phyſiſche Gründe die beſſere Erhaltung
der helleren Complexionen, ſo iſt es doch
kein Zweifel, daß nach den vorhergehenden
Ausführungen auch hier, und zwar beſonders
in den niederen Ständen, die Bevölkerung
ſtark mit nichtgermaniſchen Elementen ver—
ſetzt iſt. So ziemlich rein haben ſich dar—
nach nur die Gaue des mittleren Deutſch—
lands von den Mündungen der Ems und
Weſer bis zur Elbe, in einem Viereck
reichend bis zu dem heſſiſchen Berglande,
dem weſtlichen Abhange des Thüringer—
waldes, der thüringiſchen Saale und der
lüneburger Haide erhalten. Hier wohnen
im Weſentlichen noch immer die Nach—
kommen der alten Chatten und Sigambrer,
der Cherusker und der Frieſen.
übrigen Europa die Nachkommen der Gothen
und Vandalen, der Burgunden und Longo—
barden in fremder Bevölkerung unter-
gingen, ſo auch haben die Enkel der Franken
und Bajuwaren, der Sueben und der
Markomannen im Weſten und Oſten ſich
weſentlich ihres germaniſchen Typus ent—
äußert: Roma capta ferum vietorem
cepit.
Im Oſten ſehen wir entweder fpäter
eingewanderte deutſche Bevölkerung, ſo be—
ſonders in Brandenburg, oder eine Miſchung
des ſlaviſchen mit dem germaniſchen Typus,
wobei jedoch die helleren Complexionen des
germaniſchen Typus meiſtens erhalten blei—
ben.“)
) Häufig ſind z. B. Blonde unter den
Polen, worauf jüngſt Hellwald den Verf.
aufmerkſam machte.
Näheres über die Vertheilung des hellen
und dunklen Bevölkerungselements in Deutſch—
land vergl. Correſpondenzblatt d. deutſchen
Geſellſchaft f. Anthropologie 1876, Virchow,
S. 91 — 102; ſowie des Verfaſſers Aufjag
Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes.
Wollen wir noch einen Blick auf die
Zukunft der deutſchen Bevölkerung in an-
thropologiſcher Hinſicht werfen, ſo erſcheinen
allerdings die Freizügigkeit, die Eman⸗
cipirtheit unſerer Tage von ſozialen
Hemmungen in den Heirathen, ja auch die
Präponderanz der mittleren und niederen
Klaſſen, die meiſtens der Miſchbevölkerung
entſtammen, als wenig geeignete Faktoren,
|
Wie im
um die Reinheit des germaniſchen Tpyus
wieder herzuſtellen. Im Ganzen iſt der
deutſche Adel der berechtigte Conſervator
des germaniſchen Raſſentypus, und ebenſo hat
ſich das urfreie deutſche Bauernthum
rein erhalten in Weſtphalen und an der
Nordſee; beides Elemente, welche die ſoma—
tiſchen Charaktereigenſchaften des Germanen
am beſten reſtringirt haben. Ob ſich in
dem ſteten Kampfe zwiſchen dem germani-
—
ſchen Typus gegen ſeine Miſchformen und feine.
Gegner, den turaniſchen und ſarmatiſchen
Typus, erſterer erhalten wird, iſt zu be⸗
zweifeln. Sollte aber auch bis auf wenige
Reſte der germaniſche Körperbau zu Gunſten
des romaniſchen Typus im Südweſten und
des ſarmatiſchen im Nordoſten zu Grunde
gehen, ſo iſt es andererſeits keine Frage,
daß es ebenſo anderen Raſſen im Süden
und Weſten erging, ja vor unſeren Augen
greifbar in Nordamerika ergeht. — Wir
können uns entweder mit jenen tröſten oder
in dieſem Kampfe eine Naturnothwendig—
keit erblicken, die über dem Einzelnen hin—
weg eilt, und die es vollbrachte, daß
— ſei's wie's iſt — aus den germa—
niſchen Stämmen binnen anderthalb
Jahrtauſenden entſtand — das deutſche
Volk.
„Ueber deutſche Schädel“, Didaskalia 1876,
Nr. 259.
Zur Entwickelung des Farbenfinnes,
Von
Dr. Hugo Magnus,
err Dr. Ernft Krauſe hat
S. 264 ff. dieſer Zeitſchrift
OR meine Unterſuchungen über die
AN ar Entwickelung des Farbenſinnes
einer ſehr gründlichen und ein—
gehenden Beſprechung unterworfen und iſt
dabei zu Ergebniſſen gelangt, welche mit
den von mir gewonnenen größtentheils in
Widerſpruch ſtehen und einen Mangel des
Farbenunterſcheidungsvermögens bei den Ur—
völkern nicht allein als ſehr fraglich erſchei—
nen laſſen, ſondern denſelben geradezu in
Abrede ſtellen.
ten Herrn Verfaſſer jener Kritik ins Tref—
fen geführten Gegengründen eine gewiſſe
Bedeutung und Wichtigkeit nicht abgeſpro—
chen werden kann, halten wir es im Inter—
eſſe der ſo überaus wichtigen Frage durch—
aus für geboten, dieſe Bedenken von unſerem
Standpunkte aus einer kritiſchen Beleuchtung
zu unterwerfen; ein Unternehmen, dem wir
uns um ſo lieber unterziehen, als Herr
Dr. Krauſe ſelbſt uns in liberalſter
Weiſe dazu aufgefordert hat.
In erſter Linie ſtellt der geehrte Herr
Verfaſſer jener Kritik unſerer Theorie von
der allmäligen, ſtufenweiſen Entwickelung
des Farbenſinnes die Behauptung entgegen,
Da den von dem geſchätz⸗
Docent an der Univerſität Breslau.
daß gemäß dem Geſetz der geſchlechtlichen
Zuchtwahl „die Farbenempfindung eine
allgemeine und urſprüngliche, oder doch
eine ſehr früh entwickelte Fähigkeit des
Geſichtsorgans“ geweſen ſein müſſe und
die Thierwelt ſchon in ſehr frühen Perio—
den der Schöpfung im Beſitz eines gewiſſen
Farbenſinnes geweſen ſei. Auf dieſen Ein-
wand möchte ich zu allererſt entgegnen, daß
der Nachweis einer wenn auch noch jo
frühen Exiſtenz des Farbenſinnes in den
verſchiedenſten Thierklaſſen doch noch immer
keinen zwingenden Gegenbeweis gegen unſere
Anſchauung von der Entwickelung des
Farbenſinnes beim Menſchen in ſich ſchließt.
Jene Thierklaſſen, die nachweislich bereits
im Beſitz eines Farbenſinnes zu einer Zeit
waren, in der ihn der Menſch noch ent—
behrte, ſind nach unſerer Anſchauung auch
nicht von Anfang an im vollen Beſitz der
ihnen eigenthümlichen Farbenempfindung
geweſen, ſondern haben dieſelbe gleichfalls
erſt im Verlauf einer allmäligen Entwicke—
lung erlangt. Ein Umſtand, welchen übri-
gens der Verfaſſer auch ſelbſt einräumt, da
er am Schluſſe ſeiner Beſprechung aus⸗
drücklich bemerkt: „ſo muß doch die Farben—
empfindung irgendwo einmal im Thierreich
56
0
ihren Anfang gehabt haben.“ Giebt man
aber einmal zu, daß der Farbenſinn im
Thierreich eben nicht uranfänglich dageweſen,
ſondern im Laufe einer allmäligen Ent-
wickelung erworben worden ſei, ſo ſehe ich
Farbenpracht der Thier- und Pflanzenwelt
die Thierwelt giltige Geſetzmäßigkeit nicht
auch für das höchſt organiſirte Weſen der-
eigentlich nicht ein, warum man dieſe für
ſelben, den Menſchen, ſolle in Anſpruch
nehmen dürfen. Ja ich muß ſogar behaup—
ten, daß das Zugeſtändniß eines Anfanges
der Farbenempfindung im Thierreich für
mich die zwingende Nothwendigkeit in ſich
ſchließt, daß analog dieſer Anfangsphaſe
des Farbenſinnes im Thierreich nothwendig
auch eine Anfangsphaſe deſſelben
Menſchen anzunehmen ſei. Denn wenn
ſchon der Farbenſinn im Thierreich, wo er
doch ganz entſchieden nicht eine ſolche Höhe
ſeiner Leiſtungsfähigkeit aufzuweiſen hat,
wie beim Menſchen, nicht ein uranfäng⸗
licher geweſen iſt, ſondern auf Grund einer
mehr oder minder raſchen Entwickelung
erworben werden mußte, ſo wird man doch
wohl nicht annehmen dürfen, daß der um
Vieles umfangreichere und leiſtungsfähigere
menſchliche Farbenſinn ohne jede fortſchritt—
liche Entwickelung, lediglich nur auf Grund
uranfänglicher, anerſchaffener Anlage dem
Menſchen von Anfang an eigen geweſen ſei.
Weil nun aber ferner der Farbenſinn beim
Menſchen ein weit vollkommenerer und
ausgiebigerer iſt, wie im Thierreich, ſo
wird natürlich ſeine Entwickelung auch
eine längere Zeitdauer in Anſpruch ge—
nommen haben, wie in den Klaſſen der
Thiere, und daher die Annahme völlig
glaublich erſcheinen, daß dem Menſchen bis
zu den Zeiten Homer's der Farbenſinn
gemangelt habe.
Uebrigens möchte ich an dieſer Stelle
noch darauf aufmerkſam machen, daß ge—
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
rade die Entwickelung des Farbenſinnes
aufs Engſte mit dem Darwin'ſchen Ge—
ſetze der geſchlechtlichen Zuchtwahl in Zu—
ſammenhang ſteht, ja für die fortſchritt—
liche Entwickelung der Schönheit und
zwingend geweſen ſein möchte. Namentlich
dürfte dies ganz ſpeciell der Fall ſein bei
der fortſchrittlichen Entwickelung der Schön-
heit gewiſſer Thierklaſſen. Darwin (die
Abſtammung des Menſchen und die ge—
ſchlechtliche Zuchtwahl. Stuttgart 1871.
Bd. II. S. 208) macht darauf aufmerk⸗
ſam, daß die Pracht des Federkleides ge-
wiſſer Vögel im Laufe der Zeiten ganz
beim
jener Stelle: „Da die Jungen ſo vieler
erheblich zugenommen habe. Er ſagt an
Species nur wenig in der Farbe und
anderen Ornamenten modificirt worden
ſind, ſo ſind wir in den Stand geſetzt,
uns ein Urtheil in Bezug auf das Gefieder
ihrer früheren Urerzeuger zu bilden, und
wir können ſchließen, daß die Schönheit
unſerer jetzt exiſtirenden Species, wenn
wir die ganze Klaſſe betrachten, ſeit der
Zeit, von welcher das unreife Jugend—
gefieder einen indirecten Bericht giebt, be—
deutend zugenommen hat.“ Wäre der
Farbenſinn uranfänglich und unveränder—
lich den Thieren eigenthümlich geweſen, ſo
wäre nach den Geſetzen der geſchlechtlichen
Zuchtwahl eigentlich kaum zu verſtehen,
warum die Färbung des Federkleides der
Vögel, das ſich ja doch ſchließlich nur auf
Grund gewiſſer Eigenthümlichkeiten des
Farbenſinues der betreffenden Thierklaſſe
entwickelt haben konnte, von dem einmal
gewonnenen Typus habe abweichen und
eine fortſchrittliche Entwickelung zeigen ſollen.
Denn nimmt man einen von Anfang an
dem Thiere zugehörenden, nicht entwickelungs⸗
fähigen Farbenſinn an, ſo iſt man damit
ar
/ / / TER, .
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
auch eigentlich gezwungen, an der Unver⸗
änderlichkeit der Färbung des betreffenden
Thieres feſtzuhalten. Denn die Färbung
eines jeden Thieres muß vom Standpunkt
der geſchlechtlichen Zuchtwahl aus doch eben
als den Forderungen und Fähigkeiten des
Farbenſinnes der betreffenden Thierklaſſe
adäquat und durchaus entſprechend ange-
ſehen werden. Eine jede Färbung einer
Thierklaſſe mußte und konnte ſich nur im
allerinnigſten und unmittelbarſten Anſchluß
an die Leiſtungsfähigkeit des Farbenſinnes
des betreffenden Thieres herausbilden. Den
Anforderungen, welche ein Thier gemäß
dieſer Leiſtungsfähigkeit ſeines Farbenſinnes
an die Färbung ſeiner Genoſſen zu machen
gezwungen war, mußte ſich eben die Fär—
bung dieſer Thierklaſſe aufs Innigſte an—
ſchmiegen. Denn nur unter dieſer Voraus-
ſetzung war das Thier in der Lage, bei
der geſchlechtlichen Zuchtwahl als activ be—
theiligt auftreten zu können. Und fo er
klären wir uns denn die fortſchrittliche Ent-
wickelung, welche Darwin in der Farben—
ſchönheit gewiſſer Vögel nachgewieſen hat,
eben dadurch, daß der Farbenſinn derſelben
im Laufe der Zeit von einer uranfänglichen
und primitiven Phaſe der Entwickelung
und Ausbildung zu immer größerer Lei—
ſtungsfähigkeit erſtarkt iſt, und daß in
Folge deſſen dann auch das Federkleid, um
eben den geſteigerten Anſprüchen des höher
organiſirten Farbenſinnes auch ferner ge—
recht werden zu können, zu einer fortſchritt—
lichen Entwickelung ſeiner Farbenpracht
durchaus gezwungen war. Daher ſtehen
wir denn nicht an, zwiſchen der Färbung
einer Thierklaſſe, ſowie der Entwickelung,
welche dieſelbe im Laufe der Zeiten durch—
gemacht hat, und der Leiſtungsfähigkeit des
Farbenſinnes eben derſelben Thierklaſſe ein
inniges Wechſelverhältniß anzunehmen, und
425
zwar ein Wechſelverhältniß der Art, daß
der Farbenſinn das cauſale Princip für
den Zuſtand der Färbung des betreffenden
Thieres abgegeben habe; jedoch natürlich
immer nur in den Grenzen, in welchen
die natürliche Zuchtwahl überhaupt auf die
Färbung von Einfluß iſt.
Wenn ich bei dem ſoeben erörterten
Punkte mich etwas länger aufgehalten habe,
als dies meine Leſer vielleicht vorausgeſetzt,
ſo geſchah dies nur aus dem Grunde, um
den Nachweis zu führen, daß unſere Vor—
ſtellung von der Entwickelung des Farben—
ſinnes durchaus nicht mit den Prämiſſen
und Geſetzen der geſchlechtlichen Zuchtwahl
in Widerſpruch ſtehe, ſondern ſich denſelben
auf das Engſte anſchließe.
Wenden wir uns nun zu dem zweiten
Einwand, welchen der geſchätzte Herr Ver—
faſſer gegen unſere Entwickelungstheorie des
Farbenſinnes geltend macht, daß nämlich
das Alterthum bereits im Beſitz der Blau-
empfindung geweſen ſein müſſe, da der
blaue Lapislazuli eine ſo hervorragende
Rolle zu jener Zeit geſpielt habe: ſo möchte
ich auch dieſem Einwurf nicht die Bedeu⸗
tung einräumen, wie dies Herr Dr. Krauſe
thut. Vor Allem möchte ich hier darauf
aufmerkſam machen, daß man gerade im
Alterthum häufig genug Gegenſtänden der
Schöpfung eine ganz außerordentliche Rolle
und Bedeutung einräumte, ohne ſich dabei
von Form und Farbe derſelben beeinfluſſen
zu laſſen. Man verknüpfte eben mit den
verehrten und heilig geachteten Gegenſtänden
allerlei fromme Vorſtellungen; ich erinnere
hier bloß an die ſo hervorragende Rolle,
welche die Lotosblume im religiöſen, wie
ſocialen Leben der Inder geſpielt hat. Man
benutzte gerade ſie zu den zahlreichſten Ver—
gleichen und Bildern, ſicherlich ohne ſich
dabei immer gerade ihrer Farbe zu erin—
426
nern; denn hätte man dies gethan, jo wäre
eine ganze Reihe von Gleichniſſen, in denen
die Lotosblume die ausſchließliche Rolle
ſpielt, geradezu unmöglich geweſen. Schon
aus dieſem einen Beiſpiel geht hervor, daß
man gerade im Alterthum den Werth und
die Bedeutung eines hochverehrten Gegen—
ſtandes häufig nicht nach ſeinen wirklichen,
materiellen Eigenſchaften ſchätzte, ſondern
lediglich auf Grund aprioriſtiſcher Voraus—
ſetzungen, die meiſt religiöſer Natur waren.
Ein gleiches Verhältniß aber kann ſehr
wohl auch beim Lapislazuli ſtattgefunden
haben, ſo daß er die hohe Achtung, in der
er im Alterthum ſtand, eben nicht ſeiner Fär—
bung zu danken hatte, ſondern irgend wel—
chen Vorurtheilen, die man an ihn knüpfte.
In dieſer Vorausſetzung werde ich durch
einzelne Gleichniſſe noch beſonders beſtärkt.
Wenn man z. B. den Himmel mit einem
Lapislazuli vergleicht — ein Vergleich, auf
welchen Herr Dr. Krauſe ganz beſonders
aufmerkſam macht — ſo möchte ich ſogleich
ſchon aus dieſem einen Vergleich ſchließen,
daß man hierbei keinesfalls an die Farbe
des Lapislazuli gedacht haben könne; denn
gerade die Farbe dieſes Steines iſt ein
tiefdunkles, geſättigtes Blau, wie es der
Himmel unter keinen Verhältniſſen aufzu—
weiſen hat. Wenn man aber trotzdem den
Himmel mit einem Lapislazuli vergleicht,
ſo kann dies eben nur aus einem ähnlichen
Grunde geſchehen ſein, wie der, aus welchem
man die Lotosblume mit dem Auge eines
ſchönen Mädchens verglich u. ſ. w. Es
war hier alſo nicht die Rückſicht auf die
Färbung, welche den Vergleich anregte,
ſondern gewiſſe myſtiſche Vorſtellungen, die
man mit dem betreffenden Gegenſtand ver—
band. Daher möchte ich denn auch nicht
den Schluß ziehen, daß dem Alterthum
die blaue Farbe bekannt geweſen ſein
=
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
müſſe, weil es den Lapislazuli ganz beſon—
ders hochgeachtet habe; um ſo weniger, als
weil gerade das philologiſche, weit ver—
läßlichere Material mit dieſer Annahme in
keiner Weiſe in Einklang zu bringen iſt.
Wenn ſodann als ein dritter Einwand
gegen unſere Anſchauung behauptet wird,
die Alten hätten, wäre ihnen Grünempfin-
dung fremd geweſen, die Vegetation zinn—
oberroth ſehen müſſen, ſo erlaube ich mir
hierauf zu erwidern, daß dieſer Einwand
nur für unſeren jetzigen, hoch entwickelten
Farbenſinn Geltung haben würde. Nur
bei voller Entwickelung des Farbenſinnes,
bei ganz ausgeprägter Reactionsfähigkeit der
Netzhaut gegen die verſchiedenen Spectral—
farben kann von derartigen Contraſterſchein—
ungen die Rede ſein, ſofern dieſelben eben in
unſerer lebhaften und hoch entwickelten Far⸗
benempfindung begründet ſind. So lange
dieſe Reactionsfähigkeit aber noch in den
Kinderſchuhen einhertrat und ſich auf einige
wenige primitive Aeußerungen beſchränkte,
konnte wohl von Contraſtfarben überhaupt
noch nicht die Rede ſein, da eben zur
Perception eine hohe und zarte Farben—
empfindung nöthig war. Uebrigens giebt
uns dieſer Einwurf Veranlaſſung, kurz
darzulegen, wie ſich denn eigentlich dem
Auge des Menſchen bei mangelndem oder
unvollſtändigem Farbenſinn die Schöpfung
gezeigt haben möge. Es imponirte dem
Menſchen zu jener Zeit die Farbe nicht
durch den ſpecifiſchen Reiz, welchen ſie auf
unſer modern gebildeteres Auge ausübt,
ſondern lediglich nur durch ihren Gehalt
an Licht, durch ihre Lichtſtärke. Da nun
aber, wie bekannt, die verſchiedenen
Farben einen ſehr wechſelnden Gehalt an
lebendiger Kraft, reſp. an Lichtſtärke bes
ſitzen, ſo mußte unter der Einwirkung die—
ſes verſchiedenen Lichtreichthums ſich bei
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
dem damaligen Menſchen auch eine gewiſſe
Unterſcheidung für die einzelnen Farben
entwickeln; jedoch erhob ſich dieſe Unter—
ſcheidung noch nicht, wie heut zu Tage,
zu einer ſolchen Höhe, daß man ſich des
verſchiedenen Farbencharakters bewußt ge—
worden wäre, ſondern man differenzirte die
Farben lediglich nach dem Reiz, wel—
chen ihr Gehalt an Licht auf die Netzhaut
ausübte. Daß wir mit dieſer Annahme
nicht etwa auf dem Boden einer willkür—
lichen, phantaſtiſchen Speculation uns be—
wegen, vielmehr dem wirklichen, realen
Verhältniß gerecht werden, zeigen uns die
Schilderungen Homer's. Die Bilder,
welche uns Homer von der Landſchaft
ſowohl, wie von dem Leben und Treiben
ſeiner Zeit entwirft, zeichnen ſich durch einen
auffallenden Mangel an Farben aus;
Roth und Gelb ſind die einzigen, welche
er in ausgedehnterem Maße zu ſeinen
Schilderungen benutzt. Dagegen beſitzt er
eine erſtaunliche Menge von Ausdrücken
zur Charakteriſirung von Lichteffecten; und
dieſe ſind ſo ungemein zart empfunden und
ſo fein nüancirt, daß es uns heut zu Tage
ungemein ſchwer fällt, dieſelben ihm nach—
zuempfinden; weshalb denn auch eine völlig
befriedigende Ueberſetzung derſelben faſt zu
den Unmöglichkeiten gehört und ſchließlich
auch gehören muß, da ſich eben die meiſten
jener homeriſchen Lichteffecte bei fortſchrei—
tender Entwickelung des Farbenſinnes all—
mälig in ſpecifiſche Farbenempfindungen
umgeſetzt haben. Dort, wo die Netzhaut
des homeriſchen Menſchen nur einen mehr
oder minder fein nüancirten Lichteffect be—
merkte, empfindet unſer modernes Auge
bereits einen ſpecifiſchen Farbenreiz. Und
aus dieſem Grunde müſſen uns jene Bil—
der Homer's zum größten Theile fremd
und unverſtändlich bleiben. Uebrigens hat
die Philologie die geringe Farbenkenntniß
Homer's wiederholentlich zum Gegenſtand
der eingehendſten Unterſuchungen gemacht,
ohne aber bis jetzt zu einer befriedigenden
Erklärung derſelben gelangt zu ſein; eine
Thatſache, deren Grund eben wohl nur
darin lag, daß man der Entwickelung des
Farbenſinnes eine zu geringe Aufmerkſam—
keit zu ſchenken pflegte. Auch die Erklä—
rung, welche Herr Dr. Krauſe zu geben
verſucht, indem er an eine noch nicht völlig
ausgebildete Entwickelung der Sprache ap—
pellirt und die mangelhafte Färbung der
homeriſchen Bilder lediglich aus einem
Mangel an geeigneten Ausdrücken für die
einzelnen Farben herleitet, vermag uns
nicht zu befriedigen. Es will uns nicht
recht glaubhaft erſcheinen, daß eine Sprache,
welche wie die des Homer einen ſolchen
Schatz von Bezeichnungen für die verſchie—
denſten, zarteſten Lichteffecte beſeſſen hat,
nicht im Stande geweſen ſein ſollte, ſich
eigne Worte für die wichtigſten Farben zu
bilden, zumal die Empfindung und Diffe—
renzirung zarter Lichteffecte eine viel ſchwie—
rigere Aufgabe iſt, als die Perception einer
ſcharf ausgeſprochenen Farbe, wie z. B.
des Grün oder des Blau. Wenn es aber
der homeriſchen Sprache gelungen iſt, jene
ſchwierig zu unterſcheidenden, zarteſten Licht—
effecte mit zahlreichen, treffenden Schlag—
wörtern zum Ausdruck zu bringen, ſo
ſcheint es uns höchſt unwahrſcheinlich, daß
ſie dies nicht auch bei relativ ſo leicht faß—
baren Eindrücken, wie die der Hauptfarben
ſind, ſollte haben leiſten können. So daß
wir alſo mit Recht aus dem auffallenden
Farbenmangel der homeriſchen Bilder eben
auf einen mangelhaften Farbenſinn jener
Zeitepoche, und nicht auf eine mangelhafte
Entwickelung der Sprache ſchließen dürfen.
428 Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
Vertheidigung
des ablehnenden Standpunktes.
Nicht um für heute das letzte Wort
zu behalten, ſondern weil ich hoffe, mit
dem Nachſtehenden zur Löſung dieſer im⸗
mer wieder auftauchenden Streitfrage bei—
zutragen, will ich ſofort die meiner Kritik
gemachten Einwürfe zu beſeitigen ſuchen.
Zunächſt muß ich eingeſtehen, daß ich durch
meine aphoriſtiſche Darlegung in Heft 3
einige Mißverſtändniße meines geehrten
Herrn Gegners wohl ſelbſt verſchuldet
habe, die alſo zunächſt zu beſeitigen wären.
Wenn ich geſagt habe, „daß die Farben—
empfindung irgendwo einmal im Thierreich
ihren Anfang genommen haben müſſe“, ſo
habe ich dabei nur an die niederſten Thiere
gedacht, bei denen ſich nur erſt Aufänge
eines Sehorganes nachweiſen laſſen, ſo daß
ſich kaum das Vorhandenſein einer höheren
Fähigkeit vermuthen läßt, als etwa die
Unterſcheidung der Dunkelheit von dem
Hellen. Daß dann in irgend einer Weiſe
die Entwickelung des' Farbenſinnes begon—
nen haben muß, iſt klar. Aber ich zweifle
ſehr, daß bei den höheren Thieren dieſe frühe
Errungenſchaft irgendwo wieder in Frage ge—
ſtellt worden fein kann, ſondern glaube viel—
mehr, daß die ſpezifiſche Empfindlichkeit für
Farben den Nachkommen dieſer Thiere ange—
boren iſt, daß die Farbenempfindung einem
geſunden Organe ebenſo unmittelbar ange—
hört, wie die Lichtempfindung, weshalb ſie ja
auch in keiner Weiſe gelehrt oder erlernt
werden kann.
ſatzreferat ſehen werden, hing das erſte
Auftreten der Farbenempfindung vielleicht
mit dem erſten Auftreten des ſogenannten
Sehroths in der Netzhaut zuſammen, wel—
ches bereits bei ſehr tiefſtehenden Thieren
vorkommt.
Wie wir in einem Zu⸗
Doch zunächſt zu unſerer Controverſe.
Hinſichtlich der Schätzung des Lapis lazuli
nimmt Herr Dr. Mag nus an, daß dieſelbe
ganz wohl aus irgend einer dunklen, my⸗
ſtiſchen Urſache hervorgegangen ſein könne,
bei der die Farbe gar nicht in Betracht
kam, und er führt hier die hervorragende
Rolle an, welche die Lotosblume in der
alten Weltanſchauung ſpielt. Nach meiner
Ueberzeugung liegen der Werthſchätzung
einzelner Naturobjekte ſtets beſtimmte und
oft ſehr verführeriſche Ideenverknüpfungen
zu Grunde. Die Lotosblumen zumal bie⸗
ten in ihren geſammten Lebenserſcheinungen,
in dem Auftauchen der Blüthen aus der
Fluth, dem periodiſchen Sichöffnen und
Schließen der Blumen, in der Drehung
des Stengels nach dem Sonnenſtande der-
maßen die Phantaſie anregende Erſcheinun⸗
gen, daß ihre hohe Verehrung und hervor—
ragende Rolle in der Kosmologie der In-
der und Aegypter vollſtändig gerechtfertigt
und einfach natürlich erſcheinen müſſen. Es
iſt mir andererſeits brieflich entgegengehal—
ten worden, daß der Laſurſtein ja wohl
als ſchwarzer Schmuckſtein wie der
ſchwarze Agat, die ſchwarze Koralle, Jet
u. ſ. w. geſchätzt worden fein könne. Eine
ſolche Vermuthung iſt völlig unhaltbar,
denn der Laſurſtein beſitzt nicht den Glanz
der ebengenannten Objecte, er würde ein⸗
fach ſtumpfſchwarz, wie ſchwarzer Schiefer
oder Serpentin erſcheinen, und Niemanden
verführen, ihn heimzutragen, der feine herr⸗
liche blaue Farbe nicht zu würdigen ver⸗
möchte. Ebenſo muß ich den Einwand zu⸗
rückweiſen, daß die Farbe dieſes Steines
mit der Himmelsbläue überhaupt nicht ver⸗
glichen werden könnte. In unſeren Brei⸗
ten vielleicht nicht, aber von dieſen iſt hier
auch nicht die Rede; ſchon der ſchwärzliche
Alpenhimmel nähert ſich in der Tiefe feiner.
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
Färbung dem Laſurſtein, noch mehr das
klare Firmament der ſüdlicheren Länder..
Was meine Bemerkung betrifft, daß den
Alten, wenn ſie blau- und grünblind gewe— |
ſen wären, das Pflanzenlaub zinnoberroth
erſchienen ſein müſſe, bin ich von meinem |
Herrn. Opponenten völlig mißverſtanden
worden und da dies Mißverſtändniß mei⸗
nerſeits durch die Kürze, mit der ich über
dieſen Punkt hinwegging, verſchuldet ſein
mag, ſo will ich darüber mich etwas weiter
auslaſſen. Ich wollte nämlich andeuten,
daß wir uns ja künſtlich jenen Anblick
verſchaffen könnten, in denen Homer und
die Alten die Welt erblickt haben ſollen,
wenn wir durch farbige Gläſer die grünen,
blauen und violetten Strahlen abhalten
in unſer Auge zu dringen, ſo daß wir nur
noch die rothen und gelben Gegenſtände
erblicken. Es wird dies annähernd erreicht,
wenn man ein mit Eiſen gefärbtes dunkelgel—
bes Glas mit einem dunkelblauen Kobalt⸗
glaſe verbindet. Durch dieſe Combination
(Lommel's Erythroſkop) werden die in—
digoblauen Strahlen nicht völlig ausgeſchloſ—
ſen, dagegen aber die gelb- und blaugrünen,
ſowie der größte Theil der blauen. Blickt
man nun durch dieſe Vorrichtung auf einen
ſonnigen Raſen oder Park, ſo erſcheint alles
Laub leuchtend zinnoberroth, nicht in Folge
einer Contraſtwirkung, ſondern weil das
Laub wirklich eine ſolche Menge rother
Strahlen zurückwirft, die wir nur für ge—
wöhnlich nicht erblicken, weil die Menge
der zurückgeworfenen grünen Strahlen noch
viel größer iſt. Wenn aber dieſe grünen
Strahlen, wie vorausgeſetzt wird, auf das
Auge der Alten keinen Eindruck hervor—
gebracht hätten, ſo müſſten die Letzteren wenig—
ſtens die rothen erblickt haben, wie wir ſie
durch das Erythroſkop wahrnehmen. Ge—
gen die Schlußbemerkungen, daß man einer
429
ſo ausgebildeten Sprache wie diejenige
Homer's war, einen Mangel an Farbe—
namen nicht zutrauen könne, ohne die Vor⸗
ausſetzung, daß die betreffenden Farben über-
haupt nicht empfunden worden ſeien, kann
ich nur die Bemerkung wiederholen, daß
die Charakteriſirung der Farben ein ſpätes
Bedürfniß geweſen zu ſein ſcheint, um ſo
mehr, da man ſich im Nothfall mit Ver—
gleichung bekannter Natur-Objekte helfen
konnte. Ich wies ſchon darauf hin, daß ſich
das Bedürfniß, die Uebergangsfarben eben—
falls mit beſonderen, von Naturobjekten
hergenommenen Benennungen zu bezeichnen,
(Orange, Violett, Lila, Penſée) ſogar erſt
ſeit wenigen Jahrhunderten gezeigt hat.
Das Wort Penſce als Farbenbezeichnung
iſt erſt höchſtens ſeit dreißig Jahren in Ge—
brauch; das Wort Lila iſt ſicher nicht älter
als die Einführung des Fliederſtrauches
(Lilac) in unſre Gärten, und ſelbſt die
Worte Violett und Orange ſcheinen als
Farbenamen kaum einige hundert Jahre
zurückzureichen. Ich kann nur meine Ueber⸗
zeugung wiederholen, daß ſich hier dem
Sprachforſcher ein Feld aufthut, welches in
pſychologiſcher Beziehung eine ſehr intereſſante
Ausbeute verſpricht. Die ſprachliche Unter—
ſuchung würde aber, wie mir ſcheint, vor
Allem Rückſicht zu nehmen haben auf die
Geſchichte der Färberei, Malerei und Pig—
ment-Erzengung durch chemiſche Prozefie,
die Schon bei den alten Aſſyrern und Ae—
gyptern ſehr weit gediehen zu ſein ſcheint.
In einen unvereinbaren Conflikt tritt
die Geiger'ſche Theorie mit der Archäo—
logie, namentlich mit dem Studium der
Baureſte Aſſyriens und Aegyptens, auf de—
ren Wänden man farbige Decorationen,
die viel älter als die homeriſchen Gedichte
find, erblickt. Um die ſtreitige Frage mög-
lichſt ihrer Entſcheidung nahe zu bringen,
1 430
habe ich Herrn Profeſſor Düm ichen in
Straßburg erſucht, mir freundlichſt ſagen zu
wollen, ob in den alten ägyptiſchen Malereien,
die weit über zweitauſend Jahre vor unſere
Zeitrechnung zurückreichen, blaue und grüne
Farbentöne allgemein und der Natur,
wie wir ſie erblicken, entſprechend
angewendet worden ſeien. Aus der mir gü—
tigſt gewährten eingehenden Auskunft erlaube
ich mir, das Nachſtehende wörtlich mitzu—
theilen.
„ . . . Die alten Bewohner des Nil-
thals“, ſchreibt Herr Profeſſor Düm ichen,
„gehörten jedenfalls nicht zu denjenigen Völ—
kern des Alterthums, die nicht im Stande
geweſen ſein ſollen, grün und blau nach ihrem
Farbenwerthe zu würdigen. Wenn Geiger,
ehe er ſeine Theorie aufjtellte, ſich die alt—
ägyptiſchen Wandgemälde angeſehen, ſo hätte
er ſich überzeugen können, daß ſchon die
alten Aegypter ſelbſt feinere Nüan-
cirungen ſehr wohl zu unterſcheiden ver—
mochten. Auch hatte die altägyptiſche Sprache
eine ganze Reihe von Worten zur Bezeich—
nung der verſchiedenen Farben, von denen
bis jetzt feſtſtehen: hat, hell, weiß; kem,
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
dunkel, ſchwarz; toscher, roth; maresch, (er-
Farbſtoff fehlt, und die Vertiefung nur
halten im Koptiſchen mersch, morsch), fla-
vus, rubicundus; tehen, ein helles Gelb;
nat, grün (dieſes Wort bedeutet zugleich
„ſproſſen“ und „kräftig ſein“), mafek, ein
anderes Grün, zugleich der Name des Sma—
ragds und eines dem Smaragd ähnlichen
grünen Glasfluſſes; chesteb, blau, eigentlich
die Färbung des Lapislazuli; nub, Gold
und goldfarbig; hat nub, Silber und ſil—
berfarbig. Nicht ſelten werden nun in den
Inſchriften die Farben noch näher ange—
geben; ſo findet ſich namentlich oft bei
ſchwarz und weiß noch der Zuſatz: necht
Nh, stark, ſehr. .
Uebrigens waren auch bei den alten
Aegyptern die Vergleichungen mit andern
Naturobjekten, zur nähern Bezeichnung der
Nüancen, üblich. In einer ungemein inte—
reſſanten Inſchrift, die Herr Profeſſor Diü-
michen veröffentlicht hat, und die von
einer Wand des von ihm als Laborato—
rium des Edfu-Tempels erkannten Gemaches
herrührt, werden unter verſchiedenen In—
gredienzien zwei Baumharze erwähnt, die
zunächſt beide als maresch d. h. röthlich
gelb bezeichnet werden, worauf es zur
nähern Charakteriſirung von dem einen
heißt: „es gleicht ſeine Farbe der Sonne
im Winter“, und von dem andern: „Wenn
es herausgeführt wird aus ſeinem Platze
mit einem Meſſer, dann iſt es wie die
Farbe von dem Flügel des Sifvogels, und
was den Sifvogel betrifft, ſo iſt das der
Läufer (Tefen) deſſen Flügel in der Farbe
dem Golde gleichen.“
„Das Berliner Muſeum“, fährt Herr
Profeſſor Dümichen fort, „beſitzt eine
Palette mit ſieben Vertiefungen für ſieben
Farben, von Schwarz nach Weiß geordnet.
Den Anfang macht Schwarz, dann folgte
wahrscheinlich ein tiefes Dunkelblau (wel—
ches jetzt ſchwer zu erkennen iſt, weil der
ſchwarz ausſieht, möglicherweiſe war es ein
dunkles Braun). Als dritte Farbe folgt
ein deutlich erkennbares Roth, dann hellblau,
hierauf Grün und Gelb und zuletzt Weiß.
Dieſe ſieben Farben wurden nun bei der
Wandmalerei in den verſchiedenſten Nüan—
cirungen gemiſcht. Die Bäume und Sträu-
cher ſind ſtets mit grünen Blättern
dargeſtellt, Stamm und Aeſte gelb und
bräunlich gefärbt. Bei Schiffen der Bauch
und die Maſten ebenfalls gelb oder braun,
die Segel weiß, das Waſſer des Nil—
ſtromes, der Kanäle und Teiche ſtets
blau, doch das Meerwaſſer zuweilen
grünlich gemalt. Weidende Rinder wur—
den roth, braun, weiß und gefleckt abge—
bildet, ungemein natürlich in der Farbe,
ebenſo Antilopen und Gazellen, die Geweihe
ſchwarz und das Gras, an dem ſie freſſen,
ſtets grün. Die Panther und Geparden
erſcheinen gelb mit rothbraunen oder ſchwar—
zen Flecken, der untere Theil des Bauches
meiſt heller gefärbt als der Rücken, der
Löwe gelb, ſeine Mähne etwas dunkler.
Affen zumeiſt grünlich“). Bei Tribut—
Darbringungen ſind die Elephantenzähne
ſtets weiß, Ebenholz ſchwarz, Straußfe—
dern und Straußeneier weiß, Goldringe
gelb oder röthlichgelb, Silberringe weiß,
Kupfer roth gemalt. Die Schneiden der
Meſſer, die Klingen der Schwerter, die
Lanzen und Pfeilſpitzen ſind, je nachdem
Stahl, Eiſen oder Kupfer bezeichnet werden
ſoll, bald blau, bald roth gefärbt, ebenſo
Helm und Harniſch.“
Hinſichtlich der feineren Farbenabſtu—
fungen bemerkt Herr Profeſſor Dümichen:
„Neger, Nubier, Aegypter, aſiatiſche Se—
miten, Libyer und Nordvölker werden ſtets
ſorgfältig in der Hautfarbe vom dunkelſten
Schwarz bis zu unſerer ſogenannten Fleiſch—
farbe unterſchieden. Ganz beſonders lehr—
reich in dieſer Hinſicht ſind einige Dar—
ſtellungen des Ziegelſtreichens, wo man der
Maſſe, welche in die Form gethan wird,
ſehr treu die graublaue Farbe des Nil—
ſchlammes gegeben hat, während die höl—
zernen Ziegelformen wohl unterſchieden die
Farbe des Holzes zeigen.“
Während ſo bei hiſtoriſchen Gemälden
und Naturdarſtellungen faſt immer der
richtige Farbenton getroffen erſcheint, ver—
fuhr man bei der Hieroglyphen-Malerei
50 Es diente alſo wohl der Grünaffe |
(Cercopithecus griseo-viridis) als typiſches
Vorbild.
ganz willkürlich, hier malte man die ver-
ſchiedenen Zeichen im bunteſten Durchein—
ander der Farben, wie eben ihre Zuſam—
menſtellung dem Künſtler geſchmackvoll er—
ſchien. Nach dieſen, wie mir ſcheint, für
unſere Frage höchſt wichtigen Auseinander—
ſetzungen über die Naturtreue polychromer
Gemälde, welche zum Theil Jahrtauſende
vor Entſtehung der homeriſchen Gedichte
gemalt wurden, und ſich im Dunkeln als
unverwerfliche Zeugen bis auf unſere Zeit
erhielten, wird die von Herrn Dr. Mag—
nus noch in einer zweiten Abhandlung *)
vertheidigte Geiger'ſche Theorie wohl auf—
gegeben werden müſſen.
Uebrigens waren die alten Aſſyrer und
Aegypter auch ſchon zur Erzeugung unver—
änderlicher blauer und grüner Schmelz—
und Glaſurfarben vorgeſchritten, was eine
bereits ſehr ausgebildete Farbentechnik vor—
wundern dürfen, auch in ihrer Sprache
die Farbenſkala vollſtändiger anzutreffen,
als in derjenigen Homer's. Es könnte
hiernach vielleicht ſcheinen, als ob die
Geiger'ſche Theorie in einem ſo grellen
Gegenſatze zu den Ergebniſſen der Archäo—
logie ſtehe, daß eine ſo ausführliche Wider—
legung, wie ich ſie im Vorſtehenden und
früher verſucht habe, eigentlich überflüſſig
ſei. Allein ſo berufenen Forſchern gegen—
über, wie Gladſtone, Geiger und
Magnus, erſchien mir eine ſorgfältig ein—
gehende Kritik Pflicht und Alles in Allem
genommen haben wir dabei nichts verloren,
ſondern ſind vielmehr zu einer ſehr anzie—
henden Seite der Sprachentwickelung ge—
führt worden, die wohl einer genaueren
) Sammlung phyſiologiſcher Abhand-
lungen, herausgegeben von W. Preyer.
Erſte Reihe, Neuntes Heft. Jena, Dufft
LOHN,
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 431
ausſetzt, hinſichtlich deren wir uns nicht
432
Prüfung durch einen Fachmann würdig er—
ſcheint.
Es ſei erlaubt, an dieſe kritiſche Aus—
einanderſetzung ein Referat über einige Un—
terſuchungen, welche die Entſcheidung der
Farbenfrage ein gut Stück näher gerückt
haben, anzuknüpfen. Als ich S. 270 auf
die Allgemeinheit des Vorkommens eines
lichtempfindlichen Farbſtoffes in der Netz—
haut von Thieren der verſchiedenſten Kreiſe
hinwies und zugleich bemerkte, daß dasſelbe
vielleicht mit der Farbenempfindung in einem
beſtimmten Zuſammenhange ſtehen möchte,
wußte ich nicht, daß Prof. Fr. Boll be—
reits im Januar und Februar dieſes Jah—
res der Berliner Akademie zwei hierauf
bezügliche Mittheilungen vorgelegt hat, weil
nämlich die betreffenden Berichte erſt Ende
Mai im Drucke erſchienen ſind. Der ge—
nannte Entdecker der Funktion des Seh—
roths hat, um die Beziehung deſſelben zur
Farbenempfindung aufzuklären, die Netzhaut
von Fröſchen in einer größern Verſuchsreihe
einem durch verſchiedenfarbige Gläſer ge—
gangenem Tageslichte ausgeſetzt, und dabei,
obwohl dieſe Quellen keine ganz reinen
Strahlen lieferten, höchſt bedeutſame Un
terſchiede in der Einwirkung nachweiſen
können. Betrachtet man die in der Dun—
kelheit präparirte Retina eines Froſches
unter dem Mikroſkope, ſo zeigt die große
Mehrzahl der Stäbchen die rein rothe
(nicht purpurrothe) Farbe des Sehroths,
und nur vereinzelte Stäbchen der Netzhaut—
Moſaik erſcheinen in ganz blaßgrüner Farbe.
Verfolgt man unter dem Mikroſkop das
Abblaſſen der Retina durch das Licht, ſo
ſieht man, wie die rothen Stäbchen erſt
einen gelbrothen, dann faſt ganz gelben
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes.
farblos werden. Die Netzhaut der unter
rothen und gelben Gläſern dem Lichte aus—
geſetzten Fröſche zeigte keine andere merk—
liche Veränderung, als daß die grünen
Stäbchen etwas lebhafter gefärbt erſchienen,
doch färbte ſie ſich durch ſehr intenſives
rothes Licht rothbraun, durch ſehr intenſiv
gelbes roſa. Unter der Einwirkung eines
mittleren oder intenſiven Lichtes, welches
durch grüne Gläſer gegangen war, nahm
die Netzhaut eine purpurrothe Farbe an,
die bei längerer Einwirkung durch Erblaſ—
ſen in roſa überging; die Zahl der grünen
Elemente erſchien gleichzeitig nicht unerheb—
lich vermehrt. Unter einem blauen Glaſe
endlich erſchien die rothe Grundfarbe der
Netzhaut in violett verändert, welches durch
die darunter gemiſchten grünen Stäbchen
für das bloße Auge einen ſchmutzigen Ton
annimmt. Herr Prof. Boll zieht aus
ſeinen Beobachtungen einige Schlüſſe, die
nicht allein für die Farbentheorie, ſondern
für die geſammte Philoſophie von großer
Tragweite werden können. Da nach dieſen
Verſuchen, nämlich durch die Einwirkung
der verſchiedenen Farben innerhalb der
Stäbchenſchicht der Netzhaut, alſo in einem
inneren Gebiete des Nervenſyſtems, objek—
tive Farbenwandlungen hervorgebracht
werden, welche übereinſtimmen mit den
durch ſie hervorgebrachten Vorſtellungen
(ſofern nämlich die grünen und blauen
Strahlen mehrere Theile der Netzhaut grün
und bläulich färben), ſo erſcheint dadurch
die uralte Frage nach der Realität des In—
halts unſerer ſinnlichen Erkenntniß in eine
neue Phaſe gedrängt, und das „Ding an
ſich“ geräth ins Gedränge, wenn ſogar die
|
Farbenton annehmen, ehe fie vollkommen
Farbe aus dem rein ſubjektiven Bereich der
Sinnesempfindung in das objektive der
Reproduktion im Auge ſelbſt hinüberſpielt.
Im Allgemeinen erſcheinen dieſe Folge—
nr 1
Magnus, Zur Entwickelung des Farbenfinnes.
rungen freilich noch ſehr gewagt. Die That—
ſache aber, daß das Sehroth von den ver—
ſchiedenen Strahlen des Spektrums in ſehr
verſchiedenem Grade zerſetzt wird, iſt in—
zwiſchen durch Prof. Kühne in Heidel—
berg beſtätigt und weiter unterſucht wor
den.) Derſelbe fand, daß die filtrirte klare
Auflöſung des Sehroths in Cholat, welche
eine prächtige, karminrothe Farbe beſitzt,
im Lichte ſchnell chamois und zuletzt farb—
los wird. So lange darin roth zu erken—
nen iſt, abſorbirt ſie alles Licht des Spek—
trums vom gelbgrün bis zum violett,
während ſie anſcheinend noch ein wenig
violett, ſicher alle gelben, orange und ro—
then Strahlen durchläßt. Dementſprechend
ſahen im objektiven Spektrum ausgebreitete
blutfreie Netzhäute vom hellgrün bis zum
violett, grau bis ſchwarz aus; ſie blichen
vom Anfange des Gelbgrüns bis zum rei—
nen Grün in Zeit von fünfzehn Minuten
vollſtändig aus, viel ſchwächer in Blaugrün,
Blau, Indigo und Violett; eben bemerklich in
Gelb und Orange, gar nicht (d. h. in obiger
) Centralblatt für die medieiniſchen Wiſ—
ſenſchaften 1877 N. 11.
433
Expoſitionszeit) in roth und ultraviolett. Nach
einer Stunde weiterer ungeſtörter Belichtung
war die Entfärbung im Grün und Blau—
grün völlig, im Blau faſt vollendet, im
Indigo und Violett weit vorgeſchritten, im
Ende des Violett und im Anfange des
Ultraviolett deutlich, im Gelb und Orange
kaum vermehrt, im Roth gar nicht zu be—
merken. Nur bei ſehr lauger, oft wieder—
holter Expoſition ſchienen auch die rothen
Strahlen auf das Sehroth einzuwirken.
Es erhellt aus dieſen Verſuchen, daß die
rothen Strahlen das Sehroth, faſt ohne
es zu verändern, durchdringen, weshalb ſie
vielleicht auf die nervöſen Theile am ſtärk
ſten reizend wirken; nächſtdem dringen
Orange ſowie Gelb und Violett am beſten
durch, während Grün und Blau, die man
doch ſonſt als beruhigende, dem Auge wohl—
thätige Farben auffaßt, das Sehroth
ſchnell zerſetzen, ſo daß fortwährende Neu—
bildung erforderlich wird. Am merkwür
digſten iſt, daß die ſogenanuten „chemiſchen“
Strahlen des Ultraviolett die allergeringſte
chemiſche Wirkung auf das Sehroth aus—
übten. K.
Kleinere Mittheilungen.
Die Entwickelungszuſtände
der großen Planeten.
mus der geringeren Maſſedichtigkeit
der großen Planeten unſeres Sy—
ein Viertel, beim Saturn wenig
über ein Achtel, beim Uranus ziemlich ge—
nau ein Sechſtel der mittleren Erddichte
beträgt, haben einzelne Naturforſcher ſchon
längſt geſchloſſen, daß dieſe Planeten, ihrer
ſtems, die beim Jupiter weniger als
größeren Maſſe entſprechend, keinenfalls das
Abkühlungsſtadium der Erde erreicht haben
können, abgeſehen davon, daß ſie vielleicht
auch an ſich, weil von der Oberfläche der
Urſonne abgeſchleudert, zum Theil aus
ſpecifiſch leichteren Dämpfen gebildet wor—
den ſein mögen, als die ſpäter entſtandenen,
kleineren Brüder. Für obige Auffaſſung
hat jüngſt der engliſche Aſtronom A. Broc-
tor eine Reihe von Beobachtungs-Thatſachen
ins Feld geführt,) von denen wir die
hauptſächlichſten wiederholen wollen. „Ge—
waltige Wolkenmaſſen,“ ſagt er, „welche
ausreichen würden, den ganzen Ball, auf
welchem wir leben, einzuhüllen, bilden ſich
über weiten Gebieten auf dem Jupiter und
Saturn, wechſeln ſchnell ihre Geſtalt und
verſchwinden im Verlaufe weniger Minu—
ten; trotzdem geuügt es Manchen, anzu—
nehmen, daß dasjenige, was dort ſtattfindet,
der Entſtehung, Bewegung und Zerſtreu—
ung unſerer kleinen Wolkenmaſſen ent—
) Quarterly Journal of Science, April
ſpreche, obwohl die Sonne nur etwa den
ſiebenundzwanzigſten bez. hundertſten Theil
der Wärme, welche ſie uns ſpendet, dem
Jupiter und Saturn gewähren kann. Die
Umriſſe des Jupiter, wie ſie durch die ſicht—
baren Orte eines Mondes in der Nähe ſeiner
Scheibe beſtimmt werden, erweitern und
verengern ſich um Tauſende von Meilen.“
Ja Sir W. und J. Herſchel,
G. Airy, Coolidge, Bond und
andere Aſtronomen beobachteten Formver—
änderungen am Saturn, durch welche er
einen faſt viereckigen Umriß gewann, Aen—
derungen, die auf Umrißſchwankungen von
4— 5000 Meilen Höhe deuten, To daß
die Annahme, dieſe Schwankungen-beträfen
die Kruſte eines feſten Planeten, ad ab-
surdum geführt wird. Es ſcheint als
wahrſcheinlichſte Deutung ferner hervorzu⸗
gehen, daß die Umriſſe, die wir meſſen,
da ſie einem feſten Weltkörper nicht ange—
hören können, diejenigen einer Dampfſphäre
ſind, die einen noch in ſeinem Urfeuer
glühenden Planeten umgiebt, und deren
Theile zuweilen ungeheuren Wallungen
unterliegen. Eine Reihe von Special—
beobachtungeu am Jupiter⸗ ergab für Herrn
A. Proctor, daß die Annahme einer
mehrere Tauſend Meilen tiefen Atmoſphäre,
in welcher wolkengleich ungeheure Dampf—
maſſen auffteigen und ſchwimmen, allein im
Stande ſein würde, die merkwürdigen Ver⸗
änderungen zu erklären, die man auf der
Oberfläche dieſes Planeten beobachtet. Man
hatte die Streifen des Jupiter zwar längſt
als Wolken, und zwar die helleren als
H
obere, die dunkleren als tiefere, im Schatten
liegende Wolkenzüge gedeutet, und ebenſo
hatte- man erkannt, daß ihre Bildung mit
einer ſtarken Rotation der Jupiteratmo—
ſphäre zuſammenhänge, denn man ſah
kleinere Wolkenflecken ſich mit einer um ſo
größeren Geſchwindigkeit in der Richtung
der Planetenumdrehung bewegen, je mehr
ſie der Aequatorlalgrenze nahe kamen, allein
es war verkehrt, wenn man dabei an
Wolken in unſerem Sinne gedacht hat.
Denn da an eine fo „starke, Wind und
Wolken erzeugende Wirkſamkeit der Sonnen—
ſtrahlen, wie ſie auf der Erde ſtattfindet,
auf dem Jupiter nicht gedacht werden kann,
ſo muß man an eine andere Entſtehungs—
weiſe denken. Es ſcheint dem genannten
Naturforſcher nun, daß ſich die Entſtehung
dieſer Streifen und der ſogleich zu erwäh—
nenden ähnlichen Gebilde vollkommen er—
klären läßt, bei Vorausſetzung einer ſehr
tiefen Atmoſphäre, deren Rotationsgeſchwin—
digkeit ſich nach außen ſtark erhöht. Unter
dieſer Vorausſetzung könnten die Streifen
einfach durch vertical aufſteigende Dampf—
Kleinere Mittheilungen.
ſtröme erklärt werden, welche aus mehr
centralen Gegenden mit langſamerer Ro—
tation in mehr peripheriſche mit ſchnellerer
gelangen, reſp. umgekehrt. Dieſe Auffaſſung
wird durch eine genauere Prüfung weſent⸗
lich beſtärkt.
bilden, welche genau das Ausſehen von
Dampfmaſſen darbieten, die von weit unten,
unterhalb der ſichtbaren Wolkenoberfläche
Man ſieht von Zeit zu Zeit
auf den Hauptſtreifen weiße Flecken ſich
des Jupiter hervorgeſtoßen werden, ſich
ihren Weg durch die unteren Wolkenſchichten |
brechen und in den oberen, kühleren Regionen |
zu deutlichen Wolken ſich verdichten und,
wie Brett 1874 beobachtete, zuweilen
deutliche Schatten auf tiefer gelegene Dunft-
ſchichten werfen.
|
435
Die merkwürdigſten Anhaltspunkte lie
fert aber eine Fleckeubildung, die zuerſt im
Jahre 1851 von Dawes deutlich beob—
achtet worden zu ſein ſcheint, und welche
Webb in nachſtehender Weiſe beſchrieben
hat: „Oefters gehen die Streifen in dämm—
rige Gürtel oder Feſtons aus, deren ellip—
tiſche Glieder zuweilen mit großer Regel—
mäßigkeit hinter einander gereiht erſcheinen
und den Anblick einer Kette leuchtender,
eiförmiger Wolken darbieten, welche die
Kugel umgürtet. Dieſe eiförmigen Gebilde,
welche 1869 — 70 in der Aequatorialzone
ſehr ſichtbar waren, wurden auch in an
deren Regionen des Planeten wahrgenom—
men und kommen anſcheinend häufiger vor.“
Dieſe einer Perlſchnur oder dem Eierſtabe
der Architekten vergleichbaren Wolkenzüge,
welche auch Brett wiederholentlich beob—
achtete, erſcheinen offenbar am leichteſten
verſtändlich, wenn man ihre Entſtehung
zurückführt auf eine regelmäßige Folge von
Dampfausbrüchen aus derſelben Gegend der
Tiefe, deren Eruptionswolken in Folge der
beſchleunigten Rotation in den oberen Theilen
dort eine roſenkranzförmige Aneinander— |
reihung erfahren. Viel gekünſtelter würde |
die Annahme einer Bildung jo regelmäßiger
Dampfſtröme von verſchiedenen Punkten der
Jupiteroberfläche ſein. Dieſe Wolkenmaſſen
erleiden mitunter in ſehr kurzer Zeit ſehr
auffallende Veränderungen, die auf eine
äußerſt lebhafte Thätigkeit im Bildungs⸗
herde ſchließen laſſen. Eine genaue Schätz—
ung der halbdurchſichtigen Atmoſphäre, in
welcher dieſe Maſſen aufſteigen, läßt ſich
natürlich nicht ausführen, aber aus den
nachfolgend wörtlich angeführten Betrachtun—
gen leitet Proctor ein Minimum von
6000 Meilen ab. „Ich kann nicht daran
zweifeln,“ ſagt er, „daß Jupiter einen feſten
oder flüſſigen Kern beſitzt, obwohl dieſer
.
436
Kern noch immer ſtark ausgedehnt ſein
mag; und möchte ich glauben, daß bei der
großen Anziehungskraft, die in ihm ruht,
da er nothwendig nahezu die geſammte
Planetenmaſſe enthalten muß, ſeine mittlere
Dichtigkeit nicht kleiner ſein könne als die
der Erde. Die Jupitermaſſe, als eine
Kugel von der mittleren Dichte der Erde
gedacht, würde nur höchſtens ein Viertel
von ſeinem ſcheinbaren Volumen wirklich
beſitzen können.“ Da aber der Jupiter
Atmoſphäre immerhin eine beträchtlicher
Maſſe zugeſchrieben werden muß, ſo ſchätzt
A. Proctor den Durchmeſſer des Kerns
nur auf ¼8 des beobachtbaren Durchmeſſers,
d. h. auf ca. 53000 Meilen. Dies iſt
um 22000 Meilen weniger als der ſchein—
bare Durchmeſſer, woraus eine Tiefe von
ca. 11000 Meilen für die Atmoſphäre
abzuleiten ſein würde, ſo daß jenes Mini—
mum ſchwerlich zu hoch gegriffen erſcheinen
kaun. An die Beobachtungen von Brett
über die Geſchwindigkeit, mit welcher ſich
Kleinere Mittheilungen.
vermuthen läßt, als durch das, was ſie
beweiſt. Wir können nicht zweifeln,
daß tief unterhalb der ſichtbaren Oberfläche
des Geſtirns die feurige Maſſe des wirk—
lichen Planeten liegt. Ausbrüche, gegen
welche die heftigſten vulkaniſchen Erſcheinun—
gen unſerer Erde nur unbedeutend ſind,
finden fortdauernd unter der ſcheinbar
ruhigen Hülle des Rieſenplaneten ſtatt.
Gewaltige Strömungen führen große Maſſen
erhitzten Dampfes in die Höhe, wo ſie in
ſichtbare Wolken verwandelt werden, nach
dem ſie ihren Weg durch die oberen und
kühleren Schichten der Atmoſphäre erzwungen
haben. Umgekehrt ſinken Ströme abgekühlten
Dampfes zur Oberfläche herab, nachdem ſie
zweifellos Wirbelbewegung erlangt und über
weite Gebiete die helleren Wolkenmaſſen fort—
getrieben haben, ſo daß ſie als dunkle Flecke
auf der Scheibe des Planeten erſcheinen.
In Folge der ungleichen Tiefen, denen die
verſchiedenen Wolkenmaſſen angehören und
aus denen die aufſteigenden Ströme erhiß-
die großen, runden Wolken über die Scheibe
bewegen, und von denen ein im Juni 1876
beobachteter Fleck in Bezug auf einen anderen
eine Eigenbewegung von 180 Meilen in
der Stunde zeigte, knüpft Proctor fol-
gende Bemerkungen: „Dieſe Thatſache, daß
die Flecken des Jupiter eine ſchnelle Eigen—
bewegung beſitzen, iſt an ſich von beſon—
derem Intereſſe, uamentlich wenn man er—
wägt, daß die größeren weißen Flecke oft
Wolkenmaſſen von 5— 6000 Meilen Durch—
meſſer repräſentiren. Daß ſolche Maſſen
mit ſo außerordentlicher Geſchwindigkeit
fortgeführt werden, um ihre gegenſeitige
Lage zu einander, zuweilen in einer Stunde
um mehr als 150 Meilen, zu ändern, iſt
eine überwältigende Thatſache. Aber es
ſcheint mir, als ob dieſe Thatſache noch
mehr Intereſſe erregt durch das, was ſie
5
ten Dampfes ſtammen, entſtehen horizontale
Strömungen von ungeheurer Geſchwindig—
keit, mit welcher die Wolkenmaſſen eines
*
Streifens ſchnell vorüber jagen bei den
Wolkenmaſſen eines benachbarten Streifens
oder höherer, reſp. tieferer Wolkenſchichten.
Der Planet Jupiter muß demnach in Wirk—
lichkeit dargeſtellt werden als eine kleine
Sonne, bedeutend geringer an Größe als
die eigentliche, in noch höherem Maße Hin-
ſichtlch der Wärme und am meiſten hin—
ſichtlich der Helligkeit ihr nachſtehend, aber
dennoch mit der Sonne eher vergleichbar als
mit der Erde, nach Größe, Wärme und
Glanz, ſowie nach der gewaltigen Energie der
Proceſſe, die in ſeiner wolkenbeladenen Hülle
thätig ſind.“ Der Verfaſſer fügt ſeiner
überzeugenden Darlegung die Mittheilung
hinzu, daß der Aſtronom Told in Ade—
1333333
laide (Neu-Südwales) kürzlich den vor—
ſtehend ausgeſprochenen Anſichten gemäß
im Stande geweſen iſt, die Bewegungen
der Satelliten hinter den Rand zu ver—
folgen, d. h. durch die Theile der Planeten—
Atmoſphäre hindurch, die man bisher dem
Körper ſelbſt zugerechnet hatte.
Die ſpiralige Anordnung
der ſeitlichen Pflanzentheile um
die Achſen
hatte wegen der häufig hierbei hervortreten—
den mathematiſchen Regelmäßigkeit, wie ſie
namentlich an den Blättern, Nadeln und
Schuppen der Lepidodendren, Sigillarien
und Coniferen, an den Stacheln der Cy—
linder- und Kugel-Cactus-Arten und an
den Blüthengemeinſchaften der Compoſiten
in die Augen fällt, ſeit ihrer Entdeckung
durch Bonnet oftmals die Bewunderung
der Teleologen erregt, weil in der dabei
vorwiegenden Zahlenreihe des goldenen
Schnittes:
1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55,
.
die tiefe Berechnung des Schöpfungsplanes
deutlicher ans Licht zu treten ſchien, als
irgendwo ſonſt. Indeſſen war bereits
Hofmeiſter zu der Ueberzeugung ge—
kommen, daß eine einfache mechaniſche
Urſache dieſe wunderbare Regelmäßigkeit be—
dinge, und ſprach in ſeiner „Allgemeinen Mor—
phologie“ die Grundregel aus, daß neue Blät—
ter oder Seitenachſen an denjenigen Orten
des Vegetationskegels hervorträten, welche am
weiteſten von den Baſen der nächſtbenachbar—
ten, bereits vorhandenen Blätter entfernt ſeien,
weil an dieſen Stellen das Gewebe am
dehnbarſten fer, um Neubildungen hervor—
treten zu laſſen. J. Fankhauſer erkennt
89,
3
7
Kleinere Mittheilungen.
Blätter entſtehen, von wenigen Ausnahmen
437
in einer neueren Arbeit?) die Richtigkeit
obiger Regel im Allgemeinen an, giebt
aber einen etwas verſchiedenen und wie es
ſcheint, treffenderen Grund dafür an. Die
abgeſehen, in acropetaler Folge, d. h. das
oberſte Blatt iſt immer das jüngſte. Sie
entſtehen ferner, wie Hof meiſter bemerkt,
ſtets (in der Projection geſehen) über der
weiteſten Lücke, welche die nächſt vorher—
gehenden Blätter zwiſchen ſich laſſen, und
dieſe Regel ſcheint bei continuirlich fort—
wachſenden Pflanzenachſen ohne Ausnahme
zu gelten. Ueber die wahrſcheinliche Ur—
ſache dieſer Erſcheinung ſagt Fankhau—
ſer: „Machen wir einen Schnitt durch
einen Achſenſcheitel, ſo treffen wir bei den
Phanerogamen auf mit Protoplasma gefüllte
Initialen junger Blätter. Dieſes Proto-
plasma iſt verhältnißmäßig waſſerarm, aber
reich an Fett- und Eiweißſtoffen. Gehen
wir nun von dem Scheitel rückwärts, ſo
treffen wir Zellen, die mehr und mehr einen
weniger lichtbrechenden, waſſerreicheren Inhalt
zeigen, d. h. der Turgor dieſer Zellen hat
durch Waſſeraufnahme zugenommen. Dieſe
vom Scheitel rückwärts nachweisbare Zunahme
erklärt denn auch, warum die Blätter nicht
oben am Scheitel entſtehen, ſondern da, wo
eben der Turgor groß genug geworden iſt,
die gewölbte Oberfläche zu heben und auf
dieſe Weiſe einen neuen Auswuchs zu er—
zeugen. Dort iſt es, wo für den Moment
die oberſte Grenze der Blattbildung gele
gen iſt. Dieſe Zone rückt, wie der Schei—
tel, allmälig vorwärts. Die Stelle der
Bildungszone aber, an welcher die vegeta—
tiven Kräfte bis zur Anlage eines neuen
Blattes oder Seitentriebes ſich ſummiren,
) Mittheilungen der naturforſchenden
Geſellſchaft in Bern. Nr. 906 bis 922.
Bern 1877.
438
wird durch den Ort jüngst vorhergegange—
ner Blattbildungen beſtimmt. Stehen z. B.
zwei Blätter am Stengel einander gegen—
über, wie bei vielen Labiaten, Gentianen
u. ſ. w., ſo werden die nächſten beiden
dieſelben ſenkrecht kreuzen (decuſſirte Blatt—
ſtellung). Bei mehrzähligen Quirlſtellun—
gen begegnet man ähnlichen Decuſſirungen.
Stehen die einwirkenden älteren Blätter
nicht auf gleicher Höhe des Stengels und
ſind ſie in Folge ungleichen Alters ungleich
kräftig, iſt das jüngſte in raſcherer Ent⸗
wickelung begriffen, als das nächſtältere,
ſo ſind die Bedingungen zu einer ſpiraligen
Folge der Blätter gegeben. Iſt die Baſis
des jüngſten Blattes bei der Entſtehung
des nächſten ſehr verbreitert, ſogar ſtengel—
umfaſſend, und ſind die Baſisränder gleich
ſtark, ſo entſteht das nächſte Blatt weiter
oben um 1809 von dem vorigen entfernt:
die abwechſelnde Blattſtellung vieler Mono-
cotylen, namentlich der Gräſer.
nächſte Blatt einen kleineren Abſtand, fo
entſteht eine weitere Lücke zwiſchen dieſen
beiden Blättern nach der andern Seite und
dieſe Bedingungen führen zu der eigentlichen
Spiralſtellung. Das nächſte Blatt wird
weiter oben möglichſt weit von dem jüng—
ſten und zweitjüngſten entfernt entſtehen,
weil dieſe den Turgor in ihrer Nähe be—
ſchränken. Da aber das letztere tiefer ſteht,
ſo wird ſein Einfluß nur ausnahmsweiſe dem
des vorigen ſo nahe kommen, daß das
neue Blatt genau zwiſchen beiden erſcheint,
wie es indeſſen bei Monocotylen doch häu-
figer vorkommt, worauf ſich alsdann drei |
Blätter in den Umkreis theilen. In der
Regel wird aber der Einfluß des vorletz—
ten Blattes geringer ausfallen als der des
letzten, und die Folge wird ſein, daß das
neue Blatt, wenn man ſich alle drei auf
eine Ebene projicirt denkt, dem vorletzten
Hat das
Kleinere Mittheilungen.
näher als dem letzten zu ſtehen kommt.
Dieſer Einfluß wird noch complicirter aus-
fallen, wenn außer den beiden jüngſten noch
weiter rückwärts ſtehende Blätter einen
Einfluß äußern. Die hierdurch gegebenen
Bedingungen können nur erfüllt werden
durch Stellungsverhältniſſe, die der bekann—
ten Reihe:
ar I, 2, 8, 13, 9217 13934 255 .
angehören, in welcher die Nenner die Blätter—
zahl des Cyklus, die Zähler aber die Zahl
der Umgänge angeben, auf welche dieſe
Blätter vertheilt ſind, bis mit einem genau
über einem älteren ſtehenden jüngeren Blatte
ein neuer Cyklus einſetzt. Dazwiſchen liegende
Verhältniſſe, wie z. B. 27, Ya, Cha
u. ſ. w. würden dieſe Bedingungen nicht
erfüllen und kommen daher ſehr ſelten und
nur ganz ausnahmsweiſe vor. Die höheren
Divergenzbrüche entſtehen in ſolchen Fällen,
wenn außer dem letzten und vorletzten
Blatte noch eine ganze Anzahl der ihnen
voraufgegangenen mit einwirken kann, wie
es der Fall iſt bei ſolchen Pflanzenachſen,
an denen der verticale Abſtand der jungen
Blätter ſehr klein it, z. B. bei Semper-
vivum und ähnlichen Dickpflanzen, bei den
in Stacheln umgewandelten Blättern vieler
Cactusarten, bei den ſich dachziegelförmig
deckenden Schuppen der Coniferen-Frucht⸗
ſtände u. ſ. w. Ja es können ſogar
gegenüberſtehende Blätter in ſolchen Fällen
ſich nach dieſen complicirten Regeln kreuzen,
wie ich ſelbſt zuerſt bei der Kardendiſtel
(Dipsacus) nachwies, deren Blüthenſtands⸗
wirtel gewöhnlich die 2, Anordnung
zeigen, obwohl ich auch Ausnahmen antraf,
in welchen an einem Blüthenkopfe acht ver-
ſchiedene Wirtelſpiralen in >; Stellung
ſich durch einander wanden. Auch dieſe
ſelteneren Fälle, deren Mittheilung Prof.
Alexander Braun ſeiner Zeit mit
großem Erſtaunen aufnahm, aber völlig
beſtätigt fand, ſcheinen mir nach dem Hof—
meiſter-Fankhauſer'ſchen Geſetze völ—
lig erklärbar. K.
Die Abſtammung der Compoſiten.
Am Schluſſe einer größern Arbeit über
die Blüthe der Compoſiten *) kommt Herr
Dr. Eugen Warming in Kopenhagen
zu folgenden, für die Abſtammungslehre
intereſſanten Schlüſſen über die Herkunft
dieſer großen Pflanzenfamilie. „Die jüng—
ſten Vorfahren der Compoſiten der Jetzt—
zeit hatten Zwitterblüthen, einen verwach—
ſenblättrigen fünftheiligen Kelch, eine gamo—
petale, fünftheilige, mit dem Kelche alter—
nirende Krone, fünf mit dieſer alternirende
Staubblätter (wie bei den Gamopetalen
im Allgemeinen mit der Krone verwachſen),
und zwei in der Mediane liegende Frucht—
blätter. Es iſt möglich, daß die Frucht—
knotenhöhle zwei Räume und mehrere Eichen
hatte, was aber während der Entwickelung
wegen der Veränderung des Blüthenſtandes
reducirt wurde. Wie der Blühenſtand war,
läßt ſich wohl noch nicht ſagen, er iſt
vielleicht eine Umbella geweſen, denn der
Fall ſcheint weit häufiger zu ſein, daß das
Köpfchen ſich abnorm zur Umbella aus⸗
bildet, als daß das Receptaculum ſtark
verlängert wird, und ſomit eine Aehre ent—
ſteht, was ſogar, wie es ſcheint, noch nie—
mals beobachtet worden iſt. Zwei Vor—
blätter waren wahrſcheinlich entwickelt. Un-
ter der (auf morphologiſchen Geſe—
tzen beruhenden) Weiterentwickelung der
) Botaniſche Abhandlungen aus dem
Gebiete der Morphologie und Phyſiologie,
herausgegeben von Prof. Dr. Joh. Hanſtein,
Band III., Heft II. Bonn 1876. Mit 9 Tafeln
Abbildungen.
Kleinere Mittheilungen.
439
Compoſiten-Vorfahren wurde der Blüthen—
ſtand in ein Köpfchen verändert; die ſteri—
len Hochblätter erhielten dann die ſchützende
Rolle eines Involucrums, indem ſie zu—
ſammengedrängt wurden; die fertilen Bra⸗
cteen wurden entweder beibehalten, oder ent-
wickelten ſich in zwei Richtungen: bei eini⸗
gen verſchwanden ſie (ſpurlos), bei anderen
(den Cynareen) wurden ſie durch ſtarke
Zertheilung in die Spreuborſten umgewan—
delt; die Vorblätter verſchwanden ſpurlos.
Die hermaphroditen Blumen veränderten
ſich theilweiſe geſchlechtlich und eine mit
dieſen Umänderungen in Verbindung ſte—
hende Vertheilung der Geſchlechter des
Köpfchens, ſowie Umformung der Krone
fand oft ſtatt; dieſe hat vielleicht einen
biologiſchen Hintergrund (die Beſtäubung
durch Inſekten)); am wenigſten verändert
wurde die Krone bei den hermaphroditi—
ſchen Tubifloren, am meiſten bei Labiati-
floren, (wozu Radiaten zu rechnen) und
Ligulifloren-Synandrie trat ein, und die
Eichen wurden auf ein (wahrſcheinlich dem
hintern Fruchtblatte gehörendes) beſchränkt,
wozu wohl die gedrängte Stellung am
meiſten Grund gab.
Der Kelch wurde als ſchützendes Or—
gan überflüſſig, indem theils die gedrängte
Stellung der Blüthen, theils das Involu—
crum und die Krone hinreichend Schutz
herbeiführte, er wurde dann weniger ent—
wickelt. Schon Rötker ſchrieb (Flora Meck—
lenb. 2. III.): „Wo die Blumen im unent-
wickelten oder Knospenzuſtande vollſtändig
eingeſchloſſen werden, iſt es in der
Regel der Kelch, alſo die äußerſte Blu—
mendecke, der ſich weniger entwickelt, bis—
weilen ſo wenig, daß er zu fehlen ſcheint.“
6 „
| Die nächſte Folge hiervon war wieder die,
daß der Kelch in ſeiner Anlage verſpätet
wurde, und daraus folgte ferner, daß
58
440
die Kelchblätter nicht die urſprünglichen
Stellungsverhältniſſe behaupten konnten, ſie
fanden ſich bei ihrer Geburt von den Nach-
barblüthen in ihrer freien Entwickelung
gehindert, und mußten ſich nach den Stel—
lungsverhältniſſen derſelben richten. Daher
alſo die vielen Unregelmäßigkeiten in ihrer
Stellung. Ich habe gezeigt, daß die fünf-
eckige Wulſt, die bei allen unter der Krone
entſteht, dem Kelche entſpricht, — gleich—
giltig, ob die Ecken (Blattſpitzen) ſich frü-
her entwickelten, als das verbindende Ge—
webe, oder erſt auf der Ringwulſt ent-
ſtanden. Bei vielen Gattungen iſt der Kelch
auf einen ſolchen rudimentären Zuſtand re—
duzirt (Lapsana, Bellis u. a.) und bei
einigen, wie Ambrosia und Xanthium
kommt er wahrſcheinlich gar nicht zur Ent⸗
wickelung.
Bei anderen Gattungen fand zwar
eine Reduktion ftatt, aber gleichzeitig ent-
wickelten Haare ſich auf dem Kelche, die
bei der Samenverbreitung als Flugappa⸗
rate eine Rolle zu ſpielen kamen (Senecio,
Lactuca- Typus) Aus allen
dieſen Verhältniſſen geht hervor: alle dieſe
Pflanzen und die ſich ihnen anſchließenden
haben normal einen rudimentären fünfblätt⸗
rigen oder gamophyllen Kelch, der abnorm
zur Ausbildung kommen kann; die Pappus⸗
körper ſind dem Kelche aufgeſetzte Haare.
Sollten fünf von dieſen genau die Spitzen
der Kelchblätter einnehmen, ſo werden ſie
als terminale Haare zu betrachten ſein.
Auf eine etwas andere Weiſe ging die
Kelchbildung vor ſich bei den Pflanzen des
Cirsium-Tragopogon-Typus
doch iſt der Unterſchied nicht groß; in dem
einen Falle ſind es Haare der Kelchblätter,
in dem anderen ſtärkere Lacinien und
Entergenzen, die zur Ausbildung gekommen
ſind, und wo iſt die Grenze zwiſchen allen
„454 „„ „
Kleinere Mittheilungen.
dieſen Bildungen zu ziehen? (Man erinnere
ſich der getheilten kamm- oder fiederförmig
zerſchlitzten Laub- und Involukralblätter
vieler Cynareen). In allen Fällen wurde
der gamophylle Theil des Kelches ſowohl,
als die eigentlichen Blattſpreiten in ihrer
Ausbildung ſehr ſtark reducirt.
Es muß alſo in jedem gegebenen Fall
entſchieden werden, wie der Compoſitenkelch
aufzufaſſen iſt. Häufig findet
ſich aber auch ein annähernd normaler
Kelch mit fünf ausgebildeten Blattzipfeln,
die in der Peripherie ſtark trichomatiſch
ausgebildet ſein können, z. B. bei Cata-
nanche, Gaillardia, Xeranthemum, Sphe-
nogyne u. ſ. w., oder die Kelchblätter find
in ihrer Zahl reducirt, reſp. nur einzeln
deutlich entwickelt (Tagetes, Bidens, Co-
reopsis, Zinnia u. ſ. w.).
— —— 000°.
Praktiſche Verſuche
über das Variiren der Pflanzen
ſind von Prof. Dr. H. Hoffmann in
Gießen ſeit dem Jahre 1855 angeſtellt
worden, und hat derſelbe kürzlich die Er—
gebniſſe feiner bis 1876 erhaltenen Züch⸗
tungsverſuche nebſt den daraus zu ziehen⸗
den Schlüſſen im 16. Bande der „Berichte
der Oberheſſiſchen Geſellſchaft für Natur-
und Heilkunde veröffentlicht. „Man kann,
ſagt der Verfaſſer in der Einleitung, auf
Grund von Analogieſchlüſſen die Arten als
dermalige Endglieder genetiſcher Reihen be—
trachten, deren Verbindungsfäden abgeriſſen,
deren Stammbaum unbekannt oder unter-
brochen iſt, während der Begriff der Va—
rietät darin beruht, daß ihr Urſprung
durch Zwiſchenglieder nachgewieſen werden
kann. Die beiden hauptſächlichſten Proben
für den Varietätscharakter beruhen auf einer
Züchtung der muthmaßlichen Varietät aus
Kleinere Mittheilungen. 441
der betreffenden Stammart (Eduction),
oder ihre Zurückführung auf dieſelbe (Re—
duction). Durch das hartnäckige Miß—
lingen dieſer Verſuche wird der Artcharakter,
d. i. die derzeitige Fixation einer Form für
unſere Verhältniſſe bewieſen. Ueber-
gänge, die ohne genetiſche Verknüpfung
beobachtet werden, haben wenig Beweis
kraft. Es laſſen ſich z. B. alle denkbaren
Mittelſtufen zwiſchen Lactuea scariola und
sativa auffinden, ſo daß man zu dem
Glauben gedrängt wird, beide Formen
müßten zu derſelben Species gehören, aber
der Eductions- over Reductionsverſuch iſt
bisher nicht gelungen. Noch weniger be—
weiſt die Möglichkeit der Baſtardbil⸗
dung. Mimulus cardinalis und M. lu-
teus lieferten durch eine ganze Reihe von
Generationen unter ſich fruchtbare Baſtarde,
und doch ſind dieſe Species ſo echt, wie
nur irgend welche in der Welt. Von grö—
ßerem Intereſſe für die Artfrage iſt die
geographiſche Verbreitung, indem
ſonſt nahe Verwandte und vermiſcht vor—
kommende Arten ihre Nichtidentität dadurch
andeuten, daß ſtellenweiſe die eine oder die
andere aus dem gemeinſamen Gebiete iſolirt
heraustritt und in anderes Gebiet über—
greift, damit ein anderes Entſtehungs⸗
Centrum, oder andere klimatiſche Bedürf—
niſſe, oder eine andere Anpaſſungs-⸗Fähigkeit
andeutend. Lactuca scariola und virosa,
Plantago alpina und maritima verrathen
beiſpielsweiſe ihre nahe Beziehung (ſpeci⸗
ſiſche Identität) dadurch, daß ihre Gebiete
fi) vollſtändig decken, das kleinere von dem
größeren vollſtändig umfaßt wird. Aus
ſeinen langjährigen Beobachtungen an 115
verſchiedenen Pflanzenarten leitet Prof.
Hoffmann folgende allgemeine Schlüſſe
ab: Die Variation iſt quantitativ
6. B. Zwerg- und Rieſenformen) oder
partiell (Vergrößerung und Farben-
veränderung der Blüthen und Blätter) oder
qualitativ, morphologiſch (3. B. radiate
oder diskoide Bidens, überhaupt Dimor⸗
phie, zu welcher die Eingeſchlechtigkeit ge—
hört). Auf die quantitative Variation
haben Klima und Pflege, wie die cultivir⸗
ten Pflanzen beweiſen, den entſchiedenſten
Einfluß, auf die partielle nicht. Es
gelingt z. B. nicht, die aus der Waſſer⸗
form (mit Schwimmblättern) entſtandene
Luftblätterform von Polygonum amphi-
bium nach Willkür wieder in die Waſſerform
zurückzuführen. Noch mehr innerlich bedingt
iſt die Variation in qualitativer Hin⸗
ſicht. Allgemein kräftige Beſchaffenheit eines
Individuums, in der Regel von guter
Ernährung abhängig, begünſtigt die Varia⸗
bilität, doch kömmt dieſelbe mitunter auch
in gleicher Richtung bei Kümmerlingen vor
und kann bei Rieſen fehlen. Die Richtung
der Variation iſt nicht willkürlich oder all⸗
ſeitig, ſie findet nur in beſtimmten Linien
ſtatt, die der Farben nur in einem beſtim⸗
ten Umfange. Der Schritt ift bald lang-
ſam, bald ſchnell, mitunter ſogar plötzlich.
Chemiſche Einflüſſe zeigten ſich meiſt völlig
wirkungslos. Insbeſondere machte kochſalz—
reicher Boden die Blätter nicht ſucculenter.
Die vermuthete Farbenänderung einiger
Blüthen durch mehr oder weniger Kalk
mißlang. Zink blieb ohne Einfluß. Nur
die künſtliche Blaufärbung der Hortenſie
durch Anwendung gewiſſer (chemiſch unver⸗
ſtändlicher) Zuſätze zum Boden bildet bis
zu einem gewiſſen Grade eine Ausnahme.
Die Schwerkraft ſchien keine Formverände—
rung zu verurſachen, es iſt z. B. die Pe-
lorienbildung nicht von ihr abhängig. Da-
gegen iſt die natürliche morphologiſche
Stellung je nach der Achſenordnung von
bedeutendem Einfluß in Bezug auf Form⸗
442 Kleinere Mittheilungen.
und Farb-Umbildung, wie ſchon aus der
abweichenden Form und Farbe der Central—
blüthe mancher Pflanzen (wie Daueus) ge—
ſchloſſen werden konnte. Enge Inzucht,
reſp. Selbſtbefruchtung befördert nicht die
Variabilität. Hinſichtlich der allgemeinen
Schädlichkeit der Inzucht (mit Ausnahme
beſtimmter Arten) erhielt Prof. Hoff—
mann ganz ähnliche Reſultate wie Dar—
win.
Neue Beobachtungen über ſchützende
Ausrüſtung bei Inſekten.
In der Londoner entomologiſchen Ge—
ſellſchaft (Sitzung vom 6. Juni c.) las
Herr J. W. Slater eine Arbeit, in wel—
cher er zu erweiſen ſucht, daß lebhaft ge—
färbte Raupen in der Regel auf Giftpflan—
zen leben, was, unter der unausweichlichen
Annahme, daß deren Giftſtoffe in ihren Körper
übergehen, dem Vergleiche Darwin's mit
den bunten, warnenden Schildern der Gift—
gefäße in den Apotheken einen faſt wört—
lichen Sinn verleiht. Bekanntlich hat ſich
Herr J. Jenner Meir durch zahlreiche
Verſuche überzeugt, daß alle Raupen mit
glatter Haut und einer den Blättern oder
der Baumrinde, worauf ſie leben, ähnlichen
Färbung, von gefangenen Vögeln, denen
er ſie vorwarf, mit Gier gefreſſen wurden,
während auffallend gefärbte, oder mit Haa-
ren und Stacheln verſehene Raupen ver—
ſchmäht wurden. Die Slater'ſche Arbeit
vertieft dieſen Zuſammenhang, indem ſie
zeigt, daß es ſich hierbei nicht etwa um
Idioſynkraſien handelt, ſondern daß dieſe
lebhaften Farben oft wirkliche Giftſignatu—
ren darſtellen. Bei der an dieſelbe geknüpf—
ten Diskuſſion zeigte Herr Meldola
einige Schmetterlinge vor, welche die ein—
zigen Ueberbleibſel einer größeren, durch
Milben zerſtörten Sammlung indischer
Schmetterlinge ausmachten. Dieſe baux
restes gehörten durchweg Gattungen an,
die auch im Leben gemieden und verſchont
werden, ſodaß ſie ſelbſt ihre Nachahmer zu
ſchützen vermögen, nämlich den Gattungen
Euploea, Danais und Papilio. Die Ei-
genſchaft, welche ſie im Leben vor Angriffen
ſicherte, dauerte alſo nach dem Tode fort,
wie man etwas ähnliches den giftfeſten Ar—
ſenikeſſern der Alpen nachſagt. Die auf
dieſe Verhältniſſe ſich gründende Mimicry
hat eine entfernte Aehnlichkeit mit dem
Feudalweſen, in welchem die Hörigen da—
durch, daß ſie ſich in die Farbe ihres
Lehnsherrn kleideten, Schutz fanden, wenn
der Letztere nämlich durch „Giftigkeit“ ſich
auszeichnete. Einen der merkwürdigſten
Fälle verwandter Art, bei dem ſich wirk—
lich ein Inſekt ſeiner Freiheit beraubt und
direkt in den Schutz eines gepanzerten Feu—
dalgrafen begibt, beobachtete Dr. Fritz
Müller im vergangenen Herbſte in Bra—
ſilien. „Ich bin kürzlich“, ſchrieb er am
22. Oktober 1876 in einem Briefe an
feinen Bruder Dr. Hermann Müller,
„mit einem intereſſanten Fall von Geſell—
ſchaftsleben zweier Raupen bekannt gewor—
den, von denen ich Dir eine durch meinen
Freund Scheidemantel aufgenommene Pho—
tographie beifüge. Die größere rothköpfige
Raupe iſt durch lange verzweigte Stachel—
haare oder Dornen geſchützt und lebt auf
Maulbeeren und anderen Bäumen. Gleich
anderen durch Geruch, Stachelhaare oder
andere Eigenſchaften geſchützten Raupen ſitzt
ſie auf der oberen Seite der Blätter und
iſt hell gefärbt, der Kopf roth, die Haare
weiß. Quer über ihren Rücken, zwiſchen
den Dornen, ſitzt eine kleine ſchwärzliche
Raupe, die ſich durch die Dornen ihres
großen Gefährten ſelbſt ſchützt. Ich nahm
die kleine Raupe von der großen herunter,
aber ſie, nahm bald wieder den nämlichen
Platz ein. Um eine Photographie davon
zu nehmen, wurde die größere Raupe mit
Aether anäſtheſirt, erholte ſich nachher eini—
germaßen, ſtarb aber zwei Tage ſpäter.
Die kleinere Raupe verließ nunmehr ihren
Platz und nahm ihre Zuflucht zu einer
anderen Raupe in derſelben Büchſe, auf
dieſer ſetzte ſie ſich etwas weiter gegen die
Baſis des Abdomen. Bei dem früheren
Gaſtgeber ſah die Stelle, wo die kleine
Raupe geſeſſen hatte, blaß aus, als wenn
dieſelbe dort abgeſcheuert wäre. Die kleine
Raupe frißt von oben herab kleine Löcher
in das Blatt, auf welchem die größere
ruht. So viel ich weiß, iſt kein ähnlicher
Fall bisher beobachtet worden.“ Einen
Holzſchnitt nach der erwähnten Photogra—
phie brachte die engliſche Zeitſchrift Nature.
(Nr. 377. 1877.)
Ein neuer luftathmender Fiſch.
In den Berichten der Pariſer Akademie
der Wiſſenſchaften (Bd. 84, S. 309) be—
ſchreibt M. Jobert die von derjenigen
der Labyrinthfiſche ſehrabweichende Athmungs—
art eines kleinen Luftfiſches (Callichthys
asper), welcher in Flüſſen und Süßwaſſer—
lagunen bei Rio de Janeiro lebt und von
welchem es bekannt war, daß er ſtunden—
lang außerhalb des Waſſers leben kann.
Im Aquarium ſah er dieſen Fiſch in regel—
mäßigen Intervallen an die Oberfläche
kommen, mit Geräuſch eine Menge Luft
einathmen und gleichzeitig eine ziemlich ent—
ſprechende Menge aus dem After entleeren.
Es zeigte ſich bei weiterer Unterſuchung,
daß bei dieſem Fiſche in ähnlicher Weiſe,
wie bei unſerem bekannten Schlammpeitzger,
ein Theil des Darmkanals zu einem
Kleinere Mittheilungen.
Athmungsorgane umgewandelt iſt, nur daß
daſſelbe in viel ausgiebigerer Weiſe fungirt.
Die in den Eingeweiden geſammelte Luft
enthielt neben überwiegendem Stickſtoffgas
1,5 — 3,8 % Kohlenſäure, ganz wie
die Athemluft höherer Thiere. Der Fiſch
bleibt in völlig ausgekochtem Waſſer, ſelbſt
wenn daſſelbe mit Oel bedeckt wird, am
Leben, da er regelmäßig an die Oberfläche
kommt, um zu athmen. In angefeuchteten
Gazen unter einer Glocke befand ſich der
Fiſch noch nach 24 Stunden ganz wohl,
auf trockenen Gazen und in trockener Luft
verendete er nach kaum zwei Stunden.
Dieſe Beobachtungen können um ſo weniger
überraſchen, als ja auch die Lunge höherer
Thiere aus einer Ausſtülpung des Nah—
rungskanals hervorgegangen iſt.
Die Trepanation
in vorhiſtoriſchen Zeiten.
Auf dem letzten internationalen Con—
greſſe für vorhiſtoriſche Anthropologie,
welcher im September 1876 in Peſt ab-
gehalten wurde, machte Prof. Broca aus
Paris iutereſſante Mittheilungen über die
nicht ſeltene Vornahme von Schädeldurch—
bohrungen in der Vorzeit. Schon im
Jahre 1873 hatte Dr. Prunières auf
dem Lyoner Congreſſe ein knöchernes Rund
ſcheibchen vorgelegt, welches in einen menſch—
lichen Schädel geſchnitten war und welches
er für ein Amulet hielt, dem man geheime
Kräfte zugetraut haben mochte. Broca
entdeckte ſpäter in der Sammlung des
Herrn von Baye ganz analoge Stücke,
die außerdem mit einem Loche durchbohrt
waren. Sie ſchienen am Halſe getragen
worden zu fein, wie dies noch viele Jahr—
hunderte ſpäter bei den alten Galliern
üblich war. In Folge dieſer Entdeckung
444
Broca's machte Prunieres die Anthro-
pologen auf durchlöcherte Schädel aufmerk—
ſam, an denen man ſehr deutliche Spuren
von Vernarbung wahrnimmt. Es war
hiernach kein Zweifel möglich: Die vor—
hiſtoriſchen Menſchen haben wirklich Tre—
panationen ausgeführt, und zwar ſowohl
bei lebenden Perſonen, wie bei Verſtorbenen.
Was das Motiv dieſer chirurgiſchen Ope—
ration betraf, jo meint Broca, daß es
ſich vielleicht um Beſeſſene gehandelt
haben möge, denen man ein Loch in den
Schädel gebohrt habe, damit der Dämon,
der ſie quälte, frei hinaus könne. Aber
die Beſeſſenen galten auch für Heilige und
deshalb ſammelte man vielleicht nach ihrem
Tode gewiſſe Theile ihres Schädels, um
Amulette daraus zu machen. In Bezug
auf dieſen Umſtand erinnert Broca dar-
an, daß man in drei verſchiedenen Fällen
innerhalb trepanirter Menſchenſchädel Amu—
lette angetroffen hat, was doch nicht einem
Zufalle beigemeſſen werden kann. Es iſt
eher wahrſcheinlich, daß dieſen der Trepa—
nation unterworfenen Individuen nach ihrem
Tode regelmäßig ein von einem andern
Trepanirten herſtammendes Amulet als
Beiſtand und heiliges Viaticum für ihre
Reiſe in die andere Welt mitgegeben wurde.
Wenn die Meinung Broca's gegründet
iſt, würde der Glaube an ein zukünftiges
Leben in dieſen Gegenſtänden ſeine älteſte,
übrigens nicht über die neolithiſche Epoche
zurückreichende Spur hinterlaſſen haben.
Man hat in Wirklichkeit keine durchbohrten
Schädel an den älteſten Fundſtätten ange
troffen. Die bis jetzt bekannten Schädel
dieſer Art beweiſen durch ihre Verbreitung,
daß die Trepanation in dem ganzen, das
heutige Frankreich bildenden Lande ge—
übt worden iſt. Sie find geſammelt wor-
den in den Departements Seine, Marne,
Grabe gefunden worden.
Kleinere Mittheilungen.
Lozere durch Prunières, in der Cha-
rente durch Gaſſins, in der Champagne
von de Baye, in der Grotte von Sordes
durch Lartet. Am Schluſſe dieſer wich⸗
tigen Mittheilung zur Urgeſchichte der Mte-
dicin und Chirurgie wies Broca auf
ähnliche, in Nordamerika gefundene, trepa-
nirte Indianerſchädel hin, die aber einem
andern Gebrauche ihren Urſprung verdan-
ken dürften, da bei ihnen die Durchlöcher—
ung ſtets auf dem Scheitel belegen iſt und
niemals Spuren von Vernarbung zeigt.
Es erhob ſich über dieſen Gegenſtand eine
lebhafte Discuſſion, bei welcher unter an—
deren Virchow erklärte, daß er bisher
die vorhiſtoriſche Trepanation für ſehr
zweifelhaft gehalten habe, durch Broc a's
Mittheilungen aber völlig überzeugt worden
ſei. Pigorini machte auf den Gebrauch
ähnlicher Methoden bei den Andamanen
aufmerkſam. Schaaff hauſen bemerkte,
daß er auf der Verſammlung der deutſchen
Anthropologen zu Jena ein von einem
Kinderſchädel ſtammendes Knochenſcheibchen
geſehen habe, welches durchlöchert war. Die
Mutter mag es wie eine Reliquie bewahrt
haben. Daſſelbe war inmitten verſchiedener
Bronze-Gegenſtände in einem thüringiſchen
Die Durchbohr⸗
ung des Scheitels an den Schädeln der
alten Rothhäute kehrt auch an anderen
Orten wieder, und das Muſeum der
Kopenhagener Bibliothek bewahrt einen der—
artig durchbohrten Schädel. Die Sitte der
alten Belgier, deren Strabo gedenkt, die
Köpfe der von ihnen erlegten Feinde am
Gürtel als Trophäen aufgehängt zu tragen,
mag weit verbreitet geweſen ſein. In der
That konnte Montius einen ähnlichen
Fund (Trepanirung nach dem Tode) aus
Schweden nachweiſen.
(Revue scientifique No. 40. Juin 1877.)
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MERAN CL,
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Literatur und Kritik,
Ueber Liebmann's
„Analyſis der Wirklichkeit.“
8
s giebt einige wenige Werke, welche
ebenſo wohl das Laboratorium des
Naturforſchers, als das Bücherbret
ö des Philoſophen zieren ſollten. Unter
dieſen rechnen wir neben Kant's „Kritik der
reinen Vernunft“ das hochbedeutſame und von
großem Erfolg gekrönte Haupt- und Lebens⸗
werk von Friedrich Albert Lange, die
„Geſchichte des Materialismus und die Kritik
ſeiner Bedeutung in der Gegenwart“ (Iſer—
lohn, Bädeker, 1876, 3. Aufl.), die un-
gemein belehrſamen „Grundlagen der Phi—
loſophie“ von Herbert Spencer (überjegt
von Vetter, Stuttgart, Schweizerbart,
1875) und von naturwiſſenſchaftlicher Seite
die allgemeiner gehaltenen Schriften eines
Darwin, Häckel, Helmholtz, Du—
bois-Reymond, Huxley u. A.
Dieſem kanoniſchen Kataloge möchten
wir auch das Werk: Zur Analyſis
der Wirklichkeit, philoſophiſche Unter—
ſuchungen von Otto Liebmann, Straß—
burg, Trübner, 1876 — als eine für
Naturforſcher und Philoſophen gleichmäßig
wichtige und intereſſante Schrift anreihen.
Dieſes Werk giebt in ſyſtematiſch geord—
|
neten und zuſammenhängenden Special—
unterſuchungen gewiſſermaßen daſſelbe, was
die „Geſchichte des Materialismus“ von
Lange in hiſtoriſcher, am Schluſſe ſich
jedoch zum geordneten Syſtem zuſpitzen—
der Darſtellung ausführt. Die Kant'ſche
Philoſophie iſt der gemeinſchaftliche Boden,
auf dem dieſe beiden Schriften erwachſen
find, dieſelbe iſt auch der gemeinſame Bo—
den der gehaltvolleren philoſophiſchen Be—
ſtrebungen des In- und Auslandes, die—
ſelbe iſt endlich auch der gemeinſchaftliche
Boden der Naturforſchung und Philoſophie.
Der einleitende Aufſatz von Caspari in
dieſer Zeitſchrift hat daher mit Recht auf
Lange's Geſchichte des Materialismus
und Spencer's Werke als auf die ge—
meinſchaftlichen Grundlagen hingewieſen,
von denen aus der Bund zwiſchen Natur-
forſchung und Philoſophie zu ſchließen iſt.
Ich habe an anderer Stelle?) nachzuweiſen
verſucht, daß die von Lange behauptete
Poſition als der alleinige adäquate Aus-
druck der modernen Weltanſchauung zu be—
trachten ſei. Freilich war es dem leider
viel zu früh für die Wiſſenſchaft geſtorbe—
nen Manne nicht vergönnt, in ſyſtematiſcher
) S. Hartmann, Dühring und
Lange. Zur Geſchichte der deutſchen Philo-
ſophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritiſcher
Eſſay. Iſerlohn, Bädeker, 1877.
446
Literatur und Kritik.
Abfolge ſeine Weltanſchauung niederzulegen;
allein das erwähnte Werk giebt auf der
Grundlage hiſtoriſcher Forſchung und natur—
wiſſenſchaftlicher Analyſe in glänzender Form
die wichtigſten Gedanken, welche die nächſte
Zukunft ſicher beherrſchen werden. Dieſe
neue Richtung, für welche wir den im
erſten Aufſatz dieſer Zeitſchrift vorgeſchlage—
nen Namen „kritiſcher Empirismus“ gerne
adoptiren, hat in England in Spencer
einen Vertreter gefunden, welcher an ori—
gineller Begabung und univerſell-ſynthetiſcher
Kraft keinen Rivalen in der Gegenwart
findet. Bei ihm iſt daſſelbe charakteriſtiſche
Merkmal in prägnanter Weiſe ausgeprägt,
welches dem Lan ge'ſchen Werke einen jo
hervorragenden Platz in der philoſophiſchen
Literatur der Gegenwart anweiſt: Die Ver-
bindung der Entwickelungslehre mit dem
Kriticismus, alſo mit den beſten Tradi—
tionen der engliſch-deutſchen Philoſophie.
Die naheliegende Aufgabe, die reformato—
riſchen Gedanken der Descendenztheorie in
den Ideencomplex der Philoſophie einzu—
führen und ſo dem allgemeinen Weltbewußt—
ſein der gegenwärtigen Generation einen
neuen und zeitgemäßen Ausdruck zu geben,
iſt in Deutſchland von verſchiedenen Seiten
verſucht worden: der Materialismus hat
in Dühring, der Spiritualismus hat
in Hartmann die Männer gefunden,
welche dieſe Aufgabe zu erfüllen ſich be—
ſtrebten; wir halten den Ideencomplex der
Genannten im Ganzen und Großen, wie
im Einzelnen für unhaltbar. Die kritiſche
Richtung hat dieſen Verſuch in beſſerer
Weiſe gelöſt, und Lange hat in ſeiner
„Geſchichte des Materialismus“ im Ganzen
und Großen die Meinung ſeiner Fach- und
Zeitgenoſſen präcis formulirt. Nur iſt
nunmehr der
zwiſchen England und Deutſchland hervor—
charakteriſtiſche Unterſchied f
ſchriebener Monographien über die wichtig-
ſtechend, daß jenes einen Philoſophen
erſten Ranges, einen ſyſtematiſch univerſellen,
das Ganze zuſammenfaſſenden Denker in
Spencer beſitzt, während unſere deutſchen
Philoſophen ſich in Specialunterſuchungen
vertiefen. Dieſe Theilung der Arbeit iſt
nicht nur ganz erklärlich, ſondern auch ſehr
zweckmäßig. England, das ſeit mehr als
hundert Jahren keinen Philoſophen erſten
Ranges mehr geſehen hatte, dürſtet nach
jener „allgemeinen Weltauſchauung“, welche
uns Deutſchen ſeit nahezu hundert Jahren
gäng und gäbe iſt. Ja wir haben ſie all—
mälig ſogar ſatt bekommen, dieſe „allgemeine
Weltanſchauung“, und die lange ausſchließ—
liche Beſchäftigung mit den großen Welt-
gedanken hat in der Gegenwart einen ſehr
heilſamen Rückſchlag nach der Seite ſpecia—
liſtiſcher Unterſuchungen hin hervorgerufen.
Es beſteht eine vorſichtige Zurückhaltung
über die allgemeinen und letzten Fragen,
und mit richtigem Takte wird eine gute
Specialunterſuchung bei uns höher geſchätzt,
als Beſchäftigung mit allgemeinen und
vagen Gedanken, die ja bei uns in Deutſch⸗
land ſeit einem Jahrhundert auf jeder neuen
Buchhändlermeſſe dem Dutzend nach zu
kaufen ſind. Kurz, es hat eine maßvolle
und nüchterne Zurückhaltung Platz gegriffen,
und man will erſt die hundert ſpeciellen
Vorfragen löſen, ehe man die entſcheiden—
den Hauptprobleme in die Hand nimmt.
Wenn man oft von philoſophiſcher Er-
mattung in Deutſchland ſpricht, ſo iſt dies
ein unpaſſender Ausdruck für eine an ſich
ſehr heilſame Thatſache.
Dieſe kritiſche Zurückhaltung zeichnet
auch das genannte Werk Liebmann's
aus, welches eine Reihe mehr oder weniger
eng verbundener Specialunterſuchungen ent-
hält. Es giebt eine Reihe vortrefflich ge—
8
ah
F
N g
ſten Fragen der Gegenwart, aber immer
von einem ſpeciellen Problem aus und nur
vorſichtig ins Allgemeine übergehend. Es
wird in denſelben auf die Conſtruktion
eines Syſtems Verzicht geleiſtet, „obwohl
ein leitender Grundgedanke nicht fehlt, auf
welchen ſie, wie ſämmtliche Magnetnadeln
auf den verborgenen Pol, hinweiſen“. Häufig
ſtehen die Prämiſſen zu einem transcen—
denten Schluſſe unmittelbar nebeneinander,
ohne daß die Concluſion gezogen iſt, und
anftatt voreiliger Löſungsverſuche giebt der
Verfaſſer haarſcharf geſtellte Probleme. Wir
können dieſes Verfahren, wie ſchon bemerkt,
nur billigen und betrachten das Werk da—
rum und auch in anderer Beziehung als
eine würdige Ergänzung der „Geſchichte
des Materialismus“ von Lange. Das
Werk zerfällt der alten Eintheilung der
Philoſophie gemäß in drei Abſchnitte, in
Erkenntnißtheorie, Naturphiloſophie und
praktiſche Philoſophie. Von den ſeit Locke
und noch vielmehr ſeit Kant eingebürger—
ten Gedanken ausgehend, daß die Prüfung
des Erkenntnißvermögens in erſter Stelle
geboten ſei, ſucht Liebmann im erſten
Abſchnitt die Frage nach den Schranken
unſerer Intelligenz zu behandeln. In einer
Reihe vortrefflicher Unterſuchungen, welche
in Fachkreiſen längſt verdiente Anerkennung
gefunden haben, weiſt Liebmann auf
die Relativität unſeres Erkennens hin, dem
ebenſowenig als irgend ſonſt einem Ding
oder einer Funktion in dem Univerſum jene
Abſolutheit zuzuerkennen iſt, welche der
Tummelplatz der nachkantiſchen dogmatiſchen
Philoſophie geweſen, iſt an Relationen,
an Bedingungen und Beziehungen, welche
ebenſoviele Schranken ſind, iſt unſer Erken—
nen gebunden. Dem Grundſatz huldigend:
„in certis fortiter, in dubiis prudenter,“
Literatur und Kritik.
47
ſuchung der Geſetze und Tragweite unferes
Erkennens in ſieben Abſchnitten, welche von
dem Gegenſatz des lerkenntnißtheoretiſchen)
Idealismus und Realismus ausgehend,
Raum, Zeit und Bewegung, das
Problem des Sehens und das der Cau—
ſalität ſpeciell unterſuchen und in einer
hiſtoriſch gehaltenen Erörterung über die
aprioriſchen Beſtandtheile unſerer Erkennt—
niß gipfeln. Dieſer Theil der Liebmann'—
ſchen Schrift iſt insbeſondere den Natur-
forſchern zur Beherzigung zu empfehlen,
indem er auf die Relativität der wichtigſten
Naturbegriffe: Raum, Zeit und Bewegung
hinweiſt. Der zweite Theil, Naturphilo—
ſophie und Pſychologie enthaltend, iſt an—
dererſeits den Philofophen warm zu em—
pfehlen, weil er auf tüchtiger naturwiſſenſchaft—
licher Grundlage eine kritiſche Beſprechung
der bezüglichen Probleme enthält. Aber
mit beſonderem Intereſſe wird der Natur-
forſcher die Specialunterſuchungen leſen,
welche ſeine Probleme, entblößt von Detail,
in univerſeller Faſſung formulirt, die
von weiteren Geſichtspunkten aus die wich—
tigſten Fragen beleuchtet. Ganz vortreff—
lich ſind die Vorbetrachtungen, welche janus—
artig auf der einen Seite nach den Ergeb—
niſſen der Erkenntnißtheorie zurückſchauen,
um auf der anderen Seite die „Natura
naturata“ als Gegenſtand der neuen Unter—
ſuchungen charakteriſiren. Mit Geiſt iſt
der Artikel: „Ueber den philoſophiſchen Werth
der mathematiſchen Naturwiſſenſchaft“ ge—
ſchrieben, welcher die quantitative Seite der
Natur ſcharf charakteriſirt, gegenüber dem
köſtlichen, ſpeculativen Unſinn Hegel's,
dem, wie Göthe, die Mathematik ebenſo
ſehr ein Greuel als — unbekannt war. Der
Abſchnitt über „das Atom“ kommt ſachlich
mit dem überein, was Caspari in dem
einleitenden Aufſatz vertreten hat, und zeigt,
—
8 59
*
giebt der Verfaſſer eine vortreffliche Unter—
448
daß „Atom“ zunächſt nur „eine Rechen—
marke der Theorie“ ſei (S. 296). Freilich
möchten wir hier mit dem 57. Renion der
Göthe-Schiller'ſchen Sammlung antworten:
„Lange kann man mit Marken, mit Rechen—
pfennigen zahlen,
Endlich, es hilft nichts, ihr Herrn, muß man
den Beutel doch ziehn.“
Von beſonderem Intereſſe für die Leſer
dieſer Zeitſchrift wird der Artikel ſein:
„Platonismus und Darwinismus“. Es
iſt keine Frage mehr, wie ſich Kant zum
Darwinismus geſtellt hätte — denn es
hat ſich bekanntlich ergeben, daß derſelbe
Kant, welcher die Lap la ce'ſche Theorie
anticipirte, auch den Darwinismus ſchon
mehr als hundert Jahre vor Darwin
vertreten hat. Schon dieſe Thatſache ſollte
diejenigen ſtutzen machen, welche Darwinis—
mus mit Materialismus verwechſeln, nicht
aus Engherzigkeit, ſondern — ich wage
das Wort — aus Enggeiſtigkeit. Der
beſchränkte Horizont der Menge verwechſelt
beides: Wie mancher Anhänger der neuen
Theorie iſt ganz unnöthiger Weiſe ins
Lager des Materialismus übergegangen,
und wie mancher Gegner iſt dies eben
nur darum, weil er glaubt, zugleich auch
Materialiſt werden zu müſſen.
Vortrefflich iſt da das Wort unſeres
Gewährsmannes: „Von dem transcenden—
tal⸗philoſophiſchen Standpunkt aus erſcheint
der erbitterte Kampf um den Darwinis—
mus wie eine Art von Batrachomyomachie.“
Denſelben Eindruck macht dieſer Streit aber
auch vom culturhiſtoriſchen Geſichtspunkte
aus: Die heliocentriſche Theorie, Koper
nikus und Newton,
retiſchen und praktiſchen Idealismus nicht
vernichtet. Die Erſchütterung des anthro=
pocentriſchen Standpunktes ſchafft die Ideale
nicht aus der Welt. Die Kurzſichtigkeit
haben den theo-
|
|
|
|
Literatur und Kritik.
ängſtlicher Naturen iſt zwar erklärlich und,
wenn aus ehrenhaften Motiven entſprungen,
achtungswerth: aber ſie iſt doch eben Kurz—
ſichtigkeit. Solchen möchten wir dieſen
Artikel empfehlen, nicht minder aber auch
jenen Stürmern, welche die alten Ideale
vom Himmel reißen wollen. Wir würden
allerdings indeſſen nicht alles unterſchreiben,
was der Verfaſſer ſagt; z. B. iſt die
Argumentation auf S. 311 nicht ſtichhal—
tig: Der Verfaſſer ſagt, lebendige Natur-
weſen ſind die, an denen der Stoff gleich—
gültig, die Form weſentlich iſt; umgekehrt
iſt es bei unorganiſchen; bei dieſen iſt die
Form gleichgültig; z. B. die Geſtalt der
Rauchwolke, des Springbrunnens, der
Gebirge und Continente, des bemeißelten
Marmorblocks allen dieſen iſt ihre
Form gleichgültig; ſie könnten auch ohne
ſie da ſein. „Dagegen nimm einer Pflanze,
einem Thiere ſeine Geſtalt. e
ſie mechaniſch, zerſetze ſie chemiſch; und ſie
haben aufgehört zu ſein, was ſie waren,
Pflanze und Thier.“ In dieſem Raiſon—
nement iſt eine Zweideutigkeit im Ausdruck
„Geſtalt“ oder „Form“: Die Geſtalt des
Thieres iſt eine ſolche, wie ſie nach dem
ewigen Spiel der Naturgeſetze, wie ſie
nach gelegenheitlichen und weſentlichen Be—
dingungen werden mußte, und ganz das—
ſelbe gilt z. B. vom Berge. Allerdings
iſt dieſem ſeine Geſtalt zufällig, d. h. ob
er ſpitz oder breit geworden iſt, aber in
demſelben Sinne iſt auch des Thieres Ge—
ob der Hund ſchlank oder
unterſetzt iſt, iſt die Folge der äußeren
Verhältniſſe. Anders verhält es ſich da—
mit, daß der Hund, das Thier über—
haupt eine Geſtalt, eine ihm weſent—
liche Form hat. Aber auch der Berg,
ſtalt zufällig:
z. B. der Baſaltberg oder der vulkaniſche
Berg, muß überhaupt eine Geſtalt haben,
Literatur und Kritik.
eine nach dem mechaniſchen Geſetz auch ihm
weſentliche. Ich kann ebenſo gut ſagen:
Nimm den Chimboraſſo, nimm den Tene—
riffa, zermalme ſie mechaniſch, zerſetze
fie chemiſch. Wirf einen Berg in einen
Krater hinein, und wenn er als Lavaſtrom
wieder zum Vorſchein käme, kaun man mit
demſelben Rechte ſagen: Sie haben aufge
hört zu ſein, was ſie waren — Berge —
denn geſetzt, es wäre möglich, in einer
Rieſenretorte von ungeheurem Umfang einen
aus Metall, Mineralien, vulkaniſchem Ge—
ſtein u. ſ. w. beſtehenden Berg chemiſch
zu zerſetzen, ſo bliebe eben auch nichts vom
Berge übrig und die reinen Elemente
würden für ſich abgeſondert. Das Argu—
ment beweiſt alſo zu viel oder zu wenig,
wie man will; und ſo lange man außer—
dem über die Conſtitution der Moleküle
noch nicht im Klaren iſt, kann man über
die Nothwendigkeit oder Zufälligkeit der
Geſtalt keine entſcheidende Anſicht aufſtellen.
Ganz vortrefflich iſt wieder der Ab—
ſchnitt über das Problem des Lebens,
welcher mit kritiſcher Vorſicht die Schwie—
rigkeiten hervorhebt, die der mechaniſchen
Theorie entgegenſtehen; die „Aphorismen
der Kosmogonie“ führen uns von der
Erde zum Himmel, und die folgenden Ab—
ſchnitte über den Inſtinkt, über Menſchen—
und Thierverſtand, Gehirn und Geiſt be
handeln mit großem Scharfſinn Probleme
von großer Tragweite und brennendem
Intereſſe. Einen Anhang bietet der dritte
Abſchnitt, welcher ethiſche und äſthetiſche
Probleme behandelt, und nach der theore—
tiſchen Controverſe, nach dem hitzigen Streit
über Anſchauungen uns auf das neutrale
Gebiet weiſt, auf dem alle Edlen, mögen
ſie ſonſt einer Weltanſchauung huldigen,
wie ſie auch ſei, ſich begegnen: das Ge—
biet des ethiſchen Handelns. Und dies iſt
449
im Streit der Tagesmeinungen der be—
ruhigende Pol, dies das Wort, das wir
auf allen Fahnen als ſittliches Gebot an—
geheftet wiſſen wollen:
Edel ſei der Menſch
Hülfreich und gut.
Jeder von uns iſt der Mittelpunkt
einer unendlichen Zeitreihe nach vorn und
rückwärts, eines unendlichen Weltraumes,
vor deſſen grenzenloſer Schrankenloſigkeit
uns Staunen und Grauen ergreift; aber
ob wir nun uns für Götterſöhne oder für
Gipfel der Thierreiche halten — der Edle,
mitten hineingeſtellt in jene Unendlichkeit,
findet in der Erfüllung dieſes Gebots Be—
friedigung, und — Verſöhnung mit dem
Gegner. —
Wir können alſo das Werk Jedem
empfehlen, umſomehr, als es anziehend und
edel⸗populär geſchrieben iſt. Gegenüber
den dogmatiſchen Stürmern, welche Alles
ſo leicht und einfach, und den blaſirten
Nationaliſten, welche alles jo „verteufelt
klar“ und ſelbſtverſtändlich auf dieſer Welt
finden, betont der Verfaſſer überall die
problematiſche Natur der Welt, welche uns
ſo viele tauſend Räthſel und Fragezeichen
giebt. — Und ſo können wir denn das
Schiller'ſche Wort keinesweges mehr zeit—
gemäß finden:
Feindſchaft ſei zwiſchen euch, noch kommt
das Bündniß zu frühe,
welches er den Naturforſchern und Traus—
cendental-Philoſophen zuruft; dagegen
behält der zweite Theil des Diſtichons
ſeine Gültigkeit, denn er ſpricht die Noth
wendigkeit der Arbeitstheilung aus:
Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird
erſt die Wahrheit erkannt.
Die Einen ſuchen mit dem Scalpell und
mit der Retorte nach den dauernden Natur—
geſetzen; die anderen mit logiſcher Aualyſe
a
450
nach den bleibenden Principien, beide
ſtreben auf ihre Weiſe nach der einen und
ewigen Wahrheit.
Straßburg. H. Vaihinger.
Friedrich von Hellwald, Cultur
geſchichte in ihrer natürlichen Ent—
wickelung bis zur Gegenwart. Augs—
burg, Lampart u. Comp. 1877. 2. Aufl.
Der Zweifel iſt der Vater der Philo—
ſophie und der Skepticismus ein nothwen—
diges Element der Wiſſenſchaft. Jeder
Einzelne muß eine Periode des Skepticis—
mus durchmachen, wenn er zu einer wahr—
haft wiſſenſchaftlichen und ſelbſtſtändigen
Weltanſchauung gelangen will. Allerdings
muß er denſelben einmal überwinden und
ſeine Anſichten poſitiv geſtalten, aber ſelbſt
dann darf eine gewiſſe Doſis Skepticismus
nie fehlen. In der Entwickelung der
Wiſſenſchaft, insbeſondere der philoſophiſchen,
war und iſt es ſtets nothwendig, daß ein—
zelne Männer es ſich zur Aufgabe machen,
den Skepticismus an und für ſich in der—
ſelben zu vertreten. Jede Wiſſenſchaft hat
ja die Neigung zum Dogmatismus, der
durch ſtarres Feſthalten an einmal gefun—
denen und dann feſt formulirten und ver—
knöcherten Anſichten jede lebendige Ent—
wickelung der Wiſſenſchaft unmöglich macht.
Hiergegen iſt dann der antidogmatiſche
Skeptieismus das nothwendige Gegen—
gewicht. Er bekämpft jeden Dogmatismus,
er bringt durch ſeinen Widerſpruch wieder
eine friſche, lebendige Entwickelung.
Wir können uns die Wiſſenſchaft als
eine Stadt denken. Da wird gewiß fort—
während da und dort ein Umbau oder Neu-
bau nöthig, und ſchadhaft oder unbrauchbar
Literatur und Kritik.
mehr entſprechende Gebäude müſſen abge—
riſſen und ſo ein neuer Baugrund geſchaf—
fen werden. Erſt wenn dies geſchehen,
können die Neubauten ausgeführt werden.
Dieſe deſtructive Aufgabe fällt dem Ske—
pticismus zu und den Männern, die ihn
vertreten. Sie haben dafür zu ſorgen,
daß die freie Entwickelung der Wiſſenſchaft
nicht gehemmt wird; daß ſie einen freien
Boden für ihre Neubauten findet. Der
Aufbau ſelbſt fällt dann ganz außerhalb
ihres Gebietes.
Zu den hervorragendſten Männern,
die ſich in der Gegenwart eine ſolche Auf—
gabe geſtellt haben, gehört Friedrich
von Hellwald. Es giebt nicht viele,
die einen ſolchen Skepticismus vertreten
können oder wollen. Soll der Skepticis—
mus für die Wiſſenſchaft Werth haben,
jo muß er von ernſtwiſſenſchaftlichem Stre—
ben ausgehen. Der abſolute Skepticismus,
der die Wiſſenſchaft überhaupt läugnet,
übrigens bekanntlich durch ſeinen eigenen
Grundſatz ſich ſelbſt aufhebt, iſt für die
Wiſſenſchaft ebenſo werthlos, als jener bla—
ſirte Skepticismus, der alles negirt, um
eben überhaupt zu negiren.
Die Aufgabe des Skeptikers erſcheint
zunächſt auch als eine undankbare und un—
ſympathiſche. Iſt auch dem Menſchen auf
niederer Stufe der Zerſtörungstrieb eigen,
ſo charakteriſirt ſich gerade der höherſtehende
durch den Trieb zum Aufbauen, zur Syn-
theſe. Erſt die nähere Würdigung des
Skepticismus und ſeiner Aufgabe in der
Wiſſenſchaft läßt ſeinen eigentlichen Werth
erkennen.
Zu der deſtructiven Arbeit gehören ſo—
dann eine bedeutende Energie, Unerſchrocken—
heit, Freimüthigkeit, vor Allem aber völlige
Unabhängigkeit von allen Vorurtheilen,
gewordene oder den Zeitverhältniſſen nicht Verpflichtungen und Rückſichten. Das ſind
Literatur und Kritik.
lauter Eigenſchaften, die nicht ſo oft ver—
eint zu finden ſind.
Wir wiſſen es daher wohl zu ſchätzen,
wenn ſich in der Wiſſenſchaft ein Mann
findet, der den Skepticismus in ſo treff—
licher Weiſe zu vertreten vermag wie
Friedrich von Hellwald.
Nur wenn wir ihn aber aus dem eben
dargelegten Geſichtspunkte betrachten, können
wir ihm und ſeinem hier vorliegenden
Werke gerecht werden und eine richtige
Würdigung deſſelben geben.
Gerade der Gegenſtand dieſes Werkes
bot Hellwald Gelegenheit, an der Er—
füllung ſeiner antidogmatiſchen und ſkepti—
ſchen Aufgabe zu arbeiten, und das ener
giſche, rückſichtsloſe Vorgehen läßt hier kaum
zu wünſchen übrig.
Natürlich iſt nicht die ganze Arbeit
Hellwald's eine rein negative, ſondern
poſitive Elemente ſind ja überall nöthig,
wo überhaupt Wiſſenſchaft getrieben wird.
Sehr häufig entſpringt das Poſitive nur
wieder der ſkeptiſchen, negativen Tendenz.
Um nämlich der Bekämpfung, der Nega—
tion der dogmatiſchen oder überhaupt vor—
herrſchenden Anſicht mehr Gewicht und
Nachdruck zu verleihen, vertheidigt Hell-
wald gerade immer die entgegengeſetzten
oder unterdrückt erſcheinenden Anſichten.
Hat irgendwo die idealiſtiſche Auffaſſung
das Uebergewicht, dann tritt er auf die
Seite des Materialismus, hat das demo—
kratiſche oder republikaniſche Prinzip die
Oberhand, dann vertheidigt er das ariſto
kratiſche oder monarchiſche u. ſ. w. Es
iſt klar, daß von einer einheitlichen Ten—
denz hier nicht die Rede ſein kann, daß
vielmehr daraus ein ſtetes Abſpringen von
einer Anſicht zur anderen erfolgt. Das iſt
aber von einem Vertreter des Skepticismus
entgegengeſetzten
451
nicht anders zu verlangen. Uebrigens hat
Jeder, auch der Skeptiker, ſeine poſitive
Privatanſicht, eine Vorliebe für dieſe oder
jene Richtung, und dieſe iſt bei Hellwald
augenſcheinlich der Naturalismus.
Der geſammte Standpunkt, auf wel—
chen ſich Hellwald bei der Behandlung
der Culturgeſchichte ſtellt, erklärt ſich aus
dem eben Geſagten. Bisher war die Be—
handlung der Culturgeſchichte vorwiegend
eine idealiſtiſche, vom Geiſte ausgehende,
eine hiſtoriſch-philologiſche und philoſophiſche;
die naturaliſtiſche, d. h. von der Natur-
wiſſenſchaft und der „natürlichen Entwicke—
lung“ ausgehende Behandlungsweiſe war
ziemlich ſelten; außer dem Werke von
Kolb wüßten wir hier kaum eines hervor—
zuheben. Dies war natürlich Grund ge—
nug für Hellwald, ſich auf dieſen
„unterdrückten“ Standpunkt zu ſtellen, für
den er ja ohnedies ſchon eine Privatneigung
beſitzt. Mit der ganzen Behandlungsweiſe
hängt es auch zuſammen, daß gerade die
Schattenſeiten der menſchlichen Culturent—
wickelung grell hervortreten, während die
ideale Seite der Menſchheit mehr zurück—
tritt. Dadurch erhält das Werk einen
unwillkürlichen peſſimiſtiſchen Charakter.
Wenn nun auch den Meiſten ein Werk
der idealiſtiſchen Richtung, wie M. Car—
rière's prachtvolle Culturgeſchichte („Die
Kunſt im Zuſammenhang mit der Cultur
entwickelung“) einen viel ſympathiſcheren
Eindruck machen wird, ſo kann doch auch
Niemand nach dem von uns Dargelegten
an dem Werthe und der Bedeutung dieſes
Werkes von Hellwald zweifeln. Es iſt
gerade ein Stolz für die ewig junge,
deutſche Wiſſenſchaft, daß ſie zur ſelben
Zeit zwei Werke hervorgebracht, welche,
jedes in ſeiner Art vortrefflich, die zwei
Standpunkte ver⸗
452
treten und fo es verhüten, daß die Wiſſen—
ſchaft jemals einſeitig wird.
Auf Einzelheiten dieſes Werkes einzu—
gehen, iſt hier nicht der Ort; nachdem wir
den allgemeinen Charakter deſſelben feſt—
geſtellt haben, können wir nur wenige
Hauptpunkte noch hervorheben.
Es laſſen ſich in den Anſichten und
Theorien Hellwald's im Einzelnen
manche Fehler und Irrthümer nachweiſen;
aber bei einer ſolchen Fülle des Materials
iſt dies wohl verzeihlich. Es iſt keine
kleine Aufgabe, jo verſchiedene Gebiete, wie
Naturwiſſenſchaft, Geographie, Geſchichte,
Sprachwiſſenſchaft, Sociologie, Politik
u. ſ. w., gleichmäßig und vollſtändig zu
beherrſchen. Und was Hellwald in dieſer
Hinſicht geleiftet, iſt aller Anerkennung werth.
Zu dem bürgt ja gerade der Skepticismus
des Verfaſſers dafür, daß er an irrigen
Anſichten nicht feſthalten, ſondern ſie in
künftigen Auflagen durch richtigere erſetzen
wird.
Vom Standpunkte philoſophiſcher Be
trachtung aus iſt das zweite Kapitel des
erſten Bandes: „Die ſocialen Geſetze“, das
intereſſanteſte und hervorragendſte. Die
materialiſtiſche Tendenz tritt hier allerdings
oft ſehr ſtark hervor. Sätze wie dieſe:
„Das Denken iſt eine verdichtete Beweg—
ung,“ oder „überhaupt ein verdichtetes
Wirken von Naturkräften,“ „der menſch—
liche Geiſt iſt nur eine potenzirte Natur-
kraft“, und viele ähnliche gehören zum
Materialismus und verfallen deſſen Kritik.
Ein ſehr intereſſanter Theil dieſes Ka—
pitels iſt: „Religion und Ideal“. Wir ha—
ben mit Vergnügen bemerkt, daß hier nicht
mehr wie in der erſten Auflage Ideale,
Recht, Tugend u. ſ. w. ſo grell verurtheilt
werden, daß man glauben könnte, der Ver—
faſſer halte den Kampf Aller gegen Alle
Literatur und Kritik.
auch im menſchlichen Daſein für das allein
Richtige, alles andere aber für Unſinn.
In dieſer Auflage iſt Alles das milder
und gemäßigter; die grellſten Stellen ſind
durch andere erſetzt. Immerhin glauben
wir, daß hier der Skepticismus doch noch
zu weit geht. Es ſei ihm jeder Dogma—
tismus in Wiſſenſchaft, Religion und Leben
verfallen; aber die Ideale des Guten und
Schönen ſelber ſind eben kein Dogmatis—
mus, ſondern fie find die unerſchütterlichen
Grundſäulen alles wahren Menſchenthums.
Wenn der extreme Skepticismus jo weit
geht, uns dieſe zu zerſtören, dann iſt er
überhaupt mit allem zu Ende. Nur ſoll
man ſich dann nicht einbilden, daß die
Wiſſenſchaft und gar erſt die materialiſtiſche,
beſtehen bleibe; fie fällt ſchon vor den Idea—
leu. Es iſt unbegreiflich, wie Hellwald
fi jo feſt auf die Wiſſeuſchaft ſtützt, nach—
dem er die Ideale für Irrthümer erklärt hat.
Das Schöne und Gute iſt doch das un—
mittelbar gewiſſeſte und ſicherſte für uns,
während es mit der Wahrheit doch gerade
nach ſkeptiſcher Anſicht oft ſehr zweifelhaft
ausſieht.
Wenn nun Hellwald gegen den Aus-
ſpruch von Henne am Rhyn proteſtirt,
„daß ihm jeder Idealismus ein Greuel
ſei“, ſo ſind wir völlig überzeugt, daß er
praktiſch ein großer Idealiſt iſt, nur daß
eben ſein theoretiſcher Idealismus wiſſen—
ſchaftlich ſich nicht begründen läßt. Denn
wenn man einmal die Ideale als Irrthümer
| erklärt hat, dann helfen alle Beſchönigun⸗
gen nichts mehr. Das iſt eben dann der
Illuſions-Idealismus, der Standpunkt von
A. Lange und E. Vaihinger, über
den E. v. Hartmann kürzlich eine ſo
gelungene Satire geſchrieben hat (i. ſ.
Neukantinismus, Hegelianismus 2c.).
Wenn wir damit zeigen wollten, wie
Literatur
der Skepticismus leicht zu extrem werden | |
Beiträge zur Descendenz- Theorie
kann, jo wird doch Niemand dem Verfaſſer
einen zu ſchweren Vorwurf daraus machen.
Jeder weiß ja, daß, wenn man einmal in
einer Richtung ſo energiſch vorgeht, das
ihres höchlichſt verſchiedenen Charakters
Haltmachen und Einhalten nicht ganz
leicht iſt.
Sollen wir nun noch auf einzelne be—
ſonders hervorragende und werthvolle Ab-
ſchnitte hinweiſen, fo nennen wir dieſe:
„Die Morgenröthe der Cultur“ und
Thiere ſchnell die Schattirungen ihrer
beſonders „Die Anfänge der Familie“;
hier finden ſich eine Menge intereſſanter
Stande ſind, um Verfolgern und Verfolg—
Anſichten und Thatſachen, insbeſondere aus
dem Gebiete der Urzeit der Culturent—
wickelung. In dem Abſchnitte über die
alten Hellenen iſt beſonders wichtig die kri—
die der Verfaſſer als durchaus nicht fo
leuchtend hinſtellt, wie dies gewöhnlich ge—
ſchieht („Familienleben und Hetärismus“).
Sodann bietet manches Intereſſante das
Kapitel über das „Aufkommen des Chriſten—
thums“, im zweiten Bande „Mönchsthum
und Kloſterweſen“, dann „Aberglauben und
Wunder“ mit intereſſanten Mittheilungen
über alte Feſte und Gebräuche, und ſchließ—
lich der Schlußabſchnitt über „Die Cultur
der Gegenwart“.
Wir müſſen es uns, wie ſchon bemerkt,
verſagen, auf dies Alles im Einzelnen einzu—
gehen und können zum Schluſſe nur noch
den Wunſch und die Hoffnung ausſprechen,
daß alle Leſer mit uns übereinſtimmen,
wenn wir ſagen, daß dieſes Werk eine hoch—
bedeutende, dankenswerthe Leiſtung eines
energiſchen Geiſtes iſt.
Friedr. v. Goeler-Ravensburg.
und Kritik. a 453
von Dr. Georg Seidlitz, Leipzig,
Wilhelm Engelmann, 1877.
Das vorliegende Werk bringt zwei trotz
gleich willkommene und ſchätzenswerthe
Arbeiten, nämlich erſtens eine hiſtoriſch—
kritiſche Darſtellung der Entdeckungsgeſchichte
und des Weſens jenes vollkommenſten aller
Anpaſſungsvorgänge, durch welchen gewiſſe
wechſelnden Umgebung anzunehmen im
ten gleich ſchwer erkennbar zu werden, und
zweitens die wohlgelungene Vertheidigung
ae
der Darwin'ſchen Theorie gegen einen
tiſche Betrachtung der ſittlichen Zuſtände,
der ſchmerzlichſten und beklagenswertheſten
Angriffe, die fie bis jetzt erfahren hat,
gegen die letzten Schriften Ernſt v. Baer's.
Die chromatiſche Function, welche in
der Regel durch Füllung und Leerung be—
ſonderer ſternförmiger, unter der Oberhaut
gelegener Farbſtoffzellen, deren Inhalt
ſchwärzlich, bläulich, grünlich oder röthlich
durch die Oberhaut hindurchſchimmert, her—
vorgebracht wird, hat zuerſt beim Chamä—
leon die Aufmerkſamkeit der Menſchen er—
regt, und ihrer wiſſenſchaftlichen Erforſchung
geht wie gewöhnlich eine abenteuerliche (von
dem Verfaſſer kaum berührte) Vorgeſchichte
voraus. Die wiſſenſchaftliche Erforſchung
beginnt mit der Beobachtung Stark's,
welcher 1830 wahrnahm, daß Ellritzen,
Stichlinge, Schmerlinge und Barſche mehr
oder weniger ſchnell die Schattirung der
Gefäße annahmen, in denen ſie gehalten
wurden, ſo daß ſie in offenen, weißen
Porzellangefäßen hellſchimmernd, in bedeck—
ten, dunklen Gefäßen bald ſchwärzlich wur—
den. Die Weiterführung dieſer Beobacht—
ungen, die Entdeckung und Nachweiſung
454
der Pigmentzellen bei verſchiedenen Thieren,
die Unterſuchungen über den Mechanismus des
geheimnißvollen Borg anges, werden uns bis
zu der aufklärenden Entdeckung Pouchet's
(1871), nach welcher die Auslöſung dieſer
Function nur bei ſehenden Thieren,
alſo vom Auge aus erfolgt, mit der aus—
gezeichneten Literaturkenntniß, die wir bei
dem Verfaſſer gewöhnt ſind, vorgeführt.
Die „chromatiſche Function,“ ſagt er am
Schluſſe dieſes Theiles ſeiner Beiträge,
„iſt eine Reflex-Erſcheinung, die durch Ver—
mittelung der Augen und des Nerven—
ſyſtems (bei Fiſchen des Sympathicus)
ſich als Contraction der Chromatophoren
bei hellem Licht, und als Expanſion der—
ſelben im Dunklen äußert. Sie iſt ſo—
mit eine ſympathiſche Färbung, die aber
nicht conſtant bleibt, ſondern analog dem
halbjährlichen Haar- oder Federwechſel je
nach dem Aufenthaltsort verſchiedene In—
tenſität annimmt. Wir müſſen alſo den
ſympathiſchen Farbenwechſel zu den ſchützen—
den Eigenſchaften rechnen und können da—
her annehmen, daß er als Ausrüſtung den
Feinden gegenüber durch Naturzüchtung
entſtanden iſt, indem dieſelben Ge—
bilde in der Haut, die anderwärts viel—
fach zu anderen Ausrüſtungen wurden
(ſexueller Schmuck u. ſ. w.), auf Lichtreiz
mit Formveränderung zu reagiren be—
gannen.“
Es könnte ſcheinen, als ob dieſe Dar—
ſtellung mit der nachfolgenden Vertheidig—
ung der Darwin'ſchen Theorie gar keine
Berührungspunkte habe, indeſſen möchte
Ref. darauf aufmerkſam machen, daß dieſe
farbeändernden Fiſche, Cephalopoden und
Amphibien vielleicht die beſten „Vorleſ—
ungs⸗Thiere“ ſind, um hartköpfigen Geg—
nern die Fundamentalgeſetze der Dar—
win'ſchen Theorie ad oenlos zu demon—
Literatur und Kritik.
ſtriren. Nicht allein der Vorgang der
Anpaſſung verläuft hier vor dem Auge
des Beobachters, ſondern man würde auch
die Geſetze der natürlichen Ausleſe ſchnell—
ſtens durch Fiſche demonſtriren können, die
ihren Feinden zum Opfer fallen, wenn ſie
nach Durchſchneidung des ſympathiſchen
Nerven ihr Anpaſſungsvermögen, ſei es
auch nur theilweiſe, eingebüßt haben.
Was die ausführliche Vertheidigung
der Darwin'ſchen Theorie gegen die An—
griffe eines ihrer verehrungswürdigſten
„Mitſchuldigen“ betrifft, ſo müſſen wir
ſagen, daß der hingeworfene Fehdehand—
ſchuh von keinen beſſeren Händen aufge—
nommen werden konnte. Wie naheliegend
und ſelbſt entſchuldbar wäre es geweſen,
den berühmten Gegner, der allem Anſcheine
nach die Darwin'ſche Theorie gar nicht
aus den Originalquellen gekannt hat, ſie
vielmehr beſtändig mit den Träumereien
der Oken'ſchen Schule, mit Kaup'ſchem
Blödſinn und den Mißverſtändniſſen un-
wiſſender Gegner legirt und dann gegen
dieſe eigenen Wahngebilde zu Felde zieht,
mit Schmach und Hohn heimzuſchicken.
Nichts von alledem iſt hier geſchehen. In
durchaus würdiger, ſachgemäßer Weiſe weiſt
der Verfaſſer Satz für Satz die Baer'-
ſchen Einwände als ſolche zurück, welche die
Darwin'ſche Theorie meiſt gar nicht an—
gehen, und dies geſchieht in einer ſo ruhi—
gen und überzeugenden Weiſe, daß das
Schickſal doppelt zu beklagen iſt, welches
den hochverdienten Forſcher verhinderte, dieſe
gründliche Beſeitigung feiner Bedenken ken—
nen zu lernen. Er würde ſich nämlich
bald überzeugt haben, daß ſeine eigenen
Anſichten nur durch eine unmerkliche Nü—
ance von denen Darwin's, die er leider
nicht gekannt hat, abweichen.
Die Vorurtheile, welche von Baer
53)ß—d : BRUT RN
Literatur und Kritik.
der Darwin'ſchen Theorie entgegen—
brachte, ſind im Weſentlichen die Folgenden:
Erſtes Mißverſtändniß. Die
Darwin 'ſche Theorie verabſcheue den
Zweckbegriff. Sie verabſcheut aber nur
den teleologiſchen Begriff des bedachten
Zweckes, der ſeinerſeits von Baer fo
wenig anmuthete, daß er ihn durch den
beſondern Begriff der Zielſtrebigkeit
erſetzen wollte, welcher von dem natur—
hiſtoriſchen Begriff des gewordenen
Zweckes der Darwinianer kaum weſentlich
verſchieden, zudem im Ausdrucke unglücklich
und daher überflüſſig erſcheint.
Zweites Mißverſtändniß. Die
Dar win'ſche Theorie wolle die Anſichten
der Naturphiloſop;hen aus dem Anfange
des achtzehnten Jahrhunderts erneuern, nach
denen unter anderm Thiere aller Klaſſen zu
Vorläufern des Menſchen gemacht wurden.
Es berührt ſonderbar, bei einem ſo gründ—
lichen Gelehrten wie von Baer, den
Aberglauben zu finden, die Darwinianer
ſähen ſelbſt Inſekten und Vögel als Ahnen
der Wirbelthiere und des Menſchen an.
Drittes Mißverſtändniß. Die
Descendenztheorie nähme (was ihr nur von
unwiſſenden Gegnern untergeſchoben wor—
den iſt) den Uebergang heutiger Typen in
andere heutige Typen an.
Viertes Mißverſtändniß. Die
Selectionstheorie lehre die Umbildung eines
hochſpecificirten Organs in ein anderes hoch—
ſpecificirtes, ſtatt beide aus einer einfachen
Grundlage herzuleiten.
Fünftes und ſechſtes Mißver—
ſtändniß. Die Darwin'ſche Theorie be—
haupte die phyſiologiſche Gleichwerthigkeit
des menſchlichen Fußes und der Hinterhand
der Affen und wolle den Unterſchied zwi—
ſchen Menſch und Affen verwiſchen, während
ſie nur die anatomiſche Gleichwerthigkeit ge—
daß er
nannter hinterer Gliedmaßen nachweiſt. Hier—
bei macht der Verfaſſer die ſehr treffende
und unſeres Wiſſens noch nicht in dieſer
ſchlagenden Form vorgebrachte Bemerkung,
daß die große Zehe des Menſchen durch
ihre die anderen Zehen ſo erheblich über—
wiegende Ausbildung den Beweis liefere,
daß der menſchliche Fuß aus einer ehema—
ligen Hand hervorgegangen iſt, denn nur
bei einem wirklichen Gebrauche der Extre—
mität als Hand könne eine derartig über—
wiegende Größe und Stärke des erſten
Fingers erworben worden ſein.
Es wäre natürlich ſehr zu wünſchen,
daß auch die zahlreichen principiellen Geg—
ner der Darwin'ſchen Weltanſchauung,
welche durch Partei-Reklame verlockt, ſich
ohne ſelbſtſtändiges Urtheil an die ſchwer—
wiegende Baer'ſche Autorität klammern,
wenigſtens gegen ſich ſelbſt ſo ehrlich wä—
ren, daß ſie auch dieſen Commentar läſen,
der durch eine beſondere Tabelle den fort—
laufenden Vergleich ſehr leicht gemacht hat,
ſo daß man wirklich die Ba er'ſchen Ab—
handlungen mit den Seidlitz'ſchen An—
merkungen zuſammen leſen kann. Der
Verfaſſer war übrigens zu dieſer Arbeit
noch ganz beſonders dadurch ausgerüſtet,
einmal vermöge ſeiner genauen
Kenntniß der einſchlägigen Literatur die
trüben Quellen der Baer'ſchen Mißver—
ſtändniſſe im Voraus kannte, dann aber
auch, weil ſeit jeher ſein Beſtreben dahin
gerichtet war, die Terminologie der dar—
winiſtiſchen Theorie feſtzuſtellen, Vorgänge
und Begriffe aus einander zu halten und
mit feſtſtehenden techniſchen Namen zu be—
zeichnen, die bisher nur zu oft mit einan—
der verwechſelt worden ſind. Dieſes Ver—
dienſt iſt um ſo anerkennenswerther, als
ſich auf dem neutralen Boden der Dar—
win 'ſchen Theorie jo viele Forſcher aus
455 |
456
angrenzenden Gebieten begegnen, bei denen
ein alle Einzelheiten umfaſſendes Studium
kaum vorausgeſetzt werden kann. In die—
ſer Richtung wird die Bekämpfung der
Baer 'ſchen Mißverſtändniſſe auch denjeni—
gen Anhängern der Theorie von Werth
ſein, die durch eigene poſitive Kenntniſſe
Polyhiſtor Geßner, der die Naturkörper
hinlänglich gegen dieſelben gefeit ſind.
Dringend wünſchen möchten wir, daß der
Verfaſſer ſeinen Plan, ein „Wörterbuch
der Descendenz-Theorie“ auszuarbeiten,
in welchem neben jedem Worte alle die—
jenigen Stellen aus den Werken Dar—
win's und ſeiner Nachfolger angeführt
werden, welche den richtigen Begriff feſt—
ſtellen, nebſt den hervorragendſten Bei—
ſpielen mißbräuchlicher Verwendung bald
zur Ausführung brächte. K.
Herder als Vorgänger Darwin's
und der modernen Naturphi—
loſophie. Beiträge zur Geſchichte der
Entwickelungslehre im 18. Jahrhundert
von Friedrich von Bärenbach. Ver—
lin, Theobald Grieben, 1877.
Der Verfaſſer zeigt in vorliegender
Schrift, daß Herder in mehreren ſeiner
Werke, namentlich in ſeinen „Ideen zu
einer Philoſophie der Geſchichte der Menſch—
heit“, in vagen Umriſſen einige Anſichten
ausgeſprochen hat, welche der Darwin’-
ſchen Weltanſchauung nicht gerade zumider-
laufen. Es iſt aber ein entſchiedener Irr—
thum, Herder für den Urheber dieſer
Gedanken zu halten und ihn deshalb mit
Ueberſchwenglichkeit als den Johannes der
modernen Weltanſchauung zu preiſen. Her—
der war eine weſentlich receptive und an—
empfindende Natur; die von ihm in wohl—
lautende Form gebrachten Ideen waren
Literatur und Kritik.
längſt im Umlauf, namentlich hatte ſie
Kant in einer viel prägnanteren Faſſung
ausgeſprochen, wie dies Profeſſor Fritz
Schultze in ſeiner, dem Verfaſſer wie es
ſcheint unbekannt gebliebenen, Arbeit „Kant
und Darwin“ ſo überſichtlich dargethan
hat. Aber ſelbſt bis auf den deutſchen
anordnen wollte in eine einzige große
Reihe, vom Mineral bis zum Menſchen,
iſt dieſe Wiederanknüpfung an die bei den
Arabern erhaltene Naturphiloſophie der
Alten zurück zu verfolgen. Wenn unſerm
Herder in dieſer Sache ein Verdienſt
zuzuſprechen iſt, ſo lag es darin, die Idee
einer Geſchichte vor der Geſchichte auf—
genommen zu haben, aber auch hierin
waren ihm ja Buffon, Maillet und
die Verfaſſer der Sintfluth-Romane lange
vorausgegangen. Mit einigem guten Wil-
len freilich kann man in den unſchuldigſten
Auseinanderſetzungen die tiefſte Propheten
weisheit erkennen. Die bemerkenswertheſte
Stelle, welche der Verfaſſer auffinden
konnte, giebt eine lebhafte Illuſtration für
die Bedenklichkeit ſolcher Hineindeutungen:
„Alles iſt im Streit gegen einander“,
ſchrieb Herder, „weil Alles ſelbſt be—
drängt iſt; es muß ſich ſeiner Haut weh-
ren und für ſein Leben ſorgen. Warum
that die Natur dies? Warum drängte
ſie ſo die Geſchöpfe auf einander? Weil
ſie im kleinſten Raum die größte und
vielfachſte Anzahl der Lebenden ſchaffen
wollte, wo alſo auch Eins das Andere
überwältigt und nur durch das Gleich—
gewicht der Kräfte Friede wird in der
Schöpfung. Jede Gattung ſorgt für ſich,
als ob ſie die einzige wäre; ihr zur Seite
ſteht aber eine andere da, die ſie ein—
ſchränkt, und nur in dieſem Verhältniß
entgegengeſetzter Arten fand die Schöpfer in
Literatur und Kritik.
das Mittel zur Erhaltung des Ganzen.“
„Wer hierin nicht die vollkommen
entwickelte Lehre vom Kampfe ums Da—
ſein erkennen kann,“ ruft der Verfaſſer
mit Extaſe, „den verweiſe ich auf Dar—
win 's „Natural selection“, um ſich das
Weſentlichſte ins Gedächtniß zurück
zurufen.“ Der Ref. iſt in der höchſt
Stelle nichts finden zu können, als eine
Paraphraſe des fünftauſendjährigen Gemein—
platzes, daß das Leben ein Kampf iſt.
Empedokles, als er philoſophirte, daß
die Welt aus dem Widerſtreit der Dinge
hervorgegangen ſei, daß einfachere und un—
vollkommene Pflanzen und Thiere den
vollkommeneren vorausgegangen ſeien, daß
auch der Menſch von Thieren abſtamme,
daß das Beſtreben aller Weſen, mit ihrer
Umgebung in ein Gleichgewicht zu gelan—
gen, die Urſache der Zweckmäßigkeit ſei,
war offenbar der Dar win'ſchen Theorie
viel näher, als Herder, der in dem
Kampfe Aller gegen Alle nur ein Mittel
zur Erhaltung des Ganzen ſah. Eben—
ſo verhält es ſich mit allen übrigen an—
geführten Stellen aus Herder's Werken;
ſie beweiſen nichts weiter, als daß ſich
der große Humaniſt die Wege Kant's
und anderer Forſcher ſeiner Zeit über Welt
und Natur angeeignet hatte, um ſie in
anmuthender Form und guter Ordnung
wieder zu geben; einen Originaldenker aus
ihm machen zu wollen, müſſen wir für
gänzlich verfehlt halten. K.
Charles Darwin, Die Wirkungen
der Kreuz- und Selbſtbefruch—
tung im Pflanzenreich. Aus dem
Engliſchen überſetzt von J. Victor Ca-
nr W
eee
457
rus. Stuttgart, E. Schweizerbarth'ſche
Verlagsbuchhandlung (Ed. Koch), 1877.
Da wir eine ausführliche Analyſe die—
ſes grundlegenden Werkes aus der beru—
fenſten Feder bereits im erſten Hefte dieſer
Zeitſchrift gebracht haben, bleibt uns heute
nur noch übrig, darauf hinzuweiſen, daß
t N nunmehr die deutſche Ueberſetzung deſſelben,
ſchmerzlichen Lage, trotz alledem in dieſer
von der Hand des nämlichen Naturforſchers,
der ſich durch eine muſtergültige Ueber—
tragung der ſämmtlichen Werke Darwin's
um die Ausbreitung ſeiner Lehre in Deutſch—
land ſo hochverdient gemacht hat, vorliegt.
Die Ausſtattung iſt eine würdige.
Charles Darwin und ſeine deut—
ſchen Anhänger im Jahre 1876.
Eine Geſchichte der deutſchen Ehrengabe
zu Darwin's 69. Geburtstage von
E. Rade. Straßburg im Elſaß.
J. Schneider'ſche Buchhandlung, 1877.
Der Rendant des Weſtphäliſchen Pro-
vinzialvereins für Wiſſenſchaft und Kunſt,
Nechnungsrath Rade in Münſter, regte
im vorigen Jahre den Gedanken an, dem
großen Reformator der Naturwiſſenſchaften
ſobald als möglich von ſeinen deutſchen
Anhängern ein Zeichen ihrer Verehrung
und Liebe in Geſtalt eines ſchmuckvoll
ausgeſtatteten photographiſchen Albums dar
zubringen. Dieſer Gedanke fand den größ—
ten Beifall in — außerdeutſchen Ländern,
in Oeſterreich und in den Niederlanden,
welche ihrerſeits eine entſprechende Ovation
veranſtalteten. Aus der deutſchen Gelehrten
Republik blieben nicht wenige der nam—
hafteſten Vertreter zurück, und nur der
Opferwilligkeit einer kleineren Schaar, vor
Allen des oben genannten Urhebers, des Ma—
lers und Dichters Arthur Fitzer in Bre—
458 Literatur und Kritik.
men, einiger namhafter Verlagsfirmen u. A.
iſt es zu danken, daß die 176 Gratulanten
am 12. Februar c. in würdiger Ausſtat⸗
tung vor dem Gefeierten erſcheinen konnten.
Der in vorliegender Schrift niedergelegte
Rechenſchaftsbericht iſt durch die angedeute—
ten Verhältniſſe zu einem Zeitbilde ge—
worden, in welchem es neben dem erwär—
menden Lichte auch an dem „Schatten der
Wiſſenſchaft“ nicht mangelt. Für das
Nähere verweiſen wir Wißbegierige auf
das Schriftchen ſelbſt, aus welchem wir
uns erlauben, das ſchöne Widmungsgedicht
mitzutheilen, welches das Album, ebenſo
wie das künſtleriſch ausgeführte Titelblatt.
Herrn A. Fitzer verdankt.
An Charles Darwin.
Wie lag im kindlichen Entzücken
Der Menſch im Arme der Natur!
Sie liebend nah ans Herz zu drücken
Füllt er mit Göttern Berg und Flur:
Die Dryas in des Haines Sauſen,
Die Nymphe grüßt aus Born und Bach,
Und ernſtes Vaterwort im Brauſen |
Des Donners der Kronide ſprach.
Da ging in heilig großen Schlägen
Ein ein'ger Puls durch alle Welt,
Und Schmerz und Luſt, und Fluch und Segen
Hielt alle Weſen eng geſellt.
Wohl wob der Mythus ſeine Hülle
Um des Geſetzes dunkle Norm,
Doch des Lebend'gen reiche Fülle
War eines Geiſtes klare Form.
Wie längſt verſcherzt! Wie längſt verloren!
Das brüderliche Band zerriß. —
Zum Frevler ward der Menſch, zum Thoren,
Verſtoßen aus dem Paradies.
Er, den zu ſeinem Ebenbilde
Ein Gott erſchuf in ew'ger Huld,
Ein Sünder irrt er im Gefilde
Des Jammers und der Todesſchuld.
Und rings entgeiſtert ſtarrt nun blöde,
Getroffen von des Dogmas Fluch
Natur in ſchauervoller Oede,
Ein Saitenſpiel, das man zerſchlug;
Vom Meſſer der Syſteme grimmig
Zerfleiſcht und mumienhaft verdorrt,
Die lebenglühend, tauſendſtimmig
Emporgejauchzt als Ein Akkord.
Da kamſt Du — und im Getrennten
Die Einheit fand Dein Forſcherblick;
Den tief entzweiten Elementen
Gabſt Du die Harmonie zurück.
Du ſahſt im ewigen Verwandeln
Der Dinge weitverknüpftes Netz,
Und in dem räthſelvollen Handeln
Des Weltalls ſahſt Du das Geſetz.
Nicht mehr vom Paradies vertrieben
Schweift nun des Menſchen banger Lauf;
Er geht im Haſſen wie im Lieben
In der Geſchwiſter Reigen auf.
Und tobt mit ungeheurem Wüthen
Endlos ums Daſein Krieg auf Krieg:
Die Schmerzen wird ein Gott vergüten,
Denn ſieh! — Die Beſten krönt der Sieg.
Die Muſe ſcheut vor Weihrauchſpenden,
Vor breiten Lobgeſanges Prunk;
Doch zu den Bildern, die wir ſenden,
Fügt ſie die ſchlichte Huldigung.
Empfang' in ihnen wen'ge Zeugen —
Der Tauſende ſo wen'ge nur —
Die Deinem Genius ſich beugen
Erkenner Du der All-Natur!
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Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
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