Skip to main content

Full text of "Kosmos"

See other formats


61 
Fi 


7.870 
j 1 ! 


0 0 


Nd 
KA 


7 

12 5 8 
ver rat 
799 
Kar 


* * * en 4 M N 0 5 72 fi EN 
it eh 12 7 - a lee 
1235 


26588144 Au er 
I 


5 
HG 
N 


165 


Kosmos. 


Zeilſchrift 


für 


einheitliche Föleltanſchauung nuf Grund der Entwicklungslehre | 


in Verbindung 
mit 
Ehurles Darwin und Ernst Haeckel 


ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Darwinismus 


herausgegeben 
von 


Prof. Dr. Otto Caspari Prof. Dr. Gufav Jäger 


(Heidelberg) (Stuttgart) 


Dr. Eruſt Krauſe 


(Carus Sterne) 
* (Berlin). 


II. Jahrgang. III. Band. 


April bis September 1878. 


4 


JJ 7 
Ernſt Günther's Verlag 
(Karl Alberts). 


1 pr * 5 W u 9 1 00 
2 e lieh 1 1 


| Er * l syn. La . 
Ren eee r N 


9 1 

. % | Re rl | Au e 
a Rau, RN ee ERST a) he * Be 2 Bi; 
en 8 g 


N \ 


7 l . 


7 


u A W dee A e 


120 


W 


* 


Derzeihniß der Mitarbeiter 


am dritten Bande des Kosmos. 


Fr. v. Bärenbach (374—377), O. Beccari (38 —48), B. Carneri (467 
— 475), Prof. Dr. O. Caspari (367 —374), Prof. Dr. J. Delboeuf (500 
— 515), Baron N. Dellingshauſen (297-306), Dr. A. Dodel-Port 
(189-196), Dr. W. O. Focke (171—176), Prof. Dr. S. Günther (289 
294), Prof. Dr. E. Haeckel (10 —21, 105—127, 215 — 227), Dr. E. 
Krauſe (68-81, 516 530), Dr. H. Kühne (307 313), Dr. A. Lang 
(258— 260), Al. Maurer (427-433), Dr. Fritz Müller (84 —85, 178—179, 
228 — 231), Dr. H. Müller (314—337, 403-426, 476 - 499), Dr. C. 
Mehlis (363—364, 452 462), Dr. Frh. C. du Prel (1-9, 383 395), 
Prof. Dr. W. Preyer (22-37, 128-132), Rud. Redtenbacher (201 —214) 
W. v. Reichenau (133 — 147), Dr. G. Seidlitz (268 — 280), Herbert 
Spencer (49— 67, 148 - 167, 232 — 243, 338—351), Dr. H. Vaihinger 
(92—98, 262 268, 365367), J. E. Zilleken (253 258). 


—— . — 


. 1 8 A 
ee A h 4 


il IF Ic * * e 6 „ 5 15 
= n * 1 3 3 
ere 2 

. De NEN 5 ital Reh 5 * 7 u, 

r u A vi BR 1 1 
1 8 ER Ad, mi ** 4 . 9 * rt 
ee i # j 


1 Da RN 
ln: g 1. d Ehe 1 * U ne 


eee e I N 
e | nk wire 9 Bin 70 j 1 A 


N. Int ra . N Kl: 


in): Al ) 


| 
| 
Inhalt des dritten Bandes. 


Seite 
Das Leben im Kosmos. Von C. du Brel. i 1 
Das Protiſtenreich. Mit Illuſtr. Von E. Haeckel. . 10. 105. 215 
Sur PBhnologie Neugeborener. Von W. Preger 22. 128 
Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. Mit Illuſtrationen. Von 
O. Beccari PF ᷣ . | 13470 Mrale, 
Die Herrſchaft des Ceremoniells. IV. V. VI. VII. e Von Herbert 
Sener „ 
Die Ablöſung der . Von E. Kra Ri 3 
Das Thierreich vom Geſichtspunkt der Anpaſſungs— Yes, 7 W. 5. 
Reichenau. ’ 133 
Zur Experimental -Aeſthetik. Von Rud. Renten i 201 
Die Königinnen der Meliponen. Von Fritz Müller 228 
Prof. Th. Schwedoff's neue Hypotheſe über den Urſprung der N 
Von N. v. Dellingshaufen. 295 
Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der en ar Von 1 Kühne 307 
Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. I. II. III. Mit Illuſtr. Von 
r CCC 
Die Planetenbewohner. Von C. au e 383 
Harvey über die Erzeugung der Thiere. Von W. . 396 
Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. Von Al. Maurer 427 
Ziel und Zweck. Von B. Carneri . 467 
Der Daltonismus. Von J. Delboeuf . . 500 
Ueber den Gebrauch der Pfeilgifte im vorgeſchichtlichen 5 0 Von E. e 516 


VI Inhalt. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Seite 

Die Fortſchritte der ſynthetiſchen Mineralogie und die e Darſtellung ver— 
ſchiedener Edelſteine .. ; „„ 12157 282 
Wo hat der Moſchusduft der Se 5 Sig ? Von Fritz Müller 84 
Cocon⸗Mimiery? Mit, Iunſũitet rt. 
Dr. Pizarro's Batrachichthys, Mit Jluſieieirt,. 
Die jog. pſeudo⸗elektriſchen Organe der . „ „ ee 
Der Mars und feine Monde .. E „% 
Die geſchlechtliche Zuchtwahl im lungen, Von W. eff, 
Die Vorkeime von Gymnogramme leptophylla Des 176 
In Blumen gefangene Schwärmer. Von Fritz Müller. . 178 
Dis Ackerbau treibenden Ameiſen in Teras 
Dos Eibrponalkleid der ß ner 
ns und Talmnd ey 
Land und Leute „ e ß 
Blumen der Luft .. i en 
Das Relief der Gebirgeſtöcke Em die Gehabe 15 Eroſtonsthäler 3 
Suporta’s Unterſuchungen über die ſog. NöggerathieAansns .. . 247 

Ueber den Einfluß des Auftretens höherer Lebensformen auf den Bau der älteren 
Krokodil-Arten . 252 

Profeſſor Mante gazza's Neogeneſis 0 feine Anſichten über ie eic leer 
Formunterſchiede der Thiere. Von J. E. Zilleken .. 253 
De Maillet's Phantaſien über die 1 der Arten. Von Arn. ig 258 
Das Wiederaufleuchten der Sterne 
Die Parthenogeneſis im Pflanzen reich. .. 355 


Die Kometenform der Seeſterne und der Geert er ch deen 
Mit Illuſtrationen . 

Raub⸗Raupen e 

Neuere vorgeſchichtliche eee Von C. Mehlis 

Ein neuer Mondkrater 

Metamorphismus der Geſteine aus wehen Urſachen 

Interfamiliäre Variation : 

Das Leibpferd Cäſar's und die Oe a Pferde 

Ueber das Vorkommen und die Bedeutung überzähliger Brüſte und Ban 
beim Menſchen . 

Die Furcht der Affen vor den stage 3 

Der Planet Vulkan 

Die Kataplexie und der chieriſche Hypnstismuts 

Die Statiſtik der Farbenblindheit 


— — — 


Inhalt. VII 
Literatur und Kritik. 5 
Seite 
(Kapp's) Philoſophie der Technik. (Von H. Vaihinger) 92 
(Siciliani), Ueber die zoolog. Philoſophie des 19. Jahrhunderts... 98 
Günther, Dr. S., Studien zur Geſchichte der et und phyſikaliſchen 
Geographie .. „„ 0 
Nägeli, C., Ueber die e 15 Spalpilz ex. (Von A. Dodel-Port) 189 
Pivany, J. A., Entwicklungsgeſchichte der Welt und des Erdgebäudes .. 196 
Jordan, W., Andachten. . r 
Qu'est ce que la matiere? (Von H. 8): 
Huber, Joh., Die Forſchung nach der Materie. .. 262 
Hartmann, E. v., Das Unbewußte vom Standpunkt der onen hub 
ne (Bon G Seidl . 268 
Zwei neue Schriften über Göthe's Verhältniß zur Evolutions— ne 
Cattie, J. Th., Göthe ein Gegner der Descendenz Theorie. 


„Kaliſcher, S., Göthe's Verhältniß zur Naturwiſſenſchaft. .. 280 
Dellingshauſen, N., Grundzüge einer Vibrationstheorie der Natur. 
— —;, Beitäge zur mechaniſchen Wärmetheorie. 


— , Die rationellen Formen der Chemie auf Grundlage der mechaniſchen 
Wärmetheorie. (Von S. Günther. . . . e 
Kramer, P., Theorie und Erfahrung. (Von S. Gunther) „„ 
Spencer, H., Die Prinzipien der Sociologie. lll. 294 
die Spfer der Wiſſenſco fl. 2296 
Der Darwinismus und die Ethik. (Von H. V.): ? 
Carneri, B., Der Menſch als Eelbftzwed . . » » . 2... 865 
ue mann s in Sicht len 7367 
Harms, Fr., Die Philoſophie ſeit Kant. (Von Fr. v. Bärenbach.) . . 374 
dei Koarbenfint. nnn ea a 
Knauer, Fr. K., Naturgeſchichte der Lurche. .. 1 
Deutſches Archiv für Geſchichte der Medizin und in Soap RR 
Abnahme des Bienenfleißes in Auſtralien .. u 
Schmick, J. G., Sonne und Mond als Bildner 95 Erdſchalle. . 
Pöſche, iir... ae: E 
Schliemann, H., Mykenä. (Von C. Mehli 80 „ 
Müller, Cophus Die nordic! oer 4562 
Darwin! s, Ch. Geſammelte Werfk ee lei 539 
Descend enz-Theorie und Socialdemokratie .. 540 
Dodel-Port, A. und C., Anatomiſch— lege Atlas 15 Botanik für 
Hoch⸗ und Mittelſchulen (von H. Müller)) 546 


Offene Briefe und Antworten. 199. 466 


* EN e 9 5 

N 4 * 11 45 6 a PER 1 

N 0 Fan 9519 DE U » Be 

8 { | s re . A 

ea e * no, 88 
af h 


Aut . 
405 15 IR, 3 rs 


a 


a 


n 
ia „ In 


„ 


n f | I DEREK, 62 
"u 2 W N 

oo a 

i e Ne re ene * 


b Er * 7539 | * j 28 7 Pe u a 41 nr 2 


14. 4 2 3 1 e 1 * 1 “ 2 \ 79 * 4 * . * h * . w u 9 
en 8 . N 0 1 3 e * 
. Rn AR + * l * 4 ai ra 8 # 1 Fi 1 


x 1 9 * * I 1 "A 7 * 5 Ne * N a N. ar * ie we A 2 * 7 
DET 2 N nA ar 
N 5 an * 16 N , N ' 4% nr 10 Ik: 11 4 x Me 1 N N Br v 


gt 1 Vi 7 * 1 "91 1 n a WA . fi 
ware ä P Br a 2 


” 5 * 5 
2 A e * 


* T * 
* 
B 
5 | 
V aa * 
1 
* 1 
1 . 
A S 
1 I STE 
1 * 1 * 
9 - 
5 0 f 5 5 — 
7 h * 
* N Le 4 1 
N 
1 u 7 1 
Pr A 
. 9% b „ 0 
1 50 1 N 
* 5 
31 — — 
ar + 
au * 
0 N e 7 
> 
5 # 
a 05 4 1 
Ir * 
4 
ı ( 2 
* = 
4 + N 
1 
. 
. 
* a. # 
a f 


Das Leben im Kosmos. 


Von 


Carl du Prel. 


Wahrheit, als paradox verlacht 
zu werden, wenn ſie zum erſten 
Male ausgeſprochen wird ; ſchließ— 
lich aber als Gemeinplatz ver— 

achtet zu werden, wenn ſich die Menge an 
ſie gewöhnt hat. So wird es — es liegt 
dies in der Natur der Sache — in alle 

Ewigkeit bleiben, weil jede Wahrheit als 

Meinung eines Einzelnen entſteht, und höch— 
ſtens von der Minorität der Einſichtigen 

bewillkommnet wird, während die öffentliche 
Meinung ſie ablehnt; in dieſem Widerſtreit 

aber erhält ſich die Wahrheit gleichwohl 

vermöge ihres inneren Werthes und ihrer 

größeren Uebereinſtimmung mit der Wirk— 

lichkeit. Da es nun auf Erklärung dieſer 

Wirklichkeit ankommt, ſo iſt die Wahrheit 

viel concurrenzfähiger als der Irrthum, 

muß alſo zum Durchbruche gelangen, und 

kann nicht leicht wieder verloren gehen. 

Iſt fie aber von der Majorität angenom- 

men, dann hat ſie auch längſt ihren para— 

doxen Anſchein verloren und gilt als von 
ſelbſt verſtändlich, d. h. als Gemeinplatz. 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


8 iſt das Schickſal einer jeden 


So iſt es auch mit dem Gedanken der 
Mehrheit bewohnter Welten, der, obwohl 
Bruno für ihn den Feuertod ſtarb und 
Campanella ſieben Mal die Tortur 
erlitt, aus der Vorſtellung der Menſchheit 
nicht mehr weicht, weil er im Grunde nur 
die Kehrſeite jener anderen Wahrheit iſt, 
welche die Erde für ein Geſtirn erklärt. 

Wenn wir des Abends vom Jahrmarkte 
des Lebens hinwegſchleichen und der Be— 
trachtung des geſtirnten Himmels einige 
Augenblicke widmen, dann iſt es nicht allein 
die äſthetiſche Pracht dieſes Anblicks, die 
uns anregt und jene Beruhigung über uns 
ergießt, von der die Lyriker reden; auch 
veligiöfe und, je nach der Perſönlichkeit, 
philoſophiſche Empfindungen mengen ſich 
hinein, und in dem metaphyſiſchen Dunkel, 
von dem wir uns umwoben fühlen, ver- 
halten wir uns nicht unähnlich den Kindern 
im phyſiſchen Dunkel: Wie es dieſen zur 
Beruhigung gereicht, nicht allein zu ſein, ſo 
wird auch uns die Beängſtigung, die der 
Anblick des großen Pan hervorruft, ge— 
mildert, indem wir die zahlloſen Gefährten 


der Erde erkennen. Wohl beſchwert uns 
die Frage nach dem Zwecke und der Be— 
deutung des Daſeins, aber es beruhigt uns 
zu ſehen, daß gleich der Erde noch Tau— 
ſende von Geſtirnen unbekannten Geſchicken 
entgegenrollen. N 

Dieſe Beruhigung könnte aber nicht 
entſtehen, hätten wir nicht die dunkle Ahn— 
ung, daß auch jene ungezählten Geſtirne 
Welten ſeien, und würden wir nicht un— 
willkürlich den Begriff des Bewohntſeins 
damit verknüpfen. Freilich ſind wir dabei 


in einem Irrthum befangen, und es bedarf 
nur des Hinweiſes, daß alle Fixſterne Ge⸗ 


bilde gleich unſerer Sonne ſeien, um uns 
vor übereilten Schlußfolgerungen zu be— 
wahren. Wenn aber die Wiſſenſchaft in 
dieſer Hinſicht unſerer Phantaſie allerdings 
Zügel anlegt, ſo verneint ſie darum noch 
keineswegs die Frage nach der Mehrheit 
bewohnter Welten; ſie will vielmehr der be— 
jahenden Antwort nur eine feſtere Begründ— 
ung geben, als die in jener unklaren 
Empfindung liegt, womit wir das Gewim— 
mel der Sterne betrachten. Sie lehrt uns, 
daß alle dieſe Sonnen um ihre Are ſich 
drehen, daher gleich der unſrigen Begleiter 
abtrennen müſſen, auf welchen in den man— 
nigfaltigſten Formen das Leben ſich regen 
mag. 

Wenn aber die mittelalterliche Theologie 
dieſem Gedanken abhold ſein mußte, ſo hat 
ihn dagegen die moderne Teleologie will— 
kommen geheißen als einen weiteren Beleg 
für die Naturvollkommenheit, die doch ſehr 
in Frage gekommen wäre, wenn dieſe Son— 
nen keinen anderen Zweck hätten, als un— 
ſere Nächte zu erhellen. 

Eine unbefangene Prüfung der That— 
ſachen wird uns aber zu der Erkenntniß 
führen, daß, wenn wir auch berechtigt ſind, 
das Phänomen des Lebens über den Kos— 


du Prel, Das Leben im Kosmos. 


mos auszudehnen, dieſem Gedanken doch 
keine teleologiſche Tragweite zukommt. Um 
ſo mehr dürfte aber eine Unterſuchung die— 
ſes Problems angezeigt ſein, als hierin 
eine Verſtändigung jedenfalls leichter zu 
erzielen iſt, als wenn wir die Löſung 
des teleologiſchen Problems innerhalb der 
irdiſchen Erſcheinungen ſuchen; ja dieſer 
letztere, ſchon allzulange währende Streit 
wird hierdurch gewiſſermaßen überflüſſig 
gemacht. f 

Wenn der Teleologe aus dem Ueber— 
wiegen der zweckmäßigen Erſcheinungen in 
der Welt auf eine proportionirte intelli— 
gente Urſache ſchließt, wenn er behauptet, 
die Annahme ſei widerſinnig, daß die Bild— 
ung der Welt weniger Vernunft zur Vor- 
ausſetzung haben ſolle, als die Erkenntniß 
und Erklärung eben dieſer Welt durch den 
menſchlichen Intellekt, und wenn er ſich 
verſperren ſollte gegen die Zulänglichkeit 
der natürlichen Geſetze zu dieſer Erklärung, 
und demgemäß den hyperphyſiſchen Urſprung 
der Zweckmäßigkeit behauptet, — dann 
können wir ihm, um raſcher auf den 
eigentlichen Punkt des Streites zu kommen, 
proviſoriſch alles dieſes zugeben, werden 
ihm aber Folgendes zu bedenken geben: 
Die zweckmäßige Einrichtung eines Gegen— 
ſtandes beſagt nur ſeine Angemeſſenheit für 
einen beſtimmten Zweck, ſagt aber durch— 
aus noch nichts über dieſen Zweck ſelbſt 
aus. Ein Inſtrument mag ſehr ſinnreich 
ſein, ganz unabhängig von dem Gebrauche, 
der davon gemacht wird; unſere Taktik iſt 
ſehr zweckentſprechend, aber die Schlachten 
entſprechen darum keineswegs unſerem mo— 
raliſchen Ideale. 

Zweckmäßige Erſcheinungen giebt es in 
Hülle und Fülle, vom Mechanismus des 
Planeten bis zum Rüſſel des honigſaugen— 
den Inſektes; aber wenn die Teleologie 


— T— — 


du Prel, Das 


nicht etwa nur eine Weltanſchauung für 
den kalten Verſtand ſein will, dann hat 
ſie noch Anderes zu erweiſen; wenn ſie 
den Accent auf das ſchneidige Gebiß des 
Haies legt, ſo wird eine Weltanſchauung 
des Gemüthes ihn vielmehr auf die Em— 
pfindung derjenigen Weſen legen, welche 
die zweckmäßige Einrichtung dieſes Gebiſſes 
an ſich erfahren. 

Wir werden alſo den Teleologen an 
ſeine Obliegenheit erinnern, nicht nur das 
Mittel zu beurtheilen, ſondern auch die 
Weisheit und Güte des Endzwecks zu be— 
weiſen; wenigſtens werden wir uns nicht 
für abgeſpeiſt erklären durch den Nachweis 
der Angemeſſenheit eines Dinges für den 
zunächſt liegenden Zweck, und werden 
mindeſtens das verlangen, daß innerhalb 
der Skala der Zwecke, welche auf den 
Endzweck des Kosmos hinzielen, irgend 
ein höheres Glied nachgewieſen und die 
Angemeſſenheit der Mittel hierfür aufge— 
zeigt werde. 

Um nicht Widerſpruch hervorzurufen, 
wird alsdann der Teleologe wohl auf die 
Darſtellung des Endzweckes verzichten; er 
wird aber aus logiſchen Gründen zugeſtehen 
müſſen, daß in der langen Reihe der cau— 
ſalen Veränderung ein jedes Glied in Be— 
zug auf die vorhergegangenen Glieder als 
Wirkung, in Bezug auf die nachfolgenden 
als Urſache zu bezeichnen iſt, daß aber, 
wenn wir einen Endzweck vorausſetzen, 
jedes Glied in Anſehung der abgelaufenen 
Reihen als Zweck, in Anſehung der fol— 
genden als Mittel anzuſehen iſt, und daß 
ſich in der Reihe der Endzweck wenigſtens 
ſo weit offenbaren müſſe, daß kein mittleres 
Glied in Bezug auf dieſen geradezu zweck— 
widrig erſcheinen könne. Jede Stufe in 
der Entwickelung der Natur muß eine An— 
näherung an das Endziel in ſich enthalten, 


J e Pr = 


Leben im Kosmos. 3 


und da in der Reihe der kosmologiſchen 
Veränderungen die biologiſche Entſtehung 
des Bewußtſeins und die Steigerung die— 
ſes Bewußtſeins in der Geſchichte die letzte 
und höchſte der uns bekannten Wirkungen, 
alſo Mittel, darſtellt, ſo muß vom teleolo— 
giſchen Geſichtspunkte aus der Nachweis 
geführt werden können, daß die Erſchein— 
ung des Lebens im Kosmos durch die vorauf— 
gehenden Veränderungen allmälig vorbereitet 
werde. Wir werden zwar dem Teleologen 
den Nachweis erlaſſen, daß das Leben auf 
den Endzweck hinziele, nicht aber den, daß 
die Anordnung des Kosmos eine ſolche ſei, 
durch welche die Entſtehung und Steiger— 
ung des Bewußtſeins ſowohl zeitlich als 
räumlich am beſten garantirt erſcheine. 

Wir haben daher, wenn wir uns be— 
hufs dieſer Unterſuchung an das uns zu— 
nächſt liegende und beſtbekannte Sonnen- 
ſyſtem wenden, daſſelbe vom Standpunkte 
der Bewohnbarkeit kritiſch zu beurtheilen, 
und es entſtehen folgende Fragen: 

1. Wie viele Weltkörper unſeres Sonnen— 
ſyſtems können als bewohnt oder 
als in’ Zukunft bewohnbar angeſehen 
werden? 

2. Iſt die den einzelnen Geſtirnen zu— 
gemeſſene biologiſche Zeitlänge eine 
ſolche, daß wir daraus auf eine hohe, 
erreichbare biologiſche Stufe ſchließen 
dürfen? 

Eine unbefangene Unterſuchung dieſer 
Fragen wird nun gegen den Teleologen 
ausfallen, indem es ſich nachweiſen läßt, daß 
das Leben im Kosmos räumlich und zeitlich 
viel zu ſehr beſchränkt iſt, als daß wir 
die vorhergehende Entwickelung als eine 
Vorbereitung zu dieſem Lebenszwecke an— 
ſehen könnten. 

Die Spektralanalyſe weiſt die Anweſen— 
heit der irdiſchen Stoffe im Kosmos nach. 


1 


1 


Somit kann uns der Umſtand, daß wir 
ſpeciell von unſeren Planeten nur reflektir— 
tes Licht erhalten, welches über ihre che— 
miſche Zuſammenſetzung nichts ausſagt, 
und daß uns höchſtens die Abſorptions— 
ſtreifen ihres Spektrums einige Aufſchlüſſe 
gewähren, nicht hindern, die ungefähre 
qualitative Gleichartigkeit aller Planeten 
anzunehmen und zu behaupten, daß alle 
wenigſtens die Anlage zu bewohnbaren 
Weltkörpern in ſich tragen, wie die Erde; 
daß es ſich nur um die weitere Frage handeln 
kann, ob die äußeren Umſtände der Art 
ſind, dieſe Anlage zur Entwickelung zu 
bringen; daß endlich auf allen das Leben 
ſich nur einſtellen kann als das Reſultat 
eines längeren Entwickelungsganges, analog 
den irdiſchen Verhältniſſen. 

Nach phyſikaliſchen, durch die Spektral— 
analyſe als kosmiſch nachgewieſenen Ge— 
ſetzen iſt ferner als die erſte Bedingung von 
Veränderungen überhaupt die Sonnenwärme 
anzuſehen; durch den reſpektiven Abſtand 
der Planeten von der gemeinſchaftlichen 
Wärmequelle wird daher auch die ihnen 
zugemeſſene reſpektive Wärme, und damit 
die Intenſität der eventuell vorhandenen 
biologiſchen Proceſſe beſtimmt ſein. 

Wenn wir nun die wirklichen Alters— 
unterſchiede der Planeten vernachläſſigen — 
da dieſelben, an der Zeitlänge ihrer Lebens— 
dauer gemeſſen, wohl nicht in Betracht kom— 
men, und ihre Dauerunterſchiede in Richt— 
ung der Zukunft ungefähr als äquivalent 
angenommen werden können — ſo ſind 
die Planeten, nach ihren Sonnenabſtänden 
geordnet, zugleich qualitativ in Hinſicht 
auf ihre derzeitige oder künftige Lebens— 
energie geordnet. Wir werden weit leb— 
haftere Proceſſe bei den inneren Planeten 
annehmen können, als bei den äußeren, von 
welchen Jupiter 0,0372, Saturn 0,0111, 


du Prel, Das Leben im Kosmos. 


| 


Uranus 0,0026, Neptun 0,0011 der 
Sonnenwärme empfängt, welche die Erde 
trifft. 

Die organiſche Entwickelung eines Pla— 
neten wird um ſo langſamer von Statten 
gehen und um ſo ſpäter die Stufe denkender 
und ſelbſtbewußter Weſen erreichen, je weiter 
er von der Sonne abſteht, und da den 
Planeten nur eine zeitlich begrenzte Exiſtenz 
zugeſprochen werden kann, ſo wird das 
Mißverhältniß zwiſchen ihren kosmiſchen und 
ihren biologiſchen Zeitlängen ebenfalls um 
ſo größer ſein, je entfernter ſie von der 
Sonne kreiſen. Wenn aber ſchon die kos— 
miſche Exiſtenz der Erde uns in unberechen— 
bare Tiefen der Vergangenheit führt, wäh— 
rend ſich die Anweſenheit des Menſchen auf 
ihre jüngſten geologiſchen Schichten beſchränkt, 
jo geſtaltet ſich das Verhältniß noch viel 
ungünſtiger für die äußeren Planeten, die 
doch vermöge ihrer Größe und ihrer An— 
lage die Schauplätze viel ausgedehnterer 
Lebensproceſſe ſein könnten. | 

Wenden wir uns nun aber der Frage 
zu, ob denn alle Planeten in das Stadium 
der biologiſchen Proceſſe bereits eingetreten 
ſind, ſo iſt auch dieſe zu verneinen. Nach 
Analogie irdiſcher Verhältniſſe muß eine 
regelmäßige Entwickelung abhängig gedacht 
werden vom Stillſtande der geologiſchen 
Umwälzungen und dem Eintritte einer feſten 
Kruſtenbildung in Folge zunehmender Ab— 
kühlung. Nun ſind aber die Zeitlängen, 
innerhalb welcher ſich die Weltkörper ab— 
kühlen, höchſt verſchieden, und hier fällt der 
Vergleich abermals zu Ungunſten der großen, 


äußeren Planeten aus; denn die Oberflächen 


der Planeten — und dieſe ſind ja auch 
die Abkühlungsflächen — ſtehen im Ver— 
hältniſſe des Quadrats des Halbmeſſers, 
während ihr Inhalt, alſo ihr Wärmevor— 
rath, mit dem Cubus des Radius wächſt. 


Wenn wir daher an der Erde einen Er— 
ſtarrungsproceß bemerken, der nur erſt ihre 
äußerſten Oberflächenſchichten erfaßt hat, ſo 
ſcheint dagegen aus der Theorie zu folgen, 
daß die großen Planeten vermöge ihres 
ungleich gewaltigeren Umfanges noch lange 
nicht in dieſes Entwickelungsſtadium getre— 
ten ſind. Die Erfahrung aber beſtätigt 
die theoretiſche Folgerung, und zahlreiche 
Beobachtungen beweiſen, daß die großen 
Planeten noch keineswegs jenes Abkühlungs— 
ſtadium erreicht haben, welches ſie zu Wohn— 
ſtätten denkender Weſen geeignet machen 
könnte. 

Wenn Jupiter vermöge ſeines Sonnen— 
abſtandes nur 0,0372 der die Erde treffen— 
den Sonnenwärme empfängt, ſo läßt ſich 
daraus auf eine geringere Energie der me— 
teorologiſchen Veränderungen um ſo mehr 
ſchließen, als bei ihm vermöge der Stell— 
ung ſeiner Axe die Jahreszeiten fehlen; die 
äußerliche Beſtrahlung kann daher keine 
ſtarke Entwickelung atmoſphäriſcher Dämpfe 
nach ſich ziehen. Nun iſt aber thatſächlich 
die Atmoſphäre Jupiters von Dämpfen in 
viel höherem Grade geſättigt, als die At— 
moſphäre der Erde, es kann alſo dieſe be— 
deutende Dampfentwickelung nur auf der 
Eigenwärme unſeres größten Planeten be— 
ruhen. Es laſſen ſich in den oberſten 
Wolkenhüllen Jupiters oft elliptiſche weiße 
Flecken beobachten, welche unbeſtimmt be— 
grenzte und veränderliche Schatten auf tiefer 
liegende Schichten werfen, welche letzteren alſo 
nicht dem feſten Kerne Jupiters angehören 
können, ſondern ſelbſt wieder veränderliche 
Wolkenſchichten ſein müſſen. Für die Höhe 
der über einander gelagerten Wolkenſchichten 
hat — wie erſt jüngſt (Kosmos, Band J. 
S. 435) berichtet wurde — Proctor 
ein Minimum von 6000 Meilen berechnet. 


du Prel, Das Leben im Kosmos. 


5 


liche Veränderlichkeit in der Zeichnung und 
Färbung dieſer Schichten, wofür ebenfalls 
die äußerliche Sonnenwärme keine hinläng— 
liche Urſache ſein kann. Endlich ſind noch 
die Bewegungserſcheinungen in den äqua— 
torealen Streifen des Jupiter zu erwähnen; 


da dieſe Streifen weder mit dem Fort— 


ſchreiten des Tages noch des Jupiterjahres 
ſich bewegen und verändern, demnach keinen— 
falls auf die Sonne bezogen werden kön— 
nen, ſo müſſen ſie durch die intenſive Hitze 
des Jupiterkerns erzeugt werden, daher denn 
auch Proctor auf das Auf- und Nieder- 
wogen erhitzter Dampfmaſſen ſchließt. 
Nach Vogel's „Unterſuchungen über 
die Spektra der Planeten“ charakteriſirt ſich 
das Spektrum der dunklen Streifen Jupi— 
ters hauptſächlich durch die ſehr ſtarke und 
gleichmäßige Abſorption, welche die blauen 
und violetten Strahlen erleiden. Zwar 
treten keine neuen Abſorptionsſtreifen auf, 
aber die vorhandenen werden verbreitert 
und verſtärkt, als ſchlagender Beweis dafür, 
daß die dunklen Theile auf dem Jupiter 
tiefer gelegen ſind. Das Sonnenlicht muß 
alſo hier einen längeren Weg durch die 
Atmoſphäre zurücklegen und erleidet hier— 
durch eine ſtarke Veränderung. Merkwür⸗ 
dig iſt auch eine ſehr dunkle Bande, die 
ſich im rothen Theile des Jupiterſpektrums 
zeigt, und welche ſich auch in den Spektren 
der rothen Fixſterne, z. B. c Orionis und 
% Herculis, findet, alſo bei jenen Sternen, 
welche im Verlaufe der Abkühlung bereits 
das Stadium der Rothgluth erreicht haben. 
Alle dieſe Erſcheinungen ſcheinen darauf 
hinzudeuten, daß der Kern Jupiters noch 
im feurig⸗-flüſſigen Zuſtande ſich befindet, 
wenigſtens noch nicht ganz mit Schlacken 
überzogen, und daher von einer hohen und 
ſchweren Atmoſphäre umgeben iſt. 


Hierzu kommt aber noch die außerordent— Saturn, obwohl kleiner als Jupiter, 


6 


beſitzt doch einen äquatorealen Durchmeſſer, 
der den der Erde etwa um das Zehnfache 
übertrifft. Auch hier darf ein Theil des— 
ſelben auf die Atmoſphäre bezogen werden, 
welche ebenfalls dichte Wolkenanſammlungen 
trägt. So wenig, als bei Jupiter, iſt bei 
Saturn an die Verdampfung von Flüſſig— 
keiten durch die Sonnenwärme zu denken; 
denn bei ſeinem Sonnenabſtande könnte 
Waſſer nur in Geſtalt von Eis vorhanden 
ſein. Wie es die Theorie erfordert, ſind 
die Veränderungen in der Atmoſphäre die— 
ſes Planeten geringer, als bei Jupiter; daß 
ſie gleichwohl viel intenſiver ſind, als bei 
der Erde, und daß wir die eigentliche Ober— 
fläche des Saturn nicht ſehen, geht aus 
verſchiedenen Beobachtungen hervor: Her— 
ſchel machte zu Anfang dieſes Jahrhun— 
derts die Wahrnehmung, — welche von 


Schröter, Airy, Schiaparelli und 


Anderen beſtätigt wurde, — daß damals 
der längſte Durchmeſſer dieſes Planeten 
nicht der äquatoreale war, ſondern mit die— 
ſem einen Winkel von 45“ bildete, jo daß 
Saturn das Anſehen eines Rechtecks ge— 
wann. Da dieſe Veränderung ſich nicht 
auf Sonnenwärme zurückführen läßt, fo 
muß ſie auf gewaltige Kräfte bezogen wer— 
den, die von der Oberfläche Saturns aus— 
gingen. 

Auch die von Struve beobachtete Ver— 
breiterung des Saturnringes in der Richt— 


ung gegen den Planeten, ſcheint keine andere 


Erklärung zuzulaſſen, als eine ſeit der 
Entdeckung der Ringe eingetretene Abkühl— 


ung der Oberfläche Saturns, welche den 
höheren atmoſphäriſchen Dämpfen geſtattete, 


ſich zu condenſiren und an den inneren 


Rand des Ringes anzuſetzen. 


Endlich zeigt auch Saturn die ſehr 
intenſive Bande im rothen Theile ſeines 
Spektrums, wie Jupiter. 


du Prel, Das Leben im Kosmos. 


+ 
| 


Bei Uranus hat die Spektralanalyſe 
eine Atmoſphäre nachgewieſen, welche der— 
jenigen des Jupiter und Saturn mehr 
gleicht, als der irdiſchen, und Gaſe enthält, 
welche in unſerer Atmoſphäre fehlen. Da 
auch hier an eine Verdampfung von Flüſſig— 
keiten in der Sonnenwärme nicht zu denken 
iſt, ſo muß die Beſchaffenheit des Planeten 
ſelbſt die Erſcheinung erklären, der bei einem 
etwa vier Mal größeren Durchmeſſer, als 
der der Erde, ſich viel langſamer, als dieſe, 
abkühlen muß. 

Die gleiche Erklärung fordert endlich 
die Atmoſphäre Neptuns, die ſich mit der 
des Uranus faſt identiſch zeigt. 

Es folgt nun daraus, daß die äußeren 
Planeten nicht nur ungleich ſpäter in die 
organiſche Entwickelungsſtufe eintreten wer— 
den, ſondern auch, daß alsdann dieſe Pe— 
riode ungleich kürzer ſein wird, als bei 
der Erde, da ſie nur beſtimmt ſein kann 
durch die auf ihren Erſtarrungskruſten noch 
fühlbare Eigenwärme. Da die äußere 
Sonnenwärme für dieſe Planeten kaum 
in Betracht kommt, ſo werden ſie auch als 
Wohnſtätten nicht mehr gelten können, 
wenn ſie die unſerer Steinkohlenperiode 
entſprechende Entwickelungsphaſe zurückge— 
legt haben werden. Denn ſollte ſelbſt der 
ihnen derzeit zugemeſſene Antheil von Sonnen— 
wärme genügen, den biologiſchen Proceß, 
wenn auch in ſehr trägem Gange, über 
dieſe Periode hinaus zu verlängern, ſo 
wird ihnen doch dieſer Antheil nicht einmal 
unverkürzt zukommen. Es werden wohl 
noch Jahrmillionen vergehen, bis auf dieſen 
Planeten das organiſche Leben beginnen 
könnte; inzwiſchen wird aber auch die 
Sonne, deren Flecken die Bildung ihrer 
Erſtarrungkruſte bereits andeuten, eine weitere 
Abkühlung erfahren, ja vielleicht aufgehört 
haben, Wärme und Licht in erforderlichem 


du Prel, Das Leben im Kosmos. 7 | 


Grade zu ſpenden. Die kosmiſche Materie 
erſcheint ſomit in Anſehung des Lebens 
ſchlecht verwerthet in der Bildung großer 
Planetenmaſſen, da dieſelben relativ gerin— 
gere Oberflächen haben und viel längerer 
Abkühlungszeiten bedürfen, um ſich mit 
einer Kruſte zu überziehen. Es würde 
daher ſowohl der Schauplatz als die Dauer 
des Lebens ausgedehnt worden ſein, wenn 
ſtatt weniger großer Planeten ſehr viel kleine 
gebildet worden wären. 

So ergiebt ſich denn, daß das Leben 
in unſerem Planetenſyſteme zeitlich und 
räumlich in hohem Grade beſchränkt iſt. 
Abgeſehen von dem koloſſalen Mißverhält— 
niſſe zwiſchen den kosmiſchen und biologiſchen 
Zeitlängen ſehen wir, daß die kleinen Monde, 
weil längſt erſtarrt, nur mehr in ihren 
geologiſchen Schichten die verſteinerten Ske— 
lette ihrer früheren Bewohner einſchließen; 
daß die größeren Monde?) vielleicht jetzt 
noch einen trägen und jedenfalls nicht mehr 
lange währenden Lebensproceß unterhalten, 
daß aber die bedeutendſten Körper unſeres 
Syſtems in jeder Hinſicht weit zurückſtehen 
hinter den inneren Planeten: Merkur, 
Venus, Erde und Mars, bei welchen allein 
die Bedingungen für einen längeren und 
energiſchen biologiſchen Entwickelungsgang 
gegeben ſind. Das Kreiſen todter Welt— 
körper um einen Sonnenball, der nur kurze 
Zeit hindurch das Leben auf einigen ſeiner 
Begleiter zur Blüthe zu bringen vermag, 
aber auch ſelbſt nur kurze Zeit Organis- 
men tragen wird, deren Leben in ewiger 
Nacht verfließt: — dies iſt der Hauptbe— 

* Titan im Saturnſyſtem hat einen 
Durchmeſſer von 6400 Kilometer, iſt demnach 
größer, als Merkur und Mars: Ganymed, 
der dritte Jupitermond, hat bei einem Durch— 
meſſer von 5800 Kilometer mehr als das dop— 
pelte Volumen Merkurs und erreicht etwa /; 
der Marsgröße. 


ſtandtheil der Geſchichte unſeres Sonnen— 
ſyſtems. 

Wir haben noch diejenigen Weltkörper 
zu unterſuchen, welche, in weitaus über— 
wiegender Mehrzahl gegeben, auf langge— 
ſtreckten elliptiſchen Bahnen die Sonne in 
ihrem Laufe begleiten: Kometen und Meteo— 
riten. Denn können dieſelben auch nicht 
als bewohnt angeſehen werden, jo find fie 
doch erkannt als Bruchſtücke ehemaliger plane— 
tariſcher Körper, — ſogar organiſche Sub— 
ſtanzen ſind in den Meteoriten nachgewieſen 
worden, — um deren ehemalige Bewohn— 
barkeit es ſich alſo handelt. Bedenken wir 
aber die intenſive Kälte des Raumes, in 
dem ſie ſchweben, ſo verbleibt auch für ihre 
Bewohnbarkeit nur jene kurze Zeitſpanne, 
während welcher ihre Eigenwärme einen 
organiſchen Proceß unterhalten konnte. Ja 
nicht einmal dieſes dürfen wir ihnen ganz 
zugeſtehen: Es kann nämlich weder die Ge— 
ſtalt, noch die Funktionsweiſe von Orga— 
nismen für irgend einen Stern willkühr— 
lich vorgeſtellt werden, und müſſen dieſe 
überall in ihrer Beſonderheit als bedingt 
gedacht werden durch die gegebenen äußeren 
Exiſtenzverhältniſſe. Es kann nur ange— 
paßte Organismen geben, oder ſie müſſen 
ganz fehlen; das Leben muß überall aus 
inneren Funktionen beſtehen, welche den 
äußeren Relationen angepaßt find, Dem— 
nach erſcheint als die vornehmſte Bedingung 
eines regelmäßigen biologiſchen Entwickel— 
ungsganges eine gewiſſe Conſtanz der äuße— 
ren Verhältniſſe, durch deren plötzliche 
Umwandlung die Anpaſſung der inneren 
Funktionen aufgehoben, d. h. das Leben 
gefährdet würde. Zwar paſſen ſich die 
Organismen auch veränderlichen Exiſtenz— 
verhältniffen an, aber dieſes im Ver- 
laufe von Generationen wirkende Vermögen 
vermag nur bei langſamen Veränderungen 


8 du Prel, Das Leben im Kosmos. 


Schritt zu halten. Es iſt daher nicht 
denkbar, daß Organismen irgend welcher 
Art ſo beträchtliche Umwälzungen überleben 
könnten, wie ſie für Weltkörper perioden— 
weiſe eintreten, die in langgeſtreckten Bah— 
nen wandeln; ohne Zweifel müſſen die 
biologiſchen Proceſſe immer wieder abge— 
ſchnitten werden und eine allgemeine Ver— 
tilgung der Organismen periodenweiſe ein— 
treten für Weltkörper, welche nach langer 
Wanderung im kalten Raume ins Perihel 
zurückkehren und dabei Temperaturdifferen— 
zen erfahren, die, je nach ihrem Sonnenab— 
ſtande im Perihel, ſich nach Tauſenden von 
Graden bemeſſen. 

Demnach ſtellt ſich die Beſchränkung 
des kosmiſchen Lebens für unſer Syſtem 
ſo dar, daß von den unzählbaren Begleitern 
der Sonne nur die vier kleinen Planeten 
als Träger des Lebens ernſtlich in Betracht 
kommen können, — ein Verhältniß, das 
ſich analog auf alle anderen Sonnen über— 
tragen läßt. Zeitlich dagegen bekundet ſich 
dieſe Beſchränkung durch das für alle Welt— 
körper geltende große Mißverhältniß zwi— 
ſchen den kosmiſchen und biologiſchen Zeit— 
längen. Die Begleiter der Sonne werden 
dieſe nämlich jo lange umkreiſen, bis unter 
fortgeſetzter Verengung ihrer Bahnen ihre 
Tangentialgeſchwindigkeit durch den Wider— 
ſtand des Aethers, in dem ſie ſich bewegen, 
aufgezehrt ſein und der ſenkrechte Sturz 
gegen die Sonne eintreten wird. Die An— 
zahl der hierzu nöthigen Umläufe entzieht 
ſich jeder Berechnung; daß aber in der 
That die Planeten ihre urſprüngliche Ent— 
fernung nicht eingehalten haben, ſondern 
im Verlaufe der Jahrmillionen der Sonne 
ſchon näher gerückt ſind, das hat erſt jüngſt 
Llei n (Kosmologiſche Briefe, S. 292) durch 
eine intereſſante Tabelle nachgewieſen, worin 
er die urſprünglichen, abgeleiteten Entfern— 


ungen mit den derzeitigen mittleren Ent— 
fernungen vergleicht. Das Gleiche gilt 
aber von der Sonne ſelbſt in Anſehung 
der Centralgruppe, um welche ſie kreiſt; 
auch ihre Tangentialgeſchwindigkeit wird 
einſt ermatten. 

Es iſt nun aber die Umlaufszeit der 
Sonne um die Gruppe der Plejaden auf 
22½ Millionen Jahre berechnet worden, 
während andererſeits Helmholtz nachge— 
wieſen hat, daß die Sonne durch ihre bis— 
herige Verdichtung eine Wärme entwickelte, 
welche ihre gegenwärtige Ausgabe auf 22 
Millionen Jahre der Vergangenheit decken 
konnte, daß dagegen die künftige Verdicht— 
ung (bis zur Dichtigkeit der Erde) noch 
auf weitere 17 Millionen Jahre die In— 
tenfitat der Wärme unterhalten könnte, 
worauf derzeit die organiſchen Veränder— 
ungen beruhen. 

Unter dieſen Umſtänden erſcheint die Au— 
nahme faſt gewagt, daß die durchſchnitt— 
liche Dauer des ganzen Lebensproceſſes im 
Sonnenſyſteme jener langen Verdichtungs— 
zeit gleichkomme, — da ja die Planeten 
erſt im Laufe derſelben ſucceſſive vom 
Mutterkörper ſich abtrennten, — und doch 
würde dieſe Lebensdauer kaum zwei Umläufe 
der Sonne um die Plejaden ausfüllen, 
während die Geſammtzähl dieſer Umläufe 
auch nicht annähernd zu beſtimmen iſt! 

Es iſt nun aber weiter noch zu be— 
denken, daß unſere Sonne dem Mittelpunkte 
des Milchſtraßenſyſtems, nämlich der Ple— 
jadengruppe, relativ ſehr nahe ſteht — 
nach Mädler beträgt die Lichtzeit der 
Alcyone in den Plejaden 715 Jahre, die 
der entfernteſten Punkte dieſes Syſtems 
5521 Jahre, — daß dagegen allen außer— 
halb der Sonnenbahn kreiſenden Fixſternen 
nach Maßgabe ihrer Entfernung eine längere 
Exiſtenz zugeſchrieben werden muß, weil 


| du Prel, Das Leben im Kosmos. 


| 


eine zunehmende Dichtigkeit des Aethers 
von den äußerſten Grenzen des Milchſtra— 
ßenſyſtems gegen feinen Mittelpunkt anzu⸗ 
nehmen iſt. Wenn wir nun die Sonnen 
als ungefähr gleich groß annehmen, ſo wäre 
auch die durch ihre Leuchtkraft vermittelte 
biologiſche Zeitlänge für alle Begleiter der— 
ſelben die gleiche, und daraus würde ſich 
ergeben, daß die Leuchtperiode der Fixſterne 
— dieſer Culminationspunkt ihrer Ent⸗ 
wickelung in Anſehung des kosmiſchen Lebens 
— bei der überwiegenden Mehrzahl dieſer 
Geſtirne kaum ſo lange anhält, bis ſie nur 
einen Bruchtheil ihrer Bahnlängen während 
eines Umlaufs durchwandern, daß ſie da— 
gegen während unberechenbarer Zeiten ihren 
dynamiſchen Mittelpunkt als kosmiſche Leichen 
umkreiſen. f 

Faſſen wir das Ergebniß zuſammen. 
Der Teleologe muß unter der Vorausſetzung 
einer in der Weltordnung ſich kundgebenden 
Abſicht logiſcher Weiſe annehmen, daß die 
höchſte der uns bekannten Stufen kosmiſcher 
Entwickelung, das Phänomen des Lebens, 
eine Förderung der Endabſicht enthalte; er 
muß aber auch in dieſer Erſcheinung des 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


92 80 
Lebens, da ſie auf Erden thatſächlich gege— 
ben iſt, das Minimum deſſen anerkennen, 
was überhaupt ein Planet leiſten ſoll. 
Keine noch ſo große mechaniſche Zweck— 
mäßigkeit eines Sonnenſyſtems und keine 
noch fo große Anpaſſung feiner Organis⸗ 
men könnte ihn abhalten, ein ſolches Syſtem 
(oder einzelne Beſtandtheile deſſelben) für 
eine verfehlte Schöpfung zu erklären, wenn 
nicht wenigſtens die irdiſche Entwickelungs— 
höhe darin erreicht wird. 

Es liegt darum dem Teleologen noch die 
weitere Verpflichtung ob, nachzuweiſen, daß 
der Kosmos auf die Vernunft angelegt ſei, 
daß die ganze Anordnung der Syſteme und 
die einleitenden Entwickelungsſtufen ihrer 
Geſtirne auf das Lebensphänomen offenbar 
hinzielen. 

Es hat ſich aber gezeigt, daß dieſes 
nicht der Fall iſt, da nur ein Theil unſe— 
rer Planeten ſich zu Wohnſtätten denkender 
Weſen entwickeln kann und kaum ein Augen- 
blick in der Exiſtenz der Geſtirne dem 
unterſtellten Zwecke geweiht erſcheint, wäh— 
rend die kosmiſche Exiſtenz derſelben durch 
ganz irrationelle Zeitlängen ſich ausdehnt. 


Das Protiſtenreich. 
Von 


Ernſt Haeckel. 


ür das tiefere Verſtändniß unſerer 
heutigen Entwickelungslehre und 

= der darauf gegründeten einheit- 
1 lichen Weltanſchauung dürften 
. wenige Zweige der Natur⸗ 
wiſſenſchaften von ſo fundamentaler Bedeut— 
ung ſein, wie die Naturgeſchichte der 
niederſten Lebeweſen, der ſogenannten Pro— 
tiſten. Denn die urwüchſige Einfachheit 
im Körperbau und in den Lebenserſchein— 
ungen dieſer unvollkommenen „Urweſen“ 
öffnet uns erſt den wahren Weg für das 
Verſtändniß der viel verwickelteren und 
ſchwierigeren Erſcheinungen, welche uns 
die Anatomie und Phyſiologie der höheren 
und vollkommneren Organismen, der echten 
Thiere und Pflanzen, darbietet. Dennoch 
iſt die Bekanntſchaft mit den Protiſten faſt 
nur auf die gelehrten Fachkreiſe beſchränkt 
geblieben und erſt ſehr wenig in weitere 
Kreiſe eingedrungen. Das iſt auch leicht 
erklärlich. Denn die große Mehrzahl jener 
einfachſten Lebensformen, die wir im 
„Protiſtenreich“ zuſammenfaſſen, iſt dem 
unbewaffneten Auge völlig verborgen. Erſt 
durch das Mikroſkop können wir ſie er— 


TEN x 
— 
y 1 
) > 7 
v 2 


kennen und meiſtens ſogar erſt mit Hülfe 
ſtarker Vergrößerungen ihre Formverhält— 
niſſe genau erforſchen. Aber auch dann 
iſt dieſe Erforſchung noch mit vielen 
Schwierigkeiten und Hinderniſſen verknüpft. 
Denn die allgemeinen Anſchauungen vom 
lebendigen Organismus, die gewöhnlichen 
Begriffe von den Organen und Funktionen 
der Lebeweſen, welche wir aus der alltäg— 
lichen Anſchauung des höheren Thier- und 
Pflanzenlebens uns gebildet haben, paſſen 
nur wenig oder gar nicht auf jene nieder— 
ſten Lebensformen. Außerdem iſt aber 
auch die gründliche wiſſenſchaftliche Erforſch— 
ung der letzteren kaum vierzig Jahre alt; 
und erſt die ſehr ausgedehnten und ſorg— 
fältigen Unterſuchungen der letzten zwanzig 
Jahre haben ihre Kenntniß auf eine ſolche 
Höhe gebracht, daß wir gegenwärtig we— 
nigſtens eine befriedigende Vorſtellung von 
der Eigenthümlichkeit und eine klare Ein— 
ſicht in die Bedeutung des Protiſten-Reiches 
gewonnen haben. 

Wenn wir nun hier den Verſuch 
wagen, in allgemein-verſtändlicher Form 
eine kurze Ueberſicht über das ganze große 


Haeckel, Das Protiſtenreich— 


Protiſten-Reich zu geben und ſeine hohe 
Bedeutung für die Entwickelungslehre dem 
Verſtändniß der gebildeten Kreiſe näher zu 
bringen, ſo ſind wir uns der großen, da— 
mit verknüpften Schwierigkeiten wohl be— 
wußt. Wir glauben aber denſelben am 
beſten zu begegnen, wenn wir uns auf die 
gedrungene Zuſammenfaſſung des Wichtig 
ſten beſchränken, und die Bekanntſchaft mit 
dem höchſt mannigfaltigen und intereſſanten 
Detail dieſes unendlich reichen Forſchungs— 
Gebietes dem Studium der Special-Werke 
überantworten. Zunächſt wird ſicher für 
unſere moderne Entwickelungslehre und 
weiterhin auch für unſere damit verknüpfte 
moniſtiſche Weltauffaſſung ſchon viel ge— 
wonnen ſein, wenn eine allgemeine An— 
ſchauung von dem weiten Umfang des 
mikroſkopiſchen Lebensreiches, von der Ein— 
fachheit und elementaren Bedeutung des 


„kleinſten Lebens“ ſich einen Platz im Be— 
wußtſein unſerer gebildeten Kreiſe erobert hat. 
Die niederſten Lebeweſen, die wir hier 


als: Protiſten d. h. „Erſtlinge“ 
oder „Urweſen“ zuſammenfaſſen, wer— 
den in weiteren Kreiſen auch heute noch 
ſehr oft mit dem unpaſſenden Namen In— 
fuſorien oder Infuſionsthierchen (im 
weiteren Sinne!) bezeichnet. In den ſyſte— 
matiſchen Lehrbüchern der Naturgeſchichte 
werden fie meiſtens als Urthiere (oder 
„Protozoa“) aufgeführt. Die beſte 
deutſche Bezeichnung für die ganze große 
Gruppe wäre vielleicht: Zellinge oder 
Zellweſen; denn es würde dadurch die 
weſentlichſte Eigenthümlichkeit ihrer Orga— 
niſation, die autonome Selbſtſtändigkeit und 
permanente Individualität ihres einfachen 
Zellen-Leibes in präciſeſter Weiſe ausgedrückt. 

Obgleich viele von der Exiſtenz der 
meiſten mikroſkopiſchen Protiſten keine Ahn⸗ 
ung haben, ſo kommt dennoch jeder Menſch 


11 


unendlich oft mit ihnen in Berührung. Jeder 
hat beim Waſſertrinken, beim Eſſen von 
Früchten, Auſtern und anderen rohen Spei- 
ſen ſchon Tauſende und Millionen von 
lebenden Protiſten verſchluckt, ohne ſich 
deſſen bewußt geworden zu ſein. Denn 
obgleich dieſe merkwürdigen Geſchöpfe von 
dem unbewaffneten Auge des Menſchen zum 
größten Theile gar nicht erkannt oder höch— 
ſtens als ganz kleine Pünktchen wahrge— 
nommen werden, ſind ſie dennoch in zahl— 
loſen, höchſt mannigfaltigen und intereſſan⸗ 
ten Formen allenthalben über unſeren Erdball 
verbreitet. Unſere Mikroſkope weiſen uns 
dieſelben überall im ſüßen und ſalzigen 
Waſſer nach. Alle Bäche und Flüſſe, alle 
Teiche und Seen, alle Tümpel und Grä— 
ben enthalten ſolche Urthierchen, oft in un— 
glaublicher Maſſe. Man kann keinen 
Stein, keine Pflanze aus dem Waſſer 
heben, ohne in dem daran haftenden ſchlei— 
migen Ueberzug wenigſtens einige Infuſo— 
rien zu finden. Ebenſo iſt das Meer 
überall von ihnen bedeckt. Der weiche 
Schlamm, der den Meeresboden bedeckt, 
beſteht zum großen Theil aus dergleichen 
Protozoen. Der feine ſchlammige Ueber— 
zug, der bei ruhigem Wetter den klaren 
Meeresſpiegel überzieht, iſt aus Milliarden 
ſchwimmender Infuſorien zuſammengeſetzt. 
Aber auch der Staub unſerer Straßen, 
der Sand unſerer Dachrinnen, die Humus— 
Erde unſerer Felder und Wälder, enthält 
Millionen kleinſter Infuſions-Keime, ſowie 
eingetrocknete, aber noch lebensfähige Körper 
derſelben. Wir brauchen blos dieſen Staub 
und Sand in einem Glaſe mit etwas 
Waſſer zu übergießen und dieſen Aufguß 
einige Zeit in der Sonne ſtehen zu laſſen, 
um durch unſer Mikroſkop Maſſen von 
beweglichen Infuſorien wahrzunehmen; theils 
haben ‚fie? ſich in kürzeſter Zeitz aus jenen 


12 


Keimen entwickelt, theils find fie unter dem 
belebenden Einfluſſe des Waſſers aus ihrem 
Trockenſchlafe zu neuem Leben erwacht. 
Iſt es ja doch gerade dieſe Erſcheinung, 
die zu der Benennung: In fuſoria oder 


Infuſionsthierchen, d. h. „Aufgußthier⸗ 


chen“ Veranlaſſung gab. 

Es ſind jetzt kaum zweihundert Jahre 
verfloſſen, ſeitdem die mikroſkopiſchen In— 
fuforien durch den holländiſchen Natur- 
forſcher Anton van Leeuwenhoek 
zuerſt in einem Topfe voll ſtehenden Regen— 
waſſers entdeckt wurden. Die Holländer haben 
die zweihundertjährige Jubelfeier dieſer Ent— 
deckung, die damals das größte Aufſehen 
erregte, vor wenigen Jahren (1875) feier 
lichſt begangen; und ſie thaten Recht daran. 
Denn die wiſſenſchaftliche Tragweite der— 
ſelben iſt in der That unermeßlich, und je 
mehr wir mit unſeren vervollkommneten 
Mikroſkopen in die tiefſten Geheimniſſe 
des Lebens eindringen, deſto mehr werden 
wir uns ihrer Bedeutung bewußt. 

Unſere ganze Anſchauung vom Weſen 
des Lebens und von der Entwidel- 
ung der organiſchen Geſtalten iſt durch 
die genauere Kenntniß dieſer Urthierchen 
oder Infuſionsthierchen unendlich erweitert 
und gefördert worden. Anatomie und Phy— 
ſiologie, Entwickelungsgeſchichte und Syſte— 
matik verdanken ihr die wichtigſten Auf- 
ſchlüſſe. Selbſt für die Geologie haben 
ſie eine außerordentliche Bedeutung erlangt. 
Denn dieſe kleinſten Lebensformen haben 
keinen geringeren Einfluß auf die Bildung 
der mächtigſten Gebirgsmaſſen und auf die 
ganze Geſtaltung unſerer Erdrinde aus— 
geübt, als alle die zahlreichen großen Thiere 
und Pflanzen, die unſern Planeten ſeit 
Millionen von Jahren belebt haben. Die 
mikroſkopiſchen Kalkſchalen und Kieſelgehäuſe 
welche ſich die meiſten Urthiere bilden, blei— 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


ben nach dem Tode ihrer Bewohner un— 
verändert übrig. Sie häufen ſich auf dem 
Grunde der Gewäſſer maſſenhaft an, bil— 
den hier mächtige Schlammſchichten und 
werden im Laufe der Jahrtauſende zu feſtem 
Geſteine verdichtet. So ſind z. B. die 
Kreidegebirge von England und von der 


Inſel Rügen, ſowie die über der Kreidefor— 


mation abgelagerten eocänen Tertiärſchichten 
zum größten Theile, oft faſt ausſchließlich, 
aus den zierlichen Kalkſchalen der Polytha— 
lamien zuſammengeſetzt. Andere Geſteine, 
wie z. B. die tertiären Felſenmaſſen von 
Barbados und von den Nikobaren Inſeln, 
zeigen ſich zum größten Theil aus den 
reizenden Kieſelpanzern der Radiolarien ge— 
bildet. Viele von den Geſteinen, welche 
ſolchen Urthierchen ihre Entſtehung verdan— 
ken, liefern ein vorzügliches Baumaterial; 
und manche unſerer größten Städte find 
vorzugsweiſe aus dergleichen Steinen erbaut, 
ſo z. B. Wien und Paris. 

Die berühmten Tiefſee-Forſchungen der 
neueſten Zeit, zu denen die erſte Legung 
des atlantiſchen Telegraphen-Kabels den 
Anſtoß gab, haben jene felsbildende Macht 
des kleinſten Lebens in das hellſte Licht 
geſtellt. Sie haben uns gezeigt, wie noch 
heute in den tiefſten Abgründen des Mee— 
res unaufhörlich kreideartiges Geſtein aus 
feinſtem Meerſchlamm entſteht, und wie 
dieſer Schlamm faſt ausſchließlich aus den 
Kalkſchalen und Kieſelpanzern unglaublicher 
Maſſen von Urthierchen gebildet wird. Vor 
Allem ſind es hier die unvergleichlichen 
Entdeckungen der bewunderungswürdigen 


britiſchen Challenger-Expedition, welche 
uns mit einer Fülle neuer und überraſchender 
Anſchauungen über die „Mikrogeologie“, 
über das reiche, räthſelvolle mikroſkopiſche 
Leben der Tiefſee-Thäler bereichert haben. 

Wie nun die eifrigen Forſchungen des 


Haeckel, Das 


letzten halben Jahrhunderts unſere Kennt— 
niß vom Leben und Weben der Urthiere, 
von ihrer Geſtaltung und Entwickelung 
ungemein gefördert haben, ſo haben ſie 
auch unſere Anſichten von ihrer Stellung 
in der Natur und von ihrer ſyſtematiſchen 
Gruppirung ſehr weſentlich verändert. Das 
Syſtem der organiſchen Formen iſt ja 
immer mehr oder weniger der Ausdruck 
der Anſchauungen, welche wir von ihrer 
natürlichen Verwandtſchaft beſitzen, und ſo 
zeigen uns denn auch die großen Verän— 
derungen, welche das Syſtem der Urthiere 
im Verlauf der letzten Jahrzehnte erlitten 
hat, am klarſten den gewaltigen Umſchwung 
unſerer bezüglichen Vorſtellungen. Nachdem 
vor neunzig Jahren (1786) Otto Fried— 
rich Müller den erſten umfaſſenden Ent— 
wurf eines Syſtems der Infuſionsthierchen 
gegeben hatte, erſchien vor vierzig Jahren 
das große Prachtwerk des berühmten (1876 
verſtorbenen) Naturforſchers Ehren berg: 
„Die Infuſionsthierchen als vollkommene 
Organismen. Ein Blick in das tiefere 
organiſche Leben der Natur.“ Das war 
im Jahre 1838, in demſelben für die 
Naturwiſſenſchaft Epoche machenden Jahre, 
in welchem der geniale Botaniker Schlei— 
den in Jena zuerſt den Grund zu der 
ſo höchſt fruchtbaren Zellen-Theorie 
legte. In der That ein merkwürdiger 
Zufall, eine ſeltſame Ironie des Schickſals. 
Denn Ehrenberg war in ſeinem großen 
Hauptwerk vor Allem bemüht, das ihm 


eigene „Princip überall gleich voll⸗ 


endeter Entwickelung“ zur Geltung 
zu bringen. Er ſuchtz bei den Infuſorien 
eine ebenſo vollkommene Organiſation nach— 
zuweiſen, wie bei den höheren Thieren und 
beim Menſchen. Er glaubte überall Ner— 
ven und Muskeln, Darm und Blutgefäße, 
männliche und weibliche Organe unterſchei— 


Protiſtenreich. 


13 


den zu können. Gerade dieſes Princip 
war grundfalſch; vielmehr find die In⸗ 
fuſorien höchſt einfache Organismen: die 
meiſten haben nur die Bedeutung und den 
Werth einer einzigen einfachen Zelle, und 
ihr wahres Verſtändniß wird uns erſt 
durch die Zellentheorie gegeben. 

Der alte Name „Infuſionsthierchen“ 
wird heute nur noch auf einen kleinen 
Theil der mikroſkopiſchen Weſen angewendet, 
welche Ehrenberg in ſeinem großen 
Werke als ſolche beſchrieb. Nur die 
Wimperthierchen oder Ciliaten und die 
Borſtenthierchen oder Acineten, oft auch 
die Geißelſchwärmer oder Flagellaten 
werden heute noch in wiſſenſchaftlichen Wer— 
ken „Infuſorien“ genannt; die formen— 
reichen Kieſelzellen oder Diatomeen wer- 
den dagegen meiſt von den Botanikern zu 
den Algen gerechnet. Die Räderthierchen 
(Rotatoria), die für Ehrenberg ger ade 
den Typus der Infuſorien bildeten, ſind 
Würmer, alſo Thiere von viel höherer 
Organiſation. Dagegen bilden die Amo eben 
und ihre Verwandten heute eine beſondere 
wichtige Protiſtenklaſſe, die wir Lappen⸗ 
thierchen oder Loboſa nennen. Neben 
dieſen aber hat die fortgeſchrittene mikro— 
ſkopiſche Forſchung uns andere Klaſſen von 
Urthierchen kennen gelehrt, die viel zahl— 
reichere, merkwürdigere und mannigfaltigere 
Formen enthalten, als jene älteren Infuſions— 
thierchen: vor allen die wunderbare Klaſſe 
der Wurzelfüßler oder Rhizopoden, 
die Sonnenthierchen oder Heliozoen, 
die kalkſchaligen Thalamophoren und 
kieſelſchaligen Radiolarien. Dieſen 
ſchließen ſich eng die ſonderbaren Schleim— 
pilze oder Myxomyceten an, welche die 
Botaniker früher zu den echten Pilzen 
(Fungi) ſtellten. Aber auch die Stellung 


dieſer letzteren im Pflanzenreiche iſt ganz 


14 


zweifelhaft geworden und es beſtehen ge— 
wichtige Gründe dafür, ſie aus letzterem 
in das Protiſtenreich zu verſetzen. Als 
eine beſondere, intereſſante, wenn auch nur 
ſehr kleine Protiſtenklaſſe dürfen wir die 
Catallacten betrachten. Endlich finden 
wir unten auf der tiefſten Stufe jene höchſt 
einfachen, wunderbaren Urweſen, mit denen 
das organiſche Leben in denkbar einfachſter 
Geſtalt beginnt, die Moneren. 

Schon beim erſten Blick auf die wun— 
derbare Formenwelt, welche uns hier das 
Mikroſkop entſchleiert, wird ſich jedem Un— 
befangenen zunächſt die Frage aufdrängen: 
„Sind denn dieſe ſogenannten Urthiere oder 
Infuſorien wirkliche, echte Thiere und 
warum werden fie von den Naturforſchern 
in das Thierreich geſtellt?“ Dieſe Frage 
iſt vollſtändig berechtigt; ſie gehört zu jenen 
ſchwierigen Grundfragen der allgemeinen 
Biologie, deren Löſung durch unſere fort— 
ſchreitenden Kenntniſſe eher erſchwert als er— 
leichtert wird. Wenn wir nämlich alther— 
gebrachter Maßen die ganze organiſche Na— 
tur in die beiden großen Hälften: Thierreich 
und Pflanzenreich eintheilen, und wenn wir 
damit glauben, den natürlichen Gegenſatz 
zwiſchen zwei völlig getrennten Hauptgebieten 
auszuſprechen, ſo iſt dieſe Unterſcheidung zwar 
durch die feſtgewurzelte Anſchauung und den 
Sprachgebrauch von Jahrtauſenden geheiligt; 
aber logiſch begründbar und wirklich natur— 
gemäß iſt ſie nicht. Vielmehr lehren uns 
gerade unſere Urthierchen das Gegentheil. 
Je genauer wir deren Form und Lebens— 
erſcheinungen ſtudirt haben, je vollſtändiger 
uns ihre ganze Entwickelungsgeſchichte be— 
kannt geworden iſt, deſto klarer hat ſich 
herausgeſtellt, daß ſie eine ununterbrochene 
Verbindungsbrücke zwiſchen den tiefſten Stu— 
fen des Thierreichs und Pflanzenreichs her— 


ſtellen. So leicht und ſicher wir die höheren 


1 
| 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


und vollkommeneren Stufen der beiden 
großen Reiche von einander unterſcheiden 
können, ſo ſchwer, ja unmöglich wird dieſe 
Trennung auf den niedrigſten und unvoll— 
kommenſten Stufen. Denn hier ſind beide 
Reiche durch eine zuſammenhängende Kette 


von einfachen Uebergangsformen untrenn— 


bar verbunden. 

Die Erkenntniß dieſer wichtigen That— 
ſache, welche heute unzweifelhaft feſtgeſtellt 
iſt, hat zu den lebhafteſten Streitigkeiten 
über die Grenze zwiſchen Thierreich und 
Pflanzenreich Veranlaſſung gegeben. Sie 
hat zugleich die abweichendſten Anſchauungen 
über das Weſen der zweifelhaften Infuſo— 
rien hervorgerufen, die mitten zwiſchen den 
beiden großen Reichen der organiſchen Na— 
tur ein neutrales Grenzgebiet für ſich in 
Anſpruch nehmen. 

Während nämlich viele Infuſorien von 
den Zoologen für Thiere, von den Bota— 
nikern dagegen für Pflanzen erklärt, und 
demnach von Beiden annektirt wurden, 
hatten andere gerade das entgegengeſetzte 
Schickſal: ſie wurden von Beiden verſchmäht; 
bei einer dritten Gruppe von Infuſorien 
ſchien ſogar nur die Annahme übrig zu 
bleiben, daß ſie abwechſelnd als Thiere 
und Pflanzen lebten. Der daraus ent— 
ſpringende Streit über ihre wahre Natur 
ſcheint am einfachſten dadurch entſchieden zu 
werden, daß man den Begriff von 
Thier und Pflanze ſcharf umſchreibt, 
und dieſe unzweideutige Begriffsbeſtimmung 
auf jene zweifelhaften Mittelweſen anwen— 
det. Aber dieſe geſuchte Begriffsbeſtimm— 
ung ſelbſt iſt ein unlösbares Problem; je 
mehr Mühe man darauf verwendet hat, 
deſto klarer hat ſich herausgeſtellt, daß es 
überhaupt auf einer falſchen Frageſtellung 
beruht, und daß die Begriffe von Thier und 
Pflanze nicht in der Natur begründet ſind. 


Haeckel, Das 


Um nun den ſo entſtandenen Schwierig— 
keiten zu entgehen, und um zu einer ver— 
nünftigen Claſſification der organiſchen Weſen 
zu gelangen, iſt ſchließlich nur ein Ausweg 
übrig geblieben: nämlich die Aufſtellung 
eines dritten, ſelbſtſtändigen Reiches von 
elementaren Organismen: Das iſt unſer 
Reich der Protiſten oder Zellinge, 
das Reich der neutralen Urweſen. Wir 
faſſen demnach die ganze organiſche Natur, 
die Geſammtheit aller lebenden Weſen un— 
ſeres Erdballs, als ein großes einheitliches 
Ganze auf; und dieſes umfaſſende Univer— 
ſalreich theilen wir in drei Reiche: das 
Thierreich einerſeits, das Pflanzenreich an— 
drerſeits, mitten zwiſchen Beiden das neu- 
trale Reich der Protiſten. 

Um nun die Aufſtellung unſeres Pro— 
tiſtenreiches zu rechtfertigen, wollen wir 
einen flüchtigen Blick auf die verſchiedenen 
Charakterſeiten des Thier- und Pflanzen— 
reichs werfen. Es wird ſich dabei von 


ſelbſt ergeben, daß unſere Protiſten weder 
dem einen, nach dem andern vollſtändig 
Verweilen wir zunächſt einen 
der äußeren Geſammt⸗ 


entſprechen. 
Augenblick bei 
erſcheinung. So charakteriſtiſch uns da 
einerſeits das höhere Thier mit der Glie— 
derung ſeines Leibes und ſeiner Gliedmaßen, 
anderſeits die höhere Pflanze mit ihrem 
Stengel und ihren Blättern entgegentritt, 
ſo wenig reicht dieſe äußere Gliederung 
hin, um die niederen Formen beider Reiche zu 
unterſcheiden. Viele unzweifelhafte Thiere, 
wie z. B. die Korallen, die Schwämme, 
ahmen ſo vollkommen die Geſtalt echter 
Pflanzen nach, daß man ſie früher allge— 
mein für ſolche gehalten hat. Umgekehrt 
giebt es viele unzweifelhafte Pflanzen, wie 
z. B. viele Orchideen und andere Schma— 
rotzer, welche die Geſtalt echter Thiere nach— 
ahmen. Und was ſollen wir nun vollends 


Protiſtenreich. 15 
zu den unendlich mannigfaltigen Figuren 
unſerer Protiſten ſagen? Da treffen wir 
allein ſchon in der einen Klaſſe der kieſel— 
ſchaligen Radiolarien alle möglichen Grund— 
formen verkörpert an, die überhaupt in der 
Natur vorkommen können; und in welcher 
zierlichen und wundervollen Ausführung! 
Da finden wir in einem einzigen Tropfen 
Meerwaſſer neben einander Kugeln, Kreuze, 
Körbchen, Schrauben, Sterne, Schachfiguren, 
Hörner, Hauben, Helme u. ſ. w.; kurz eine 
Fülle der mannigfaltigſten und merkwür⸗ 
digſten Geſtalten. Gewiß wird Jedermann, 
der dieſe Formen zum erſten Male ſieht, 
ſie für Kunſtprodukte halten, oder vielleicht 
für abgelöſte Theile von größeren Organis— 
men. Und doch ſind es vollkommen ent— 
wickelte und ſelbſtſtändige Lebeweſen! Aber 
Niemand wird geneigt ſein, ſie für echte 
Thiere oder echte Pflanzen zu erklären. 
Ebenſo wenig können wir aus der äußeren 
Körperform der meiſten anderen Protiſten 
einen ſicheren Schluß auf ihre wahre Na— 
tur ziehen. Sehr viele bewahren zeitlebens 
die einfache Kugelgeſtalt. Andere zeigen 
beſtändig die einfache Form eines Cylinders, 
einer Scheibe, eines Kegels, einer Pyramide 
u. ſ. w. Noch andere endlich haben über— 


haupt gar keine beſtimmte Geſtalt, jo na— 


mentlich die Moneren und die Amoeben. 
Der ganze Körper dieſer höchſt einfachen 
Urweſen beſteht aus einem lebenden mikro— 
ſtopiſchen Schleimklümpchen, das in unab- 
läſſigem Wechſel ſeine Geſtalt beſtändig 
ändert: daher der paſſende Name „Aender— 
ling“, den Oken dieſen Amoeben beilegte. 

Doch verlaſſen wir die äußere Körper⸗ 
form! Denn daß dieſe ganz unzureichend 
iſt, um den Unterſchied zwiſchen Thier und 
Pflanze zu begründen, das iſt längſt all- 


gemein anerkannt. Fragen wir uns lieber, 
was denn eigentlich in der naiven An 


16 Haeckel, Das 


ſchauung des täglichen Lebens dieſe Unter— 
ſcheidung begründet, und was dieſelbe ſeit 
Jahrtauſenden in der Sprache und im 
Begriffsleben der Menſchheit gerechtfertigt 
hat. Unzweifelhaft ſind es die Lebens— 
erſcheinungen der Empfindung und 
Bewegung, welche uns hier zunächſt 
entgegentreten. Empfindung und Beweg— 
ung ſind es, welche in der allgemeinen 
Anſchauung das Thier gegenüber der Pflanze 
auszeichnen, und aus denen wir auf ein 
„Seelenleben“ des Thieres ſchließen, 
ein Seelenleben, das wir der Pflanze ab— 
ſprechen. Wie verſchieden auch die pſycho— 
logiſchen Vorſtellungen ſind, und wie weit 
auch die Anſichten über das eigentliche We— 
ſen der Seele aus einander gehen, darüber 
ſind wir doch Alle einig, daß mindeſtens 
den höheren Thieren eine Art Seelenleben 
zukommt. Denn die Hausthiere, die wir 
täglich um uns ſehen, bewegen ſich zweifel— 
los ebenſo willkürlich, wie wir ſelbſt. Sie 


luſt, der Freude und des Schmerzes zweifel— 
los ähnlich, wie wir ſelbſt. Auch lehrt uns 
ja ſofort jede anatomiſch-phyſiologiſche Un— 
terſuchung, daß das Nervenſyſtem, das 
Organ dieſer Seelenthätigkeiten, bei den 
höheren Wirbelthieren im Weſentlichen eine 
ähnliche Einrichtung beſitzt, wie bei uns ſelbſt. 

Von dieſen augenfälligen Seelenthätig— 
keiten der höheren Thiere ausgehend, ſchlie— 
ßen nun die Zoologen, daß dieſelben auch 
allen anderen Thieren zukommen, und dem— 
gemäß werden ſeit alter Zeit Empfindung 
und willkürliche Bewegung als charakteriſtiſche 
Eigenſchaften des Thieres betrachtet. Schon 
Linne ſagt: „Die Pflanzen leben, die 
Thiere leben und empfinden.“ Und doch 
iſt gerade dieſe allgemein angenommene 
Unterſcheidung völlig unhaltbar. Wir 
brauchen nur an den gewöhnlichen Bade— 


Protiſtenreich. 


empfinden die Eindrücke der Luft und Un⸗ 


ſchwamm zu denken, um uns davon zu 
überzeugen. Dieſer Badeſchwamm, mit 
dem ſich der Kulturmenſch täglich zu wa— 
ſchen pflegt, iſt das todte Skelet, das in— 
nere Gerüſt eines unzweifelhaften Thieres. 
Im Leben ſtellt dieſes Thier einen fleiſchigen, 
ſchwarzen, formloſen Klumpen dar, der 
unbeweglich auf dem Meeresboden feſtge— 
wachſen iſt. Aehnliche Seegewächſe aus 
der Klaſſe der Schwämme oder Spongien 
ſitzen maſſenhaft auf dem Boden aller 
Meere, hunderte von verſchiedenen Arten. 


Die meiſten zeigen keine Spur von Be— 


wegung und Empfindung; ſie galten daher 
früher auch allgemein für Pflanzen. Erſt 
die genaueſten Unterſuchungen über ihre 
Entwickelungsgeſchichte haben uns in den 
letzten Jahren darüber belehrt, daß wir ſie als 
echte, unzweifelhafte Thiere betrachten müſſen. 

Aehnliche echte Thiere, welche in voll— 
kommen reifem und ausgebildetem Zuſtande 
der Empfindung und Bewegung entbehren, 
kennen wir jetzt in Menge. Die meiſten 
leben feſtgewachſen auf dem tiefen Grunde 
des Meeres. Sie gehören ſehr verſchiede— 
nen Klaſſen an: Würmern, Ascidien, Mol- 
(usfen u. ſ. w. Viele von ihnen werden 
auf den italieniſchen Fiſchmärkten unter dem 
Namen „Seefrüchte“ (Frutti di mare) feil ge⸗ 
boten, und ſowohl der Fiſcher, der ſie verkauft, 
wie der Fremde, der ſie mit Appetit verſpeiſt, 
hält ſie für die Früchte von Seegewächſen. 

So gar unter den höheren Thierklaſſen, 
z. B. unter den Schnecken und Krebſen, 
giebt es einzelne Arten, die in vollkommen 
reifem Zuſtande einen formloſen runden 
Klumpen, ohne jede Spur von Bewegung 
und Empfindung, darſtellen. In dieſen 
Fällen iſt es die ſchmarotzende Lebensweiſe, 
durch welche das Thier ſeine „Seele“ ver— 
loren hat. Das gilt z. B. von der be 
rühmten Wunderſchnecke (Entoconcha mi- 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 17 


rabilis) und von dem merkwürdigen 
Säckchenkrebſe (Saceulina). Erſtere lebt 
als Paraſit im Innern von Seegurken 
oder Holothurien; letzterer ſitzt ſchmarotzend 
auf anderen Krebſen feſt. Beide Thiere 
haben die Geſtalt eines einfachen, länglichen, 
runden Schlauches; und dieſer Schlauch 
enthält nichts weiter als Eier. Keine 
Spur von einem Kopfe und von Sinnes- 
organen; keine Spur von Fühlhörnern und 
Beinen; keine Spur von Empfindung und 
willkürlicher Bewegung. Gewiß würde 
kein Menſch in dieſen beiden ſeelenloſen 
Eierſchläuchen wahre Thiere vermuthen, und 
doch ſtellt die Entwickelungsgeſchichte un— 
zweifelhaft feſt, daß das eine eine Schnecke 
und das andere ein Krebs iſt. 

Als Gegenſtück zu dieſen „ſeelen— 
loſen Thieren“ treffen wir auf der 
anderen Seite „ſeelenvolle Pflan— 


zen“, die uns noch mehr überraſchen. 
Wir betreten einen tropiſchen Urwald und 
wollen uns ein zierlich gefiedertes Mimoſen— 


blart abpflücken. Aber kaum berühren wir 
den zarten Zweig der ſchamhaften Sinn— 
pflanze (Mimosa pudica), ſo klappen die 
Blätter ihre zierlichen Fiederreihen zuſam— 
men und die Blattſtiele ſinken wie gelähmt 
herab. Ja, manche dieſer akazienartigen 
Bäume ſind ſo reizbar, ſo empfindlich, daß 
ſchon die Erſchütterung des Bodens durch 
den Tritt des herannahenden Wanderers 
hinreicht, ſämmtliche Blätter zum Schließen 
zu bringen. Nicht minder empfindlich ſind 
neben vielen Anderen die durch Darwin 
neuerdings ſo berühmt gewordenen „inſekten— 
freſſenden Pflanzen“. Sobald eine unvor— 
ſichtige Fliege ſich auf das Blatt einer „Fliegen— 
falle“ (Dionaea) ſetzt, klappt das reizbare 
Blatt zuſammen, und die mörderiſche Pflanze 
verzehrt das erfaßte Inſekt mit offenbarem 
Wohlbehagen. Wollten wir dieſen hoch— 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


organiſirten Pflanzen eine Seele abſprechen, 
ſo müßten wir ſie ganz ebenſo auch bei den 
empfindlichen, aber feſtgewachſenen, pflanzen— 
ähnlichen Korallen leugnen; denn dieſe geben 
keine anderen Aeußerungen ihres Seelenlebens. 

Aber nicht allein ſolche hohe Empfind⸗ 
lichkeit, ſolche lebhafte Beweglichkeit einzel— 
ner Körpertheile treffen wir vielfach bei 
echten Pflanzen an. Nein, auch ſelbſtſtän— 
dige, freie Ortsbewegung, auch die Willens— 
thätigkeit, auf die wir aus der ſcheinbar 
willkürlichen Bewegung ſchließen, findet ſich bei 
unzweifelhaften Pflanzen vor. Viele Algen, 
z. B. viele von unſeren einheimiſchen grü— 
nen Waſſerfaden oder Conferven, ſchwim— 
men in ihrer Jugend frei und lebhaft im 
Waſſer umher. Die jungen Pflänzchen 
bewegen ſich dabei, ebenſo wie viele junge 
Thiere, durch zarte, haarförmige, ſchwingende 
Fäden, Geißeln oder Wimpern. Bei die⸗ 
ſer Schwimmbewegung äußern ſie ebenſo 
viel Lebhaftigkeit, ebenſo viel Ausdauer, 
ebenſo viel ſcheinbaren Willen, wie die ganz 
ähnlichen, flimmernden Jugendformen vieler 
Thiere, z. B. der Gaſtrula. Auf den 
Wiener Botaniker Unger, der zuerſt vor 
35 Jahren (im Jahre 1843) dieſe frei 
beweglichen Jugendformen der Algen ent— 
deckte, machten dieſelben einen ſo tiefen Ein— 
druck, daß er ſeine bezügliche Mittheilung 
betitelt: „Die Pflanze im Momente der 
Thierwerdung.“ 

Schon aus dieſen wenigen Thatſachen, 
die wir noch durch Aufzählung vieler ähn— 
licher Erſcheinungen beträchtlich vermehren 
könnten, geht unzweifelhaft hervor, daß die 
höheren Seelenthätigkeiten der bewußten 


Empfindung und der willkürlichen Beweg⸗ 


ung weder allen Thieren eigenthümlich ſind, 
noch allen Pflanzen fehlen. Sie können 
daher nicht mehr in der üblichen Weiſe 
zur Unterſcheidung von Thier- und Pflan- 


18 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


zenreich benutzt werden; und ebenſo wenig 
ſind ſie von ſyſtematiſcher Bedeutung für 
unſer Protiſtenreich. Für die Beurtheilung 
dieſes letzteren iſt es gleichgültig, ob ſich 
die Protiſten ſehr lebhaft bewegen und ſehr 
fein empfinden, wie die meiſten Wimper— 
Infuſorien; oder ob ſie nur ſtumpfe Em— 
pfindung und träge Bewegung beſitzen, wie 
die meiſten Wurzelfüßler. Viele Protiſten 
treten uns in zwei abwechſelnden und ganz 
verſchiedenen Zuſtänden entgegen: einem 
unbeweglichen und unempfindlichen Ruhe— 
zuſtande, in welchem ſie uns als Pflanzen 
erſcheinen; und in einem frei beweglichen 
und ſehr empfindlichen Zuſtande, in welchem 
ſie Thieren gleichen. Wir dürfen von 
dieſen merkwürdigen Urweſen geradezu ſagen: 
ſie ſind abwechſelnd Thier und Pflanze. 
Und ſo ſind ſie auch wirklich früher beur— 
theilt worden. So ſind z. B. von manchen 
Flagellaten und Myxomyceten die vegeta— 
tiven Ruhezuſtände als Pflanzen, die animalen 
Bewegungszuſtände als Thiere unter ver— 
ſchiedenen Namen beſchrieben worden, und 
erſt viel ſpäter wurde entdeckt, daß Beide nur 
verſchiedene Lebens-Zuſtände eines und deffel- 
ben Protiſten ſind. 

Wollen wir nun aber vom Standpunkte 
der vergleichenden Psychologie zu einem 
Schluſſe über das Seelenleben aller dieſer 
Geſchöpfe kommen, ſo kann dieſer Schluß 
nur lauten: „Alle lebenden Weſen 
ſind beſeelt, die Pflanzen ſo gut wie 
die Thiere, und die Protiſten ſo gut wie 
die Pflanzen.“ Innere Bewegungs - Er- 
ſcheinungen, die ſcheinbare ohne äußere Ur— 
ſachen entſtehen und auf Ortsveränderungen 
kleinſter Theile beruhen, insbeſondere Pro— 
toplasma⸗Strömungen, find allen Organis— 
men gemeinſam, und inſofern iſt jedes lebende 
Weſen beſeelt, jedes iſt zugleich reizbar, im 
gewiſſen Sinne empfindlich. Stufenweiſe 


erhebt ſich die Seelenthätigkeit, von den 
unſcheinbarſten und niedrigſten Anfängen 
ausgehend, zu immer höheren und voll— 
kommeneren Leiſtungen. Während die nie— 
drigſten Thiere ſich in dieſer Beziehung 
nicht von den meiſten Pflanzen und Pro— 
tiſten unterſcheiden, ſteigt das Seelenleben 
der höheren Thiere, das Wollen und Em— 
pfinden, Vorſtellen und Denken, zu einer 
ähnlichen Stufe wie beim Menſchen empor. 

Gleich der Seelenthätigkeit haben ſich 
auch alle anderen Eigenſchaften, durch welche 
man Thiere und Pflanzen hat unterſcheiden 
wollen, als unzureichende Merkmale erwieſen. 
Unzweifelhaft der wichtigſte Unterſchied 
zwiſchen Beiden beruht auf den entgegen— 
geſetzten phyſiologiſch-chemiſchen Verhältniſſen 
ihrer Ernährung. Der geſammte Stoff— 
wechſel in beiden Reichen, im Großen 
und Ganzen betrachtet, iſt grundverſchieden. 
Die Pflanzen allein beſitzen das Vermögen, 
aus den einfachen chemiſchen Verbindungen 
der lebloſen anorganiſchen Natur, aus Waſſer, 
Kohlenſäure und Ammoniaf, jene verwickel— 
ten und höchſt zuſammengeſetzten, eiweißar— 
tigen Kohlenſtoff-Verbindungen herzuſtellen, 
welche als die wahren Träger aller eigent— 
lichen Lebens-Erſcheinungen gelten, vor allen 
das Protoplasma oder den Bildungs— 
ſtoff („Plasson“). Das können die Thiere 
nicht. Sie nehmen die Eiweißkörper, die 
ſie beſtändig verbrauchen und zerſetzen, 
direkt oder indirekt aus dem Pflanzenreiche 
auf. Zur Aufnahme und Verdauung ihrer 
Nahrung bedürfen ſie einer Magenhöhle und 
einer Mundöffnung; und das ſind die am mei— 
ſten charakteriſtiſchen Organe des Thierkörpers, 
welche dem Pflanzenorganismus ſtets fehlen. 

Mit dieſem fundamentalen Gegenſatze 
in der Ernährung hängen auch noch andere 
wichtige Unterſchiede beider Reiche zuſam— 
men. Die Pflanzen athmen für 3 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 19 


lich Kohlenſäure ein und hauchen Sauerſtoff 
aus; die Thiere gerade umgekehrt. Die 
meiſten Pflanzen bilden maſſenhaft jenen 
eigenthümlichen grünen Farbſtoff, das 
Chlorophyll oder Blattgrün, dem unſere 
Erde den grünen Schmuck ihrer Vegeta— 
tionsdecke verdankt. Die meiſten Thiere 
hingegen bilden kein Chlorophyll. Ebenſo 
erzeugen die meiſten Pflanzen Maſſen von 
Stärkemehl (Amylum) und von Celluloſe; 
von jener wichtigen ſtickſtoffloſen Verbind— 
ung, welche die Grundlage des Holzes 
bildet. Die meiſten Thiere produciren kein 
Amylum und keine Celluloſe. Und ſo 
könnten wir noch eine ganze Anzahl anderer 
chemiſcher Verbindungen anführen, welche 
den Gegenſatz im Stoffwechſel des Thier- 
und Pflanzenreichs bezeichnen. 
Unzweifelhaft iſt dieſer Gegenſatz von 
der größten Bedeutung. Denn auf ihm 


beruht das beſtändige Gleichgewicht in der 


Oeconomie der organiſchen Natur. Was 
das eine der beiden großen Lebensreiche 
ausgiebt, das nimmt das andere wieder 
ein. Was das eine als unbrauchbar aus— 
ſcheidet, das verzehrt das andere. Aber ſo be— 
deutungsvoll auch dieſe Wechſelwirkung jeden— 
falls iſt, ſo wenig iſt der damit verknüpfte Ge— 
genſatz durchgreifend und zu einer beſtändigen 
Grenzmarke geeignet. Denn zahlreiche Aus- 
nahmen finden ſich in jeglicher Beziehung. 

Als ſolche wichtige Ausnahmen ſind 
vor allen die zahlreichen Schmarotzerpflanzen 
zu nennen: z. B. viele Orchideen, Oroban— 
chen, Lathraeen u. ſ. w. Dieſe Paraſiten, 
deren nahe Verwandtſchaft zu echten hochent— 
wickelten Pflanzen feſtſteht, haben durch 
Anpaſſung an ſchmarotzende Lebensweiſe 
ihren Stoffwechſel gänzlich geändert. Statt 
gleich anderen Pflanzen mühſam Eiweiß— 
körper zu produciren, finden ſie es beque— 
mer, gleich den Thieren dieſe wichtigſten 


Lebensſtoffe aus anderen Pflanzen aufzu⸗ 


nehmen. Damit ändert ſich aber ihre ge— 
ſammte Ernährung. Sie bilden kein Blatt⸗ 
grün mehr, ſie athmen Sauerſtoff ein und 
Kohlenſäure aus; ſie bilden Verbindungen, 
die ſonſt nur im Thierkörper erzeugt werden. 

Umgekehrt finden wir nun wieder im 
Thierreiche merkwürdige Schmarotzer, welche 
gleichfalls durch Anpaſſung an para 
ſitiſche Lebensweiſe ihre ganze Ernährung 
völlig geändert haben. Außer den ſchon 
angeführten Wunderſchnecken und Säckchen— 
krebſen ſind da beſonders jene Würmer 
(Bandwürmer, Kratzwürmer u. ſ. w.) her⸗ 
vorzuheben, welche im Innern anderer 
Thiere leben und deren Säfte durch ihre 
Haut aufſaugen. Mund und Magen ſind 
dadurch überflüſſig geworden und im Laufe 
der Jahrtauſende allmälig verloren gegan— 
gen. Die nächſten Verwandten dieſer darm— 
loſen Paraſiten beſitzen einen wohl ent— 
wickelten Mund und Darmkanal. Aber 
auch andere echte Thiere bieten in ihrem 
Stoffwechſel beträchtliche Abweichungen dar, 
und einige produciren Verbindungen, die 
ſonſt nur die Pflanzen erzeugen. So bilden 
ſich z. B. die Ascidien einen Mantel aus 
Celluloſe; die grünen Süßwaſſerpolypen 
und einige grüne Würmer erzeugen in ihrer 
Haut echtes Blattgrün oder Chlorophyll ꝛc. 

Angeſichts dieſer zahlreichen Ausnahmen 
kann uns denn auch der Stoffwechſel unſe— 
rer Protiſten keinen Aufſchluß über ihre 
wahre Natur geben. Wenn viele von ihnen 
Chlorophyll, Celluloſe und Stärkemehl er— 
zeugen, ſo beweiſt das ebenſowenig für ihre 
Pflanzen-Natur, als die Bildung von Kalt 
ſchalen bei vielen Anderen für ihre Thier— 
Natur Zeugniß ablegt. Vielmehr ſprechen 
auch die Verhältniſſe der Ernährung und 
des Stoffwechſels, im Großen und Ganzen 
betrachtet, für die neutrale Natur der 


20 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Protiſten. Allerdings wiſſen wir von den 
phyſiologiſch-chemiſchen Vorgängen ihres 
Stoffwechſels im Ganzen noch ſehr wenig. 
Aber dies Wenige reicht doch hin, um uns 
auch hierin ganz eigenthümliche Verhält— 
niſſe erkennen zu laſſen. So nehmen z. B. 
die formloſen Amoeben und die formen— 
reichen Wurzelfüßler zwar ihre Nahrung 
ähnlich den Thieren auf, aber ohne Mund 
und Magen. Au jeder Stelle der nackten 
Körperoberfläche können die Nahrungsbiſſen 
in's Innere dringen. Auch die thierähnlichſten 
Protiſten, die Wimperthierchen, beſitzen keinen 
wahren Darm, keinen wahren Mund und 
Magen. Dieſer fehlt vielmehr allen Protiſten. 
Wir ſehen alſo, daß keine der verſchie— 
denen Lebenserſcheinungen genügt, um uns 
über das Verhältniß der Protiſten zu den 
Thieren und Pflanzen vollkommen aufzu— 
klären. Da nun auch die äußere Geſtalt— 
ung uns darüber keinerlei Aufſchluß giebt, 
ſo bleiben uns nur noch diejenigen Verhält— 
niſſe übrig, welche uns das Mikroſkop im 
feineren Bau und in der Entwickelungsge— 
ſchichte enthüllt. Ohne die genaueſte Kennt— 
niß dieſer Verhältniſſe können wir uns ja 
überhaupt kein vollſtändiges Bild von der 
Natur der Organismen machen. Alles 
nun, was wir bisher davon erkannt haben, 
findet ſeinen umfaſſenden Ausdruck in der 
berühmten Zelleutheorie, die ſeit vierzig 
Jahren das wichtigſte Fundament aller bio— 
logiſchen Forſchungen geworden iſt. 
Bekanntlich lehrt uns dieſe Zellentheo— 
rie, daß alle die tauſendfach verſchiedenen 
Formbeſtandtheile, die wir im Körper 
ſämmtlicher Thiere und Pflanzen mittelſt 
des Mikroſkopes unterſcheiden, lediglich ver— 
ſchiedene Abarten und Umbildungen eines 
einzigen Grundorganes, eines einzigen ur— 
ſprünglichen Form-Elementes ſind. Dieſes 
Form⸗Element iſt die Zelle, ein kleines, 


vn 


für das bloße Auge meist unſichtbares 
Körperchen, welches bis zu einem gewiſſen 
Grade ein ſelbſtſtändiges Leben führt. So 
unendlich mannigfaltig die Form der Zelle 
auch iſt, ſo iſt ſie doch immer aus zwei 
verſchiedenen Beſtandtheilen zuſammengeſetzt: 
aus einem Stückchen weicher, eiweißartiger 
Subſtanz, dem Bildungsſtoff oder Proto— 
plasma, und aus einem feſteren, davon 
umſchloſſenen Körperchen, dem Kern oder 
Nucleus. Die urſprüngliche Selbſtſtän— 
digkeit der Zelle iſt ſo vollkommen, daß 
man ſie mit Recht als den Elementar— 
Organismus, als das Individuum 
erſter Ordnung bezeichnet hat. Da die 
Zellen jede organiſche Form bilden, können 
wir ſie auch die „Bildnerinnen“ oder Pla— 
ſtiden nennen. Der ganze Körper der 
meiſten Thiere und Pflanzen iſt aus Milliar— 
den ſolcher Zellen zuſammengeſetzt: und 
was dieſes Thier, was dieſe Pflanze leiſtet, 
das iſt in Wahrheit die Leiſtung ihrer 
zahlloſen Zellen. Auch unſer eigener 
menſchlicher Leib beſteht aus Milliarden der— 
artiger Zellen, und alle unſere Lebensver— 
richtungen ſind das höchſt verwickelte Reſultat 
aus der Thätigkeit dieſer mikroſkopiſchen 
Weſen. Jedes Härchen beſteht aus vielen 
Millionen Zellen. Ein kleinſtes Blutströpf— 
chen von einem Cubik-Millimeter Rauminhalt 
umſchließt ſchon fünf Millionen Blutzellen. 

Für die richtige Auffaſſung der Zelleu— 
theorie, von der das ganze Verſtändniß 
des Lebens abhängt, iſt Nichts lehrreicher, 
als der oft angewendete Vergleich des viel— 
zelligen Organismus mit einem wohlorga— 
niſirten menſchlichen Staate. Die Exiſtenz 


jeder geordneten ſtaatlichen Organiſation, 
gleichviel ob wir Monarchie oder Republik 
betrachten, beruht bekanntlich darauf, daß 
die einzelnen Staatsbürger einen Theil ihrer 
perſönlichen Freiheit aufgeben, ſich den Ge— 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 21 


ſetzen des Staats unterwerfen und in die 
Arbeit des Lebens theilen. Ebenſo genießen 
auch die Zellen in jedem vielzelligen Or— 
ganismus zwar bis zu einem gewiſſen 
Grade ihr ſelbſtſtändiges Leben; aber ſie 
ſind doch zugleich den Geſetzen des Ganzen 
untergeordnet und durch die Arbeitstheilung 
von einander abhängig. Wir können dieſen 
politiſchen Vergleich auch noch weiter aus— 
dehnen, indem wir den Pflanzen-Orga— 
nismus als eine Zellen-Republik, den 
Thier-Organismus dagegen als eine 
Zellen-Monarchie betrachten. Denn die 
Pflanzenzellen ſind durchweg ſelbſtſtändiger, 
gleichartiger, unabhängiger von einander 
und vom Ganzen. Die Thierzellen hin— 
gegen ſind in Folge der vorgeſchrittenen 
Arbeitstheilung ungleichartiger, mehr von 
einander abhängig und zugleich in Folge 
der ſtärkeren Centraliſation der „Staatsidee“ 
in höherem Maße unterworfen. 

Nun lehrt uns aber ferner die Ent— 
wickelungsgeſchichte, daß jedes Thier und 
jede Pflanze im Beginne der individuellen 
Exiſtenz eine einzige einfache Zelle iſt. Das 
Ei, aus dem ſich jedes Thier, eine jede 
Pflanze entwickelt, iſt weiter nichts als eine 


Zelle. Das iſt eine der bedeutungsvollſten 


Thatſachen. Denn das ganze Problem der 
individuellen Entwickelung löſt ſich demnach 
in die Frage auf: Wie kann der vielzellige 
Organismus mit allen ſeinen verſchiedenen 
Organen aus einer einzigen Zelle entſtehen? 
Und die Antwort hierauf lautet höchſt ein— 
fach: „Durch wiederholte Theilung entſteht 
aus der einfachen Zelle eine Zell-Gemeinde 
oder Aſſociation, eine Geſellſchaft von zahl— 
reichen gleichartigen Zellen; dieſe werden durch 
Arbeitstheilung ungleichartig und ordnen 
ſich nach den Geſetzen der Vererbung und 
Anpaſſung zu einer centraliſirten Einheit. 

Wie verhalten ſich nun unſere kleinen 
Protiſten zu dieſen höchſt wichtigen That— 
ſachen und zu der darauf gegründeten Zel— 


4 


lentheorie? Iſt auch ihr winziger Leib aus 
vielen und ungleichartig entwickelten Zellen 
zuſammengeſetzt? Findet ſich auch in ihrem 
Organismus jene Arbeitstheilung der aſſo— 
ciirten Zellen, durch welche die verſchiedenen 
Gewebe und Or gane entſtehen? Das 
Mikroſkop antwortet uns: Nein! Biel 
mehr iſt bei den meiſten Protiſten der ganze 
Körper zeitlebens nur eine einzige 
Zelle. Aber auch bei jenen Protiſten, 
welche in entwickeltem Zuſtande vielzellig 
ſind, finden wir niemals wahre Gewebe 
und Organe, niemals jene eigenthümliche 
Arbeitstheilung und Anordnung der Zellen, 
welche den wahren Thierkörper und den 
wahren Pflanzenkörper auszeichnet. Denn 
hier beherrſcht immer die Geſammtform des 
Körpers die ganze Anordnung und Bild— 
ung der Zellen, ihre Verbindung zu den 
Geweben und Organen, aus denen er zu— 
ſammengeſetzt iſt. Bei den vielzelligen Pro— 
tiſten hingegen bewahren die geſellig ver— 
bundenen Zellen ſtets mehr oder weniger 
ihre Selbſtſtändigkeit; ſie bilden immer 
nur ſehr lockere Geſellſchaften, ſociale Ver— 
bände ohne Arbeitstheilung, die nicht als 
centraliſirte Staaten anerkannt werden können. 
Wenn wir vorher den Organismus des 
Thieres wie der Pflanze einem wohlorga— 
niſirten Culturſtaate verglichen, fo können 
wir dagegen die lockeren Zellenhaufen der 
vielzelligen Protiſten höchſtens mit den 
rohen Horden der uncultivirten Natur— 
völker vergleichen. Die meiſten Protiſten 
bringen es aber, wie geſagt, nicht einmal 
zur Bildung ſolcher Zellen-Horden, 
zu dieſer niedrigſten Stufe der Aſſociation; 
ſie ziehen es vor, als Einſiedler für ſich 
zu leben und ihre volle Selbſtändigkeit 
in jeder Beziehung zu bewahren. Die 
meiſten Protiſten bleiben zeitlebens einfache, 
iſolirte Zellen, ſie leben als Zellen-Ein— 
ſiedler. 
(Fortſetzung folgt.) 


— GM2— X 


\ 2 ein 


Zur Phyfiotonie Aengeborener, 


Von 


3. Dreyer. 


der Lebensäußerungen unent— 
wickelter, wachſender Organe 

40 und der Zuſammenwirkungen 
> I noch nicht ausgebildeter Organ— 
complexe iſt trotz der günſtigſten Gelegen— 
heiten zu Beobachtungen und Experimenten, 
trotz eines überreichen Arbeitsmaterials und 


I. 


der faſt ſicheren Ausſicht, weſentliche Fort- 


ſchritte in verhältnißmäßig kurzer Zeit an— 
zubahnen, doch nur von wenigen Forſchern 
bis jetzt in Angriff genommen worden. 
Das alltägliche Unbegreifliche wird bald 
ſelbſtverſtändlich, das heißt: man läßt es 
als unverſtändlich auf ſich beruhen. Man 
begnügt ſich z. B. mit dem intellectuellen 
Genuß, die zunehmende Geſchicklichkeit und 
Klugheit des Kindes zu conſtatiren, ohne 
wiſſenſchaftliche Verwerthung ſolcher Wahr— 
nehmungen. Ja, vor nicht langer Zeit 
konnte, wer ſich damit abgab, triviale 
Dinge, wie das Verhalten der Säuglinge 
und die Sprünge neugeborener Thiere zu 
beſchreiben, Gefahr laufen, etwas ganz an— 
deres als Dank und Anerkennung zu ernten. 


ie Entſtehung und Entfaltung | Man überſchätzte die traditionellen Specu— 


culationen und begnügte ſich mit Vermuth— 
ungen. 

Heute iſt es anders. Durch Darwin's 
großes Werk von 1859 wurde zwar bis 
jetzt mehr die Erforſchung der morpholo— 
giſchen Entwickelung, als die der keines— 
wegs mit ihr parallelen funktionellen Ent— 
wickelung gefördert. Aber wenn auch die 
ungemein fruchtbaren neuen Ideen in den 
phyſiologiſchen Schulen noch nicht haben 
Wurzel faſſen können, ſondern nur in 
einzelnen Fällen dort mit Hochachtung er— 
wähnt, aber ſelten in der Funktionenlehre wirk— 
lich angewendet wurden, ſo liegt dieſes Zu— 
rückbleiben der Lehre von der Entſtehung 
und Entwickelung der Funktionen hinter 
der Morphogeneſis jedenfalls viel mehr an 
der durch große Erfolge genährten Vor— 
liebe für andere Richtungen in der Phy— 
ſiologie, als an einer etwaigen Unanwend— 
barkeit jener Principien. Auch daß die 
Phyſiologie der Gegenwart nicht immer 
ihrer Aufgabe, die Funktionen zu unter— 
ſuchen, ſich bewußt bleibt, mag ſchuld ſein. 


. 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 23 


In den meiſten neuen Lehrbüchern der 
Phyſiologie findet man langathmige rein 
phyſikaliſche, rein chemiſche, rein hiſtologiſche 
Auseinanderſetzungen, welche ſich viel beſſer 
in anderen Büchern ausnehmen, da ſie 
nicht in die Phyſiologie gehören. Dagegen 
vermißt man faſt überall Angaben über 
die Entwickelung und Vergleichung der 
Funktionen, obwohl beides recht eigentlich 
phyſiologiſch iſt. 

Die jetzige Generation zehrt noch an 
dem Vermächtniß des großen Johannes 
Müller. Aber der Bau, den er anlegte, 
iſt bisher nach dieſer Seite nicht weiter 
geführt worden. Lange ſchon wartet ſie auf 
die ſorgfältige Behandlung und Ausführung, 
welche die Elektrophyſiologie und die phy— 
ſiologiſche Optik und Akuſtik gefunden haben. 
Es iſt Zeit, das Material zu ſammeln. 
Wenig liegt zwar vor, doch dein Anfang iſt 
da. Und es lohnt wohl die Mühe, die 


ſpärlichen Angaben zuverläſſiger Beobachter 


zuſammenzufaſſen. 


Vorträgen ihn gern erörtert, und will im 
Folgenden in loſer Aneinanderreihung einige 
der Natur der Sache nach fragmentariſche 


Beobachtungen, zunächſt über die Sinnes- 


thätigkeit Neugeborener, mittheilen. 

Die anſpruchloſen Notizen ſollen ganz 
und gar nicht abſchließender Art ſein, ſon— 
dern vielmehr zur Mittheilung weiterer 
Thatſachen anregen. 


1. Ueber das Hören Ueugeborener. 


Eine Prüfung des Hörvermögens neu— 
geborener Säugethiere hat mir die über— 
raſchende Thatſache ergeben, daß die Meer- 
ſchweinchen (Cavia cobaya) in dieſer Bezieh- 
ung die erſte Stelle einnehmen, während 


an die Seite zu ſtellen wüßte. 
Ich habe ſeit Jahren dieſem Gegen- 
ſtande meine Aufmerkſamkeit zugewendet, in 


das menſchliche Neugeborene in den erſten 
Stunden nach der Geburt taub iſt, wenig— 
ſtens nicht auf Schallreize reagirt. 

Sechs noch nicht einen halben Tag 
alte Meerſchweinchen gaben durch Beweg— 
ungen der Ohrmuſcheln unzweideutig zu 
erkennen, daß ſie alle Töne hören von 
1000 bis 40000 Doppelſchwingungen in 
der Secunde, der höchſten bis jetzt erzielten 
Zahl. Denn es wurden jedesmal, wenn 
ich, den Thieren ſelbſt unſichtbar, in ge— 
räuſchloſer Umgebung eine meiner 40 kleinen 
Stimmgabeln jenes Intervalls anſtrich (vom 
dreigeſtrichenen e bis zum achtgeſtrichenen e), 
unmittelbar darauf die Ohrmuſcheln voll- 
kommen ſynchron bewegt, entweder nieder— 
gedrückt oder nur gefaltet, und bei ſtarken 
Tönen fuhren die Thierchen jedesmal zu— 
ſammen. Mit einer ſolchen maſchinen— 
mäßigen Sicherheit tritt die Reflexbewegung, 
die Contraktion der Ohrmuſcheln, ein, daß 
ich keine zweite bezüglich der Präciſion ihr 
Bei er⸗ 
wachſenen Meerſchweinchen iſt der Gehör— 
reflex gleichfalls bei allen Stimmgabeltönen 
von 1000 an bis zu den höchſten leicht 
zu conſtatiren, aber bisweilen, namentlich 
nach häufiger Wiederholung des Verſuchs, 
ſehr ſchwach. 

Das Verhalten gegen tiefere Töne iſt 
nicht ſo leicht zu ermitteln. 

Dagegen ließ ſich ſofort feſtſtellen, daß 
alle geſunden neugeborenen Meerſchweinchen 
am erſten Tage auf die mannigfaltigſten 
lauten und leiſen Geräuſche, z. B. 
Händeklatſchen, durch eine Zuckung des 
ganzen Körpers, manchmal ſogar anfangs 
durch einen Sprung und Flucht, ant⸗ 
worteten. 

Wie fein ihr Gehör für geringe In— 
tenſitäten iſt, beweiſt der folgende Ver— 
ſuch, den ich mit drei Thieren am erſten 


CCC 


24 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. | 


Tage ihres Lebens anftellte. Sie wurden auf die 
Dielen des Zimmers geſetzt, jedes zwei Meter 
vom andern entfernt, und in die Mitte des 
ſo gebildeten Dreiecks ſetzte ich die Mutter, 
welche ſeit zwei Stunden von den Jungen 
entfernt geweſen war. Die letzteren liefen 
nun nach verſchiedenen Richtungen offenbar 
direktionslos ſogleich fort, als wenn die 
Mutter nicht dageweſen wäre. Sie begaben 
ſich in die Ecken des geräumigen Zimmers 
und blieben dort ſitzen. Wieder auf ihren 
früheren Platz geſetzt, wiederholten ſie immer 
wieder dieſes Manöver, zuerſt an die Wand, 
dann dieſer entlang laufend, bis ſie in eine 
Ecke gelangten. Das Laufen war in An— 
betracht des Alters von weniger als 15 
Stunden ungemein ſchnell und ſicher. Auch 
ſonſt iſt die Erhaltung des Gleichgewichts 
bemerkenswerth, indem die Thierchen, wenn 
ich ſie fallen ließ oder hinwarf, immer auf 
ihre Füße zu ſtehen kamen. Alſo zum 
Balanciren brauchten ſie ihre Aufmerkſam— 
keit nicht. Aber ihre Mutter berückſichtig— 
ten ſie auch nach 12 Minuten nicht. Selbſt 
als ich ein Junges einen Meter vor die 
Alte ſetzte, lief es eiligſt fort, ein anderes 
dicht an der Mutter vorbei, das dritte 
ebenſo, bis alle drei wieder in den Ecken 
hockten. Was hierbei beſonders auffiel, 
war die Ruhe und ſcheinbare Apathie der 
Mutter. Dieſelbe behielt 13 Minuten 
lang lautlos die ihr ertheilte Poſition mit— 
ten im Zimmer und verrieth durch nichts, 
daß ſie die um ſie herum laufenden Jun— 
gen ſah oder ihr lautes Quieken hörte. 
Ich hielt das Thier für erſchrocken durch 
die fremdartige Umgebung. Nun ſind aber 
die Meerſchweinchen kurzſichtig. Ich ſetzte 
daher jetzt ein Junges der Mutter einen 
halben Meter vor das Geſicht. Es blieb 
einige Secunden ruhig ſitzen. Sowie es 
dann Anſtalten machte, abermals fortzu— 


laufen, hörte ich ein ſehr leiſes gluckſendes 
Geräuſch, die Stimme des bis dahin laut— 
loſen Mutterthieres. Es dauerte nur einen 
Augenblick, genügte aber dem Jungen, denn 
dieſes lief nun äußerſt ſchnell laut ſchreiend 
geradlinig auf die Mutter zu, die ſich über 
es ſtellte und eine vertheidigende und faſt 
drohende Stellung einzunehmen ſchien, ſo 
weit einem Meerſchweinchen ſolches zugetraut 
werden darf. Mit den beiden anderen 
Jungen verlief das Experiment genau eben 
ſo. Die Mutter befand ſich immer noch — 
im Ganzen 23 Minuten lang — auf dem— 
ſelben Platze. Ich trennte ſie jetzt von den 
Jungen und bemerkte, daß ſie in ihrem 
Behälter mit großem Eifer alles Heu und 
ſonſtige Futter durchwühlte, dabei fort— 
während den gluckſenden Laut ertönen laſſend. 
Offenbar ſuchte das Thier die Jungen und 
rief ſie zu ſich wie vorhin. Das vergeb— 
liche Suchen und Rufen ließ jedoch nach 
einigen Minuten nach und das Thier fing 
nun an zu freſſen. Die Jungen quiekten 
zwar gleichfalls in ihrem Behälter, aber 
durchaus nicht ſo, daß man hätte auf eine 
Beantwortung der Locklaute ſchließen können. 
Sie wurden von jetzt an außer Hörweite 


gebracht. Drei Tage dauerte dieſe völlige 
Trennung. Die Jungen erhielten Kuh— 


milch, fraßen und nagten aber ſchon vom 
erſten Tage an friſch geſchnittenes Gras, 
den einzelnen Halm geſchickt mit den Zähnen 
zerkleinernd und in den Mund ziehend. 
Anfangs des vierten Tages ſeit dem Ver— 
ſuche wiederholte ich ihn, jetzt aber mit an— 
derem Erfolge. Die Mutter blieb diesmal 
29 Minuten mitten im Zimmer auf dem 
Boden ſitzen. Zwei von den Jungen, die 
ich einen. Meter vor ſie hinſetzte, liefen an 
ihr vorbei in ihre Ecken zurück, aber nach 
9 Minuten fand eine Begegnung beider 
ſtatt, indem eines ſeine Ecke verließ und 


in der Richtung, aus der die Stimme des 
andern kam, quer durch das Zimmer auf 
dieſes zueilte. Als es ihm ſchreiend auf 
etwa einen halben Meter nahe gekommen 
war, lief letzteres ihm entgegen, und nun 
blieben die beiden Thierchen vereinigt, eines 
oft über das andere hinkriechend oder um 
es herumlaufend. Während deſſen ſetzte ich 
das dritte Junge einen Meter vor das 
Geſicht der Alten; es lief aber wieder fort. 
Als ich es einen halben Meter vor die 
Mutter ſetzte, machte dieſe eine Kopfbeweg— 
ung, ich hörte wieder den Locklaut ſehr 
deutlich, aber das Junge hörte und ſah 
die Mutter nicht. Es lief fort. Es hatte 
die Stimme der Mutter wahrſcheinlich ver— 
geſſen. Dagegen wurde bald ſeine Auf— 
merkſamkeit offenbar den Stimmen ſeiner 
zwei Geſchwiſter, mit denen es drei Tage 
zuſammen geweſen war, zugewendet. Elf 
Minuten nach der Vereinigung der letzteren 
kamen alle drei Junge, offenbar nur durch 
ihre Stimme geleitet, zuſammen, freilich 
nach langen Irrfahrten. Sie blieben gegen 
neun Minuten vereinigt. Da endlich ſetzt 
ſich die Mutter, deren Blick eine gewiſſe 
Spannung zu bekunden ſcheint, in Beweg— 
ung. Sie läuft mit großer Haſt, ſo ſchnell 
ein Meerſchweinchen laufen kann, nicht ge— 
nau in der Richtung, aus der die Stim— 
men ihrer Jungen ertönen, ſondern ſchnur— 
gerade gegen die Wand und dann ohne 
Aufenthalt dieſer entlang direkt auf die Jungen 
zu. Nun gluckſte fie, während fie ſich über 
dieſelben ſtellte, wie eine Henne ſich über 
die Küchlein ſtellt. Ich konnte aber die 
Jungen nicht mehr zum Saugen bringen. 
Sie hatten vielleicht auch dieſes ſchon ver— 
geſſen. Es war wenigſtens nicht mehr er— 
forderlich, ihnen künſtlich Nahrung beizu— 
bringen. Ganz ähnlich wie dieſe Thiere 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


25 


gegenüber, die 
waren. 

Dieſe einfachen Beobachtungen zeigen, 
daß die Meerſchweinchen ſchon am erſten 
Tage ſehr ſcharf hören und dann ſchon 
durch das Gehör die Gegenwart der Mutter 
erkennen, dagegen nach 4 bis 5 Tagen noch 
nicht durch das Geſicht. In Bezug auf 
das Gehör iſt alſo das Meerſchweinchen 
bevorzugt. Denn es hört die höchſten Töne 
ſogleich, und ſchon am erſten Tage genügt 
ein ſchwacher Schallreiz, eine Reihe coordi— 
nirter Muskelbewegungen zu veranlaſſen, 
nämlich die geradlinige Fortbewegung zur 
Schallquelle (der Mutter), alſo wird auch 
die Richtung, aus der der Schall kommt, 
percipirt. Vielleicht hängt der erſtere Vor⸗ 
zug damit zuſammen, daß die Schnecke, 
welche die Endigungen der tonempfindenden 
Nervenfaſern enthält, bei den Cavien vier 
Windungen aufweiſt, während die Mehr- 
zahl der Säugethiere weniger beſitzt. Jeden— 
falls iſt bezüglich des Gehörs das neuge— 
borene Meerſchweinchen dem neugeborenen 
Menſchen ſehr erheblich überlegen. 

Profeſſor Kuß maul“) bemerkt, man 
könne vor den Ohren wachender neugebore— 
ner Menſchenkinder in den erſten Tagen die 
ſtärkſten disharmoniſchen Geräuſche machen, 
ohne daß ſie davon berührt würden. Zahl— 
reiche Verſuche, die er in dieſer Richtung 
anſtellte, hatten nur einen negativen Erfolg. 
Dieſe Angaben treffen jedoch nicht für alle 
neugeborenen Kinder zu. Viele ſind ſehr 
empfindlich gegen Schallreize, denn fein Aſſi— 
ſtent überzeugte ſich einige Male mit Be— 
ſtimmtheit, wie er ſelbſt mittheilt, daß 
ſchlafende Kinder — allerdings war das 
jüngſte ſchon drei Tage alt — im Bett zus 
ſammenfuhren, wenn er unter dem Bett bei 


ebenſo placirt worden 


) Ueber das Seelenleben des neugebore— 
nen Menſchen. 1859. 


verhielten ſich drei andere ihrer Mutter 


| 


26 


tiefer Stille plötzlich ſtark in die Hände klaſchte. 
Außerdem hat Dr. Genzmer!) ſich da— 
von überzeugt, daß Kinder ſchon vom erſten 
oder höchſtens zweiten Lebenstage an für 
Gehörreize empfänglich ſind. Er ermittelte 
die größten Entfernungen, in welchen Säug— 
linge beim Anſchlagen einer kleinen Glocke, 
das immer gleichmäßig geſchah, mit den 
Augenlidern zuckten. Es ergab ſich, daß 
der Gehörſinn bei Neugeborenen ſehr un— 
gleich entwickelt iſt und innerhalb der erſten 
Wochen ſich verfeinert. Als durchſchnittliche 
Entfernung, in welcher das Anſchlagen der 
Glocke gehört wurde, ergaben ſich 8 bis 
10 Zoll, doch ſchwankten die Zahlen zwi— 
ſchen 1 und 20. In einem Falle war 
die Diſtanz am erſten Tage 8, am ſechſten 
18, am 24. Tage 24 Zoll; in einem an⸗ 
deren wären die Gehörreflexe am erſten 
Tage inconſtant, am achten Tage traten 
ſie bei 5, am 24. bei 11 Zoll Abſtand 
der Glocke ein. Man ſieht aus dieſen 
Zahlen, wie ungleich der Fortſchritt iſt. 
Da aber das Zucken mit den Augenlidern 
nicht ausſchließlich durch Schallreize bewirkt 
und durchaus nicht jeder Schallreiz mit 
Zucken der Augenlider beantwortet wird, 
jo iſt dieſe ganze, auf nur 30 Beobachtun⸗ 
gen an 15 Kindern beſchränkte Verſuchs— 
reihe unſicher. 

Wurde die Glocke bei gut hörenden 
Kindern ſehr nahe am Ohre leiſe ange— 


nach derſelben Seite; waren ſie mit Saugen 


keit. 
machte ſie unruhig. Ich habe gleichfalls 
bemerkt, daß Säuglinge durch ſtarke Schall— 
reize, gerade wie neugeborene Thiere, in 


) Ueber die Sinneswahrnehmungen des 
neugeborenen Menſchen. Snaug.-Difjertation. 


Halle 1873. | 
\ — 8 


ſchlagen, ſo wendeten ſie bisweilen den Kopf 


| 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


große Unruhe verſetzt werden, z. B. bewirkt 
der ſchrille Pfiff einer nahen Locomotive 
leicht anhaltende lebhafte Bewegungen und 
heftiges Schreien des vorher ganz ruhigen 
Kindes. 

Aber inſofern ſtimmen meine Beobadt- 
ungen an menſchlichen Neugeborenen mit 
denen Kußmaul's überein, als innerhalb 
der erſten Stunden nach der Geburt die— 
ſelben gegen Schallreize der verſchiedenſten 
Art ſich völlig indifferent verhalten. Weder 


| ſtarkes Händeklatſchen dicht am Ohr, noch 


Pfeifen, noch Anſchreien vermochte das 
ruhende Kind im geringſten aufzuregen 
oder das aufgeregte ſchreiende zu beruhigen, 
während es heftig ſchrie, nachdem ihm in 
das Geſicht geblaſen, oder der Schenkel ge— 
ſchlagen, oder die Schläfe mit dem Finger 
öfters berührt worden war. Mein Sohn, 
den ich gerade in der erſten Zeit mehrmals 
täglich mit Rückſicht auf das Gehör prüfte, 
gab mir in zweifelhafter Weiſe in der 
21. Stunde und erſt in der erſten Hälfte 
des vierten Tages unzweifelhaft zu erken— 
nen, daß er mich hörte, indem er, wenn 
er ſchrie, ſofort aufhörte zu ſchreien, wenn 
ich pfiff, und wenn er ſatt und warm allem 
Anſchein nach behaglich dalag, beim Pfeifen 
die Augen mit einer plötzlichen Kopfbeweg⸗ 
ung aufſchlug. Da dieſer Erfolg, bei öfte— 
rer Wiederholung am vierten Tage jedes— 
mal eintrat, am dritten Tage jedoch nicht, 
ſo iſt nicht zu zweifeln, daß vermittelſt des 


Trommelfells in dieſem Falle am vierten 


beſchäftigt, ſo unterbrachen ſie ihre Thätig— | 
Sehr heftiges Anſchlagen der Glocke 


Tage der Schall empfunden wurde, vorher 
aber wahrſcheinlich nicht. 

Ob dieſe Taubheit völlig ausgetragener 
(3 und über 4 Kilo ſchwerer) Neugeborener 
durch die wegen Mangels an Luft in der 
Paukenhöhle geringere Beweglichkeit der Ge— 
hörknöchelchen bedingt oder auf das innere 
Ohr zu ſchieben iſt, muß noch entſchieden 


werden. Wenn eine vorſichtig auf den Kopf 
geſetzte ſchwingende Stimmgabel keine an— 
dere Reaktion, als eine ebenſo aufgeſetzte 
ruhende Stimmgabel beim Neugeborenen 
hervorruft, ſo würde man wohl auf eine 
Betheiligung des inneren Ohres bei der 
Taubheit der Neugeborenen ſchließen dür— 
fen. Solche Verſuche müſſen aber an vielen 
Individuen angeſtellt werden. Dagegen iſt 
gewiß, daß am vierten, und wahrſcheinlich, 
daß am zweiten und dritten Tage viele ge— 
ſunde Kinder Schallempfindungen haben, 
denn ſie werden dann öfters, wenn ſie 
ſchreien, durch akuſtiſche Reize, z. B. Pfeifen, 
beruhigt. 

Das eben ausgeſchlüpfte Hühnchen hört 
gut, da es bald nach dem Verlaſſen der 
Eiſchale dem Glucken der Henne folgt. 
Entſprechendes gilt für neugeborene Schweine. 
Spalding Douglas beobachtete nicht 
nur, daß kräftige Ferkel ſich erheben und 
der Zitze nachgehen, ſogleich oder innerhalb 
einer Minute nach ihrem Eintritte in die 
Welt, ſondern auch, daß ſie, in einem Alter 
von nur wenigen Minuten, wenn ſie in 
eine Entfernung von mehreren Fuß von 
dem Mutterthier gebracht werden, den 
Rückweg bald finden, offenbar durch das 


Grunzen deſſelben geleitet, welches ihr 
Quieken beantwortet. Die Sau erhob 


ſich in dem einen beobachteten Falle in 
weniger als anderthalb Stunden nach dem 
Wurf und ging fort, um zu freſſen; die 
Ferkel liefen umher und verſuchten allerlei 
Stoffe zu freſſen, folgten ihrer Mutter und 
ſaugten, während ſie ſtehend fraß. Eines 
der Jungen ward unmittelbar nach ſeiner 
Geburt in einen Sack gebracht und im 
Dunkeln gehalten, bis es ſieben Stunden 
alt war. Hierauf ward es außerhalb des 
Stalles zehn Fuß von der Stelle hinge— 
ſetzt, wo im Innern deſſelben die Sau 


Preyer, Zur Phyſiologie Neug eborener. 


27 


verborgen lag. Das Junge „erkannte“ 
bald das leiſe Grunzen ſeiner Mutter und 
bemühte ſich längs der Außenwand, über 
oder unter den unterſten Balken zu gelan- 
gen. Nach fünf Minuten glückte es ihm, 
unter demſelben ſich durchzuzwängen an 
einer der wenigen Stellen, wo dieſes mög— 
lich war. Eben durchgeſchlüpft, begab es 
ſich ohne Pauſe in den Stall zur Mutter 
und benahm ſich ſogleich wie die übrigen 
Ferkel. Daß bei dieſer Entdeckungsreiſe 
die durch das Grunzen bedingte Schall— 
empfindung dem erſt ſeit fünf Minuten 
dem Lichte ausgeſetzten Thiere für die ein- 
zuſchlagende Richtung beſtimmend war, iſt 
nicht zu bezweifeln. 

Aus den obigen Angaben folgt, daß 
viele neugeborene Thiere ſogleich oder am 
erſten Tage gut hören. In der That lehrt 
auch ſchon eine einfache Ueberlegung, daß 
der Fötus mehrfache Gelegenheit hat, ſchon 
vor der Geburt ſein Gehörorgan zu üben, 
freilich nur unter der Vorausſetzung, daß 
er nicht ununterbrochen bis zur Geburt 
feſt ſchläft, ſondern, wofür ſchon feine Be- 
wegungen ſprechen, empfinden kann. 

Eine häufige Erregung des Hörnerven 
iſt ſchon intra-uterin unvermeidlich; und daß 
auch leiſe ſchlafende Säuglinge auf akuſtiſche 
Reize reagiren, wurde ſchon oben mitgetheilt. 
Die intrasuterin wahrnehmbaren Geräuſche, 
um die es ſich handelt, ſind mannigfaltig 
und wechſelnd. Sie ſtammen theils von 
dem mütterlichen Körper, theils vom füta- 
len. Zu jenen gehören der Puls der 
Aorta, die fortgeleiteten Herztöne der 
Mutter, das Uteringeräuſch, ferner Darm- 
geräuſche durch Gasentwickelung und peri— 
ſtaltiſche Bewegungen, vielleicht auch Muskel— 
geräuſche. Zu dieſen ſind zu rechnen die 
fötalen Herztöne, das Nabelſchnurgeräuſch, 
die ſonderbaren abgebrochenen Geräuſche bei 


28 | Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


den Bewegungen der Frucht (möglicher— 
weiſe auch ſchon Muskelgeräuſche und Plät— 
ſchern). Alſo Gelegenheit iſt reichlich ge— 
geben, auch wenn die Stimme der Mutter 
ungehört bleiben ſollte, wie der Schall 
außerhalb des mütterlichen Organismus. 
Es iſt aber möglich, daß die Frucht ſchon 
vor der Geburt die Stimme der Mutter 
hört, wie auch andere Schallgeräuſche, wenn 
dieſelben nur ſtark genug und nahe genug 
wirken. So gut man mit dem auf die 
äußere Haut gelegten Ohr oder mit dem 
Stethoſkop die Herztöne des Kindes vor der 
Geburt deſſelben hören kann, wird auch 
das Kind einen Schall an der äußeren 
Haut hören können, wenn er laut genug 
iſt. Was in der einen Richtung gehört 
wird, wird auch in der anderen Richtung 
gehört werden können. Im Waſſer hört 
man beſſer, was an der Oberfläche und 
am Boden, alſo einer Wand des Waſſer— 
reſervoirs, in dem man ſich befindet, ertönt, 
als in der Luft, was im Waſſer ertönt. 
Das nahezu reife, ungeborene, vom Frucht— 
waſſer umgebene Kind befindet ſich jeden— 
falls durchaus nicht unter ſehr ungünſtigen 
Umſtänden bezüglich der Hörbarkeit von Ge— 
räuſchen im mütterlichen Körper. Unter den 
Klängen und Geräuſchen, die es am häufigſten 
zu hören Gelegenheit hat, nimmt aber die 
Stimme der Mutter die erſte Stelle ein. 
Ich halte es für wahrſcheinlich, daß die 
erſtaunliche Anziehungskraft, welche bei ſehr 
verſchiedenen Thieren der Lockruf der Mut— 
ter für die Neugeborenen ſchon am erſten 
Tage hat, eben daher rührt, daß dieſer 
Laut ihnen etwas bekanntes iſt, indem ſie 
ihn ſchon vor der Geburt gehört haben 
können. Bei Meerſchweinchenmüttern we— 


nigſtens habe ich auch vor dem Werfen 
das Gluckſen und Schnurren oft gehört, 
welches die Jungen gleich am erſten Tage 


veranlaßt, ſich ſchleunigſt zu ihr hin zu be— 
geben, wenn ſie nicht zu lange von ihr ge— 
trennt worden waren. Es iſt auch mög— 
lich, daß durch Reſonanz die Stimme der 
Mutter verſtärkt wird, ſo daß die reifere 
Frucht ſie, auch wenn ſie leiſe iſt, hören 
kann. Denn obgleich die Bedingungen, 
unter welchen bezüglich der Schallleitung 
und Reſonanz der Fötus im Uterus ſich 
befindet, noch nicht näher analyſirt worden 
ſind, ſo kann man doch aus den vorliegen— 
den Experimenten, wie fie zuerſt Johan— 
nes Müller anſtellte, um über das 
Hören im Waſſer lebender Thiere Aufſchluß 
zu erhalten, ſchließen, daß für manche Schall— 
arten eine Verſtärkung durch Reſonanz im 
Uterus wohl ſtattfinden kann. Immerhin 
ſind die Bedingungen zur Erregung 
des Hörnerven erfüllt. Sogar eine 
ſubjektive Erregung deſſelben kann ſchon 
intra-uterin ſtattfinden durch den Blutſtrom 
und Spannungsänderungen der ſchnell 
wachſenden Gewebe. Aber ſolches durch 
mechaniſche Reizung veranlaßtes ſubjektives 
Ohrenbrauſen wäre von ſehr untergeordne— 
ter Bedeutung gegenüber den erörterten 
objektiven Schallreizen, wenn auch die Er— 
regbarkeit des Hörnerven vor der Geburt 
noch ſo groß iſt. Hiernach iſt die ſchon 
von Anderen aufgeworfene Frage zu be— 
jahen: Ob die Annahme berechtigt ſei, 
daß der Fötus einige intra-uterine Geräuſche 
hören könne. 

Daß ſämmtliche Vögel durch die Ei— 
ſchale hindurch vor dem Ausſchlüpfen vieles 
hören können, zumal die Stimme der Henne, 
iſt nicht zu bezweifeln, falls ſie nicht bis 
zum Aufbrechen ihres Gefängniſſes ohne 
Unterbrechung feſt ſchlafen. 

Bei allen derartigen Betrachtungen iſt 
die Frage, was beim Neugeborenen die 
Paukenhöhle erfüllt, nicht von weſentlichem 


5 


Belang. Denn auch wenn vom Trommel— 
fell aus, wie es für den Menſchen höchſt 
wahrſcheinlich iſt, keine Schallſchwingungen 
vermittelſt der Gehörknöchelchen und des 
ovalen Fenſters vor der Geburt auf das 
Labyrinthwaſſer übertragen werden ſollten, 
ſo iſt die Schallleitung durch die Kopftheile 
doch unbehindert. Ich habe mich ſelbſt 
davon überzeugt, daß man unter Waſſer 
das Aneinanderſchlagen zweier Steine auf 
dem Boden mit feſt zugehaltenen Ohren 
durchaus nicht ſchlechter hört, als mit offe— 
nen Ohren. Iſt aber der Kopf über 
Waſſer, ſo hört man die Steine nicht. 
Demnach wird der Fötus im amniotiſchen 
Waſſer genügend nahe und ſtarke Geräuſche 
im mütterlichen Körper, auch wenn das 
Trommelfell gar nicht ſchwingt, durch die 
Leitung ſeitens der Kopftheile wohl hören 
können. 


2. Ueber das Sehen Weugeborener. 


Alle Säugethiere ſind vor der Geburt 
ohne Unterbrechung in einen dunkeln Raum 
eingeſchloſſen und höchſt wahrſcheinlich wer— 
den ihre Augen während der ganzen Zeit 
nicht einmal geöffnet. Bei ſehr vielen 
bleiben bekanntlich die Augen ſogar viele 
Tage nach der Geburt noch feſt geſchloſſen, 
z. B. bei Hunden, Katzen, Kaninchen, Mäu— 
ſen. Es iſt jedenfalls ſicher, daß die 
Säugethiere vor der Geburt durchaus keine 
Gelegenheit haben, irgend einen Gegenſtand 
durch den Geſichtsſinn wahrzunehmen. Sie 
können überhaupt nicht, ſelbſt wenn ſie im 


Uterus die Augen aufmachten, durch Licht⸗ 


ſtrahlen eine Erregung der Sehnerven er— 
fahren. Es muß alſo gleich nach der Ge— 


burt, wenn dieſelbe nicht in einem völlig 
dunkeln Raume ſtattfindet, das Kind wie 
die meiſten Säugethiere beim erſten Oeff- 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


29 


nen des Auges durch eine ganz neue Em— 
pfindung überraſcht werden. Auch die 
blindgeborenen Säugethiere müſſen dieſe 
Veränderung ſpüren, falls durch das Augen— 
lid etwas Licht dringt, was vor der Ge— 
burt nicht geſchehen konnte. Für ſolche 
Vögel, die in offenen, dem Tageslicht aus— 
geſetzten Neſtern brüten, iſt es dagegen nicht 
ſicher, ob nicht das Junge ſchon kurz vor 
dem Sprengen der Eiſchale eine Lichtempfind— 
ung durch objektives Licht haben kann. 
Wenn nun auch durch dieſe Thatſachen 
feſtſteht, daß ein Sehen und eine Erregung 
des Sehnerven durch objektives Licht beim 
Säugethier erſt nach der Geburt ſtatt hat, 
ſo iſt doch damit keineswegs geſagt, daß 
bei ihm überhaupt alle und jede Lichtem— 
pfindung vor der Geburt fehlte. Denn es 
kann die Netzhaut auch durch Druck und 
Zerrungen, namentlich durch Augenbeweg— 
ungen, Aenderungen des intraocularen 
Druckes und plötzlich vermehrte oder ver— 
minderte Blutzufuhr in Thätigkeit gerathen. 
Die Lichtempfindungen, welche auf ſolche 
mechaniſche Reizungen folgen, ſind bei Er— 
wachſenen mannigfaltiger Art und haben 
verſchiedene Namen, wie z. B. das Drud- 
phosphen, welches durch Drücken des Augen— 
winkels mit dem Fingernagel bei geſchloſ— 
ſenem Auge entſteht, das Funkenſehen, das 
Lichtchaos. Nicht der mindeſte Grund iſt, 
vorhanden, weshalb der reifere Fötus mit 
ſeiner durch die lange Ruhe ungemein er— 
regbaren Netzhaut nicht dann und wann 
eine ſolche ſubjektive Lichtempfindung haben 
ſollte. Sein Geſichtsfeld iſt, wenn er nicht 
ſchläft, ſchwarz. Dieſe Schwärze ſelbſt iſt ſchon 
eine Empfindung, die durch eine geringe 
Erregung der Sehnervenfaſern bedingt iſt, 
und wechſelt von der tiefſten Finſterniß bis 
zu Grau. In dem ſchwarzen Felde können 
die ſubjektiven Lichterſcheinungen ſchon vor 


30 


der Geburt auftreten. Aber mag auch die— 
ſen Empfindungen der größte Spielraum 


gewährt fein, fie find gänzlich verſchieden 


von denen nach dem erſten Eindringen des 


Tageslichts in das Auge des eben Gebore- | 
nen und ſehr viel ſchwächer als dieſe. 
Darum iſt es jedoch keineswegs überflüſſig, 


auf ihre mögliche Exiſtenz hinzuweiſen, weil 
dadurch auch für dieſen Sinn eine Art 
Continuität vor und nach der Geburt dar— 
gethan wird. 

Bei allen ausgetragenen Kindern reagirt 
die Pupille ſchon in den erſten Stunden 
auf Licht. Sie verengt ſich ſtark bei An- 
näherung an die Lichtquelle, und erweitert 
ſich bei Abwendung von derſelben wie bei 
Erwachſenen. Dieſes conſtatirte Genzmer 
auch bei einem im 8. Fruchtmonat gebore— 
nen Kinde. Ich ſah auch bei Meerſchwein— 
chen am erſten Tage die dunkelbraune Iris, 
wenn Licht einfiel, ſich verbreitern, d. h. 
die Pupille verengte ſich bedeutend, und 
ſie erweiterte ſich ſogleich beim Beſchatten 
des Auges wieder. Die jungen Meer— 
ſchweinchen ſuchen ſchon am erſten Tage, 
ſich ſelbſt überlaſſen, dunkle Ecken zu er 
reichen. Helles Licht iſt ihnen offenbar un— 
angenehm. 

Kußmaul meint dagegen, ſchon zwei 
Monate vor dem gewöhnlichen Termin ge— 
borene Kinder ſuchten das Licht, und einen 
Tag nach der Geburt veranlaſſe ſchon bis— 
weilen mäßiges Licht ein Luſtgefühl. Er 
ſah wenigſtens in einem ſolchen Fall das 
Kind am zweiten Tage Abends in der 
Dämmerung den vom Fenſter abgewende— 
ten Kopf auch bei veränderter Lage wieder— 
holt dem Fenſter und Lichte zuwenden. 
Bei anderen Siebenmonatkindern wurde 
derartiges nicht wahrgenommen. 
| Genzmer beſtätigt dieſen Befund und 
. es könne in dem Suchen des Lichtes 


Licht in das Auge fiel. 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


der Anfang einer auf reflektoriſchem Wege 
zu Stande kommenden Fixation liegen. 
Wahrſcheinlicher iſt aber die Annahme, daß 
die mäßige Erregung der Netzhaut des Neu— 
geborenen allerdings ein Luſtgefühl bedingt, 
denn ich ſah ein Kind innerhalb der erſten 
fünf Minuten nach der Geburt, als ich es 
mit dem Geſicht gegen ein Fenſter im 
Zwielicht hielt, wiederholt die Augen öffnen 
und ſchließen, und zwar nicht beide Augen 
gleichzeitig und nicht beide gleich weit. 
Manchmal war die Lidſpalte 5 Millimeter 
breit. Hierbei ſchrie das Kind nicht. Gegen 
Ende des erſten Lebenstages hielt es beide 
Augen weit offen dem Dämmerlicht zuge— 
wendet und bewegte die Augen lebhaft mit 
einem Mienenſpiel, das ſehr wohl für den 
Ausdruck eines Luſtgefühls gelten konnte, 
denn es veränderte ſich plötzlich, als ich 
das Geſicht beſchattete. 

Auch operirte Blindgeborene (3. B. der 
von Everard Home)) freuen ſich über 
das erſte Licht. Durch ihre Neuheit feſſelt 
die Lichtempfindung, welche nicht blendet 
d. h. ſchmerzt, das Kind, ſo daß es ſich 
bewegt, wenn die Empfindung fortfällt. 

Die Erregbarkeit des Sehnerven muß 
unmittelbar nach der Geburt, alſo nach 
einer ſehr langen Ruhe, eine ganz außer- 
ordentliche fein. Schon daraus möchten, 
dieſes hervorgehen, daß Neugeborene im 
Tageslicht ihre Augen, wie ich oft wahr- 
nahm, zukneifen, und ſogar ſchon mehrere 
Tage alte, ſchlafende Kinder die Lider 
ſtark zuſammenkneifen, zuſammenfahren 


) Philos. Transact. London, 1807. J. 
S. 87: Er freute ſich ungemein über das 
Sehen und fand es „ſo hübſch“, auch wenn 
kein Gegenſtand dicht vor ihm ſtand und nur 
Der Knabe empfand 
ein ſolches Vergnügen am Sehen (am Lichte), 
daß er den Verband ſogleich beſeitigte. 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


und erwachen, wenn man ein helles 
Lampenlicht dem Auge ſchnell nahe bringt. 

Hier genügt alſo das durch die Augen— 
lider fallende Licht von der Farbe des 
Blutes zur Reflexbewegung und zum 
Wecken, wenn das Licht geräuſchlos nahe 
kommt. Ferner werden manche Neugeborene 
durch plötzliche grelle Beleuchtung oder 
ſchnell wechſelndes blendendes Licht zu all— 
gemeiner Unruhe oder zum Schreien ge— 
bracht, wie Genzmer fand und ich be— 
ſtätigen kann. 0 

Bei einer ſolchen Empfindlichkeit der 
Netzhaut iſt es nicht möglich, daß das 
Neugeborene in der allererſten Zeit irgend— 
welchen hellen Gegenſtand deutlich ſieht. 
Wenn der Erwachſene nach ſtundenlangem 
Aufenthalt im Dunkeln plötzlich in einen 
hellerleuchteten Raum oder in den Sonnen— 
ſchein gelangt, jo ſteht er geblendet da, er— 
kennt nichts deutlich, macht die Augen zu, 
getraut ſich nicht, ſie ſogleich wieder aufzu— 
machen und kann erſt nach öfteren Ver— 
ſuchen mit verkleinerter und verſchmälerter 
Lidſpalte blinzelnd Einzelnes deutlich ſehen. 
Ganz ähnlich das Neugeborene. Es wird 
geblendet vom Tageslicht, wie vom Kerzen— 
und Lampenlicht. Ihm iſt ſchon das durch 
die Lider bei geſchloſſener Lidſpalte ein— 
dringende Licht zu ſtark. Es kneift noch 
die Lider zuſammen, verträgt nur die 
Dämmerung ohne Unluſt und gewöhnt 
ſich erſt nach einigen Tagen an das diffuſe 
Tageslicht. Dann erſt kann überhaupt 
vom Beginn des Sehens die Rede ſein, 
welches allemal die Exiſtenz und die Unter— 
ſcheidung von Lichtempfindungen vorausſetzt. 


Daß übrigens die Augen beim Neu- 
geborenen ohne Rückſicht auf Licht geöffnet 


und geſchloſſen werden, läßt ſich verſchie— 
dentlich zeigen. Das oben erwähnte Zucken 
der Lider beim Hören des Glockenſchlages 


iſt ein Beweis dafür. Häufige Beobacht— 
ung der Säuglinge hat mich überzeugt, 
daß oftmals, wenn dieſelben angenehm 
erregt zu ſein ſcheinen, die Augen weit 
geöffnet werden, z. B. beim Saugen, beim 
Entleeren der Blaſe. Einmal konnte ich 
ſogar drei Minuten nach dem Austritt des 
Kopfes in der Geburt daſſelbe wahrnehmen. 
Das Kind ſchrie ſogleich, als der Kopf 
geboren war. Ich führte nun einen 
Finger in die Mundhöhle ein und 
drückte auf die Zunge. Sofort hörte 
alles Schreien auf, lebhafte Saugbewegun— 
gen begannen und der bis dahin hüchſt 
unzufriedene Geſichtsausdruck wurde plötz— 
lich umgewandelt. Das Kind ſchien jetzt 
etwas Angenehmes zu empfinden und da— 
bei — während des Saugens — wurden 
die Augen weit geöffnet, wie ich 
es bei älteren ſaugenden Kindern oft ſah. 
Beim Schreien werden die Lider dagegen 
zuſammengekniffen, wie ich bei mehreren 
Kindern ſchon am erſten Tage wahrnahm. 
Daß dieſes Oeffnen und Schließen der 
Augen bei den Gefühlen der Luſt und Un— 
luſt mit dem Sehen nichts zu thun hat, 
iſt klar. 

Bei ſchneller Annäherung der Hand an 
das offene Auge von vorn ohne Berühr— 
ung wird, wie ich oft feſtſtellte, von mehr— 
tägigen, ſogar achttägigen Säuglingen nie— 
mals das Auge geſchloſſen wie von Er— 
wachſenen. Berührte ich aber das Lid, die 
Bindehaut oder Hornhaut des Auges oder 
die Augenwimpern von Neugeborenen, ſo 
wurde jedesmal das Auge geſchloſſen bei 
Menſchen wie bei Thieren. Dieſe Reflex— 


bewegung läuft unabhängig vom Sehakt 
ab, ohne alle Betheiligung des Sehnerven, 
während die erſtere nur zu Stande kommt 
durch das Sehen der ſich nähernden Hand, 
Außerdem 


alſo mittelſt des Sehnerven. 


32 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


erfordert fie extra-uterine Erfahrung. Denn 
an ſich iſt kein Grund da, bei ſchnellerer 
Annäherung eines Objekts eine Lidbeweg— 
ung auszuführen, bei langſamer nicht. Es 
muß erſt die Vorſtellung der Gefahr hin— 
zutreten. Dieſe fehlt aber natürlich dem 
neugeborenen Menſchen 
Erwachſenen iſt es die Vorſtellung, daß die 
Hand das Auge berühren könnte, welche 
bei ſchneller Annäherung den Lidſchluß zur 
Folge hat. Es iſt übrigens bemerkens— 
werth, daß der reflektoriſche Lidſchluß nach 
Berührung des Auges bei neugeborenen 
Menſchen und Thieren nicht ſo ſchnell und 
vollſtändig eintritt, wie bei Erwachſenen. 
Der Reflexbogen vom Nervus trigeminus 
auf den N. oculomotorius iſt alſo vor der 
Geburt nicht ſo widerſtandsfrei wie der 
vom Sehnerven auf den N. oculomotorius, 
welcher ſich durch die Pupillenenge im 
Lichte kundgiebt. Man erkennt an dieſem 
Unterſchied ſehr deutlich den Unterſchied 
ererbter Reflexaktionen von erworbenen 
Reflexaktionen. 

Die Augen bewegungen ſind in den 
erſten Tagen völlig ungeordnet. Ich habe, 
wie viele andere, conſtatirt, daß in den 
erſten Tagen der Blick nicht der bewegten 
Kerze folgt, und die Angabe Darwin's “), 
der zu Folge das Kerzenlicht nicht vor 
dem neunten Tage angeſtarrt wurde, iſt 
öfter beſtätigt gefunden worden. Es war 
gerade am neunten Tage, als mein Kind 
die Kerzenflamme in einem Meter Entfern- 
ung aushielt. Man muß aber hierbei un— 
terſcheiden die Anſtarrung des unbewegten 
Lichtes oder eines ruhenden hellen Gegen— 
ſtandes und die Verfolgung eines hin- und 
herbewegten Lichtes oder langſam ſchwingen— 
den glänzenden Objekts mit dem Blick. 
Zum erſten Anſtarren bedarf es keiner 


) Kosmos, I. S. 367 flgde. 


gänzlich. Beim 


Kopf- und Augenbewegungen, da man nur 


das helle Objekt in paſſendem Abſtande 
vom offenen Auge in die Blicklinie zu 
bringen hat. Der ſtarre Ausdruck des 
Auges und das Aufhören der Bewegungen 
oder des Schreiens verrathen dann die 
Lichtempfindung. Die Perception jenes Ab— 
ſtandes, d. h. die Kenntniß der dritten 
Raumdimenſion, iſt aber vor dem neunten 
Tage beim Menſchen noch nicht ausgebildet 
und nach Jahren noch ſehr unvollkommen, 
denn kleine Kinder greifen nach der ihrem 
Arm unerreichbaren Lichtflamme, nach weit 
entfernten Gegenſtänden. Das erſte An— 
ſtarren eines hellen Gegenſtandes hört auf, 
wenn derſelbe auch nur langſam bewegt 
wird. Erſt jeher ſpät — bei Darwin's 
Kind nach 7½ Monaten noch nicht ſicher 
— wird das langſam geſchwungene Objekt 
mit dem Blicke verfolgt. Doch ſah ich 
ein Kind von 23 Tagen ſehr correkt das 
Licht verfolgen, welches ich um es herum 
bewegte. Sein Blick blieb dabei auf mich 
gerichtet und es wurden ſymmetriſche Augen— 
bewegungen gemacht. Hierzu iſt freilich 
eine Beherrſchung der Augenmuskeln erfor— 
derlich, die nur durch häufige Uebung nach 
der Geburt von dem Kinde erworben wird. 

Daſſelbe gilt für die Accommo— 
dation. Hier iſt jedoch der Reflexvor— 
gang einfacher. Denn eine Annäherung 
des Lichtes bei unbewegten Augen bewirkt 
Convergenz der Blicklinien bei Kindern von 
zwei bis ſechs Wochen, auch Schielen, und dieſe 
Convergenzſtellung ſcheint mit einer Anſpann— 
ung des Ciliarmuskels verbunden zu ſein, wie 
Genzmer durch Beobachtung des Linſen— 
bildchens ermittelte. Er betrachtete ein Auge, 
während das andere abwechſelnd beſchattet 
und grell beleuchtet wurde, und ſchließt, 
daß ein vorgebildeter Zuſammenhang zwi— 
ſchen Convergenzſtellung und Accommoda— 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 33 


tionsſpannung beſteht. In der That iſt | gen wird. Am eheſten ſcheint der Säug— 
dieſe Vermuthung höchſt wahrſcheinlich. ling das Geſicht ſeiner Mutter oder Amme 
Denn daß der Reflexbogen vom Sehnerven deutlich zu erkennen, indem dieſes am öfte— 
auf den Nervus oculomotorius ſchon vor | ften ſich auf feiner Netzhaut abbildet und 
der Geburt fertig präexiſtirt, iſt durch die ihr zugleich fo nahe iſt, daß es am häufig— 
oben erwähnte Verengerung der Pupille bei ſten in deutlicher Sehweite zu liegen kom— 
Beleuchtung des Auges unmittelbar nad men wird. Hierdurch wird alſo der Unter— 
der Geburt bewieſen. Nun iſt aber der ſchied des verwaſchenen Netzhautbildes (ferner 
zuletzt genannte Nerv, durch deſſen Erreg- und zu naher Objekte) von ſcharfen Netz— 
ung die Pupille ſich verengt, zugleich der | hautbildern dem Kinde aufgedrängt. Es 
Accommodationsnerv, welcher den Ciliar- müſſen die Zerſtreuungskreiſe ſich weniger 
muskel beim Sehen naher Gegenſtände an- geltend machen, wenn das Mäßighelle in 
ſpannt. Es begreift ſich alſo, daß beim einem gewiſſen geringen Abſtande vom Auge 
Annähern eines hellen Objekts an das ſich befindet; in allen anderen Abſtänden 
Auge die Accomodationsmaſchinerie in Thä- treten fie hervor. 
tigkeit geräth, und zwar in dieſem Falle Bezüglich des zweiten Punktes iſt ge⸗ 
zum erſten Male. Ferner wird durch den- wiß, daß in den erſten Tagen oder Wochen, 
ſelben Nerv, der vier von den ſechs Mus- auch wenn einmal die Zerſtreuungsbilder 
keln des Auges verſorgt, die Drehung gänzlich fehlen ſollten, doch die Geſtalt des 
beider Augen nach innen, d. h. die Con- Objektes nicht deutlich geſehen werden kann, 
vergenzſtellung, herbeigeführt; alſo Pupillen- ſondern nur das Helle deutlich empfunden 
verengerung, Accommodationsanſtrengung wird. Alle Erfahrungen an blindgeborenen 
und Convergenz der Blicklinien treten zu- Menſchen, welche nach Jahren noch operirt 
gleich ein, wenn dem Säugling ein Licht wurden, ſprechen dafür. Und wenn auch 
genähert wird, ohne daß die geringſte | das Sehenlernen Solcher ein anderes als 
Willkür oder Abſicht darin erblickt werden das Sehenlernen normaler Säuglinge iſt, 
dürfte. weil durch jahrelange Ruhe der centralen 
Durch das Zuſammentreffen dieſer drei [Sehſinnorgane eine theils langſamere, theils 
Proceſſe, von denen nur die Pupillenver- ſchnellere funktionelle Ausbildung derſelben 
engerung nicht unmittelbar gefühlt wird, wahrſcheinlich wird, ſo iſt doch gar kein 
mit dem Auftreten der Empfindung des Grund vorhanden, einen durchgreifenden 
Hellen wird jedenfalls das Sehenlernen weſentlichen Unterſchied beider Entwickelun— 
eingeleitet. Aber weder find gleich anfangs gen des Sehakts zu ſtatuiren, wenn die 
die Bedingungen für das Zuſtandekommen Operation noch im Kindesalter ausgeführt 
eines ſcharfen Netzhautbildes der Flamme wird. In beiden Fällen werden unter den 
gegeben, noch würde, wenn daſſelbe ent- unzähligen Netzhautbildern diejenigen mitt— 
ſtände, ſogleich die Flamme deutlich geſehen lerer Helligkeit und diejenigen, deren Zer— 
werden können. Denn bezüglich des erſte- ſtreuungskreiſe ein Minimum ausmachen, 
ren Punktes iſt einleuchtend, daß nur ſelten vor allen anderen bevorzugt werden müſſen. 
die Flamme der Kerze (oder ein beliebiges Denn die großen Helligkeiten bewirken Un— 
anderes helles Objekt) gerade in die deut- luſt, wie jede zu ſtarke Nervenerregung, 
liche Sehweite des kindlichen Auges gelan- und die Dunkelheit bedingt immer eine 


Kosmos, Band UI. Heft 1. 5 


34 


ſchwächere Nervenerregung, als das Mäßig⸗ 
helle. Von den Bildern mittlerer Licht⸗ 


ſtärke wird aber dasjenige, welches ſcharf 


iſt, darum vor allen anderen 
weil es, abgeſehen von dem 


begrenzt 
beachtet, 


Luſtgefühl, ſich von allen anderen unter⸗ 


ſcheidet leben durch ſcharfe Conturen), die 
Orientirung beſſer zu Stande kommen läßt 


und ſich beſſer wieder erkennen läßt. Alſo 
müſſen in der Concurrenz aller Netzhaut⸗ 
bilder die helleren und ſchärferen ſich den 
Kindern am erſten und nachhaltigſten ein⸗ 
prägen, und es müſſen daher die anderen 
vernachläſſigt werden. Nun iſt es aber 


weit gefehlt, wenn man das erſte Anftar- | 


ren einer Kerzenflamme ſchon ein Fixiren 
nennt, wie es gemeiniglich geſchieht. Fixiren 
heißt willkürlich einen leuchtenden Punkt 


auf der Stelle des deutlichſten Sehens, dem 


gelben Fleck, deutlich zur Abbildung 
bringen. Das Kind, welches zum erſten 
Male die Kerzenflamme anſtarrt, hat aber 


keine Willkür, und bei ihm iſt daher ein 


Fixiren mit Abſicht nicht möglich. Viel⸗ 
mehr hält es das Auge, nur durch die 
neue Empfindung des Lichtes gefeſſelt, in 
der Richtung der ſchon in ſeiner Blicklinie 
befindlichen Flamme. Wie lange es 
dauert, bevor ein abſichtliches Fixiren ſtatt⸗ 
findet, zeigt die Thatſache, daß erſt nach 
einigen Wochen der Blick dem bewegten 


Lichte folgt, während das Anſtarren des 


vor das Auge gehaltenen Lichtes ſchon am 
neunten Tage eintritt. 


Hiernach ſind die Angaben Genzmers 
zu berichtigen, welcher meint, ein wahres 
Minute fand es die Zitze. In beiden Fällen 


Fixiren, eine Einſtellung des gelben Flecks, 


könne ſchon in den erſten Lebenstagen ein⸗ 
Die einzige Beobachtung die er zu 


treten. 
Gunſten dieſer Behauptung anſtellte, iſt 
dieſe: Schüttelte er einen Bund blanker 
Schlüſſel etwa 15 Zoll vor den Augen 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


der Kinder, deren jüngſtes zwei Tage alt 
war, ſo trat „ein deutliches Fixiren mit 
parallelen Sehaxen“ ein und die Kinder 
folgten durch Drehungen des Kopfes allen 
Bewegungen des beſtändig geſchüttelten 
Schlüſſelbundes. Offenbar handelt es ſich 
hierbei um eine Luſtempfindung durch das 
Geräuſch der aneinandergeſtoßenen Schlüſſel. 
Das Anſtarren derſelben mit parallelen 


Sehaxen iſt eine Begleiterſcheinung (S. 42), 
ein Ausdruck der Luſt, und etwas ganz 


anderes, als eine von dem Beobachter an⸗ 
genommene Einſtellung des gelben Flecks. 
Die Drehungen des Kopfes wurden, we 
nigſtens bei dem zweitägigen Kinde, ſchwer⸗ 


lich durch Aenderungen des Netzhautbildes 
bedingt, denn ſie traten bei Bewegungen 


| 
| 
| 
| 


| 


| 
| 
1 
| 


des nicht geſchüttelten, alſo geräuſchloſen 
Schlüſſelbundes nicht ein, alſo iſt es 
wahrſcheinlich, daß das Kind ſich nach der 
Schallquelle umwendet, wie oben nach der 
Glocke (S. 37). 

Viele neugeborene Thiere haben freilich 
ſchon in den erſten Lebensſtunden die Fähig⸗ 
keit, nicht nur den Kopf, ſondern den gan⸗ 
zen Körper nach einem Geſichtseindruck in 


Bewegung zu ſetzen, z. B. die jungen 
Schweine. Spalding verband zwei eben 


geborenen Ferkeln die Augen. Das eine 


wurde ſogleich zur Mutter gebracht: es fand 


bald die Zitzen und begann zu ſaugen. 
Sechs Stunden ſpäter wurde das andere 


in einer kleinen Entfernung von der Sau 


hingeſetzt. 


Es erreichte dieſelbe in einer 
halben Minute nach einem etwas unſtäten 
Umhergehen. Nach einer weiteren halben 


muß alſo der Geruch und das Getaſt, in 
letzterem wahrſcheinlich das Gehör, für die 
Richtung der Bewegung maßgebend ge⸗ 
weſen ſein. Es iſt aber nicht ausdrücklich 
angegeben, ob die Sau grunzte. Am 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


| 


folgenden Tage zeigte es ſich, daß das eine 
der beiden Ferkel, die bei der Mutter ge | 
laſſen worden waren, die Bandage nicht 
mehr hatte. Das andere war vollkommen 
unvermögend zu ſehen, ging umher und 
ſtieß gegen Gegenſtände an. Am Nach— 
mittag wurde die Binde entfernt. Es lief 
nun herum, als wenn es vorher hätte 
ſehen können und plötzlich ſein Sehver— 
mögen verloren hätte. Nach zehn Mi— 
nuten war es aber kaum von einem 
Ferkel zu unterſcheiden, das ohne Un— 
terbrechung ſich des Augengebrauchs er— 
freute. Auf einen Stuhl geſetzt, ſah es, 
daß die Höhe Ueberlegung (considering) er⸗ 
forderte, kniete nieder und ſprang hinab. 
Zwanzig Minuten nach der Entſchleierung 
wurde dieſes Thier mit einem anderen zu- 
ſammen 20 Fuß weit vom Stall hingeſetzt. 
Beide Ferkel erreichten ihre Mutter nach 
5 Minuten und in demſelben Augenblick. 

Wenn im letzterwähnten Verſuche Geruch 
und Gehör nicht ausgeſchloſſen ſind und 
die Nachahmung und Nachfolge des un— 
unterbrochen ſehfähigen Thieres ſeitens des 
anderen, erſt ſeit 20 Minuten ſehfähigen 
wahrſcheinlich wird, ſo kann doch die über⸗ 
aus merkwürdige Thatſache des Hinab— 
ſpringens vom Stuhle, nach vorherigem 
Niederknieen, nur auf einem Sehakt be— 
ruhen. Der Proceß der Diſtanzenſchätzung 
in dem Gehirn des noch nicht zweitägigen, 
bis vor 10 Minuten nicht ſehenden Thieres 
vor dem Hinabſpringen mag noch ſo un— 
vollkommen ſein, er beweiſt, daß ſchon ſo 
früh die dritte Raumdimenſion durch das 
Auge, alſo als Reſultat von Netzhautein⸗ 
drücken, in der Wahrnehmung zum Be— 
wußtſein kommt, andernfalls hätte das 
Thier nicht vor dem Sprung niederknieen 
können. Da es nun bis dahin keine Ge— 
ſichtswahrnehmungen gehabt hatte und in 


. — 


35 


den 10 Minuten keine, die es zum Sprin⸗ 
gen veranlaßten, ſo muß die Verbindung 


von Netzhauterregung, Diſtanzenſchätzung, 


Muskelbewegung zum Knieen und darauf⸗ 
folgendem Springen ererbt ſein. Denn 
eine ſolche Erfindungsgabe, die Initiative 
zu jo vernünftigem und zweckmäßigem Ver— 
fahren aus Ueberlegung wird Niemand 
einem ſo jungen, bis vor 10 Minuten ge— 
blendet geweſenen Thiere zuſchreiben. Es 
ſpringt richtig, weil ſeine Vorfahren es 
unzählige Male auch gethan haben, ohne 
lange zu warten oder gar zu überlegen. 
Ein menſchlicher Säugling gleichen Alters 
erfreut fi dieſer Aſſociation von Netzhaut⸗ 
erregung und coordinirter Muskelbewegung 
nicht. Er fällt, ſich unzweckmäßig bewegend, 
vom Stuhl, wie ein blindes Thier. Das 
junge wie das alte, Meerſchweinchen da⸗ 
gegen ſpringt nicht und fällt nicht, ſondern 
es läßt ſich fallen, wie ich öfters conſtatirte. 

Beim Menſchen ſind ſo viel mehr 
Aſſociationen, der Möglichkeit nach, als beim 
Thiere im Augenblick der Geburt vorhan- 
den, daß alle nur erſt durch längeres Wachs 
thum nach der Geburt ſich ausbilden können. 
Vor der Geburt ſchon ſo complicirte Aſſo— 
ciationsmechanismen auszubilden, wie die 
eben erörterten, geht darum nicht an, weil 
zu viele andere Mechanismen mit ihnen 
concurriren. Potentiell ſind alle da, aber 
es hängt von der Erfahrung, d. h. der 
Reizung von außen, dem mehr oder weni— 
ger oft wiederholten Betreten der einzelnen 
Aſſociationsbahnen im Cerebroſpinalſyſtem 
ab, welche ſchließlich am leichteſten fungiren. 
Mit anderen Worten, das Kind lernt 
viel mehr als das Thier. Der Vorzug 
des Thieres, welches ſeine Netzhauterreg— 
ungen ſogleich zu ſeinem eigenen Vortheil 
durch Springen verwendet, iſt alſo nur 
ein ſcheinbarer, denn es fehlt ihm die An— 


36 


lage, zahlreiche andere nützliche Verwerth— 
ungen zu erlernen. Weil eben dieſe An— 
lage nicht da war, konnte bei ihm ſchon 
vor der Geburt die geringe Anzahl von 
Aſſociationen ſich viel vollkommener ausbil- 
den. Dieſe vollkommenere einfeitige Ausbild- 
ung iſt das Weſen des Inſtinktes, deſſen 
Gegentheil, die Ueberlegung, nur durch die 
Möglichkeit vieler verſchiedenartiger Beant— 
wortungen deſſelben Sinneseindrucks gege— 
ben iſt. 

Bezüglich des Farbenſehens neu— 
geborener Kinder iſt zwar uubeſtreitbar, 
daß ein grünes Licht von ihnen anders als 
ein rothes oder blaues oder gelbes empfun— 
den wird, aber es macht kleinen Kindern, 
auch mehrjährigen, wie ich ſelbſt conſtatiren 
konnte und auch Darwin fand, große 
Schwierigkeiten, die Farben richtig zu be— 
nennen. Zwei aufgeweckte Knaben, bei 
denen mir dies auffiel, hatten trotz der 
größten Ausdauer ihrer Mutter im Unter- 
richten, als ſie ſchon faſt alle Gegenſtände 
ihrer Umgebung kannten, nach mehreren 
Monaten erſt einige Sicherheit im Benen- 
nen der Farben erworben; aber erſt noch 
ſpäter wurde die anfängliche Befürchtung, 

ſie möchten farbenblind fein, zunichte. Es 
verhält ſich hiermit ähnlich, wie mit Tönen. 
Einen Ton richtig zu benennen, lernen 
viele Kinder erſt nach ſehr langer Uebung, 
manche niemals. Aus dieſem Mangel 
ſchließen wollen, die Kinder empfänden 
die Farben nicht verſchieden, wäre ebenſo 
falſch, wie es falſch iſt, aus den unvoll— 
kommenen Benennungen der Farben und 
Töne in vielen alten und neuen Sprachen 
auf Farbenblindheit oder einen Mangel 
des Gehörorgans zu ſchließen. 

Solche Blindgeborene, welche zu einer 
Zeit, in der ſie ſchon die Benennung der 

getaſteten Gegenſtände gelernt haben und 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugebor 


ener. | 


fließend ſprechen können, durch Operationen 
ſehend werden, unterſcheiden die Farben 
ſogleich und benennen ſie in ſehr kurzer 
Zeit richtig, wie ſich aus den Berichten 
über dieſelben deutlich ergiebt. Beſonders 
beachtenswerth — wegen der Analogie mit 
dem Erlernen der Tonbenennungen — iſt 
in dieſer Hinſicht die Angabe von Franz!) 
über ſeinen 17 jährigen Patienten: Er er⸗ 
kannte die verſchiedenen Farben mit Aus- 
nahme von Gelb und Grün, welche er 
häufig verwechſelte, aber, wenn ſie ihm 
gleichzeitig vorgelegt wurden, unterſchied. 
Er konnte jede einzelne Farbe richtig be— 
zeichnen, wenn ihm mehrere zugleich gezeigt 
wurden. So habe ich auch bei einem ge— 
ſunden Knaben bemerkt, daß er, als er 
ſchon jede Farbe einer bunten Tiſchdecke 
richtig angab, doch beim Vorlegen einer 


einzelnen Farbe häufig in der Benennung 


irrte. So werden auch die Töne der Ton— 
leiter e d e oder f g a richtig benannt, 
wenn der einzelne Ton noch nicht jedesmal 
richtig benannt wird. Schließlich ſei noch 
ein hierher gehöriger Fall mitgetheilt, welcher 
zeigt, wie eigenthümlich bisweilen Kinder 
bei Bezeichnung ihrer Geſichts- und 
Ton⸗ Empfindungen verfahren. Ein vier⸗ 
jähriger Knabe fragte ſeinen Vater, ob er 
auch ſo pfeifen könne, wie der Buchfink im 
Garten, und als der Vater das Gezwitſcher 
nachzuahmen verſuchte, ſagte das Kind: 
„Nein der Fink pfeift viel rother als du, 
du pfeifſt brauner“. Dieſe Aeußerung zeigt, 
daß der vierjährige Sohn Unterſchiede der 
Tonhöhe wohl empfinden, nicht aber ſprach— 
lich ausdrücken konnte. Denn er wußte 
noch nicht, was hoch und tief bei Tönen 
bedeute. Um ſeiner Empfindung, daß der 


Vogel höher als der Vater pfiff, Ausdruck 
London 1841, 


) Philosoph. Transact. 
I. S. 59. 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.. 


zu geben, übertrug er die Empfindungs— 
unterſcheidung vom Farbengebiet auf das 
Tongebiet. Für ihn war Roth höher als 
Braun und — wie ſich bei einem andern 
ähnlichen Anlaß ergab — Gelb höher als 
Roth. Der Unterſchied der Tonhöhe und 
der der Farbenwärme (Farbenhöhe) waren 
ihm ähnlich im Gefühl. Dabei ſcheint mir 
beachtenswerth, daß die Maler ſich ebenſo 
ausdrücken — Gelb iſt hoch gegen Roth, 
Roth hoch gegen Braun — und daß die 
Gefühle der Wärme und Kälte bei Farben 
mit der Tiefe und Höhe derſelben zuſam— 
mengehen. Sehr intereſſant wäre es, mehr 
folder Irrthümer kleiner Kinder bei der 
ſprachlichen Bezeichnung ihrer Empfindungen 
zu regiſtriren. 

Der Sprachſchatz des Kindes iſt ſo 
klein, daß es genöthigt wird, mehrere Em— 
pfindungen und Gefühle mit demſelben 
Ausdruck zu benennen. Es wird dabei 
das Aehnliche zuſammenfaſſen. 

Bezüglich des Zeitpunktes, in dem die 
Farben deutlich unterſchieden und zugleich 
die Formen und Entfernungen erkannt 
werden, fehlt es noch an Angaben. 


verſchieden empfunden werden, ehe ihre 
Begrenzungen und die Gegenſtände durch 
den Geſichtsſinn wahrzunehmen ſind, be— 
weiſen die an Blindgeborenen, welche durch 
Operationen ſehend werden, gemachten Be— 
obachtungen. Auch ſpricht dafür eine merk— 
würdige Aeußerung des unglücklichen Kaspar 
Hauſer, welche Anſelm von Feuerbach 
mittheilt?): Im Jahre 1828 follte Kaspar 
Hauſer bald nach ſeiner Ankunft in Nürn⸗ 

) In feiner Schrift: Kaspar Hauſer. 
Ansbach 1832. S. 77 flgde. 


Daß 
aber die Farben der Außenwelt lebhaft 


37 


berg im Veſtner Thurm nach dem Fenſter 
ſehen, von dem aus eine weite farbenreiche 
Sommerlandſchaft zu überſehen war. Kaspar 
Hauſer wandte ſich ab. Ihm war der 
Anblick widerlich. Später aber, als er 
längſt ſprechen gelernt hatte, gab er befragt 
die Erkärung: „Wenn ich nach dem Fenſter 
blickte, ſah es mir immer fo aus, als 
wenn ein Laden ganz nahe vor meinen 
Augen aufgerichtet ſei und auf dieſem La⸗ 
den habe ein Tüncher ſeine verſchiedenen 
Pinſel mit Weiß, Blau, Grün, Gelb, Roth 
alle bunt durcheinander ausgeſpritzt. Ein⸗ 
zelne Dinge darauf, wie ich jetzt die Dinge 
ſehe, konnte ich nicht erkennen und unter— 
ſcheiden. Das war dann gar abſcheulich 
anzuſehen“.“) Dieſer Ausſpruch beſtätigt 
durchaus eine merkwürdige divinatoriſche, 
12 Jahre vor dem Auftreten des Kaspar 
Hauſer von Schopenhauer niedergeſchrie— 
bene Aeußerung. Dieſer ſagte nämlich“): 

„Könnte Jemand, der vor einer ſchönen 
weiten Ausſicht ſteht, auf einen Augenblick 
alles Verſtandes beraubt werden, ſo würde 
ihm von der ganzen Ausſicht nichts übrig 
bleiben, als die Empfindung einer ſehr 
mannigfaltigen Affektion ſeiner Retina, 
welche gleichſam der rohe Stoff iſt, aus 
welchem vorhin ſein Verſtand jene Anſchau— 
ung ſchuf.“ 

Das neugeborene Kind hat noch keinen 
Verſtand und kann darum, wie der große 
Philoſoph ſehr treffend anführte, anfangs 
noch nicht ſehen, ſondern nur das Licht 
empfinden. 


) Näheres in meiner Schrift: Die fünf 
Sinne des Menſchen. Leipzig 1870. S. 69. 

**) „Ueber das Sehen und die Farben“. 
Leipzig 1816. S. 14. 


(Fortſetzung folgt.) 


8 


10 „Jie lebhaften Farben, die ele— 
7 ganten Formen und der Ge— 
a 982 ſang der Vögel üben eine 
. 923 mächtige Anziehung aus, die 
uns faſt unwillkürlich zur 
Beobachtung und zum Studium dieſer 
Thiere anſpornt, während deren Sitten 
und unverkennbare Intelligenz uns die 
größte Bewunderung einflößen. Wer hat 
nicht über den Fleiß, die Ausdauer und 
die Kunſt, mit der die Vögel ihre Neſter 
bauen, geſtaunt? Brauche ich doch nur 
die der Beutelmeiſe, des Ciſtenſängers, des 
Webers ꝛc. zu nennen. Und doch iſt es 
in allen dieſen Bauten die Nothwendigkeit, 
die den Vogel zum Neſtbau treibt; und 
die angewandte Sorgfalt behält nur im 
Auge, die Wohnung der Kinder bequemer, 
ſanfter, gegen den Regen und ſonſtige 
Witterungsungelegenheiten ſowie gegen 


Feinde geſchützter anzulegen und herzu— 
richten. Die Neſter ſind alſo für die 


Vögel Nothwendigkeits⸗ Gegenſtände, und 


9 Aus den „Annuali del Museo Civico 
di Storia naturale di Genova“. Vol. IX. 


Fasc. 3, 4. 1877. 


Die Hütten und Gärten von 
Amblyornis inornata. 


Von 


D. HBeccari.“) 


wir ſehen in ihnen mehr das Nützliche 
als das Schöne vertreten, weshalb man 
auch ſelten ein Neſt mit irgend einer Art 
Verzierung antrifft. Es iſt jedoch eine 
ganze Gruppe Vögel bekannt, die ſich nicht 
mehr mit einem einfachen Neſte begnügen, 
um dort die Eier niederzulegen und die 
Jungen aufzuziehen oder ſie in einigen 
Fällen als Wohnung zu benutzen: bei ihnen 
iſt der Luxus, die Feinheit und der gute 
Geſchmack ſo ſehr entwickelt, daß ſie ſich 
beſondere Geſellſchaftslocale errichten, die ſie 
dann nach ihrer Phantaſie verſchönern und 
ſchmücken und in denen ſie ſich dem Ver— 
gnügen und aller Art von Tollheiten hin— 
geben. Dieſe beflügelten Lüſtlinge gehören 
der Familie der Paradiesvögel an. Es ſind 
die Arten der Gattungen Chlamydodera, 
Ptilonorhynchus, Sericulus und Ambly- 
die ausſchließlich Auſtralien und 
Neu-Guinea bewohnen. Die Lauben, 
Gallerien oder Hütten der Chlamydodera 
ſind bereits wohl bekannt. Dieſe Bauten 
erſchienen anfangs ſo wunderbar, daß man 
nicht glauben wollte, es ſeien Thierwerke; 
man hielt ſie für Wiegen, die die Ein— 


ornis, 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 39 


gebornen ihren Säuglingen bereiteten. Man 
ſah bald ein, daß es auch keine Neſter ſein 
konnten, welche die Chlamydodera vielmehr 
auf gewöhnliche Art zwiſchen den Zweigen 
machen und die in Form und Größe denen 
unſeres gewöhnlichen Hähers gleichen. 

Die Chlamydodera nuchalis iſt ein 
etwas größerer Vogel als ein Turdus 
viscivorus, von brauner, aber unauffälliger 
Farbe, jedoch mit einem ſchönen Roſa-Fleck 
auf dem Nacken verſehen. Ihre Laube hat 
die Form eines Ganges, der von auf den 
Boden geſtützten Reiſerchen gebildet wird, 
die oben ſo zuſammenſtoßen, daß ſie das 
Dach einer Art primitiver Hütte bilden. 
Rings umher iſt der Boden mit Muſcheln 
überſäet. Man hat beobachtet, wie der 
Vogel hin- und herflatterte, eine Muſchel 
mit dem Schnabel aufpickte und durch 
die Gallerie einmal auf die eine, einmal 
auf die andere Seite trug. 

Die Gallerien der Chlamydodera ma- 
eulata find auch aus kleinem Reiſigholz 
erbaut, jedoch außerdem noch mit hohen 
Kräutern ſchön bekleidet, die ſich mit den 
äußerſten Enden faſt berühren; die Deco— 
rationen ſind reich und beſtehen aus zwei— 
klappigen Muſcheln, Schädeln kleiner Säuge— 
thiere und anderen von der Sonne ge— 
bleichten Knochen. Nach den Erzählungen 
einiger Beobachter müſſen die Muſcheln oft 
von weither geholt werden, da die nächſten 
Flüſſe, aus denen ſie herrühren könnten, 
ſich in beträchtlicher Entfernung vom Bau 
befinden. Von dieſer Species ſollen viele 
Individuen ſich in derſelben Gallerie ver— 
einen, um den Weibchen den Hof zu machen; 


es ſcheint auch, daß dieſelbe Gallerie während 


vieler Jahre benutzt wird. 

Die Ch. guttata erbaut eine grad- 
linige Gallerie, in der, auf dem Boden 
umhergeſtreut, Meeresfrüchte gefunden wur- 


| 
| 
| 


den, die vom Vogel mit großer Geduld 
und Anſtrengung vom fernen Ufer herbei— 
gerollt werden mußten. 

Die Gallerie der Ch. eerviniventris 
iſt von der der anderen Species verſchie— 
den, weil ihre Wände ſehr dicht und faſt 
ſenkrecht ſind, ſo daß der innere Gang, 
der von ſchönen Hälmchen gebildet wird, 
die auf einer dichten Reiſig-Plattform 
liegen, ſehr eng iſt. Der Bau iſt 1 Meter 
20 Centimeter lang und faſt ebenſo breit, 
hier und da liegen Beeren, Schneckenhäuſer 
oder Muſcheln zerſtreut als Zierrath. 

Mit nicht weniger Kunſt conſtruiren 
die Ptilonorhynchus ihre Hütten. Der 
Satin bower bird (P. violaceus) baut“ 
Gallerien wie die Chlamydodera und de- 
corirt ſie mit den grellfarbigſten Gegen— 
ſtänden, die er auftreiben kann, ſchönen 
Vogelfedern, gebleichten Knochen, Erde und 
Muſcheln c. Manche Federn find oft 
zwiſchen den Halmen angebracht, während 
andere Verzierungen vor dem Eingang zur 
Hütte umhergeſtreut liegen. Die Neigung 
dieſes Vogels, jeden auffallenden Gegen— 
ſtand zu entführen, iſt ſo groß, daß die 
Eingebornen ſtets ſeine Gallerien durch— 
ſuchen, wenn ſie zufällig etwas verloren 
haben. Man hat ſogar Steinäxte und 
Lumpen von blauer Baumwolle darin ge— 
funden, die ſie wahrſcheinlich von den Lager— 
plätzen der Wilden entwendet hatten. 

Es iſt bemerkenswerth, wie der Inſtinkt, 
glänzende Gegenſtände zu ſammeln, einigen 
Mitgliedern der Rabenfamilie gemein iſt, 
welche bekanntlich unzweifelhafte Analogien 
mit der Familie der Paradiesvögel aufweiſen; 


ſollte dieſe Gewohnheit vielleicht der Fall 


eines ererbten „moraliſchen Charakters“ 
ſein und alte Spuren eines gemeinſamen 
Urſprungs andeuten? 

Die Conſtruktionen der Chlamydodera 


7 


40 Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 


und Ptilonorhynchus ſind als die wunder⸗ 
barſten Werke der Vogelarchitektur betrachtet 
worden. Doch was find dieſelben im Ber- 
gleich zu denen der Amblyornis inornata, 
deren Beſchreibung ich jetzt verſuchen will. 
Ich habe abſichtlich zuerſt die intereſſante⸗ 
ſten Fälle dieſer Art erwähnt, damit man 
um ſo mehr das Genie dieſes wunderbaren 
Geſchöpfes ſchätzen könne, das unter ſo be— 
ſcheidenem Kleide den entwickeltſten Verſtand 
der Vogelklaſſe birgt. Und wenn man in 
Betracht zieht, daß die Familie, der die Am- 
blyornis ſowie die anderen Architekten⸗ 
Vögel angehören, die der Paradiesvögel iſt, 
welche gleichzeitig die höchſte Eleganz von 
körperlichen Ornamenten und die höchſte 
Entwickelung der Intelligenz aufweiſen, ſo 
darf man wohl mit Recht dieſelben als 
die vollkommenſten Vertreter ihrer Klaſſe 
thinſtellen. 

Bekanntlich bauen die mit ſchönen Ye 
dern geſchmückten Paradiesvögel keine Hüt⸗ 
en; es iſt dies die Prärogative der mit 
beſcheideneren Farben verſehenen Familien— 


ſicht ſich auszuzeichnen und den Weibchen zu 
gefallen, eine andere Richtung genommen hätte, 
als der ihrer ſchön ausgeſtatteten Verwandten. 
Der Amblyornis inornata, den ich im 
Italieniſchen „Giardiniere* (Gärtner) 
nennen möchte, iſt von der Größe einer 


Miſteldroſſel; der ſpecifiſche Name charak- 


teriſirt treffend ſein unſcheinbares Kleid; 
er iſt allen Schmuckes beraubt und ſogar 


wurden, empfing ich jedoch erſt von den 
Jägern des Herrn Bruijn. Sie hatten 
verſucht, ein ganzes Bauwerk nach Ternate 
zu bringen, aber das Unternehmen ſcheiterte 
an den großen Dimenſionen der Hütte und 
den Schwierigkeiten der Straße. Jedoch 
hatte ich das Glück, ſelbſt ein ſolches Werk 
an dem entlegenen Orte, wo es errichtet 
worden war, zu beobachten. Es war am 
20. Juni 1875; ſeit fünf Tagen befand ich 


mich auf dem Wege von Andai nach Ha- 


tam auf den Arfak-Bergen. Früh am 
Morgen dieſes Tages aufgebrochen, befan— 
den wir uns noch gegen 1 Uhr Nachmit⸗ 
tags auf dem mühſamen Wege, der uns 
binnen Kurzem nach den Hütten von Ha⸗ 
tam bringen ſollte. Ein hoher und ſchöner 
Urwald umgab uns; kaum ein Sonnen⸗ 
ſtrahl durchdrang das Dickicht. Der Boden 
war ziemlich frei von kleinem Geſtrüpp; 
ein ausgetretener Fußpfad beſagte, daß wir 
nicht mehr weit von den Wohnungen ſein 
konnten; wir hatten ſogar eine kleine Quelle 


paſſirt, wo man oft Waſſer zu holen ſchien; 
glieder, als ob deren Verſtand, in der Ab- 


vielleicht von der ganzen Familie der an 


Farben ärmſte Vogel; er iſt mehr oder 


weniger dunkelbraun und die beiden Ge⸗ 
ſchlechter in Farbe kaum zu unterſcheiden. 


Vor mehreren 


Jahren war er von 


den Jägern von Roſenberg's gefunden 


worden. 


Die erſten Nachrichten über ſeine 


Bauten, die mir als Neſter beſchrieben 


eine orangegelbe, knotenartige Balanophora 
ſproß hier und da wie Pilze aus dem 
Boden; elegante Palmen und ſonſtige fremd— 
artige Pflanzen erregten meine Aufmerkſamkeit. 
Doch wurde dieſelbe immer wieder abge— 
lenkt durch den Geſang und das Geſchrei 
von Vögeln, die mir neu und unbekannt 
waren, wie dies Jedem geſchieht, der zum 
erſten Male eine unerforſchte Gegend be— 
ſucht. Jede Blattbewegung ließ uns eine 
Entdeckung vermuthen, und es war dies 
nicht bloße Vermuthung, denn faſt jeder 
Flintenſchuß verurſachte uns eine Ueber— 
raſchung, und die angetroffenen Vögel waren 
nicht nur meiſtens von denen der Ebene 
verſchieden, ſondern oft ganz neu für uns. 

Ich hatte gerade ein kleines Beutelthier 
getödtet, das einen nackten und geraden 


Da 


Baumſtamm wie ein Eichhörnchen hinauf— 
kletterte, als ich mich beim Umwenden ganz 
in der Nähe des Fußpfades dem ſchönſten 
Werke gegenüber befand, das je vom Thier- 
verſtande erbaut wurde. Es 
Hütte inmitten einer mit Blumen geſchmück— 
ten kleinen Aue. Das Ganze en minia- 
ture. Ich erkannte ſofort die berühmten 
Neſter, die mir von den Jägern Bruijn's 
beſchrieben worden, doch vermuthete ich ſo— 
gleich, daß ſie einen andern Zweck haben 


müßten, obgleich mir damals die Bauten 


der Chlamydodera unbekannt waren. Ich 
begnügte mich damit, für den Augenblick 


und verbot meinen Jägern auf das Strengſte, 
daſſelbe zu zerſtören. Bei den Papuas 
war dieſe Anempfehlung augenſcheinlich ganz 


überflüſſig, denn obgleich das Neſt oder 
beſſer die Hütte ſich auf deren Wege be | 


fand, ſo war dieſelbe doch unverſehrt und 
dies bewies, wie friedlich ihre Bewohner 
dort gelebt hatten, bis ihr böſer Stern 
uns dorthin führte, um ſie in ihrer 
ruhigen und romantiſchen Wohnung zu 
ſtören. Wir konnten uns auf einer Höhe 
von ca. 
halben Stunde ſteilen Anſtieges waren wir 
an unſerem Ziele. In den erſten Tagen 


verhinderte mich meine vielfältige Beſchäf- 


tigung zur Hütte der Amblyornis zurück— 
zukehren, doch wurden inzwiſchen noch 
andere von meinen Jägern entdeckt, welche 


chitekten ſelbſt verſchafften. Wie leid that 
es mir, ſo thätige und intelligente Thier— 
chen des Lebens zu berauben, und kaum 
hatte ich eine hinreichende Anzahl Exem— 
plare geſammelt, ſo empfahl ich neuerdings 


meinen Jägern, dieſe Vögel und ihre Wohn 


ungen unbehelligt zu laſſen. 
Die zuerſt von mir geſehene Hütte war 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


4800 Fuß befinden; in einer 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 


I} 
| 


41 


meiner Wohnung am nächſten; ich nahm alſo 
eines Morgens Bleiſtift, Farben und Ge— 
wehr — das mir ein Arfak nachtrug — 


und begab mich zur Reſidenz der Ambly- 
war eine 


ornis. Unterwegs ſchoß ich mir zum Früh— 


ſtück ein Paar fetter Täuber (Carpophaga 


chalconota Salvad.), die auf einem hohen 
Baume Früchte aßen, wo ſie aber unſicht— 
bar geweſen wären, hätte nicht ihre Be— 
wegung von einem Zweige zum andern und 
das Fallen der Früchte ihre Gegenwart 
verrathen. Am Orte der Hütte angelangt, 
ſchickte ich mich ſofort zur Zeichnung an. 


Die Hausherren waren nicht gegenwärtig, 
jenes Wunderwerk oberflächlich zu beſchauen 


auch habe ich nie Zeit und Gelegenheit ge— 


habt, ſie in ihrem Heim zu beobachten; 
meine Jäger haben ſie jedoch oft beim Ein— 


und Ausgehen aus der Hütte angetroffen. 
Um die Thiere zu ſchießen, wartete man 
dieſelben gewöhnlich vor der Hütte ab, ſo 
daß gar kein Zweifel obliegt, daß ſie die 
wirklichen Erbauer derſelben ſind. Ich kann 
nicht verſichern, ob eine gegebene Hütte von 
einem oder mehreren Paaren, oder mehr 
von Männchen als Weibchen, oder umge— 
kehrt beſucht wird, ob blos das Männchen 
dieſelbe conſtruirt, oder ob auch das Weib⸗ 


chen dazu beiträgt, oder aber ob ſie das 


Werk vieler Individuen iſt. Ich glaube 
jedoch, daß ſie für länger als eine Saiſon 
dient, denn ſie wird beſtändig wieder ge— 
reinigt. Der Amblyornis wählt eine flache 


Stelle und conſtruirt um eine kleine Staude, 
mir auch in Kürze eine Anzahl jener Ar- 


die von der Größe eines Rohres iſt, mit 
feinem Erdmoos eine Art Kegel vom Um— 
fang einer Spanne an der Baſis. Dieſer 
wird der Centralpfeiler und auf ſeine Spitze 
ſtützt ſich das ganze Gebäude; die Höhe 
des Pfeilers iſt daher ein wenig geringer 
als die der ganzen Hütte, die einen halben 
Meter erreicht. Im Kreiſe werden dann, 
von der Spitze des Centralpfeilers „aus— 


42 Beccari, Die Hütten ımd*Gärten von Amblyornis inornata. 


ſtrahlend“, in geneigter Stellung methodiſch 
Halme und Reiſer gelegt, die mit dem 
einen Ende die Spitze des Pfeilers, 
mit dem andern den Boden berühren, 
und ſo im Umkreis bis auf die Vorder— | 
jeite, jo daß dadurch die Form einer | 
ſehr regelmäßigen coniſchen Hütte entfteht. 
Viele andere Stäbchen werden noch hinein- 
geflochten, um das Dach feſt und undurch— 
dringlich zu machen; wie man ſieht, bleibt 
zwiſchen dem Centralpfeiler und der Be— 
rührungslinie der Dachbedeckung mit dem 
Boden eine hufeiſenförmige Gallerie. Die 
ganze Conſtruction mißt ca. einen Meter im 
Umfange. Die Stäbchen waren faſt alle 
feine und gerade Stengel einer Orchideen-Art 
(Dendrobium), die in dichten Büſcheln 
auf den bemooſten Zweigen großer Bäume 
wächſt, dünn wie Strohhalme und ca. einen 
halben Meter lang; ſie trugen noch kleine 
ſchmale, faſt friſche Blätter, was wohl ver- 
muthen läßt, daß dieſe Pflanze abſichtlich 
gewählt wurde, um zu verhindern, daß 
das Haus bald verfaule und zuſammen— 
falle; denn dieſe Stengelchen bleiben noch 
lange friſch, wie es bei den meiſten epiphy- 
tiſchen Orchideen in den Tropen der Fall iſt. 
Der verfeinerte Sinn des „Gärtners“ 
beſchränkt ſich nicht auf die bloße Con— 
ſtruktion einer Hütte. Es iſt ſonderbar, 
wie der Geſchmack am Schönen im Ambly- 
ornis und in vielen anderen Vögeln dem 
menſchlichen entſpricht, inſofern das, was 
ihnen, auch uns gefällt. Die Leidenſchaft 
für Blumen und Gärten zeugt von gutem 
Geſchmack und verfeinertem Sinn, und es | 
hat mich nicht wenig gewundert, zu ſehen, 
wie die Arfaks mit dem Vorbilde des 
Amblyornis ſo wenig Aeſthetik in ihren 
Wohnungen entwickeln, deren Umgebungen | 
ſolche Anhäufungen von Unrath find, daß 
man ſich ihnen nicht nähern kann. | 


hafteſten Farben. 


die 


Wenn man dieſe Menſchen mit Lehm 
und Aſche beſchmutzt ſieht (denn ſie ſchlafen 
mitten im Feuerherd) ‚ Jo muß man fie 
unwillkürlich mit dem Schweine, dem fie 
mehr denn jedem anderen Thiere nahe 
kommen, vergleichen. 

Die Gärten des A. inornata ſind nun 
folgendermaßen angelegt: Vor der Hütte 


befindet ſich ein freier Platz, der einen be— 


deutend größeren Raum als die Hütte 
ſelbſt einnimmt. Es iſt eine Art kleiner 
Wieſe von weichem Mooſe, alles herbei— 
getragen und rein und frei gehalten von 
Gräſern, Steinen und anderen Gegen— 
ſtänden, die die Harmonie ſtören könnten. 
Auf dieſem reizenden grünen Teppich 
liegen Blumen und Früchte von lebhaften 
Farben ſo regelmäßig umhergeſtreut, daß 
ſie in der That ein elegantes Gärtchen dar— 
ſtellen. 

Die meiſten Schmuckgegenſtände ſcheinen 
beim Eingang zur Hütte zuſammengelegt 
zu werden; wahrſcheinlich bringt dorthin 
das Männchen ſeine täglichen Ueberraſchun— 
gen bei ſeinen Liebesbeſuchen. Die dort 
hingelegten Zierrathe ſind von der ver— 
ſchiedenſten Art, doch ſtets von den leb— 
Bei dem von mir beob— 
achteten Hüttchen lagen am Eingange 
einige Garcinia-Früchte, ſo groß wie kleine 
Aepfel und von violetter Nüance, andere 
von Gardenia, die ebenfalls ſehr groß und 
unregelmäßig in vier oder fünf Klappen 
geöffnet waren, ſo daß ſie das Fleiſch und 
ſchön ſafrangelben Samen zeigten. 
Ferner manche Trauben von kleinen roſen— 


rothen Früchten, die einen gelben, halb 


aus der Schale hervorſchauenden Samen 
enthalten. Die roſigen Blüthen einer ſchö— 
nen Art Vaceinium bildeten einen der haupt— 
ſächlichſten Ziergegenſtände, welche jedenfalls 
auch mit der Saiſon gewechſelt werden. 


— 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 


Nicht nur Blumen und Früchte ſucht aber 
der Amblyornis; auch Schwämme und 
ſchön gefärbte Inſekten hat man in den 
Gärten oder im Innern der Hütte geſehen. 


Wenn dieſe Schmuckſachen lange Zeit das. | 


gelegen und ihre Friſche verloren haben, 
werden dieſelben hinausgeſchafft und durch 
neue erſetzt. Die Geſchicklichkeit des Am— 
blyornis beſteht nicht allein in der An— 
lage ſeines Luſtortes. Er iſt auch ein 
kluger Vogel und un— 

ter andern hat man 


Liebesluſt getrieben, ſich vereinen, um den 
Weibchen den Hof zu machen und ſich 
deren Gunſt zu erringen. 


Die Hütten und Gärten des Ambly- 


ornis würden mir eine vortreffliche Ge— 


legenheit bieten, die Behauptung Walla— 


ce's, die Neſter der Vögel ſeien nicht, wie 
vielfach angenommen wird, Produkt des 
Inſtinktes ſondern des Verſtandes — zu 
bekräftigen, doch er— 

laubt mir meine Zeit 


ihm den Namen Bu- b 1 N jetzt nicht die Be⸗ 
rum Guru gegeben, 2 ſprechung eines ſo 
d. h. Meiſtervogel, N , wichtigen Gegenſtan— 
weil er den Geſang S 5 2 des. Dagegen kann 
und den Schrei vie— ur =. oO } 0 — ich eine Frage von 
ler anderer Vögel 88 E41 . zZ kaum geringerem In⸗ 
nachahmt und ſeine — F I tereſſe nicht gänzlich 
Noten bei jeder Ge— 000 > übergehen: mit wel- 
legenheit ändert. Auf E 20 E chen Mitteln ein 
dieſe Weiſe brachte er * 5 Vogel dahin gelangt 
meine Jäger oft zur IT a, “ 7 ſei, eine Wohnung zu 
Verzweiflung, die, EN ; , erbauen, die, was 
von einem unbekann⸗ ' Beer. 8 Geſchick und künſt⸗ 
ten Schrei angelockt, Grundriß der Riederlaffung BES leriſchen Geſchmack 


eine neue Entdeckung 
zu machen hofften, 
dann aber nur den 
Amblyornis vorfan— 
den. Ferner nennt 
man ihn auch Tu— 
kan Kobon oder Gärtner, welchen 
Namen ich auch im Italieniſchen adoptirt 
habe. 

Aus dem Geſagten ſcheint mir ohne 
allen Zweifel zu folgen, daß die Hütten 
und Gärten des Amblyornis, wie die 
Gallerien oder „bowers“ der Chlamydo- 
dera und Ptilonorhynchus Zuſammen— 
kunfts⸗ und Vergnügungsorte find, in denen 
zu gewiſſen Zeiten die Männchen, von 


BT. 


A. Centralpfeiler. 

oder Gallerie. 

Mooswieſe. 
Gardenia-Frucht. 


Amblyornis inornata. 
B. Mooskegel. 
D. Reiſigbaſis. E. Künſtliche 
F. Garcinia-Frucht. 
H. Vaceinium-Blumen. 
K. Weggeworfene verwelkte Blumen. 


anbelangt, alle Con— 
ſtruktionen der an— 
deren übertrifft. 
Wallace iſt der 
Meinung, ein Vogel 
könne ſich ein Neſt 
nie genau wie die Mehrzahl der Vertreter 
ſeiner Species bauen, wenn er nicht zu— 
vor die Art und Weiſe von ſeinen Eltern 
oder anderen erlernt hätte; weshalb ein 
ſeit der Geburt in Gefangenſchaft aufge— 
zogener Vogel ſein Neſt nicht ganz ſo wie 
ſeine freien Collegen conſtruiren würde. 
Um nun zu erklären, wie die Vögel 
von einem höchſt einfachen Obdach zur Eier— 
legung dahin gekommen ſind, vollkommnere 


C. Gang 
G. Offene 


8 


44 Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata, 


Neſter und Wohnungen zu errichten, nimmt 
man an, die Erbauer der beſſeren oder 
ſchöneren Neſter hätten einigen Vortheil 
über die weniger geſchickten Architekten ge— 
noſſen, in Folge deſſen die erſteren ſich 
beſſer erhalten und vermehrt hätten. 

Dieſe Thatſachen werden durch die na— 
türliche und geſchlechtliche Selektion erklärt. 
In Folge der erſteren erhalten ſich diejenigen 
Individuen, die am beſten den unzähligen, 
zerſtörenden Kräften, mit denen ſie im be— 
ſtändigen Kampfe ſind, Widerſtand zu leiſten 
vermögen. Kraft der zweiten haben die ſtär— 
keren, ſchöneren und intelligenteren Indi— 
viduen in Folge des ihnen von den Weib— 
chen bewilligten Vorzugs eine zahlreichere 
Nachkommenſchaft. 

Im Specialfalle des Amblyornis ſollen 
dieſe Vögel durch die natürliche Selektion 
zur Erbauung ihrer Hütten und Gärten 
gelangt ſein, weil 
Männchen vorzogen, welche die Hütten am 
beſten conſtruirten und ausſtatteten, während 
die mit weniger Kunſtgeſchmack begabten, 
der Weibchen verluſtig, ohne Nachkommen 
geblieben wären. Und auf dieſe Weiſe 
hätte ein Vogel die Gaben der Intelligenz 
und des Geiſtes genugſam zu ſchätzen ge— 
wußt, um ſie der eigenen Formeneleganz 
und der perſönlichen Eitelkeit vorzuziehen. 

Der Amblyornis und die Chlamydo- 
dera gehören eben zur Gruppe der Paradies— 
vögel, in denen ohne Zweifel das Gefühl 
des Schönen ganz bedeutend entwickelt iſt. 

Ich bin nun der Anſicht (die vielleicht 
ſehr gewagt ſcheinen mag), daß nicht ſo 
ſehr die geſchlechtliche Selection, als der 
lebhafte Wunſch, ein ſchönes Ideal zu er— 
reichen, die Urſache geweſen iſt, die zur 
Hervorbringung jener großen Varietät von 
Formen und Farben in den Federn führte, 
welche dieſe Vögel ſo ſehr auszeichnen, und 


die Weibchen ſolche 


daß daſſelbe Gefühl durch Einſchlagung einer 
andern Richtung, anſtatt ſich auf die perſön— 
liche Ausſchmückung zu concentriren, im 
Amblyornis den Geſchmack zur Verſchöner— 
ung der eigenen Wohnungen entwickelt hat. 
Welche Theorie man aber auch anneh— 
men mag, ſo viel ſteht feſt, daß der Wunſch, 
den Weibchen zu gefallen, ganz bedeutend 
zur Erreichung jenes hohen Grades von 
Schönheit bei den Paradiesvögeln mitge— 
wirkt hat, doch kann ich ſchwer begreifen, 
wie ſo kleine Aenderungen im Geſieder, die 
ſich nach Darwin langſam und zufällig 
bei den Männchen bildeten, von den Weib— 
chen gewürdigt werden konnten und daß ſich 
infolge dieſer kleinen Vortheile blos die 
ſchöneren Individuen conſervirt hätten. 
Ich will hier keine formellen Einwände 
gegen die geſchlechtliche Zuchtwahl machen, 
doch kann ich nicht umhin, an deren abſo— 
luter Wichtigkeit zu zweifeln und eine mäch— 
tigere Urſache in dem eignen Willen des 
Individuums, in deſſen nervöſen Eindrücken, 
in deſſen äſthetiſchem Sinne zu erblicken. 
Iſt es Zufall, der die Paradisea apo- 
da am Morgen beim Aufgang der Sonne 
und Abends beim Untergang auf die höch— 
ſten Wipfel des Waldes führt, von wo ſie 
dieſe Phänomene in ihrer ganzen Herrlichkeit 
genießen kann? Ich glaube es nicht, auch 
ſcheint es mir nicht, daß ſie dies thun, um 
den Weibchen den Hof zu machen, denn 
dieſe ſcheinen gar nicht zugegen zu ſein, und 
können die von Anderen dafür gehaltenen 
Individuen ebenſo gut junge Männchen 
ſein. Auch in Gefangenſchaft führen die 
Paradiesvögel ihre Tourniere aus, ſelbſt 
wenn keine Weibchen gegenwärtig ſind, man 
möchte faſt ſagen, ſie wären in die Sonne 
verliebt. Die in jenen romantiſchen Stunden 
ſichtbaren Tinten ſind ihr ſchönes Ideal, 
und wenn auch ſonderbar, ſo iſt es doch 


— 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 45 


Thatſache, daß alle Farben des Mantels 
der Paradisea apoda gerade jene find, die 
in ſolchen Momenten beobachtet werden und 
zwar in den von ihnen bewohnten Ländern 
und in der Saiſon, in der allein ſie das 
ſchöne Hochzeitskleid tragen. Die Morgen— 
und Abend-Dämmerung zeigt alsdann 
faſt jeden Tag die lebhafteſten überraſchenden 
Farbenſpiele. Die fernen und nahen Wol— 
ken längs des Horizontes ſind in lange Streifen 
gelegt und werden von den letzten Strahlen 
der Schon verſchwundenen Sonne vergoldet; 
Schäfchen oder purpurne geballte Wölkchen 
erheben ſich darüber, und laſſen in Zwi— 
ſchenräumen die Bläue des Himmels durch— 
blicken. Der von der hereinbrechenden Nacht 
bedeckte Wald erſcheint im tiefſten Grün. 
Alle dieſe Farben ſind mit wunderbarer 
Treue auf dem prachtvollen Kleide des Para— 
dies-Vogels wieder gegeben. In den gelben 
Federn ſind die feinen vergoldeten Schichten 
des Horizontes abgezeichnet; die Farbe des 
weichen Bruſtflaums iſt die der Wolken, 
der Schnabel und die Füße ſind blau wie 
der Himmel, am Halſe herrſcht das Grün 
des Waldes vor, der Kopf iſt gelb wie 
die untergehende Sonne. In dieſen Mo— 
menten ergiebt ſich der Paradiesvogel der 
Gewalt ſeiner Leidenſchaft. Er flattert von 
Zweig zu Zweig, öffnet die Flügel, breitet 
ſie aus, bewegt ſie mit freudigem Zittern, 
hebt und ſenkt den Kopf, ſchreit, biegt den 
Schweif, kurz er ſchwelgt in dem Genuſſe 
ſeiner Schönheit und Eitelkeit. „Wie 
ſchön wäre ich, wie würde ich den Weibchen 
gefallen, wenn ich mich mit den herrlichen 


Tinten, die ich aus meinen luftigen Regionen 


bewundere, ſchmücken könnte!“ — wird ſich 
ein primitiver Paradiesvogel geſagt haben, 
der in Farbe wahrſcheinlich nicht von Am— 
blyornis differirte, der mit dieſem dieſelben 
häuslichen Sitten gemeinſam hatte, ſein 


Gärtchen zierte und ſeiner Liebe angenehme 
Ueberraſchungen mit Blumen und Früchten 
vor der Hüttenthüre bereitete, der aber eines 
Tages, von der Eitelkeit geblendet, ſich ſeines 
beſcheidenen Kleides ſchämte und dem ruhigen 
Frieden ſeiner Hütte den Prunk der per— 
ſönlichen Ansſtattung vorzog. 

Warum ſollte nicht ein beſtändiger 
lebhafter Wunſch, einen Schönheitstypus zu 
erreichen, eine Aenderung in der Färbung 
und Erzeugung der Federn bewirkt haben? 
Und noch erſtaunlicher iſt folgendes: Während 
in der von der P. papuana bewohnten Ge— 
gend der Sonnenuntergang faſt ſtets vergoldet 
iſt, erſcheint er zu Waighen gewöhnlich feuer— 
roth; ſollte nun durch bloßen Zufall die dort 
lebende Art der einen jener 
täglichen Erſcheinung in Farbe entſprechenden 
Mantel beſitzen? 

Warum hat die Schlegelia calva einen 
nackten Kopf von der Farbe des Himmels, 
den ſie durch die Baumzweige zur Stunde 
ihrer Dämmerungsliebe ſchaut? Warum 
hat unter denſelben Bedingungen die D. 
magnifica auf dem Bürzel einen Mantel, 
der in Form und Farbe einem Halbmonde 
gleicht, von dem ein einzelner Strahl viel— 
leicht den unter dem Walddickicht verborge— 
nen Tournierplatz erleuchtet, wo ſtolze, mit 
Zierrath überladene Kämpen ſich die Gunft 
der beſcheidenen Zuſchauerinnen erkämpfen? 
Sollte der Cieinnurus nur aus reinem Zu— 
fall genau von der Farbe der Blüthen des 
Costus ſein, mit deſſen Samen er ſich ernährt? 

Warum find Ziegenmelker (Caprimul- 
gus), Käuzchen und andere nächtliche Vögel 
dunkel und farblos und warum ſieht man 
unter ihnen keine Species mit lebhaften 
Tinten, z. B. grün, das ihnen am Tage 
ſehr zum Schutze dienen würde, während 


Paradisea 


Nachts jede Farbe indifferent fein ſollte? 


Weshalb erinnern die Flecken einiger Ca— 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 


primulgus an das Bild des Himmels, mit 
zerriſſenen Wolken, zwiſchen denen der Mond 
durchblickt, wie es in jenen Nächten der 
Fall iſt, in denen ſie, auf einem Baumaſt 
ſitzend, ſtundenlang ihre eintönige Stimme 
erſchallen laſſen, die den regelmäßigen Schlä— 
gen eines Stück Holzes auf einen Baum— 
ſtamm gleicht. 

Meine Erklärung iſt vielleicht nicht die 
richtige, aber ſie ſcheint mir verlockend. 
Welche Idee können die nächtlichen Vögel 
von den Farben haben? Faſt gar keine, 
der Mangel an Licht giebt ihnen von 
allen Coloriten faſt denſelben Eindruck, die 
einzige Varietät beſteht für ſie in den helleren 
Flecken, den leuchtenden Punkten und in 
den kleinen Tonunterſchieden, welche die 
Schatten in einer klaren Nacht aufweiſen. 

Iſt es alſo ein verallgemeinerter Fall von 
Mimicry oder Nachahmung, der die Färbung 


der Vögel hervorruft? Doch das erklärt 
Welches iſt die Urſache dieſer | 
Nachahmung? Iſt es die Frage auf Leben 


uns wenig. 


oder Tod, die ſie zur Annahme gerade jener 
Tinten veranlaßt, welche die Naturerſchein— 


ungen darbieten? Iſt es nöthig, zur Er- 


klärung dieſer Thatſache zur Theorie der 
natürlichen Selection, die ich lieber natür— 


lich Elimination nennen möchte, Zuflucht 


zu nehmen? Es ſcheint mir nicht; denn bei 
den nächtlichen Vögeln kommt ſie gar 
nicht ins Spiel und bei den Tagesvögeln 
mit glänzendem Geſieder ſcheint ſie mir eher 
ſchädlich als nützlich. Es bliebe alſo zu 
prüfen, ob dieſe Fälle von Mimiery durch 
die ſexuelle Zuchtwahl verurſacht worden 
wären. Ich gebe zu, daß bei einem Indi— 
viduum anfangs einige kleine Veränderungen 


auftreten, ohne daß eine ſichtbare Urſache 
dafür vorhanden wäre. Dann muß man aber 


noch annehmen, daß die Weibchen dieſe unbe 
deutenden Variationen ſofort bemerken und 


die betreffenden Männchen zur Begattung 
vorziehen, — daß ſolche kleine Veränderung 
jedoch gleich ſo nützlich ſein und die anderen 
Männchen ſo ſehr in den Hintergrund ſetzen 
ſoll, ſcheint mir etwas gewagt. In dieſem 
Falle müßte man ferner annehmen, die 
Varietät reproduzire ſich in der Mehrzahl 
der Individuen, alsdann könnten die wenigen 
leer ausgegangenen eliminirt werden; aber 
wie erklärt es ſich dann, daß die Varietät 
in allen Individuen gleichmäßig erſchienen 
iſt? Dies wäre nicht ſchwer durch die 
Hypotheſe zu erklären, daß die Veränder— 
ungen nach einem präſtabilirten Variations— 
plan ſtattfänden, nicht aber durch Zufall 
entſtünden. Betrachten wir den Fall der 
Paradisea apoda. 

Beim jungen Männchen, das noch das 
weibliche Kleid trägt, beginnen die erſten, 
dem erwachſenen Männchen eigenthümlichen 
Federn zu erſcheinen. Auf dem Kopfe zeigt 
ſich eine gelbe Feder (warum nicht eine 
rothe, oder ſchwarze oder blaue?), eine glän— 
zend grüne auf dem Halſe, andere gelbe auf 
dem Rücken und an den Seiten, — wie ſoll 
man nun glauben, aus dieſen wenigen Fe— 
dern habe ſich durch zufälliges Zuſammen— 
treffen eine ſo wunderbare Nachahmung der 
Tinten des Sonnenuntergangs gebildet, wenn 
wir nicht einen präſtabilirten Begriff, einen 
Variationsplan vorausſetzen, nach dem ſich 
allmälig die vollkommene Imitation jenes 
Phänomens entwickelt hat? 

Um meine Hypotheſe beſſer zu erklären, 
will ich einen unzweifelhaften Spezialfall 
von Mimicry nehmen, den der lebenden 
Blätter, der Phyllium, einer Art Heuſchrecken, 
die oft die Form, Farbe und Gliederung 
der Blätter, auf denen ſie leben, ſo vor— 
trefflich nachahmen, daß man ſie faſt nicht 
von denſelben unterſcheiden kann. 

Ich kann mir den Eindruck einer Man— 


N = z — — 


A 


C 


tis vorſtellen, die auf einem Blatt ſitzend 
einen Vogel der ſie ſicher verſchlingen wird, 
herbei fliegen ſieht — wie ſie ſich klein machen 
wird, wie gern ſie unſichtbar oder in das 
Blatt, über das ſie ſich beugt, verwandelt 
ſein möchte, um dem ſcharfen Auge ihres 
Verfolgers zu entgehen; — doch dieſer hat 
ſie bereits entdeckt, faßt ſie feſt in ſeine 
Krallen und zerreißt ihr Kopf, Leib und 
Glieder. Jedoch vielleicht nicht alle In— 
dividuen, die ſich in ſolch kritiſcher Lage 
befanden, haben daſſelbe Schickſal erlitten, 
einige ſind gewiß der Gefahr entronnen. 
Wäre es ſonderbar, wenn ſich unter 
der Wirkung eines ſo heftigen nervöſen Ein— 
drucks in den Eiern eines ſchwangeren Weib— 
chens, welches das tragiſche Ende ſeiner Schwe— 
ſter mit anſchaute, derartige Dispoſitionen 
in den für Formveränderung empfänglichen 
Theilen bildeten, daß ſie auf die Re— 
produktion jenes Gegenſtandes (in unſerm 
Falle der Blätter) hinzielten, der als 
einziges Rettungsmittel in jenem angſtvollen 
Augenblicke die Urſache eines ſo lebhaften 
Wunſches war? 

Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß einige 
Jungen aus den von einem ſolchen Weibchen 
gelegten Eiern Monſtren waren, die ſchon 
theilweiſe in ihren Gliedern ein Blatt dar— 
ſtellten, da ſich ja die Monſtroſitäten nicht 
langſam, ſondern plötzlich bilden. Wäre 
dieſe Monſtroſität eher ſchädlich als nützlich, 
ſo würde ſie ſich wahrſcheinlich nicht lange 
reproduziren; da aber in unſerm Falle 
gerade wegen der Monſtroſität die betreffenden 
Individuen erhalten bleiben, ſo werden dieſe 
letzteren gewiß, wie ihre Mutter, den Vor— 
theil, ſich durch Nachahmung der von ihnen 
beſuchten Blätter verſtecken zu können, zu 
ſchätzen wiſſen, und ſo werden höchſt— 
wahrſcheinlich die meiſten Nachkommen die 
vortheilhafte Monſtroſität beibehalten haben, 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 


die ſich vielleicht nach und nach vermehrt, 
regelt, erblich und innerhalb gewiſſer Grenzen 
unveränderlich wird. Bekanntlich iſt in 
einigen Arten von Phyllium dieſe Nach— 
ahmung ſoweit gediehen, daß ſelbſt der 
Menſch dadurch getäuſcht und jene zu einem 
ſehr wirkſamen Vertheidigungsmittel wird. 
Die Flügel ſind geglättet und ausge— 
dehnt und dienen faſt gar nicht zum Flie— 
gen; auf denſelben reproduziren ſich die 
Blattnerven bis zur vollkommenſten Täuſch— 
ung; die Farbe verändert ſich mit dem 
Alter des Individuums und imitirt die 
verſchiedenen Tinten der diverſen Vegetations— 
perioden; die Beine haben ſich in Plättchen 
ausgedehnt, und die Fühler in eben ſo viele 
blattartige Fortſätze; die Hinterfüße ſind 
zum Springen untauglich geworden und 
die ſchüchterne und argwöhniſche Gemüths— 
art hat ſich in eine ruhige, des eigenen 
Friedens bewußte Indifferenz umgewandelt. 
Daſſelbe iſt, in anderem Sinne, bei den 
Bacillus, Phasma etc. geſchehen, die trocke— 
nen Holzſtäbchen gleichen. In dieſen Fällen 
hat gewiß auch die natürliche Selection 
ihren Antheil an der Hervorrufung der 
Nachahmung gehabt, aber die Haupturſache 
ſcheint mir doch immer eine nervöſe Em— 
pfindung und der Wille des Individuums 
zu ſein. Annehmen zu wollen, daß aus 
einfachen, im Anfang zufällig erzeugten 
Veränderungen Imitationen entſtanden ſein 
ſollten, ohne den Willen des Thieres 
und die Idee eines dadurch präſtabilirten 
Planes zu Hilfe zu nehmen, ſcheint mir 
geradeſo, als wenn man behaupten wolle, ein 
Architekt könne ein Haus bauen durch ein— 
fache Anhäufung von Material, ohne eine 
Idee von dem zu haben was er thun will. 

Die Abſicht der eigentlichen Paradies— 


vögel, ſowie des Amblyornis und ver— 


wandter Species, durch individuellen Schmuck 


48 


und Erbauung von Hütten und Gärten 
ihren Weibchen zu gefallen — im Vereine mit 
der natürlichen Zuchtwahl — ſcheint mir 
nicht hinreichend, die Farben der erſten und 
die Fähigkeiten der letzteren zu erzeugen 
und zu entwickeln. Dagegen glaube ich 
wohl annehmen zu dürfen, daß in den 
Vögeln ein lebhaftes Bewußtſein des 
Schönen und ein eben ſolcher Wunſch zur 
Erreichung deſſelben ſo lange gewirkt haben, 
bis in den eigentlichen Paradiesvögeln die 


Nachſchrift der Redaktion. Wir 
haben die etwas phantaſtiſchen Ideen des Herrn 
Verfaſſers über die Urſachen gewiſſer Färb— 
ungen wiedergeben wollen, weil ſie der Stimm— 
ung eines Beobachters ſo wunderbarer Leiſt— 
ungen entſprechen, und weil in ihnen doch 
vielleicht ein ſchätzbarer Kern verborgen liegt. 
Freilich, wenn der Wunſch, ſchön zu ſein, ge— 
nügte, um ſchön zu werden, ſo gäbe es bei— 
ſpielsweiſe keine häßlichen Menſchen. — Da— 
gegen kann man ſich allerdings ganz wohl 
einen natürlichen Zuſammenhang denken zwi— 
ſchen den Farben des Sonnenuntergangs und 
denjenigen eines Thieres, welches während 
deſſelben ſeine Farben zur Schau ſtellt. Dieſer 
Zuſammenhang wäre, daß ſobald die Sonne 
nur noch vorwiegend gelbliche und röthliche 
Strahlen emporſendet, auch nur die gelblichen, 
röthlichen und goldgrünen Farbentöne ihre 
höchſte Brillanz entfalten. Wenn unſere Da— 
men ſich ſpeciell für Gasbeleuchtung putzen, 
warum ſollte durch geſchlechtliche Zuchtwahl 
ein Vogel nicht ebenſo ſpeciell für den Son— 
nenuntergang, die Stunde ſeiner Liebeswerb— 
ungen, geſchmückt werden können? Eine ſolche 
Anpaſſung würde vielmehr erſt recht in das 
Gebiet der geſchlechtlichen Zuchtwahl, wie ſie 


Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis nornata. 


Farbenveränderungen in den dazu empfäng— 
lichen Theilen zur vollen Befriedigung 
des Verlangens ſtattfanden, ebenſo wie 
ſich auch beim Amblyornis und den ver— 
wandten Species jener Beobachtungstrieb 
entwickelte, in Folge deſſen urſprüngliche Em— 
pfindungen Reflex-Actionen werden können, 
die einen Vernunftſchluß ermöglichen, und ſo 
auch dieſe Thiere befähigen, Werke zu ſchaffen, 
die nicht das bloße Reſultat des Inſtink— 
tes ſind. 


Darwin auffaßt, fallen. So könnte ich mir 
auch recht wohl vorſtellen, daß gewiſſe blaue 
und violette Vögel im Beſondern für die 
Dämmerungsſtunde geſchmückt ſeien, wenn bei 
völliger Abweſenheit der Sonne das Himmels— 
gewölbe noch eine Fülle blauen Lichtes her— 
niederſtrahlt. Wenn man um dieſe Zeit an 
einem nach Weſten blickenden Bergabhange 
ſpazieren geht, ſo erſcheinen die blauen und 
violetten Blumen daſelbſt in einem deutlichen 
Vortheil vor allen anders gefärbten Blumen, 
und wenn es ſchattenwerfende Bäume oder 
Geſträuche dazwiſchen giebt, ſo ſcheinen dieſe 
Blumen in einem eigenen, phosphoriſch blauen 
Lichte zu leuchten, weil ſie eben allein faſt alles 
Licht zurückwerfen können, was ſie empfangen. 
Ohne Zweifel hat dieſes ſcheinbare Leuchten 
der blauen Blumen in der Dämmerungsſtunde 
zu der Sage von der „blauen Wunderblume“ 
der Romantiker Anlaß gegeben, und vielleicht 
iſt es kein Zufall, daß im erſten Frühjahr, 
in welchem ſo ſelten klare Dämmerung ein— 
tritt, blaue und violette Blumen viel ſeltener 
ſind, als im Sommer und Herbſt. Auch würde 
ich mich nicht wundern, wenn ſie vielleicht 
von Dämmerungs-⸗Inſekten bevorzugt würden. 
f 8 


Die Herrſchakt des Ceremoniells. 


Von 


Herbert 


Spencer. 


IV. 


Penn wir leſen, daß Cook „den 
e König (von Otaheiti) mit zwei 
großen Beilen, einigen präch— 
f tigen Perlen, einem Meſſer 
und einigen Nägeln beſchenkte“; oder wenn 
Speke in der Beſchreibung ſeiner Auf— 
nahme beim Könige von Uganda erzählt: 
„Ich ſagte darauf, daß ich das beſte 
Schießgewehr der Welt — Whitworth's 
Flinte — mitgebracht hätte und ihn bäte, 
es nebſt anderen Kleinigkeiten anzunehmen;“ 
ſo erinnert uns dies daran, wie Reiſende 
gewöhnlich, wenn ſie in Berührung mit 
fremden Völkern kommen, ſie durch allerlei 
Gaben günſtig zu ſtimmen ſuchen. Zweier— 
lei wird damit erreicht: Eine augenblickliche 
Befriedigung, welche der Werth des Er— 
haltenen hervorruft, wodurch ein freund— 
ſchaftliches Gefühl den Ankömmlingen gegen— 
über erzeugt wird, und der auch ohne 
Worte verſtändliche Ausdruck des Wunſches 
derſelben, zu gefallen, welcher wieder eine 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


ähnliche Wirkung ausübt. 


Der letztere iſt 
es, wovon ſich die Entwickelung des Ge— 
ſchenkedarbringens als Ceremonie ableitet. 

Der Zuſammenhang zwiſchen Verſtüm— 


melungen und Geſchenken — zwiſchen der 
Darbringung eines eigenen Körpertheiles 
oder eines andern Dinges — zeigt ſich 


deutlich in einem Berichte Garcilaſſo's 
über die alten Peruaner, welcher zugleich 
darlegt, wie das Beſchenken zu einer Ver— 
ſöhnungshandlung wird, ganz abgeſehen vom 
Werthe des Dargebotenen. Er erzählt von 
den Leuten, welche ſchwere Laſten über hohe 
Bergpäſſe tragen, und beſchreibt, wie ſie 
auf dem Höhepunkt des Weges ihre Laſten 
niederſetzen und wie dann mehrere den Gott 
Pachacamac anrufen: „Ich danke Dir da— 
für, daß dieſes bis hierher getragen iſt;“ 
und dann bringen ſie eine Gabe dar, in— 
dem ſie entweder ein Haar aus ihren 
Augenbrauen reißen oder das Kraut Coca 
aus ihrem Munde nehmen als Geſchenk 
vom Koſtbarſten, was ſie beſitzen. Wenn 
fie aber nichts Beſſeres hatten, ſo brachten 
ſie einen kleinen Stock oder einen Stroh— 
halm, ja ſogar ein Stück Stein oder Erde 
dar; auf den Höhen der Bergpäſſe 


2 


L 


50 


fanden ſich große Haufen folder Opfer— 
gaben.” 

In dieſer durchaus ungewohnten Form 
uns entgegentretend, mögen uns dieſe Opfer 
von Theilen des eigenen Körpers oder von 
ſonſt geſchätzten Dingen, ja ſogar von ganz 
werthloſen Gegenſtänden, ſonderbarerſcheinen. 
Indeß ſie werden uns weniger ſeltſam vor— 
kommen, wenn wir uns vergegenwärtigen, 
wie man in Frankreich am Fuße der Kreuze 
an den Straßen tagtäglich einen Haufen 
kleiner, aus zwei elenden Latten zuſammen— 
genagelter Kreuzchen finden kann. Dieſe 
haben an ſich keinen größern Werth als 
jene Strohhalme, Stöckchen und Steine, 
welche die Peruaner darbrachten, und lenken 
in gleicher Weiſe unſere Aufmerkſamkeit auf 
die Thatſache, daß die Handlung des 
Schenkens in 


drückt. Wie naturgemäß das Erſetzen einer 
wirklichen Gabe durch eine blos nominelle 
ſich ergiebt, wo wirkliche Gaben nicht ſtatt— 
haft find, zeigen uns ſogar ſchon kluge 
Thiere. Ein Vorſtehhund, der gewohnt 
iſt, ſeinem Herrn zu gefallen, indem er ihm 
getödtete Vögel und anderes bringt, wird 
leicht die Gewohnheit annehmen, in andern 
Fällen nur irgend etwas zu bringen, um 
ſein Beſtreben, dem Herrn zu gefallen, aus- 
zudrücken. Wenn er Jemand, den er gern 
hat, des Morgens oder nach einer langen 
Trennung wiederſieht, ſo wird er, von den 
gewöhnlichen Freudenbezeugungen abgeſehen, 
wohl auch ein dürres Blatt, eine Ruthe 


oder ſonſt einen geeigneten Gegenſtand in 


der Nähe ſuchen und es ihm im Maule 
bringen. Und dieſes Beiſpiel, welches uns 
den natürlichen Urſprung jener Verſöhnungs— 
ceremonien vorführt, dient auch dazu, zu 
zeigen, auf welch' tiefer Stufe ſchon der 
Proceß der Symboliſirung auftritt. 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


eine Ceremonie übergeht, 
welche einen Wunſch nach Verſöhnung aus— 


So ſind wir nun darauf vorbereitet, 
die Entwickelung des bloßen Darbringens 
von Gaben zu einer wirklichen Ceremonie 
zu verfolgen, und dieſe wollen wir nun in 
ihren verſchiedenen Erſcheinungen beobachten 
und ſehen, wie die geſellſchaftlichen Ein— 
richtungen ſich möglicher Weiſe von ihnen 
ableiten. 8 

In Stämmen, welche entweder gar 
kein Oberhaupt haben oder bei welchen 
die Oberherrſchaft noch auf unſicherem 
Boden ſteht oder bei welchen eine Ober— 
herrſchaft zwar vorhanden, aber noch ſchwach 
iſt, bildet ſich das Darbringen von Ge— 
ſchenken nicht zum feſtſtehenden Gebrauche 
aus. Die Auſtralier, Tasmanier und 
Feuerländer ſind Beiſpiele hierfür; und 
wenn wir Berichte von wilden amerikani- 
ſchen Raſſen leſen, welche noch wenig orga— 
niſirt find, wie die Eskimos, Chinvofs, 
Schlangenindianer, Comanchen, Chippeways 
und andere, oder welche eine demokratiſche 
Organiſation haben, wie die Irokeſen und 
die Creekindianer, ſo finden wir, daß ge— 
rade bei dieſen Völkern, die ſich durch das 
Fehlen ſtrenger perſönlicher Regierung 
charakteriſiren, kaum irgendwo der Opfer— 
gaben als eines ſtaatlichen Brauches Erwähn— 
ung geſchieht. 

Ein gutes Gegenſtück dazu bieten an— 
dererſeits die Beſchreibungen von Gebräuchen 
unter jenen amerikaniſchen Raſſen, welche 
in früheren Zeiten unter despotiſcher Re— 
gierung einen beträchtlich hohen Grad von 
Civiliſation erreicht haben. Torquemada 
erzählt uns, daß in Mexico „Jeder, welcher 
den Herrn oder König begrüßen will, 
Blumen und Geſchenke mitnimmt.“ So 
leſen wir auch von den Chibchas: „wenn 
ſie ein Geſchenk darbrachten, um mit dem 
Caziken zu verhandeln oder zu ſprechen 
(denn Niemand beſuchte ihn, ohne eine 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 51 


Gabe zu bringen), ſo neigten ſie Kopf und 
Körper beim Eintreten“; und die alten 
Mucataneſen „brachten ihrem Herrn ſtets einen 
Theil der Beute, wenn ſie jagten, fiſchten 
oder Salz holten“. Völker von anderen 
Raſſen, wie die Malayo-Polyneſier, welche 
auf ähnlicher Stufe der geſellſchaftlichen 
Entwickelung unter unbeſtrittener Herrſchaft 
von Häuptlingen leben, weiſen gleiche Ge— 
wohnheiten auf. Forſter erzählt von 
den Sachen, welche den Tahitiern gegen 
Nahrungsmittel, einheimiſche Anzüge u. ſ. w. 
verhandelt wurden, und ſagt: „Jedoch fanden 
wir, daß alle dieſe erlangten Güter mit der 
Zeit in Form von Geſchenken oder von 
freiwilligen Erkenntlichkeitsbeweiſen in den 
Schatz der verſchiedenen Häuptlinge floſſen, 
welche, wie es ſchien, die alleinigen Beſitzer 
der Beile und Streitäxte waren.“ In 
Fidſchi wieder „wird von Jedem, der eine 
Gunſt von einem Häuptling erbittet oder 
privaten Verkehr mit ihm wünſcht, voraus— 
geſetzt, daß er ein Geſchenk bringe.“ 

In den letztgenannten Fällen können 
wir beobachten, wie dies Darbringen von 
Geſchenken an den Häuptling aus einem 
freiwilligen allmälig zu einem erzwungenen 
Begütigungsmittel wird; denn wenn wir 
leſen, daß „die Häuptlinge auf Tahiti die 
Beſitzungen ihrer Unterthanen nach Belieben 
plünderten“, und daß in Fidſchi „die 
Häuptlinge gewaltſam das Eigenthum An— 
derer an Dingen oder Perſonen an ſich 
nehmen“, ſo wird es klar, daß das Dar— 
bringen von Geſchenken eigentlich nichts 


Anderes iſt als das Hingeben eines Theils 


des Beſitzthums, um den Verluſt des Gan— 
zen zu verhüten. Die Klugheit gebietet, 
zu gleicher Zeit die Begierden der Obern 
zu befriedigen und ihnen Unterwerfung 
zu bezeugen. „Die Malagaſſen, Scla— 


ven ſowohl wie Freie, machen gelegentlich 


ihren Häuptlingen Geſchenke aus ihren Vor— 
räthen, als Zeichen der Huldigung.“ Und 
es iſt dabei ſelbſtverſtändlich, daß die Sorge, 
den Häuptlingen zu gefallen, um jo leb— 
hafter ſein wird, je größer ihre Macht iſt; 
ſei es durch Zuvorkommenheit gegen ihre 
begehrlichen Wünſche, ſei es zugleich durch 
Bethätigung der Unterthänigkeit. 

Nur in wenigen Fällen jedoch, wenn über— 
haupt irgendwo, wird der Gebrauch, einem 
Häuptlinge Geſchenke darzubringen, zu einer 
ſo ausgebildeten Sitte in einem einfachen 
Stamme. Anfangs wird der Anführer, 
der ſich noch nicht ſehr von den Uebrigen 
unterſcheidet und noch nicht mit Leuten um— 
geben iſt, welche bereit ſind, ſeinen Willen 
mit Gewalt durchzuſetzen, die anderen 
Glieder des Stammes nicht mit genügen— 
der Furcht erfüllen, um das Darbringen 
von Geſchenken zu einer ſtehenden Cere— 
monie zu machen. Erſt in zuſammengeſetz— 
ten Geſellſchaften, welche durch die Ueber— 
wältigung mehrerer Stämme durch einen 
erobernden Stamm von gleicher oder an— 
derer Raſſe ſich gebildet haben, entſteht 
eine herrſchende Klaſſe von Ober- und 
Unterhäuptlingen, welche ſich genügend vor 
den Andern auszeichnen und mächtig ge— 
nug ſind, die erforderliche Furcht einzuflößen. 

Einen Fall, in welchem die Sitte ihren 
urſprünglichen Charakter bewahrt hat, liefert 
uns Timbuctu. Hier „belegt der König 
weder ſeine Unterthanen noch die fremden 
Kaufleute mit irgend einem Tribut, ſondern 
er erhält nur Geſchenke.“ Aber Caillé 
fügt hinzu: „Es beſteht daſelbſt keine eigent— 
liche Regierung. Der König iſt gleich einem 
Vater, der ſeine Kinder leitet.“ Wenn 
ſich Streitigkeiten erheben, ſo „verſammelt 
er einen Rath der Aelteſten“. Das will 
alſo ſagen: die Darbringung von Geſchen— 
ken bleibt freiwillig, wo die königliche 


— — 


52 


Macht noch gering iſt. Bei einem andern 
afrikaniſchen Volke dagegen, den Kaffern, 
können wir beobachten, wie die Gaben ihren 
freiwilligen Charakter verlieren. 


„Das 


Einkommen des Königs beſteht in einer 


jährlichen Lieferung von Vieh, Erſtlings— 
früchten u. ſ. w.“, und „wenn ein Kooſſah 
(Kaffer) ſeinen Kornboden öffnet, ſo muß 
er etwas von dem Korn ſeinen Nachbarn 
ſenden, einen größern Antheil aber dem 
Könige.“ Auch in Abyſſinien finden wir 
eine ähnliche Miſchung von auferlegten Ab— 
gaben und freiwilligen Geſchenken neben feſt— 
ſtehenden Lieferungen. In Form von Zeug— 
ſtücken und Korn empfängt der Fürſt von 
Tigré alljährliche Geſchenke, und ein ent— 
ſprechendes Syſtem von theils beſtimmten, 
theils unbeſtimmten Abgaben des Volkes 
an die Könige iſt in ganz Oſtafrika allge= 
mein verbreitet. — Aber indem ſolche Ge— 
ſchenke, wenn ſie einmal zur bleibenden 
Sitte geworden ſind, inſofern aufhören, 
eine begütigende Wirkung auszuüben, ergiebt 
ſich von ſelbſt das Beſtreben, andere Ge— 
ſchenke zu machen, welche als Verſöhnungs— 
mittel gelten, weil ſie unerwartet kommen, 
— was leicht verſtändlich iſt, wenn man 
ſich erinnert, daß da, wo die königliche 
Macht ſehr groß geworden iſt, die Unterthanen 
ihr Eigenthum nur geduldeter Weiſe be— 
halten. Wenn Burton uns erzählt, daß 
in Dahome „wahrlich keine große Verführ— 
ung zum Anhäufen von Reichthümern ge— 
geben iſt, da ſolche dem Beſitzer ſicherlich 
jo oft «ausgepreßt» werden würden, als er 
überhaupt die Operation ertragen könnte,“ 
und wenn wir von den alten Königen von 
Bogota leſen, daß fie „abgeſehen von den 
regelmäßigen Tributen, welche mehrere Male 
des Jahres bezahlt werden mußten, und 
abgeſehen von anderen unzähligen Spenden, 
abſolute Herren des Eigenthumes 


n 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


und des Lebens ihrer Unterthanen waren,“ 
ſo erkennen wir leicht, warum neben den— 
jenigen Gaben, die zuerſt freiwillig und 
nach Belieben geliefert wurden, ſpäter aber 
pflichtige und regelmäßige Steuern gewor— 
den ſind, beſtändig immer neue freiwillige 
Gaben zu entſtehen ſtreben. 

Wenn eine Privatperſon ihrem Häupt— 
ling oder Könige eine Gabe darbringt, ſo 
drückt dieſer Akt zugleich Unterwerfung aus; 
noch mehr iſt dies aber der Fall, wenn 
ein untergeordneter Herrſcher dem oberſten 
König feine Gabe -übergiebt: hier, wo 
Widerſetzlichkeit noch mehr zu fürchten iſt, 
erlangt dieſe Ceremonie eine noch größere 
Bedeutung als Beweismittel der unter— 
thänigen Geſinnung. Deswegen gilt dann 
das Darbringen von Geſchenken als for— 
male Anerkennung der Oberherrſchaft. Im 
alten Vera Pas, „ſobald einer zum König 
gewählt war, erſchienen alle Herren der ein— 
zelnen Stämme oder ſie ſchickten ihre Ver— 
wandten mit Geſchenken. Sie erklärten (bei 
der Ausrufung des Gewählten), daß ſie mit 
ſeiner Erwählung einverſtanden wären und 
ihn als König empfingen.“ Wenn bei den 
Chibchas ein neuer König auf den Thron kam, 
„legten die Häuptlinge darauf einen Eid 
ab, daß ſie gehorſame und getreue Vaſallen 
ſein wollten, und zum Beweiſe ihrer Treue 
überbrachte ihm Jeder ein Juwel, eine 
Anzahl Kaninchen u. ſ. w.“ Von den 
Mexicanern erzählt Toribio: „Alljährlich 
pflegten diejenigen Indianer, welche keine 
Steuern zu zahlen hatten, und ſelbſt die 
Häuptlinge bei gewiſſen Feſtlichkeiten . ... 
ihren Herrſchern Geſchenke zu machen . . .. 
zum Zeichen ihrer Unterwürfigkeit.“ Und 
Gleiches fand ſich in Peru. „Keiner näherte 
ſich Atahuallpa, ohne ihm zum Beweiſe 
ſeiner Unterthäuigkeit eine Gabe zu bringen; 
und ſelbſt wenn große Edelleute kamen, ſo 


— . 


— —— ä X—1—̃ ——1—ꝝVL— ———— 1 K Q — — ———— —— ̃ͤ ——ſ— —— kT - —ͤ—— — b——½ . — 
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


traten ſie doch mit den Geſchenken auf 
ihrem eigenen Rücken herein und ohne 
Schuhe.“ Dieſe Bedeutung des Geſchenke— 
machens als Ausdruck der Lehenspflicht 
ergiebt ſich ferner deutlich aus zwei ent— 
gegengeſetzten Darſtellungen in den Schriften 
der alten Hebräer. Von Salomon heißt 
es, daß er „über alle die Könige herrſchte 
vom Fluſſe an bis in das Land der Phi— 


liſter und bis an die Grenze von Aegyp⸗ 


tenland,“ und ferner, daß „alle Könige 
der Erde das Angeſicht Salomons ſuchten 
NR und fie brachten ein Jeglicher fein 
Geſchenk . . . . eine Gabe, Jahr für Jahr.“ 
Dagegen ſteht geſchrieben, als Saul zum 
Könige gewählt war: „Da ſagten die Kin— 
der Belials: Was ſoll uns dieſer helfen? 
Und verachteten ihn und brachten ihm keine 
Geſchenke.“ Im ganzen fernen Orient be— 
hält die Ueberreichung von Geſchenken an 
den höchſten Herrſcher immer noch dieſelbe 
Bedeutung. In Japan „gehörte es zu den 
Obliegenheiten eines Edelmannes, einmal 
des Jahres den kaiſerlichen Hof zu beſuchen 
und ſeine Ehrfurcht zu bezeugen, wobei er 
Geſchenke überreichte“; überdies „bezeugte der 
weltliche Monarch dem Mikado ſeine Ehr— 
furcht und Gehorſam einmal des Jahres 
es. durch feierliche Geſandtſchaft und 
reiche Geſchenke.“ In China tritt die Be— 
deutung des Aktes als Ausdruck der Un— 
terwerfung außerordentlich ſcharf hervor. 
Abgeſehen von der Schilderung, daß „bei 
der Thronbeſteigung des großen Chan vier— 
tauſend Boten und Geſandte, welche mit 
Geſchenken beladen ankamen, der Ceremonie 
beiwohnten,“ leſen wir auch, daß die mon— 
goliſchen Beamten die Franziskanermönche, 
welche Innocenz IV. dorthin entſandt hatte, 
vor Allem frugen, „ob der Papſt wiſſe, 
daß der große Chan der Sohn des Him— 
mels ſei, und ob ſie wüßten, daß die 


53 


Herrſchaft der Erde von Rechts wegen ihm 
gehörte und was für ein Geſchenk 
ſie vom Papſte für den großen Chan mit— 
gebracht hätten.“ Und ebenſo beſtimmt iſt 
die dem Ueberbringen von Geſchenken an 
den Monarchen in Burmah beigelegte Bedeut— 
ung, wo nach Yule's Bericht „bei frühes 
ren Gelegenheiten lebhafte Anſtrengungen 
gemacht wurden, um fremde Geſandte als 
Bittende an den „Verzeihungstagen? unter 
den Vaſallen und abhängigen Fürſten des 
Reiches mit einzuführen: ihre Geſchenke 
wurden dabei als Opfer zur Abbitte dar— 
geſtellt, welche die verdiente Züchtigung für 
Beleidigungen ihres Lehnsherren abwenden 
ſollten.“ 

Auch in der ältern Geſchichte von Euro— 
pa fehlt es nicht an Beiſpielen für die 
eigentliche Bedeutung des Geſchenkemachens. 
Wir erfahren, daß zur Zeit der Merowinger 
„an einem beſtimmten Tage, einmal des 
Jahres, auf dem Märzfelde nach altem 
Brauche den Königen vom ganzen Volke 
Gaben dargebracht wurden,“ und daß ſich 
dieſer Brauch bis zur Zeit der Carolinger fort- 
erhielt; die Geſchenke waren der verſchiedenſten 
Art — Speiſen und Getränke, Pferde, Gold 
und Silber, Juwelen und Gewänder. 
Wir haben ferner die Thatſache, daß ſolche 
Geſchenke ebenſowohl von ganzen Gemein— 
ſchaften als von Einzelnen geliefert wurden; 
Städte bezeugten damit ihre gute Geſinn— 
ung, und wir finden, daß von den Zeiten 
Guntram's an, welcher von den Gaben 
der Einwohner von Orleans beim Eintritt 
in die Stadt förmlich erdrückt wurde, bei 
den Städten noch lange die Sitte herrſchend 
blieb, auf ſolche Weiſe ſich die Zuneigung 
der Monarchen zu erwerben, bis ſchließlich 
dieſe Geſchenke zum Geſetz wurden. Im 
alten England kam es ſogar dahin, daß 
die beim Beſuch eines Monarchen von 


— 222 


—— 


54 


einer Stadt anfangs freiwillig, ſpäter aber 
zwangsweiſe gelieferten Geſchenke ſo ſchwere 
Verluſte mit ſich brachten, daß in manchen 
Fällen „die Einkehr der königlichen Familie 
und des Hofes für ein großes Unglück er— 
achtet wurde“. 

Die im Obigen zuſammengeſtellten 
Zeugniſſe werden jedem Leſer bereits den 
Schluß nahegelegt haben, daß aus den 
Verſöhnungsgeſchenken allgemeine und un— 
freiwillige Abgaben, feſtſtehende Tribute 
werden und daß mit der Entſtehung einer 
gangbaren Münze dieſe ſich in eine regel— 
mäßige Steuer verwandelt. Wie dieſer 
Uebergang beſtändig ſich zu vollziehen ſtrebt 
und welche Motive fortwährend in dieſer 
Richtung wirken, um außerordentliche, frei— 
willige Gaben in ordentliche, erzwungene 
Abgaben umzuwandeln, ergiebt ſich deutlich 
aus Malcolm's Bericht über die Ge— 
bräuche in Perſien. Indem er die „un— 
regelmäßigen und erdrückenden Abgaben“ 
ſchildert, „denen ſie (die Perſer) unaufhör— 
lich ausgeſetzt find,“ ſagt er: — „Die 
erſte Klaſſe dieſer außergewöhnlichen Steuern 
kann als gebräuchliche und außerordentliche 
Geſchenke bezeichnet werden. Die gebräuch— 
lichen Geſchenke für den König ſind die— 
jenigen, welche ihm alle Gouverneure der 
Provinzen und Diſtrikte, die Häuptlinge 
der Stämme, die Miniſter und alle übrigen 
Beamten höhern Ranges alljährlich beim 
Feſte des Nourouze oder der Frühlingstag— 
und Nachtgleiche überbringen. Der Werth 
des bei dieſer Gelegenheit Geſchenkten regelt 
ſich auch im Allgemeinen durch den Brauch: 
eine zu kleine Gabe bedeutet einfach Ver— 
luſt des Amtes und ein Ueberſteigen des 
Gewöhnlichen Vermehrung der Gunſt.“ 

Daß unter einem ſolchen Druck aus 
unregelmäßigen Geſchenken allmählich eine 
regelmäßige Abgabe wurde, liegt in der 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Natur der Sache und ebenſo, daß die— 
ſelben meiſt aus den Haupterzeugniſſen der 
einzelnen Diſtrikte beſtehen, wie z. B. 
im alten Peru, wo das Volk aus einer 
Provinz wohlriechende Hölzer einſandte, 
aus einer andern Baumwolle, aus einer 
dritten Gold und Edelſteine, aus einer 
vierten Papageien, Honig und Wachs; oder 
wie im alten Mexico, wo die Städte das 
als Steuer erlegten, „was das Land her— 
vorbrachte — Fiſche, Fleiſch, Korn, Baum— 
wolle, Gold ꝛc., denn ſie hatten keine Münze.“ 
In andern Fällen, wo die Einrichtungen 
weniger beſtimmt ſind, kommen vom ſelben 
Orte verſchiedenerlei Gaben; ſo pflegten 
beiſpielsweiſe die Städte den altfranzöſiſchen 
Königen zu ſchenken: „Rinder, Schafe, 
Wein, Hafer, Wild, Wachskerzen, Zucker— 
werk, Pferde, Waffen, goldene und ſilberne 
Gefäße u. ſ. w.“ 

Für den Uebergang vom Geſchenkemachen 
zum Bezahlen einer Abgabe, in dem Sta— 
dium gerade, wo dieſelbe eine periodiſche 
Einrichtung wird, finden wir gute Beiſpiele 
in einigen verhältnißmäßig kleinen Geſell— 
ſchaften, wo die Regierungsgewalt feſtge— 
gründet iſt. In Tonga „macht die höhere 
Klaſſe der Häuptlinge im Allgemeinen dem 
Könige ungefähr alle vierzehn Tage ein Ge— 
ſchenk, aus Schweinen oder ams beſtehend; 
dieſe Häuptlinge aber erhalten zu derſelben 
Zeit Geſchenke von den unter ihnen Stehen— 
den und dieſe letzteren von Anderen und 
ſo fort bis hinab zum gemeinen Volke.“ 
Das alte Mexico, welches aus zu verſchie— 
dener Zeit unterjochten und in verſchiedenem 


Grade abhängigen Provinzen beſtand, zeigte 


auch mehrere Stufen des Uebergangs vom 
Geſchenk zur Abgabe. Duran ſchildert 
dieſe Verhältniſſe aus der Zeit Montezuma's!. 
folgendermaßen: „Die Liſte der Abgaben 
umfaßt alle möglichen Dinge. Die Pro— 


vinzen lieferten dieſen Tribut ſeit der 
Zeit ihrer Eroberung, damit die tapfern 
Mexicaner aufhören möchten, ſie auszu— 
plündern“ — woraus deutlich hervorgeht, 
daß es urſprünglich Verſöhnungsgeſchenke 
waren. Ferner leſen wir, daß „in Mez— 
titlan der Tribut nicht zu beſtimmten Zei⸗ 
ten bezahlt wurde, ſondern wann der Herr 
deſſen bedurfte. Sie dachten nicht daran, die Ab— 
gaben aufzuhäufen, ſondern ſie frugen von Zeit 
zu Zeit, was im Augenblick für die Tempel, 
die Feſtlichkeiten oder die Fürſten nöthig 
ſei.“ Von den Tributen, welchen das ganze 
Land Montezuma's unterworfen war und 
welche aus „Lebensmitteln, Kleidern und 
einer großen Menge verſchiedener Dinge“ 
beſtanden, wird uns geſagt, daß „einige 
von denſelben jährlich, andere halbjährlich 
und wieder andere alle achtzig Tage bezahlt 
wurden“. Und ferner ſagt Toribio hin— 
ſichtlich der Geſchenke, welche Einige bei 
Feſtlichkeiten „zum Zeichen ihrer Unter— 
würfigkeit“ darbrachten: — „Dies ſcheint 
zu beweiſen, daß die Häuptlinge, die Kauf— 
leute und die Grundbeſitzer nicht verpflichtet 
waren, Steuern zu bezahlen, ſondern es 
freiwillig thaten.“ 


Der Uebergang von freiwilligen Gaben 
zu pflichtigem Tribut läßt ſich in der alten 


europäiſchen Geſchichte verfolgen. Unter 
den Einfommensquellen der Merowingiſchen 
Könige zählt Waitz die Gaben auf, welche 
das Volk aus freiem Willen bei verſchie— 
denen Gelegenheiten (beſonders bei Hoch— 
zeiten) darbrachte, neben den jährlichen Ge— 
ſchenken, die urſprünglich bei den Märzver— 
ſammlungen, aber ſpäter zu andern Zeiten, 
um den Jahresanfang, gemacht wurden: — 
freiwillig, als ſie Sitte wurden, aber all— 
mählig zu einer feſten Steuer ſich aus— 
bildend. 


Derſelbe ſagt auch, wo 


= — = — TER 
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 55 


jährlichen Geſchenken des Volkes zur Zeit 
der Karolinger ſpricht, daß ſie ſeit lange 
ihren freiwilligen Charakter verloren hätten 
und ſogar von Hine mar wirklich als Tri— 
but bezeichnet würden. Sie umfaßten Pferde, 
Gold, Silber und Edelſteine; ferner (aus 
Nonnenklöſtern) Gewänder und Regquiſiten 
für die königlichen Schlöſſer; und hier fügt 
er hinzu, daß dieſe Verpflichtungen oder 
Tributa ſtets einen mehr oder weniger 
privaten Charakter trugen: obwohl ſie als 
Pflicht betrachtet wurden, ſo waren ſie doch 
noch nicht Abgaben im wörtlichen Sinne. 
Es läßt ſich ferner zeigen, wie auch die 
freiwilligen Geſchenke, welche manche Städte 
ihren Beherrſchern bei deren Beſuchen mach— 
ten, auf ähnliche Weiſe aus freiwilligen 
zu pflichtigen Abgaben wurden. Es be— 
durfte beſonderer Befehle des Königs, um 
Paris zu veranlaſſen, 1584 dem Herzog 
von Anjou und auch bei andern Gelegen— 
heiten den Geſandten und auswärtigen 
Fürſten Geſchenke darzubringen. 

In dem Maße, als der Geldwerth 
beſtimmter und Bezahlungen in baarer 
Münze leichter wurden, vollzog ſich eine 


entſprechende Veränderung: das beweiſen 


in der Karolingiſchen Zeit „die ſogenann— 
ten Inferenda, eine Abgabe, die man ur- 
ſprünglich in Vieh, jetzt aber in baarem 
Gelde zu entrichten pflegt;“ das beweiſt 
ferner in der engliſchen Geſchichte die 
Schenkung von Geld anſtatt von Waaren 
und dergl., welche die Städte einem König 
und ſeinem Gefolge zu machen hatten, 
wenn dieſer ſeinen Einzug hielt. Dieſe 


Zäeugniſſe mag am paſſendſten die folgende 


Stelle aus Stubbs abſchließen: — 
„Die gewöhnlichen Einkünfte des Königs 

von England ſtammten blos von den könig— 

lichen Gütern und den Erzeugniſſen deſſen, 


er von den was Lehnsbeſitz geweſen war, nebſt den 


un 


56 


abgelöften Abgaben von Feormfultum 
oder Lebensmitteln in natura, die an Stelle 
der vorbehaltenen Renten aus alten Beſitz— 
ungen der Krone ſowohl wie an Stelle 
der halb freiwilligen Abgaben getreten waren, 
welche die Nation ihrem erwählten Ober— 
haupte zu liefern hatte;“ — eine Stelle, 
die zu gleicher Zeit einmal den Uebergang 
freiwilliger Gaben in unfreiwillige Abgaben, 
dann aber auch die Umwandlung ſolcher 
Abgaben in eigentliche Steuern trefflich 
erläutert. 

Hier iſt noch zu bemerken, daß der 
oberſte Herrſcher neben den periodiſchen und 
gewöhnlichen Geſchenken, welche zu ſeiner 
Verſöhnung und zur Anerkennung ſeiner 
Ueberlegenheit dargebracht werden, auf frü— 
hen Entwickelungsſtufen gewöhnlich noch 
beſondere Geſchenke empfängt, wenn er 
dafür angerufen wird, ſeine Macht zur 
Vertheidigung oder Unterſtützung eines an— 
gegriffenen Unterthanen zu brauchen. Bei den 
Chibchas „durfte Niemand vor dem Angeſicht 
eines Königs, Caziken oder ſonſtigen Hoch— 
geſtellten erſcheinen, ohne eine Gabe mitzu— 


bringen, welche abgeliefert werden mußte, 


bevor man ſeine Bitte vortrug.“ Auf Su— 
matra „erhebt ein Häuptling keine Steuern, 
er hat auch ſonſt kein Einkommen ..... 
oder irgend andere Abgaben von ſeinen 
Unterthanen, außer was ihm in Folge der 


Schlichtung von Streitigkeiten zufällt.“ Ein 


ähnlicher Brauch herrſcht in Nordweſt— 
Indien. Von Gulab Singh, einem frühe— 
ren Herrſcher von Jummoo, erzählt Herr 
Drew: „Mittelſt der gebräuchlichen Gabe 
einer Rupie als Nazare (Geſchenk) konnte 
Jeder Zugang zu ſeinem Ohre erlangen; 
ſelbſt mitten aus der Menge heraus konnte 
man ſein Auge auf ſich lenken, wenn man 
eine Rupie emporhielt und ausrief: „Ma— 
harajah, eine Bitte!? Er pflegte gleich 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


einem Habicht auf das Geld niederzufahren 
und dann, nachdem er es an ſich genom— 
men, die Bittenden ruhig anzuhören.“ Wir 
haben Zeugniſſe, daß bei uns ſelbſt in 
früheren Zeiten ein gleicher Zuſtand herrſchte. 
„Wir dürfen wohl glauben,“ ſagt 
Broom, indem er ſich auf eine Aeußer— 
ung von Lingard bezieht, „daß nur 
wenige Fürſten in jenen Tagen (der angel— 
ſächſiſchen Herrſchaft) es verweigerten, rich— 
terliche Funktionen auszuüben, wenn ſie 
durch Günſtlinge darum erſucht, durch Be— 
ſtechung verleitet oder durch Habgier und 
Geiz angetrieben waren.“ Und wenn wir 
leſen, daß in den älteren normanniſchen 
Zeiten der erſte Schritt in einem Proceß 
zur Erlangung des gerichtlichen Beiſtandes 
darin beſtand, ſich des Königs eigenhändige 
Schrift auszuwirken oder zu erkaufen, in— 
dem man die dafür feſtgeſetzte Summe be— 
zahlte — eine Schrift, welche dem Ange— 
klagten befahl, vor dem Könige zu erſchei— 
nen — ſo iſt wohl anzunehmen, daß die 
für dieſes Document bezahlte, von vorn— 
herein beſtimmte Summe nichts Anderes 
darſtellte als das Geſchenk, welches urſprüng— 
lich dem Könige für die Leiſtung ſeines 
richterlichen Beiſtandes gemacht wurde. Die— 
ſer Schluß ſteht nicht ohne Stütze da. 
Blackſtone ſagt: „Jetzt gilt es in der 
That für ausgemacht, daß ſelbſt die könig— 
liche Handſchrift nach gemeinem Rechte ge— 
fordert werden darf, wenn man die ge— 
bräuchlichen Gebühren bezahlt?!“ — was 
auf eine frühere Zeit hinweiſt, in welcher 
die Gewährung derſelben eine Sache könig— 
licher Gunſt war, die erſt durch Verſöhn— 
ung erlangt werden konnte. 
Natürlicherweiſe werden dann aber, wenn 
richterliche und andere Funktionen ſich als 
ſelbſtſtändige Aemter ablöſen, Geſchenke ge— 
macht werden, um die Dienſte der betref— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


fenden Beamten zu gewinnen, und wenn 
auch urſprünglich freiwillig, werden dieſe 
gleichfalls mit der Zeit zu pflichtigen Löh— 
nen werden. Berichte aus dem alten Orient 
belegen dies. So geht aus Amos, Cap. I 


V. 6 hervor, daß die Richter Geſchenke er- 


hielten, wie dies für die türkiſchen Behörden 
in denſelben Gegenden bis auf unſere Tage 
gelten ſoll; die Behauptung des Propheten 
ſowohl wie die manches Beobachters aus der 
Gegenwart, daß dieſer Gebrauch in Folge 
allgemeiner Verderbniß eingeriſſen ſei, iſt 
eben nur wieder einer von den vielen Fällen, 
in denen das Fortbeſtehen eines niedrigeren 
Zuſtandes mit dem Herabſinken von einem 
höheren Zuſtande verwechſelt wird. So 


empfingen die Richter auch in Frankreich in 


früheren Zeiten ſogenannte „Speſen“ als 
Zeichen der Erkenntlichkeit von der Partei, 
welche den Proceß gewonnen hatte. Um das 
Jahr 1369, wenn nicht ſchon früher, wur— 
den dieſelben in Geld umgewandelt, und 
1402 waren ſie bereits als gebräuchliche 
Abgabe anerkannt. Dieſe Sitte erhielt ſich 
bis zur Revolution. In unſerer eigenen 
Geſchichte bildet der bekannte Fall von 
Bacon nicht etwa ein Beiſpiel eines eigen— 
thümlichen neuen Gebrauches, ſondern viel— 
mehr des Fortlebens einer alten und her— 
kömmlichen Sitte: manche locale Urkunden 
zeigen uns, wie regelmäßig den Rechts— 
beamten und ihren Unlergebenen Geſchenke 
gemacht wurden, und dieſe Thatſachen ſind 
wirklich ganz treffend in dem Satz zu— 
ſammengefaßt, daß „Niemand ſich einem 
hochgeſtellten Manne, einer Magiſtratsperſon 
oder einem Höfling je zu nähern wagte 
ohne die orientaliſche Begleitung — ein Ge— 
ſchenk.“ Daß aber in vergangenen Zeiten 
die den Staatsdienern gemachten Verſöhn— 
ungsgeſchenke in vielen Fällen ihr ganzes 
Einkommen bildeten, läßt ſich ſchon aus 


57 


der Thatſache ſchließen, daß im zwölften 
Jahrhundert die höchſten Aemter des könig— 
lichen Haushalts verkauft wurden: in der 
Meinung offenbar, daß der Werth der zu 
erhaltenden Geſchenke groß genug ſei, um 
die Stellen preiswürdig zu machen. Ruß⸗ 
land ſcheint in früheren Zeiten ein Beiſpiel 
für den Zuſtand geliefert zu haben, in 
welchem das Gefolge und die Beamten des 
Herrſchers hauptſächlich, wenn nicht aus— 
ſchließlich, auf Geſchenke angewieſen waren. 
Karamſin giebt die Bemerkungen der Reiſen— 
den wieder, welche Moskau im ſechszehnten 
Jahrhundert beſuchten. „Iſt es ein Wunder,“ 
ſagen dieſe Fremden, „daß der Großfürſt 
reich iſt? Er bezahlt weder ſeinen Soldaten 
noch ſeinen Abgeſandten irgend Etwas; ja 
er nimmt dieſen Letzteren ſogar alle die 
koſtbaren Dinge ab, welche ſie aus fremden 
Ländern zurückbringen Gleich- 
wohl pflegen ſich dieſe Leute nicht zu be— 
klagen.“ Woraus wir ſchließen müſſen, 
daß ſie in Ermangelung von Löhnen und 
Gehältern von Oben ihren Unterhalt aus 
Gaben von Unten beſtritten. Was wir jetzt 
Beſtechungen nennen, welche die elend be— 
zahlten Beamten fordern, bevor ſie ihre 
Obliegenheit erfüllen, ſind zum Theil 
die Stellvertreter der Geſchenke, welche 
ihre einzige Quelle des Unterhaltes in jenen 
Zeiten bildeten, wo ſie noch keinen Gehalt 
bezogen. Und daſſelbe läßt ſich von Spa— 
nien ſagen, von dem Roſe erzählt: „Vom 
Richter bis herab zum Büttel herrſchen 
Beſtechung und Corruption ... ..... Es 
giebt jedoch eine Entſchuldigung für den 
armen ſpaniſchen Beamten. Seine Regierung 
gewährt ihm keinerlei Entſchädigung und 
erwartet dagegen Alles und Jedes von ihm.“ 

Die Gewohnheit läßt uns die Bezahlung 
einer beſtimmten Summe für einen be— 
ſtimmten Dienſt ſo ſelbſtverſtändlich erſchei— 


wor ee ae 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


58 


nen, daß wir wie in andern Fällen, ſo auch 
hier leicht annehmen, dies Verhältniß habe | 
von Anfang an beftanden. Wenn wir aber 
leſen, wie in noch wenig organiſirten Ge— 
ſellſchaften, z. B. bei den Betſchuanen, die 
Häuptlinge den Leuten ihres Gefolges „nur 
einen kärglichen Antheil an Speiſe oder 
Milch gewähren und es ihnen überlaſſen, 
das noch Fehlende durch Jagd oder durch 
Ausgraben wild wachſender Wurzeln zu 
ergänzen“, und wie ſelbſt in erheblich weiter 
vorgeſchrittenen Geſellſchaften, wie in Da— 
home, „kein im Dienſte der Regierung 
ſtehender Beamter bezahlt wird,“ jo er 
ſehen wir wohl, daß urſprünglich die einem 
Anführer zunächſt Untergeordneten nicht von 
Amts wegen unterhalten werden, ſondern 
ſich ſelbſt zu unterhalten haben. Und da 
ihre Stellung ihnen die Macht verleiht, 
den Unterthauen Uebles wie Gutes zuzu— 
fügen, da es ja in der That oft nur 
durch ihre Vermittelung möglich iſt, den 
Häuptling anzurufen, ſo macht ſich hier 
daſſelbe Motiv geltend, ſie durch Geſchenke 
zu begütigen, wie es für die Begütigung 
des Häuptlings ſelbſt gilt; und daraus 
entſpringt dann für ſie auf gleiche Weiſe 
ein beſtimmtes Einkommen. Dieſer Schluß, 
daß die Verſorgung der Staatsangeſtellten 
auf ſolchem Wege beginnt, wird ſofort 
weitere Beſtätigung darin finden, daß er 
völlig mit dem noch deutlicher zu begrün— 
denden Schluſſe in Einklang ſteht, daß auch 
die Verſorgung der kirchlichen Angeſtellten 
ſolchen Urſprungs iſt. 

Indem das andere Ich des todten 
Menſchen urſprünglich ſo vorgeſtellt wird, 
als ſei es eben ſo ſichtbar und greifbar 
wie das Original und auch nicht minder 
dem Schmerz, der Kälte, dem Hunger und 
Durſt unterworfen, ſo knüpft ſich von ſelbſt 
die Meinung daran, es bedürfe in gleicher 


1 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Weiſe der Speiſe, des Trankes, der Kleid— 
ung u. ſ. w., und es könne auch verſöhnt 
werden, indem man es mit dieſen Dingen 
wohl verſehe. Im Anfang alſo unterſcheiden 
ſich die den Todten dargebrachten Geſchenke 


von ſolchen für die Lebenden weder ihrer 
Bedeutung noch ihren Motiven nach. 


Auf der ganzen Erde finden wir in 
niedrigeren Geſellſchaftsformen der Ver— 
gangenheit und der Gegenwart, wie Gaben 
für die Todten unmittelbar neben Gaben 
für die Lebenden einhergehen. Speiſe und 
Trank wird bei dem noch nicht begrabenen 


Leichnam zurückgelaſſen von den Papuas, 


Tahitiern, Sandwich-Inſulanern, Malanans, 
Badagas, Karenen, den alten Peruanern, 
den Braſilianern ꝛc. Speiſen und Getränke 
werden ſpäter zum Grabe gebracht in Afrika 
vom Volke von Scherbro und von Loango, 
den Binnenland-Negern, den Bewohnern 
von Dahome ꝛc., im ganzen indiſchen Berg— 
lande von den Bhils, Santals, Kukis ꝛc.; 
in Amerika von den Cariben, Chibchas, 
Mexikanern; und ein ähnlicher Gebrauch 


war unter den alten Stämmen des Oſtens 


verbreitet. Bei den Eskimos werden den 
Todten von Zeit zu Zeit Kleider zum Ge— 
ſchenk überbracht. In Patagonien öffnet 
man alljährlich die Grabkammern und be— 
kleidet die Todten von Neuem, wie dies 
auch die alten Peruaner thaten. Wenn ein 
Potentat unter dem Congovolke ſtirbt, ſo 
wächſt die demſelben von Zeit zu Zeit ge— 
ſchenkte Menge von Kleidern ſo an, „daß 


die erſte Hütte, in welcher der Leichnam 


beigeſetzt worden war, bald zu klein wird 
und eine zweite, eine dritte, ja bis zu einer 
ſechsten, von immer größeren Dimenſionen 
darüber errichtet werden muß.“ Der Bes 
weggrund für dieſen Verſuch, dem todten 
Menſchen zu gefallen, iſt genau derſelbe 
wie für einen ähnlichen Verſuch dem lebenden 


- 


Menſchen gegenüber. Wenn wir leſen, daß heißen nun Opfer für eine Gottheit ſtatt 
ein Häuptling bei den Neu-Caledoniern Geſchenke für eine Perſon. Die urſprüng— 
zum Geiſte ſeines Vorfahren ſagt: „Barm- liche Uebereinſtimmung ergiebt ſich aber 
herziger Vater, hier iſt etwas Speiſe für deutlich aus folgender Bemerkung Guhl's 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 59 


ihretwillen!“ — oder wenn der Veddah 


Theil an dieſem! Gewähre uns Deine 
Unterſtützung, wie Du es thateſt, als Du 
noch lebteſt!“ — ſo müſſen wir es als 
unleugbare Thatſache anerkennen, daß das 
Geſchenkemachen für die Todten genau das— 
ſelbe iſt wie das Geſchenkemachen für die 
Lebenden, mit der einzigen Ausnahme, daß 
dort der Empfänger unſichtbar iſt. 

Blos im Vorbeigehen ſei noch darauf 
hingewieſen, daß ein gleiches Motiv für 
eine ähnliche Verſöhnung der nicht genauer 


unterſchiedenen übernatürlichen Weſen befteht, . 


welche der primitive Menſch rings um ſich 
verbreitet glaubt, mag dieſe Verſöhnung 
zum Ausdruck kommen in den Reſten von 
Brod und Kuchen, welche unſere ſcandi— 
naviſchen Vorfahren für die Elfen und 
ähnliche Weſen übrig ließen, oder in den 
Speiſen und Getränken, welche die Dajaks 
bei ihren Feſtlichkeiten auf die Giebel der 
Häuſer ſtellen, um die Geiſter zu laben, 
oder in dem kleinen Antheil der Speiſe, 
welcher bei Seite geworfen, und des Trankes, 
der für die Geiſter ausgegoſſen wird, wie 
dies viele Raſſen auf der ganzen Erde zu 
thun pflegen, bevor ſie ihre Mahlzeiten 
beginnen. Wir wollen nun vielmehr dazu 
übergehen, das Geſchenkebringen in ſeiner 
ausgebildeteren Form für das entwickelte 
übernatürliche Weſen näher zu betrachten. 
Die hier geſchenkten Dinge und die Motive 
der Geber bleiben dieſelben, wenn auch die 
Identität mehr oder weniger durch die An— 
wendung anderer Worte verhüllt wird; ſie 


Dich; nimm ſie und ſei uns gnädig um über die Griechen: „Gaben, wie ein altes 


Sprichwort ſagt, beſtimmen die Handlungen 


einen verſtorbenen Verwandten bei feinem | der Götter und der Könige“; und ebenfo 


Namen ruft und ſagt: „Komm und nimm 
den Pſalmen (Pf. LXXVI, V. 11): „Ge- 
lobet und zahlet dem Herrn Eurem Gott, 


deutlich ergibt ſie ſich aus einem Vers in 


Alle, die ihr um Ihn her ſeid; bringet 
Geſchenke dem Schrecklichen!“ Aber außer— 
dem werden wir noch eine Uebereinſtimmung 
in den Einzelheiten finden, die außerordent— 
lich wichtig iſt. 

Speiſe und Trank, welche die urſprüng— 
lichſte Art von Verſöhnungsgaben für eine 
lebende Perſon ſowohl wie für einen Geiſt 
darſtellen, bleiben auch überall die weſent— 
lichen Beſtandtheile eines Opfers für eine 
Gottheit. Wenn ein Zulu einen Ochſen 


ſchlachtee, um ſich den guten Willen 
des Geiſtes ſeines todten Verwandten 
zu ſichern, welcher ſich im Traume 


bei ihm beklagt, daß er nicht geſpeiſt 
worden ſei — wenn dann unter den 
Zulus dieſe Privathandlung ſich zu einer 
öffentlichen Handlung ausbildet, indem von 
Zeit zu Zeit ein junger Ochſe getödtet 
wird „als Verſöhnungsopfer für den Geiſt 
des unmittelbaren Vorfahren des lebenden 
Königs“, ſo dürfen wir uns wohl fragen, 
ob nicht auf demſelben Wege jene Hand— 
lungen der ägyptiſchen Könige entſtaki— 
den ſeien, welche durch Hekatomben von 
Ochſen den Geiſtern ihrer vergötterten Väter 
zu gefallen hofften. Wir werden natürlich dieſe 
Uebereinſtimmung voll anerkennen und ſogar 
hinzufügen, daß, wenn auch in den ſpäteren 
Zeiten z. B. der Juden die urſprüngliche und 
grobe Auffaſſung der Opfer mehr und mehr 
verhüllt wurde und die primitive Theorie 


60 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


ſeither allmählich ſich verflüchtigt hat, doch 
die Form immer noch fortbeſteht. Das 
Offertorium unſerer Kirche enthält immer 
noch die Worte: „Nimm an unſere Al— 


moſen und unſere Gaben“; und bei ihrer 


Krönung opferte die Königin Victoria am 
Altar durch die Hand des Erzbiſchofs „ein 
Altargewand von Gold und einen Gold— 
klumpen“, ein Schwert, ferner Brod und 
Wein für die Communion, und endlich 
einen Beutel voll Gold, worauf die Bitte 
folgte, „dieſe Opfer anzunehmen.“ 

Hieran ſchließt ſich eine fernere wichtige 
Bemerkung. Wir ſahen, daß das Geſchenk 
für den ſichtbaren Herrſcher urſprünglich 
um ſeines innern Werthes willen verſöh— 
nende Bedeutung hatte, ſpäter aber eine 
mehr äußerliche verſöhnende Wirkung er— 
langte, als Ausdruck der Loyalität. Ebenſo 
werden die Geſchenke für den unſichtbaren 
Herrſcher urſprünglich für unmittelbar nütz— 
lich gehalten und gewinnen erſt ſecundär 
den Charakter einer bloßen Verſicherung 
des Gehorſams; und erſt dieſe ſecundäre 
Bedeutung drückt dann dem Opfer jenes 
ceremonielle Gepräge auf, was bis auf den 
heutigen Tag geblieben iſt. 

Nun ſtoßen wir auf eine bemerkens— 
werthe Folgeerſcheinung. Wie ſich das 
Geſchenk für den Herrſcher ſchließlich zum 
Staatseinkommen entwickelt, ſo erweitert 
ſich das Geſchenk für den Gott mit der 
Zeit zum kirchlichen Einkommen. 

Gehen wir zunächſt von der früheſten 
Stufe aus, wo noch keine beſtimmte Orga— 
niſation der ſtaatlichen oder kirchlichen Ver— 
hältniſſe beſteht und wo die letzteren ſich 
einzig in dem Medicinmanne verkörpern, 
welchem vielmehr die Funktion obliegt, 
böswillige Geiſter auszutreiben, als ſolche 
zu verſöhnen, welche man einer Beſänftig— 
ung für fähig hält. Auf dieſer Stufe 


wird das Geſchenk für das übernatürliche 


Weſen oft zwiſchen ihm und denjenigen 


getheilt, welche daſſelbe zu verſöhnen haben, 
und zwar wohl auf Grund der meiſten— 


theils ſehr unklaren und unbeſtimmten Vor— 


ausſetzung, daß das übernatürliche Weſen 
entweder einen ſubſtantiellen Theil der 
dargebrachten Speiſe zu ſich nehme oder 
aber daß es ſich von dem vermeintlichen 
geiſtigen Inhalt derſelben nähre, während 
ſeine Anbeter blos die materielle Schale 
verzehrten. Es geſellt ſich die Deutung 
dazu, daß das übernatürliche Weſen nicht 
nur durch das Geſchenk von Speiſen 
verſöhnt, ſondern daß auch durch das ge— 
meinſchaftliche Verzehren der letzteren zwi— 
ſchen ihm und ſeinen Verſöhnern ein 
Band der Vereinigung geknüpft werde, 
welches von der einen Seite ſchützenden 
Einfluß und von der anderen Unterthanen— 
treue bedinge. 

Was uns jedoch hier hauptſächlich au— 
geht, iſt die Thatſache, daß aus dieſer 
Verwendung der Geſchenke ein Lebensunter— 
halt für die Prieſter gewonnen wird. Wenn 
wir leſen, daß die Prieſter der Chippeways 
„durch freiwillige Lieferungen von Lebensmit— 
teln unterhalten werden“ und daß die Prieſter 
der Khonds ihre beſtimmten Sporteln haben 
und Gaben empfangen, ſo ſehen wir un— 
gefähr, wie ſchon in dieſen rohen Geſell— 
ſchaften der Unterhalt einer Prieſterſchaft 
durch Opfer beginnt; und in anderen Fällen 
tritt dies noch deutlicher zu Tage. Bei 
den Kookies pflegt der Priefter, um die 
zornige Gottheit, welche Jemanden krank 
gemacht hat, zu beſänftigen, das nächſte 


beſte, z. B. ein Huhn, zu ergreifen, das, 


wie er behauptet, der Gott verlangt, und 
nachdem er das Blut deſſelben als Opfer 
auf den Boden hat ausſtrömen laſſen, 


wozu er Gebete murmelt, „jegt er ſich 1 


müthlich nieder, röſtet und ißt das Huhn, 
wirft die Abfälle in die Dſchungeln und 
geht nach Hauſe.“ In gleicher Weiſe opfern 
die Battas auf Sumatra ihren Göttern 
Pferde, Büffel, Ziegen, Hunde, Geflügel 
„oder welches Thier gerade der Hexen— 
meiſter an dem betreffenden Tage am lieb— 
ſten eſſen möchte“. Und ferner leſen wir 
von den Buſtarſtämmen auf den Mahadeva— 
Bergen, daß bei ihnen Kodo Pen „von 
jedem neuen Ankömmling vor einem kleinen 
Steinhaufen verehrt wird durch Vermittel— 


ung des älteſten Anſiedlers, und zwar mit 
Geflügel, Eiern, Korn und einigen Kupfer- 


münzen, welche in den Beſitz des dienenden 
Prieſters übergehen“. Die etwas weiter 
entwickelten Geſellſchaften in Afrika zeigen 
uns eine gleiche Einrichtung. Burton 
erzählt, daß in Dahome „Diejenigen, welchen 
die «Pflege der Seelen» obliegt, keine regel— 
mäßige Bezahlung erhalten, ſondern ſehr 
wohl von den milden Gaben ihrer Ver— 
ehrer leben können;“ und Forbes ſpricht 
es noch beſtimmter aus, daß in ihren Tem— 
peln „alltäglich von den Andächtigen kleine 


Opfer niedergelegt und von den Prieſtern 


weggenommen werden.“ Ebenſo hängt im 
benachbarten Königreich von Aſchanti „das 
Einkommen der Fetiſchmänner ganz von 
der Freigebigkeit des Volkes ab. 
Hälfte der Opfergaben nämlich, welche dem 
Fetiſch dargebracht werden, gehört den 
Prieſtern“. Gleiches gilt für Polyneſien. 
Ellis erwähnt, daß der Doktor auf Ta— 
hiti faſt ausnahmslos ein Prieſter ſei und 
fügt hinzu, derſelbe empfange, bevor er 
ſeine Operationen beginne, eine gewiſſe Ent— 
ſchädigung, von der, wie man glaubte, ein 
Theil den Göttern gehören ſollte. Und ſo 
ſtand es endlich auch in den alten ameri— 
kaniſchen Staaten. Ein von Oviedo aufge— 


Die 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


1 

„Bruder: opfert Ihr irgend etwas 
Anderes in Euren Tempeln? 

„Indianer: Jedermann bringt aus 
ſeinem Hauſe mit, was er zu opfern wünſcht 
— Geflügel, Fiſche, Mais oder andere 
Dinge — und die Knaben nehmen es und 
ſtellen es in den Tempel hinein. 

„Bruder: Wer ißt denn dieſe ge— 
opferten Dinge?“ 

„Indianer: Der Vater des Tempels 
ißt ſie, und was übrig bleibt, wird von 
den Knaben aufgegeſſen“. 

In Peru ſodann, wo die Verehrung 
der Todten die Hauptbeſchäftigung der Leben— 
den bildete und wo das ganze kirchliche 


Syſtem ſo künſtlich ausgebildet war, hatte 
die Anhäufung der Gaben für die Geiſter 


und Götter zahlreiche und reich ausgeſtattete 
„geweihte Güter“ entſtehen laſſen, von denen 
die Prieſter aller Grade erhalten wurden. 
Eine ähnliche Entſtehung ſolcher Güter 
erkennen wir aber auch bei den alten hiſto— 
riſchen Völkern. Bei den Griechen „fielen 
die Ueberreſte des Opfers als Entgelt den 
Prieſtern zu“ und „Alle, welche den Göttern 
dienten, wurden durch die Opfer und andere 
geweihte Gaben unterhalten“. Nicht an— 
ders bei den Hebräern. Im Leviticus, 
Cap. II, V. 10 leſen wir: „Und das, 
was vom Fleiſchopfer übrig bleibt, ſoll 
Aaron und ſeinen Söhnen gehören“ (den 
auserwählten Prieſtern); und an anderen 
Stellen wird dem Prieſter das Fell des 
Opfers und ſogar das ganze gebratene und 
geröſtete Opfer zuerkannt. Selbſt die Ge— 
ſchichte des ältern Chriſtenthums läßt eine 
gleiche Entwickelung erkennen. „In den 
erſten Jahrhunderten der Kirche waren jene 
Deposita pietatis, deren Tertullian 
erwähnt, ſämmtlich freiwillige Gaben“. 
Später „war ein genau beſtimmter Unter— 


ſchriebenes Wechſelgeſpräch enthält die Stelle: halt für den Clerus erforderlich, aber immer 


62 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


noch wurden vom Volke jene Gaben dar— 
gebracht .. . .. Dieſe Gaben (welche be— 
zeichnet wurden als ewas fromme Chriſten 
Gott und der Kirche geopfert habens), an— 
fänglich durchaus freiwillig, wurden ſpäter 
in Folge der fortlaufenden Entrichtung durch 
die Sitte zu pflichtigen Abgaben.“ In 
den Zeiten des Mittelalters kommt es zu 
einer weiteren Stufe in dieſer Fortbildung. 
— Abgeſehen von Dem, was für die 
Communion der Prieſter und Laien erfor— 
derlich, und dem, was für Lobpreiſungen 
beſtimmt war, war es urſprünglich Brauch, 
alle möglichen Arten von Geſchenken dar— 
zubringen; in etwas ſpäterer Zeit aber 
wurden dieſe letzteren in das Haus des 
Biſchofs genommen und ſchließlich gar nicht 
mehr in die Kirche gebracht.“ Und 
indem dann ſolche Schenkungen ſich wieder— 
holten und vergrößerten und beſonders die 
dem Namen nach Gott, in Wirklichkeit 


aber der Kirche hinterlaſſenen Vermächt— 


niſſe dazu kamen, entſtanden die eigentlichen 
Kirchengüter. 


gegen die vorſtehende Darſtellung den Ein— 
wurf erhoben, daß ſie durchgängig nur die 


von Niedrigſtehenden zur Verſöhnung Höher 


ſtehender gemachten Geſchenke berückſichtige, 
während ſie diejenigen Geſchenke, welche die 
Höhern den Niedrigern machen und welche 
einen ſolchen Zweck nicht haben, gänzlich 
ignorire. In der That müſſen dieſe, ob— 
wohl ſie an dem, was man Herrſchaft des 
Ceremoniells nennen kann, keinen Antheil 
bekommen, doch noch kurz beſprochen werden. 
Der zwiſchen den beiden Arten von Ge— 
ſchenken hinſichtlich ihrer Bedeutung beſtehende 
Gegenſatz wird klar erſichtlich, wo das Ge— 
ſchenkemachen ſehr ausgekünſtelt iſt, wie in 


China. „Bei „den gebräuchlichen Wechſelbe— | 


ſuchen zwiſchen Höhern und Niedern oder 


nach denſelben findet ein Austauſch von 
Geſchenken ſtatt, aber die von den Erſteren 
gegebenen werden als Schenkungen dar— 
geſtellt, die von den Letzteren als Ge— 
bühren in Empfang genommen: es ſind 
dies nämlich die chineſiſchen Ausdrücke für 
die Geſchenke, welche zwiſchen dem Kaiſer 
und auswärtigen Fürſten ausgewechſelt 
werden.“ 

Wenn nun die Macht des Staatsober— 
hauptes ſich weiter ausbildet, bis daſſelbe 
ſchließlich das allgemeine Eigenthumsrecht 
mit wenig oder gar keiner Einſchränkung 
erlangt, ſo wird es naturgemäß zu einem 
Stand der Dinge kommen, wo jenes es 
nothwendig findet, ſeinen Anhängern und 
Unterthanen einen Theil deſſen zurückzu— 
geben, was es in ausſchließlichen Beſitz 
genommen hat. Und ſind die Letzteren ur— 
ſprünglich durch ihr Geben in eine gewiſſe 
Unterordnung gekommen, ſo werden ſie nun 
in einer Hinſicht wenigſtens durch ihr Em- 


pfangen noch weiter herabgedrückt. Völker, 
von denen man wie z. B. von den Kookies 
Ohne Zweifel hat mancher Leſer bereits 
was ſie beſitzen, ihnen nur durch die Gnade 


behaupten kann, daß „all das Eigenthum, 


des Rajah zugeſtanden iſt“, oder! ſolche 
Völker wie die Dahomeaner, welche mit 
ihrem Leben wie mit ihren Gütern Beſitz— 
thum ihres Königs ſind, befinden ſich offen— 
bar in der Lage, daß die Dinge, welche 
im Uebermaß nach dem Staatscentrum zu— 
ſammengefloſſen ſind, ſchon in Ermangelung 
einer anderen Verwendung wieder nach unten 
abfließen müſſen; und ſo giebt denn auch 


in Dahome der König, obgleich kein Staatsbe— 


amter bezahlt wird, doch ſeinen Miniſtern und 
Officieren königliche Gnadengeſchenke. Ohne 
uns jedoch weiter nach Belegen umzuſehen, 
wird es genügen, wenn wir dieſe Bezieh— 
ungen von Urſache und Wirkung in Eu— 
ropa von den älteſten Zeiten an bis zu 


uns herab verfolgen. Von den alten Ger- 
manen berichtet uns Tacitus: 
Häuptling muß ſeine Freigebigkeit beweiſen 
und ſeine Gefolgſchaft erwartet dies. Das 
eine Mal verlangt Einer dieſes Kriegsroß, 
das andere Mal jenen ſiegreichen, vom 
Blute des Feindes bedeckten Speer. Der 
Tiſch des Fürſten, ſo ſchmucklos er auch 
ſei, muß ſtets reichlich gedeckt ſein; dies iſt 


der einzige Sold Derer, die ihm folgen“. 
Mit anderen Worten: eine Alles umfaſſende 


Obergewalt bedingte als ihre einfache Folge 
Gnadengeſchenke für die von ihr Abhängi— 
gen. Die Zeit des Mittelalters charakte— 
riſirte ſich durch eine etwas modificirte 
Form deſſelben Syſtems. Im dreizehnten 
Jahrhundert — „damit die Prinzen von 
Geblüt, das ganze königliche Haus, die 
hohen Beamten der Krone und Alle .. .. 
vom Haushalt des Königs mit einer ge— 
wiſſen Auszeichnung auftreten könnten, gaben 
ihnen die Könige Kleider, entſprechend dem 
Range, den ſie einnahmen, und für die 
Jahreszeit geeignet, zu welcher dieſe feier— 
lichen Hoflager abgehalten wurden. Dieſe 
Kleider wurden Livreen („liveries“) ge— 
nannt, weil fie geliefert („delivered“) 
wurden“, als des Königs freie Geſchenke: 
eine Aeußerung, die deutlich beweiſt, wie 
die Entgegennahme ſolcher Geſchenke in der 
That Unterordnung bezeichnete. Bis ins 
fünfzehnte Jahrhundert pflegte der Herzog 
von Burgund an einem Feſttage den Rittern 
und Edeln ſeines Hauſes „Geſchenke von 
Kleinodien und reiche Gaben zu geben .. .. 
nach der Sitte der damaligen Zeit“. Wahr- 
ſcheinlich bildeten ſolche Geſchenke nebſt dem 
täglichen Unterhalt, der Wohnung und den 
Dienſtkleidungen für ſich und ihre Diener 
die einzige Entſchädigung für ihre Thätig— 
keit. Es braucht kaum hinzugefügt zu wer— 


den, daß auf derſelben Stufe des Fortſchrit— 


„Der 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 63 


tes in Europa das von Königen, Herzögen 
und Edlen geübte Ausſtreuen von Gaben 
ins Volk gleichfalls eine Begleiterſcheinung 
jener unterthänigen Stellung war, in welcher 
die Entſchädigung, die der Beamte für ſeine 
| Arbeit abgeſehen vom täglichen Unterhalt 
empfing, viel mehr die Geſtalt einer Schenk— 
ung als eines Lohnes hatte. Uebrigens 
haben wir ſelbſt heutigen Tages noch in 
den Trinkgeldern und Weihnachtsgeſchenken 
für die Dienſtboten u. ſ. w. die letzten 
Ueberreſte eines Syſtems beibehalten, nach 
welchem die feſtgeſetzte Entſchädigung durch 
freie Gaben ergänzt wurde — ein Syſtem, 
das ſelbſt wieder die einfache Folge des 
früheren Syſtems war, nach welchem Ge— 
ſchenke überhaupt die einzige Entſchädigung 
bildeten. 

So dürfte es denn hinlänglich klar 
erwieſen ſein, daß ſich aus den von den 
| Unterthanen dargebrachten Geſchenken ſchließ— 
lich die Abgaben, Steuern und Sporteln 
entwickelt haben, während aus den Gaben, 
welche die herrſchenden Perſönlichkeiten ſpen— 
deten, mit der Zeit Löhne und Gehälter 
hervorgingen. 

Mit kurzen Worten ſeien hier noch die 
Geſchenke beſprochen, welche zwiſchen Solchen 
ausgetauſcht werden, die nicht in anerkann— 
ten Beziehungen von hoch und niedrig zu 
einander ſtehen. Die Betrachtung derſelben 
führt uns auf die primitive Form des 
Geſchenkemachens zurück, wie daſſelbe zwi— 
ſchen Fremden oder zwiſchen Gliedern ver— 
ſchiedener Geſellſchaften vorkommt; und 
angeſichts einiger der hierher gehörigen 
Thatſachen erhebt ſich eine Frage von 
großem Intereſſe: ob nicht aus der unter 
ſolchen Umſtänden gemachten Verſöhnungs— 
gabe eine andere wichtige Art ſocialer Hand— 
lungsweiſe hervorgeht? — Der Tauſch— 
handel nämlich wird keineswegs, wie wir an— 


64 


zunehmen geneigt find, überall von ſelbſt 
verſtanden. Cook erzählt, daß es ihm nicht 


gelungen ſei, irgend welchen Austauſch von 
Handelsartikeln mit den Auſtraliern ſeiner 
Zeit zu Stande zu bringen, und fügt hinzu: 
„Sie hatten in der That keine Idee vom 
Handel“. Und andere Aeußerungen laſſen 
vermuthen, daß auf der Stufe, wo der 
Waarenaustauſch beginnt, noch wenig Ver— 


ſtändniß für die Gleichwerthigkeit der ge | 
gebenen und empfangenen Dinge vorhanden 


iſt. Von den Oſtjaken, welche nach Bell's 
Bericht „ſie mit einer Fülle von Fiſchen 
und wildem Geflügel verſorgten“, ſagt 
Derſelbe: „Man braucht ihnen nur ein 
wenig Tabak und einen Schluck Branntwein 
zu geben, und ſie verlangen nichts weiter, 
da ſie den Gebrauch des Geldes nicht 
kennen“. Bedenken wir nun, daß anfangs 
gar kein Mittel vorhanden iſt, um Werthe 
zu meſſen, und daß die Vorſtellung von 
Gleichheit des Werthes erſt allmälig durch 


Uebung ausgebildet werden muß, ſo erſcheint 


es nicht unmöglich, daß gegenſeitige Ver— 
ſöhnung durch Gaben der Akt war, aus 
welchem ſich Tauſchhandel entwickelte. Die 
Erwartung, daß das empfangene Geſchenk 


von gleichem Werthe ſein werde wie das 


gegebene, ſtellt ſich dann erſt allmälig feſt 
und die ausgetauſchten Artikel verlieren zu 
gleicher Zeit den Charakter von Geſchenken. 
Den innigen Zuſammenhang dieſer beiden 
Formen kann man in der That ſchon aus 
den im Beginn dieſes Capitels angeführten 
allbekannten Beiſpielen von den Geſchenken 


europäiſcher Reiſender an eingeborene Häupt- | 


linge erkennen; ſo auch wenn Mungo 
Park ſchreibt: „Ich beſchenkte Manſa 
Kuſſan (den Häuptling von Julifunda) 
mit etwas Amber, Korallen und Scharlach, 
womit er vollkommen zufriedengeſtellt zu ſein 
ſchien, und er ſandte einen jungen Ochſen als 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Gegengeſchenk“. Solche Vorkommniſſe zeigen 
uns ſowohl die urſprüngliche Bedeutung 
des Einführungsgeſchenkes als Verſöhnungs— 
gabe, wie die Idee, daß das Erwiederungs— 
geſchenk annähernd denſelben Werth haben 
müſſe, was bereits eine Art formloſen 
Tauſchhandels iſt. 

Laſſen wir jedoch dieſe Speculation bei 
Seite, ſo iſt hier namentlich auf die Art 
und Weiſe aufmerkſam zu machen, wie 
das Verſöhnungsgeſchenk zu einem ſocialen 
Gebrauch wird. Wie jede andere Art von 
Ceremonien, welche ja alle von dem 
Streben ausgehen, den guten Willen irgend 
eines gefürchteten Weſens, eines ſichtbaren 
oder unſichtbaren, zu erwerben, ſo durch— 
läuft auch das Geſchenkemachen eine ganze 
Reihe von Stadien, bis es zu einem 
gegenſeitigen Höflichkeitsakt zwiſchen Solchen 
wird, die, ohne daß thatſächlich Einer dem 
Andern untergeordnet wäre, ſich doch zu 
gefallen ſuchen, indem ſie Unterordnung 
vorgeben. Daß ſelbſt neben der urſprüng— 
lichen Form deſſelben, die alſo Unterthanen— 
treue einem Häuptling oder König gegen— 
über ausdrückt, auch diejenige Form Ver— 
breitung finden kann, in welcher ſie nur 
ein Mittel darſtellt, um ſich im Allgemeinen 
die Freundſchaft mächtiger Perſonen zu 
ſichern, ſehen wir im alten Peru, wo, wie 
bereits bemerkt wurde, „Niemand ſich Ata— 
huallpa näherte, ohne zum Zeichen ſeiner 
Unterwürfigkeit ein Geſchenk mitzubringen“ 
und wo auch „die Indianer ſich 
nie einfallen ließen, vor einen höher Ge— 
ſtellten zu treten, ohne ein Geſchenk zu 
bringen“. In Yucatan ſodann erſtreckte 
ſich der Gebrauch auch auf Gleichgeſtellte. 
„Bei ihren Beſuchen führen die Indianer 
ſtets Geſchenke mit ſich, um dieſelben je 


„ Er vr 


nach ihrer Stellung wegzugeben; die Be— 
ſuchten antworteten mit einer andern Gabe.“ 


In Japan beſonders, wo jo ftreng auf 
Ceremonien gehalten wird, laſſen ſich dieſe 
Stadien der Umbildung deutlich erkennen: 
dort empfängt der Mikado periodiſch ſich 
wiederholende Geſchenke als Ausdruck der 
Loyalität; dort begegnen wir der von Mit- 
ford erwähnten Thatſache, daß „das Be— 


von demſelben Autor erwähnten Thatſache, 
daß es „zur guten Sitte gehört, bei Ge— 
legenheit des erſten Beſuches in einem 
Hauſe ein Geſchenk für den Eigenthümer 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


65 


ſaß in der Eingangshalle ſeines Hauſes; 
ſie gingen an ihm vorüber und ein jeder 
Bürger, indem er ſeine Gabe in der Hand 
hielt, legte dieſelbe beim Vorübergehen zu 
den Füßen dieſes irdiſchen Gottes nieder. 
Dieſe Geſchenke beſtanden in Silbermünzen, 


und der Herrſcher gab dann eine ihren 
ſchenken der Höhern durch die Niedrigeren 
eine allgemeine Sitte iſt“, und der ferneren 


deſſelben mitzunehmen, welcher dann bei 


der Erwiederung des Beſuches Etwas von 
gleichem Werthe übergiebt“. 
Völkern ſehen wir dieſe gegenſeitige Ver— 
ſöhnung zwiſchen Gleichgeſtellten andere 
Formen annehmen. Markham berichtet 
in ſeiner Schilderung der Himalayavölker, 
daß das Austauſchen der Mützen „für einen 
ebenſo unzweideutigen Beweis der Freund— 
ſchaft in den Bergen gilt, als wenn im 
flachen Lande zwei Häuptlinge ihre Turbane 
austauſchen.“ Und Morgan ſagt, indem 
er ſich dabei hauptſächlich auf die Irokeſen 
bezieht: „Die indianiſchen Völker pflegten, 
nachdem ſie einen Vertrag abgeſchloſſen, 
ſtets ihre Gürtel mit einander auszutauſchen, 
welche dann nicht allein als Beſtätigung 
des Vertrags, ſondern auch als Andenken 
an denſelben galten“. 

Wie das Geſchenkemachen ſchließlich zur 
allgemeinen Sitte wird, in Folge der Furcht 
vor Gleichgeſtellten, die ſich feindlich zeigen 
möchten, wenn ſie übergangen werden, während 
Andere durch Geſchenke begütigt wurden, 
können wir ſchon aus der europäiſchen Ge— 
ſchichte erſehen. So „gab und empfing in 
Rom alle Welt Neujahrsgeſchenke“. Die 
Clienten gaben ſolche ihren Patronen; alle 


Römer gaben ſie dem Auguſtus. „Er 


Bei anderen 


Geſchenken gleiche oder ſogar eine größere 
Summe zurück.“ Wegen ihres Zuſammen— 
hangs mit heidniſchen Einrichtungen wurde 
dieſe Sitte, welche ſich in den chriſtlichen 
Zeiten forterhielt, von der Kirche vielfach 
verdammt. Schon im Jahre 578 verbot 
das Concil von Auxerre Neujahrsgeſchenke, 
welche es mit ſehr ſtarken Worten bezeich— 
nete. So ſagt Ives von Chartres: „Es 


giebt Leute, welche teufliſche Neujahrsgaben 


von Anderen annehmen und ſelbſt ſolche 
verſchenken.“ Im zwölften Jahrhundert 
predigte Maurice, Biſchof von Paris, 
gegen die böſen Leute, welche „ihren Glau— 
ben in Geſchenke ſetzten und ſagten, daß 
Keiner während des kommenden Jahres 
reich bleiben würde, der nicht am Neu— 
jahrstag ein Geſchenk bekommen hätte“. 
Trotz aller dieſer kirchlichen Interdikte 
erhielt ſich jedoch dieſe Sitte durch das 
ganze Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit 
fort, wo denn die Prieſter ſelber ſo gut 
wie alle Andern an dieſem Gebrauch der 
gegenſeitigen Verſöhnung Theil nehmen. 
Außerdem haben ſich gleichzeitig noch andere 
ähnliche periodiſch wiederkehrende Ceremo— 
nien entwickelt; ſo in Frankreich das gegen— 
ſeitige Beſchenken mit Oſtereiern. Und 
auch die Schenkungen dieſer Art haben 
ähnliche Umwandelungen erlitten, wie wir 
ſie bei den bisherigen Arten nachweiſen 
konnten: indem ſie in mäßigem Umfang 
und freiwillig anfingen, ſind die Geſchenke 
mit der Zeit überreichlich und in gewiſſer 
Hinſicht pflichtig geworden. 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


66 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Stellen wir uns nun noch die Frage, 
in welcher Beziehung das Geſchenkemachen 
zu den verſchiedenen geſellſchaftlichen Typen 
ſteht, ſo iſt in erſter Linie hervorzuheben, 
daß dieſe Erſcheinungen in den einfachen 
Geſellſchaften, wo eine Häuptlingswürde 


noch gar nicht exiſtirt oder noch ſchwankend 
iſt, kaum vorkommt. Bei herumwandernden 


führerloſen Stämmen kann ſie ſich offenbar 
gar nicht feſtſetzen und zu einem Syſtem 
entwickeln, ebenſo wenig aber auch bei ein— 
fachen ſeßhaften Stämmen, deren Häuptlinge 
nur den Namen und keine Macht beſitzen. 
Wir finden ſie dagegen bedeutend ausgebil— 
det in zuſammengeſetzten und doppelt zuſam— 
mengeſetzten Geſellſchaften, ſo in ſämmtlichen 
halbeiviliſirten Staaten von Afrika, in denen 
von Polyneſien, in denen des alten Amerika 
u. ſ. w., wo die dauernde Einrichtung von 
Häuptlingswürden erſten und zweiten Ranges 
ſowohl die Veranlaſſung als das Motiv 
dazu bietet. Und indem wir dieſe That— 
ſache erkennen, wird uns auch die tiefere 
Wahrheit verſtändlich, daß das Geſchenke— 
machen nur in indirekter Beziehung dazu 
ſteht, ob der ſociale Typus einfach oder 
zuſammengeſetzt iſt, dagegen direkt mit 
ſeiner mehr oder weniger vollkommen krie— 
geriſchen Organiſation zuſammenhängt. Denn 
das Streben nach Verſöhnung muß um 
ſo größer ſein, je mehr die zu verſöhnende 
Perſon gefürchtet wird; daher iſt es vor 
Allem der ſiegreiche Häuptling und noch 
mehr der König, der ſich durch Waffen— 
gewalt zum Herrſcher über zahlreiche 
Häuptlinge emporgeſchwungen hat, deſſen 
Freundſchaft man ſich auf's eifrigſte durch 
Handlungen zu verſichern ſucht, welche 
gleichzeitig ſeine Habgier befriedigen und 
Unterwerfung unter ihn ausdrücken. Daraus 
erklärt ſich nun die Thatſache, daß die 
Ceremonie der Beſchenkung des Herrſchers 


vorzugsweiſe in den Geſellſchaften aus— 
gebildet iſt, welche entweder wirklich kriege— 
riſchen Charakters ſind oder in denen 
dauernde kriegeriſche Verhältniſſe während 
vergangener Zeiten die deſpotiſche Regier— 
ungsform zur Entwickelung gebracht haben, 
welche dem Geſchenkemachen ſo günſtig iſt. 
Daher ferner die Thatſache, daß im ganzen 
Orient, wo dieſer ſociale Typus durch— 
gängig herrſcht, die Beſchenkung der im 
Beſitz der Macht Befindlichen überall 
zwingendes Gebot iſt. Daher endlich die 
Thatſache, daß auch in Europa in früheren 
Jahrhunderten, ſo lange die ſocialen Thä— 
tigkeiten hauptſächlich kriegeriſch waren und 
der ganze Aufbau der Geſellſchaft dem ent— 
ſprach, unterthänige Beſchenkungen der 
Könige von Seiten Einzelner wie von 
Seiten ganzer Körperſchaften allgemeine 
Pflicht waren, während die Freigebigkeit 
der Höhern gegen ihre Untergebenen, da ſie 
gleichfalls eine Folge dieſes Zuſtandes der 
vollſtändigen Abhängigkeit iſt, welche den 
kriegeriſchen Typus begleitet, nicht minder 
zur guten Sitte gehörte. 

Der gleiche Zuſammenhang beſteht aber 
auch hinſichtlich der Sitte, den Gottheiten 
Geſchenke zu machen. In den untergegan— 
genen kriegeriſchen Staaten der neuen Welt 
hörten die Opfer für die Götter gar nicht 
auf und ihre Schreine bereicherten ſich 
immer mehr durch die darin niedergelegten 
Koſtbarkeiten. Papyrusrollen, Wandgemälde 
und Sculpturen in Menge beweiſen uns, 
daß auch bei den alten Nationen des Oſtens, 
deren Geſammtthätigkeit und geſellſchaftlicher 
Aufbau ſo ſehr kriegeriſch waren, die Dar— 
bringungen vor den Gottheiten ſehr reich— 
lich und häufig ſtattfanden und daß große 
Summen darauf verwendet wurden, die 
Orte glänzend auszuſtatten, wo jene ver— 
ehrt wurden. Ebenſo waren auch in ganz 


2 


Europa während der früheren kriegeriſchen 
Zeiten die Geſchenke für Gott und die 
Kirche viel allgemeiner und mannigfaltiger, 
als ſie es in den ſpäteren induſtriellen 
Zeiten geworden ſind. 

Daſſelbe gilt ſogar von der Sitte, ſich 
zum Zwecke geſellſchaftlicher Begütigung 
Geſchenke zu machen. Wir erkennen dies 
aus einer Vergleichung derjenigen europäiſchen 
Nationen, welche, im Uebrigen hinſichtlich 
ihrer Entwickelungsſtufe ziemlich auf der— 
ſelben Höhe ſtehend, doch in Betreff des 
Grades, bis zu welchem der kriegeriſche 
Typus vom induſtriellen zurückgedrängt 
worden iſt, ſich erheblich von einander 
unterſcheiden. In Deutſchland, wo zu be— 
ſtimmten Zeiten wiederkehrende Beſchenkun— 
gen zwiſchen Verwandten und Freunden 
zu den allgemeinen Verpflichtungen gehören, 
und in Frankreich, wo die hieraus erwach— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


* 


ſende Laſt ſo empfindlich wird, daß manche 
Leute nicht ſelten zu Weihnachten und Oſtern 
ihren Wohnort wechſeln, um derſelben zu 
entgehen, lebt dieſer geſellſchaftliche Brauch 
in viel größerer Stärke fort als in Eng— 
land mit ſeiner weniger kriegeriſchen Orga— 
niſation. 

Auch von dieſer Art des Ceremoniells 
können wir alſo wie von den bereits be— 
ſprochenen Arten ſagen, daß ſie mit der 
Befeſtigung jener ſtaatlichen Führerſchaft, 
welche durch kriegeriſche Thätigkeit hervor— 
gerufen wird, zuerſt beſtimmte Geſtalt ge— 
winnt, und daß ſie ſich mit der Ausbild— 
ung des kriegeriſchen Typus des geſellſchaft— 
lichen Aufbaues weiter entwickelt, um dann 
mit der Ausbildung des induſtriellen Typus 
allmälig wieder an Umfang und Bedeut— 
ung abzunehmen. 


(Fortſetzung folgt.) 


Die Ablölung der Menlchenopfer. 


Von 


Ernſt Keane. 


n einer der letzten ſeiner höchſt 
geiſtvollen Unterſuchungen über 
den Urſprung der Ceremonien 
und Gebräuche hat Herbert 
j Spencer hinſichtlich der Dar- 

bringung abgeſchnittener Körpertheile auf 
Gräbern und Altären die Meinung aus— 
gedrückt, daß dadurch wahrſcheinlich die 
Unterwerfung und Hingebung der Opfern— 
den ſymboliſirt werden ſollte, ſofern ent— 
ſprechende Verſtümmelungen an Sclaven 
und im Kriege bezwungenen Perſonen all— 
gemein vorgenommen wurden.) Für eine 
große Anzahl der hier in Betracht kom— 
menden Fälle dürfte dieſe Auffaſſung wohl 
die richtige ſein, aber andererſeits gehören 
mehrere der dort von Spencer angeführten 
Beiſpiele unzweifelhaft einer weſentlich ver— 
ſchiedenen Kategorie an, nämlich einer Ab— 
löſung der althergebrachten Menſchenopfer, 
durch Darbringung einzelner Körpertheile. 
Edward Tylor hat dieſen auf dem 
ganzen Erdenrund vor ſich gegangenen Ab— 
löſungsproceß mit der ihm eigenen Umſicht 


und Quellenkenntniß behandelt, *) aber 


) Kosmos, Bd. II. S. 540 flgde. 
%) Anfänge der Kultur, Bd. II. S. 402 
lade. (Deutſche Ausgabe, Leipzig 1873.) 


gleichwohl einige beſonders wichtige Punkte 
überſehen, weshalb es mir angemeſſen er— 
ſcheint, den Gegenſtand noch einmal abge— 
rundeter und mehr im Zuſammenhange dar— 
zuſtellen. Zum klareren Verſtändniß dieſes 
merkwürdigen Ablöſungsvorganges wird es 
zweckmäßig ſein, einige Worte über die 
Entſtehung der Opfergebräuche vorauszu— 
chicken. 

Zunächſt muß ich hier bemerken, daß 
ich ſtets die von Lubbock, Tylor, 
Spencer, ſowie früher ſchon von ein— 
zelnen deutſchen Forſchern vertretene Anſicht 
getheilt habe, daß der Urſprung der reli— 
giöſen Syſteme vorzüglich im Traum— 
leben des Urmenſchen zu ſuchen ſei. Da 
ſich aber eine in der pſychologiſchen Analyſe 
der Ur-Ideen des Menſchengeſchlechts ſo 
hervorragende Autorität, wie Otto Cas-— 
pari, dieſer Auffaſſung an verſchiedenen 
Stellen ſeines bahnbrechenden Werkes) ab— 
geneigt gezeigt hat, ſo ſehe ich mich veran— 
laßt, dieſe bereits früher von mir ausge— 
führte Anſicht mit einigen Worten zu 
vertheidigen. Auf den erſten Augenblick 
mag es allerdings ſonderbar erſcheinen, ein 


) Urgeſchichte der Menſchheit. 2. Aufl. 
(Leipzig 1877) Bd. I. S. 349 flgde. 


| 1 


ſeit Jahrtauſenden waches Leben, trotz der 
offenen Sinne noch immer von den Träu— 
men ſeiner Kindheit umſchattet zu nennen, 
aber wenn man ſich wirklich in die Lage 
des träumenden Urmenſchen vertieft, wird 
man ſich ſchwerlich der Einſicht verſchließen 
können, daß die Grundpfeiler aller Reli— 
gionen, der Glaube an körperloſe Exiſten— 
zen, an Geiſter, Dämonen und Götter, 
an den Verkehr mit denſelben und an die 
Unſterblichkeit der menſchlichen Seele, gar 
keinen andern Urſprung haben, als die 
Träume des Urmenſchen und die Reflexion 
über deren Inhalt. 

Der Einfluß der Träume auf das 
wache Leben bietet einen noch lange nicht 
erſchöpften Forſchungsgegenſtand dar. Die 
gebildete Welt legt nicht nur keinen Werth 
auf die Träume, ſondern ſie geht ſo weit, 
zu behaupten, daß gebildete Menſchen über— 
haupt nicht träumen; letztere vergeſſen nämlich 
ihre Träume, eben weil ſie dieſelben keiner 
Betrachtung würdig erachten. Wenn man 
nun in die weniger reflektirenden Schichten 
unſeres Bürgerthums hinabſteigt, ſo findet 
man die Familie alle Morgen am Früh— 


ſtückstiſch ihre Träume beſprechend; alle. 


Mitglieder derſelben haben geträumt. Noch 
eine Stufe niedriger, und man kann fort— 


während der Wendung begegnen: „Heute 


Nacht hat mich mein verſtorbener Mann, 
Sohn, Vater u. ſ. w. beſucht“, und der 
Glaube an die überirdiſche, prophetiſche, 
eingebungsvolle Natur der Träume iſt dort 
feſt begründet. Sollen wir in dieſer Be— 
ziehung erwarten, daß die noch eine ganze 
Reihe von Stufen tiefer ſtehenden Urmen- 
ſchen klüger geweſen ſeien, als alle dieſe Pfahl— 


bürger? Im Gegentheil, ſie erlagen der 
Uebermacht des Traumes vollſtändig, und 
wir find es, welche die Folgen jenes Tri- 


umphes des Phantaſielebens über den 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 


| 


=, 


69 


wachen Zuſtand noch immer mit uns her— 
umtragen. Erſt da, wo beim Thiere die 
Fähigkeit der Reflexion über den Traum 
ganz aufhört, erliſcht auch die Macht des— 
ſelben; der träumende Hund, der einem 
Haſen im Schlafe nachjagte, kommt auch 
im Erwachen wohl nicht zur Erkenntniß, 
daß die Jagd nicht in dieſer Welt ſtatt— 
gefunden hat; er unterſcheidet nicht mehr 
Traum und Wirklichkeit. 

Anders bei dem Urmenſchen. Der ver— 
ſtorbene Vater, Gatte, Sohn, Häuptling 
tritt Nachts munter wie je an das Lager 
der Seinigen, ſpricht zu ihnen und zer— 
fließt, eine Weile noch dem offenen Auge 
des Erwachten ſichtbar, langſam in Luft. 
Was bleibt dem Naturkinde, welches keine 
Ahnung von der natürlichen Entſtehung 
ſolcher Vorgänge beſitzt, übrig, als zu glau— 
ben, die Verſtorbenen ſeien nicht todt, ſon— 
dern lebten in einem veränderten Zuſtande 
weiter; und vielleicht ſollten die ſchwer— 
gethürmten Steingräber einiger Stämme 
mit dazu dienen, die Verſtorbenen von ihren 
häufigen Beſuchen abzuhalten, während 
zahlreiche Völkerſchaften die Wohnungen 
den Verſtorbenen gänzlich überlaſſen, weil 
ſie deren beſtändige Nähe fürchten. Cas— 
pari fagt*): Man könne von keinem Geiſte 
träumen, wenn nicht dieſer Begriff vorher 
auf andere Weiſe ſich gebildet habe. In 
Wahrheit träumt man auch gewöhnlich nicht 
von geiſterhaften Weſen, ſondern meiſt nur 
von Exiſtenzen ſeiner Erfahrung, aber eben 
aus der ſpätern Reflexion über den 
Traum, aus der Disharmonie, in 
welcher deſſen Inhalt mit den Thatſachen 
des wachen Lebens ſteht, geht der Begriff 
einer geiſterhaften Exiſtenz der Traum— 
gebilde mit Nothwendigkeit hervor. 
Lubbock hat eine Reihe von Ausſprüchen 

) A. a. O. I. S. 377. 


70 


tiefſtehender Völker geſammelt, die ſich alle 
hinſichtlich ihres Geiſterglaubens direkt auf 
ihre nächtlichen Erfahrungen beriefen. So 
erklärten die Veddahs auf Ceylon, daß ſie 
an Geiſter glaubten, weil ſie ihre ent— 
ſchlafenen Angehörigen im Traume ſähen, 
und die Manganjas in Südafrika begrün 
deten ihren Glauben an ein zukünftiges 
Leben ausdrücklich auf dieſelbe Thatſache.“) 

Darauf folgt die weitere Erfahrung, 
daß der Menſch im Traume entfernte Ge— 
genden ſieht, Reiſen, Jagden, Kämpfe und 
andere Abenteuer beſteht, während ihn 
ſeine Angehörigen verſichern, daß inzwiſchen 
ſein Körper ruhig an derſelben Stelle 
liegen geblieben ſei, wo er ihn hingelegt 
hatte. Der Naturmenſch iſt nicht gelehrt 
genug, um zu erkennen, daß ſeine Gehirn— 
faſern ſich einen Scherz mit ihm erlaubt 
haben, ſondern er folgert mit unumſtöß— 
licher Gewißheit, daß er ſelbſt ebenfalls 
ein derartiges unſichtbar davongehendes und 
umherſchwärmendes Weſen beſitze, wie das— 
jenige des verſtorbenen Freundes und Ver— 
wandten, kurz er findet ſeine innere Er— 
fahrung mit der vermeintlichen äußeren 
Erſcheinung anderer gleichartiger Exiſtenzen 
im ſchönſten Einklang, ſo daß der Spiri— 
tualismus ſich als ein ganz unausweichliches 
Produkt der Traumerfahrungen darſtellt. 
Viele Naturvölker glauben ihr körperloſes 
Doppelweſen beſonders im Schatten oder 
Spiegelbilde zu erkennen, woher ſich wahr— 
ſcheinlich die über den ganzen Erdball ver— 
breitete Angſt derſelben, ſich malen und 
ihr Spiegelbild hinwegnehmen zu laſſen, 
und ebenſo die Sorge einzelner Natur— 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 


der 
Daſſelbe berichtet Crank von den Ein— 


völker herſchreibt, daß kranke Leute, bei denen 
jenes Doppelweſen beſonders geneigt ſcheint, 
von dem Körper zu entfliehen, ihren 
) Lubbock, Entſtehung der Civiliſation. 
Deutſche Ausgabe. (Jena 1875.) S. 178 flgde. 


Schatten hübſch eng bei ſich behalten. 
Caspari ſcheint aus pſychologiſchen Grün— 
den daran zu zweifeln, daß das ungebildete 
Naturkind einen ſolchen fubtilen Begriff, 
wie den eines geiſtigen Weſens, formen 
könnte, allein mir ſcheint, daß bei dieſem 
Vorgange eine wirkliche Abſtraktion kaum 
vorhanden iſt, und daß es ſich im Gegen— 
theil bei der urſprünglichen Geiſtertheorie 
nur um eine allerroheſte Deutung des 
wirklich Erlebten handelt. So iſt denn 
auch jene Anſchauung von der Möglichkeit 
einer Entfernung des Geiſtes vom Körper 
im Traume bei den meiſten Naturvölkern 
verbreitet und ſie malt ſich unter Andern 
in der Vorſchrift deutſcher Sagen, den 
Schlafenden ja nicht umzukehren, damit die 
in Thiergeſtalt (Maus, Vogel, Schlange) 
entſchlüpfende Seele leicht den Rückweg 
finden könne. 

Auf dieſe Ideen-Verknüpfungen gründet 
ſich nun naturgemäß die niedere Religions— 
form des Manen-Dienſtes, die ſehr 
weit verbreitet iſt, und früher noch viel 
allgemeiner verbreitet war. In dieſer Re— 
ligionsform gelten die Träume als vor— 
nehmſte Offenbarungen des Ueberſinnlichen, 
und die Spuren dieſer Ueberſchätzung der 
nächtlichen Gehirnthätigkeit finden wir ja 
noch reichlich in der Bibel und in den In— 
cubationsträumen der claſſiſchen Völker. 
„Bei den Yorubans in Weſtafrika,“ er— 
zählt Burton, „werden die Träume für 
Offenbarungen, welche ihnen die Manen 
Hingeſchiedenen geben, angeſehen.“ 


gebornen Madagascars, und von den Natur— 


völkern Nord- und Südamerikas, ſowie 
Nordeuropas und -Aſiens iſt es bekannt, 
daß ſie ſich narkotiſcher Mittel bedienen, 
um den Traumverkehr mit ihren Manen 
und Göttern zu befördern. 


Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer. 


Eine unmittelbar ſich aufdrängende Frage 
war, wie und wovon dieſe Manen leben? 
Natürlich von Speiſe und Trank, lautete 
die Antwort, und wenn man nun auch an— 
nehmen konnte, daß der Verſtorbene, wenn 
man ihm ſeine Waffen ließ, ſich ſpäter auf 
der Jagd ſelbſt verſorgen könnte, ſo ſchien 
es doch gerathen, ihm, ehe er ſich in ſeinen 
neuen Zuſtand gefunden, Speiſe und Trank 
zum Grabe zu bringen. Dieſe Gewohn— 
heit, die bei manchen Völkern lange fort— 
geſetzt wird, ſcheint die primitivfte 
Form des religiöſen Opfers zu 
ſein, wie ſie die älteſte und verbreitetſte iſt. 
Daß die Opfer nicht angerührt werden, 
kann das Naturkind nicht beirren, denn alle 
dieſe Dinge haben in ſeiner Phantaſie etwas 
von ihnen ausgehendes Geiſtiges, von den 
am Grabe geſchlachteten Thieren ſteigt eine 
Seele empor, um ſich im Jenſeits jagen 
und verzehren zu laſſen u. ſ. w. In 
einem ebenſo witzigen als unverſchämten 
franzöſiſchen Buche des ſiebenzehnten Jahr— 
hunderts, in dem 51. Kapitel von Ver— 
ville's „Moyen de parvenir“ wird ein 
Bild von den Schmäuſen der abgeſchiedenen 
Geiſter entworfen, welches in vielen Punkten 
den Vorſtellungen der Speiſe und Trank opfern— 
den Kindheitsvölker entſprechen mag. „Erfah— 
ret denn,“ erzählt einer dieſer muntern Geiſter, 
„wie wir Abgeſchiedenen tafeln. Unſer guter 
Wein iſt gar nichts anderes, als der reine 
Geiſt des Weines, der ſelbſt den Quint— 
eſſenz-Bereitern entſchlüpft, unſere Braten 
werden aus den Seelen der Thiere zube— 
reitet. Ihr, die ihr materieller und kör— 


perlicher ſeid, eßt die Körper derſelben, wir 
dagegen die Seelen, welche wir mit dem 
Duft eurer Saucen, mit den feinſten im 
Feuer geläuterten Theilen der Gewürze, 
des Oeles und Salzes zubereiten.“ 

Vor Allem aber hatte der Verſtorbene 


a 


Anſpruch auf den Fortbefig feines Pferdes, 
ſeiner Sclaven und Sclavinnen und ebenſo 
ſeines Weibes im Jenſeits: dieſelben wur— 
den mithin ohne Gnade auf ſeinem Grabe 
geopfert, mit verbrannt, oder wohl gar 
lebendig mit ihm verſcharrt. Tylor hat 
die Beweiſe von der ungeheuren Verbreit— 
ung dieſes ſchrecklichen und doch ſo un— 
mittelbar folgerichtigen Gebrauches geſam— 
melt“) und ich will nur einige der bezeich— 
nendſten Beiſpiele daraus hervorheben. Ein 
Bericht von den Leichenfeierlichkeiten ange— 
ſehener Männer bei den Kajanen auf Bor— 
neo lautet folgendermaßen: „Sclaven wer— 
den getödtet, damit ſie dem Verſtorbenen 
folgen und ihn bedienen. Ehe ſie getödtet 
werden, ſchärfen ihre Angehörigen ihnen 
ein, ſich große Mühe um ihren Herrn zu 
geben, wenn ſie zu ihm kommen, ihn zu 
behüten und gehörig zu frottiren, wenn er 
unwohl ſei, immer in ſeiner Nähe zu ſein 
und allen ſeinen Befehlen zu gehorchen. 
Dann nehmen die weiblichen Verwandten 
des Verſtorbenen einen Speer und ver— 
wunden die Opfer leiſe, worauf die Män— 
ner ſie zu Tode ſpeeren.“ Auf den Fidſchi— 
Inſeln beſtand bis vor Kurzem der Ge— 
brauch, bei der Beſtattung angeſehener 
Perſonen ſeine Frauen, Freunde und Scla— 
ven feierlich zu ermorden und damit ſein 
Grab auszuſchmücken. Die Leichen der 
Frauen wurden wie zu einem Feſte geſalbt, 
mit neuen Franſengürteln bekleidet, der Kopf 
geputzt und verziert, Geſicht und Buſen mit 
Scharlach und Gelbwurz gepudert, an ſeine 
Seite gelegt. Bekanntlich iſt in Indien 
die Wittwenverbrennung, und in China der 
Selbſtmord der Wittwen noch heute eine 
ſehr lobenswerthe Handlung in den Augen 
der Altgläubigen. Auf niederer Culturſtufe 
ſtehende Völker, bei denen das Leben beſtän— 

5) A. a. O. I. S. 451 flgde. 


2 


12 Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 


dig in die Schanze geſchlagen und nicht 
beſonders hoch geachtet wird, findet man 
dieſes Verfahren auch ganz natürlich. Wie 
Caron erzählt, war es noch im ſiebenzehnten 
Jahrhundert in Japan allgemein üblich, 
daß beim Tode eines Adligen ſich zehn bis 
dreißig ſeiner Diener durch das ſogenannte 
Harakari oder Bauchaufſchlitzen freiwillig 
den Tod gaben, wozu ſie ſich allerdings 
bei Lebzeiten durch einen feierlichen Vertrag 
bei einer gemeinſchaftlichen Schmauſerei ver— 
pflichtet hatten, um ihrem Herrn im Jen— 
ſeits weiter zu dienen. Dieſe armen Leute 
waren, wenn der Herr ſich gut gegen ſie 
bewieſen hatte, froh, in der andern Welt 
ein ſo gutes Unterkommen zu finden. 

Wir finden dieſelbe Sitte auch in Alt— 
europa bei den Griechen, Galliern, Germa— 
nen und Slaven. Hygin erzählt, wie 
die Gattin des Proteſilaus den Scheiter— 
haufen deſſelben mit beſteigt, und ſo be— 
ſteigt Brunhild in der älteren Sage mit 
ihren Dienerinnen den Scheiterhaufen Si— 
gurds, und Baldr wird mit Diener, Pferd 
und Sattel verbrannt. Cäſar erzählt, 
daß die Gallier bei ihren Leichenfeierlich— 
keiten alle Koſtbarkeiten, Lieblingsſclaven 
und Hörige, Hausthiere u. ſ. w. mit ver— 
brannt hätten, und der heilige Bonifacius 
führt als Beiſpiel der ehelichen Treue bei 


den Slaven an, daß deren Frauen ihnen 


auf den Scheiterhaufen ſolgten. Dieſelben 
Gebräuche fand man noch in den jüngſten 
Zeiten durch ganz Amerika, Afrika und 
Aſien. 
Glaube herrſchend, daß alle Perſonen, die 


ſie im Leben beſiegt und getödtet haben, 


ihnen im Jenſeits dienen müſſen; darum 
der Drang ſo vieler kriegeriſcher Völker, 
ſo viele Menſchen als möglich zu tödten, 
und die Opferung der Kriegsgefangenen 


Bei kriegeriſchen Völkern iſt der 


| 


Aber man kann ihnen auch noch Diener nach— 
ſchicken, und bei den Indianern Nordame— 
rikas galt es als Freundſchaftsdienſt, einen 
Scalp auf das Grab des Verſtorbenen zu 
pflanzen. Bei den Dayaks werden förm— 
liche Kopfjagden zu dem Zwecke unter— 
nommen, einem verſtorbenen Verwandten 
oder Freunde Diener nachzuſenden. Bei 
den Begräbniſſen mongoliſcher Fürſten galt 
die Sitte, alle Perſonen, die dem Leichen— 
zuge zufällig begegneten, den übrigen 
Menſchenopfern zuzugeſellen. 

Am längſten erhielten ſich derartige 
Menſchenopfer natürlich bei den Begräb— 
niſſen von Häuptlingen und Fürſten und 
ſteigerten ſich hier nicht ſelten zu großen 
Maſſenexecutionen. Wir wundern uns nicht, 
wenn der König von Dahome in das 
Todtenland mit einem Gefolge zahlreicher 
Frauen, Eunuchen, Trommler, Sänger und 
Soldaten einzieht, denn in ſeinem Lande 
iſt ja das Morden die Hauptſache, aber 
ſelbſt in verhältnißmäßig friedlichen Ländern 
war es nicht viel beſſer. Die Japaner 
erzählen, daß bis zur Zeit des elften Mi— 
kado Suining Tenno bei dem Begräbniſſe 
des Kaiſers oder der Kaiſerin deren ge— 
ſammter Hofſtaat, die männlichen, wie die 
weiblichen Perſonen, rings um das Grab 
bis an den Hals lebendig eingegraben wur— 
den und eine lebendige Schirmhecke bilde— 
ten, bis ſie einem martervollen Tode er— 
lagen. Marco Polo berichtet aus dem 
dreizehnten Jahrhundert, wie ſich die Reiter— 
garde in den Scheiterhaufen des Königs 
von Malabar zu ſtürzen pflegte, um ihn 
im Jenſeits weiter zu beſchirmen. Ganz 
entſprechende Berichte beſitzen wir aus Alt— 
mexico, Peru, Bogota und andern halb— 
civiliſirten Staaten. Bei wilden Völkern geht 
es darum nicht beſſer her. Mit einem ver— 


z. B. auf dem Grabe des Patroclus. ſtorbenen Wados-Häuptling wird ein Sclave 


und eine Sclavin lebendig begraben, jener 
mit einer Sichel in der Hand, um Holz 
zur Feuerung zu ſchneiden, dieſe um ihm 
das Haupt zu halten. Bei den Unyam⸗ 
wezis wird der Häuptling in einer gewölb— 


ten Grube, den Bogen in der Hand, auf 
einen Schemel geſetzt, zu ſeinen Füßen ein | 


Topf voll einheimiſchen Bieres, und mit 
ihm werden drei Sclavinnen lebendig be— 
graben. Der verſtorbene König von Da— 
home empfängt auch ſpäter von ſeinem 
Nachfolger beſtändige Botſchaften über alle 
neueren Regierungshandlungen durch Per- 
ſonen, denen man die oft ſehr unwichtige 
Nachricht einſchärft und ſie dann in der 
freundlichſten Abſicht ermordet. 

Die todten Häuptlinge bildeten den 
Uebergang von den Manen zu den Göttern, 
und viele Forſcher find aus triftigen Grün— 
den der Meinung, daß ſich die Götter— 
verehrung erſt aus dem Manendienſte ent— 
wickelt habe. Jedenfalls iſt der Begriff 
der Dämonen und Gottheiten erſt aus dem 
des unſichtbar fortlebenden Menſchengeiſtes 
entſtanden. Das ſind jedoch entferntere Con— 
ſequenzen der Traumvorſtellungen, die ſchon 
eine höhere Geiſtesthätigkeit vorausſetzen; 
ſie mangeln daher oft, während der Manen— 
dienſt kaum irgendwo gänzlich fehlte. Manche 
Dämonen geben ſich unmittelbar als Traum— 


Quälgeiſter, welche unſerm Alp und dem 
Vampyr, dem Succubus und Incubus, ent- 
ſprechen. Die Sorge aber, die man em— 
pfand, es den Manen an nichts fehlen zu 
laſſen, damit ſie freundlich und hilfreich 
ihre Hinterbliebenen umſchwebten, dieſelbe 
im höhern Grade mit Furcht gemiſchte 
Sorge trieb dazu, den Dämonen und 
Göttern ähnliche Gaben zu widmen, wie 
den Verſtorbenen. Alſo zunächſt Speiſe— 
und Trank-Opfer. An einer anderen 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 73 


Stelle) habe ich ausführlich darzulegen 
geſucht, wie man in der aufwärts ſteigen— 
den Flamme einen Boten und Mittler er— 
kannte, um die dargebotenen Geſchenke an 
Stelle der Ueberirdiſchen in Empfang zu 
nehmen, und den geiſtigen Theil der Ga— 
ben, welcher den Göttern behagt, nach oben 
zu tragen, wie ſich daraus die Verehrung 
des Silik-mulu⸗khi bei den Akkadiern, des 
Agni bei den Indern, des Mithra bei den 
Perſern und der anderen Verſöhner- und 
und Mittlergeſtalten entwickelte. 
Selbſtverſtändlich gingen nun auch die 
Thier- und Menſchenopfer aus dem Todten— 
dienſt in den Götzendienſt über, aber hier 
vollzieht ſich eine eigenthümliche Wandlung. 
Wie man aus naheliegenden Ideen-Ver— 
knüpfungen fehlerfreie Thiere, das erſte 
junge Gemüſe und Obſt, von Allem das 
Beſte für die Götter ausſuchte, ſo wurden 
im Beſondern zur Verſöhnung derjenigen 
Götzen und Dämonen, die man für böſen 
Charakters hielt, an vielen Orten der Welt 
außer Kriegsgefangenen und Sclaven die 
eigenen Kinder, Jünglinge und Jung— 
frauen zu Opfern erwählt. Neben den 
Erſtlingen des Feldes und Viehhofes blutete 
die menſchliche Erſtgeburt auf den Altären. 
Insbeſondere fand dies in den Tempeln 


der Sonnengottheiten ſtatt, die in warmen 
ſchöpfungen kund, ſo die weit verbreiteten 


Ländern oftmals als die ſengenden und 
verwüſtenden Gewalten des Himmels an— 
geſehen werden. Im alten Babylon ſuchte 
der Menſch vor dieſer den Todespfeil ſen— 
denden Strahlengottheit Gnade zu finden, 
indem er ihr das Leben ſeines erſtgebornen 
Kindes für das ſeinige anbot. Ein kleines, 
in der Bibliothek von Niniveh vor wenigen 
Jahren aufgefundenes Ziegelſteinfragment 
beſtätigt die Angabe der Bibel (2. Könige, 
9 Der Spfergott und die Mittler-Idee. 
(Voſſiſche Zeitung 1876, Nr. 176.) 


10 


74 Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer. 


Cap. 17, V. 31), daß man dem Sonnen 
gotte von Sippora die Erſtgeburt geopfert 
hat, es lautet: „Den Sprößling, der aus 
der Menſchheit hervorwächſt, — den Spröß— 
ling hat er für ſein Leben hingegeben, — 
das Haupt des Sprößlings hat er für 
ſein Haupt hingegeben, — die Stirn des 
Sprößlings hat er für ſeine Stirn hin— 


gegeben, — die Bruſt des Sprößlings hat 
er für feine Bruſt hingegeben.“ Es ſcheint, 


daß dieſe Verſöhnung des gefürchteten Son— 
nengottes durch Menſchenopfer ein vorwie— 
gend ſemitiſcher Zug iſt, wenigſtens fehlt 
dieſer grauſame Sonnengott in keiner ſemi⸗ 
tischen Religion. In Sippora hieß er 
Malik, in Amathus Malika, in Canaan 
Melech oder Moloch, in Phönizien und 
Karthago Melkarth, d. h. in allen dieſen 
Sprachen der König (der Götter). Ihm 
opferte der König von Moab vor dem 
Streite ſeinen älteſten Sohn auf der 
Mauer zum Brandopfer, die Phönizier 
Kinder der edelſten Familien, ja es ſcheint, 
daß man bei ſeinem Jahresopfer ausdrück— 
lich ſolche Eltern beraubte, die nur ein ein— 
ziges Kind hatten, damit das Opfer, je 
ſchmerzlicher, deſto größer ſei. Als Helio⸗ 
gabalus dieſen ſemitiſchen Sonnengott nach 
Rom überſiedelte, wurden die edelſten 
Jünglinge zu Opfern für ihn auserſehen. 
Man ſtellte den von den Griechen und 
Römern mit Kronos oder Saturn ver— 
wechſelten Gott als metallne Figur mit in 
gebückter Stellung vorgeſtreckten Händen 
dar, auf welche man die Kinder niederlegte, 
die dann in einen glühend gemachten Schlund 
hinabrollten. Schon der menſchenfreund— 
liche Tyrann Gelon von Syracus nahm 
nach ſeinem Siege über die Karthager 
(480 v. Chr.) in den Friedenstraktat die 
Bedingung auf, daß die Menſchenopfer 
aufhören ſollten, aber noch viel ſpäter be— 


mühten ſich die römiſchen Gewalthaber um 
Abſtellung dieſer barbariſchen Sitte. 

Es bleibt kaum ein Zweifel bei dem 
tieferblickenden Kritiker, daß es dieſelbe 
blutdürſtige Gottheit geweſen iſt, welche die 
Juden bis zu den Zeiten des Moſes unter 
dem Namen El Schaddai, d. h. der Ver— 
wüſter oder Vernichter, angebetet haben, 
und in deſſen ſchrecklichen Dienſt ſie auch 
ſpäter noch oftmals zurückfielen. Sie war 
es, die von Abraham und Moſes das 
Leben der Erſtgeburt verlangte, und der 
Jephtha, wohl in einem Rückfalle, ſeine 
einzige Tochter opferte. Die zahlreichen, 
den Dämonen und Ungeheuern dargebrach— 
ten Jungfrauen-Opfer gehören ebenfalls 
hierher. 

Dieſe grauſamen, offenbar aus dem 
Manendienſt entſprungenen Menſchenopfer 
forderten aber mit der Klärung der Reli— 
gionsſyſteme von ſelbſt zu einer Milderung 
auf, wozu der Mißbrauch der Prieſter bei— 
getragen haben mag, die Kinder angeſehener 
Perſonen, denen ſie feindlich geſinnt waren, 
als der Gottheit angenehmſte Opfer zu be- 
zeichnen. In der Iphigenien-Mythe glau- 
ben wir den poetiſchen Nachklang ſolcher 
prieſterlichen Racheakte zu ſehen. Ueber— 
haupt kann man eine allgemeine Ten— 
denz zur Ablöſung der Opfer 
aller Art bei allen Völkern conſtatiren, 
und bei denjenigen, die eine geſchriebene 
Poeſie beſitzen, kann man dieſe Ablöſung 
in unendlichen Dichtungskreiſen verfolgen. 
So z. B. hörte man bald auf, den Ver⸗ 
ſtorbenen geſchlachtete Thiere und Menſchen 
ins Grab zu werfen und den Göttern zu 
verbrennen, man verzehrte, nebſt den dazu 
gehörigen Getränken, beides ſelbſt, woraus 
große Leichenſchmauſereien entſtanden, bei 
welchen die Anthropophagie einen ſtarken 
Hinterhalt fand. Den Manen und Göttern 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 5 


wurden, da es ihnen ja ohnehin nur auf 
die Seelen der Opfer ankommen konnte, 
die unbrauchbaren Theile nur noch gleich— 
ſam als Beweisſtücke dargebracht. Zuletzt 
verbrannte man auf den Speiſealtären nur 
noch aus Mehl und Fett hergeſtellte Ab— 
bilder der Opferthiere nebſt den mit den 
Eingeweiden und unbrauchbaren Fetttheilen 
umwundenen Knochen und goß eine knappe 
Libation in die Flamme. Der Spötter 
Lucian hat in einem ſeiner göttlichen 
Göttergeſpräche dieſe Uebervortheilung der 
Götter durch die jüngere Generation poetiſch 
dargeſtelltt. Dem Prometheus wird die 
Schuld an Allem beigemeſſen; nicht dafür, 
daß er das Feuer vom Himmel geſtohlen, 
habe ihn Zeus an den Felſen ſchmieden 
laſſen, ſondern dafür, daß er den Menſchen 
das böſe Beiſpiel gegeben habe, den Göttern 
ſtatt der beſten und ſaftigſten Stücke die 
Knochen hinzuwerfen. Heſiod erzählt 
denſelben Vorgang als eine Art neuen 
Bundes zwiſchen den Olympiern und 
Griechen, bei denen Prometheus die Ver— 
handlungen leitete: 

. Als einſt ſich verglichen die 
Götter und ſterblichen Menſchen, — dort 
zu Mekone, da theilt' er den mächtigen 
Stier mit bedachtem — Sinn in Stücke 
und nahm ſich vor, Zeus' Geiſt zu betrü— 
gen. — Hierher legt' er das Fleiſch und 
in glänzendem Fett die Geweide — Nur 
in der Haut, und deckte ſie zu mit dem 
Magen des Stieres; — Dorthin legt er 
des Stieres weißſchimmernde Knochen mit 
Argliſt — Künſtlich geordnet nieder, bedeckt 
mit glänzendem Fette. — Jetzo zu ihm 
nun ſprach Allvater der Menſchen und 
Götter: — „Japeto's Sproſſe, vortreff— 
lichſter du von ſämmtlichen Herrſchern, — 
Lieber, wie haſt du die Theile zerlegt mit 
befangenem Sinne!“ — Ihm entgegnete 


wieder Prometheus liſtigen Geiſtes, — 
Lächelte ſanft, doch ohne die trügliche Kunſt 
zu vergeſſen: — „Zeus, ruhmvollſter und 
größter der ewig geborenen Götter, — 
Wähle du, welchen der Theile der Sinn 
dir im Herzen gebietet!“ — Sprach's mit 
betrüglichem Geiſt; doch Zeus, der unend— 
lichen Rath weiß, — Dieſer erkannt' es 
und merkte die Liſt und dachte Verderben 
— Jetzt für die ſterblichen Menſchen, das 
bald auch ſollte geſchehen! — Drauf mit 
der Rechten und Linken enthob er das 
weißliche Stierfett, — Und da ergrimmt' 
er im Geiſt und Grollen erfüllte das Herz 
ihm, — Wie er die weißlichen Knochen 
des Stiers mit der liſtigen Kunſt ſah. 
— Seither ſieht man den Göttern die 
Stämme der Menſchen auf Erden — Im— 
mer die weißlichen Knochen verbrennen auf 
duft'gen Altären.“ 

Prometheus wurde für dieſen Streich 
an den Kaukaſus geſchmiedet, aber der 
neue Bund war einmal gemacht und es 
hatte bei demſelben ſein Bewenden. Auf 
zweierlei iſt hierbei aufmerkſam zu machen; 
einmal, daß die Vereinfachung des Opfers 
als „neuer Bund“ bezeichnet wird, und 
zweitens, daß die Dichter dieſen Vorgang 
als Ueberliſtung der Götter darſtellen. 
Zeus war ſo indignirt über das Verfahren, 
daß er, an Hekatomben gewöhnt, in der 
Folge lieber bei den freigebigen Aethiopern 
zu Gaſte ging, die noch nicht ſo raffinirt 
waren, wie die Griechen. 

Dieſer Ablöſungsproceß ging in der 
Folge immer weiter. Die Nothwendigkeit, 
jene Eingeweide und Fetttheile, wegen des 
üblen Geruches, den ſie beim Verbrennen 
bereiteten, vorher mit Spezereien und wohl— 
riechenden Harzen zu beſtreuen, führte dazu, 
den eigentlich weſentlichen Theil des Brand— 


opfers ganz fortzulaſſen, und nur die Zu— 


76 Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer. 


that noch in die Opferflamme zu ſtreuen, 


die Götter mit dem Wohlgeruch abzuſpeiſen. 
So wurde aus dem Brandopfer das 


Rauchopfer, welches ſich bis auf den heu- 
tigen Tag in den katholiſchen Kirchen er- 
halten hat. In ähnlicher Weiſe ging es 
mit der Ablöſung der Trankopfer. An 


die Stelle der vollen Gefäße, die man 
früher zu den Gräbern und Tempeln trug, 
traten kleine Schälchen Flüſſigkeit, die man 
in die Flamme goß, und den Unterirdiſchen 
pflegten die Griechen bei ihren Mahlzeiten 
ein „ſtilles Glas“ zu widmen, von welchem 
man einige Tropfen auf den Boden ſchüttete. 
Bei den Römern wurde den Todten noch 
in ſpäterer Zeit ein Fläſchchen Wein in's 
Grab mitgegeben, Gefäße, deren einge— 
trockneten Inhalt man ſeltſamer Weiſe häu— 
fig für „Märtyrerblut“ ausgegeben hat. 
Im vergangenen Jahre hat man zu Alys— 
camps bei Arles ein derartiges Opferfläſch— 
chen aus zugeſchmolzenem Glaſe auf dem 
großen römiſchen Begräbnißplatze gefunden, 
ſo daß der Inhalt noch nach mindeſtens 
fünfzehnhundert Jahren wohlerhalten war 
und der chemiſchen Analyſe unterworfen 
werden konnte. Berthelot hat dieſelbe 
vorgenommen und gefunden, daß man einen 
Wein ſehr geringer Qualität, wahrſcheinlich 
ſchon ſauer, als er eingefüllt wurde, für 
die Manen ausreichend gehalten hat. 
Natürlich hat unter Allen die Ablöſung 
der Menſchenopfer in der Erinnerung der 
Völker die meiſten Spuren zurückgelaſſen. 
Statt der Eingeborenen ſchlachtete man am 
Altare der tauriſchen Diana Fremde, an— 
derswo Sclaven, Kriegsgefangene, ja ſelbſt 
Verbrecher. In Zeiten der Noth kamen 
dann freilich, weil man den Zorn der 
Götter erregt zu haben fürchtete, wieder 
zeitweiſe Rückfälle vor, und in Karthago 
warf man nach den Siegen des Agathokles 


dem Molochbilde mit einem Male zwei— 
hundert Kinder der edelſten Familien in 
den Feuerrachen, nachdem man längere Zeit 
mit gekauften Kindern das Bedürfniß ge— 
ſtillt hatte. Auch die Ablöſung der Jung— 
frauen und Keuſchheitsopfer gehört hierher, 
und in mannigfachen Dichtungen der ſpä— 


teren Zeit wurde derjenige als Befreier 


gefeiert, der dieſe Menſchenopfer vielleicht 
durch Beſiegung des Staates, dem ſie als 
Tribut zu liefern waren, abgeſtellt hatte. 
Hierher gehört wahrſcheinlich auch die Per— 
ſeus- und Theſeus-Mythe. 

Die häufigſte und zunächſt liegende 
Ablöſungsform für das Menſchenopfer ſtellt 
nun die Darbietung eines Theiles 
für das Ganze dar: die verpflichteten 
Perſonen geben ſtatt Leib und Blut nur 
noch ein Glied ihres Körpers oder einen 
Theil ihres Blutes zur Befriedigung der 
Manen und Götter her, um den guten 
Willen zu zeigen. In dieſen Ideenkreis 
ſcheint mir nun vor Allem, was Spencer 
und ſogar Tylor entgangen iſt, die Be— 
ſchneidung der Juden zu gehören. Ihre 
Mythen deuten es ganz unverkennbar an. 
El Schaddai, der ſchreckliche Gott Abrahams, 
verlangt, wie er es in deſſen chaldäiſcher 
Heimath gewohnt war, das Leben Iſaaks, 
der Erſtgeburt. Durch den Gehorſam 
Abrahams läßt er ſich erweichen, macht, 
wie Zeus mit Prometheus, einen neuen Bund 
mit ihm, in deſſen Pakten das Erſtgeburt— 
Opfer aufgehoben und dafür die Beſchneid— 
ung als Bundeszeichen entgegengenommen 
wird. Iſaak iſt der erſte Erſtgeborne, an 
welchem die mildere Praxis geübt wird. Dieſe 
Deutung könnte zweifelhaft erſcheinen, aber 
ſie wiederholt ſich nochmals in der Geſchichte 
des Moſes (Exodus 4, 23 — 26). Wiederum 
erſcheint El Schaddai und verlangt die 
Erſtgeburt Moſis. Da nahm Zippora, 


P 
oe F 
u * m. 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 11 \ 


die Frau des Moſes, einen Stein und 
beſchnitt das Kind und bei dem gefloſſenen 
Blute wird ein neuer Bund gemacht, des 
Inhalts, daß in Zukunft nicht mehr die 
Erſtgeburt, ſondern an Stelle derſelben die 
Vorhaut aller männlichen Sprößlinge ge— 
opfert werden ſolle. Erſt nachdem dieſes 
Zeichen des neuen Bundes feſtgeſtellt iſt, 
verſchwindet der ſchreckliche El Schaddai 
und an ſeine Stelle tritt der mildere Jahve. 
(Exodus 6, 3.) 

Faſt noch klarer iſt dieſer Sinn bei 
den von Spencer ebenfalls anders ge— 
deuteten Fingeropfern an den friſchen Grä— 
bern der Familienväter und Häuptlinge. 
Zum Zeichen der Dienſtbarkeit, welche Frauen 
und Kinder dem vorangegangenen Fami— 
lienhaupte im Jenſeits ſchulden, bietet man 
ihm als paſſendſtes Symbol der Dienſtbar— 
keit einen Finger. Die Nicobaren verbrennen, 
wie Hamilton erzählt, mit den Todten 
zugleich ſein Beſitzthum und ſein Weib 
muß ſich (offenbar zum Erſatz für ihr 
Leben) ein Fingerglied abſchneiden laſſen. 
Natürlich kann dieſe Ceremonie auch zur 
Rettung 
denn vor Allem brachte man ja den Todes— 
gottheiten Menſchenopfer, wie wir ſchon 
früher geſehen haben; noch der Kaiſer 
Hadrian glaubte nur durch den freiwilligen 
Tod ſeines Lieblings (Antinous) die Ge— 
ſundheit wiedererhalten zu haben, und dieſelbe 
Sitte fand ſich in Peru. In allen ſolchen 
Fällen handelte man aber ſpäter den Preis 
herab; in Indien ſuchte man die Todes— 
göttin mit einen abgeſchnittenen Finger zu 
beſänftigen, und an vielen Orten der Welt 
diente auf Gräbern und Altären ein frei— 
williger Aderlaß an Stelle des tödtlichen 
Blutverluſtes. Ja es ſcheint ſogar, daß 
die weitverbreitete Sitte, ſich bei Todes— 
fällen in der Familie das Haar kurz zu 


einer erkrankten Perſon dienen, 


ſcheeren, nicht ein einfacher Ausdruck der 
Trauer iſt, in der man ſich des Haares, 
wie jedes andern Schmuckes, entledigt, ſon— 
dern urſprünglich in einigen Fällen das 
Löſungsmittel des den Manen oder der 
Gottheit verfallenen Hauptes. So hängen 
die Neuſeeländer nach Polack's Angabe 
Haarlocken an den Bäumen des als Opfer— 
platz allgemein anerkannten Begräbnißortes 
auf und die Sitte der klaſſiſchen Völker, 
das abgeſchnittene Haar der zur Mannheit 
herangereiften Jugend der Hauptgottheit 
des Geburtsortes als Opfergabe zu ſenden, 
zeigt eine unverkennbare Parallele mit der 
Hergabe der Vorhaut am Altare. 

Dieſe ſtellvertretende Bedeutung des 
Hauptſchmuckes tritt beſonders deutlich in 
der von römiſchen Autoren vielfach behan— 
delten Mythe hervor, in welcher ſich Ju— 
piter von Numa ſtatt der zur Sühne 
verlangten Menſchenhäupter deren Haar 
unterſchieben läßt. Ovid hat mit Humor 
die Unterhandlung des königlichen Ober— 
prieſters mit dem Gotte, wie die Feilſcherei 
mit einem jüdiſchen Handelsmann, der viel 
verlangt, während man ihm wenig bietet, 
geſchildert. Jupiter eröffnet den Handel: 
„Bringe zur Sühn' einen Kopf!“ „Ich 
gehorch'“ iſt des Königs Entgegnung; — 
„Denn von der Zwiebel den Kopf bring' 
aus dem Garten ich dir.“ — „Nein, einen 
menſchlichen Kopf!“ „Du meineſt ſein Haar 
von dem Scheitel?“ — „Nein, das Leben 
mein' ich!“ Numa ruft ſchnell: „eines 
Fiſch's?“ — Lächelnd darauf der Gott: 
„Nun, fühne nur jo den Blitzſtrahl, — 
Mann, der Götter ſogar mag im Geſpräche 
beſtehn“. 

Der Kirchenvater Arnobius, der 
den ſeltſamen Handel ebenſo erzählt und 
Beide hernach einen Lieferungsvertrag auf 
Zwiebelhäupter und Haare ſtatt der Men— 


78 


Krause, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 


ſchenhäupter abſchließen läßt, braucht mehrere derlei Geſchlechtes und aus verſchiedenen 


Schriftſeiten, um die Albernheit dieſes 
heidniſchen Handels bloszuſtellen. Abge— 
ſehen von der Redeliſt und Schlagfertigkeit, 
die den Naturvölkern, wie ihre Dichtungen 
beweiſen, einen großen Beifall abgewannen, 
bietet dieſe Mythe allerdings nur von dem 
entwickelungsgeſchichtlichen Standpunkte eini— 
gen Gehalt, ſofern ſich darin eben jener 
auf dialectiſche Schlüſſe begründete Ablöſ— 
ungsvorgang läſtig gewordener Abgaben 
malt. Sobald das Menſchenleben, welches 
den Wilden ſehr wenig gilt, an Werth ge— 
wonnen hatte, ſuchte man ſich in der That mit 
allerlei Winkelzügen den hergebrachten Ver— 
pflichtungen zu entziehen. Hier und da 
wird das Opfer noch ſcheinbar gebracht, 
oder in ſeinen Eingangsceremonien nach— 
geahmt. Bei einigen Indianerſtämmen 
Nordamerikas legt die Wittwe für einige 
Augenblicke ihr Haupt neben das ihres 
Gatten auf den ſchon brennenden Scheiter— 
haufen und bei den Oſſeten im Kaukaſus 
wird Gattin und Leibpferd dreimal um 
das Grab des Verſtorbenen geführt, und 
beide bleiben ihm ihr Lebelang geweiht; 
die Frau darf ſich nicht neu vermählen 
und Niemand des Verſtorbenen Roß be— 
ſteigen. Sogar die ariſchen Hirtenſtämme 
am Himalaya, haben, wie H. Wilſon 
in einer gelehrten Abhandlung nachgewieſen 
hat, ihre Menſchenopfer (Purucha medha) 
gehabt, aber man darf ſich nicht wundern, 
daß ſie bei ihnen ihre Ablöſung ſchneller 
als irgendwo fanden, da ſie ihren milden 
Sitten entſchieden widerſtrebten, und es iſt 
dies um ſo natürlicher, als die Menſchen— 
opfer überall mit der Einführung eines 
regelmäßigen Ackerbaues und der Viehzucht 
verſchwunden find. Eine in der Ydjur— 
Veda beſchriebene Ceremonie ſtellt ihre 
Ablöſungsform dar: 185 Perſonen bei 


Stämmen wurden an elf Pupa's oder 
Opferpfählen feſtgebunden und erſt nach— 
dem man einen Hymnus zu Ehren Na— 
rayana's geſungen, wieder befreit. Als 
Löſegeld brachte man dann für die Men— 
ſchen — Butterſpenden dar. Während früher 
in Indien der Todesgöttin Kali maſſenhaft 
Menſchen geopfert wurden, haben die Par— 
ſen und indiſchen Brahmanen ſogar die 
Thieropfer (Agniſchtoma der Veden) ab— 
geſchafft. Wie oben die Menſchenopfer 
der Flamme nur gezeigt wurden, ſo nahm 
man nach Haug bei der parſiſchen Izeſchne— 
Ceremonie einige Ochſenhaare und zeigte 
ſie dem Opferfeuer, ohne daſſelbe durch 
die Berührung damit zu verunreinigen. 
Die Brahmanen erſetzen, um kein Thier 
zu tödten, das vorſchriftsmäßige Opferthier 
durch eine Nachbildung aus Butter und 
Mehl. Aehnlich verfuhr man auch bei den 
Griechen und Römern, und ärmere Leute, 
die kein Opferthier bezahlen konnten, legten 
je nach dem Vermögensſtande kleine Nach— 
bildungen aus Silber, Bronze oder Thon 
auf dem Altare nieder. Ueberall wo man 
alte Opferſtätten aufgeräumt hat, fand man 
dieſe ſtellvertretenden Figuren und oft in 
ſo großen Mengen, daß man an einen 
ſchwunghaften Handel mit denſelben vor 
den Tempelhäuſern denken muß. Noch 
kürzlich hat man wieder in Olympia Hun— 
derte ſolcher kleinen Bronzen gefunden, 
meiſt Ochſen, Kühe, Widder, Pferde dar— 
ſtellend. Aber auch Hirſche, Haſen und 
Vögel kommen vor und oft iſt die Arbeit 
ſo archaiſtiſch, daß man die Species nicht 
zu beſtimmen wagt. Auch menſchliche 
Figuren finden ſich darunter in Maſſe, 
die wohl die Opfernden oder die Hilfe— 
flehenden, für die man opferte, vorſtellen 


ſollten. In ähnlicher Weiſe hat man aber 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 79 


auch zum Opfer beſtimmte Menſchen ſpäter 
in effigie den Todten mit ins Grab ge— 
geben oder zum Opfer verwendet. Heinrich 
von Siebold, Attache der öſterreichiſchen 
Geſandtſchaft in Yeddo hat vor kurzem 
eine Abhandlung über die Tſchutſchi Ningio 
veröffentlich, worin er die ſchon früher aus— 
geſprochene Meinung weiter begründet, daß 
dieſe hölzernen, thönernen oder metallenen 
Menſchenbilder, die man in Japan häufig 
beim Nachgraben auf ehemaligen Begräb— 
nißplätzen findet, nichts anderes ſeien, als 
ein Erſatz für die daſelbſt ehemals bis 
an den Hals eingegrabenen Menſchen. 
Wahrſcheinlich gehören hierher auch die 
mit Glasperlen und anderm Zierrath ge— 
ſchmückten menſchenköpfigen Holzpfähle, die 
Schweinfurth um die Gräber im Bon— 
golande gepflanzt ſah, wenn man auch 
jetzt meinte, es ſeien die Portraits der 
Verſtorbenen. Die Chineſen, welche es in 
der Ablöſung aller Opfer am weiteſten 
gebracht haben, geben, wie Doolittle 
erzählt, den Verſtorbenen papierne Men— 
ſchenbilder mit ins Grab, ja ſie verbrennen 
im Voraus Bilder von Boten, die ihre 


Ankunft im Jenſeits anzeigen ſollen, und 


ſenden auch papierne Schirm- und Sänf— 
tenträger vorauf. 


Auch im alten Europa hat man die 


in unterirdiſchen Klüften hauſenden Erd— 
götter, denen ſich noch ein Curtius opferte, 
die Dämonen der Flüſſe und Seen, wenn 
ſie übertreten und „raſen, um ihr Opfer 
zu erhalten“, mit Puppen aus Ruthenge— 
flecht, Thon oder Metall zu beſänftigen 
geſucht. Wahrſcheinlich gehören die Metall— 
ſchätze, die man öfter in der Nähe der 
Pfahlbauten gefunden hat und die aus 
ungebrauchten, neuen Gegenſtänden beſtan— 
den, zu der Mitgift ſolcher Puppen, um 
das Opfer koſtbarer zu geſtalten. Bei der 


Ueberſchwemmung des Nils zu Cairo er— 
richtet man am Ufer einen kegelförmigen 
Pfeiler aus Erde, den die Fluth bei ihrem 
Höherſteigen hinwegſpült. Derſelbe wird 
Aruſeh oder „Braut“ genannt und dieſer 
Name ſcheint darauf hinzudeuten, daß er 
ein Erſatzmittel vorſtellt, welches von den 
humaneren Moslims für die Jungfrau 
eingeführt wurde, welche man in älteren 
Zeiten prächtig geſchmückt als Opfer für 
den Flußgott in den Strom warf, um eine 
fruchtbare Ueberſchwemmung zu erhalten, 
oder anderswo ſeine Wuth zu mildern. 
Zahlreiche Drachen- und Jungfrauenſagen 
gehören zu dieſer Gruppe von Erinnerun— 
gen an althergebrachte Menſchenopfer. 

Im alten Mexico legte man Werth 
darauf, den Schein ſehr genau zu wahren. 
Nach den Berichten von Torquemada 
und Clavigero wurde an den Feſttagen, 
an welchen in den Tempeln Menſchenopfer 
ſtatthatten, dieſelben auf getreue Weiſe in 
den Häuſern nachgeahmt. Man fertigte 
Menſchenbilder aus Teig, betete ſie an, 
öffnete die Bruſt und nahm die Herzen 
heraus, ſchnitt dann den Figuren die Köpfe 
ab, zertheilte ſie in Stücke und verzehrte 
ſchließlich die einzelnen Körpertheile. Die 


in effigie vollzogene Darbringung von 


Menſchenopfern zur Heilung kranker Per— 
ſonen beſtand im Alterthum auf weiten 
Gebieten; die oben erwähnte Darbringung 
der Bruſt, des Hauptes u. ſ. w. des 
Sprößlings für Bruſt, Haupt u. ſ. w. 
des Vaters, fand ihren Abglanz in den 
goldenen, ſilbernen und bronzenen Votiv— 
Gliedmaßen, die man im Alterthum vor 
den Tempeln der Heilsgottheiten feilhielt. 
Im vergangenen Jahre noch wieder entdeckte 
man die Spuren ſolcher Kaufläden mit 
metallenen Votivgliedern in Rom. Heut- 
zutage iſt man in dieſer Ablöſungsform 


80 


heidniſcher Menſchenopfer bis auf Wachs— 
nachbildungen für die chriſtlichen Wallfahrts— 
kirchen herabgeſunken und ſelbſt das Wachs 
verfälſcht man, wie die Bruder Schmelzer 
klagen, auf unverantwortliche Weiſe. Die 
Chineſen als erſte Repräſentanten des 
papiernen Zeitalters helfen ſich auch hier 
mit Papierbildern. Eine ſehr vereinfachte 
Form ſolcher Menſchenbilder hat Dobrot— 
worsky kürzlich bei den Ainos, den Ur— 
einwohnern Japans bemerkt. Dieſelben 
opfern den Göttern ein Stückchen Holz 
von 9 — 31 Centimeter Länge, an deſſen 
oberm Ende ſie einige dünne Spahnlocken 
abſpalten, und nennen das einen Inau. 
Den verſchiedenen Göttern werden verſchie— 
dengeſtaltete Inau's dargebracht und bei 
den ſorgfältiger geſchnitzten ſieht man jene 
Haarlocken darſtellenden Spähne ein wirk— 
liches Menſchenhaupt mit Ohren, Augen, 
Mund und Naſe umkräuſeln, ja es treten 
unterwärts Hals und Arme erkennbar her— 
vor. Mit Recht deutet Dobrotworsky 
dieſe Inau's als die Stellvertreter ehemaliger 
Menſchenopfer. 

Eine ſehr gebräuchliche Ablöſungsform 
für Menſchenopfer iſt endlich der Erſatz durch 
Thieropfer, wobei zwar der Schein preis- 
gegeben, deſto beſſer aber der Sinn (Leben 
für Leben) gewahrt wurde. In Aegypten 
ſoll man ehemals dem Typhon alle voth- 
haarigen Fremden, deren man habhaft 
werden konnte, geopfert haben, bis König 
Amaſis alle Menſchenopfer aufhob. An 


die Stelle der rothhaarigen Menſchen trat 


nun die rothhaarige Kuh, die auch in dem 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 


jüdiſchen Opferceremoniell eine bemerkens- 


werthe Rolle ſpielt. Die Kühe und Kälber 
aber, die man nunmehr in Aegypten opferte, 
wurden, wie Porphyr ius erzählt, zum 
untrüglichen Zeichen ihrer ſtellvertretenden 
Bedeutung, mit einem Petſchaft geſiegelt, 


auf welchem ein knieender Menſch, im Be— 
griffe den Todesſtreich zu empfangen, dar— 
geſtellt war. In ähnlicher Weiſe, wurde 
auch von anderen Völkern durch das Cere— 
moniell ausgedrückt, daß das Opferthier 
nur als Stellvertreter diene. Aelian 
erzählt uns, daß die Tenedier von Alters 
her dem Dionyſos (— Melkarth) die vor— 
züglichſte trächtige Kuh erzogen und dieſelbe, 
wenn ſie geworfen hatte, wie eine Wöch— 
nerin gepflegt hätten. „Dem neugeborenen 
Kalbe binden ſie, wenn ſie es zum Opfer 
führen, Kothurne unter die Füße; der 
aber, welcher ihm den tödlichen Streich 
verſetzt, wird zur Sühne mit Steinen ge— 
worfen und flieht bis an das Meer.“ Der 
Opferprieſter wurde, wie man ſieht, behan— 
delt, als ob er dem Melkarth, wie ehemals, 
ein menſchliches Kind geopfert habe. Eine 
ähnliche, nur im Zuſammenhange dieſer 
Ablöſungsceremonien verſtändliche Sitte be— 
ſchreibt Pauſanias aus dem Dienſte des 
Jupiter Polieus: Man ſtreuete auf ſeinen 
Altar Gerſte und Weizen und ließ einen 
erleſenen Stier in der Nähe los. Während 
derſelbe von den Körnern fraß, näherte 
ſich der Opferprieſter, ſchlug ihn mit dem 
Beile todt, warf aber das Inſtrument ſo— 
gleich von ſich und ſuchte das Weite. Das 
Beil aber wurde, wegen des Mordes, vor 
Gericht gezogen und verurtheilt. Dem 
Dionyſos und der unterirdiſchen Demeter 
ſcheinen in Griechenland noch in ſehr ſpä— 
ter Zeit Menſchenopfer gebracht worden 
zu ſein und man erzählte, daß der König 
Erechtheus der Letzteren eigenhändig eine 
Tochter geſchlachtet habe. In ſpäterer Zeit 
opferte man ihr Stiere oder Widder über 
einer Grube, in welcher ein Menſch ſtand, 


der von dem Blute beſpritzt und dadurch 


entſühnt wurde. Herakles, den einſt König 
Buſiris dem Typhon opfern wollte, ſoll 


die Menſchenopfer in Griechenland abge 
ſchafft haben. Am längſten ſcheinen ſolche 
daſelbſt dem Dionyſos in ſeinem Myſterien— 
dienſte gebracht worden zu ſein und ſelbſt 
Themiſtokles ſoll ihm, wie Plutarch er— 
zählt, noch drei Jünglinge geopfert haben. 
Pauſanias bemerkt ausdrücklich, daß 
der Bock, der ihm ſpäter dargebracht wurde, 
an Stelle eines Menſchen angenommen 
werde. Alſo ganz wie in der Abrahams— 
Mythe. Am bacchiſchen Feſte des Roh— 
eſſens wurde das Thier (hier gewöhnlich 
ein Schwein) wie einſt Dionyſos ſelbſt, von 
den Titanen in kleine Stücke zerſchnitten und 
roh von den Opfernden verzehrt. Auch 
in Italien ſoll Herakles die Menſchenopfer 
abgeſchafft haben. Den Sabinern, die 


einem griechiſchen Orakel zu Folge, bisher 


Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 


81 


dius verſichert, daß der Kaiſer Commodus 
dem in Rom neumodiſchen Gotte zahlreiche 


Mienſchen geſchlachtet habe. 


In dieſer Zeit begann das Menſchen— 
opfer jedoch die religiös-myſtiſche Wendung 
zu nehmen, welche in der Soma-, Mithras-⸗, 


Oſiris-, Dionyſos-, Adonis- und Balder- 


Legende ausgedrückt iſt, die Entſühnung 


Menſchen (rss) geopfert hatten, lehrte 
er nach Angabe des Dionyſius von 


Halikarnaß, dem Numa an Spitzßindigkeit 


mißverſtanden, es ſeien Lichter (gor«) ge— 
meint. 
liche aufboten, um die Menſchenopfer in 
Karthago und Gallien zu unterdrücken, 
ſchlich ſich mit dem Mithrasdienſte die Un— 


ſitte derſelden wieder ein, und Lampri⸗ 


aller Menſchen durch das einmal vergoſſene 
Blut, womit naturgemäß alle Opfer auf- 
hören mußten, oder höchſtens noch als Er— 
innerungsmahle u. dergl. in gereinigter 
ſymboliſcher Geſtalt fortdauern konnten. Ob— 
wohl dieſe Entwickelungsrichtung innig ver— 
flochten iſt mit der anderweitigen Ablöſung 
der Menſchenopfer, iſt es hier nicht unſere 
Abſicht, derſelben zu folgen. Aber auch 
abgeſehen von dieſer Verklärung der Men— 
ſchenopfer, würde man in der langſamen, 
aber ſtetig fortſchreitenden Ablöſung jener 


Hekatomben von Menſchenleben, die chemals 
nichts nachgebend, ſie hätten das Orakel 


auf der ganzen Erde einem Wahne fielen, 


den fortſchrittlichen Charakter der allgemeinen 
Während die Römer alles Mög- 


Cultur⸗Entwickelung anerkennen müſſen und 


wenn wir es auch darin noch nicht „herr— 


lich weit gebracht“, — etwas beſſer iſt es 


jedenfalls geworden. 


eee 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


— — . . — . !!!!!! 


11 


Kleinere Mittheilungen und Journallchau. 


Die Fortſchritte der ſynthetiſchen Waſſer für ſich erhalten wurde. In beiden 


Mineralogie und die künſtliche Fällen zeigten die 


Darſtellung verſchiedener Edelſteine. 
G. 82 


on einem nicht geringen kosmologiſchen 
IIntereſſe find die neueren Verſuche ver— 


und Edelſteine nach Zuſammenſetzung 
und Kryſtallgeſtalt künſtlich darzuſtellen, nicht 
ſowohl, um die chemiſchen Proceſſe, welche auf 
dem glühenden und ſich abkühlenden Erdball 
eintraten, überhaupt künſtlich nachzuahmen, 
ſondern um dadurch einen Einblick in das 
Weſen und den Verlauf dieſer Proceſſe zu 
gewinnen. Das vergangene Jahr hat in 
dieſer Richtung beſonders bedeutende Leiſt— 
ungen aufzuweiſen, und hier ſind in erſter 
Reihe die Verſuche von P. Hautefeuille 
zu erwähnen, die verſchiedenen Arten der 
Feldſpathe künſtlich zu erzeugen. Nach— 
dem es ihm ſchon früher gelungen war, 
den Natronfeldſpath oder Albit durch Ein— 
wirkung von Wolframſäure in der Glühhitze 
auf ein ſehr alkaliſches Thonerde-Natron— 
Silikat zu gewinnen, iſt ihm dies kürzlich 


in analoger Weiſe mit dem Orthoklas 


oder Kali-Feldſpath ebenfalls geglückt; nach 
einer vierzehntägigen Erhitzung des Ge— 
nahezu tauſend Grad war 


menges auf 


ſämmtliches Silikat in kryſtalliſirten Feld- 


ſpath übergegangen, der durch Entfernung 
des wolframſauren Alkalis mit ſiedendem 


künſtlich hergeſtellten 


Kryſtalle genau die chemiſche Zuſammen— 


| 
I 
| 


| 


| 
| 
| 


ſetzung, Dichtigkeit, Kryſtallform, Spaltbar— 
keit u. ſ. w. der natürlichen Feldſpathe dieſer 
Kategorie, obwohl in der Natur wahrſchein— 


lich eine andre Alkali entziehende feuerbe— 


ſchiedener Chemiker, allerlei Mineralien 


ſtändige Säure die Rolle der Wolframſäure 


| geſpielt haben dürfte.“) Nach einem andern 


Verfahren ſtellte bald darauf E. Fremy 
den Diſthen, ein reines kryſtalliſirtes 
Thonerdeſilikat und auch andre Silikate dar, 
indem er ebenfalls ſein Augenmerk auf eine 
langſame Ausſcheidung der Mineralien durch 
chemiſche Einflüſſe aus einem wochenlang im 
feurigen Fluſſe erhaltenen Gemenge richtete. 
Von großer practiſcher Wichtigkeit dürfte die 
Entdeckung eines Verfahrens werden, die 


Minerale der Korundfamilie, die als Edel— 


ſteine ſehr geſchätzt ſind (denn hierher ge— 


hören Rubin, Sapphir, und diejenigen 


Smaragde, Topaſe und Amethyſte, 
die man zum Unterſchiede ihrer weniger ge— 
ſchätzten Namensvettern „orientaliſche“ Sma— 
vagde u. ſ. w. nennt), in größeren Kry— 


) Die Abhandlungen von Haute— 
feuille und Fremy wurden in derſelben 
Sitzung der Pariſer Akademie (3. December 
1877) geleſen und ſind abgedruckt in den 
Comptes rendus T. LXXXV p. 952 u. p. 1029. 
An demſelben Tage legte Monnier eine Arbeit 
vor über die künſtliche Gewinnung von Opa— 
len, indem man eine verdünnte Auflöſung von 
Oxalſäure vorſichtig auf ſyrupsdickes Natron— 
Waſſerglas gießt, ſo daß die Kieſelſäure nur 
langſam durch die Oxalſäure verdrängt wird. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 83 


ſtallen künſtlich darzuſtellen. Da dieſe dem 


Diamanten im Werthe am nächſten ſtehen— 
den Edelſteine nur aus kryſtalliſirter und 
mit verſchiedenen Metalloxyden gefärbter 


Thonerde beſtehen, jo waren ſeit Jahrzehn- 


ten die Bemühungen verſchiedener Chemiker 
— wir nennen die Namen Gaudin und 
Debray, Sainte Claire Deville, 
Caron und Ebelmann — darauf ge— 
richtet geweſen, Thonerde zu kryſtalliſiren. 
Schon durch eine bloße Schmelzung reiner, 
etwas Chromſäure oder Kobaltoxyd ent— 
haltenden Thonerde im Knallgasgebläſe war 
es früher Gaudin gelungen, rubin- und 
ſapphirartige Schmelzperlen zu erzeugen, 
aber dieſen Schmelzprodukten fehlte durch— 
ſichtige Klarheit, und die Bemühungen ſpä— 
terer Chemiker gingen mit Recht auf eine 
wirkliche Kryſtalliſation der Thonerde 
aus. Durch feurige Auflöſung der Thon— 
erde mittelſt Borax oder Borſäure und 
langſamer Verflüchtigung der letzteren, gelang 
es auch wirklich, kleine Thonerdekryſtalle zu 
gewinnen, aber dieſelben waren zu winzig, 
um irgend einen Werth als Schmuckſteine 
beanſpruchen zu können. In Gemeinſchaft 
mit Herrn Feil ermittelte indeſſen Herr 
E. Fremy eine Methode, größere Kry— 
ſtalle zu gewinnen, und indem ſie viertel 
und halbe Centner Material zwei bis drei 
Wochen in den Schmelzöfen des Erſtgenann— 
ten erhitzten, konnten ſie mehrere Kilogramme 
theils ungefärbter, theils gefärbter Korunde 
(d. h. Rubinen und Sapphire) gewinnen 
und der Akademie vorlegen. Das von 
ihnen als das vortheilhafteſte erprobte Ver— 
fahren beſteht in der langſamen Wegnahme 
der Kieſelſäure durch ſchmelzendes Bleioxyd 
aus einer reinen Thonerde (d. h. Thonerde— 
Silikat), wobei die übrig bleibende Thon— 
erde langſam aus der feuerflüſſigen Maſſe 
auskryſtalliſirt und die Kryſtalle zu einer 


hinreichenden Größe anwachſen, um in der 
Edelſteinſchleiferei und Uhrmacherei Anwend— 
ung zu finden. Man brachte gleiche Ge— 
wichtsmengen von Thonerde und Mennige 
in einen feuerfeſten Tiegel, der von einem 
zweiten umſchloſſen wurde, und ſetzte die— 
ſelben in einem Glas- oder Porzellanofen 
einer mehrwöchentlichen, beſtändigen, leb— 
haften Rothgluth aus. Weil nämlich das 
Bleioxyd dem Thone der Tiegelwände eben— 
falls langſam die Kieſelſäure entzieht, wer— 
den die Wände häufig durchgefreſſen, und 
deshalb empfiehlt es ſich, einen Doppel— 
tiegel anzuwenden. Nach dem Erkalten 
finden ſich im Tiegel zwei Schichten, eine 
obere, die vorzugsweiſe aus glasartig 
amorphem Bleiſilikat beſteht, und eine un— 
tere, kryſtalliniſche, in welcher ſich die Thon— 
erdekryſtalle in kugeligen Klumpen finden 
und von ihrer Silikathülle durch ſchmelzen— 
des Kali oder Bleioxyd, reſp. durch Fluor— 
waſſerſtoff befreit werden müſſen. Ohne 
weiteren Zuſatz erhält man farbloſe Ko— 


rund ⸗Kryſtalle; ſetzt man dem Gemiſch 


von Thonerde und Mennige zwei bis drei 
Procent doppeltchromſaures Kali hinzu, ſo 
erhält man roſen- bis purpurrothe Rubine, 
und wenn man nur eine kleine Spur die— 
ſes Salzes, nebſt einer geringen Menge 
Kobaltoxyd hinzufügt, ſo findet man mehr 
oder weniger tief gefärbte Sapphire. 

Dieſe künſtlichen Diamantſpathe, Ru— 
bine und Sapphire beſitzen nun alle Eigen— 
ſchaften der natürlichen Edelſteine, ſie zeigen 
nicht allein deren Kryſtallgeſtalt, Dichtig— 
keit, Härte und Farbe, ſondern ſie ſind 
nach den Angaben der Edelſteinſchleifer, 
denen man einige Proben zur Bearbeitung 
übergab, ſelbſt härter als dieſe, alſo z. B. 
für die Uhrmacherei, wo man ſie zu Zapfen— 
lagern verwendet, noch werthvoller. Die 
künſtlichen Rubine verlieren, wie die na— 


84 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


türlichen, beim Erhitzen ihre roſenrothe 
Färbung und gewinnen ſie beim Erkalten 
wieder, nur der Glanz ſchien nicht völlig 
derjenige der ſchönſten natürlichen Steine 
zu ſein, obſchon der Unterſchied gering war. 
Es läßt ſich denken, daß dieſe Mittheilun— 
gen unter den Juwelieren von Paris eine 
große Aufregung erzeugt haben, da es ſich 
gerade um die koſtbarſten, unter Umſtänden 
höher als der Diamant bezahlten Edel— 
ſteine handelt. Ihre Fachjournale ſuchen die 
künſtlichen Steine herabzuſetzen, indem ſie 
behaupten, die Kunſt werde nie erreichen, 
wozu die Natur vielleicht Jahrtauſende ge— 
braucht habe u. ſ. w. Thatſache iſt, daß 
dieſe künſtlichen Steine ſchon jetzt nach den 
erſten Verſuchen kaum von den natürlichen, 
mit denen ſie ja ihrer chemiſchen Natur 
und Bildungsweiſe nach völlig identiſch ſind, 
weder durch chemiſche noch durch phyſika— 
liſche Hilfsmittel ſich unterſcheiden laſſen, und 
man wird ohne Zweifel Mittel finden, ſie, 
vielleicht durch Verlangſamung des Pro— 
ceſſes, noch ſchöner zu erhalten, und auch 
in andern Farben darzuſtellen, ſo daß ſich 
hier eine weite Perſpektive für eine neue 
hoffnungsvollere Alchemie aufthut, als es 
ihre ältere Schweſter war. 


Wo hat der Moſchusduft der 
Schwärmer ſeinen Sitz? 


I. Unter den Tauſenden europäiſcher 
Schmetterlingsjäger ſcheint ſich noch keiner 
dieſe Frage vorgelegt zu haben. 
Frage wäre ja ſofort auch die Antwort 
zur Hand geweſen, da man eben einfach 
der Naſe nachzugehen braucht, um den Aus— 
gangspunkt eines ſtarken Geruches zu finden. 

Während in Europa der Winden— 
ſchwärmer nicht ſelten iſt, von deſſen 


Mit der 


ſchloſſen. 


Männchen man ſeit lange den Moſchus— 
geruch kennt, habe ich hier heute zum erſten 
Male ein biſamduftendes Schwärmermänn— 
chen gefangen, von einer kleinen, nur 0,04 
Meter langen Art, deren Namen ich nicht 
weiß. Es umflog gegen Abend die reich— 
blüthigen, großen, blauen Dolden eines 
Agapanthus in meinem Garten. 

Beim Beriechen ergab ſich ſofort, daß 
der ſehr kräftige Geruch von der Bauch— 
ſeite des Hinterleibes ausging. Als ich 
nun, die Bruſt zwiſchen Daumen und 
Zeigefinger faſſend, den Schwärmer mit 
aufwärts gekehrter Bauchſeite feſthielt, be— 
merkte ich, daß, ſo oft das Thier mit den 
Flügeln ſchwirrte, jederſeits am Anfange 


des Hinterleibes ein blonder Haarpinſel 


biſamduftend ſich ausſpreizte. Beruhigte 
ſich das Thier, ſo legte ſich der Pinſel 
wieder in eine Längsrinne, die ſich jeder— 
ſeits über den größeren Theil der beiden 
erſten Hinterleibsringe erſtreckte, und ver— 
ſchwand, indem fi die die Rinne begren- 
zenden Schuppen über ihm zuſammen— 
Während der Ruhe war von 
dem Pinſel nichts, von der Rinne kaum 
etwas zu ſehen. Letztere läßt ſich am 
todten Thiere ſichtbar machen durch Zu— 
ſammendrücken des Hinterleibes von hinten 
nach vorn; zwiſchen den auseinander weichen— 
den Schuppen zeigte ſich dann der Boden 
der Rinne als ſchmaler, nackter Längsſtreif. 

Alſo wieder — nur an einem neuen 
Orte — dieſelbe wirkſame Form der Duft— 
vorrichtungen, die als Träger deutlich 
wahrnehmbarer Gerüche auf den Flügeln 
und am Ende des Hinterleibes bei verſchie— 
denen Tagfaltermännchen gefunden wurde. 
Ich bezweifle kaum, daß auch die unter 
Dickköpfen und Nachtſchmetterlingen vor— 
kommenden „Schienenpinſel“ (Herrich— 


Schäffer), die z. B. bei den Männchen 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


von Pantherodes pardalaria, einem zeit— 
weiſe hier häufigen, prachtvoll pantherartig, 
ſchwarz auf gelb gefleckten Schmetterling, 
mächtig entwickelt ſind, der Verbreitung 
eines die Weibchen anlockenden Duftes 
dienen, obwohl ich einen ſolchen noch nicht 
habe wahrnehmen können. 

Ob bei den Männchen des Winden— 
und des Liguſterſchwärmers der Moſchus— 
duft von der gleichen Stelle ausgeht? Und 
ob auch die für menſchliche Naſen geruch— 
loſen Schwärmermännchen ähnliche Duft— 
pinſel beſitzen? Beides iſt wahrſchein 
lich. Möge es bald durch Beobachtungen 
entſchieden werden. 

II. Obige Vermuthung gründete ſich 
hauptſächlich auf das Verhalten des Schienen— 
pinſels bei Pantherodes pardalaria, der 
am Anfang der Hinterſchiene entſpringend, 
deren volle Länge erreicht, und ſich für ge— 
wöhnlich in einer tiefen Längsrinne birgt, die 
an der Innenſeite der Schiene ſich hinzieht 
und überdacht wird von eigenthümlichen, ſehr 
großen Schuppen ihres Randes. Die Ent— 
faltung des Pinſels ſcheint durch ſehr kräftiges 
Strecken der Schiene bewirkt zu werden. 


Jene Annahme hat ſich inzwiſchen 
beſtätigt. An einem unſerer Schmetterlings— 
rieſen aus der Familie der Erebiden, mit 
etwa 0,19 Meter Flügelſpannung, konnte 
ich einen wenn auch nicht beſonders ſtarken, 
ſo doch ganz unverkennbaren, eigenthüm— 
lichen Geruch an den Hinterſchienen des 
Männchens wahrnehmen. Schlank bei dem | 
Weibchen, iſt bei dem Männchen dieſer Art 
die Hinterſchiene ſtark verbreitert (4 Milli- 
meter breit bei 12 Millimeter Länge), und 
ihre ganze Innenſeite iſt mit einem dichten 
Walde von Haaren bedeckt, die ſich zu 
einer gewaltigen Bürſte aufſträuben können, 
während ſie in der Ruhe der Schiene dicht 
anliegen. Dabei liegen zu unterſt, in einer 


85 


ſeichten Längsrinne, die Haare der Mittel— 
linie, überlagert von einer dicken Schicht 
der ſeitlichen Haare, welche dabei ſchief nach 
der Mittellinie und dem Ende der Schiene 
zu gerichtet find “). | 

Wie wahrſcheinlich aus über die ganze 
Fläche der Flügel verſtreuten Duftſchuppen 
die mannigfachen, auf beſtimmte Stellen be— 
ſchränkten Duftwerkzeuge der Flügel her— 
vorgegangen ſind, ſo läßt ſich auch der 
Schienenpinſel von Pantherodes unſchwer 
ableiten aus einer die ganze Innenſeite der 
Schiene bedeckenden Behaarung, wie ſie 
das eben erwähnte Erebidenmännchen zeigt, 
und zwar um ſo unbedenklicher, als auch 
in der Familie der Erebiden lange, am 
Anfange der ſonſt unbehaarten Hinterſchie— 
nen ſitzende Haarpinſel vorkommen. 

Bei den mir bekannten Dickköpfen fin— 
det ſich an den Hinterſchienen keine Vor— 
richtung zur Bergung des Pinſels; dagegen 
ſah ich bei einer der anſehnlicheren Arten 


dieſer Familie, wahrſcheinlich einem Anti— 


gonus, daß der Schienenpinſel in einer 
durch die Schuppen des Hinterleibes ge— 
bildeten Furche verſteckt lag. 
Itajahy, 26. November 1877. 
Fritz Müller. 


Cocon-Mimicry? 


Im erſten Hefte des vierundvierzigſten 
Jahrgangs von Troſchel's Archiv für 


) Dieſem Erebiden ähnlich ſcheint ſich 
ein javaniſcher Dickkopf, Ismene Oedipodea, 
zu verhalten, bei deſſen Männchen die Hin— 
terſchienen ſehr ſtark verdickt („extremely 
thick) und dicht behaart („very densely 
hairy“) find. (Doubleday, Weſtwood, 
Hecoitron, Genera of diurnal Lepidoptera. 


P. 514.) — Es darf bei dieſer Gelegenheit 


daran erinnert werden, daß ſchon Linne einer 
Erebidenart den Namen „odora“ gab; Nähe— 
res über dieſelbe weiß ich nicht. 


86 


Naturgeſchichte (1878, S. 20) be 
richtet Dr. H. Dewitz aus Berlin, in 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


legen ſind; die beiden dem Deckel zunächſt 
ſtehenden Löcher ſind die größeren, auch 


einer Arbeit über Venezuelaniſche Schmetter- führen fie in geräumigere Höhlungen, als 


linge, nach den Beobachtungen Gollmer's, 
über den Coconbau einer Spinner-Raupe, 


die beiden andern. Von dem Innern des 


Cocons ſind die vier Höhlungen gänzlich 


der den Auſchein einer ſehr eigenthümlichen 


Mimicry darbietet. 


lichen Auszug ſeiner Bemerkungen bei. 


Wir fügen deshalb 
der Abbildung dieſes Cocons einen wört⸗ 


„Der Cocon,“ ſagt er, „iſt länglich 


rund, 0,02 Meter lang, im Verhältniß 
zur Raupe ſehr klein, faſt wie Leder, in 
der Wand dick, auf der äußern Seite 
runzlig, grau, innen geglättet und dunkler 
gefärbt, an einem Ende 
abgeſchrägt, und man 
ſieht hier eine halb— 
kreisförmige Klappe 
ſich markiren, welche 
während des Puppen— 
lebens geſchloſſen, beim 
Ausſchlüpfen des 

Schmetterlings aufge— 
klappt wird. Obwohl 
der Deckel, ſo lange 
er geſchloſſen iſt, mit 
dem übrigen Cocon ein 
zuſammenhängendes 

Ganze bildet und nur durch eine dunklere 
Linie markirt wird, ſo muß er doch von 
Hauſe aus beſonders angelegt ſein und nur 
durch wenig Geſpinnſtmaſſe und Klebſtoff 
mit den angrenzenden Rändern des Cocons 
verbunden worden ſein. Letzterer hängt in 
wagerechter Lage an der untern Seite eines 
Blattes oder Aſtes, ſo daß der aufgeklappte 
Deckel nach unten gekehrt iſt. An der 
dem Boden zugewandten Coconſeite ſieht 
man vier im Quadrat ſtehende runde Löcher, 
ſie führen in kleine Höhlungen, welche 
zwiſchen der äußeren, helleren, und der in— 
neren, dunkleren Wand der Coconſchicht ge— 


Cocons von Aides Amanda Cramer. 


J. Anſicht von unten, uneröffnet. 
II. Seitenanſicht mit geöffnetem Deckel. 


getrennt und können nicht als Luftlöcher 
angeſehen werden. . . . . .. Den Aufbau 
dieſes ſonderbaren Cocons denke ich mir 
folgendermaßen: Zuerſt ſpann die Raupe 
an der Unterſeite des Blattes aus grauen 
Fäden einen mit den vier Löchern verſehe— 
nen Cocon, die äußere helle Schicht. Dann 
wurde die Wand von innen her durch eine 
zweite, vielleicht nur in Folge eines ſtär— 
keren Zuſatzes von 
Klebſtoff dunkler ge— 
färbte Lage verdickt. 
Das Thier baute die 
innere Schicht zwar 
über die vier Löcher 
hinweg, nahm jedoch 
jetzt auf den Deckel 
Rückſicht, indem es 
ſeine kunſtvolle Be— 
feſtigung durch Grat 


und Nuth anlegte. 
e Sehr ähnliche 
Geſpinnſte wie die 


von Amanda, vielleicht dieſelben, hat ſchon 
Moritz ( Wiegmann's Archiv, 1836, 
S. 303) beſchrieben. Er ſagt: „Kleine 
weißgraue Cocons an Stämmen der im— 
merblühenden Roſen- und Weingelände 
ſind von ſo unregelmäßiger, runzliger Ge— 
ſtalt, daß ſie Auswüchſe, durch einen Cy- 
nips hervorgebracht, oder Klümpchen geſell— 
ſchaftlicher Ichneumon-Geſpinnſte zu fein 
ſcheinen, wozu vollends noch vier tiefe kleine 
Löcher in der Oberhaut des Geſpinnſtes 
ſelbſt das Auge des Entomologen täuſchen, 
der nur noch die Hülle kleiner Inſekten— 


Geſpinnſte darunter vermuthet.“ Und in 


der That, im erſten Augenblick weiß man 


nicht recht, ob man eine von den Inſaſſen 
verlaſſene, runzlige, holzige Galle, oder 
ein von Schlupfwespen durchbrochenes, alſo 
leeres Blattwespen-Cocon vor ſich hat. 
Verſchiedene Perſonen, denen ich die Ge— 
ſpinnſte zeigte, waren der Meinung, Schma— 
rotzer hätten dieſelben durchlöchert. Da die 
Inſekten ihren Cocon wohl in den meiſten 
Fällen ſymmetriſch bauen, ſo wurden auch 
die Löcher in dieſer Weiſe angelegt. Die 
Cocons ſcheinen jedoch meiſt in wagerechter 
Lage an der Unterſeite eines Blattes oder 
Aſtes befeſtigt zu ſein, ſo daß man nur 
zwei Löcher wahrnimmt, wodurch die Sym— 
metrie wieder verwiſcht wird und die Täuſch— 
ung um ſo beſſer gelingt. . . . .. An 
einen Luftaustauſch iſt bei dieſen Löchern 
gar nicht zu denken, denn die Höhlungen, 
in die ſie führen, werden durch die ſehr 
feſte, pergamentartige, innere Schicht vom 
Hohlraum des Cocons geſchieden, und dann 
wäre es ja auch nur nöthig geweſen, die 
Coconwand an dieſer Stelle ſchwächer an— 
zulegen, ohne die vier Hohlräume. Selbſt 
die Annahme, daß die Oeffnungen nur 
während der erſten Zeit des Verſpin— 
nens dem Thiere Luft zuführten, iſt un— 
haltbar, denn man kann dann mit Recht 
wieder fragen, wozu dienen die Hohlräume 
und warum bedarf dieſe Raupe der Luft- 
zufuhr, während andere, welche ebenfalls 
einen feſten, pergamentartigen Cocon bauen, 
und gleichfalls einen großen Körper im 
Verhältniß zur Geſpinnſthöhlung beſitzen, 
dieſelbe nicht nöthig haben? Wir müßten 
alſo bei Amanda, wären die Oeffnungen 
des Luftzutritts wegen da, einen von ihren 
nächſten Verwandten, den übrigen Cochlio— 
poden-Raupen, abweichenden inneren Körper— 
bau annehmen, was doch wohl nicht gut 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 87 


denkbar iſt; daß jedoch eine Raupe von derbare Einrichtung erklären können.“ 


inneren Theilen in Zuſammenhang ſtehen, 


ihren nächſten Verwandten durch ihre Ge— 
wohnheiten, ſo weit dieſe nicht mit den 


ſehr verſchieden ſein kann, liegt auf der 
Hand. — Bei der Annahme einer Luft- 
zufuhr ſtehen die vier Höhlungen alſo un— 
erklärt da. Nehmen wir jedoch eine Nach— 
ahmung an, ſo haben die Hohlräume ihren 
guten Grund, ja ſie ſind unentbehrlich, 
denn die vier Löcher mußten in dunkle 
Höhlungen führen, ſollten ſie den Schein 
erwecken, daß der Cocon bereits durchbohrt 
ſei, indem ſo die innere, die Höhlungen 
von dem Raume im Cocon trennende Wand 
dem Auge des Beſchauers aus Lichtmangel 
verborgen bleibt. Daß vier einfache, die 
ganze Dicke der Geſpinnſtwand durchboh— 
rende Löcher dem Thiere durch eindringende 
Näſſe und kleine Inſckten nachtheilig ge— 
weſen wäre, iſt wohl klar. . . . .. Hätte 
die Raupe durch einen ſchwarzen Farbſtoff 
ſtatt der Löcher ſchwarze Flecken angelegt, 
wie man an einem Hauſe ſchwarze Schein— 
fenſter anbringt, ſo wäre die Wirkung bei 
Weitem nicht eine ſo ſtarke; auch hätte die 
Speicheldrüſe der Raupe erſt dahin ge— 
bracht werden müſſen, dieſen ſchwarzen 
Stoff abzuſondern, was wohl mit größe— 
ren Schwierigkeiten verknüpft geweſen wäre, 
da es ſich um die Umwandlung eines in— 
nern Organs handelt, als den Kunſttrieb 
der Raupe dahin zu lenken, daß ſie die 
vier Höhlungen baut. — Es mußte alſo 
ein geſchloſſener Cocon mit dem vollſtändi— 
gen Eindruck eines durchlöcherten hergeſtellt 
werden, und dieſes Problem iſt wohl aufs 
Einfachſte und Schönſte gelöſt. — Mag 
man ſich nun für Naturzüchtung oder für 
eine treibende und lenkende Kraft entſchei— 
den, in beiden Fällen wird man nur durch 
die Annahme einer Nachahmung dieſe ſon— 


88 


„Eriogaster catax und lanestris, 
die gleichfalls gedeckelte Cocons bauen, 
laſſen nach Esper und Ratzeburg 
(Forſtinſekten, 1840, II. S. 134) ein 
Loch in ihrem Cocon, doch vermuthe ich, 
daß dieſes die Geſpinnſtwand ebenfalls nicht 
durchbohrt, ſondern auch in eine kleine 
Höhlung führt, welche von dem Innern 
des Cocons getrennt iſt, alſo kein Luftloch 
vorſtellt, wie Esper meinte, ſondern nur 
dazu dient, den Feinden die Meinung bei— 
zubringen, der Cocon ſei leer; auch glaube 
ich wohl, daß Vögel, durch die Erfahrung 
belehrt, die von Schlupfwespen durchbohr— 
ten, alſo leeren Inſektengehäuſe nicht an— 
rühren und hier durch Nachahmung ge— 
täuſcht werden.“ 


Dr. Pizarro's Batrachichthys. 


Im erſten Bande (Jahrgang 1876) 
eines neuen braſilianiſchen Journals für 
Naturkunde (Archivos do Museu Nacio— 
nal do Rio de Janeiro) wird auf Seite 
31 unter dem Titel: „Nota descriptiva 
de uno pequeno animal extremamente 
curioso e denominado Batrachichthys“ 
ein Waſſerthier beſchrieben, welches der 
Verfaſſer des Artikels, Dr. Pizarro, für 
ein höchſt merkwürdiges Mittelglied zwiſchen 
den Fiſchen und Fröſchen betrachtet und 
der beſonderen Aufmerkſamkeit Dar win's, 
Haeckel's und anderer Vertreter der Ab— 
ſtammungslehre empfiehlt. Wenn dieſe 
„Uebergangsform“ nun auch gerade nicht viel 
lehrreicher ſein ſollte, als andere Kaulquappen 
auch, ſo geben wir doch eine Copie ſeiner 
Abbildung, an deren Treue zu zweifeln 
keine Urſache vorliegt, weil ſie das Fiſch 
ſtadium der Fröſche jedenfalls ſehr ein— 
dringlich vorführt. Wir ſchließen uns näm— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


lich unbedingt der Meinung von Mr. S. 
W. Garman?) an, daß Dr. Pizarro 
die Larven einer wahrſcheinlich neuen Art 
des „Trugfroſches“ aus Paraguay beſchrie⸗ 
ben hat, und daß dieſer paradoxe Geſelle 
alſo ſeinem Namen wieder einmal Ehre 
gemacht hat. 

Die Trugfröſche, von denen einige 
Arten auch in Südeuropa vorkommen, zeich— 
nen ſich nämlich dadurch aus, daß ſie in 
ihrer Jugend einen unförmlichen Fiſchſchwanz 
mit ſich umherſchleppen, wie Horaz ſagt: 
„desinit in piscem rana formosa superne“, 
welche Unzier fie erſt ſehr ſpät abwerfen, um 
dann bedeutend verjüngt, als zierlich gewachſene 
Froſchjunker und- Damen dazuſtehen, denen 
Niemand ihre ehemalige, ſcheußliche Zwitter— 
und Drachengeſtalt anſieht, wie die nach— 
ſtehende Figur einer kleineren Art im aus— 
gebildeten Zuſtande zeigt. Der Umſtand, daß 
die älteren Fröſche bedeutend kleiner ſind, 
als die jungen Larven, aus denen ſie her— 
vorgehen, hat von der erſten Entdeckung 
derſelben an, die merkwürdigſten zoologiſchen 
Träumereien erzeugt. Durch einige nieder— 
ländiſche Sammler in Surinam hatte ſich 
zuerſt Albert Seba einige Exemplare, ſo— 
wohl des ausgebildeten (herangewachſenen 
darf man hier nicht ſagen) Froſches, als der 
großen Larven mit und noch ohne Beinen 
verſchafft. Indem er nun die kleineren 
Exemplare mit den größeren verglich, kam 
er zu dem ſehr verführeriſchen Schluſſe, 
daß die Entwickelung hier nicht, wie bei 
den anderen Fröſchen, vorwärts, ſondern 
rückwärts, d. h. in umgekehrter Folge vor 
ſich gegangen ſei, daß das Thier nämlich 
als Froſch geboren würde, dann einen 
Schwanz bekäme, endlich die Beine abwerfe 
und ſchließlich ein Fiſch werde. Seba 
theilte ſeine Vermuthungen und Zeichnungen 

) The American Naturalist. Oct. 1877. 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Fig. 1 und 2. Dr. Pizarro's Batrachichthys. 


Fig. 3 und 4. Pseudis minuta. 


90 


dem Fräulein Maria Sibylle von Merian 
mit, welche darnach den Froſchfiſch (Rana 
piseis), wie ihn alſo auch Seba getauft 
hatte, in der zweiten Ausgabe ihres ſchö— 
nen Buches über die Verwandlung der 
Surinam'ſchen Inſekten (und Fröſche), welche 
erſt zwei Jahre nach ihrem (1717 erfolgten) 
Tode erſchien, beſchrieben hat. Man er— 
kennt leicht, daß die ſorgfältige Beobachterin 
den Jackie, wie ihn die Eingeborenen Su— 
rinams nennen, nicht mit eigenen Augen in 
ſeiner Entwickelung beobachtet hat, wie 
z. B. die Surinam'ſche Wabenkröte, die 
ſie ausgezeichnet beſchrieb. Sonſt würde 
ihre Beſchreibung der Entwickelung wohl 
nicht viel anders ausgefallen ſein, als die— 
jenige eines anderen ſurinam'ſchen Froſches, 
die ſie ebenfalls zuerſt gegeben hat: — — 
— „eenige dagen dar na krygen je 
bogen, nog wat laater krygen ſe voeten 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


van achter, acht dagen daar na krygen fe 
nog twee voeten van vooren, de haar uit 
te huit barſten, vier voeten hebbende, dan 
rot haar den ſtart af, en zyn alſo Kik— 
vorſchen, en loopen uit het water land— 
waarts in 4 

Später hat Seba in feinen Thesau- | 
rus (1734 J. tab. 78) ebenfalls in einer 
Reihe von Abbildungen dargeſtellt, wie ſich 
dieſer Froſch allmälig in einen Fiſch ver- 
wandelt. Auch Lin ns hatte anfangs nebſt 
andern Naturforſchern den Rana piseis 
angenommen, aber in der zehnten Ausgabe 
ſeines Systema Naturae (1758 —59) ſtrich 
er den Fiſch und nannte das Thier wegen 
des ſonderbaren Größen-Rückgangs in ſeiner 
Verwandlung Rana paradoxa. Wagler 
trennte 1830 die Gattung wegen ihrer Be 
ſondernheiten von ihren nächſten Verwand- | 
ten, den Waſſerfröſchen, und nannte ſie in An— 
betracht der Irrthümer, zu denen ſie ihre erſten 
Biographen verführt hatte, Trugfroſch 


fangenſchaft und unter ſonſt ungünſtigen 
Verhältniſſen, häufig vorkommt. Dr. Jeffries 


(Pseudis), ein Name, der wie wir ſahen, 
ſeine volle Berechtigung noch einmal im Jahre 
1876 darthat. Daß der Froſchfiſch oder 
Batrachichthys des Dr. Pizarro allem 
Anſcheine nach derſelben Gattung angehört, 
erkennt man leicht bei einer Vergleichung 
der Larve mit der vorſtehend abgebildeten, 
ausgewachſenen Pseudis-Art. Wie dieſe hat 
ſie vorn — um mit Fräulein von Merian 
zu ſprechen, — Kikvorſchen-voeten und 
hinten Eenden-voeten d. h. mit Schwimm— 
haut verbundene Zehen, und, was das merk— 
würdigſte Erkennungsmerkmal der Gattung 
Pseudis iſt, der Daumen ihrer Hände iſt 
den andern Fingern, wie bei einer Men— 
ſchenhand, gegenübergeſtellt, was ihnen beim 
Umherklettern gewiß vorzügliche Dienſte 
leiſtet. Vielleicht, jo bemerkt Mr. Garman, 
dem wir in dem Mitgetheilten vielfach ge— 
folgt find, iſt die Täuſchung des Dr. Pi- 
zarro dadurch befördert worden, daß die 
Larve des Trugfroſches aus Paraguay be— 
ſonders lange in ihrem „Fiſchſtadium“ 
verharrt, wie dies, namentlich in der Ge— 


Wyman ſoll beiſpielsweiſe den Ochſen— 
froſch ſieben Jahre in der Gefangenſchaft 
im Larvenzuſtande erhalten haben, während 
in der freien Natur die Umwandlung viel 
ſchneller vor ſich geht. Auch andere Pseudis- 
Arten ſollen auffallend lange den unförmigen 
Fiſchſchwanz bewahren, und wenn ſie auch 
in keiner Weiſe als Mittelformen zwiſchen 
Fiſch und Froſch zu betrachten ſind, haben ſie 
jedenfalls das Verdienſt, die phylogenetiſchen 
Lehren mit beſonderer Augenfälligkeit in 
ihrer perſönlichen Entwicklung darzuthun. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Die fogenannten pſeudo elektriſchen 
Organe der Bitterfifche. 


Bekanntlich hatte Darwin die elek— 
triſchen Fiſche als ſeiner Theorie beſondere 
Schwierigkeiten darbietend betrachtet,“) aber 
je genauer dieſe Thiere unterſucht werden, 


um ſo mehr verlieren ſie für die Anti- 


Darwinianer an Intereſſe. Beſonders waren 
es die ſogenannten pſeudo⸗elektriſchen Organe, 


welche zuweilen für ſich, zuweilen neben 


anerkannt elektriſch wirkſamen Organen (3. B. 
im Schwanze der Zitterrochen) vorkommend, 
ein vollkommen zweckloſes und unerklärliches 
Daſein zu führen ſchienen. Zwar hatte 
ſchon früher J. Stark die Angabe ge— 
macht, daß man auch, wenn man einen 
Zitterrochen am Schwanze ergreife, einen 
Schlag erhalte, und Ch. Rolin glaubte 
die elektriſche Wirkung auch dieſes Organs 
nachgewieſen zu haben, allein Matteucci 


und Du Bois-Reymond, die ſich jo 
genau mit den elektriſchen Fiſchen beſchäftigt 


haben, wollten höchſtens ganz ſchwache 
Ströme von dieſen Organen ausgehend 
bemerkt haben, unfähig als Schlag empfun— 
den zu werden. Bei anderen Rochen— 
Gattungen, die ganz analog gebaute Organe 
beſitzen, leugnete man jede elektriſche Wirk— 
ung. Nun hat aber Profeſſor Babuſchin 
aus Moskau den Nachweis geliefert, daß 
von den ſogenannten „pſeudo ⸗elektriſchen“ 
Organen der Mormyrus-Arten ganz an— 
ſehnliche Ströme ausgehen.“) Er nahm dieſe 
Verſuche auf, weil ihm bei einem früheren 
Aufenthalte in Aegypten einer ſeiner Leute 
verſichert hatte, einen elektriſchen Schlag 


) Kosmos Band I. ©. 255. 
) Du Bois Reymond's 
Phyſiologie, 1877. Heft 3. 


Bi... 


Archiv für 


9 


von einem Mormyrus-oxyrhynchus er— 
halten zu haben. In Ermangelung eines 
Galvanometers oder eines Froſchſchenkels 
benutzte Profeſſor Babuſchin einen Krö— 
tenſchenkel zum Nachweis, als er zuerſt in 
Oberägypten eines größeren Fiſches dieſer 
Gattung habhaft wurde. „Um keine Zeit 
zu verlieren,“ erzählt er, „lagerte ich den 
Kröten-Iſchiadicus ohne Weiteres auf den 
Körpertheil des Fiſches, wo die elektriſchen 
Organe ſich finden und ſah zu meiner Be— 
friedigung, daß mein Krötenſchenkel während 
fünf Minuten fortwährend hüpfte. Der 
Fiſch regte ſich dabei nicht. Als ich den 
Iſchiadicus auf andere Theile des Körpers, 
welche den Muskeln entſprechen, legte, hörten 
die Zuckungen auf.“ Es iſt bemerkenswerth, 
daß der Strom nicht ſoweit auf dem Kör— 
per des Mormyrus ſich verbreitet, wie es 
bei Malapterurus der Fall iſt. Wenn 
der Iſchiadicus auf die Schwanzfloſſen ge— 
legt wird, bekommt man noch Zuckungen, 
entfernt man ihn aber nach oben, um nicht 
mehr als 1 Centimeter vom Organe, ſo 
hören die Zuckungen auf. Aehnliche Ver— 
ſuche in vielfach abgeänderter Form wurden 
mit demſelben Erfolge mehrfach an ver— 
ſchiedenen Arten von Mormyrus angeftellt, 
nur bei M. eyprinoides, bei welchem die * 
Organe ſehr klein ſind, blieb derſelbe aus. 
Auf Grund dieſer Verſuche und da ſich 


Herr Babuſchin ſchon früher mit ähn— 


lichem Erfolge von der Wirkſamkeit des 
kleineren Organes im Schwanze der Zitter— 
rochen überzeugt hat, hält er ſich nunmehr 
für berechtigt zu erklären, daß es pſeudo— 
elektriſche Organeüberhauptnicht 
giebt, ſondern nur kleinere und ſchwächere 
Schläge austheilende, neben deu gefürchte— 
ten, größeren. 


Literatur und Kritik. 


Eine „Philoſophie der Technik“. 


ON Syſtems gerathen iſt, der windet 
900 ſich ſelbſt mit dem beſten Willen 
nicht mehr ſo leicht davon los. 


der ſtrammen Disciplin des dialektiſchen 
Taktſchrittes entzogen hat, behält immer noch, 
wenn ihn auch andere Kräfte nach einer 


anderen Richtung ziehen, eine ſtarke Ten- 
denz bei, ſich im Takte von Theſis, Anti- 


theſis und Syntheſis, An-Sich, Außer— 
Sich und An- und Für-Sich zu bewegen. 
Der trügliche Schein, mit dieſen dialektiſchen 
Purzelbäumen wirklich einen Fortſchritt im 
Erkennen und Begreifen zu machen, iſt jo 
ſtark, daß ihm ſelbſt die bedeutendſten 
Geiſter, wie z. B. Viſcher, nur allmälig 
entronnen ſind. Ein eclatautes Beiſpiel 
dieſes unwiderſtehlichen Zaubers, der in 
der dialektiſchen Vermittelung und ideellen 
Uebertäubung der Gegenſätze liegt, begeg— 
nete mir einſt in Berlin. Ein junger ſtreb— 
ſamer Mann hatte bei Z. Pſychologie ge— 
hört, der, im Einklang mit der modernen 
Betrachtungsweiſe ſich alle Mühe gegeben 
hatte, zu zeigen, daß zwiſchen den molecu— 


Auch der 
Gedankengang deſſen, der mit der Zeit ſich 


Illuſtrationen in Holzſchnitt. 


den pſychiſchen Proceſſen eine totale Differenz 
ſtattfinde. Der Zuhörer, der unglücklicher— 
weiſe bei dem autodidactiſchen Beginn ſeiner 
Studien auf Hegels Encyclopädie geſtoßen 
war, beklagte ſich aber darüber, daß ſein 
Lehrer es ganz verſäumt habe, Natur und 
Geiſt dialectiſch zu vermitteln. 

An dieſes Beiſpiel wurde ich bei der 
Lectüre der Schrift erinnert, welche den Au— 
laß zu dieſem Aufſatze abgiebt. Ich will 
damit nicht von vornherein ein ungünſtiges 
Vorurtheil gegen das Buch erwecken: ich 
wollte nur die allgemeine Richtung anzeigen, 
welcher daſſelbe angehört. Der Titel der 
Schrift iſt ſpannend: „Grundlinien 
einer Philoſophie der Technik. 
Zur Entſtehungsgeſchichte der Cultur aus 
neuen Geſichtspunkten. Von Ernft Kapp. 
Mit zahlreichen in den Text gedruckten 
Braun⸗ 
ſchweig, Weſtermann, 1877.“ Der 
Verfaſſer gehört einer in philoſophiſchen 
Kreiſen wohlbekannten althegeliſchen Familie 
an und hat lange Zeit in Amerika gelebt, wo 
er, wie aus dem Philosophical Journal 
hervorgeht, viel für die Einbürgerung des 
deutſchen Gedankens gethan hat. Der täg— 
liche Anblick der in Amerika ja zu ſo 
dominirender Blüthe gelangten techniſchen 
Induſtrie mochte in ihm den Gedanken er— 


laren Vorgängen der äußeren Natur und wecken, auch dieſes Gebiet mit dem Schling— 


Literatur und Kritik. 93 


werk dialectiſcher Begriffsentwicklung zu 
umſpinnen. Wahrlich, eine merkwürdige 
Verſchmelzung der abſtracte Hegelianer 
Arm in Arm mit dem concreten Techniker, 
und eine frappante Tendenz das mecha— 
niſche Gebiet der Maſchinenlehre teleologiſch 
zu deduciren! 

Doch — entwickeln wir in Kürze den 
Grundgedanken des Werkes. Was iſt der 
verſprochene „neue Geſichtspunkt?? Der 
Verfaſſer verfehlt nicht, uns denſelben recht 
oft darzulegen: K. geht aus (S. 28) vom 
„idealen Gebiet der teleologiſchen Welt— 
anſchauung, welche am ſelbſtbewußten 
Menſchen Beginn und Ziel der kosmiſchen 
Entwicklung mißt.“ Das Selbſtbewußtſein 
entzündet ſich dadurch, „daß das Wiſſen 
von einem Aeußeren zu einem Wiſſen von 
einem Innern umſchlägt“ (23). Zur 
Außenwelt gehören aber vor Allem auch alle 
künſtlich vom Menſchen geſchaffenen Cultur— 
producte (24). Auch dieſe und vor Allem 
dieſe dienen dazu, die Selbſterkenntniß 
des Subjects zu fördern. Sollen ſie aber 
dies können, ſo müſſen ſie eben ſo be— 
ſchaffen ſein, daß aus ihnen das reflecti— 
rende Subject ſich ſelbſt erkennen kann. 
Alſo muß das Subject unbewußt ſeine 
leiblichen Organe in einer ſtofflichen Nach— 


bildung aus ſich hinausverſetzen, dann kann 
es den Mechanismus zum Verſtändniß des 


Organismus rückwärts verwenden (119). 
Dieſes Princip nennt der Verfaſſer die 
„Organprojection“, ein „bisher unbeachtet 
gebliebenes wiſſenſchaftliches Princip“ 
(82). Seine eigentliche Tendenz iſt, zu 


zeigen, daß der Menſch in allen Werkzeugen, 
Geräthen, Maßen, Inſtrumenten, Appa— 
raten, Architecturwerken, Maſchinen, in der. 
Sprache und im Staat ſich ſelbſt und 
ſeine Organe projicirt habe, um vermittelſt 
der ſo unbewußt als Nachbilder geſchaffenen 


Artefakte rückwärts ſich ſelbſt zu erkennen 
und zum Selbſtbewußtſein zu gelangen. 
Dieſes Princip der Organprojektion wird 
als ein erklärendes Prineip einge— 
geführt (z. B. 203). Natürlich erfordert 
dieſe Hypotheſe als Hilfsannahme das un— 
bewußte Walten des Inſtinkts: „Dieſes 
urſprünglichk Begleitetfein der Maſchinen— 
bildung vom Unbewußten . . . . erklärt 
die Uebereinſtimmung der Artefakte theils 
der Form nach mit einzelnen Organen, 
theils den kinematiſchen Vorgängen nach“ 
u. ſ. w. Sehen wir nun zu, wie dieſes 
Princip im Einzelnen durchgeführt wird. 
In die urſprünglichen Werkzeuge hat der 
Menſch die Formen ſeiner Organe verlegt 


und projicirt; die Werkzeuge ſind alſo un— 
bewußt geſchaffene Nachbilder, denen die 
Organe zu Vorbildern dienen. Dieſer Ab— 


ſchnitt (40 — 67) iſt mit intereſſantem und 


fleißig geſammeltem, ſprachlichem Material 


illuſtrirt, durch das nachgewieſen wird, daß 
der Menſch die primitiven Werkzeuge mit 
Namen ſeiner Organe belegte. (Es laufen 
dabei jedoch manche Ungenauigkeiten unter: 
z. B. iſt die Bemerkung [40], daß das 
Wort „Organon“ im Griechiſchen zunächſt 
ein Körperglied, ſodann deſſen Nachbildung, 
das Werkzeug, bezeichne, eine Umdrehung 
des wirklichen Verhältniſſes: opyavov 
heißt vielmehr urſprünglich Werkzeug, und 
erſt relativ ſehr ſpät erfolgte die Uebertrag— 
ung auf die menſchlichen Glieder; es läßt 
fi) ſogar exakt nachweiſen, daß dieſe Ueber— 
tragung erſt von Plato gemacht wurde, 
wie ſich der Verf. Theaetet 184 D. über⸗ 
zeugen kann.) Es findet alſo eine unbe— 
wußte Uebertragung der Form und der 
Bewegungsgeſetze des Organs auf die me— 
chaniſche Verrichtung ſtatt, um eine rück— 
bezügliche Verwendung des Mechanismus 
zur Erklärung des Organismus zu ermög— 


94 


lichen. Darum fpielen, ſagt der Verf. S. 65, 
in der Mechanik der Skeletbewegungen Aus- 
drücke wie Hebel, Charnier u. ſ. w. eine 
angeſehene Rolle. So iſt das Weſen der 
Projektion ein Proceß fortſchreitender, meiſt 
unbewußter Selbſtentäußerung des Sub— 
jekts (67). Unter den zahlloſen Beiſpielen 
müſſen wir diejenigen hervorheben, die der 
Verf. ſelbſt beſonders auszeichnet. Die 
Conſtruktion der Camera obscura iſt das 
von dem Organ aus unbewußt projicirte 
mechaniſche Nachbild deſſelben, mittelſt deſſen 
Unterſtützung die Wiſſenſchaft nachträglich 
in die Vorgänge der Geſichtswahrnehmung 
hat eindringen können (81). Die achro— 
matiſche Vorrichtung an Fernröhren (die 
Zuſammenſetzung des Objektivs aus zwei 
Prismen, um die Farbenerzeugung an den 
Rändern des Bildes zu verhindern) iſt 
ebenſo eine unbewußte Projektion deſſen, 
was in unſerem Auge durch die Verbind⸗ 
ung der Linſe mit dem Glaskörper erreicht 
iſt (83). Dies iſt für den Verf. ein 
„glänzendes Beiſpiel der Organprojektion“. 
Das Monochord, das Klavier u. ſ. w., 
dieſe von Menſchenhand aus Stücken zu— 
ſammengeſetzten Mechanismen, welche in 
auffallendſter Uebereinſtimmung mit einem 
organiſchen Gebilde, dem Ohr und ſeinen 
Einrichtungen, ohne die geringſte Kennt— 
niß von deſſen Funktionen, conſtruirt 
werden konnten (93), ſind ſpätere Nach— 
bildungen der unbewußten Vorbilder. Jede 
andere Möglichkeit des Zuſtandekommens 
iſt ausgeſchloſſen (90); das Corti'ſche Or- 
gan iſt nicht nur „gleichſam“ ein Saiten— | 
inſtrument, ſondern hier waltet die Bezieh- 
ung realer Ab- und Nachbildung. Wir 
müßten weit den uns zur Verfügung ſtehen— 
den Raum überſchreiten, wollten wir auch 
nur die als auffallend vom Verf. bezeich— 
neten Beiſpiele aufzählen. Nur noch einige 


Literatur und Kritik. 


Fälle, welche die Anſicht beſtätigen ſollen, 
daß das mechaniſche Produkt der Technik 
ein durch das vom unbewußten Inſtinkt 
geleitete Subjekt nachgeſchaffenes Abbild des 
Organiſchen ſei. Die Anordnung der 
Knochenſubſtanz iſt das bisher unbekannte 
Vorbild für gewiſſe Werke der Architektur. 
Das Netz der Blutgefäße iſt das organiſche 
Vorbild des Eiſenbahnſyſtems. Der Tele— 
graph iſt ein Nachbild des Nervenſyſtems. 
Das charakteriſtiſche Merkmal der Organ— 
projektion iſt das unbewußte Vorſichgehen, 
(141); da die Erfinder der elektriſchen Te— 
legraphie nicht den bewußten Vorſatz ge— 
habt haben, die Nerven plaſtiſch genau nach— 
zuconſtruiren, ſo — nun ſo war es „das 
Unbewußte“. Der leibliche Organismus iſt 
das allgemeine Ur- und Muſterbild aller 
beſonderen Formen der Maſchinentechnik; 
die machinale Kinematik iſt die unbewußte 
Uebertragung der organiſchen Kinetik ins 
Mechaniſche, und das Verſtehenlernen des 
Originals mit Hilfe der Uebertragung wird 
bewußte Aufgabe der Erkenntnißlehre. Der 
goldene Schnitt, das Proportionsgeſetz des 


menſchlichen Körpers, wird unbewußt auf 


die meiſten Artefakte, z. B. die amerikaniſche 
Axt, die Violine u. ſ. w. übertragen. So 
ſind alle Artefakte ohne Ausnahme Nach— 
gebilde unterſchiedlicher organiſcher Bezirke, 
Sprache und Staat aber ſind Ab- und 
Nachbildungen des Geſammtorganismus; 
der leibliche Organismus iſt das Urbild 
echten Staatslebens. 

So ſehr wir nun auch den großen 
Aufwand an Geiſt anerkennen, mit dem 
die vorgetragenen Gedanken ausgeführt ſind, 
und obgleich die Schrift in einem noch näher 
zu bezeichnenden Sinne ein werthvoller 
und ſchätzenswerther Beitrag iſt, ſo wür— 
den wir doch uns nicht ſo ausführlich auf 
dieſelbe hier eingelaſſen haben, wenn es 


a 


nicht opportun erſchiene, wieder einmal an 
einem Beiſpiel zu zeigen, welche Kluft zwi— 


ſchen Wiſſenſchaft und Dichtung, 
dere die Maſchinen und wiſſenſchaftlichen 


zwiſchen cauſaler und teleologiſcher 
Anſchauung beſteht.“) Gerade der be— 
ſtechende Reiz, mit dem die Theorie des 


Verf. theilweiſe vorgetragen iſt, könnte da- 


zu verführen, in dem Grundprincip eine 


wirkliche „causa vera“ zu ſehen. Sichten 
der elektriſche Apparat haben bekanntlich 


wir nun ſtreng die Thatſachen, die „actuelle 
Empirie“, wie der Verf. S. 124 ſelbſt 
ſagt, d. h. alſo die reine unverfälſchte Er— 

) Wir vermögen hier dem Herrn Recen— 
ſenten nicht beizuſtimmen, wenn er den Gegen— 


ſatz von Wiſſenſchaft und Dichtung mit dem 


der Teleologie und Ateleologie vermiſcht. 


Faßt man jede einheitliche Zuſammenziehung 


von Thatſachen, d. h. jede erklärende Syntheſe, 
als Dichtung auf (wie Alb. Lange wollte), 


ſo giebt es gar keine Wiſſenſchaft ohne 


ſyntheſirende Dichtung. Denn es giebt keine 
bloße Analyſe ohne eine logiſch geforderte 
Syntheſe. Der Fehler aber, den der Teleo— 
loge begeht, iſt der, daß er die zur Syntheſe 
hintreibende Idee nicht als bloßes Regu— 
latev, ſondern als mitwirkende Ur- 
ſache unter der Conſtellation der cauſalen 
Kräfte betrachtet. Dies ſetzt Recenſent im 
Folgenden richtig auseinander (ſiehe unten); 
aber er vergißt, daß ſehr viele menſchliche 


Kunſtprodukte eine Art von Dichtung und 
Entſtehung bekunden, bei denen die Abficht,' 


einer beſtimmten Idee nachzukommen, in ſe— 
cundärer Weiſe jo zu jagen mitwir— 
kend wird. Hierin unterſcheiden ſich die 
Kunſtprodukte von den reinen Naturproduf- 
ten. Man muß ſich daher vor zwei Fehlern 
hüten: Erſtens ſoll man nicht, durch falſche 
Analogien verleitet, die Natur zu einem 
bloßen Kunſtprodukt geſtalten wollen (ein 
Fehler, dem Herr Kapp offenbar ſehr nahe 
kam), aber man darf auch, wie Recen— 
ſent uns zu verabſäumen ſcheint, nicht ver— 
geſſen, den gegebenen Zuſammenhang zwiſchen 
Natur und Kunſt (Sein und Denken ꝛc.) und 
die hier waltenden Aehnlichkeiten anzudeuten. 
Anmerk. der Redaktion. 


Literatur und Kritik. 


hört dieſer reale Zuſammenhang ſchon auf 


| 


fahrung von dem Hypothetiſchen, jo bleibt 


als empiriſcher Reſt die Thatſache, daß 
Artefacte im weiteſten Sinne, alſo insbeſon— 


Apparate und Inſtrumente, einen bedeut— 
ſamen Beitrag zur theoretiſchen Erklärung 
des Organismus geliefert haben: die Camera 
obscura, die Linſe, die Daguerrotypie, die 
Claviatur, die Pumpe, die Dampfmaſchine, 


zur Erklärung des Auges, des Ohres, der 
Herzthätigkeit, des Organismus überhaupt 
und insbeſondere ſeiner Nervenfunktionen 
nicht wenig beigetragen. In dieſen Fällen 
iſt der Zuſammenhang des mechaniſchen 
Gebietes mit dem organiſchen unbeſtritten 
und als neueſtes Beiſpiel können wir die 
durch die Grundgeſetze der Architektur, ins— 
beſondere der Druck- und Zuglinien er— 
möglichte Erklärung der inneren Anordnung 
der Knochenſubſtanz anreihen. Dagegen 


und wird zu bloßer ſpieleriſcher Analogie 
bei der Sprache und beim Staat; die 
Sprache iſt nach der Auffaſſung moderner 
Forſcher, insbeſondere Steinthals, kein 
Organismus, und die organiſche Auffaſſung 
des Staates iſt trotz Plato und Schäffle 
noch nicht zur Anerkennung gelangt. Von 
„den beiden Richtungen der Organprojektion“ 
müſſen wir alſo die zweite ſtrikte als Faktum 
anerkennen, daß nämlich der Mechanismus 
zum Verſtändniß des Organismus beige— 
tragen habe. Anders verhält es ſich mit 
der erſten Richtung, der ſog. Organprojektion, 
d. h. der unbewußten Hinausverſetzung der 
leiblichen Organe und ihrer Einrichtung in 
die Artefakte. Die Anſicht zwar, daß die 
Werkzeuge „eine Verlängerung der menſch— 
lichen Organe“ ſeien, iſt eine alte; allein 
zwiſchen dieſer Anſicht und der Theorie 
des Verfaſſers iſt ein himmelweiter u 


96 


ſchied; denn die letztere poſtulirt die 
Bildung der einzelnen Artefakte ſei un— 
bewußt von dem Inſtinkt geleitet geweſen, 
die Organeinrichtungen hinauszuprojiciren, 
und wohl zu merken, dies zu dem Zwecke, 
um dieſe projicirten Nachbilder rückwärts 
zur Erklärung der Vorbilder zu benutzen. 
Die größte Scheinbarkeit hat dieſe Anſicht 
noch bei den einfachſten Werkzeugen, in 
denen „die Eigenſchaften der ſchöpferiſchen 
Hand verkörpert ſind.“ Allein auch hier 
iſt der Gedanke der Projektion ein ſchiefer: 
zwar liegt direkt nichts Unwahres darin, 
wenn der Verf. ſagt (43): „Der geſtreckte 
Zeigefinger mit ſeiner Nagelſchärfe wird 
in techniſcher Nachbildung zum Bohrer; die 
einfache Zahnreihe findet ſich wieder an 
Feile und Säge, während die greifende 


Hand und das Doppelgebiß in dem Kopf 


der Beißzange und den Backen des Schraub— 
ſtockes zum Ausdrucke gelangt.“ Allein 
die Erklärung dieſer Uebereinſtimmung und 
die Conſequenzen, die der Verf. daraus 
zieht, können wir nicht anerkennen; anſtatt 
einer unbewußten und den oben beſchriebenen 
Zweck verfolgenden Projektion ſehen wir 
darin nichts weiter, als theilweiſe eine be— 
wußte Nachahmung der Organe, theilweiſe 
aber eine für das findende Subjekt zufällige, 
objektiv aber ganz natürliche und nothwendige 
Uebereinſtimmung, für welche wir die An— 
nahme des Waltens eines Unbewußten 
überflüſſig und darum falſch finden. Vollends 
aber geht dieſe Erklärung in die Brüche 
bei den complicirteren Apparaten; daß der 
Erfinder der achromatiſchen Einrichtung am 
Fernrohr, der Pumpe, der architektoniſchen 
Geſetze, des Monochords unter der Leitung 
des Unbewußten geſtanden habe und dadurch 
die Erklärung des Auges, des Herzens, 
der Knochenſubſtanzanordnung und des 


Literatur und Kritik. 


das iſt eine Annahme, die ſich mit unſerer 
Logik nicht verträgt. Selbſt wenn aber 
die Artefakte unbewußt von den organiſchen 
Einrichtungen beeinflußt geweſen wären, 
— was aber eben geleugnet wurde — 
iſt doch noch die Verbindung beider Reihen 
der Nachbildung des Organiſchen im Me— 
chaniſchen, und der Erklärung des erſteren mit 
Hülfe des letzteren, eine teleologiſche Willkür, 
die mit wiſſenſchaftlicher Erklärung nichts 
zu thun hat. Was Lamarck (vgl. Kosmos, 
Band J. S. 142) in anderer Hinſicht jagt: 
daß nämlich die Harmonie, die zwiſchen 
der Organiſation und den Gewohnheiten 
der Thiere exiſtirt, uns zwar als vorbe— 
dachtes Reſultat erſcheine, faktiſch aber blos 
ein nothwendig herbeigeführtes Reſultat ſei; 
dies gilt auch mutatis mutandis von un— 
ſerem Falle. 

Es gibt zweierlei Auffaſſungsweiſen 
der Weltvorgänge. Man fragt einmal nach 
der Complication derjenigen Antecedentien, 
deren Zuſammenwirken einen Effekt hin— 
reichend beſtimmt. Wie eine mathematiſche 
Aufgabe, ſo kann auch dieſe Frage im 5 
einzelnen Falle auf zweierlei Weiſe gelöſt 
werden, ſynthetiſch und analytiſch. Man 
ſucht entweder direkt nach den Antecedentien 
einer gegebenen Erſcheinung, und als ſolche 
gelten nur phyſiſche Vorgänge, im vor— 


liegenden Fall zuſammen mit pſpchiſchen 


Prozeſſen, bei denen aber nur individuelle 
Regungen eine Rolle ſpielen können, kein 
ſogenanntes „Unbewußtes“ da dieſes im 
Hartmann'ſchen Sinne von der Philoſophie 
nicht anerkannt werden kann; oder man 
denkt ſich die betreffende Erſcheinung als 
Aufgabe, als Zweck, und fragt rückwärts, 
welche Bedingungen mußten vorhanden ſein, 
im Falle man dieſes Ergebniß herbeiführen 
wollte? So kann man z. B. fragen: falls 


ein aufrechtgehender Organismus hervor— 


Cortiſchen Organs habe ermöglichen wollen, 


gebracht werden ſollte, welche Vorbedingungen 
mußten dazu erfüllt werden? So kann ja 
der Mathematiker eine Aufgabe entweder 
direkt zu löſen verſuchen, oder er kann 
ſich dieſelbe gelöſt denken, und dann rück— 
wärts aus der Löſung ſich die Operationen 
conſtruiren, welche zur Herbeiführung jener 
Löſung nothwendig ſind. Mit dieſer zweiten 
Methode der cauſalen Erklärung beſitzt nun 
die andere Anſchauungsweiſe, die teleologiſche, 
eine äußerliche Aehnlichkeit; allein während 
der cauſale Erklärer ſich das Produkt als 
eine Aufgabe denkt, deren Löſungsbe— 
dingungen er ſucht, denkt ſich der Teleologe 
die Wirkung als den objektiv gewollten 
Zweck und führt dieſen Zweck ſelbſt als 
ein cauſales Erklärungsprincip ein. 
Es liegt durchaus nichts Unwiſſenſchaftliches 
darin, ſich zu fragen: Welche Bedingungen 
mußten erfüllt werden, damit der Menſch 
ſeinen eigenen Organismus erkennend be— 
greifen könnte? Die Antwort wird lauten: 
Es mußten zuvor die mechaniſchen Grund— 
begriffe und Einrichtungen bekannt werden, 
ehe der Menſch ſeinen complicirten Mecha— 
nismus begreifen konnte. Allein die Teleologie 
und damit die Dichtung beginnt, wenn man 
das Begreifen des Organismus durch die 
Mechanismen nun ſelbſt als ein cauſales 
Erklärungsprincip einführt, welches 
das Entſtehen und Schaffen jener Mecha— 
nismen begreiflich machen ſoll. Man kann 
Niemand verwehren, die Sache ſo anzuſehen, 
als ob dieſe Uebereinſtimmung eine vorbedachte 
und anfänglich gewollte geweſen ſei — es 
drängt ſich ſogar dieſe Betrachtungsweiſe 
ſelbſt dem unbefangenſten Forſcher ſehr 
häufig auf — allein man muß es ent- 
ſchieden zurückweiſen, daß jene Betrachtungs— 
weiſe zur Erklärung im Einzelnen 
herbeigezogen wird. Der point de vue des 
Verfaſſers, die teleologiſche Betrachtungs— 


Kosmos, Band III. Heft 1. 


Literatur und Kritik. 


kann 


97 


weiſe, entſteht, wie er ſelbſt ſagt (81), durch 
eine einfache Umkehrung des natürlichen 
Verhältniſſes. Es iſt ſchon zum ſo und ſo 
vielten Male ſeit Leibnitz und Kant den 
wiſſenſchaftlichen Arbeitern eingeſchärft wor— 
den, daß das teleologiſche Princip kein Er— 
klärungsprincip der Dinge ſei; und doch 
muß man dieſe einfache Wahrheit immer 
wiederholen, welche Kant trefflich dahin 
formulirte, daß alle Teleologie nur ein re— 
gulatives, kein conſtitutives Ele— 
ment der Wiſſenſchaft ſein könne. Man 
ſchlechterdings auch nichts dagegen 
haben, die Welt und ihre Geſchichte gleich— 
ſam verkehrt anzuſchauen und alles Spätere 
als Zweck des Früheren zu betrachten — 
dies iſt eben einfach eine Durchlaufung der 
Reihe vom anderen Ende aus; allein den 
Zweck als ein neben den cauſalen Wirk— 
ſamkeiten noch mitarbeitendes Prin— 
cip zu betrachten und ihn als Glied in 
die Cauſalkette einzureihen, dagegen muß 
immer von neuem proteſtirt werden. Dieſe 
teleologiſche Anſchauungsweiſe, welche glück— 
lich durch Kant ihren Ort angewieſen er— 
hielt, hat nun neuerdings durch die ſchlechte 
Hypotheſe eines neben der Cauſalität noch 
wirkſamen Unbewußten ein greifbares 
Subſtrat erhalten, welches der Verfaſſer der 
vorl. Schrift anerkennen zu müſſen glaubte. 
Zu welchen ſeltſamen Reſultaten er dadurch 
gekommen iſt, indem er von dieſem falſchen 
Princip aus eine verkehrte Methode befolgte, 
ſahen wir ſchon oben. Es wären Beiſpiele 
genug aufzuzählen, wo ſeine Methode in 
die Brüche geht. Was hat z. B. die ver⸗ 
meintliche Erkenntniß des Staates als eines 
organiſch gebauten Ganzen zur Erklärung 
des menſchlichen Organismus beigetragen? 
was etwa der Thermometer oder Baro— 
meter? Und die einfache Conſtatirung der 
Identität des Baues einer Maſchine mit 


13 


1 


0 


98 


dem Bau des menſchlichen Organismus ſcheint 
uns ebenſowenig der Organprojektion zu be— 
dürfen, als die Conſtatirung der Identität 
der Gravitation mit der Schwere durch 
Newton. Man kann, wenn man will, das 
Hegel'ſche Schema, daß der Geiſt ſich ſelbſt 
in der Natur entäußere, um ſich aus ihr mit 
ſich ſelbſt zu vermitteln, auch auf die Technik 
anwenden, fo lange man ſich bewußt iſt, 
daß man damit eine teleologiſche Betrach' 
tungsweiſe anwendet, mit der nichts, auch 
gar nichts erklärt wird; allein die Ent* 
ſtehungsgeſchichte der Cultur von 
dieſem Geſichtspunkte aus zu ſchreiben, ſcheint 
uns ein verkehrtes Unternehmen, weil die 
wirklichen Urſachen, wie fie z. B. Ty lor 
und Hellwald aufzuſuchen beſtrebt ſind, 
dadurch in den Hintergrund gedrängt werden. 
Die myſtiſche Intervention des Unbewußten, 
welches in jedem einzelnen Falle die Hand 
des Erfinders geleitet haben ſoll, iſt als 
ein nicht-wiſſenſchaftliches Princip 
zurückzuweiſen. Wenn wir nun trotz der 
Anſicht, daß das eigentliche Princip des 
Verfaſſers und ſeine darausfließende Methode 
verkehrt ſei, die Schrift deſſelben zur Lek— 
türe empfehlen, ſo geſchieht dies deßhalb, 
weil dieſelbe mit Geiſt, wenn auch nicht 
immer mit kritiſcher Auswahl geſchrieben 
iſt. Trotz vieler Willkürlichkeiten und ge— 
ſuchter, bizarrer Aeußerungen (was ſoll z. B. 
heißen: der Geiſt ſei Selbſtdefinition?) iſt 
doch die Zuſammenſtellung derjenigen me— 
chaniſchen Gebiete, welche zur Erklärung 
des Organismus dienen, eine dankens— 
werthe Arbeit. Vom Standpunkt der ein— 
heitlichen Weltanſchauung auf Grund der 
Entwicklungslehre aus, wie vom Stand— 
punkte der Methodologie und des Criticis— 
mus aus müſſen wir aber den „neuen 
Geſichtspunkt“ des Verf. als einen princi— 
piell verkehrten bezeichnen: die Nachblüthe 


Literatur und Kritik. 


der Hegel'ſchen Dialectik und der 
Schelling'ſchen Naturphiloſophie findet 
in unſerer nüchternen und kühlen Zeit keinen 
Anklang. 


Straßburg. H. Vaihinger. 


Ein Buch über die Zoologiſche 
Philoſophie des 19. Jahrhunderts. 


Unter den wenigen bedeutenderen Wer— 
ken von wiſſenſchaftlichem Werthe, welche 
in jüngſter Zeit in Italien veröffentlicht 
wurden, nimmt jedenfalls das des Bolog— 
neſer Profeſſors Dr. Siciliani über die 
zoologiſche Philoſophie unſeres Jahrhunderts 
den hervorragendſten Platz ein. Sowohl 
Charles Darwin als Prof. Haeckel 
haben ſich dem Verfaſſer gegenüber brief— 
lich in anerkennendſter Weiſe über ſein Buch 
geäußert; es dürfte daher auch den weiteren 
Kreiſen der Leſer des Kosmos von Intereſſe 
ſein, wenn wir denſelben im Nachfolgenden 
einen gedrängten Ueberblick über den Inhalt 
der Siciliani'ſchen Arbeit geben, die 
der großen Tagesfrage: „wie iſt das Thier— 
reich entſtanden und wie hat ſich daſſelbe 
entwickelt“ gewidmet iſt. Um uns dieſen 
Ueberblick zu verſchaffen, können wir aber 
nichts Beſſeres thun, als der trefflichen 
Kritik zu folgen, welche Profeſſor S. 
Tommaſi aus Neapel vor Kurzem in 
der Rivista Europea über das vorliegende 
Werk veröffentlichte, und durch die den Leſern 
zugleich einer der älteſten und tüchtigſten 
Verfechter der Evolutionstheorie in Italien 
in der Perſon des Herrn Kritikers vor— 
geführt wird. 

Das ganze Buch Sicilianis beſteht 
aus Dialogen, die während ſechs 
Tagen von den Gründern 


und noch 


Literatur und Kritik. 99 


lebenden Vertretern der Wiſſenſchaften und 
Philoſopheme gehalten werden. Die Dia— 
logform iſt vielleicht unglücklich gewählt und 
jedenfalls am Wenigſten geeignet, um ſolch' 
gewichtige Gegenſtände, wie ſie die heutige 
philoſophiſche Zoologie in ihren Bereich 
zieht, vor einem größeren Publikum zu 
deſſen Belehrung zu beſprechen, doch iſt es 
trotzdem der Gewandtheit des Verfaſſers 
gelungen, dieſe Schwierigkeit faſt gänzlich 
zu überwinden und uns ein oft treffendes 
Bild der weltbewegenden Probleme zu 
entrollen. 

Vor allem war es natürlich nöthig, 


daß der Autor uns einen hiſtoriſchen Ueber- 
blick der Entſtehung und Entwickelung der 


verſchiedenen Theorien über den Urſprung 
der Species verſchaffte. Dies thut er in 
den erſten beiden „Tagen“ ſeiner Dialoge. 
Nach ihm ſollen ſich die biologiſchen 
Doktrinen unter drei große typiſche Cate— 
gorien vertheilen, die in Frankreich von 
Cuvier, Lamarck und Geoffroy 
St. Hilaire repräſentirt werden. Die 
Doktrin des erſteren gründet ſich auf den 
Begriff freier Schöpfung und wird durch 
Bedingung der Unveränderlichkeit der Spe- 
cies zum orthodoxen Dogmatismus. Sici— 
liani zeigt uns in Thatſachen die In— 
conſequenzen der Theorie, die mit ihren 
wiederholten Schöpfungen und auf einander 
folgenden Erdrevolutionen allen natürlichen 
Schlüſſen Hohn ſpricht. 

Der Cuvier ſchen Schule ſtellt er 
die Lamarck' ſche und Geoffroy'ſche 


gegenüber. 
„Für mich“ — bemerkt Dr. Tommaſi 
an dieſer Stelle — „iſt Lamarck der 


Vorläufer und wirkliche Gründer des Evo— 
lutionismus im Gebiete der organiſchen 
Wiſſenſchaften und es ſcheint mir, daß man 
ſeine Doktrin in folgenden drei großen 


Principien zuſammenfaſſen kann. 1) Die 
innere und natürliche Differenzirung der 
Species; 2) der Einfluß der phyſiſchen 
Umgebung, der ſich die Thiere fügen müſſen; 
3) die funktionelle Nothwendigkeit, welche 
die Organe nach dem Zweck der Funktion 
ſelbſt modificirt.“ Die beiden erſten Punkte 
hat Siciliani wohl verſtanden und klar 
dargeſtellt. Doch hätte er bei denſelben und 
ganz beſonders bei der dritten Idee länger 
verweilen müſſen, denn dieſelben ſind zum 
Verſtändniß der Umwandlung der lebenden 
Formen gar zu wichtig; auch bedarf der 
Darwinismus — der moderne Transformis- 
mus — der Ergänzung durch die La- 
marck'ſchen Ideen, um ſich zur Höhe 
einer ſtarken und wahrhaft philoſophiſchen 
Doktrin zu erheben. 

Die Geoffroy he Theorie ſtellt er 
als Bindungsglied zwiſchen der Cuvier'- 
ſchen und Lamarck'ſchen hin, unter 
Angabe der Geoffroy 'ſchen Ideen über 
die mögliche Veränderlichkeit in der embryo- 
genetiſchen Entwickelung, und erzählt den 
Kampf zwiſchen Geoffroy und Cuvier, 
wobei er die berühmte Theorie der Ana- 
logen erwähnt und den Geoffroy'ſchen 
Begriff der Analogie dem der Homo- 
logie der heutigen Morphologiſten zu 
nähern ſucht. Der „zweite Tag“ iſt eine 
Weiterentwickelung des erſten. Siciliani 
will in derſelben darthun, daß in allen 
drei Schulen oder Richtungen eine pro- 
greſſive Evolution ſtattgefunden hat und 
läßt dabei den gelehrten Littré mit der ihm 
eignen Fertigkeit die Geſchichte der zoolo⸗ 
giſchen Philoſophen Frankreichs von den 
Vorgängern Lamarck's an vortragen. 
Hier ſpricht der Verfaſſer dann auch von 
der Entwickelung jener drei Richtungen in 
Deutſchland. In einem ſpäteren Capitel 
kommt er auf den hier nur vorüber— 


100 


gehend in Betracht gezogenen Id ealis— 
mus zurück. 

Im „dritten Tage“ geht er von der 
Geſchichte der Syſteme zur Kritik der 
Theorien über, wobei er hauptſächlich be— 
zweckt, die Nothwendigkeit und große Wich— 
tigkeit der taxonomiſchen Forſchung in der 
ganzen Naturphiloſophie zu zeigen, einer 
Forſchung, die um wiſſenſchaftlichen Werth zu 
beſitzen, die organiſchen Beziehungen ſtudiren 
und beſtimmen und dieſe beſonders vom Ge— 
ſichtspunkt der vergleichenden Morphogenie 
betrachten muß. Hier treten neue Perſön— 
lichkeiten, wie Schiff, Moleſchott und 
Montegazza auf und der Dialog wird 


lebhaft, geiſtreich und wirklich dramatiſch. 


Die meiſten Fragen werden nur im Fluge 
aufgeworfen und berührt; überhaupt iſt 
dieſes Capitel größtentheis nur ein geiſt— 
reiches Geplauder, das uns mehr amüſirt 
und intereſſirt, als belehrt. 

Der vierte, fünfte und ſechſte 
Tag bilden den wichtigſten Beſtandtheil 
des Buches. Ein jeder dieſer Tage iſt 
in zwei Abſchnitte getheilt. Im erſteren 
wird uns eine gegebene Theorie von einem 
ihrer tüchtigſten Vertreter dargeſtellt, wäh— 
rend in dem zweiten Abſchnitte die 
Kritik derſelben den Gegnern anheimfällt. 
Dadurch entſteht ein lebhafter und ſtets 
zunehmender Kampf, der ſich in ganz dra— 
matiſcher Weiſe entwickelt. Hierbei hat der 
unpartheiiſche Verfaſſer, der ſich ſehr wohl 
in den Discutenten zu perſonificiren ver— 
ſteht, ein glänzendes Zeugniß ſeines Scharf— 
ſinns und ſeines vielſeitigen Wiſſens ab— 
gelegt. 

Im vierten Tage ringen z. B. zwei 
der tüchtigſten Athleten der Wiſſenſchaft mit 
einander, Huxley und Milne Edward«s. 
Letzterer als Cuvierianer, vertheidigt die 


Principien ſeiner Schule, deren von Cuvier 


tapferen, 


Literatur und Kritik. 


gelegte Baſis faſt unverändert bleibt, wäh— 
rend er andererſeits die Methoden zu ver— 
beſſern und in Einklang mit den neuen 
Entdeckungen der Wiſſenſchaft zu bringen 
ſucht. Dagegen zeigt der große engliſche 
Gelehrte mit feiner und ſtrenger Analyſis 
die Fehler und Widerſprüche der Neocuvie— 
rianiſchen Theorie. Der Dialog zwiſchen 
dem unverſöhnlichen Immutabiliſten und 
dem nicht mehr verſöhnlichen Transformiſten 
wird ſo treffend, der Kampf ſo heiß und 
gewaltig, daß ſchließlich der zweite (Hu x— 
ley) unter wuchtigen Hieben den, wenn auch 
aber ſeinen Halt verlierenden 
Gegner niederſtreckt. 

In den beiden andern Tagen geht 
es ähnlich zu. Im fünften tritt der kühne 
Haeckel auf, um die taxonomiſchen Tafeln 
des Transformismus zu erklären und zu 
vertheidigen; er führt die Darwin'ſche 
Theorie bis zu den äußerſten Conſequenzen 
und vervollſtändigt ſie ſyſtematiſch, gegen 
ihn erheben ſich Owen und Baer. 

Im letzten Tage nehmen ſchließlich zwei 
italieniſche Hegelianer, Sparenta als ſpe— 
culativer, Demeis als Naturphiloſoph, 
Theil am Kampf; ſie vertheidigen die 
Vaſis der idealiſtiſchen Zoologie, welche von 
Darwin, Gegenbaur und Anderen 
ſcharf kritiſirt und zu zerſtören verſucht wird. 

Dies ſind jedenfalls die ſchönſten „Tage“ 
des Werkes. Es iſt dem Autor gelungen, 
in denſelben die heute auf dem Gebiet der 


organiſchen Wiſſenſchaft kämpfenden, ver— 


ſchiedenen Schulen in meiſterhafter Weiſe 
zu perſonifiziren. Es iſt natürlich un⸗ 
möglich, auch nur im Fluge den Inhalt 
dieſes zweiten Theiles anzudeuten; der Leſer, 
dem das Buch aufs Wärmſte empfohlen wer— 
den kann, wird darin anregende und unter— 
haltende Belehrung finden; die verſchiedenen 
naturphiloſophiſchen Doktrinen, die ſich unter 


Literatur und Kritik. 


unſern Augen bekämpfen, ſind darin mit 
einer Lebhaftigkeit, Wahrheit und gewiſſen— 
haften und exakten Kritik behandelt, die dem 
Verfaſſer alle Ehre machen. Vielleicht hätte 
Siciliani, der das Buch durchaus nicht 


für Gelehrte und Eingeweihte allein ge- 


ſchrieben, bei der Darſtellung der Theorien, 
zu deren Verſtändniß ſo manche techniſchen 
Kenntniſſe erforderlich ſind, durch Beifüg— 
ung von erklärenden Noten ſeinem Werke 


einen größeren Leſerkreis verſchafft und auch 
mehr Intereſſe unter ſeinen Landsleuten für 


| 
| 


die großen, weltbewegenden, naturphiloſo- 
die geſchichtliche Erkenntniß, indem ſie Ent— 
Das Werk ſchließt ein Epilog, wo 


phiſchen Fragen wachgerufen. 


der Verfaſſer nochmals auf alle ſechs Tage 
zurückgreift und die Discuſſionen überſicht— 
lich zuſammenfaßt, um, die reine Kritik 
verlaſſend, verſchiedene eigne Schlüſſe an— 
zudeuten, die er in einer weiteren Arbeit 
auszuführen gedenkt. Dieſe Schlüſſe je— 
doch, die auf eine vermittelnde, faſt 
verſöhnende Theorie hinlenken zu wollen 
ſcheinen, finden durchaus nicht den Beifall 
des Dr. Tommaſi, der vom poſitiven 
Darwiniſtiſchen Standpunkte aus die Si— 
cilianiſche Annahme einer unbeſtimmten 
ſpontanen Thätigkeit, einer gleichzeitig razio— 
nellen und irrazionellen, anſcheinend imma— 
teriellen Kraft, welche teleologiſch die Thier— 
welt aufbaute, unbedingt als unlogiſch und 
unphiloſophiſch zurückweiſen muß: denn man 
würde durch eine ſolche Annahme einfach 
wieder zum offnen Dualismus zurückkeh— 
ren. Den poſitiven Naturphiloſophen, zu 
denen ſich auch wohl Siciliani rechnet, 
bleibt nichts anderes übrig, als in der 
Natur zu verweilen, wenn ſie ihren Prin— 
cipien logiſch folgen; alsdann brauchen 
| wir nicht lange mehr im Zweifel darüber 
zu bleiben, zu welcher von den drei Schulen 
ſie ſich bekennen werden. 


11 


101 


Dr. S. Günther, Studien zur Geſchichte 
der mathematiſchen und phyſikaliſchen 
Geographie. Heft 1 und 2. Halle, 
Nebert 1877. | 

In neueſter Zeit macht ſich ein lebhaftes 
Streben geltend, die einzelnen Wiſſenszweige 
in ihrer geſchichtlichen Entwickelung darzu— 
ſtellen und wir ſind überzeugt, daß es ein 
ſehr heilſames Streben iſt. Erſt die wiſ— 
ſenſchaftliche Erkenntniß des Entwickelungs— 
ganges einer Wiſſenſchaft führt zum rich— 
tigen Verſtändniß und zur völligen, ge— 
rechten Würdigung derſelben. Zugleich iſt 


ſtehung und Löſung von Problemen, die 


Wege und Ziele der Forſchung in ver— 


gangenen Zeiten darlegt, gewiß von an— 
regendem Einfluß für die gegenwärtige 
Forſchung auf dem betreffenden Gebiete. 
Wenn deshalb überhaupt Werke, die ſich 
die geſchichtliche Behandlung der Wiſſen— 
ſchaften zur Aufgabe machen, mit Freude 
zu begrüßen ſind, ſo iſt dies bei vorliegen der 
Arbeit ganz beſonders der Fall, da auf 
dem Gebiete, das ſie behandelt, nur Mo— 
nographien, aber, wenn wir nicht irren, 
keine, das Ganze umfaſſenden Werke exiſtiren. 
Dieſes Gebiet iſt die Geſchichte der exacten 
(mathematiſch-phyſikaliſchen) Erdkunde. 
Der Verfaſſer beabſichtigt in einer Reihe 
zwangloſer Abhandlungen die Geſchichte der 
Hauptprobleme der exacten Erdkunde dar- 
zuſtellen und hat in den beiden erſten Heften 
die zwei Fundamentalwahrheiten derſelben 
in ihrem geſchichtlichen Entwickelungsgange 
im Mittelalter vorzuführen unternommen. 
Das erſte Heft beſchäftigt ſich mit dem 


chriſtlichen Abendlande, das zweite Heft mit 


den Hebräern und Arabern. Die zwei 
Fundamentalwahrheiten, die hier behandelt 
werden, ſind natürlich die Kugelgeſtalt und 
der Bewegungsmodus unſeres Planeten. 


| 102 


Auf dieſen zwei Wahrheiten beruht nicht 
nur die ganze Erdkunde, ſondern die ganze 
Weltanſchauung; insbeſondere die Lehre 
von der Erdbewegung, die den Standpunkt 
der Erde im Weltraume anweiſt und den 
geocentriſchen Irrthum verbannt hat, iſt 
hier von eminenter Bedeutung. Die Stellung, 
die Zeiten und Menſchen zu dieſen beiden 
Problemen einnehmen, iſt deshalb nicht blos 
für ihre geographiſche, ſondern auch für 
ihre kulturgeſchichtliche Beurtheilung von 
großem Werthe und deshalb hat gerade 
die geſchichtliche Behandlung dieſer beiden 
Lehren ein weitgehendes Intereſſe. Die 
Entwickelung derſelben im Mittelalter vor— 
zuführen, iſt aber ſpeciell dankenswerth, 
weil über ſie weit weniger allgemein be— 
kannt iſt, als über die des Alterthums. 

Der erſte Theil, welcher die Entſtehung 
und Entwickelung der Lehre von der Erd— 
rundung und Erdbewegung vorführt, ſteht 
mit den beiden anderen der Sache nach 
kaum in einer Verbindung. Dieſer Ent— 
wickelungsgang iſt ein iſolirter, er ſteht 
nicht im Zuſammenhang mit dem der Se— 
miten und Araber, auch nicht mit denen 
der Griechen. Was den Umfang des vom 
Verfaſſer behandelten Zeitraumes betrifft, 
ſo iſt der Anfang deſſelben die Zeit der 


kirchenväterlichen Omnipotenz, das Ende 


natürlich Nicolaus Kopernikus. Man kann 
die vorliegende Arbeit gewiſſermaßen als 
Fortſetzung zu dem bekannten Werke von 
Schiaparelli betrachten. 

Der Verfaſſer ſchildert zunächſt jene 
erſte Epoche der mittelalterlichen Erdkunde, 
die er mit Drapes ſehr treffend „pe— 
triſtiſche Geographie“ nennt, jene Epoche 
der abenteuerlichen Theoſophie, zu deren 
unbedeutendem Anhängſel die Erd- und 
Weltkunde gemacht wurde. 

Ein Mann, der zuerſt an der Tra— 


Literatur und Kritik. 


dition zu rütteln wagte, der Biſchof Vir— 
gilius von Juvavo, wird von dem 
Verfaſſer der Vergeſſenheit entriſſen. Der 
entſchiedene Aufſchwung der Erdkunde fällt 
in das zehnte und elfte Jahrhundert. Im 
13. Jahrhundert war die richtige Lehre 
von der Erdrundung bereits tief einge— 
drungen; der Verfaſſer beſpricht die Schrift 
„Imagine du Monde“ und das Werkchen 
von Sacro Bosco, welches der Lehre 
von der Kugelgeſtalt zum durchſchlagenden 
Erfolge verhalf. Von großem Intereſſe iſt 
die klare und überſichtliche Darſtellung der 
Anſichten Dante's, der über die Kugel— 
geſtalt die allerklarſten Vorſtellungen be— 
ſaß und den Irrlehren ſeiner Zeit ent— 
gegentrat. Im Gegenſatz zu Dante zeigt 
der Verf. wie Columbus irrige Anſichten 
über die Erde hatte, wie er durch That— 
kraft und Muth, nicht aber durch wiſſen— 
ſchaftliche Einſicht zum Ziele kam. Seit 
dem 16. Jahrh. fand die Kugelgeſtalt keine 
ernſtlichen Gegner mehr. Der Verf. ſchließt 
hiermit die geſchichtliche Darſtellung des 
einen Problems und wendet ſich zu dem 
noch wichtigeren zweiten, dem der Erd— 
bewegung. Zunächſt hebt der Verf. hervor, 
daß vor dem dreizehnten Jahrhundert keine 
Vorläufer der reformatoriſchen That des 
Kopernikus zu ſuchen ſind. Bei den Scho— 
laſtikern, von denen der Verf. mit Recht 
ſagt, daß ſie bei allen Extravaganzen doch 
immer einen großartigen Charakter zeigen, 
ſind die erſten Spuren einer Verbeſſerung 
der aſtronomiſchen und geographiſchen Lehren 
zu ſuchen. Der Verf. führt uns nun die 
Anſichten von Albertus Magnus, 
Roger Bacon's und Thomas v. Aquin 
vor und zeigt, daß ſie bezüglich der Lehre von 
der Erdbewegung nicht weiter kamen. Von 
großem Intereſſe iſt die ausführliche Dar— 
ſtellung der Anſichten Dante's; die Ana— 


Literatur und Kritik. 


lyſe ſeiner Trilogie zeigt die Unmöglichkeit, 
ihn als einen Vorläufer des Kopernikus 
anzuſehen. Dante ſteht hier ganz auf dem 
Boden ſcholaſtiſcher Denk- und Forſchungs— 
weiſe. Nun führt uns der Verf. in ein- 
gehender Weiſe einen Mann vor, der ein 
hervorragender Vorläufer moderner Phi⸗ 
loſophie und Wiſſenſchaft iſt: den Cardinal 
Nicolaus von Cuſa. Der Verf. macht 
es ſich zur Aufgabe, die gerechte Würdigung, 
die dieſem tiefſinnigen Denker durch neuere 
Forſchungen zu Theil wurde, weiteren Kreiſen 
vorzuführen. Nicolaus Chryphs (Krebs) 
aus dem Erzſtift Trier war ein ſcharfer Denker 
und durchaus nicht ohne gediegenes Wiſſen. 
Er ſpricht der Erde ihre abſolut centrale 
Stellung ab und ſetzt ſie als Stern mit den 
anderen Himmelskörpern auf gleichen Fuß. 

Clemens hat ein Dokument veröffent— 
licht, welches völligen Aufſchluß darüber 
giebt, wie Nicolaus von Cuſa ſich die 
Bewegung der Erde dachte. Der Verf. 
druckt den intereſſanten Text ab und giebt 
wichtige Erläuterungen zu dieſem „kosmo— 
logiſchen Glaubensbekenntniſſe.“ Es ergiebt 
ſich klar, daß der Cardinal die Rotation 
der Erde formell correkt ausgeſprochen und 
die himmliſchen Erſcheinungen mathematiſch 
richtig erklärt hat. Der letzte große For— 
ſcher vor Copernikus, den uns der Verf. 
ſchildert, iſt Leonardo da Vinci, be— 
kanntlich eines der größten Genies aller 
Zeiten, der, wie auf ſo vielen anderen Ge— 
bieten, auch auf dem der mathematiſchen 
Geographie Hervorragendes leiſtete und ſich 
hauptſächlich im Jahre 1510 mit dem 
Probleme der Erdrotation beſchäftigte. 

Hiermit ſchließt der Verfaſſer ſeine 
Darſtellung, aus der hervorgeht, daß vor 
Kopernikus nur von einer Rotation der 
Erde, aber gar nicht von einer Bewegung 
um die Sonne die Rede war. 


103 


Das zweite Heft giebt die geſchicht— 
liche Behandlung derſelben Probleme bei 
Arabern und Hebräern. Die Dar- 
ſtellung der Leiſtungen der Araber bildet 
den zweiten Abſchnitt der ganzen Arbeit. 
Zunächſt weiſt der Verf. auf den Gegen— 
ſatz zwiſchen Arabern und Decidentalen hin, 
der darauf beruht, daß die Erſteren griechiſche 
und indiſche Bildungselemente in ſich auf— 
genommen hatten und deshalb die Lehre 
von der Kugelgeſtalt von Anfang an rich— 
tig erfaßten. Der Verf. führt dann einige 
wichtige arabiſche Mathematiker und Aſtro— 
nomen vor und zeigt, wie ſie die erſte geo— 
graphiſche Grundwahrheit gründlich zu er— 
faſſen verſtanden. Vor allem hebt er die 
äußerſt wichtige Breitengradmeſſung unter 
dem Chalifen al Mamun hervor. 

Nun wendet ſich der Verfaſſer zu einem 
Kapitel, dem bislang noch nirgends eine 
ſyſtematiſche Behandlung zu Theil gewor— 
den. Es ſoll eine Analyſe derjenigen Ar— 
beiten liefern, die nicht ſtreng ſachgemäßen, 
ſondern mehr populären Inhaltes und 
für weitere Kreiſe beſtimmt waren. Die 
Ausführung dieſes Abſchnittes iſt ſehr ver— 
dienſtlich und intereſſant. 

Der zweite Theil der Unterſuchung be— 
handelt die Lehre von der Erdbewegung. 
Was zunächſt die tägliche Rotation betrifft, 
ſo war bei den Arabern keine feſtſtehende 
und ausgebildete Theorie darüber vorhan— 
den, aber doch eine Hypotheſe oder Vor— 
ahnung dieſer Lehre. Der Verf. führt eine 
Anzahl Stellen an, welche dies bezeugen; 
insbeſondere führt er einen kurzen Artikel 
von Sprenger an, der das intereſ— 
anteſte Zeugniß darlegt, das einem Lehr— 
buch der arabiſchen Schulphiloſophie ent— 
nommen iſt. 

Der Verf. wendet ſich ſchließlich zur 
Betrachtung derjenigen arabiſchen Forſcher, 


104 


welche in unbewußter Vorahnung der Lehre 


von der Bewegung der Erde um die Sonne 


das herrſchende ptolemäiſche Syſtem an— 
griffen. Er beſpricht den Bitrogi oder 
Alpetragius und andere, hebt dann den 
Philoſophen Abu Bekr Ibnal Cayeg, 
einen Zeitgenoſſen des Maimonides her— 
vor, der bisher von der mathematiſch— 
geſchichtlichen Forſchung nicht beachtet worden 
iſt, und ſchließt die Betrachtung der ſpaniſch— 
islamitiſchen Refombewegung gegen das 
ptolemäiſche Syſtem mit der Schilderung 
der Leiſtungen des Königs Alphons X., 
der eine großartige aſtronomiſche Encyflo- 
pädie herausgab, aber zu keinem Reſultate 
kam. Aus Allem ergiebt ſich, daß die 
Araber in der Erkenntniß des zweiten 
Grundproblems nicht viel erreicht haben. 

Der dritte Abſchnitt behandelt die 
Hebräer. Die Lehre von der Kugel— 
geſtalt der Erde habe ſchon zur Zeit Chriſti 
bei vielen gebildeten Juden feſtgeſtanden, 
meint der Verf., giebt aber zu, daß erſt 
für das nächſte Jahrhundert ein Beweis 
exiſtire. Jedoch ſcheint uns auch dieſer 
nicht ganz evident; denn daß von der Größe 
der Erde nach Paraſangen die Rede iſt, 
dürfte vielleicht nicht unbedingt die Vor— 
ſtellung der Kugelgeſtalt involviren. Das 
nächſte Zeugniß, das der Verfaſſer anführen 
kann, fällt bedeutend ſpäter, es iſt eine geo⸗ 
graphiſche Schrift des Rabbi Samuel 
aus der Zeit zwiſchen 776 und 860. 
Dieſer kannte bereits die Elementarwahr— 
heiten der aſtronomiſchen Geographie. Der 
Verf. giebt ſodann eine Ueberſicht der An— 
ſichten und Lehren jüdiſcher Gelehrten ſeit 
Anfang des zwölften Jahrh. Der wichtigſte 
iſt Abraham ben Chüja, der eine 
aſtronom. Geographie und Aſtronomie ſchrieb, 


worin er die Lehre von der Kugelgeſtalt 


wiſſenſchaftlich behandelte und richtiges Ver- 


. 


Literatur und Kritik. 


ſtändniß dafür zeigt. Außer den wiſſenſchaft— 
lichen Doktrinen giebt der Verf. auch eine 
intereſſante Schilderung der Phantaſien 
und abenteuerlichen Hypotheſen des mittel— 
alterlichen Judenthums auf dieſem Gebiete. 
Es folgt nun die Betrachtung über 
die Stellung der Juden des Mittelalters 
zu dem zweiten Grundproblem. Da eine 
ſyſtematiſche Darſtellung dieſes wichtigen 
Gegenſtandes bislang nicht vorhanden war, 
ſo iſt es ſehr verdienſtlich, daß der Verf. 
eine ſolche in ihren Grundzügen zu geben 
unternommen hat. Die Zeugniſſe für die 
Lehre von der Erdrotation finden ſich merk— 
würdiger Weiſe in kabbaliſtiſchen Schriften, 
vor allem in dem Hauptwerke, dem Buche 
Sohar. Dies beſpricht der Verf. näher. 
Was die Lehre von der Bewegung der 
Erde um die Sonne betrifft, ſo haben die 
Juden darin nichts geleiſtet; ſie hielten 
conſervativ am ptolemäiſchen Syſteme feſt. 
Nur einige ſchwächere, unwichtige Abweich— 
ungen davon finden ſich; am intereſſanteſten 
iſt die Kritik des Ptolomäus von Maimo— 
nides, den der Verf. eingehend behandelt. 
Dieſer bricht aber zuletzt in die Worte aus: 
„Et c'est la une perplexite reelle.“ 
Hiermit ſchließt der Verf. dieſe Arbeit, 
die eine treffliche und vollſtändige Ueber— 
ſicht des Entwickelungsganges der aſtrono— 
miſch-mathematiſchen Geographie im Mittel— 
alter giebt. Der Verf. hat es verſtanden, 
das reichhaltige Material trefflich zu ver— 
werthen, lichtvoll anzuordnen und in ele— 
ganter anregender Darſtellung vorzuführen. 
Er hat zugleich mehrere bisher unbekannte 
Thatſachen an's Licht gezogen und den Grund 
zur ſyſtematiſchen Behandlung einiger Ge— 
genſtände gelegt, bei denen ſie bisher fehlte. 
Wir empfehlen dieſe Schrift auf's Beſte. 
W 8. 


WW 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


ER 


Das Protikenreid, 


Ernſt Haeckel. 


ſtehen will, wenn man ſich 
von der ſelbſtſtändigen Stellung des Pro— 
tiſtenreichs zwiſchen dem Thierreiche einer— 
ſeits und dem Pflanzenreiche anderſeits über— 
zeugen will, ſo muß man vor Allem den 
autonomen, unabhängigen Zellen— 
Charakter ihres Organismus gehörig 
würdigen. Bei allen einzelligen Pro- 
tiſten, die ihr ganzes Leben als „Zellen— 
Einſiedler“ zubringen, verſteht ſich das von 
ſelbſt. Aber auch bei den vielzelligen Pro— 
tiſten, bei den „Zellenhorden“, finden wir 
immer die Individualität der locker ver 
bundenen Zellen gewahrt und vermiſſen 
jene Abhängigkeit derſelben von einander 
und vom Ganzen, welche wir in dem 
wohlorganiſirten Zellenſtaate des Thier— 
und Pflanzenorganismus antreffen. 

In dieſer Auffaſſung des Protiſten— 
Organismus liegt nach unſerer Anſicht der 
Schwerpunkt ſeines Verſtändniſſes. Es wird 
daher zunächſt erforderlich ſein, den Be— 


II. 


griff der organiſchen Zelle überhaupt 
feſtzuſtellen. Dieſer Begriff hat ſeit der 
Begründung der Zellentheorie mancherlei 
Wandlungen erfahren. Gegenwärtig nimmt 
man faſt allgemein an, daß zum Begriff 
der Zelle zwei verſchiedene Beſtandtheile 
gehören. Erſtens: der eigentliche Zellen— 
leib, ein lebendiges Stückchen von weichem, 
eiweißartigem Bildungsſtoff oder Proto- 
plasma; und zweitens ein davon um— 
ſchloſſener Zellkern oder Nucleus, 
ein kleinerer, meiſt feſterer Körper, der 
ebenfalls aus einer eiweißartigen, aber vom 
Protoplasma etwas verſchiedenen Materie be— 
ſteht. Als dritter Hauptbeſtandtheil kommt 
dazu bei vielen Zellen noch eine äußere 
Umhüllungshaut oder Schale, die Zell— 
haut oder Membran. Die meiſten 
Pflanzenzellen ſind von einer ſolchen Kapſel 
oder Membran umſchloſſen: Schlauch— 
zellen. Hingegen ſind die meiſten Thier— 
zellen hautlos und nackt: Urzellen. 
Die meiſten Protiſten zeichnen ſich durch 
die Bildung ganz eigenthümlicher Kapſeln 
oder Schalen aus, welche ihrem Zellenleibe 


3 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


14 


106 


eine ſehr charakteriſtiſche und mannigfaltige 
Geſtalt geben. 

Wenn wir nun zunächſt unter unſern 
Protiſten diejenige Gattung aufſuchen, welche 
uns auf der Höhe ihrer Entwickelung die 
einfachſte Form eines ſolchen einzelligen Or— 
ganismus, gewiſſermaßen das Ideal der 
Zelle, darſtellt, ſo treten uns vor allen 
Andern die berühmten Amoeben entgegen 
(Fig. 1). Weit verbreitet in unſern ſüßen 
und ſalzigen Gewäſſern, ſind dieſelben wegen 
ihrer höchſt einfachen Bildung und ihren 
bedeutſamen Beziehungen zu anderen Zellen 
von ganz beſonderer Wichtigkeit. Die 
Amoeben ſind nackte Zellen ohne Hülle 


Fig. 1. Eine gewöhnliche Amoebe 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Fig. 2. 


und ohne beſtimmte Form. Ihr weicher 
Körper, der nur einen einfachen Zellkern 
enthält, bewegt ſich langſam kriechend im 
Waſſer umher. Dies geſchieht dadurch, daß 
eine wechſelnde Anzahl von veränderlichen, 
lappenförmigen oder fingerförmigen Fort— 
ſätzen aus beliebigen Stellen der Oberfläche 
vorgeſtreckt und wieder eingezogen werden. 
So ändern die kriechenden Amoeben immer— 
fort ihre unbeſtimmte Geſtalt. Kommen ſie 
zufällig mit kleinen Körperchen in Berührung, 
die zur Nahrung dienen können, ſo drücken 
fie dieſelben mittelſt der Bewegungen ihrer 
Fortſätze an einer beliebigen Stelle ihrer 
Körper⸗Oberfläche in dieſen hinein. 


r 


> LT 2 2. 
Freſſende, amoebenähnliche, farbloſe 


(Amoeba vulgaris) in zwei auf- 
einander folgenden Zuſtänden der 
Bewegung dargeſtellt. Im Proto- 
plasma liegt der Kern (n) und 


Blutzellen aus dem Blute einer nackten See— 
ſchnecke (Thetis leporina). Die Blutzellen 
führen in der Blutflüſſigkeit lebhafte Bewegungen 
gleich echten Amoeben aus; und gleich Letzteren 


einige fremde Körperchen (i). 


Auch kleinſte Waſſertröpfchen werden ſo 
verſchluckt. Die einzellige Amoebe kann alſo 
eſſen und trinken, ohne daß ſie Mund und 
Magen beſäße. Nachdem die Amoebe durch 
fortdauerndes Wachsthum eine gewiſſe Größe 
erreicht hat, zerfällt ihr einfacher Zellenleib 
durch Theilung in zwei Zellen. Zuerſt theilt 
ſich dabei der Kern, darauf das Proto— 
plasma. Auf dieſelbe Weiſe vermehren ſich 
auch die Zellen, welche 
Körper zuſammenſetzen, 


und von 


erſetzt werden. 


unſern eigenen 
denen 
viele beſtändig verbraucht und durch neue 
Die größte Aehnlichkeit mit 


verzehren ſie feſte Farbſtoffkörnchen. 


den Amoeben haben die farbloſen Blut— 
zellen, die milliardenweiſe in unſerm Blute 
kreiſen. Auch dieſe bewegen ſich nach 
Amoeben-Art, indem ſie ihre unbeſtimmte 
Form ändern. Auch dieſe können fremde 
Körperchen in ihr Inneres aufnehmen; wir 
können fie unter dem Mikroskop z. B. mit 
Carminkörnchen füttern, mit denen ſie ſich 
in kurzer Zeit anfüllen (Fig. 2). 

Von beſonderer Wichtigkeit für die Ent— 
wickelungsgeſchichte iſt die intereſſante That— 
ſache, daß auch die Eier der Thiere in 
ihrer früheſten Jugend nackte, formloſe 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 107 


Zellen ſind, welche Amoeben zum Verwechſeln | bei ſie ihre Form beliebig verändern (Fig. 3). 
ähnlich ſehen und gleich dieſen langſame, Bei den Schwämmen oder Spongien unter— 
| nehmen diefe amoebenähnlichen Eizellen, lang— 


unbeſtimmte Bewegungen ausführen, wo— 


Fig. 3. Jugendliche Eizellen verſchiedener Thiere, amoebenähnliche, nackte Zellen, welche 
unter langſamer Formveränderung, gleich echten Amoeben, Bewegungen ausführen. In dem 
dunkeln, feinkörnigen Protoplasma liegt ein heller, bläschenförmiger Kern, und in dieſem 
ein dunkles Kernkörperchen. — 41 — 4. Eizelle eines Kalkſchwammes (Leucon) in vier 
verſchiedenen, auf einander folgenden Bewegungs-Zuſtänden. — B1— 8. Eizelle eines 
Schmarotzerkrebſes (Chondracanthus) in acht verſchiedenen, auf einander folgenden Bewegungs— 
Zuſtänden. — 01—5. Eizellen der Katze in verſchiedenen Bewegungs-Zuſtänden. — D. Junge 
Eizelle der Forelle. — E. Junge Eizelle des Huhnes. — F. Junge Eizelle des Menſchen. 
Alle dieſe amoebenähnlichen Eizellen befinden ſich noch in der erſten Jugend: ſpäter nehmen 
ſie ſehr verſchiedene Beſchaffenheit an. 


ſam fortkriechend, oft weite Wanderungen dringlinge im Schwammkörper ſchmarotzend 

durch den Körper des Schwammes und leben ſollten (Fig. J). 

find daher früher als „paraſitiſche Amoeben“ Es giebt auch Amoeben, welche ihren 
beſchrieben worden, welche als fremde Ein- nackten Zellenleib theilweiſe mit einer ſchützen— 


— 


108 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


den Schale umgeben, und dieſe bilden die boſen. Bald ſchwitzen dieſe gepanzerten 
Gruppe der Arcellinen oder Thekolo— Amoeben eine ſchleimige Maſſe aus, welche 


Fig. 4. Amoebenähn— 
liche Eizelle eines 
Kalkſchwammes (Olyn- 
thus), weite Strecken 
im Körper des Letzteren 
fortkriechend. 


Fig. 5. Difflugia 
(oblonga), eine gepan— 
| zerte Amoebe, welche 
ihre länglich-eiförmige 
Schale (a) aus feinſten 
Sandkörnchen zuſam— 
menklebt. Aus der ein— 
fachen Mündung des Ge— 
häuſes (oder der ineru— Fig. 7. Monocystis 
ſtirten Zellmembran) tritt (agilis), eine ſchmarotzen— 
der vordere Theil des de Gregarine aus der 
weichen Zellenleibes (b) Fig. 6. Quadrula (symmetrica). Leibeshöhle des Regen— 
| mit feinen wechſelnden Eine gepanzerte Amoebe, deren wurmes. Der langge— 
Lappenfüßchen vor (e). Schale aus quadratiſchen Plättchen ſtreckte, wurmförmig ſich 
Im hinteren Theile iſt ein zierlich zuſammengeſetzt iſt. Oben bewegende Körper iſt 
heller kugeliger Kern mit liegt ein kugeliger Zellkern (n) im eine einfache Zelle mit 


| zahlreichen Kernkörper⸗ Protoplasma, unten treten mehrere feſter Haut (a), Proto- 
chen ſichtbar (d). Lappenfüßchen vor (). plasma (b) und Kern (e). 


ſofort erhärtet und mit Sandkörnchen und Bald wird die ganze Maſſe der erhärteten 
anderen fremden Körpern zu einer feſten Hülle blos von ausgeſchwitzter organiſcher 
Kruſte zuſammenbackt (Dikllugia, Fig. 5). Subſtanz gebildet, und dieſe zeigt oft eine 


& =) 


jehr zierliche Struktur, indem ſie aus ſechs— 
eckigen oder viereckigen Täfelchen zuſammen— 
geſetzt erſcheint (Arcella, Quadrula, Fig. 6). 

Alle dieſe amoebenartigen Weſen, die 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


f 


echten, nackten Amoeben und die gepanzer- 


ten, zierlichen Arcellinen, können wir als 
beſondere Klaſſe unter dem Namen Lappinge 
oder Lappenfüßler (Tobosa) zuſam⸗ 
menfaſſen, weil der auszeichnende Charakter 
dieſer einzelligen Urthiere die Bildung lappen- 
förmiger Wechſelfüßchen iſt. An ſie ſchließen 
ſich aber ganz eng die ſonderbaren Weſen 
an, welche die beſondere Gruppe der Gre— 
garinen bilden. Alle Gregarinen leben 
als Schmarotzer oder Paraſiten im Innern 
anderer Thiere und ſind gewiſſen niederen 
Würmern ſo ähnlich, daß man ſie früher 
ſelbſt als Eingeweide-Würmer beſchrieben 
hat; auch ſtimmen die wurmförmigen Be— 
wegungen ihres kriechenden Körpers ganz 
mit denjenigen gewiſſer Würmer überein. 
Trotzdem iſt ihr ganzer, ziemlich großer, 
oft mehrere Millimeter langer Körper nichts 
Anberes, als eine einfache Zelle. 
trübe, mit feinen Körnchen erfüllte Proto- 
plasma⸗Leib (b) umſchließt einen Zellkern (e) 
und iſt von einer feſten, homogenen, ſtruktur— 
loſen Hülle umgeben (a) Fig. 7. Die flüſſige 
Nahrung ſchwitzt aus den umgebenden 
Säften des bewohnten Thieres durch dieſe 
Hülle oder Zellmembran hindurch und 
dringt ſo in die Gregarine ein. Man 
kann die Gregarinen als Amoeben betrach— 
ten, welche in das Innere von anderen 
Thieren eingedrungen ſind, ſich hier an 
paraſitiſche Lebensweiſe gewöhnt und durch 
Anpaſſung mit einer ſchützenden Hülle um— 
geben haben. 

Eine ganz andere Bewegungsform, als 
die langſam kriechenden Amoeben und Gre— 
garinen zeigen uns die ſchwimmenden Fla— 
gellaten, die Geißler oder Geißel— 


Der 


zen betrachtet. 
licher Weiſe eine gelbe oder braune Farbe 
tragen, ſo werden ſie für echte Thiere er- 


109 


ſchwärmer. Dieſe intereſſanten Protiſten 
haben bis auf den heutigen Tag unter 
einem ganz eigenthümlichen Schickſal zu 
leiden. Wenn ſie nämlich das Glück haben, 
grün gefärbt zu ſein, werden ſie von vielen 
Naturforſchern unbedenklich als echte Pflan- 
Wenn ſie dagegen unglück— 


klärt; gewiß ein ſchlagendes Beiſpiel von 
der Willkür der üblichen Claſſificationen. 


Zahlreiche Formen dieſer Geißler, die auch 


oft mit dem vieldeutigen Namen der Mo— 


naden belegt werden, bevölkern das Sü ß— 
waſſer, wie das Meer, oft in unglaublichen 
Maſſen. Wenn im Frühjahr zuweilen 
plötzlich unſere Teiche ſich mit einer grünen 
Schleimdecke überziehen, ſo beruht das ge— 
wöhnlich auf der Entſtehung zahlloſer grüner 
Euglenen. Ebenſo iſt die ſeltener auf— 
tretende blutrothe Färbung der Gewäſſer, 
die zur Sage vom Blutregen, ſowie zu 
vielen abergläubiſchen Vorſtellungen und 
Hexenproceſſen Veranlaſſung gegeben hat, 
durch Milliarden rother Euglenen bedingt. 
Durch verwandte rothe Protococcus-Formen 
wird auch der rothe Schnee gebildet, der 
die Eisberge ſowohl in den Polarmeeren, 
wie auf unſeren Alpenhöhen bisweilen in 
weiter Ausdehnung blutroth färbt. 

Dieſe Protococcen und Euglenen ſind 
Einſiedler-Zellen, während andere Flagel— 
laten ſich zu kleinen Geſellſchaften zuſam— 
menthun. Sie ſchwimmen im Waſſer um- 
her mittelſt eines feinen fadenförmigen Fort- 
ſatzes, der wie eine Geißel oder Peitſche 
hin und hergeſchwungen wird (Fig. 8). 
Manche ſetzen ſich auch feſt auf dünnen 
Stielen. Außer der Geißel, ihrem Haupt— 
Bewegungsorgan, beſitzen manche Geißel— 
ſchwärmer noch einen Kranz von feinen 


Wimpern mitten um den Zellenleib; dieſe 


= — 


| 110 


Haeckel, Das 


heißen Wimpergeißler (Peridinia, 
Fig. 9). Von letzteren bilden ſich viele 


eine Kieſelſchale, die aus zwei ungleichen 
Hälften beſteht; die größere Hälfte trägt 


zwei lange Hörner, die kleinere ein Horn; 
ſchwimmen frei umher. 


Fig. 8. Phacus (longicauda). Ein Geißel— 

ſchwärmer mit einer langen ſchwingenden 

Geißel am vorderen, einem fadenförmigen 

Anhang am hinteren Ende; hinter erſterem 
ein rother Augenfleck. 


Fig. 9. Peridinium (tripus). Ein Wimper- 
geiler, deſſen dreihörnige Kieſelſchale aus 
zwei Hälften zuſammengeſetzt iſt. 
zwiſchen beiden Hälften tritt der Wimper— 
kranz und die Geißel hervor. Durch die 
Schwingungen der Geißel werden kleine 
Nahrungskörnchen dem Zellenleibe der 
Flagellaten zugeführt und an deren Baſis 
durch eine Art Zellenmund aufgenommen. 
Ihre Vermehrung geſchieht meiſtens durch 
einfache Theilung. 


Bei vielen finden wir 


Protiſtenreich. 


abwechſelnd einen frei beweglichen und einen 
Ruhezuſtand. Während des letzteren kap— 
ſeln ſie ſich ein und zerfallen innerhalb 


der Hülle in vier oder acht Zellen. Dieſe 


treten ſpäter aus der Kapſel aus und 


Nahe Verwandte dieſer einzelligen Fla— 
gellaten ſind auch die grünen ſogenannten 
Kugelthierchen oder Volvocinen 


(Fig. 10); grüne Gallertkügelchen, welche 
die Größe eines Stecknadelknopfes erreichen. 


In jedem Kügelchen ſind zahlreiche grüne 
einzellige Flagellaten zu einer Geſellſchaft 


Fig. 10. Ein Kugelthierchen (VoI Vox glo- 
bator). Die netzförmige Zeichnung an der 
Oberfläche der Gallertkugel entſteht dadurch, 
daß die kleinen grünen, in den Knotenpunkten 
des Netzes befindlichen Geißelzellen ſich durch 
feine Fortſätze unter einander verbinden. Im 
Innern der Kugel ſind 6 Tochterkugeln 
(junge Colonien) ſichtbar. 


und durch die gemeinſamen 
Schwingungen ihrer Geißeln wird die 
ganze Kugel umherbewegt. Im Innern 
der Gallertkugeln entſtehen neue Tochter— 
kugeln. Außerdem vermehren ſich die Vol— 
vocinen auch geſchlechtlich, wie durch Cohn's 
ſorgfältige Unterſuchungen dargethan wor— 
den iſt; ihre Befruchtung geſchieht in ähn— 
licher Weiſe wie bei vielen Algen; ſie 
ſchließen ſich dadurch ſchon enger an das 
Pflanzenreich an. 

Eine ſehr eigenthümliche Protiſtengruppe, 
die man auch noch zu den Flagellaten 


vereinigt; 


rechnet, ſind die großen blaſenförmigen 
Noktiluken oder Meerleuchten 
(Fig. 11). Sie bedecken oft die Meeres- 
oberfläche in unglaublichen Maſſen, ſtrahlen 
im Dunkeln ein helles Licht aus und ſpielen 
eine Hauptrolle bei dem wundervollen Phä— 
nomen des Meerleuchtens. Die gewöhn— 
lichen Noktiluken ſind coloſſale rundliche 
Zellen, welche 1. — 1 Millimeter Durch— 
meſſer erreichen und die Geſtalt einer 
Pfirſiche beſitzen. Der Hohlraum der 
blaſenförmigen Zelle iſt mit wäſſeriger 
Flüſſigkeit erfüllt, in welcher ſich ver— 
äſtelte Stromfäden (g) des Protoplasma 
7 


ec 
ET 


LIE 7 
N EN 2 
EN A 0 5: N 
ES 8 . \ 


Fig. 11. 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Eine Meerleuchte (Noctiluca miliaris). 


111 


bewegen, ausgehend von der Wandſchicht 
des letzteren, welche innen an der Zell— 
haut anliegt. Der Kern iſt eiförmig (b). 
An einer Stelle iſt die Zellhaut von einer 
Oeffnung, einem Zellmund (Cytostoma), 
durchbrochen und hier wird Nahrung direct 
in das Innere aufgenommen. Hier befin— 
det ſich auch neben der zarten Geißel 
ein großer peitſchenförmiger, quergeſtreifter 
Anhang (a), ſowie ein zahnförmiger 
Fortſatz (d). Die Fortpflanzung erfolgt 
theils durch einfache Theilung, theils 
durch eine eigenthümliche Form der Spo— 
renbildung. 


110 
4 ER, ne 
2 e ver RN 


W 
U 
4. 


1. Die ganze Geißelzelle von oben. 


2. Im optiſchen Durchſchnitt: a Peitſchenförmiger Anhang, b Kern, e Furche der Oberfläche, 
d zahnförmiger Fortſatz, daneben die zarte Geißel, e, k größere Protoplasma-Anſammlung 


um 


Neuerdings iſt eine Noktiluken-Form 


entdeckt worden, welche zum Verwechſeln 
einer kleinen ſchirmförmigen Meduſe ähn— 
lich iſt, und gleich einer ſolchen ſich durch 
Zuſammenklappen des zarten concaven 
Schirmes ſchwimmend bewegt (Leptodis- 
cus medusoides, ſ. Kosmos II. S. 567). 

Während über die einzellige Natur der 
Geißelſchwärmer und Amoeben heutzutage 
kein Zweifel mehr beſteht, ſo iſt dieſe da— 
gegen bis vor Kurzem ſtreitig geweſen bei 
denjenigen Protiſten, die man heute viel— 
fach als Infuſionsthierchen im 
engeren Sinne bezeichnet. Dazu gehören 


den Kern herum, g, g verzweigte Stromfäden des Protoplasma. 


die beiden Klaſſen der Wimperthierchen 
oder Ciliaten (Fig. 12 — 15) und der 
Starrthierchen oder Acineten (Fig. 16, 
17). Maſſenhaft bevölkern fie alle ſtehen— 
den und fließenden Gewäſſer und ſind auch 
in allen Infuſionen zu finden. 

Beſonders die Ciliaten, die Wimper— 
linge oder Wimperthierchen, er— 
ſcheinen in einer Fülle von niedlichen For— 
men; und durch die Anmuth ihrer lebhaf— 
ten Bewegungen feſſeln ſie uns ſtundenlang 
an das Mikroskop. Nur einzelne Ciltaten 
ſind ſchon mit bloßem Auge ſichtbar, ſo 
z. B. das große Trompetenthierchen (Stentor, 


3 


Sa 


Fig. 12); die meiſten find erſt durch das 
Mikroſkop erkennbar. Zahlreiche kurze 
Wimperhärchen ſind über den Körper zer— 
ſtreut und werden willkürlich ſchlagend be— 
wegt. Wie die Geißeln der Flagellaten, 
jo find auch dieſe Wimpern der Ciliaten 


e 
ll 

N I 152 2 e 0 100 
SH, 
N N NW. 44 A 1 h 


Wan 


Fig. 13. 


dem Stentor ſind zwei kleine, 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Ein Mai⸗ 
j glockenthierchen 
Fig. 12. Ein Trompetenthierchen (Vortice lla micro— 
(Stentor polymorphus). Oben stoma). Der ein— 
iſt der große, den Mund um- zellige Leib iſt auf 
gebende Wimperkranz ſichtbar, einem dünnen Stiele 
links darunter der lange, roſen- befeſtigt, der ſich kork— 
kranzförmige Kern. Rechts neben zieherartig zuſam⸗ (Freia elegans). 
menziehen kann. 


direkte Fortſätze vom Protoplasma des 
einzelligen Körpers. Die meiſten Wimper- 
thierchen bewegen ſich frei ſchwimmend oder 
laufend mittelſt dieſer Wimpern umher. 
Es giebt aber auch feſtſitzende Ciliaten, 
wozu die niedlichen Vorticellen (Fig. 13) 


Der einzellige 
Körper iſt in eine ovale, auf Waſſer— 


bewimperte Zellen ſichtbar, die a Wimperkranz um pflanzen (unten) befeſtigte Hülle ein— 
aus dem Innern deſſelben aus- den Mund; v con- geſchloſſen, aus deren Oeffnung der 
geſchwärmt ſind, entweder Junge traktile Blaſe; n Zell- Vordertheil der Zelle mit der Mund— 


oder Paraſiten (Aeineten— 
Schwärmer). 


und Freia (Fig. 14) gehören. Bei dieſen 
Ciliaten dient der durch die Wimpern er— 
zeugte Strudel dazu, friſches Waſſer und 
Nahrung der Zelle zuzuführen. 

Das Protoplasma des Giliatenkörpers 
iſt in eine feſtere Rindenſchicht (Exo— 


kern; k. p zwei Knos- öffnung und zwei großen Wimper— 
pen, die ſich ablöſen. 


lappen vortritt. 


plasma) und eine weichere Markſchicht (En- 
doplasma) geſondert. In der erſteren be— 
findet ſich eine beſtändige Oeffnung, eine 
Art Zellenmund (Cytostoma), durch 
welchen ſowohl feſte Biſſen als Waſſer— 


tropfen verſchluckt und in die weichere 


PP—˙⁰U ͤ D W 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Markmaſſe hineingedrückt werden. Bis- 
weilen iſt dieſe Mundöffnung zu einem 
beſonderen gefalteten Schlundtrichter erwei—⸗ 
tert, ſo z. B. bei dem Fiſchreuſenthierchen 
(Fig. 15 a). In dem weichen Protoplasma 
des Innern ballt ſich die verſchluckte Nahr— 
ung in Biſſen (Fig. 15 c), welche allmälig 
verdaut und aufgelöſt werden; Ehren— 


beſondere Magenſäcke und benannte des— 
halb die Ciliaten „Vielmagenthierchen“ (Po- 


Iygastriea). Unſere magenloſen Wimper— 
thierchen können alſo eſſen und trinken, 
obwohl ſie einfache 


Zellen ſind. Was aber 
noch mehr überraſcht, 
das iſt die Munter⸗ 
keit und offenbare 
Willkür ihrer Beweg⸗ 
ungen, der zarte und 
ſeelenvolle Charakter 
ihrer Empfindungen. 
Gerade wegen dieſer 


Eigenſchaften werden 
ſie gewöhnlich als Fig. 15. Ein Reuſenthierchen (Prorodon 
echte Thiere betrachtet. teres). 
N zan ähnlichem Schlundtrichter). 
Daß ſie das nicht Blaſe. 


ſind, geht aus ihrem 
feineren Bau und 
ihrer Entwickelung deutlich hervor. Zeit— 
lebens umſchließt ihr einfacher Zellenleib 
nur einen einzigen Kern. Bald iſt dieſer 
Nucleus rundlich (Fig. 15 d), bald 
wurſtförmig (Fig. 13 u), bald langgeſtreckt, 
ſtabförmig oder roſenkranzförmig (Fig. 12). 
Die Ciliaten ſind alſo wirklich einzellig, 
wie zuerſt der um die Kenntniß der Pro- 
tiſten hochverdiente Zoologe Siebold dar— 
gethan hat. Die Vermehrung der Ciliaten 
geſchieht durch einfache Theilung; und wie 
bei jeder gewöhnlichen Zellentheilung zer— 
fällt zuerſt der Kern, und darauf das 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


a Mundöffnung (mit fiſchreuſen— 


e Verſchluckte Nahrungsballen. 
d Zellkern (mit Kernkörperchen). 


113 


Protoplasma in zwei gleiche Hälften. Aber 
auch Fortpflanzung durch Knospenbildung 
iſt bei vielen Ciliaten zu finden, ſo z. B. 
bei den Vorticellen (Fig. 13). Außerdem 
ſcheinen ſich viele durch Sporen zu ver— 
mehren, d. h. durch junge Zellen, welche 


ſich im Innern der Mutterzelle bilden und 
wobei der Kern betheiligt iſt (Fig. 12). 
berg beſchrieb dieſe Nahrungsballen als 


Das Intereſſanteſte an den Wimper⸗ 
thierchen, und diejenige Eigenſchaft, durch 
welche ſie alle anderen Protiſten übertreffen, 
iſt der hohe Grad von Empfindlich— 
keit und Willens-Energie, den ſie 
bei ihren lebhaften Be⸗ 
wegungen kundgeben. 
Wer lange und ein- 
gehend Ciliaten beob— 
achtet hat, kann nicht 
zweifeln, daß ſie eine 
Seele ſo gut wie die 
die höheren Thiere be— 
ſitzen. Denn die See— 
lenthätigkeiten 
der Empfindung und 
der willkürlichen Be⸗ 
wegung üben fie eben- 
ſo aus, wie die höhe⸗ 
ren Thiere; und an 
dieſen Thätigkeiten 
allein iſt ja die Seele zu erkennen. Da 
nun der ganze Leib der Ciliaten blos eine 
einfache Zelle iſt, ſo gewinnen ſie die 
höchſte Bedeutung für die Theorie von 
der Zellſeele, für die Annahme, daß 
jede organiſche Zelle ihre eigene individuelle 
„Seele“ beſitzt — oder vielmehr, richtiger 
ausgedrückt: daß Seelenleben eine Thä— 
tigkeit aller Zellen iſt. 

An die formenreiche Klaſſe der Wimper⸗ 
thierchen ſchließt ſich die kleine Gruppe der nahe— 
verwandten Starrthierchein oder Acineten 


b Gontractile 


an (Fig. 16, 17). Im Gegenfage zu erſteren 


114 


zeigen dieſe letzteren nur ſehr wenig Beweglich— 
keit; ſie ſitzen meiſtens zeitlebens auf einem 
Stiele feſt. Statt der Wimperhärchen treten 
aus ihrem ſtarren, von einer Hülle umſchloſſe— 
nen Zellkörper zahlreiche feine, oft büſchel— 
förmig gruppirte Fortſätze hervor (Fig. 16 p). 
Dies ſind ſehr feine Saugröhrchen, die 
am Ende mit einem Saugknöpfchen ver— 
ſehen ſind. Wenn ein ſchwimmendes Wim— 
perthierchen unvorſichtig in die Nähe einer 
ſolchen Acinete geräth, wird ſie von den 
ſteif ausgeſtreckten Saugröhren der letzteren 


Fig. 16. Eine Aeineta, auf einem kurzen 
Stiele (unten) befeſtigt. p Saugröhren der 
Zelle. » Contractile Blaſen im Protoplasma. 
e eine Spore. n Zellkern. 
gewährt ebenſo wie diejenige der Ciliaten 
das höchſte Intereſſe. An dieſen Infuſions— 
thierchen zeigt uns die organiſche Zelle deut— 
lich, wie weit ſie es in ihrem idealen Streben 
nach thieriſcher Vollkommenheit für ſich 
allein bringen kann. Wir können ſagen: 
Die Wimperthierchen ſind der gelungenſte 
Verſuch der einzelnen Zelle, ſich zu einem 
wirklichen Thiere zu entwickeln. Aber zu 
einem echten Thie re gehören ja mindeſtens 
zwei Keimblätter, deren jedes aus zahl— 


3 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


feſtgehalten und ausgeſaugt (Fig. 17). Das 


Protoplasma des gefangenen Ciliaten (a) 
wandert langſam durch die Saugröhren (k“) 
in das Innere der Acinete hinein. Daß 
auch ſie nur eine einfache Zelle iſt, beweiſt 
ihr Zellkern (n); im Protoplasma find, 
wie bei den Ciliaten, oft eine oder mehrere 
„contraktile Blaſen“ oder Vacuolen ſicht— 
bar, waſſererfüllte kugelige Hohlräume, die 
ſich langſam zuſammenziehen und wieder 
ausdehnen (Fig. 16 v, Fig. 17x). 

Die anhaltende Beobachtung der Acineten 


Fig. 17. Eine Aeineta, welche mit ihren 
Saugröhren (t) ein Wimperthierchen (Euche- 
lys a) ergriffen hat und daſſelbe ausſaugt. 
x, v Contractile Blaſen. n Zellkern. 
reichen Zellen zuſammengeſetzt iſt. Alſo 
können wir doch die Ciliaten und Acineten 
nicht als wirkliche Thiere gelten laſſen. 
Unter allen Protiſtenklaſſen die formen— 
reichſte und in geologiſcher Beziehung die 
wichtigſte iſt die wunderbare Klaſſe der 
Wurzelfüßler oder Rhizopoden. 
Außer mehreren kleineren Gruppen gehören 
dahin die kalkſchaligen Thalamophoren und 
die kieſelſchaligen Radiolarien. Beide Ab- 


theilungen ſind in zahlloſen, höchſt phan— 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


taſtiſch geformten Arten in allen Meeren 
verbreitet. 
größten Theile kriechend auf dem Grunde 
des Meeres, beſonders auf Seetang; die 
Radiolarien hingegen ſchwimmen in dicht— 


gedrängten Schaaren an der glatten Ober- 


fläche des Meeres 

oder ſchweben in ver— 
ſchiedenen Tiefen des—⸗ 
ſelben. Die bekannte⸗ 
ſten und geologiſch wich— 
tigſten Rhizopoden ſind 
die Thalamopho— 

ren, Kammer— 
linge oder Kammer— 
thierchen; ausgezeichnet 
durch eine feſte, mei⸗ 
ſtens kalkige Schale, in 
welche ſich dieſe Ur⸗ 
thierchen, wie die 

Schnecke in ihr Haus, 
zurückziehen können. 

Bald enthält dieſe Kalk⸗ 
ſchale nur eine einzige 

Kammer (Einkam⸗ 
merige, Monotha- 
lamia, Monostegia); 
bald mehrere, durch 
Thüren mit einander 
verbundene Kammern 
(Vielkammerige, 
Polythalamia, Poly- 
stegia). Solche zierlich 
geformte, oft einem 
Schneckenhaus ähnliche 
Kalkſchalen haben ſich 
ſeit vielen Millionen 
Jahren in ungeheuren Maſſen auf dem Mee— 
resboden angehäuft und an der Gebirgs- 
bildung unſerer Erde den wichtigſten An— 
theil genommen. Schon die älteſten, aus 
dem Meere abgeſetzten Flötzgeſteine, die 


Die Thalamophoren leben zum 


Fig. 18. Nummulites (retieulatus). 
a, b, e in natürlicher Größe; d,. e, f ſchwach 
vergrößert. Die linſenförmige Scheibe iſt in 
a vom Rande aus geſehen, in b und e 
von der Fläche, e und d im Längsſchnitt 

(Dickenſchnitt). 


115 


laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen 
Schichten, enthalten dergleichen Polythala— 
mien⸗Schalen und find wahrſcheinlich zum 
großen Theile aus ihnen gebildet. Das 
älteſte von Allen iſt das berühmte Eozoon 
canadense aus den unteren laurentiſchen 
Schichten, deſſen Poly- 
thalamien-Natur mit 
Unrecht in Zweifel 
gezogen wurde. Die 
mächtigſte Entwickel⸗ 
ung erreichen dieſe 
Rhizopoden jedoch erſt 
viel ſpäter, während 
der Kreideperiode und 
der älteren Tertiär⸗ 
periode. Jedes kleinſte 
Körnchen unſerer wei⸗ 
ßen Schreibkreide läßt 
uns unter dem Mi- 
kroſkop zahlreiche fol- 
cher zierlichen Kalk— 
ſchalen erkennen. Der 
Grobkalk von Paris, 
aus dem viele Paläſte 
dieſer Weltſtadt erbaut 
ſind, beſteht ebenfalls 
zum größten Theile 
aus ſolchen Kammer- 
ſchalen. Ein Cubifcenti- 
meter des Kalkes aus 
den Steinbrüchen von 
Gentilly enthält un— 
gefähr 20,000, ein 
Cubikmeter demnach ge— 
gen 20 Mill. Schalen. 
Die größten Polytha- 
lamien aber lebten während der älteſten 
Tertiärzeit, während der Eocän-Periode. 
Unter ihnen find die Rieſen des Protiften- 
Reiches, die gigantiſchen Num muliten 
(Fig. 18), deren ſcheibenförmige Kalkſchalen 


116 


Der von ihnen erzeugte Nummuliten Kalk, 
aus dem unter Anderem die egyptiſchen 
Pyramiden gebaut ſind, bildet die unge— 
heuren Gebirgsmaſſen des Nummuliten— 
Syſtems. Dies iſt eins der gewaltigſten 
Gebirgsſyſteme unſerer Erde, das von 
Spanien und Marokko bis nach Indien 
und China hinüberreicht, und an der Bild— 
ung der Pyrenäen und Alpen, des Liba— 
non und Kaukaſus, des Altai und Himalaya 
den bedeutendſten Antheil nimmt. 


Fig. 19. Gromia (oviformis). 
von einer biegſamen Schale eingeſchloſſen. 
fließendes Protoplasma heraus, 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


die Größe eines Zweithalerſtückes erreichen. 


In welchen ungeheuren Maſſen die Po— 
lythalamien auch gegenwärtig noch unſere 
Meere bevölkern, geht daraus hervor, daß 
z. B. der Sand der Mittelmeerküſte an vielen 
Stellen zur größeren Hälfte aus den Scha— 
len lebender Polythalamien-Arten beſteht. 
Schon einer ihrer erſten Beobachter, 
Bianchi, zählte im Jahre 1739 in einem 
einzigen Eßlöffel Seeſand von Rimini 
6000 Individuen; und derjenige Natur- 
forſcher, dem wir die genaueſten Unterſuch— 
ungen über ihre Naturgeſchichte verdanken, 


Die Hauptmaſſe des eiförmigen einzelligen Körpers iſt 
Durch die Oeffnung derſelben tritt (unten) 
welches die ganze Schale umhüllt und von dem nach 


allen Richtungen bewegliche Fäden ausſtrahlen. 


der berühmte Anatom Max Schultze, 
berechnete ihre Menge in einem Eßlöffel 
Seeſand von Gaeta auf mehr als Hun— 
derttauſend. 

Der weiche lebendige Körper der Kam— 
merthierchen, welcher dieſe wunderbaren 
Schalen- und Panzer-Bildungen erzeugt, iſt 
ſtets von höchſt einfacher Bildung: ein 
Stück formloſes Protoplasma, das zahl— 
reiche Zellenkerne einſchließt. Von der Ober- 
2 des weichen Protoplasma-Leibes ftrah- 


len hunderte, oft tauſende von äußerſt feinen 
Fäden aus. Dieſe Schleimfädchen, die den 
Namen Scheinfüßchen oder Pſeudo— 
podien führen, ſind ſehr empfindlich und 
beweglich. Sie können ſich veräſteln, mit 
einander verſchmelzen, Netze bilden und wie— 
der in die gemeinſame Centralmaſſe des 
Körpers zurückgezogen werden. Durch die 
Zuſammenziehungen dieſer Fäden bewirken 
die Wurzelfüßler ihre kriechende oder ſchwim— 
mende Ortsbewegung. Wenn ein anderes 


Protift, z. B. ein Wimperthierchen oder 
eine Bacillarie, in den Bereich dieſer Fäden 
gelangt, ſo wird es von ihnen erfaßt, um— 
ſchlungen und in das Innere des Proto— 
plasmakörpers hineingezogen, wo es einer 
höchſt einfachen Verdauung unterliegt. Wie 
bei den Amoeben kann jede Stelle der 
Körperoberfläche dergeſtalt die Aufgabe eines 
Mundes und Magens übernehmen. Auch 
die Vermehrung der Wurzelfüßler iſt höchſt 
einfach. Der weiche Protoplasma-Leib des 
Kammerthierchens zerfällt in zahlreiche kleine 


Fig. 20. Polystomella (venusta), ein 
Polhthalam, deſſen Kammern in einer 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Stückchen. Jedes Stückchen erhält einen 
Zellkern, bildet alſo eine echte Zelle, und 
dieſe nackte Zelle ſchwitzt alsbald wieder 
eine Kalkſchale aus. 

Die vielgeſtaltige Schale des Acyttarien— 
Körpers beſteht meiſtens aus kohlenſaurem 
Kalk, ſeltener aus einer erhärteten organi— 
ſchen Subſtanz, die mit Sandkörnchen u. 
dergl. verkittet iſt. Bald beſitzt die Schale 
nur eine größere Mündung, iſt aber übri- 
gens undurchlöchert (Imperforata); bald 
iſt die Schale überall von ſehr zahlreichen 


. 21. Alveolina (Quoyi). Mehrere Reihen 


Spirale aufgerollt find, ganz Eur tie 
bei Nautilus. Aus den feinen Löchern 
der Schale treten überall bewegliche faden- 
förmige Scheinfüßchen hervor. 


En Kammern laufen in einer Spirale neben ein- 
ander hin. Die durchſchnittenen Wände der 
Kammern ſind weiß gezeichnet; die Verbindungs— 
öffnungen mit den darüber liegenden ſchwarz. 


kleinen Löchern durchbrochen (Foraminifera). 
Mit Bezug auf die Schalenform unter— 
ſcheidet man bei den zwei Hauptgruppen: 
Einkammerige und Vielkammerige. Die 
Einkammerigen (Monothalamia) ſind 
verhältmäßig wenig formenreich. 

Einer ihrer bekannteſten, häufigſten und 
größten Vertreter iſt die Gromia (Fig. 19). 
Sie beſitzt eine eiförmige Schale, mit dun— 
kelbraunem Protoplasma erfüllt, und erreicht 
die Größe eines Stecknadelknopfes. Die 
Netze der Scheinfüßchen, welche davon aus- 


ſtrahlen, kann man ſchon mit bloßem Auge 
deutlich erkennen. 

Die Vielkammerigen (Polythala- 
mia) bilden die Hauptmaſſe der Acyttarien. 
Die einzelnen Kammern, welche ihre Schale 
zuſammenſetzen, ſind durch unvollſtändige 
Scheidewände getrennt, oft ſehr zahlreich. 
Meiſtens ſind dieſelben mehr oder weniger 
in Spiralen geordnet. So entſtehen Ge— 
häuſe, welche die größte Aehnlichkeit mit 
denjenigen gewiſſer Mollusken, namentlich 
Cephalopoden, beſitzen (Fig. 20). Daher 


118 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


* 


wurden dieſe Rhizopoden von ihren erſten | Erſt vor 40 Jahren lernte man, zuerſt 
Entdeckern wirklich für echte, mikroſkopiſche durch Dujardin, ihre wahre Natur 
Cephalopoden gehalten und auch ſpäter noch kennen, und überzeugte ſich, daß ganz ähn— 
ihre Organiſation als ſolche beſchrieben. lich geformte Schalen das eine Mal von 


Sy 


N 
N 8 N N 
N l 
S 
NN 


je MAD © 


( 


Fig. 22. Cyeloelypeus, ein colofjales Polythalam von 3 Centimeter Durchmeſſer, in 

großen Tiefen des Sunda-Meeres lebend. Man ſieht die eine Hälfte der in der Mitte 

durchſchnittenen Schale, von der links noch ein Stück der oberen Schicht abgeſchnitten iſt, 
um in die Kammern hineinzublicken. 


Fig. 23. Parkeria, ein coloſſales Polythalam von 3 Centimeter Durchmeſſer. Man ſieht 
blos ein Stück der eiförmigen Schale, ſo durchſchnitten, daß man nach allen Richtungen hin 
die Zuſammenſetzung des Gehäuſes aus zahlloſen kleinen Kammern erkennen kann. 


einem höchſt vollkommen organiſirten Weich- häuſe hin, indem innerhalb der Kammern 
thiere (Nautilus), das andere Mal von ſich wieder parallele Scheidewände bilden 
einem höchſt einfach gebauten Wurzelfüßler (Fig. 21). Bei den großen Orbituliten 
(Polystomella) gebildet werden. und Nummuliten liegen ſolche Kammer— 

Bei manchen Polythalamien laufen reihen ſogar in mehreren Stockwerken über— 
mehrere Spiralen neben einander im Ge- einander. Die Kammerreihen ſind hier 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 119 


bald in zuſammenhängenden Spirallinien, dem gigantiſchen Cyeloelypeus (Fig. 22). 
wie bei den Nummuliten (Fig. 18) geovd- | Die Gehäuſe dieſer letzteren ſind runde 
net, bald in concentriſchen Ringen, wie bei Scheiben, welche ſich am beſten mit einem 


/ 


9 


6% 
I 


in 
Me 
MI 
NN 
U N 
\ 


A || X 


A 


N 1 N 1 | \ 


0 \ 


Fig. 24. Hastingerina Murrayi. Ein Polythalam, deſſen Kalkſchale überall mit 
haarfeinen, ſehr langen Kalkſtacheln bewaffnet iſt. 
Palaſte vergleichen laſſen, deſſen Umfaſſungs⸗ Mehrere Stockwerke liegen übereinander, 
mauern nach dem Plane eines römiſchen in jedem eine centrale Hauptkammer, um⸗ 
Amphitheaters gebaut find. geben von vielen ringförmigen Corridoren, 


120 


und jeder Corridor durch viele Scheide— 
wände in Kammern getheilt; alle dieſe zahl— 
reichen Stockwerke, Corridore und Kammern 
ſtehen durch Thüren mit einander in Ver— 
bindung und kleine Fenſter in der äußeren 
Schalenfläche vermitteln die Verbindung 


Fig. 25. Helios phaera (inermis). 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


mit der Außenwelt, indem ſie die feinen 
Schwimmfüßchen durchtreten laſſen. 

Zu den größten und am meiſten zu— 
ſammengeſetzten Polythalamien gehören die 
Parkerien, deren Gehäuſe größtentheils aus 
Sandkörnchen zuſammengeſetzt ſind (Fig. 23). 


Ein Radiolar, deſſen kugelige Gitterſchale aus ſechs— 


eckigen Maſchen zuſammengeſetzt iſt. Im Innern ſchwebt eine kugelige Centralkapſel, welche 

einen dunkeln Kern einſchließt, umgeben von kleinen gelben Zellen. Zahlreiche fadenförmige 

Scheinfüßchen ſtrahlen allenthalben aus, halten ſich an der Gitterſchale feſt und treten durch 
deren Löcher aus. 


Während die große Mehrzahl der Tha— 
lamophoren auf dem Meeresboden kriechend 
lebt, giebt es auch einige Arten, die an 
der Oberfläche des Meeres ſchwimmen, und 
zwar oft in großen Maſſen, mit Radio— 


larien gemiſcht. Dahin gehören auch die 
merkwürdigen Pulvinulinen, Globigerinen 


und Haſtigerinen, letztere durch ihre ſehr 
langen borſtenförmigen Kalkſtacheln ausge— 
zeichnet (Fig. 24). 

Wenn ſchon bei dieſen merkwürdigen 
Polythalamien die formbildende Kunſt des 
formloſen Protoplasma unſere höchſte Be— 
wunderung erregt, ſo wird dieſelbe noch 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


geſteigert, wenn wir die nahe verwandten 
Radiolarien, die „Gitterthiere“ oder 
Strahlinge, betrachten. Bei dieſen höchſt 
intereſſanten Wurzelfüßlern treffen wir die 
größte Mannigfaltigkeit von zierlichen und 
ſonderbaren Formen an, die überhaupt in 
der organiſchen Welt zu finden iſt. Ja, 
alle möglichen Grundformen, welche man 
nur in einem promorphologiſchen Syſteme 
aufftellen kann, finden ſich hier wirklich ver- 
körpert vor. Das Material aber, aus 
welchem das 
formloſe Pro⸗ 
toplasma hier 
die unendlich 
mannigfaltigen 
Skelettheile bil— 
det, iſt nicht 
Kalkerde, wie 
bei den Poly⸗ 
thalamien, ſon⸗ 
dern Kieſelerde. 
Der weiche 
lebendige Leib 
der Radiolarien 
iſt übrigens 
etwas höher 


121 


zu Radiolarien entwickeln, verwendet wird, 
ſo kann man die Centralkapſel auch als 
Sporenbehälter (Sporangium) der Ra⸗ 
diolarien betrachten. 

Sie iſt umſchloſſen von einer Schicht 
Protoplasma, von welchem nach allen Richt⸗ 
ungen zahlloſe, äußerſt feine Scheinfüßchen 
ausſtrahlen. Dieſe verhalten ſich im Uebri— 
gen ebenſo wie bei den Polythalamien. 

Gewöhnlich finden ſich im Protoplasma 
der Radiolarien außerhalb der Centralkapſel 
noch zahlreiche 
gelbe Zellen von 
unbekannter Be⸗ 
deutung; ſie ent⸗ 
halten Stärke⸗ 
mehl. 

Außerdem 
bilden ſich bei 
einigen Radio⸗ 
larien rings um 

die Central⸗ 
kapſel große 
helle Waſſerbla⸗ 
fen aus (Va⸗ 
cuolen), welche 
von einer ſehr 


organiſirt, als Fig. 26. Thalassicolla (pelagica). Ein großes nacktes dünnen Gallerte 


derjenige der Radiolar (ohne Schale). 


Die innere kugelige Centralkapſel umſchloſſen ſind, 


. iſt von einem Mantel großer Waſſerblaſen umgeben. An 5 ; 
Polythalamien. der Oberfläche ftahlen tauſende von feinen Schleimfäden aus. Tonamentlic) bei 


Denn im Innern 

des formloſen weichen Protoplasmakörpers 
findet ſich hier eine beſondere Kapſel, welche 
von einer feſten Membran umſchloſſen iſt, 
die Centralkapſel (Fig. 25). 

In dieſer bilden ſich Maſſen von kleinen 
Zellen, welche eine bewegliche Geißel er— 
halten, ſpäter die Kapſel durchbrechen und 
ausſchwärmen. 

Da der ganze Inhalt der Centralkapſel 
zur Bildung dieſer Keime, welche gleich 
Flagellaten umherſchwimmen und ſich dann 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


den erbſengro⸗ 
ßen Thalaſſicollen (Fig. 26). Es giebt auch 
zuſammengeſetzte Radiolarien (Polycytta⸗ 
ren). Dieſe bilden größere Gallertklumpen 
von cylindriſcher oder kugeliger Form, von 
1 bis 3 Centimeter Durchmeſſer. Die Gal- 
lerte beſteht größtentheils aus ſolchen Waffer- 
blaſen, und in der Oberfläche ſind ältere, 
im Innern dagegen jüngere Centralfapfeln 
vertheilt (Fig. 27). Jede der letzteren 
iſt oft von einer gegitterten Kieſelſchale 
umſchloſſen (Fig. 28). 


16 


122 


Bei ſehr vielen Radiolarien iſt die 
Kieſelſchale eine Gitterkugel (Fig. 25, 28, 
29, 31); oft gehen lange, regelmäßig ver— 


Fig. 27. Collosphaera (Huxleyi). 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


N) Oo % 
2 


m! 


theilte Stacheln davon ab (Fig. 29). Bei 
den Ommatiden (Fig. 30, 31) finden wir 
mehrere ſolcher Gitterkugeln concentriſch in 


Ein zuſammengeſetztes Radiolar mit vielen Central- 


kapſeln; die inneren kleineren ohne, die äußeren größeren mit Kieſelſchale. Zwiſchen den 
ausſtrahlenden Fäden ſind zahlreiche kleine gelbe Zellen zerſtreut. Im Centrum der Colonie 
iſt eine große Waſſerblaſe ſichtbar, umgeben von einem Protoplasma Netz. 


einander geſchachtelt und 
den, radiale Stäbe verbun⸗ 
durch ganz ähnlich dem be— 
kannten zierlichen Spielzeug, 
das die Chineſen aus Elfen— 
bein anfertigen. 

Es giebt ſolche Gitter— 
kugeln, die aus zwanzig im 
Centrum in einander ge— 


ſtemmten Stacheln zuſam⸗ 


mengeſetzt ſind; veräſtelte 
Querfortſätze der Stacheln, 


Fig. 28. Eine einzelne Kiejel- 
ſchale (ſtachelige Gitterkugel) von 


Collosphaera (spinosa). 


verwandt find die merk— 
würdigen Acanthome— 
tren (Fig. 33), ebenfalls 
mit 20 Stacheln, die nach 
einem beſtimmten mathe— 
matiſchen Geſetze regelmäßig 
vertheilt ſind. 

Bei noch andern Radio— 
larien iſt die centrale Gitter- 
kugel von einem lockeren 
Kieſel-Schwammwerke um⸗ 
hüllt und mächtige drei— 


die in gleichem Abſtande vom Centrum | kantige Stacheln mit ſpiralig gedrehten Kan— 


abgehen, ſetzen die Gitterſchale zuſammen 
(Dorataspis, Fig. 32). Den letzteren nahe 


Fig. 34). 


ten ragen daraus hervor (Spongosphaera, 


1 ˙¹wm.] ⁰¹ʃEußLLʃ ̃6.Üiůu % LX! ⅛ vb] p/¾ö²ʃũl: . ˙L——Uꝛ.! . ⅛ ůͤ¹—nnn 2 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Fig. 29. Heliosphaera (actinota). Von der Gitterkugel ſtrahlen zwiſchen den Pfeudo- 
podien zahlreiche Kieſelſtacheln aus; im Innern der Schale die Centralkapſel. 


Fig. 30. Actinomma (asteracanthion). Die Fig. 32. Doratas pis (bipennis). Die 
Kieſelſchale, drei concentriſche Gitterkugeln, durch Kieſelſchale wird durch die gabelförmigen 
ſechs radiale Stäbe verbunden, deren äußere Querfortſätze von zwanzig regelmäßig 
Enden ſtarke dreikantige Stacheln bilden, da— vertheilten Stacheln zuſammengeſetzt. 
zwiſchen ſtehen zahlreiche, ſehr feine borſten— 

förmige Kieſelſtacheln. 


124 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Fig. 31. Haliomma (Wyvillei). Die Kieſelſchale beſteht aus zwei concentriſchen Gitterkugeln, 
die durch zahlreiche radiale Stacheln verbunden ſind. Zwiſchen beiden Schalen findet ſich die 
Membran der Centralkapſel, ſo daß die eine innerhalb, die andere außerhalb der letzteren liegt. 


—— 


Fig. 33. Xiphacantha (Murrayana). Eine Acanthometra, deren 20 Stacheln kreuz— 
förmige Querfortſätze tragen. Die Stacheln bilden 5 parallele Zonen von je 4 Stacheln, 
die gleichweit von einander abſtehen. 


EEE ˙˙% ² l.: dg Üü¹H̃ n ̃ wq!½ͤ̃ !dz....—˙ Ä ¼½d̃ ! . ²ẽůùu.! ß 


ßſeõe%E ͤ˖( ¼ ͤ¹ìu¹iunn.“;:il m T ¼—ͥẽflL« ü w 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Eine andere, äußerſt formenreiche Gruppe 
von Radiolarien, die Cyrtiden oder 
Helm⸗Radiolarien, bilden Kieſelſchalen von 
der Form eines Helmes (Fig. 35), einer 
Haube oder eines Körbchens, mit ſiebförmig 
durchlöcherter Wand Podocyrtis, Fig. 36). 
Noch Andere gleichen einem Ordensſtern 
(Astromma, Fig. 37), einer Sanduhr 


125 


(Diploconus, Fig. 38), einem dreiſeitigen 
Prisma (Prismatium, Fig. 39) u. ſ. w. 

In der großen Abtheilung der Acan— 
thometren wird das Skelet ſtets aus 
zwanzig Kieſelſtacheln gebildet, welche im 
Centrum in einander geſtemmt und nach 
einem ſehr merkwürdigen mathematiſchen 
Geſetze vertheilt ſind; dies entdeckte zuerſt 


Fig. 34. Spongospha era (streptacantha). Neun dreikantige 
Stacheln ragen aus der kugeligen Centralkapſel hervor, welche 
von kieſeligem Schwammgeflecht umhüllt iſt und eine centrale 


Fig. 35. Dictyophimus (Chal- 
lengeri). Helmförmige Gitterſchale 
mit drei Füßchen und Gipfelſtachel. 


Gitterſchale einſchließt. 


der große Johannes Müller, dem 
wir überhaupt die erſten genaueren Kennt⸗ 
niſſe der Radiolarien verdanken. 

Welche Bedeutung dieſe höchſt mannig— 
faltigen, zierlichen und ſeltſamen Formen 
beſitzen; wie das formloſe Protoplasma der 
Radiolarien dazu kommt, ſie zu bilden, 
— davon haben wir heute noch keine 
Ahnung. 

Neben den Thalamophoren und Ra— 


diolarien wird noch eine große Anzahl von 
anderen Protiſten zur Klaſſe der Wurzel— 
füßler gerechnet. Viele davon leben auch 
im ſüßen Waſſer. Eines der häufigſten 
iſt das niedliche ſogenannte „Sonnen— 
thierchen“, welches vor nun hundert Jah— 
ren (1776) vom Paſtor Eichhorn in 
Danzig entdeckt und als „lebendiger Stern“ 
beſchrieben wurde (Actinosphaerium Eich- 
hornii, Fig. 40). 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


h 


Fig. 36. Podocyrtis (Schomburgki). Fig. 37. Astro 
Die helmförmige Gitterſchale ſteht auf drei Die ſchwammige Kieſelſchale hat die Form 
Füßchen und trägt auf dem Gipfel einen eines Ordenskreuzes. 

Stachel; das Gitterwerk der drei Abtheilungen 
iſt ſehr verſchieden. 


N NN) 


GH A, fi 


2 N 
, 
, 


Fig. 39. Acanthodesmia (prismatium). 

Neun Kieſelſtäbe ſind ſo verbunden, daß ſie 

die Kanten eines dreiſeitigen Prisma bilden. 

ein ſtarker, an Im Centrum ſchwebt eine kugelige Central— 
Stab ſteht. kapſel, von gelben Zellen umgeben. 


— 


„» rn a u me 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Es iſt ein weißes, mit bloßem Auge den. 


deutlich ſichtbares, weiches Schleimkügelchen, 
von der Größe eines kleinen Stecknadel— 
knopfes, oft in Menge auf dem ſchlammi— 
gen Boden unſerer Teiche und Gräben zu 
finden. In der Mittel des ſchleimigen und 
blaſigen Protoplasma-Kügelchens liegen 
mehrere Zellkerne. Von der Oberfläche 
ſtrahlen zahlreiche empfindliche und beweg— 
liche Fäden oder Pſeudopodien aus. Durch 
dieſe wird, wie bei den übrigen Wurzel- 
füßlern, die Nahrung aufgenommen. Die 
Vermehrung iſt erſt kürzlich entdeckt wor⸗ 


Fig. 40. Das vielzellige große Sonnenthier— 
chen (Actinosphaerium Eichhornii). Die 
innere dunkle Markmaſſe (e) enthält viele 
Zellkerne und einige Nahrungsbiſſen (d). Von 
der hellen, ſchaumigen Rindenſchicht (b), 
welche eben einen neuen Nahrungsbiſſen (a) 
aufnimmt, hc Scheinfüßchen. 
e) aus. 


Während das große Sonnenthierchen 
oder Strahlenkügelchen (Actinosphaerium) 
einen nackten Rhizopoden darſtellt, der 
viele Zellkerne enthält, alſo aus vielen ver⸗ 
einigten Zellen zuſammengeſetzt iſt, zeigt 
uns dagegen ein anderer, ſehr häufiger Süß— 
waſſerbewohner, das kleine Sonnen— 
thierchen (Actinophrys sol) den Orga- 


127 


Das Sonnenthierchen zieht dabei 
ſeine Fäden ein, umgiebt ſeinen kugeligen 
Körper mit einer Gallerthülle und zerfällt 
in viele einzelne Kugeln. Jede von dieſen 
enthält einen Kern und ſchwitzt eine Kieſelhülle 
aus, und jede dieſer kieſelſchaligen Zellen 
wird ſpäter zu einem neuen Sonnenthierchen. 
Man kann dieſelben aber auch künſtlich 
vermehren. Man kann ſie in mehrere 
Stücke zerſchneiden und aus jedem Stück— 
chen wird alsbald wieder ein ſelbſtändiges 
Weſen. Daſſelbe gilt auch von vielen an— 
dern Protiſten. 


Fig. 41. Das einzellige kleine 
Sonnenthierchen (Actino- 
phrys sol). Im Innern 
der ſtrahlenden Brotoplasma- 
Kugel liegt nur ein Zellkern 
(n). Eine contraktile Blaſe 
tritt an der Oberfläche des 
Protoplasma vor (“). 


nismus der Wurzelfüßler in ſeiner aller— 
einfachſten Geſtalt (Fig. 41), nämlich als 
eine nackte einfache Zelle mit einem einzigen 
Kern; von der Oberfläche deſſelben ſtrahlen 
viele feine Fäden aus, und indem das Proto- 
plasma an gewiſſen Stellen Waſſer aufnimmt 
und wieder abgiebt, bildet es „contractile 
Blaſen oder Vacuolen.“ 


(Schluß folgt.) 


Zur Phyſiologie Neugeborener. 


Von 


W. Preyer. 


I 


3. Vom Geruchſinn Neugeborener. | 


a die Anfüllung der Nafen- 


sc 8 
DR 


höhle mit einer ſtark riechen— 
den Flüſſigkeit nicht nur keine 
Geruchsempfindung, ſondern 

s für einige Zeit ſogar eine 
erhebliche Verminderung der Empfindlichkeit 
für Gerüche zur Folge hat, kann es nicht 
zweifelhaft ſein, daß vor der Geburt das 
Säugethier durch keinen objektiven Geruchs— 
reiz eine Geruchsempfindung erfährt. Denn 
beim Fötus, der rings von Fruchtwaſſer um— 
geben iſt, enthält bis zur Geburt die Naſen— 
höhle keine Luft. Die Grundbedingung für 
das Zuſtandekommen einer Geruchsempfind— 
ung durch äußere Reizung, das Einathmen 
gaſiger Stoffe, fehlt gänzlich. Dagegen iſt 
die Möglichkeit der Erregung durch innere 
Reize vorhanden. Der Blutſtrom und die 
Gewebeſpannung können theils peripher, 
theils central vor der Geburt ſubjective 
Gerüche veranlaſſen. Da jedoch derlei 
Empfindungen noch ſehr wenig unterſucht 


find, fo iſt einſtweilen nur ihre intra-uterine 
Möglichkeit feſtgeſtellt. Die Geruchshallu— 
cinationen bei Erwachſenen, z. B. nach Ge- 
nuß von ſantonſaurem Natron, die ich 
ſelbſt erlebte,“) beweiſen, daß durch Einführ— 
ung kleiner Mengen gewiſſer geruchloſer 
Stoffe in das Blut eine ſehr ſtarke Er— 
regung der nervöſen Riechſinnorgane her— 
beigeführt werden kann. Sonſt ſind ſubjektive 
Geruchswahrnehmungen durch inadäquate 
Reizung bei Geſunden ſo ſelten beobachtet, 
daß man vorläufig von Experimenten bei Neu— 
geborenen nach dieſer Richtung abſehen muß. 

Das Neugeborene ſehr ſtark riechende 
Subſtanzen wohl bemerken, habe ich an 6 
Meerſchweinchen, von denen keins älter war 
als 17 Stunden, ſicher ermittelt. Denn 
wenn ich übelriechende Stoffe, wie Stink— 
aſant, in nicht zu kleiner Menge auf den 
Boden einer horizontalen Glasflaſche brachte, 
in die das Beobachtungsthier hineinkroch, 
ſo wurde mit den Vorderfüßen wiederholt 
die Naſe gewiſcht und gerieben. Ferner 


) Archiv für die geſammte Phyſiologie 
Bonn 1868 


des Menſchen und der Thiere. 
1. Bd. S. 305. 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


wendeten ſich die Thierchen, nachdem einige 
Secunden ſehr concentrirte Propionſäure oder 
Carbolſäure oder Ammoniakwaſſer ihnen 
vorgehalten worden war, mit einer ſchnellen 
Kopfbewegung ab. Häufig aber machten 
ſie hierbei eine ſtärkere Exſpirationsbeweg— 
ung mit einem eigenen Geräuſch, die ſich 
wohl nur als ein Nieſen auffaſſen läßt. 
Den jungen Meerſchweinchen ſcheint dagegen 
der Geruch des Kamphers nicht unangenehm 
zu ſein. Denn ſie verweilen lange in einer 
mit Kampherſtücken halb angefüllten Flaſche, 
ohne jene abwehrenden Bewegungen auszu— 
führen. Daſſelbe gilt für Benzod- Harz. 
Freilich kommt hier die ſchnelle Abſtumpf— 
ung Neugeborener gegen Gerüche in Be— 
tracht. Ich prüfte noch eine lange Reihe 
von anderen riechenden Subſtanzen in dieſer 
Weiſe, beſonders Thymol, Alkohol, Aether, 
Chloroform, Blauſäure, Nicotin. Gegen 
dieſe Riechmittel verhielten ſich aber die 
Meerſchweinchen am erſten Tage nicht fo 
decidirt wie gegen die erſterwähnten, wahr— 
ſcheinlich weil die Verdünnung der Luft zu 
groß war. Soviel iſt ſicher, daß es 
falſch iſt, zu behaupten, Neugeborene ver— 
möchten am erſten Tage noch nicht mittelſt 
der Naſe angenehme und unangenehme 
Gerüche zu unterſcheiden. Die Eindrücke 
müſſen nur ſehr ſtark ſein. Wer geſehen 
hat, wie ein einen halben Tag altes Meer— 


ſchweinchen fi einerſeits gegen Asa foe- | 


tida, andererſeits gegen Kampher verhält, 
wird nicht zweifeln, daß jenes ihm Un- 
luſt verurſacht. Tabakrauch, den ich zwei 


mehr als 12 Stunden, aber noch nicht 
einen Tag alte, große Meerſchweinchen ein— 
athmen ließ, bewirkte Augenzwinkern und 
Zurückziehen des Kopfes. 

Man iſt nun nicht berechtigt anzu— 
nehmen, daß eben geborene Säugethiere 
jene Stoffe mittelſt ihrer Riechnerven per— 


129 


cipiren, denn das Nieſen, das Wiſchen der 
Naſe mit den Vorderfüßen, die Abwendung 
oder Zurückziehung des Kopfes von ſtark 
riechenden Stoffen einerſeits, die auffallende 
Gleichgültigkeit gegen weniger intenfive, 
aber immer noch deutlich riechende Stoffe 
andererſeits, ſprechen dafür, daß es ſich 
bei den Experimenten an Eintägigen mehr 
um Reizung der Naſalzweige des Nervus 
trigeminus, d. h. der Gefühlsnerven der Naſe, 
handelt, als des Nervus olfactorius, welcher 
allein die Geruchsempfindungen vermittelt. 

Durch andere Thatſachen iſt aber be— 
wieſen, daß Hunde, Kaninchen und Katzen 
ſchon in den erſten Lebenstagen riechen 
können. Es ſind folgende. 

Biffi durchſchnitt ganz jungen, noch 
blinden Hündchen die Lobi olfactorii. 
Die Verwundung wurde gut ertragen und 
das Lecken der Mutter beförderte die Heil— 
ung. So operirte Thiere konnten nun, 
ſo lange ſie blind waren, die Zitzen der 
Mutter nicht mehr finden. Sie krochen 
am Bauche derſelben hin und her, indem 
fie überall zu ſaugen verſuchten — ten- 
tando qua e la col muso gli oggetti. 
Meiſt mußte man ihnen den Mund öffnen 
und die Zitze hineinſtecken. Geſunde blinde 
Hündchen dagegen finden die Zitzen ſogleich, 
als wenn ſie dieſelben ſähen. Hiernach iſt 
kaum zu bezweifeln, daß beim Aufſuchen 
der Zitzen der Geruch die Jungen leitet, 
denn taſten konnten die Operirten nach wie 
vor). Man wird alſo ſchließen dürfen, 
daß der Nervus olfactorius auch bei 
eben geborenen Säugethieren erregbar iſt 
und darum auch bei den obigen Beobacht— 
ungen mitwirkte. Der Schluß wird durch 
Gudden beſtätigt. Dieſer Forſcher hat 

) Mitgetheilt in Schiff's Lehrbuch der 
Muskel- und Nervenphyſiologie, Lahr 1858. 
S. 373. 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


17 


130 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


blinden, ein bis zwei Tage alten Kaninchen 
den Riechnerv durchſchnitten ), oder die 
Naſenöffnung verſchloſſen oder die centralen 
Theile des Riechſinnorgans exſtirpirt, aber 
ſeine Aufmerkſamkeit mehr den dadurch 
herbeigeführten anatomiſchen Aenderungen, 
als den Störungen der Funktion zuge— 
wendet. Er conſtatirte nach Verſchließung 
einer Naſenöffnung oder Entfernen einer 
Hemiſphäre eine geringere Entwickelung 
des Riechnerven, des Bulbus olfactorius 
und des Tractus olfactorius derſelben 
Seite, als nach 6—8 Wochen das Thier 
getödtet wurde. Bei Fortnahme des einen 
Bulbus olfaetorius verſchwindet der Trac- 
tus olf. faſt ganz. Nach Entfernung beider 
Bulbi olf., wobei die Verwundung relativ 
unbedeutend war, gingen die Thierchen, des 
Geruchſinnes gänzlich beraubt, in Folge 
mangelhafter Ernährung bald zu Grunde, 
indem fie ſich „an der Alten und ihren 
Zitzen, trotz der Erhaltung der Nachhilfe 
von Seiten der Nexvi trigemini nicht mehr 


gut zurechtfanden“. Alſo wie bei einfacher 


Durchſchneidung beider Riechnerven. Wur— 
den dagegen die Riechorgane intakt gelaſſen 
und den Neugeborenen beide Augen fort— 
genommen, ſowie beide Ohren verſchloſſen, 
ſo entwickelte ſich der Geruchsſinn in ſehr 
hohem Grade, indem ſich die Bulbi olfae— 
torii über das gewöhnliche Maß anatomiſch 
nachweisbar vergrößerten; ähnlich wie 
die Ohrmuſcheln eines Kaninchens, dem 
beide Augen nach der Geburt fortgenommen 
worden waren, eine ſtarke Entwickelung 
erhielten und das Gehör ſich über die 
Norm verfeinerte. 

Aus dieſen Verſuchen ergiebt ſich die Ab— 
hängigkeit der Organentwickelung von äußerer 
Reizung, insbeſondere aber, daß Kaninchen 
ſchon ſehr bald nach der Geburt riechen 

9) Archiv für Pſychiatrie 2. Bd. S. 693. 


können, und von dieſem Vermögen aus— 
giebigen Gebrauch beim Aufſuchen der Zitze 
machen. Sonſt wäre es unverſtändlich, wie 
ſie nach Zerſtörung allein der Riechnerven 
die Zitze nicht mehr finden und verhungern. 

Ferner hat Spalding (1875) be- 


obachtet, daß 4 noch blinde dreitägige Kätz— 


chen als er ſeine Hand, die ſoeben einen 
Hund geſtreichelt hatte, ihnen nahe brachte, 
in ergötzlichſter Weiſe zu fauchen und zu 
ſpeien begannen. Er ſchließt daraus mit 
Recht, daß die Katze, noch ehe ſie ihn ſehen 
kann, Schon den Erbfeind verabſcheut. Hier 
iſt der Schluß, daß nach drei Tagen die 
Katze einen entwickelten Geruchſinn beſitzt, 
anzumerken. 

Das menſchliche Neugeborene verhält 
ſich anders als die Thiere. Kußmaul 
hat ermittelt, daß ſtark riechende Subſtanzen 
von ſchlafenden Neugeborenen (auch einen 
Monat vor dem phyſiologiſchen Termin 
geborenen) unangenehm empfunden werden. 
Denn er ſah dieſelben, wenn er die Düfte 
der Asa foetida oder des Dippel'ſchen Oeles 
ihnen in die Naſe ſteigen ließ, häufig die 
Augenlider feſter zuſammenkneifen, das 
Geſicht verziehen, unruhig werden, Kopf 
und Arme bewegen, erwachen und nach Ent— 
fernung des Riechmittels wieder einſchlafen. 
Genzmer bemerkte, daß gut entwickelte, 
lebhafte Kinder durch ſtarke Geruchsein— 
drücke zum Schreien gebracht werden. Er 
verwendete die ſehr übelriechende Aqua 
foetida antihysterica, welche mit einem 
Pinſel auf den oberen Rand der Oberlippe 
wachenden wie ſchlafenden Kindern geſtrichen 
wurde. Wie viele Stunden oder Tage ſie 
alt waren, iſt leider nicht angegeben. Die 
Säuglinge machten, wenn wenig Flüſſigkeit 
aufgetragen war, Saugbewegungen, wenn 
mehr, Würgbewegungen; auch wurden die 
Augen zugekniffen und das Geſicht ver— 


r ²˙¹A⁰ò̃²˙¹- /t!̃̃ a ͤGyA ß—— 


8 


Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 131 


zogen. Bei dieſen Beobachtungen iſt die 
Empfindung des Naſſen überſehen worden, 
und beide Forſcher haben nicht bedacht, daß 
durch ihre Verſuche keineswegs die Exiſtenz 
eigentlicher Riechempfindungen beim Neu— 
geborenen erwieſen iſt. Vielmehr ſpricht 
der Mangel an entſcheidenden Ergebniſſen 
des erſteren, ſowie er wachende Säuglinge 
vornahm, und der Umſtand, daß über— 
haupt nur ſehr ſtarke Reizmittel verwendet 
und wirkſam gefunden wurden, auch hier, 
für eine Erregung des N. trigeminus. g 

Der Beweis für das Riechvermögen 
würde erbracht ſein, wenn eine Mutter oder 
Amme ſich entſchlöſſe, die Warze, an welcher 
der Säugling bereits einmal geſogen, mit 
einer riechenden Subſtanz, die nicht ſchmeckt, 
zu beſtreichen, z. B. Kampher, oder wenn 
man flüchtige Subſtanzen wie Petrolenm, 
Weingeiſt, Kölniſches Waſſer, in ſehr kleiner 
Menge außen an die Saugflaſche oder auf | 
das Warzenhütchen oder auf die Bruſt 
brächte. Weigert ſich dann das Kind zu 
ſaugen und weigert es ſich nicht mehr nach 
Entfernung des Riechmittes, ſo kann es 
riechen. Denn bei ſchwachen Gerüchen 
dieſer Art iſt eine merkliche Erregung der 
Naſaläſte des N. trigeminus nicht an— 
nehmbar. Solche Verſuche werden durch 
die ältere Angabe, daß Säuglinge in den 
früheſten Tagen des Lebens die Mutter— 
bruſt verſchmähen, welche zufällig einen 
fremdartigen Geruch erhalten hat, nicht 
überflüſſig gemacht. | 

Daß beim Aufſuchen der Warze ſeitens 
des nur angelegten, ſonſt nicht unterſtützten 
Säuglings der Geruchſinn betheiligt ſei, 
wie bei Thieren, iſt mir nach eigenen Be— 
obachtungen unwahrſcheinlich. Denn das 
Kind fährt oft auffallend haſtig und faſt 
gewaltſam mit dem ganzen Kopfe an der 


ſteht, bleibt freilich dahingeſtellt. 


Bruſt hin und her mit offenem Munde 


und intermittirenden Unterkieferbewegungen, 
aber erſt am 8. Tage trat dieſes Taton— 
niren bei dem von mir hieraufhin ge— 
nau beobachteten Kinde ein. Und ſelbſt in 
dieſem Fall können die taſtenden Bewegungen 
durch das künſtliche Anlegen erſt erworben 
worden ſein. 


4. Vom Geſchmackſinn Neugeborener. 


Die Schmecknerven gehören zu den— 
jenigen Sinnesnerven, welche bei Säuge— 
thieren ſchon vor der Geburt unzweifelhaft 
objektiv erregt werden. Denn mag auch 
der Mundſchleim für ſich keinen Geſchmacks— 
reiz abgeben, ſo muß doch die verſchluckte 
Amniosflüſſigkeit, deren Concentration nicht 
immer dieſelbe iſt, durch ihn verändert 
werden, ſowie ſie in den Mund des Fötus 
gelangt. Und daß der Fötus Fruchtwaſſer 
verſchluckt, wird nicht mehr bezweifelt *). 
Ob mit der Erregung der Geſchmacksner— 
ven ſchon intra-uterin eine Empfindung ent— 
Auch ob 
durch innere“ Reize vom Blute der Frucht 
aus Geſchmacksempfindungen zu Stande 
kommen können, iſt unſicher. Derartige 
Geſchmackshallucinationen ſind beim ge— 
ſunden Erwachſenen noch nicht näher unter— 


ſucht. Ich habe ſie in ausgeprägter Weiſe 


durch ſantonſaures Natron hervorrufen 
können *), aber bei Neugeborenen wird 
nach dieſer Richtung nicht zu experimentiren 
ſein, obgleich es mir wiederholt vorgekommen 


iſt, daß Thiere nach ſubcutaner Injection 


ſtark ſchmeckender Stoffe, z. B. milchſau— 
ren Natrons und Blauſäure, wobei nichts 
in den Mund kam, lebhafte leckende, kauende 


) Guſſerow im Archiv für Gynäkologie 
3. Bd. 2. Heft: Zur Lehre vom Stoffwechſel 
des Fötus. 

) Archiv für die gef. Phyſiologie. Bonn 
1868. 1. Bd. S. 305. 


132 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 


oder ſchluckende Bewegungen machten, als 
ob ſie etwas ſchmeckten. Es iſt wahr— 
ſcheinlich, daß hier das Blut in der Zunge 
die Endigungen der Geſchmacksnerven von 
innen her erregt. 

Meine an Menſchen und Meerſchwein— 
chen angeſtellten Verſuche zur Prüfung, ob 
Säugethiere am erſten Tage ihres Lebens 
ſchmecken können, ſind bis jetzt nur bezüg— 
lich des Süßen erfolgreich geweſen. Ein 
noch nicht 17 Stunden altes Meerſchwein— 
chen, dem ich gleichzeitig Thymol, Kampher 
und Candiszucker in je einem Stück vor— 
ſetzte, hielt ſich bei letzterem am längſten auf, 
nagte eine Kante an und begann hierauf 
ſehr eifrig den Zucker zu lecken. Man 
ſah deutlich wie es die Zunge vorſtreckte 
und gegen die glatte Fläche des Kryſtalls 
ſtrich. Nachdem es Minuten lang dieſe 
Operation anſcheinend mit großem Behagen 
fortgeſetzt hatte, nahm ich es fort, nähte 
ihm beide Augen zu und wiederholte 
den Verſuch nach 24 Stunden. Zu 
meinem Erſtaunen unterſchied auch das 
blinde Thier den Zucker, obwohl es weder 
das Thymol noch den Kampher angenagt 
oder beleckt hatte, wahrſcheinlich ver— 
mittelſt des Geruchs, und wieder begann 
es den Zucker zu lecken. Andere Meer- 
ſchweinchen ſah ich am erſten Lebenstage 
eine ſolche Entſchiedenheit des Geſchmacks 
oder vielmehr des Geſchmacks und Geruchs 
nicht bekunden. Aber der eine Fall beweiſt, 
daß die Empfindung des Süßen — viel— 
leicht durch die Muttermilch oder das Frucht— 
waſſer zuerſt, ihm bekannt geworden — 
am erſten Tage erkannt und angenehm ge— 
funden wird. Andere Verſuche bei 8— 165 
ſtündigen ſeit 2 Stunden von der Mutter 
getrennten Meerſchweinchen ergaben mir als 
allgemeines Reſultat, daß concentrirte Löſ— 
ungen von Weinſäure, von Soda, von 


Glycerin, in Glasröhrchen in den Mund 
eingeführt, ebenſo begierig wie Kuhmilch 
und Waſſer mittelſt energiſcher Saugbe— 
wegungen verſchluckt wurden. Aber auch 
das leere Röhrchen bewirkte ebenſolches 
Saugen. Alſo können die Verſuche, in dieſer 
Weiſe angeſtellt, nicht viel Sicheres ergeben. 
Die Berührung als Reflexreizung der Taſt— 
nerven des Mundes zum Saugen bei 
Hungernden überwiegt offenbar etwaige Ge— 
ſchmacksreize. Geſättigte Neugeborene ſaugen 
aber überhaupt nicht conſtant. Dagegen 
beobachtete bei menſchlichen Säuglingen 
Kußmaul 1entſchiedene Geſchmacksreflexe. 
Er brachte ſehr concentrirte Zuckerlöſung, 
ſtark bitter ſchmeckende Chininlöſung, aus— 
geſprochen ſauer ſchmeckende Weinſäurelöſ— 
ung, ſtark ſalzig ſchmeckende Kochſalzlöſung 
warm mit einem Pinſel auf die Zunge und 
zwar ſolchen (auch im 7. und 8. Fruchtmonat 
geborenen) Kindern, welche noch keine Milch 
erhalten hatten und ſchließt aus den mimi— 
ſchen Bewegungen, die dann eintraten, daß 
der Geſchmacksſinn Neugeborener bereits 
in ſeinen weſentlichſten Empfindungsformen 
thätig zu ſein vermag. Genzmer ver— 


wendete Chininlöſungen und die zu ſolchen 


Verſuchen ihres ſtarken Geruchs wegen bei 
Körperwärme wenig geeignete Eſſigſäure. Er 
fand, daß wenn Eſſigſäure, oder ¼ bis 1- 
procentige Chininlöſungen auf die Zunge 
gelangten, das Geſicht wie beim Empfinden 
des Süßen ſich veränderte und Saugbe— 
wegungen eintraten. Auch Kußmaul 
hatte zuweilen die Säuglinge mit dem 
mimiſchen Ausdruck für Bitteres auf Zucker 
antworten ſehen. 

Es läßt ſich alſo noch nicht ſagen, ob 
neugeborene Menſchen die verſchiedenen Ge— 
ſchmacksempfindungen ſicher unterſcheiden. 
Dazu bedarf es noch viel umfangreicherer 
Verſuchsreihen. 


Das Thierreich, 
vom Geſichtspunkte der Anpallungsähnlichkeit. 


(Ein Beitrag zum 14. Kapitel von Darwin's „Entſtehung der Arten“) 


von 


Wilhelm von Reichenau. 


N 


JR Aehnlichkeit in den Reichen 


2 


IE 5; der Lebeweſen kann aus ver- 
e ſchiedenen Urſachen enttanden - 


Findet man — und 
wir müſſen uns dabei auf eine 
relative Anſchauungsweiſe beſchränken — bei 
zwei Lebeweſen eine auffällige Uebereinſtim— 
mung äußerer und innerer Organe, ſo iſt, 
wie die Descendenztheorie aufgehellt hat, 
Abſtammung von einer gemeinſamen Ahnen— 
form als Grund der Aehnlichkeit zu ver— 
muthen; beſteht dagegen die Aehnlichkeit 
mehr obenhin, d. h. erſtreckt ſie ſich nur 
über äußere Form, Farbe u. ſ. w., ſo iſt 
eine andere Erklärung hierfür nothwendig 
und wurde auch in der Uebereinſtimmung 
der maßgebenden äußeren Bedingungen von 
Lamarck zuerſt aufgefunden. 

Darwin hob (1859) hervor, daß 
die „analogen oder Anpaſſungs-Charaktere“ 
zur Feſtſtellung der wirklichen Verwandt— 
ſchaft der in Unterſuchung befindlichen Weſen 
nur in ſehr geringem Grade von Werth 
ſeien, um ſo mehr aber als wichtig erachtet 


werden müßten „für das Gedeihen der be— 
treffenden Weſen.“ Stark ausgeprägte 
analoge Charaktere könnten den Natur- 
forſcher bei ſyſtematiſchen Studien weit eher 
beirren, als ihm zur Unterſtützung gereichen; 
ſo habe „Linné, durch den äußeren An— 
ſchein verleitet, wirklich ein homopteres 


| Infekt unter die Motten geſtellt.“ — 


Es leuchtet ein, daß Anpaſſung an ſehr 
verſchiedene Exiſtenzbedingungen — ſetzen wir 
z. B. für die eine Form. Baumleben mit 
Früchtegenuß und Adler als Feinde, für 
die zweite Form Meeresleben mit Muſchel— 
nahrung und Haifiſche zu Feinden, — auf 
die Nachkommen einer und derſelben Urform 
durch fortgeſetzte Vererbung der erworbenen 
neuen Anpaſſungs-Charaktere Formen er— 
zeugen kann, deren urſprüngliche Bluts— 
verwandtſchaft ernſtlich in Zweifel geſtellt 
werden könnte. „Wir begreifen ferner,“ 
ſagt Darwin, „das anſcheinende Para— ö 
doxon, daß die nämlichen Charaktere 
analoge ſein können, wenn eine Klaſſe 
oder Ordnung mit der andern verglichen 


ad) 


134 


wird, aber für echte Verwandtſchaft zeugen 
homologe genannt werden müſſen), wo— 
fern es ſich um die Vergleichung von 
Gliedern der nämlichen Klaſſe oder Ord— 
nung unter einander handelt. So beweiſen 
Körperform und Ruderfüße der Wale nur 
eine Analogie mit den Fiſchen, indem ſie 
in beiden Klaſſen nur eine Anpaſſung des 
Thieres zum Schwimmen im Waſſer be— 
deuten. Aber beiderlei Charaktere beweiſen 
auch die nahe Verwandtſchaft zwiſchen den 
Gliedern der Wal-Familie ſelbſt; denn dieſe 
Wale ſtimmen in ſo vielen großen und 
kleinen Charakteren miteinander überein, 
daß wir nicht an der Ererbung ihrer all— 
gemeinen Körperform und ihrer Ruderfüße 
von einem gemeinſamen Vorfahren zweifeln 
können. Und ebenſo iſt es bei den Fiſchen.“ 

Nach der Natur und Wirkung der 
äußeren Anpaſſungsverhältniſſe kann man 
zunächſt Waſſer-, Erd- und Luft— 
Anpaſſuungen unterſcheiden, von denen 
wir einige der lehrreichſten betrachten wollen: 


I. Die Anpaſſungen an die Gewäſſer. 
A. Säugethiere. 


Echte Anpaſſungen find in der Säuge— 
thierklaſſe nicht in beſonders großer 
Zahl und Mannigfaltigkeit vertreten. Die 
Menſchen und hochſtehenden Affen, Paviane 
mit inbegriffen, können ohne Unterricht nicht 
ſchwimmen; kein Wunder daher, daß ſich 
aus ſo entſchiedenen Landthieren keine Waſſer— 
formen bildeten. Viele der übrigen Affen 
der alten und neuen Welt können indeß 
wenigſtens durch Schwimmen ihr Leben 
retten oder ſetzen gar freiwillig über ſchmale 
Flüſſe hinweg. Flederthiere retten, in's 
Waſſer gefallen, auch gewöhnlich das Leben 
durch Flattern. Alle übrigen Säugethier— 
ordnungen begreifen Thiere in ſich, die 


von Reichenau, Das Thierreich vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


mehr oder weniger mit dem Waſſer ver— 
traut ſind; demſelben ſpecieller angepaßt 
haben ſich von Säugethieren folgende. 

a) In geringerem Grade durch 
Umbildung vorhandener Charaktere: 
Die Waſſerſpitzmaus (Crossopus fo— 
diens). Dem Waſſerleben entſprechen ein— 
mal das durch Haare verſchließbare Ohr 
und der dichter gewordene Pelz. Die Zehen 
ſind auf der Unterſeite nicht mit zarten 
Wimperhärchen, ſondern mit ſteifen, ſtarken 
und ziemlich langen Haaren beſetzt; letztere 
laſſen ſich ausbreiten und beim Laufen glatt 
anlegen. Mit ſo einfachen Erwerbniſſen 
iſt die Waſſerſpitzmaus, den Typus der 
flinken Spitzmäuſe beibehaltend, ein höchſt 
gewandtes Waſſerthier geworden, welches 
tauchend mit den Steißfüßen wetteifern kann. 
Sieht man von gewiſſen anderen tüchtigen 
Schwimmern, z. B. dem Eisbären, Hermelin, 
der Wanderratte und Waſſerratte ab, da 
dieſelben körperlich keine beſonders ausge— 
ſprochene Waſſeranpaſſung verrathen, ſo 
können wir 

b) in auffallenderem Grade 
entwickelte Waſſerthiere in nach— 
folgenden Formen vorführen: 

1. Die Biſamſpitzmaus (Myogale) 
mit langer Röhrennaſe, dichtem Pelze, ver— 
ſchließbaren Ohren, verſchließbarer Naſe, 
niederen Beinchen mit je fünf durch Schwimm— 
häute verbundenen Zehen. Die Vorder— 
füßchen ſind behaart, die hintern beſchuppt, 
der lange Schwanz iſt am Ende zweiſchneidig 
zuſammen gedrückt. f 

2. Das Waſſerſchwein 
choerus capybara). Dieſes eigenthüm— 
liche Nagethier ähnelt in ſeiner Erſcheinung 
einem kleinen Flußpferde (Hippopotamus) 
durch den plumpen Bau, das ſtarke Ge— 
biß und die geſtreckte Form. Die hufartig 
benagelten Zehen ſtehen am Vorderfuße zu 


(Hydro- 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


vier, am Hinterfuße zu drei und ſind durch 
erweiterte Bindehäute (kleine Schwimmhäute) 
verbunden. 

3. Die Biſam ratte (Fiber zibethi- 
eus) Nordamerikas iſt eine große Wühl— 
maus mit der Lebensweiſe und den Fähig— 
keiten des Bibers; ihre Füße ſind mit 
Schwimmhaaren beſetzt. Nach den Berichten 
guter Beobachter ſteht die Biſamratte dem 
Biber nicht an Tüchtigkeit im Schwimmen 
u. ſ. w. nach, wiewol ſie weder Schwimm— 
häute, noch eigentlichen Steuerſchwanz befigt. 

4. Der Nörz (Vison), eine Ueber— 
gangsſtufe von den Iltiſſen zur Fiſchotter, 
gleicht ſeiner Geſtalt nach dem Iltis, 
doch iſt ſeine Schnauze breiter, das Ohr 
kleiner und mit Haaren verſchließbar, der 
Pelz dichter, und die Bindehäute der Zehen 
ſtellen eine mehr als zur Hälfte reichende, 
kurzbehaarte Schwimmhaut dar. 

5. Das Flußpferd (Hippopotamus 
amphibius) hat ſich mehr durch die Unge— 
ſchlachtheit ſeines langgeſtreckten Walzen— 
körpers, unter deſſen dicker Haut (der die 
Behaarung mangelt) reichliches Fett vor— 
handen iſt, dem Waſſerleben angepaßt, als 
durch beſonders differenzirte äußere Organe. 
Das Flußpferd neigt als ein ſchweinartiges 
Thier leicht zur Fettproduction, und letztere 
iſt ein großer Vortheil für Thiere, welche 
im Waſſer leben, denn ſie macht den Körper 
ſpezifiſch leicht, und Maſſenentwicklung hindert 
in dem flüſſig nachgiebigen Elemente nicht. 

6. Der Schwimmbeutler (Chiro- 
nectes vulgaris), das einzige Beutelthier, 
welches im Waſſer lebt, aus Südamerika. 
Der „Papock“ oder „Demerararatte“, wie 
das Thier auch genannt wird, hat den 
Typus der Beutelratten beibehalten, jedoch 
im Waſſerleben an den langzehigen Hinter— 
füßen Schwimmhäute erworben, die bis zu 


den Krallen reichen. Die Lebensweiſe ſoll 


coypus), 


135 


der unſeres Fiſchotters ähnlich ſein, wenn 
auch die Backentaſchen nach A. Brehm 
darauf hindeuten, daß Pflanzennahrung nicht 
ganz verſchmäht wird. 

c) Mit hervorſtechenderen Charak— 
egen; 

1. Der Spitzotter (Potamogale ve- 
lox) von den Flüſſen Weſtafrikas. Ein 
Inſektenfreſſer ſeiner Verwandtſchaft nach, 
hat Geſtalt und Lebensweiſe mit den Ottern 
gemein und einen ſeitlich zuſammengedrückten, 
langen Steuerſchwanz. 

2. Der Sumpfbiber (Myopotamns 
ein Nager mit den enormen 
Schneidezähnen und ſtarken Grabkrallen ſeiner 
Verwandten, der Schrotmäufe (Echimyidae), 
aber mit großen Schwimmhäuten an den 
Hinterfüßen und dichtem Waſſerpelze; ſein 
Schwanz zeigt nichts Beſonderes und da— 
her taucht das plumpe Thier wohl auch 
ſchlecht. 

3. Der Biber (Castor fiber), eine 
vollkommene Waſſeranpaſſung, ſo plump ge— 
baut, wie der vorige. Seine Ohren ſind faſt 
ganz im Pelze verſteckt, die Augen kleiner 
und mit entwickelter, verſchiebbarer Nickhaut. 
Der Schwanz, höchſt muskulös, ſcheidet ſich 
nicht deutlich vom Rumpfe, iſt von der 
Wurzel rund, in der Mitte oben und unten 
platt, über handbreit, beſchuppt und, von 
oben geſehen, eirund geſtaltet. Er iſt ein 
kräftiges Steuer, mit welchem namentlich 
die Tauchbewegung präcis ausgeführt wird. 
Die Hinterfüße haben große Schwimmhäute. 

4. Die Sumpfratte (Hydromys 
chrysogaster) von Vandiemensland, ein 
fünfzehiges Nagethier mit Schwimmhäuten an 
den Hinterfüßen und einem Steuerſchwanze, 
welcher dreifünftel der Geſammtlänge ein— 
nimmt, ebenmäßig wie beim Biber und 
abweichend von allen Landſäugethieren un— 
merklich aus dem Rumpfe heraustritt (jo 


Bra) 


136 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


ſtark find die Schwanzwurzelmusfeln ent— 
wickelt) und dünn, nicht platt, ausläuft. 

5. Der Fiſchotter (Lutra), ein Mar— 
der des Waſſers, iſt demſelben ſehr gut an— 
gepaßt. Der Leib iſt flach, der Kopf platt, 
ſtumpfſchnäuzig und mit kleinen vorſtehen— 
den Augen und kurzen, runden Ohren ver— 
ſehen. Zwiſchen den fünf Zehen der kurzen 
Füße befinden ſich ſehr ausgebildete Schwimm— 
häute, und der lange, ſtarke, beim Schwim— 
men nützliche Schwanz iſt am Ende ſeitlich 
flach, wie bei dem Spitzotter. Der Pelz 
iſt wegen ſeiner Waſſerdichte rühmlichſt be— 
kannt. 

6. Das Schnabelthier (Ornitho— 
rhynchus paradoxus) von Auſtralien. In 
der allgemeinen Körperform ähnelt dieſe 
Süßwaſſeranpaſſung ſehr den Ottern, doch 
ſind alle Körpertheile, einzeln betrachtet, von 
denen genannter Thiere verſchieden. Der 
Rumpf und der Schwanz halten die Mitte 
zwiſchen Biber und Fiſchotter, die kurzen 
Beine haben fünfzehige Füße, deren vordere 
die größte Kraft beſitzen und ebenſowol 
zum Schwimmen, als zum Graben dienen. 
Bei ihnen erſtreckt ſich die Schwimmhaut 
ziemlich weit über die Krallen hinaus, iſt 
aber vorn ſehr biegſam und ſchiebt ſich 
beim Graben zurück. Die Hinterfüße ſtehen 
rückwärts, ſind ſehr kurz, ſtark bekrallt und 
mit kurzer Schwimmhaut verſehen. Der 
Schwanz iſt platt, breit und am Ende 
plötzlich abgeſtutzt. Die Naſenlöcher liegen 
in der Oberfläche des Schnabels, nahe dem 
Ende, die verſchließbaren Ohrenöffnungen, 
welchen die äußere Muſchel fehlt, nahe am 
äußeren Augenwinkel. Die fleiſchige Zunge 
iſt mit hornigen Zähnchen beſetzt und bildet 
mit dem Schnabel ein Sieb, wie es der 
Schnabel der Flamingos, Enten und Säger 
bei den Vögeln darſtellt. Das Schnabel— 


thier beſitzt außerdem Backentaſchen, worin förmig, der Hals ſehr kurz und dick, va 


* 


die in der Eile gefangene thieriſche Nahrung 
bis zu einem Momente der Ruhe aufge— 
ſpeichert wird. Der Pelz iſt dem des 
Fiſchotter ähnlich, doch durch eine Eigen— 
ſchaft der Grannenhaare ausgezeichnet, welche 
als Anpaſſung des Aufenthaltes in ſelbſt— 
gegrabenen Röhren und zugleich als Waſſer— 
anpaſſung aufzufaſſen iſt. A. Brehm 
ſagt darüber: „Die langen Haare würden 
es, wenn ſie von der Wurzel an bis zur 
Spitze geradeaus nach dem Schwanze zu 
gerichtet ſtänden, beim Wühlen ſehr be— 
läſtigen, zumal wenn es ſich in ſeinem 
Baue rückwärts drehen wollte, während ſie 
bei ihrer wirklichen Beſchaffenheit, indem 
ſie nach der Wurzel zu ſchwächer, nach außen 


zu ausgebreiteter find, die Spitze leicht in 


jeder Richtung hin bewegen können, und zu 
gleicher Zeit, da ſie ſich dicht aufeinander 
legen, das Waſſer vortreffllich abhalten“. 
In der Lebensweiſe ſteht das Schnabelthier 


zwiſchen Otter und Ente: wie jene ſchwimmt 


und taucht, wie dieſe erbeutet es ſeine 
Nahrung! — 

d) Meeres anpaſſungen. Mit 
dem Aufenthalte in einem größeren Ge— 
wäſſer trat die Rückkehr zum Lande wegen 
der eine Schranke bildenden Brandung immer 
mehr in den Hintergrund. Die Formen 
werden einfacher, allmälig fiſchförmiger und 
verlieren dabei die unnöthige Länge der 
äußeren Organe. Gegen die Gewalt der 
Wellen und den Temperaturwechſel ſchützt 
eine ſtarke Haut mit maſſenhaft darunter 
gehäuftem Fett, welches zudem das ſpezi— 
fiſche Gewicht dem des Waſſers ungefähr 
gleichmacht. 

Als Uebergangsſtufe von den Fiſch— 
ottern zu den Robben haben wir: 

1. den großen Seeotter (Enhydris 
lutra) anzuſehen; ſein kräftiger Leib iſt walzen 


Kopf rundlich und ſtumpf, mit großen nach 
vorne blickenden Augen, ſehr kleinen und 
tief unten ſtehenden Ohren. An den Vorder— 
füßen ſind die Zehen verkürzt und mit 
einer ſchwieligen, unten nackten Haut ver— 
bunden; ſie dienen noch zum Beſteigen des 
Landes, wo die Beute verzehrt wird. An 
den Hinterfüßen nehmen die Zehen von 
außen nach innen zu an Länge ab und ſind 
durch eine große Schwimmhaut verbunden 
(wie beim Ruderfuß der Pelikane). Der 
Schwanz iſt kurz geworden, tritt aber noch 
handelnd auf und iſt daher zuſammenge— 
drückt und kräftig. — Noch entſchiedener 
ausgeprägte Meeresanpaſſungen ſind: 

2. die Robben. Unter den Robben 
haben die Ohrenrobben (Otariae) noch 
am eheſten in ihren Formen das Andenken 
an ihre Landraubthier-Abkunft bewahrt. Der 
breite, ſtarke Raubthierkopf hat verſchließbare 
Naſen⸗ und Ohren-Oeffnungen, und die 
Bindehaut des Auges zieht ſich beim Unter- 
tauchen wie ein Schiebfenſter querüber; das 
äußere Ohr iſt, wenn auch kurz, noch vor— 
handen, und die Gliedmaßen ragen ziemlich 
weit aus dem Körper hervor. Dieſer iſt 
mit Woll⸗ und Grannenhaaren bedeckt bis 
auf die einfach behaarten Extremitäten, deren 
Unterſeite kahl wurde und deren Zehen bei 
der großen Länge derſelben, namentlich am 
Hinterfuße, mit ſehr großen Schwimm- 
häuten verſehen ſind. Der Schwanz iſt 
rudimentär. — Zwiſchen den Ohrenrobben 
und Seehunden, zu welch' letzteren der 
See-Elephant (Macrorhinus elephan- 
tinus), ſowie die Mützenrobbe (Stemma- 
topus eristatus) ebenfalls zu zählen find, 
während Seebär (Aretocephalus) und 
Seelöwe (Otaria) zu erſteren gehören, 
ſtehen die Seeleoparden (Leptonyx). 
Dem Kopfe fehlen die äußeren Ohren, der 
Hals iſt noch lang, die Vorderfüße nehmen 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 137 


vom Daumen zum kleinen Finger ſtetig an 
Länge ab, und die Hinterfüße find einge— 
ſchnitten wie ein Fiſchſchwanz. — Die ei— 
gentlichen Seehunde (Phocae) haben 


kein äußeres Ohr mehr, kurze Gliedmaßen, 
deren vordere ſie noch recht geſchickt zum 


Putzen an ihrem Körper verwenden, kurzen 
Hals und verſchwindenden Schwanz. Der 


Körper iſt noch dicht behaart. — Die 
Wallroſſe (Trichechus) haben gleichfalls 


die äußere Ohrmuſchel verloren und gehörige 
Floſſenfüße erhalten. 

Die Behaarung, welche übrigens auch 
manchen großen Landthieren, z. B. Elefanten 
und Nashörnern, mangelt, iſt ſehr dünn 
geworden und im Alter faſt nur noch auf 
die ſtarken und vielen Schnurrborſten, einer 
charakteriſtiſchen Entwicklung aller ſeither 
betrachteten Waſſeranpaſſungen von hervor— 
ragenderem Charakter, beſchränkt. Die Dicke 
der Haut und deren Fettunterlage machen 
das Haar entbehrlich. 

3. Die Sirenen (Sirenia) oder 
Seerinder. Bei den Sirenen oder See— 
kühen iſt die Waſſeranpaſſung ſehr weit 
fortgeſchritten; ſo weit, daß kaum noch die 
Reihe von Thieren erkannt zu werden ver— 
mag, von welchen dieſe merkwürdigen Miſch— 
formen, halb Säugethier, halb Fiſch, ab- 
ſtammen. Das Studium des äußeren und 
inneren Baues bei Alt und Jung legt es 
indeß doch ſehr nahe, daß dieſe Thiere von 
Hufthieren, und zwar von einer Abtheilung! 
der letzteren herrühren, zu welcher das heute 
noch fortexiſtirende Flußpferd zu rechnen iſt. 

Die Sirenen haben einen kleinen Kopf 
mit dickwulſtiger Schnauze, ſpärliche, kurze 
und borſtenartige Behaarung, kleine Augen, 
kleine, tiefliegende Ohröffnungen, ziemlich 
große Naſenöffnungen und einen mäßig geipal- 
tenen, eher kleinen Mund. Die Zähne ſind 
ſehr einfach geworden; viele fehlen den aus— 


18 


138 


gewachſenen Thieren, welche das Junge noch 
beſitzt. Der Leib der Seerinder ſteht in 
der Form zwiſchen dem eines Flußpferdes 
und eines großen Fiſches mitten inne. Die 
Vordergliedmaßen allein ſind äußerlich noch 
vorhanden, erſcheinen aber nur zweigliedrig 
und ſehen wie Floſſen aus, ſo vollſtändig 
ſind die im Skelet vorhandenen Finger mit 
der Körperhaut überzogen. Von den Hinter— 
gliedmaßen findet man nur am Becken des 
Skelets die Rudimente, äußerlich treten ſie 
nicht mehr hervor; dagegen endet die ver— 
längerte Rückenwirbelſäule in einem Fiſch— 
ſchwanze. Erwähnenswerth iſt, daß die 
Sirenen ihre Zitzen auf der Bruſt, zwiſchen 
den Vorderfüßen, haben und das Junge nach 
Menſchenart mit einer der Floſſen an der 
Bruſt feſthalten, um es zu ſäugen. Die 
Nahrung beſteht in See- und Seeſtrand— 
pflanzen, die Thiere weiden die letzteren, 
mit der Bruſt und den Vorderfüßen ſich 
aus dem Waſſer hinaus an's Land ſchaffend, 
ab, wie Rinder dies thun. Die Bewegung 
auf dem Lande iſt aber eine ſehr mühevolle. 

4. Walthiere (Cetacea). Wahr⸗ 
ſcheinlich als Fortſetzung einer Reihe der 
pflanzenfreſſenden Walthiere (Phy- 
toceta), zu welchen die Sirenen gehören, 
hat ſich die Ordnung der fleiſchfreſſen— 
den oder eigentlichen Wale (Sarcoceta) 
entwickelt. Dieſe ſind faſt ſo vollkommene 
Waſſeranpaſſungen wie die Fiſche, nur mit 
dem durchgreifenden Unterſchiede, daß ſie 
durch Lungen Luft athmen, d. h. daß ſie 
eben keine Fiſche, ſondern Säugethiere ſind. 
Das Land, welches die Robben noch regel— 
mäßig, die Sirenen mitunter beſuchen, iſt 
ihnen gänzlich fremd geworden. Der Leib 
iſt denn auch durchaus fiſchartig geworden, 
maſſig und unbeholfen, ohne alle äußere 
Gliederung; der Kopf, welcher meiſt ſehr, 
oft ganz beiſpiellos groß iſt und dabei ein 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


ſehr kleines Hirn hat, geht unvermerkt in 
den übrigen Körper über; der Hals iſt 
äußerlich nicht vom Rumpf zu unterſcheiden, 
und der Rücken trägt gar in vielen Fällen 
eine wie bei manchen Fiſchen geſtaltete 
Rückenfloſſe, welche iudeß keine Knochen— 
ſtrahlen beſitzt, vielmehr nur als eine durch 
natürliche Zuchtwahl befeſtigte Hautwuche— 
rung (Fettfloſſe) angeſehen werden kann. 
Die Vorfüße ſind Handfloſſen, zeigen aber 
im Skelete den Bau der Säugethierhand, 
wenn auch mit weit mehr Gliedern ver— 
ſehen, wie gewöhnlich; die Hinterfüße fehlen 
gänzlich, der Schwanz trägt wie beim 
Dujong eine wagrechte, halbmondförmige 
Finne. Die Knochen ſind ſchwammig und 
mit öligem Fette durchtränkt, dagegen marklos 
geworden, und unter der zarten, glatten, 
mit nur einzelnen Borſten beſetzten Haut 
liegt eine ſehr dicke Fettſchicht, welche gegen 
die meiſten äußeren Einflüſſe (Temperatur, 
Gewicht und Druck des Waſſers, Feinde) 
Schutz gewährt. 

Die Walthiere unterſcheiden ſich von 
allen anderen Säugethieren außer durch 
die angeführten Umbildungen noch durch die 
Bildung ihrer Naſe. Dieſe öffnet ſich nämlich 
nur noch in einer Spalte, dem Spritz— 
loch; ſie functionirt nicht mehr als Geruchs— 
organ, denn die Geruchsnerven fehlen, ſie 
iſt ausſchließlich Luftſchöpfer geworden und 
hat durch natürliche Zuchtwahl da ihre 
Stelle erhalten, wo der Kopf des Thieres 
beim Auftauchen zuerſt an die Oberfläche 
kommt. Bei den Delphinen, welche ſehr 
gewandt ſind, iſt das Spritzloch einfach 
und befindet ſich nicht weit hinten am 
Oberkiefer, bei den Schnabeldelphinen (Pla- 
tanista) ift es S- förmig geſtaltet, ebenſo 
beim Kaſchelot, bei welchem es an der 
Stelle ſitzt, wo die Naſe anderer Säuge— 
thiere zu ſein pflegt. Bei den ſchwer— 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


fälligen Bartenwalen liegen die Spritz— 
löcher auf der höchſten Stelle des Kopfes. 
faſt oberhalb dem Auge: die Bartenwale 
haben doppelte Spritzlöcher. 


B. Vögel. 


Die Claſſe der Vögel, ebenfalls ſämmt— 
lich aus Lungenathmern beſtehend, hat ſich 
in einigen vereinzelten und in einer großen 
zuſammenhängenden Reihe von Formen 
dem Waſſerleben in verſchiedenem Grade 
angepaßt. So vollkommenen Waſſerthieren 
begegnen wir bei ihnen jedoch nicht, wie 
bei den Säugethieren die Wale ſie bieten; 
denn ſämmtliche Waſſervögel bedürfen un— 
bedingt, wenigſtens zur Brütezeit und zum 
endlichen Ruhen nach angeſtrengter Arbeit, 
des Landes. Mit Rückſicht auf die im 
Körperbau wahrnehmbaren ſpeciellen Cha- 
raktere und auf die Lebensweiſe ſtellen wir 
folgende Abtheilungen auf: — 

J. Der Waſſerthiernahrung 
angepaßte Landformen. 

1. Die Waſſerdroſſel (Cinelus), 
zur Droſſelfamilie (Turdi) gehörend, 
ein Waſſerſchlüpfer in des Wortes voller 
Bedeutung, fliegt über und durch das Waſſer, 
ſtelzt darin umher und läuft auf deſſen Grunde 
herum, wie auf dem Lande. Der Droſſel— 
ſchnabel, nur weiche Waſſerkerfe aufnehmend, 
wurde biegſam und die Naſenöffnungen 
von innen durch eine Hautklappe verſchließ— 
bar. Der hochläufige Fuß mußte auf dem 
Boden kieſiger Bäche haften und erhielt 
ſtarkgekrümmte zweiſchneidige Krallen; die 
Flugthätigkeit trat in den Hintergrund, ſie 
hat kurze, kräftige Flügel, vortheilhafter 
zum Leben in Verſtecken. Die⸗Bürzeldrüſe 
und das Gefieder ſind ſehr entwickelt, 
waſſervogelartig; die Naſendrüſen ſind auf— 
fallend groß geworden. Während der 
Schwanz kurz und das gut einzufettende 


139 


Gefieder gleich dem der Taucher waſſerdicht 
wurde, füllten ſich die Knochen wie bei 
echten Erdvögeln mit Mark und nur der 
Schädel blieb in geringem Grade luft— 
führend. Unter dem Wurzelgeniſte und aus 
dem trüben Waſſer vermag aber auch das 
beſte Auge die Libellenlarven, die Phryga— 
neenlarven, zudem in ihrer röhrenförmigen 
Verkleidung, nicht zu erkennen; da half die 
Naſe beim Suchen aus: ſie iſt gebaut wie 
bei den Regenpfeifern und Steinwälzern. 
Das angenehme Weſen und der herrliche 
Droſſelſang aber verblieben dem Waſſer— 
ſchwätzer. N 

2. Die Eis vögel oder Fiſcher 
(Alcedines) ſitzen gewöhnlich auf einem er— 
höhten Punkte nahe dem Waſſer und ſtürzen 
ſich von da auf die erſehene Beute, welche 
meiſt in Fiſchen beſteht, „ſturztauchend“ herab. 
Mittelſt der Flügel arbeiten ſie ſich mit der 
im Schnabel gefaßten Nahrung aus dem 
Waſſer heraus und verzehren darauf dieſelbe. 
Ihre Schnabelform ähnelt der des Reihers: 
die Stirn läuft in gleicher Linie mit dem 
Schnabelrücken fort und bildet ſo die zum 
Durchſchneiden des Waſſers geeignete Pfeil— 
oder Keilform, wie ſie auch bei den Schlangen— 
halsvögeln, Eistauchern und Steißfüßen 
vorhanden iſt. Im Gerippe fällt das 
platte Bruſtbein auf; ein ähnliches haben 
Taucher. 

II. Eigentliche Waſſervögel. Zu 
ihnen zählen wir nur die Schwimmer 
(Natatores), indem die Stelzvögel 
(Grallatores) an einem anderen Orte Er- 
wähnung finden. Sahen wir die Waffer- 
formen bei den Säugethieren durch ein- 
ſeitige Umbildung gewiſſer Landformen ent⸗ 
ſtehen, ſo müſſen wir es in dem vorliegendem 
Falle, welcher die Verwandtſchaftsbeziehungen 
der Waſſervögel in ſich begreift, geradezu 


— 


nach dem jetzigen Stande unſeres rg 


N 


140 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


für eine Unmöglichkeit erklären, dieſe letz— 
teren von Landvögeln herzuleiten. Ich habe 
bereits in einer kleinen Schrift *) den Ver— 
ſuch gemacht, die Waſſervögel und die 
ihnen nächſtverwandten Stelz- und Hühner— 
vögel von einer Formenreihe herzuleiten, 
welche das Reptiliengepräge am deutlichſten 
bewahrt hat und glaube, daß wir vor der 
Hand die meiſte Berechtigung für uns haben, 
wenn wir die einſeitigſten Waſſeranpaſſungen 
nicht nur für beſonders charakteriſtiſche Um— 
formungen, ſondern für eine niedere Vogel— 
ſtufe halten, welche den Ahnen vieler Vogel— 
familien am ähnlichſten geblieben ſein dürfte. 
Wir unterſcheiden in der Stufenleiter der 


Anpaſſung, wobei die Verwandtſchaftsgrade | 
ohne Rückſicht bleiben: a) Luftwaſſer— 


vögel, b) Schwimmer und ce) Taucher. 

a) Luftwaſſervögel. Eine große 
Anzahl von Waſſervögeln ſucht fliegend 
ihre Nahrung, welche faſt durchgängig aus 
Fiſchchen und Weichthieren beſteht. Dieſe 
Waſſerflieger haben lange Flügel und leichten 
Körper; ſie vermögen ſich aus einer ge— 
wiſſen Höhe bis einige Fuß tief unter die 
Waſſerfläche zu ſtürzen (Stoßtaucher), 


dann aber hebt ſie ihr eigenes ſpezifiſches 


Gewicht, gewöhnlich mit einigen Flügel— 
ſchlägen begleitet, wieder empor. Schwim— 
mend können dieſe Vögel nicht untertauchen. 
Hierhin gehören die Sturmvögel (Pro- 
cellariae), die kaum unter die Woge 


hinabzudringen verſuchen, dagegen die meiſte 
Nahrung von der Meeresfläche im Fluge 


wegnehmen; die Albatroſſe [Diomedeaec) 
ſah man noch nie ſtoßtauchen. 
ven (Laridae) und Seeſchwalben (Ster— 
nae) ſind gewandte Stoßtaucher, 


) Die Abſtammung der Vögel und Vogel— 
leben in den oberbairiſchen Voralpen. Mainz, 
Diemer. 1876. 


Die Mö⸗ 


ebenſo 


die ruderfüßigen Fiſcherſtöß er (Pisca- 
trices), zu welchen die Tropikvögel (Phae— 


ton), Tölpel oder Baſſangänſe 
(Sula) und Fregatt vögel (Tachypetes) 
gehören. | 


Die kleinen Sturmvögel (Procel- 
laria minor, Thalassidroma, Puffinus) 
bilden eine eigenthümliche Mittelſtufe; ſie 
ſind gleichſam Anpaſſungen an die hoch— 
gehenden Wogen, welche ſie durchfliegen 
können; die Gattung Thalassidroma, 
Sturmſchwalbe, verſteht es, auf den Wellen 
zu laufen oder zu ſitzen und balancirt da— 
bei mit den Flügeln. 

b) Eigentliche Schwimmer ohne 
Tauchvermögen giebt es nicht viele, 
wenn wir die ſoeben angeführten Stoß— 
taucher bei Seite laſſen. Die mit gro— 
ßem, weichfederigem Körper ausgeſtatteten 
Schwäne (Cygnus) und Pelekane (Pe— 
lecanus) können nicht untertauchen. Die 
Schwäne haben ſich mit ihren langen Häl— 
ſen den ſeichten Flußmündungen, Seen und 
Sandbänken angepaßt, wo ſie ihre aus 
Pflanzen und Weichthieren beſtehende Nah— 
rung vom Grund aufnehmen — „gründeln“. 
Sie fliegen nur ſehr ſchwer auf, gehen ſel— 
ten und ungern, dabei ſehr langſam und 
mit den weit hinten eingelenkten Beinen 
watſchelnd und unbeholfen auf dem Lande 
umher. In tiefem Waſſer, ohne zahlreiche 
Thier- und Pflanzenarten an der Ober— 
fläche oder dem Rande, vermögen ſie ſich 
aus dieſen Gründen nicht zu ernähren. 
Die Pelekane haben einen ſehr leichten 
Körper und nicht beſonders langen Hals; 


ſie haben ſich in anderer Weiſe dem Leben 
auf der Waſſerfläche angepaßt, indem ihr 
Schnabel zum Fiſchhamen wurde. „Er 
beſteht,“ um mit Alfred Brehm zu reden, 
„aus einem Sacke und einem dieſen ſchlie— 
ßenden Deckel. Erſterer wird gebildet durch 


— 


„—— See ee er Me 


ER 


sg ne 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


den Untertheil, letzterer hergeſtellt durch den 
Obertheil. Der Deckel iſt ſehr lang, ganz 
flach gedrückt und von der Wurzel an bis 
gegen die Spitze hin ziemlich gleichmäßig 
breit und hier abgerundet; die Firſte verläuft 
als deutlich ſichtbarer Kiel ſeiner ganzen 
Länge nach und geht an der Spitze in 
einen krallenförmigen, ſtarken Haken über. 
Inwendig oder auf der Unterſeite iſt dieſer 
Deckel mit ſcharfen, feinen Gaumenleiſtchen 
und jederſeits mit einer doppelſchneidigen 
Längsleiſte durchzogen, welche den Rahmen 
des Sackes aufnimmt. Der Unterſchnabel 
beſteht aus den ſehr ſchwachen, dünnen, 
niedrigen, biegſamen Unterkieferäſten, welche 
ſich erſt an der Spitze vereinigen und zwi— 
ſchen ſich einen außerordentlich großen, im 
hohen Grade dehnbaren Hautſack auf— 
nehmen.“ 

e) Das Tauchen, d. h. das Sich— 
fortbewegen unter der Waſſerfläche, iſt eine 
Fertigkeit, welche wir bei vielen Schwimm— 
vögeln vorfinden; hierher gehören: 

1. Die Enten (Anates). Dieſe La⸗ 
mellenſchnäbler tauchen indeß nur ausnahms— 
weiſe, und zwar die großen Arten ſeltener 
und weniger geſchickt, als die kleinen. Bei 
den Gänſen (Anseres), welche ſich nur bei 
drohender Gefahr unter den Waſſerſpiegel 
bergen, tauchen die Jungen weit beſſer als 
die allzu reichfederigen Alten. 

2. Die Tauchenten (Fuligulae) ma- 
chen ihrem Namen Ehre. Unter ihnen 
giebt es Meervögel, z. B. die Eider— 
enten arten (Somateriae), welche bis zu 
bedeutenden Tiefen hinabtauchen. Die Eider— 
ente (Somateria mollissima), deren Dunen 
ſo berühmt ſind, taucht nahrungſuchend nach 
Holboell und Faber bis in eine Tiefe 
von fünfundzwanzig Faden hinunter und 
verweilt mindeſtens gegen zwei Minuten 
ohne Gefahr unter dem Waſſer. Die 


141 


Prachteiderente (Somateria specta— 
bilis) ſoll gar fünfundſechzig Faden tief 
tauchen und im Maximum neun Minuten 
des Athemholens entbehren können. 

3. Die Säger (Mergi' jagen aus— 
ſchließlich tauchend nach Fiſchen. Ihr Schna— 
bel iſt hornig gezähnelt, wodurch die glatte 
Beute ſicher feſtgehalten werden kaun, und 
ſcheint ſich aus dem gewöhnlichen Lamellen— 
ſchnabel entwickelt zu haben, da die anderen 
echten Fiſchwaſſerſchnäbel von vornherein 
meſſerklingenartig oder raubvogelartig an— 
gelegt ſind. Zwiſchen Sägern und Enten 


liegt jedenfalls nahe Blutsverwandtſchaft 


vor, da ſich der kleine, weiß und ſchwarz 
gezeichnete Zwergſäger (Mergulus al- 
bellus) mit der Schellente (Anas elan- 
gula) fruchtbar paart. | 

4. Die Sturmtauder (Puffinus), 
Verwandte der Albatroſſe und Sturm— 
ſchwalben, tauchen ausgezeichnet, auf dieſe 
Art ihre Nahrung erbeutend, und ſind in 
jeder Beziehung Herren der Wogen. Ihre 
Naſenlöcher liegen in einer Röhre auf dem 
Schnabel. 

5. Die Scharben (Phalacrocora) 
und Schlangenhalsvögel (Ploti), be- 
kannt als gute Fiſchfänger, erbeuten die 
Fiſche tauchend, und werden erſtere von den 
Chineſen ſogar wegen ihrer Fertigkeit im 
Fangen gewiſſermaßen abgerichtet, indem 
man den gezähmten Vögeln einen, das 
Hinabwürgen der Beute verhindernden Ring 
um den Hals legt und ihnen, wenn ſie 
in den Kahn oder aufs Land ſteigen, den 
Such abnimmt. Sie find, wie die tiefſchwim— 
menden und geſchickttauchenden Schlangen— 
halsvögel, Ruderfüßler mit glattem, etwas 
den ſchuppenähnlichem Gefieder. Scharben 
giebt es in allen, die Ploti nur in warmen 
Zonen. 

6. Die Lappentaucher oder Steiß— 


— 


142 


füße (Podieipites). Dieſe find ſchon 
recht einſeitig dem Waſſerleben angepaßt, 
denn auf freies Land verſetzt, ſind ſie nicht 
einmal im Stande aufzufliegen, während 
ſie dies doch von der Waſſerfläche aus nach 
genommenem Anlaufe recht gut können. Die 
Flügel ſind ſehr kurz und abgerundet; die 
Schwanzfedern fehlen ganz oder ſind doch 
rudimentär geworden; die Füße, am Laufe 
ſeitlich flachgedrückt, haben vorn drei große 
Zehen (und nach hinten eine kleine), welche 
nur unter ſich bis zum erſten Gelenke durch 
eine Schwimmhaut verbunden ſind, dann 
bildet eine jede durch ſeitliche Hautverbrei— 
terung ein Ruder für ſich, ſo daß die 
Steißfüße, ſtatt gleich den Pelekanen, 
Schwänen, Enten u. ſ. w. mit zwei ge— 
ſchloſſenen, ſo zu ſagen mit ſechs Rudern 
verſehen einherſchwimmen. 

7. Die See- oder Eistaucher 
(Colymbi) können ſchon auf dem Lande 


nicht mehr laufen, rutſchen nur mit Hilfe 


des Haͤlſes, Schnabels und der Füße dar— 
über hinweg, ſchwimmen aber mit den 
ſchnellſten Fiſchen um die Wette. Die 
Füße ſind Schwimmfüße, jedoch mit eini— 
gen beſonders ausgeprägten (Reptil-)Cha— 
rakteren. Im Uebrigen ähneln die See— 
taucher ſehr den Steißfüßen. 

8. Die Gruppe der Lummen und 
Alke (Uriae et Aleidae) umfaßt Meeres— 
taucher, welche auf dem Lande, der Steiß— 
ſtellung ihrer Beine entſprechend, Sohlen— 
gänger wurden. Die Flügel ſind klein, 


aber nur bei einer und zwar der größten 
Art, zum Fliegen untauglich. Sie ſchwim— 


men unter der Oberfläche mit den Flügeln 
und Füßen zugleich, mit erſteren ausgrei— 
fend und rudernd, mit letzteren ſich vor— 
wärts ſtoßend. Die Schwanzfedern ſind, 
wie bei allen Tauchern, ſehr klein und tre— 
ten kaum in Thätigkeit. 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


9. Die einſeitigſte Waſſergruppe bilden 
die Floſſentaucher (Aptenodytae). 
Ihre Geſtalt iſt kegelförmig; der Fuß hat 
einen ſehr kurzen Lauf, welcher als Sohle 
beim Gehen dient, vier nach vorn gerichtete 
Zehen, deren innere ſehr klein und ſcharf— 
bekrallt iſt, während die drei größten mit 
Schwimmhaut verbunden ſind. Der Flü— 
gel gleicht eher einer Floſſe, als einem 
Fittige, indem er durch Verbreiterung der 
Haut und ſchuppenartige Bildung der Fe— 
dern zum Ruderarm geworden iſt. Der 
Schwanz hat keine Steuerfedern, nur bor— 
ſtenartige Kiele. Der erwachſene Vogel 
gleicht überhaupt ſehr dem Neſtjungen, nur 
mit dem einen Unterſchiede, daß über den 
Dunen bei ihm die ſchuppenartigen Feder— 
chen, welche den Kleinen noch mangeln, eine 
vollkommene Decke bildend, dachziegelartig 
aufliegen. Sie ſchwimmen nach Art der 
Waſſerſäugethiere, welche keinen Ruder— 
ſchwanz beſitzen, und ihre Haut liegt auf 
einer öligen Fettdecke; ja ſelbſt die Knochen 
enthalten öliges Mark. Von Flug iſt na— 
türlich keine Rede; die Bewegung auf dem 
Lande iſt ein Trappeln; Felſen werden mit 
Hilfe der Ruderarme erſtiegen. 


C. Die Reptilien 
weiſen ebenfalls eine Reihe von Waſſeran— 
paſſungen auf. 

Sämmtliche jetztlebende Reptilien ge— 
hören nämlich dem Luftleben an, ſind ent— 
weder Erd- (Felſen-), Baum- oder Waſſer— 
Anpaſſungen. Zwar können alle ſchwim— 
men, aber alle athmen durch Lungen Luft 
und alle bedürfen zu ihrer Fortpflanzung 
des Landes, mit einziger Ausnahme der 


Waſſerſchlangen. 


1. Die Eidechſen (Squamati). Der 
„Waran“ (Polydaedalus niloticus) hat 
in ſeiner Form außer einem um ein We— 


we = BY, 


I —— a —— 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 7 


niges abgeplatteten Schwanze nichts Be 


ſonderes aufzuweiſen, lebt trotzdem, wie 
unſere Waſſerſpitzmaus, häufig im Waſſer 
der Flüſſe, z. B. des Nils, taucht und 
ſchwimmt vorzüglich, frißt kleine Reptilien, 
Lurche, Fiſche, Vögel u. ſ. w. und kommt 
in den meiſten afrikaniſchen Flüſſen vor. 
Die Meerechſe (Amblyrhynchus eri- 
status) hat kurze Beine mit kurzen, faſt 
gleichen Zehen, deren mittlere durch eine 
derbe Haut am Grunde verbunden ſind, 
und einen ſeitlich flachen Schwanz. 


indem ſie die Beinchen dem Körper dicht 
anſchmiegt und Wellenbewegungen mit Kör— 
per und Schwanz ausführt; die Nahrung 
beſteht in Seetangen. Ihr Aufenthalt ſind 
die Lavafelſen der Galopagosinſeln, nahe 
dem Strande. 

2. Die Panzerechſen oder Kroko— 
dile (Loricata s. Crocodilia) find ſämmt— 
lich 
mit Fortpflanzung durch Eier, welche auf 
das Land gelegt werden. Ihr Körper 
zeigt eine 
Waſſercharakteren. Das Trommelfell liegt 
unter einer ohrmuſchelartigen Klappe, der 
Rumpf iſt viel breiter als hoch, der 
Schwanz iſt lang und ſeitlich ſtark zuſam— 
mengedrückt, ein ſehr kräftiger Schwimm— 
und Steuerſchwanz. Die niedrigen Beine 
haben ſehr entwickelte Füße, deren Zehen 
durch ganze oder halbe Schwimmhäute ver— 
bunden ſind. Die Naſenlöcher können ge— 
ſchloſſen werden und ſind halbmondförmig 
geſtaltet. Die Krokodile ſind gute Schwim— 
mer und tüchtige Taucher, lieben es aber, 
ſich auf dem Lande zu ſonnen. Die Ver— 
breitung der Gruppe erſtreckt ſich über die 
Flüſſe und zum Theil auch Meeresarme 
der warmen Wendekreisländer. 


Dieſer 
dient als Schwimmorgan; die Meerechſe 
ſchwimmt ganz nach Art unſerer Eidechſen, 


eigenthümliche Süßwaſſeranpaſſungen 


bemerkenswerthe Menge von 


3. Die Schildkröten (Testudinata): 
Die Sumpfſchildkröten (Paludivagi) 
bewohnen die Sümpfe und Binnengewäſſer 
der gemäßigten Zone, können ziemlich flink 
laufen, ſchwimmen und tauchen gut und 
ſpazieren ſelbſt ohne Mühe auf dem Grunde 
der Gewäſſer umher; zu ihnen gehören die 
Flußſchildkröten (Emydae) mit ein- 
ziehbarem Kopf und eben ſolchen Gliedmaßen 
mit vorne fünf, hinten vier Zehen. Die 
Hinterfüße tragen ſpitzkrallige Nägel und 
eine Schwimmhaut, die vorderen nur freie 
Zehen mit Krallen. Zu ihnen gehört die 
Teichſchildkröte (Emys europaea), 
welche in Deutſchland, z. B. in der Mark 
und in Mecklenburg, vorkommt. Die 
Klappſchildkröten (Cinosternum) ha— 
ben beweglichen Bruſtpanzer und Bart— 
fäden, womit die Beute geködert werden 
dürfte. Die Alligatorſchildkröten 
(Chelydrae) ſind muthige, tückiſche Thiere 
mit längerem Halſe, Beinen und Schwanz; 
ihr Oberkiefer iſt wie ein Adlerſchnabel 
gebogen und ſie vermögen mit demſelben 
halbzolltiefe Löcher in ein Ruder zu hacken. 
Ihre großen Extremitäten ſind nicht unter 
den ſchuppenartigen Panzer zurückziehbar. 
Unter ihren Kameraden auffallend durch 
nur knorpeligen Panzer und unvollkommen 
verſchmolzene Rippen, ſowie durch die rüſſel— 
artige Naſe ſtehen die Weichſchildkröten 
(Trionyches) da. Sie ſchnellen ihren 
langen Hals auf die erſehene Beute 
ſchlangenartig oder fiſchreiherartig, wie ein 
Blitz, vor. Eine vollkommenere Waſſer— 
thierform, den Pinguinen analog, ſehen 
wir im Typus der Meerſchildkröte 
(Oicapoda). Jedes der vier Beine iſt in 
eine Floſſe umgeſtaltet, namentlich aber ſind 
die vorderen gewaltige Ruderarme gewor— 
den. Dieſelben ähneln ſehr denen der Pin— 
guine und Robben, die Hinterfüße denen 


> 


144 


der letzteren mehr als denen der erſteren. 
Die Zehen werden von einer gemeinſchaft— 
lichen Haut überzogen und dadurch unbe— 
beweglich; nur die beiden erſten Zehen 
eines jeden Fußes tragen Grabkrallen. Der 
Panzer iſt ziemlich flach, Hals und 
Extremitäten können nicht darunter verbor— 
gen werden. Die Augen ſind vorſpringend 
und die Naſenlöcher klein. 

4. Die Schlangen (Ophidia) haben 
ſich in einigen Formen, jedoch ohne äußer— 
lich auffallende Merkmale, in ſehr charak— 
teriſtiſcher Weiſe dem ſtändigen Waſſerleben 
angepaßt. Eine Abzweigung der furchen— 
zahnigen Giftſchlangen (Protero— 
glypha) gehört nämlich dem Meere an, es 
find dies die Seeſchlangen (Hydri). 
Ihr Körper hat, oberflächlich betrachtet, 
Aehnlichkeit mit den Aalen; der Rumpf 
iſt ſeitlich zuſammengedrückt, der Schwanz 
meiſt ſehr kurz und ſtellt ein ſenkrecht aus— 
geſtrecktes Ruder (Steuer) dar. 


meer, und zwar das indiſche; niemals be— 
geben ſie ſich auf das Land. Ihre Eier 
behalten ſie ſo lange bei ſich, bis das Em— 
bryo 
beim Legen zerreißt die Eiſchale und das 
Junge, deren mehrere aus einer Schlange 
hervorkommen, ſchwimmt ſofort ſelbſtſtändig 
in dem naſſen Elemente, Beute machend, 
umher. 


D. Lurche. 


Mit wenigen Ansnahmen, bei welchen 
eine eigenthümliche abgekürzte Entwickel— 
ung eingetreten iſt, entwickeln ſich noch 
heute ſämmtliche Lurche im Waſſer, haben 
anfangs Kiemen und kurz vor Austritt 
aus dem Waſſer einen großen, breiten 
Ruder- oder Schwimmſchwanz, welcher bei 
den Schwanzlurchen, mehr oder minder 


Alle See- 
ſchlangen bewohnen ausſchließlich das Welt— 


reif zum Ausſchlüpfen geworden; 


von Reichenau, das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


modifizirt, zeitlebens bleibt. Wir ziehen 
es vor, an dieſer Stelle nur die 
Froſchlurche (Batrachia) vorzunehmen, 
da die Schwanzlurche (Hemibatra- 
chia) wohl paſſender als Sumpf- oder 
Schlammanpaſſungen anzuſehen ſind. 

Die Landkröten (Bufones) haben 
verhältnißmäßig kurze Hinterbeine und kleine, 
nur wenig ausbreitbare Schwimmhäute an 
den Hinterfüßen; die Baum- oder Laub- 
fröſche (Iylae) an ihren langen Sprung- 
beinen lange Zehen mit ziemlich entwickelter 
Schwimmhaut, ebenſo die Steppen— 
fröſche (Aeris). Die Glattfröſche 
(Ranae), ſchon weit mehr, in einigen Arten 
ſogar faſt ausſchließlich dem Waſſer- oder 
doch Uferleben angehörend, haben ſehr ſtarke 
lange Hinterbeine bei faſt rudimentär gewor— 
denen Vorderbeinen, an den langen Zehen 
der erſteren breite Schwimmhäute, welche 
ein ſehr vollkommenes, ſchnell fördern— 
des Ruder darſtellen. Die Vorderbeine 
werden weder zum Springen, noch zum 
Schwimmen benutzt und haben faſt nur 
noch den Zweck, dem Körper als Stütze 
und zur Beibehaltung einer richtigen Stel— 
lung, ſowie zum Umarmen des Weibchens 
und als ſchwache Hülfe bei der Nahrungs— 
aufnahme zu dienen. Die Knoblauch— 
kröten (Pelobates) kommen in dieſer 
Bildung wie in der Geſchicklichkeit beim 
Tauchen und Schwimmen den Fröſchen faſt 
gleich, ebenſo die kleinen Unken (Bom- 
binator) mit ganzen Schwimmhäuten an 
den etwas kürzeren Hinterbeinen. 


E. Fiſche. 

Die Fiſche bilden eine Thierklaſſe, 
welche durchaus nur einſeitige Anpaſſungen 
an die Gewäſſer aufweiſt. Sie pflan— 
zen ſich durch (nur ausnahmsweiſe im Mutter- 
körper zum Ausſchlüpfen kommende) Eier, 


die in das Waſſer gelegt werden, fort. Ein— 
zelne gehören nebenbei zu den Schlamm- 
Anpaſſungen und werden weiter unten be— 
rückſichtigt werden. 


F. Inſekten. 
Die Inſekten gehören im ausgebilde— 
ten Zuſtande dem Land- und Luftleben an; 


nur wenige haben ſich dem Waſſer angepaßt, 
während viele Jugendformen oder Larven 
dieſer „luftigen“ Weſen, wie Libellen und 


Eintagsfliegen, durchaus hierher gehören. 


Als entwickeltes Inſekt oder Imago fin- 


den wir nur ſolche im Waſſer, welche 
in den Jugendſtufen in demſelben 


auch 
wohnen. Man ſollte hiernach ſchließen, daß 
ſchon auf früher Entwickelungsſtufe die 
Trennung in Land- und Waſſerinſekten er— 
folgte; allein die nähere Betrachtung der 
einzelnen Gattungen im Vergleich mit ho— 
mologen Landformen lehrt, daß dies nicht 


der Fall iſt, daß wir vielmehr ſämmtliche | 


Waſſerinſekten als ſecundäre Waſſeranpaſſun— 
gen, d. h. als ſolche aufzufaſſen haben, 
welche ſich als Landinſekten in Folge äußerer 
Nothwendigkeit zum Waſſerleben bequemten. 
Im entwickelten Zuſtande athmen ſämmt⸗ 
liche Waſſerinſekten Luft durch Tracheen, ja 
einige ſchützen ſogar ihre bewegungsloſen 
Eier vor der ſtändig-unmittelbaren Berüh— 
rung mit Waſſer, wie wir bald ſehen werden. 

Unter den Käfern (Coleoptera) be— 
gegnen wir ausgeſprochenen Waſſerformen. 
Die Schwimmkäfer (Dytieidae) find 
ohne Zweifel Laufkäfer (Carabieidae), 
welche ſich dem Waſſer anpaßten; demgemäß 
blieben die weſentlichſten Theile intact, 
die allgemeine Körperform aber verbreiterte 
ſich und wurde flach; „indem der Kopf 
tief im Halsſchilde ſitzt, dieſes mit ſeinem 
Hinterrande eng an die Flügeldecken an— 
ſchließt, Rücken und Bauch fi 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


145 


gleichmäßig wölben und in den Umriſſen 
mehr oder weniger ſcharfkantig zuſammen⸗ 
ſtoßen, jo ſtellt dieſer Umriß in ununter— 


brochenem Verlaufe ein regelmäßiges Oval 


dar. In gleicher Weiſe werden die Beine, 
vorzugsweiſe die hinterſten, breit und be— 


wimpern ſich zur Nachhülfe ſtark mit Haa- 


ren, denn ſie dienen als Ruder, ihre Hüften 
ſind meiſt groß, quer, reichen faſt bis zum 
Seitenrande des Körpers und verwachſen 
mit dem Hinterbruſtbeine vollſtändig.“ 
(Taſchenberg.) Neben großer Fertigkeit 
im Schwimmen und Tauchen fehlt den 
Dyticiden keineswegs die Flugfähigkeit. Die- 
ſelbe hat ſich vielmehr, „da ſie faſt aus— 
ſchließlich in ſtehenden Wäſſern leben, deren 
manche im Sommer austrocknen“, durch 
natürliche Zuchtwahl erhalten; im andern 
Falle würden ſie dem Ausſterben entgegen— 
gegangen ſein. 

Die Taumelkäfer (Gyrinus) zeigen 
eine ganz eigenthümliche Geſtalt und Lebens— 
weiſe. „Die Vorderbeine, aus freien, kegel— 
förmigen Hüften entſpringend, haben ſich 
armartig verlängert, die hinteren, deren 
Hüften feſt mit dem Bruſtbeine verwachſen, 
Schienen und Füße je ein rhombiſches Blatt 
darſtellend, ſind zu förmlichen Floſſen ge— 
worden. Die Fühler, obſchon zuſammen— 
geſetzt aus elf Gliedern, deren letztes ſo 
lang iſt, wie die ſieben vorhergehenden zu— 
ſammengenommen, erſcheinen doch als bloße 
Stümpfe. Höchſt eigenthümlich ſind die 
Augen gebildet, indem jedes von einem 
breiten Querſtreifen in eine obere und eine 
untere Partie getheilt wird, ſo daß der 
Käfer, wenn er umherſchwimmt, gleichzeitig 
unten in das Waſſer, oben in die Luft, 
wahrſcheinlich aber nicht in gerader Richtung 
mit dem Waſſerſpiegel ſchauen kann. . ..“ 
Die Käfer ſind bekannt durch die merk— 


ch ſo ziemlich würdigen Curven und Spiralen, welche ſie 


auf der Oberfläche beſchreiben und welche 
ſelbſtverſtändlich mit ihrem Gliederbau im 
innigſten Zuſammenhange ſtehen. 

Den Schwimmfäfern zunächſt im Körper— 
bau ähnlich, aber in der Bildung der 
Mundtheile und Fühler abweichend, iſt die 
Gruppe der Waſſerkäfer (Hydro- 
philidae). Bei dem pechſchwarzen 
Kolben-Waſſerkäf er (Hydrophilus pi- 
ceus) bildet die untere Körperhälfte in der 
Längsmitte einen ſehr deutlichen, ſcharfen 
Kiel, die obere eine gedrungene, glatt ge— 
wölbte Maſſe, der Adhäſion des Waſſers 
faſt vollkommen widerſtehend. Die Füße 
haben ſich an den vier hinteren Beinen 
ruderartig verbreitert und an der Innen— 
ſeite dicht bewimpert; Mittel- und Hinter- 
bruſtbein bilden einen gemeinſamen, flachen, 
ſtark gefurchten Kiel, welcher ſich in Form 
einer Lanzenſpitze über die Hinterhüften 
hinaus erſtreckt. „Intereſſant,“ jagt Taſchen— 
berg, „geſtalten ſich einige Verhältniſſe 
in der inneren Organiſation des Thieres. 
Eine bedeutend große, äußerſt dünnhäutige, 
ballonartige Luftröhrenblaſe auf der Grenze 


von Mittel- und Hinterleib iſt neben den 


übrigen, ſehr zahlreichen Ausdehnungen der 
Luftröhren geeignet, eine beträchtliche Menge 
Luft in den Körper aufzunehmen und zu— 
gleich als Schwimmblaſe zu dienen. Auch 


der Darmkanal, welcher dem der pflanzen- 


freſſenden Blätterhörner gleicht und ein 
langes, dünnes, in allen ſeinen Theile gleich— 
förmig gebildetes Rohr darſtellt, weicht 
weſentlich von dem der anderen Waſſerkäfer 
ab und weiſt auf Pflanzenkoſt hin.“ .. 
Auffallend complicirt iſt das Legegeſchäft, 
denn das Weibchen fertigt mittelſt Spinn— 
ſaft aus den Hinterleibsröhren ein ſeidenes 
Gehäuſe, in welches die Eier abgelegt werden, 


worauf der Verſchluß mit einem ebenartigen 
„Auf dieſen Deckel wird 


Deckel erfolgt. 


| 146 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. | 


noch eine Spitze gefegt, die Fäden fließen 
von unten nach oben und wieder zurück 
und indem die folgenden immer länger wer— 
den, thürmt ſich die Spitze auf und wird 
zu einem etwas gekrümmten Hörnchen. In 
vier bis fünf Stunden iſt das Werk voll— 
endet und ſchaukelt, ein kleiner Nachen von 
eigenthümlicher Geſtalt, auf der Oberfläche 
zwiſchen den Blättern der Pflanzen. Wird 
er durch unſanfte Bewegungen der Wellen 
umgeſtürzt, jo richtet er ſich ſogleich wieder 
auf, mit dem ſchlauchartigen Ende nach 
oben, in Folge des Geſetzes der Schwere; 
denn hinten liegen die Eier, im vorderen 
Theile befindet ſich die Luft.“ 

Unter den Schnabelkerfen (Rhyn- 
chota, Hemiptera) haben ſich gewiſſe 
wanzenartige Thiere, die Waſſerwanzen 
(Hydrocores), dem Waſſerleben angepaßt. 
Den Uebergang von den Landwanzen zu den 
Waſſerwanzen bilden die Waſſerläufer 
(Hydrodromiei) welche in ihrer Körper— 
bildung den Landwanzen noch ganz nahe 
ſtehen und auf der Oberfläche des Waſſers 
leben. Die Uferläufer (Saldidae) leben 
ſogar nur am Waſſer, theils auf dem Sande 
des Ufers, theils auf den Waſſerpflanzen 
umherlaufend. Ihre Beine haben ziemlich 
dichtſtehende Wimperhaare, welche das Laufen 
an feuchter Oertlichkeit begünſtigen. Die 
Bachläufer (Velia) haben faſt gleich— 
große, nicht ſehr lange Beine und ge— 
drungenen, oben leiſtenartig erhobenen Hinter— 
leib: ſie laufen ſtoßweiſe auf dem Waſſer— 
ſpiegel und gern gegen den Strom. Sie 
leben, wie alle Waſſerwanzen, von Inſekten, 
welche ſie mit ihrem ſpitzen Rüſſel todt— 
ſtechen. Die übrigen Waſſerläufer (Hydro- 
metra und Limnobates) zeichnen ſich durch 
einen ſehr dünnen Körper aus; ſie haben 
lange Schreitbeine, von denen die vorderen 
oft verkürzt ſind und deren Fußglieder 


| 


durch den eigenthümlichen Gebrauch zum 
Theil rudimentär wurden oder wegfielen. 

Im Waſſer und nur zum Luftſchöpfen 
oder um auszufliegen an die Oberfläche 
kommend, leben noch die Waſſerſkorpionen 


(Nepa, Ranatra), Tangwanzen (Naucoris) 


und die Ruderwanzen (Notonectini). 
Von den Spinnen (Arachnoidea) 
hat ſich ein Glied aus der Familie der 
Sackſpinnen, wenn auch durchaus nicht 
in der Körpergeſtalt, ſo doch durch Erwer— 
bung eines beſonderen Vermögens, Luftvor— 
rath unter die Waſſerfläche mitnehmen zu 
können, dem Waſſerleben anbequemt. Dies 
iſt die gemeine Waſſerſpinne (Argy- 
roneta aquatica), deren Hinterleib mit 
einem „zarten Reif weißgrauer Sammet— 
haare“ überzogen iſt. Sie lebt faſt beſtän— 
dig im Waſſer und athmet durch Lungen— 
ſäcke und Luftröhren zugleich. Taſchen— 
berg ſagt: „Die ſchwimmende Spinne 
bietet einen überraſchenden Anblick, indem 
eine dünne Luftſchicht ihren Hinterleib um— 
gibt, welche wie eine Queckſilberblaſe er— 
glänzt und die Gegenwart der ihrer Kleinheit 
wegen ſonſt leicht zu überſehenden jungen 
Thierchen verräth. Dieſe Luftſchicht wird 
nicht blos von dem Sammetüberzug, wel— 
cher das Naßwerden der Haut verhindert, 
feſtgehalten, ſondern überdies noch durch 
eine Art von Firniß vom umgebenden 
Waſſer getrennt. Wenn unſere kleine 
Taucherin ein Neſt bauen will, ſo kommt 
ſie an die Oberfläche des Waſſers und 


von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 


147 


reckt, auf dem Kopfe ſtehend, oder den 
Bauch nach oben gerichtet, die Spitze ihres 


Hinterleibes in die Luft, breitet die 
Spinnenwarzen auseinander und huſcht 
ſchnell wieder in das Waſſer. Auf dieſe 


Weiſe nimmt ſie unabhängig von dem 
Silberkleide des Hinterleibes eine kleinere 
oder größere, der Leibesſpitze anhängende 
Luftblaſe mit ſich hinab. Mit ihr ſchwimmt 
ſie an den Pflanzenſtengel, den ſie ſich vor— 
her als paſſendes Plätzchen für ihre Woh— 
nung auserkoren hatte und heftet dort 
die Blaſe an. Dies kann natürlich nur 
mittelſt des Spinnſtoffes geſchehen, welcher 
aus den Warzen als eine Art von Firniß 
hervordringt, mit den Hinterfüßen geordnet 
wird und die Luft der Blaſe vom Waſſer 
abſchließt, weil dieſe ſonſt ohne Weiteres 
wieder nach oben perlen würde. Hierauf 
wiederholt ſie ihr erſtes Verfahren, holt 
ſich eine zweite Luftblaſe, welche unten am 
Stengel durch die zweckmäßige Vergrößerung 
des ſie haltenden Fadennetzes mit der 
erſten vereinigt wird und fährt fort, bis 
allmählig die kleine Taucherglocke mit ihrer 
Oeffnung nach unten etwa in der Größe 
einer Wallnuß fertig iſt.“ „Das 
Weibchen legt ſeine Eier in eine Luftblaſe, 
welche es dann weiter umſpinnt und heftet 
dieſes etwas abgeplattet-kugelige Neſtchen 
an eine Waſſerpflanze oder hängt es in 
ſeiner Glocke auf.“ 

Alle übrigen Thierabtheilungen find a 
priori Waſſeranpaſſungen. 


Die Herrfhaft des Ceremoniels, 


Von 


Herbert 


Ehrenbezeugungen. 


>  ewis und Clarke erzählen 
von einigen Schoſchonen, die fie 
5 plötzlich überraſchten, unter An— 

7 derem Folgendes: „Als die 
andern Beiden, eine ältere Frau und ein 
kleines Mädchen, ſahen, daß wir ſchon allzu 
nahe waren, um ihnen Zeit zur Flucht zu 
laſſen, ſetzten ſie ſich auf den Boden und 
ließen die Köpfe hängen, ganz als ob ſie 
bereits auf den Tod gefaßt wären, der 
ihrer, wie ſie beſtimmt glaubten, wartete. 
Dieſelbe Sitte, das Haupt zu ſenken und 
den Feind zum Zuſchlagen aufzufordern, 
wenn jede Möglichkeit des Entfliehens ge— 
ſchwunden iſt, hat ſich auch in Aegypten 
bis auf den heutigen Tag erhalten.“ Wir 
erkennen darin ein Streben, durch abſolute 
Unterwerfung zu verſöhnen, und aus den 
hierdurch veranlaßten Handlungen gehen 
die Ehrfurchtsbezeugungen hervor. 

Als ich im Anfang zur Beleuchtung 
der Thatſache, daß das Ceremoniell nicht 


Speneer. 


allein vor jeder ſocialen, ſondern ſogar vor 
der menſchlichen Entwickelung geherrſcht habe, 
das Benehmen eines kleinen Hundes er— 
wähnte, welcher ſich angeſichts eines ihm 


Furcht einflößenden großen Hundes auf den 


Rücken wirft, mag mancher Leſer gedacht 
haben, ich zöge hieraus eine ziemlich ge⸗ 
zwungene Folgerung. Die Sache wird aber 
in anderem Licht erſcheinen, wenn wir er— 
fahren, daß ein ähnliches Benehmen auch 
bei menſchlichen Weſen vorkommt. Living— 
ſtone beſchreibt uns die Begrüßung der 
Batoka mit den Worten: „Sie werfen ſich 
auf ihren Rücken zu Boden, und indem 
ſie von einer Seite zur andern rollen, 
klatſchen ſie auf die Außenſeite ihrer Schen— 
kel, um damit ihre Dankbarkeit und Will— 
komm auszudrücken.“ Mag die Annahme 
dieſer Stellung, welche gleichſam erklärt: 
„Du brauchſt mich nicht niederzuwerfen, ich 


liege ſchon zu Deinen Füßen,“ — mit Ab- 
ſicht zu dieſem Zwecke ausgedacht ſein oder 


nicht, jedenfalls iſt ſie das beſte Mittel, ſich 
vor Gewaltthat zu ſichern. Widerſtand 
ruft Feindſeligkeit hervor und erregt den 
Zerſtörungsſinn. Das ſtärkere Thier oder 


der ſtärkere Menſch wird weniger gefähr— 


PPP ˙0·¹ 1 a 


lich, wenn der ſchwächere Theil ſich von 
ſelbſt unterwirft, weil nun Nichts vorliegt, 
was die Sucht nach Sieg reizen könnte. 
Daraus erklärt ſich denn ganz natürlich 
die Entſtehung dieſer Unterthänigkeitsbezeug— 
ung durch Niederwerfen auf den Rücken, 
was wahrſcheinlich eher als jede andere 
Stellung eine Selbſtvertheidigung unmög— 
lich macht. Ich ſage wahrſcheinlich, weil 
ſich allerdings noch eine andere, ebenſo hülf— 
loſe Stellung anführen läßt, welche noch be— 
zeichnender vollſtändige Unterwerfung aus— 
drückt. „In Tonga-Tabu .. . bezeugen 
die gemeinen Leute ihrem großen Häupt— 
ling . . . die denkbar größte Ehrfurcht, in— 
dem ſie ſich vor ihm niederwerfen und 
ſeinen Fuß auf ihren Nacken ſetzen.“ Das— 
ſelbe kehrt in Afrika wieder. Laird ſagt, 
die Boten vom König von Fundah „beugten 
ſich alle nieder und ſetzten meinen Fuß 
auf ihren Kopf und beſtreuten ſich mit 
Staub.“ Und bei alten hiſtoriſchen Völ— 
kern galt dieſe Haltung, die offenbar durch 
Beſiegung in der Schlacht entſtanden war, 
durchweg für diejenige, die man als Aus— 
druck der Unterwürfigkeit anzunehmen pflegte. 

Von dieſen primären Ehrenbezeugungen, 
welche hiernach ſo genau wie nur möglich 
die Lage des Beſiegten unter dem Sieger 
nachahmen, ſtammen dann andere Formen 
ab, welche in mannigfaltiger Weiſe die 
Unterwerfung des Sclaven unter ſeinen 


Herrn ausdrücken: die letztere iſt ja auch 


die einfache Folge der erſteren. Im Orient 
wurde vor Alters eine ſolche Unterwerfung 
ausgeſprochen, z. B. als „Ben-hadad's 
Knechte ſich Sackleinwand um ihre Lenden 
gürteten und Stricke um den Kopf wanden 
und zum Könige von Iſrael kamen.“ In 
Peru, wo der kriegeriſche Organiſations— 
typus in ſo hohem Maße ausgebildet war, 
war es ein Zeichen der Demuth, wie uns 


RR 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


149 


Garcilaſſo erzählt, mit gebundenen 
Händen und einem Strick um den Hals 
dazuſtehen; mit anderen Worten, man legte 
ſich ſelbſt diejenigen Feſſeln an, welche ur— 
ſprünglich den vom Schlachtfeld gebrachten 
Kriesgefangenen bezeichneten. Neben dieſer 
Form, ſich als Sclave darzuſtellen, war 
noch eine andere gebräuchlich bei der An— 
näherung an den Ynca: Die Unterwürfig— 
keit mußte dadurch bezeugt werden, daß 
man eine Laſt trug, und „dieſes Aufſich— 
nehmen einer Bürde, um vor das Ange— 
ſicht Atahuallpas zu treten, iſt eine Cere— 
monie, welche von all den Herren geübt 
werden mußte, die in jenem Lande herrſchten.“ 

Dieſe wenigen extremen Beiſpiele habe 
ich an den Anfang geſtellt, um daran die 
natürliche Entſtehung der Ehrenbezeugungen 
als eines Mittels, Gnade zu finden, dar— 
zuthun — zuerſt von Seiten eines Siegers 
und dann von Seiten eines Herrſchers. 
Eine völlig zutreffende Vorſtellung von der 
Ehrenbezeugung ſchließt jedoch noch ein an— 
deres Element in ſich. In dem einleiten— 
den Capitel iſt darauf hingewieſen worden, 
daß verſchiedene Anzeichen des Vergnügens, 
welche phyſio-pſychologiſchen Urſprungs ſind 
und in Gegenwart derjenigen zum Aus— 
druck kommen, für welche eine Zuneigung 
beſteht, in Höflichkeitsbezeugungen übergehen 
können, weil es eben den Menſchen ange— 
nehm iſt, ſich geliebt zu glauben, ihnen 
demnach ſolche Zeichen der Zuneigung Ver— 
gnügen bereiten. Während alſo das Stre— 
ben beſteht, einen Höhergeſtellten zu ver— 
ſöhnen, indem man ſeine Unterwerfung 
unter ihn ausdrückt, findet ſich allgemein 
das fernere Streben, ihn zu verſöhnen, in— 
dem man in ſeiner Gegenwart Freude an 
den Tag legt. Dieſe beiden Elemente der 


Ehrenbezeugungen wollen wir denn nun 
im Auge behalten, indem wir jetzt die ver— 


150 


ſchiedenartigen Erſcheinungen derſelben und 
ihre ſtaatliche, religiöſe und geſellſchaftliche 
Verwendung betrachten. 

Wenn auch mit dem Niederwerfen auf 


das Geſicht nicht das vollſtändige Aufgeben 


jeder Vertheidigung verbunden iſt, wie es 
das Niederwerfen auf den Rücken aus— 
ſpricht, ſo iſt es doch ausdrucksvoll genug, 


um es zum Zeichen tiefſter Unterwürfigkeit 


zu machen; und dem entſprechend finden 


wir es denn auch als Ehrenbezeugung faſt 


überall da, wo noch ungemilderter Despo— 
tismus und ſclaviſche Unterordnung herr— 
ſchen. Dieſe Sitte beſtand im alten Ame— 
rika, wo bei den Chibchas „die Leute vor 
dem Caziken nur erſcheinen durften, indem 
ſie ſich platt hinwarfen und mit dem Ge— 
ſicht den Boden berührten.“ So auch in 
Afrika, wo „ein Borghu-Mann, wenn er 
den König anredet, ſich ſo platt wie eine 
Flunder auf den Boden hinſtreckt und, 
den Staub küſſend, in dieſer Lage ver— 
bleibt, bis ſein Geſchäft mit ſeinem Herr— 
ſcher beendet iſt.“ Aſien giebt uns manche 
Beiſpiele: „Wenn ein Khand oder Panoo 
eine Bitte vorzubringen hat, ſo wirft er 
ſich auf ſein Angeſicht nieder, die Hände 
gefaltet und einen Büſchel Gras oder Stroh 
im Munde“; und während in Siam „alle 
Untergebenen vor den Edeln des Landes 
in ehrfurchtsvoller Niederwerfung verhar— 
ren, beobachten die Edeln ſelbſt in Gegen— 
wart des Herrſchers die gleiche kriechende 
Haltung.“ Aehnliches gilt für Polyneſien. 
Auf ſein Geſicht niederzufallen iſt ein Zeichen 
der Unterwürfigkeit bei den Sandwich-In— 
ſulanern; ſelbſt der König that dies vor 
Cook, als er dieſem zum erſten Mal be— 
gegnete. Und in der Geſchichte der alten 
hiſtoriſchen Völker tritt uns eine Fülle ent— 
ſprechender Belege entgegen; ſo z. B. wenn 


Mephiboſeth vor David auf ſein Angeſicht 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


fiel und ihm ſeine Ehrfurcht bezeugte; oder 
wenn der König von Bithynien vor dem 
römiſchen Senat ſich auf ſein Geſicht nieder— 
warf. In manchen Fällen wird die Be— 
deutung dieſer Lage des Beſiegten vor dem 
Sieger, welche alſo allgemein als Ausdruck 
vollſtändiger Unterwerfung dient, noch durch 
Wiederholung verſtärkt. Bootanu liefert 
ein Beiſpiel hierfür: „Sie . .. warfen 
ſich vor dem Rajah neunmal hinter einan— 
der nieder, was die ihm von ſeinen Unter— 
thanen gezollte Ehrenbezeugung iſt, ſo oft 
es ihnen geftattet wird, in feine Nähe zu 
kommen.“ 

Jede Art von Ceremonie zeigt die 
Neigung, durch Abkürzung ihr urſprüng— 
liches Weſen verdunkeln zu laſſen, und 
durch ſolche Abkürzung iſt auch dieſe tiefſte 
aller Ehrenbezeugungen zu einer minder 
tiefen geworden. Um eine Niederwerfung 
des ganzen Körpers auszuführen, muß 
man faſt mit Nothwendigkeit eine Stellung 
durchlaufen, in welcher der Körper auf 
den Knien ruht, während das Geſicht ſchon 
den Boden berührt, und noch mehr iſt 
beim Wiederaufſtehen das Anziehen der 
Knie die unumgängliche Vorbereitung, um 
den Kopf zu erheben und ſich auf den 
Füßen aufzurichten. Deshalb darf dieſe 
Stellung wohl als eine unvollſtändig aus— 
geführte Niederwerfung betrachtet werden. 
Dieſelbe iſt ſehr allgemein verbreitet. Bei 
den Völkern der Negerküſte „iſt es Brauch, 
daß ein Eingeborner, wenn er ſeinen Vor— 
geſetzten beſuchen geht, oder auch ihm zu— 
fällig begegnet, ſofort auf die Knie fällt 
und dreimal nach einander die Erde küßt, 
dann in die Hände klatſcht, ſeinem Herrn 
Guten Tag oder Gute Nacht zuruft und 
ihn beglückwünſcht.“ Laird erzählt uns, 
wie der König des Braß- Volkes, um feinen 
untergeordneten Rang zu bezeugen, niemals 


ei 


mit dem Könige der Ibos ſprach, „ohne 
auf ſeine Knie zu fallen und mit ſeinem 
Haupte den Boden zu berühren.“ In 
Embomma am Congo „befteht die Be— 
grüßung darin, daß man in die Hände 
klatſcht, und ein Untergebener wirft ſich 
zugleich auf die Knie nieder und küßt die 
Spange am Knöchel des Höheren.“ 

Oft wird die in dieſer Ceremonie liegende 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Erniedrigung noch dadurch verſtärkt, daß 


man auf die Berührung des Bodens mit 
der Stirn beſonderen Nachdruck legt. Am 
unteren Niger „werfen ſich die Männer 
zum Zeichen großer Ehrfurcht nieder und 
ſchlagen ihren Kopf gegen den Boden.“ 
Wenn in früheren Zeiten der Kaiſer von 
Rußland gekrönt wurde, ſo huldigten ihm 
die Adeligen, indem ſie „das Haupt nieder— 
beugten und damit zu ſeinen Füßen auf 
den bloßen Grund aufſchlugen.“ In China 
beſteht gegenwärtig von den acht an Unter— 
würfigkeit ſich ſteigernden Ehrenbezeugungen 
die fünfte im Niederknien und den Kopf 
auf den Boden Schlagen, die ſechſte im Nieder— 
knien und dreimal den Kopf Anſtoßen, was 
verdoppelt die ſiebente und verdreifacht die 
achte giebt; dieſe letztere wird aber nur 
dem Kaiſer und dem Himmel erwieſen. 
Vor Alters hatte bei den Juden eine 
Wiederholung ſolcher Art eine ähnliche Be— 
deutung. Indem ich daran erinnere, daß 
dieſe Ceremonie verſchiedentlich vorkommt, 
wie z. B. wenn Nathan „ſich vor dem 
Könige mit ſeinem Angeſicht bis zur Erde 
herunterbeugt“, oder wenn Abigail vor 
David und Ruth vor Boas daſſelbe thaten, 
füge ich die andere Stelle bei, daß „Jakob 
ſich ſiebenmal zur Erde niederbeugte, bis 
er zu ſeinem Bruder kam.“ 

Nach dem Vorhergehenden läßt ſich 
ſchon vorausſehen, daß dieſe Lage des Be— 
ſiegten, welche der Sclave vor 


151 


und der Unterthan vor ſeinem Herrſcher 
annimmt, auch den Verehrer vor ſeiner 
Gottheit charakteriſiren werde. Der Orient 
liefert uns aus Vergangenheit und Gegen— 
wart mannigfache Belege. Daß die voll— 
ſtändige Niederwerfung gebräuchlich war, 
mochte das zu verſöhnende Weſen ſichtbar 
oder unſichtbar ſein, erſehen wir aus der 
Aeußerung in den jüdiſchen Geſchichten, daß 
„Abraham auf ſein Angeſicht niederfiel“ 


vor Gott, als er den Bund mit ihm 


machte, aus dem Umſtand ferner, daß 
„Nebukadnezar auf ſein Angeſicht fiel und 
Daniel anbetete“, und daß, als Nebukad— 
nezar ein goldenes Bildniß aufſtellte, der 
Tod einem Jeden angedroht wurde, „der 
nicht niederfalle und es anbete“. Auch 
die unvollſtändige Niederwerfung vor den 
Königen kehrt der Gottheit gegenüber 
gleichermaßen wieder. Wenn ſie vor ihren 
Götzenbildern ihre Anbetung verrichten, ſo 
berühren die Mongolen die Erde dreimal 
mit der Stirne, die Kalmücken aber nur 
einmal. So pflegen auch die Japaneſen 
„in ihren Tempeln auf die Knie nieder zu 
fallen und langſam und mit großer De— 
muth das Haupt ganz bis auf den Boden 
herab zu neigen“. Und aus den Abbild— 
ungen von ihren Gottesdienſt verrichtenden 
Muhammedanern iſt Jedermann mit einer 
ähnlichen Stellung bekannt. 

Von der gänzlichen Niederwerfung auf 
den Rücken oder das Geſicht oder der 
halben Niederwerfung auf die Knie werden 
wir zu mehreren anderen Stellungen über— 
geleitet, welche jedoch alle darin überein— 
ſtimmen, daß ſie eine verhältnißmäßige 
Unfähigkeit zu jedem Widerſtand ausdrücken. 
In einzelnen Fällen iſt es geſtattet, dieſe 
Lage zu verändern, wie in Dahome, wo 
„die höchſten Beamten ebenſo vor dem 


ſeinem Herrn.] König liegen, wie die Römer auf dem 


152 


Triclinium. Von Zeit zu Zeit drehen fie 
ſich auf dem Bauche nach der andern Seite 
oder ſie erleichtern ſich die Sache, indem 
fie «auf allen Vierens ſtehen.“ Duran 
verſichert, daß „die kauernde Stellung . . . 
bei den Mexicanern ein Zeichen der Ehr— 
erbietung war, wie bei uns etwa das 
Beugen der Knie“. Unter den Neucaledo— 
niern gilt das Kriechen als Ausdruck der 
Ehrfurcht, ſo auch in Fidſchi und in Tahiti. 

Andere Abänderungen in Stellungen 
dieſer Art bedingt die Nothwendigkeit, ſich 
fortzubewegen. In Dahome „pflegen ſie, 
wenn ſie ſich dem Könige nähern, entweder 
gleich Schlangen zu kriechen oder auf ihren 
Knien vorwärts zu rutſchen“. Wenn die 
Siameſen vor einem Höhergeſtellten ihren 
Platz verändern müſſen, ſo „ſchleppen ſie 
ſich auf ihren Händen und Knien herum“. 
Aehnlich auch in Cambodſcha: „Wenn 
irgend Jemand der königlichen Perſon ſich 
zu nähern hatte, um ihr Etwas zu geben 
oder einem Rufe Folge zu leiſten, ſo ſchrieb 
die Cambodſchaniſche Etiquette, die Entfern— 
ung mochte noch ſo groß ſein, eine kriechende 
Vorwärtsbewegung auf Knien und Ellbogen 
vor.“ In Java muß ein Untergebener 
„mit auf die Ferſen niedergelaſſenem Hintern 


ſich entfernen, bis er ſeinem Vorgeſetzten 


aus dem Geſichte iſt“. Aehnliches iſt auch 
den Unterthanen eines Zulu-Königs vor— 
geſchrieben — ſogar ſeinen Weibern. Din— 
garn's Weiber ſagten, „ſo lange er im 
Hauſe weile, ſei es ihnen niemals geſtattet, 
aufzuſtehen, ſondern ſie müßten ſich be— 
ſtändig auf ihren Händen und Knien 
herumbewegen“. Und in Loango ſcheint 
die Ausdehnung dieſer Stellung auf den 
häuslichen Kreis nicht auf den Hof be— 
ſchränkt zu ſein: die Weiber im Allgemeinen 
„dürfen nicht anders mit ihnen (ihren 


Männern) ſprechen, als auf bloßen Knien, 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


und bei einer Begegnung mit ihnen müſſen 
ſie auf ihren Händen kriechen“. Ein be— 
nachbarter Staat liefert uns ein Beiſpiel 
für Abſtufungen in dieſen Formen theil— 
weiſer Niederwerfung und zugleich den 
Beweis, daß die Bedeutung dieſer Ab— 
ſtufungen wohl verſtanden wird. Burton 
erzählt nämlich, daß die „Dakro“, ein 
Weib, welches Botſchaften vom König 
von Dahome an den Meu überbringt, auf 
allen Vieren vor dem König erſcheint. „Der 
Regel nach geht ſie auch auf allen Vieren 
zum Meu: vor Niedrigerſtehenden aber 
kniet ſie nur, während dieſe vor ihr zu 
Vierfüßlern werden.“ 

Damit kommen wir von ungefähr zu 
einer ferneren Abkürzung der urſprünglichen 
Niederwerfung, aus welcher eine der am 
weiteſten verbreiteten Ehrenbezeugungen her— 
vorgeht. Wie wir von der ganz ausge— 
ſtreckten Lage zu derjenigen des muham— 
medaniſchen Beters mit die Erde berühren— 
der Stirne übergeleitet werden, ſo von 
dieſer zu der Stellung auf allen Vieren 
und von da durch Aufrichtung des Körpers 
zum einfachen Knien. Daß das Knien an 
zahlloſen Orten und zu allen Zeiten eine 
der Formen ſtaatlicher, häuslicher und reli— 
giöſer Ehrenbezeugung war und noch iſt, 
bedarf keines Beweiſes. Wir heben blos 
hervor, daß es überall in der Vergangen— 
heit wie in der Gegenwart mit deſpotiſcher 
Regierungsform verbunden erſcheint; ſo in 
Afrika, wo „ihre (der Dahomeaner) Kniee, 
weil ſie ſo fortwährend die Kniebeugung 
auf dem harten Boden ausführen, mit der 
Zeit faſt ſo hart werden, wie ihre Ferſen“; 
ſo in Japan, wo „die Beamten, wenn ſie 
das Angeſicht des Kaiſers verlaſſen, auf 
ihren Knien rückwärts hinausgehen;“ ſo 
in China, wo „die Kinder des Vice— 
königs . . . als fie an ihres Vaters Zelt 


vorbeigingen, auf die Kniee fielen und ſich 
mit nach der Erde gewendetem Geſicht drei— 
mal verbeugten“; und ſo auch im mittel 
alterlichen Europa, wo die Hörigen vor 
ihren Herren, die Vaſallen vor ihrem 
Suzerain knieten und noch im Jahre 1444 
die Herzogin Iſabella von Burgund, als 
ſie die Königin beſuchte, während ihres 
Eintritts dreimal auf ihre Knie niederfiel. 

Ohne uns bei dem Uebergang vom 
ſich auf beide Kniee Niederlaſſen, zu dem 
auf einem Knie, was als weniger unter— 
thänige Stellung der völligen Aufrichtung 
ſchon näher kommt, aufhalten zu wollen, 
wird es genügen, mit einem Worte noch 
des Uebergangs vom Knien auf einem 
Knie zum bloßen Beugen der Kniee zu ge— 
denken. Daß dieſe Ceremonie in der That 
eine Abkürzung iſt, zeigen uns am beſten 
die Japaneſen: 

„Bei einer Begegnung bezeugen ſie ihre 
Ehrfurcht durch Beugen des Knies, und 
wenn ſie Jemand eine außergewöhnliche 
Eyre erweiſen wollen, jo ftügen ſie ſich 
auf das Knie und verbeugen ſich bis auf 
die Erde hinab. Dies wird jedoch in den 
Straßen nie gethan, wo ſie vielmehr nur 
eine Bewegung machen, als ob ſie nieder— 
knien wollten. Wenn ſie eine Perſon von 
Rang begrüßen, ſo beugen ſie ihre Knie 
ſo weit, daß ſie mit ihren Fingern den 
Boden berühren.“ 

Daſſelbe ſehen wir ebenſo gut oder 
noch beſſer in China, wo die dritte der 
wohlabgegrenzten Abſtufungen in den Ehren- 
bezeugungen erläutert wird als Beugen des 
Knies, während die vierte wirkliches Nieder— 
knien iſt. Es iſt einleuchtend, daß die Form, 
welche ſich unter uns bei dem einen Geſchlecht 
in Geſtalt des „Knixes“ forterhalten hat, 
und diejenige, welche bis vor kurzem dem 
andern Geſchlecht als „Kratzfuß“ bekannt 


Kosmos, Band II. Heft 2. 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


153 


war (der in einem Rückwärtsſchleifen des 
rechten Fußes beſtand), alle beide nichts 
Anderes als die allmälig ſich verwiſchenden 
Reſte des auf einem Knie ſich Niederlaſſens 
darſtellen. 

Es bleibt nur noch die damit verbun⸗ 
dene Verbeugung des Körpers zu beſprechen. 
Iſt dieſelbe einerſeits die erſte Bewegung, 
welche durchlaufen werden muß, wenn eine 
vollſtändige Niederwerfung ausgeführt wer— 
den ſoll, ſo iſt ſie anderſeits auch die letzte 
Bewegung, welche noch fortbeſteht, wenn 
die Niederwerfung Stück um Stück be- 
ſchnitten wird. An vielen Orten finden 
wir Hindeutungen auf dieſen Umbildungs— 
prozeß. „Bei den Sooſoos pflegen ſelbſt 
die Frauen eines vornehmen Mannes, wenn 
ſie mit ihm ſprechen, ſich mit dem Körper 
zu verbeugen und eine Hand auf jedes 
Knie zu legen; daſſelbe geſchieht, wenn er 
vorübergeht.“ Hat man in Samoa „ein 
Zimmer zu paſſiren, in dem ein Häuptling 
ſitzt, ſo gilt es für unehrerbietig, aufrecht 
hindurchzugehen: man muß die ganze Zeit 
mit tief verbeugtem Körper gehen“. Von 
den alten Mexicanern, welche bei einer Ver- 
ſammlung ſich vor ihrem Häuptling duckten, 
leſen wir, daß, „wenn ſie ſich zurückzogen, 
dies nur mit geſenktem Haupte geſchehen 
durfte“. Und endlich finden wir in dem 
ſchon oben citirten chineſiſchen Ceremonien— 
ritual, daß die Ehrenbezeugung Nummer 
zwei, weniger demüthig als das Beugen 
des Knies, in einer tiefen Verbeugung mit 
gefalteten Händen beſtand. Vergegenwär— 
tigen wir uns ſolche Thatſachen und be— 
denken wir, daß es zwiſchen dem unter- 
würfigen Salaam des Hindu, der tiefen 
Verbeugung, welche in Europa große Ehr— 
furcht bezeugt, und der ſchwachen Neigung 
des Kopfes als Ausdruck der Achtung ganz 
unmerkliche Uebergänge giebt, ſo können wir 


20 


Er, 


154 


auch nicht bezweifeln, daß ſelbſt das ver— 
trauliche und manchmal kaum wahrnehmbare 
Kopfnicken nichts Anderes iſt, als die letzte 
Spur der urſprünglichen Niederwerfung. 
Dieſe verſchiedenen Abkürzungen, welche 
wir eintreten ſehen, wo es ſich um Er— 
weiſung ſtaatlicher und geſellſchaftlicher Ehren 
handelt, kommen ebenſo auch bei den reli— 
giöſen Ehrenbezeugungen vor. So erzählt 
uns Baſtian von den Congo-Negern: 
wenn fie mit einem Höhergeſtellten zu 
ſprechen haben, jo... „knieen fie nieder, 
wenden das Geſicht halb auf die Seite 
und ſtrecken die Hände gegen die angeredete 
Perſon aus, um ſie bei jeder neuen An— 
rede zuſammenzuſchlagen. Sie hätten ſo 


geradezu den ägyptiſchen Prieſtern Modell 


ſitzen können, als dieſe ihre Darſtellungen 
auf den Wänden ihrer Tempel machten, 


ſo treffend iſt die Aehnlichkeit zwiſchen dem, 
was dort abgemalt iſt und dem, was hier 


thatſächlich vor ſich geht.“ — Und ähnliche 
Analogien könnten wir den europäiſchen Reli— 
gionsgebräuchen entnehmen. Da haben wir 
das Niederſinken auf beide Kniee, auf ein 
Knie und all die Verbeugungen und Ver— 
neigungen in gewiſſen Ceremonien und 
beim Ausſprechen des Namens Chriſtus. 

Wie bereits erläutert wurde, iſt die 
vollſtändige Ehrenbezeugung ein Akt, in 
dem ſich nicht nur Unterwürfigkeit, ſondern 


auch eine gewiſſe Befriedigung ausſpricht. 


Um den Höheren auf möglichſt wirkſame 
Weiſe zu verſöhnen, muß zu gleicher Zeit 
ausgedrückt werden: „Ich bin dein Sclave“ 
und — „Ich liebe Dich“. 


noch andere Belege. 
der König von Karague „bis auf ſeinen 


Einzelne der oben citirten Beiſpiele 


haben bereits die Vereinigung dieſer beiden 
Faktoren erkennen laſſen. 


Wie wir dort 


ſahen, pflegen die Batoka, wenn ſie die 


Lage ergebenſter Unterthänigkeit annehmen, 
zugleich mit ihren Händen in rhythmiſchen 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Schlägen auf die Schenkel zu klatſchen. In 
anderen der aufgezählten Fälle wurde das 
in die Hände Klatſchen, was gleichfalls 
Freude andeutet, als eine in Afrika den Aus— 
druck der Unterwürfigkeit begleitende Ceremo— 
nie beſchrieben; und viele ähnliche könnten noch 
beigefügt werden. Von den Adligen, welche 
ſich dem König von Loango nähern, er— 
zählt Aſtley: „Sie klatſchen zwei oder 
dreimal in die Hände und werfen ſich dann 
zu ſeiner Majeſtät Füßen in den Sand, 
indem ſie darin zum Zeichen ihrer Ergeben— 
heit hin und her rollen!“ und Speke 
berichtet, wie die Diener des Königs von 
Uganda „ſich in einer Reihe auf den 
Bauch warfen und gleich Fiſchen ſich ſchlän— 
gelten; . . . . und während ſie fortfuhren, 
ſich hin und her zu wälzen, ſchlugen ſie 
mit ihren Beinen um ſich, rieben ihre Ge— 
ſichter und patſchten mit den Händen auf 
den Boden.“ Wenn die Balonda vor 
ihrem Vorgeſetzten auf die Kniee fallen „ſo 
ſetzen ſie die Begrüßung durch Klatſchen 
mit den Händen fort, bis die Großen 
vorübergegangen ſind;“ und ein gleicher 
Gebrauch der Hände findet ſich in Dahome. 
— Noch eine andere rhythmiſche Beweg— 
ung von gleicher Bedeutung muß erwähnt 
werden. Wir ſahen bereits, daß das 
Hüpfen als natürlicher Ausdruck der Freude 
bei den Feuerländern für eine freundſchaft— 
liche Begrüßung gilt und daß daſſelbe als 
Zeichen der Ehrerbietung gegen den König 
in Loango wiederkehrt. Afrika giebt aber 
Grant erzählt, daß 


Kopf ganz verdeckt im Thorweg ſeiner 
größten Hütte ſaß und die Begrüßungen 
ſeiner Leute entgegennahm, welche einer 
nach dem andern aufſchrien und vor ihn 
hin ſprangen, indem ſie ihm Treue ſchwu— 
ren.“ Man denke ſich nun ſolche hüpfende 


Bewegungen allmälig etwas mehr geregelt, 
wie ſie es höchſt wahrſcheinlich im Laufe 
der Entwickelung werden und ſie ſind zu 
dem Tanz geworden, mit dem ſo oft ein 
Herrſcher begrüßt wird; ſo in dem oben 
erwähnten Beiſpiel vom Könige von Bo— 
gota, ſo auch in dem Falle, deſſen Williams 
in ſeinem Bericht über Fidſchi gedenkt, wo 
ein niederer Häuptling und ſein Gefolge, 
wenn ſie vor des Königs Angeſicht traten, 
„einen Tanz ausführten, welcher damit 
endigte, daß fie dem Somo-ſomo-König ihre 
Keulen und ihre Oberkleider zum Geſchenk 
machten.“ 

Von den übrigen vorgeblichen Zeichen 
freudiger Erregung, welche gewöhnlich einen 
Beſtandtheil der Ehrenbezeugung bilden, 
iſt das Küſſen am auffälligſten. Daſſelbe 
muß natürlich Formen annehmen, die ſich 
mit der demüthigen Niederwerfung oder 
ähnlichen Stellungen vertragen. In der 
That finden wir auch, wie ſchon aus eini— 
gen früheren Beiſpielen erſichtlich war, das 
Küſſen der bloßen Erde, wo man nicht 
nahe genug an den Höheren herankommen 
kann oder darf, um ſeine Füße oder ſeine 
Kleidung zu küſſen. 
noch beigefügt. „In Eboe herrſcht die 


Sitte, daß die vornehmen Leute, wenn der 
König ausgeht, und ebenſo gut auch inner- 


halb des Hauſes, auf die Erde niederknieen 


und fie dreimal küſſen, während er vor⸗ 
und als die Geſandten der 


übergeht;“ 
alten Mexicaner zu Cortez kamen, „be— 


rührten ſie erſt den Boden mit den Händen 
Dies galt im 


und küßten ihn dann.“ 
alten Orient für ein Zeichen der Unterwerf— 
ung des Beſiegten unter den Sieger; ja 


es wird berichtet, dies ſei ſo weit getrieben 
worden, daß man ſelbſt die Fußtapfen des 


Pferdes eines Siegers küßte. Abyſſinien, 
wo ein extremer Despotismus herrſcht und 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Einige andere ſeien 


155 


| die Ehrenbezeugungen ſehr kriechend find, 
bietet uns eine andere Modification. In 
Schoa iſt es ein Zeichen der Ehrfurcht 
und Dankbarkeit, das nächſte beſte unbe— 
lebte Ding, das einem Höheren oder einem 
Wohlthäter gehört, zu küſſen. — Von 
dieſen Formen gehen wir zum Lecken und 
Küſſen der Füße über. Drury erzählt 
uns, daß das Belecken der Knie unter 
den Malagaſſen für ein Zeichen der Ehr— 
erbietung gilt, jedoch nicht eine ſo tiefe 
Erniedrigung andeutet, wie das Belecken 
der Füße; und indem er die Rückkehr 
eines malagaſſiſchen Häuptlings aus dem 
Kriege beſchreibt, macht er die Bemerkung: 
„Er hatte ſich kaum vor ſeiner Thüre nie— 
dergeſetzt, als ſein Weib auf Händen und 
Knien kriechend herauskam, bis ſie zu ihm 
gelangte, worauf ſie ſeine Füße leckte; als 
ſie dies gethan, wurde daſſelbe von ſeiner 
Mutter wiederholt, und alle Weiber in 
der ganzen Stadt begrüßten ihre Männer 
auf die gleiche Weiſe.“ Sclaven u. ſ. w. 
übten daſſelbe ihren Herren gegenüber. So 
im alten Peru, wo ſchrankenloſe Unterord— 
nung herrſchte: „Wenn die Häuptlinge 
vor ihn (Atahuallpa) traten, erwieſen ſie 
ihm große Ehren, indem ſie ihm Füße und 
Hände küßten.“ Und daß dieſe höchſte 
Huldigungsform im Orient allgemeiner 
Brauch war und noch iſt, wird durch viele 
Thatſachen bewieſen. In den aſſpriſchen 
Urkunden erwähnt Sanherib, daß Men— 
ſchen von Samaria heraufkamen, um ihm 
Geſchenke zu bringen und ſeine Füße zu 
küſſen. „Seine Füße zu küſſen“ gehörte 
mit zu der Verehrung, welche Chriſto von 
jenem Weibe mit der Büchſe voll Salbe 
gezollt wurde; und daß das „ihn bei den 
Füßen Faſſen“ von Seiten der Maria 
Magdalena, was ſich unzweifelhaft mit 
Küſſen derſelben verband, nichts Außerge— 


156 


wöhnliches war, erſehen wir aus der Schil— 
derung einer ähnlichen Handlung von Seiten 
des ſunamitiſchen Weibes gegen Eliſa. 
Heutigen Tages noch küſſen bei den Ara— 
bern Untergebene die Füße, die Knie oder 
die Kleider ihrer Vorgeſetzten. Dem Schah 
und dem Sultan die Füße zu küſſen, iſt gegen— 
wärtig eine in Perſien und der Türkei übliche 
Ehrenbezeugung; und Sir R. K. Porter 
erzählt, wie ein Perſer aus Erkenntlichkeit 
für ein Geſchenk „ſich auf den Boden warf, 
meine Knie und Füße küßte und vor Freu— 
den ſo laut weinte, daß der Ausdruck ſeines 
Dankes dadurch erſtickt wurde.“ 

Das Küſſen der Hand iſt ein viel 
weniger demüthigender Brauch als das 
Küſſen der Füße, weil es eine minder voll— 
ſtändige Niederwerfung nöthig macht. Dieſer 
Unterſchied in der Bedeutung wird in weit 
von einander entfernten Ländern anerkannt. 
Wenn in Tonga Jemand einen höherge— 
ſtellten Verwandten begrüßt, ſo küßt er der 
Perſon die Hand, iſt es aber eine ſehr hoch— 
ſtehende Perſon, ſo küßt er ihr die Füße.“ 
Und d' Arvieux berichtet, daß die 
Frauen, welche den arabiſchen Prinzeſſinnen 
zu dienen haben, ihnen die Hände küſſen, 
wenn dieſe ihnen die Gunſt erweiſen, ſie 
nicht die Füße oder den Saum des Gewan— 
des küſſen zu laſſen. Ueberhaupt iſt dieſer 
Brauch als Ausdruck liebender Unterwerf— 
ung ſo allgemein verbreitet, daß jedes weitere 
Beiſpiel überflüſſig wäre. 

Was bedeutet es aber, wenn die eine 
Verbeugung machende Perſon, ftatt des 
Andern Hand zu küſſen, die eigene küßt? 
Iſt das eine das Symbol des andern und 
etwa ſo gemeint, daß es die unter den 
vorliegenden Umſtänden größtmögliche An— 
näherung an jenes iſt? Es ſcheint dies 
ein etwas gewagter Schluß zu ſein; aber 
mehrere Zeugniſſe ſprechen dafür. So ſagt 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


d'Arvieux in einer von Prof. Paxton 
citirten Stelle: Ein Orientale erweiſt einer 
Perſon von höherer Stellung ſeine Ehrfurcht, 
indem er ihre Hand küßt und dieſelbe an 
ſeine Stirne führt; iſt aber der Vornehme 
in herablaſſender Stimmung, ſo zieht er 
ſeine Hand weg, ſobald der Andere ſie 
berührt hat; dann legt der Untergebene 
ſeine eigenen Finger an die Lippen und 
nachher an ſeine Stirne“. Dies macht es 
meiner Anſicht nach unzweifelhaft, daß die 
verbreitete Sitte, einem Andern eine Kuß— 
hand zuzuwerfen, urſprünglich den Wunſch 
oder die Geneigtheit ausdrückte, ſeine Hand 
zu küſſen. Die Uebertragung aller dieſer 
Ceremonien von den lebenden Gebieten 
auf die Manen Verſtorbener, auf Götter, 
Heilige und deren Statuen iſt unmittelbar 
naheliegend. 

Clavigero ſchildert uns die mexica— 
niſche Ceremonie der Eidesleiſtung und 
ſagt: „Indem ſie dann den höchſten Gott 
oder irgend einen andern, den fie ganz be— 
ſonders verehrten, anriefen, küßten ſie ihre 
eigenen Hände, nachdem ſie damit die Erde 
berührt hatten.“ In Peru wurde dieſer 
Brauch noch mehr abgekürzt, indem der zu 
küſſende Gegenſtand ganz wegfiel. D' Acoſta 
ſagt: „Die Anbetung der Götter beſtand 
darin, daß man die Hände ausbreitete, mit 
den Lippen ein ſchwaches Geräuſch machte, 
als ob man küſſen wollte, und ſie dann 
frug, was ſie wünſchten, indem man zu 
gleicher Zeit das Opfer darbrachte“; und 
Garcilaſſo, welcher der Libation einiger 
Tropfen gedenkt, die bei einer gewöhnlichen 
Mahlzeit vor dem Genuß des Trankes der 
Sonne geſpendet wird, fügt hinzu: „Zu 
gleicher Zeit küßten ſie die Luft zwei- oder 
dreimal, was . . . bei dieſen Indianern für 
ein Zeichen der Verehrung gilt.“ 

Endlich ſtellen auch tanzende Bewegun— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


gen, die, wie wir geſehen haben, an ſich 
ein natürlicher Ausdruck der Freude, zum 
Höflichkeitsbeweis vor einem ſichtbaren Herr— 
ſcher werden, ſpäterhin gleichfalls eine Ver— 
ehrungsform des unſichtbaren Herrſchers dar. 
Als Beiſpiel nenne ich nur das Tanzen Da— 
vids vor der Bundeslade; und bei den Grie— 
chen war das Tanzen ſogar urfprünglih 
eine religiöſe Ceremonie: von den älteſten 
Zeiten an war die „Verehrung Apollo's 
mit einem religiöſen Tanz, Hyporchema ge— 
nannt, verbunden“. Dann finden wir den 
Bericht, daß König Pipin „gleich König 
David, ſeines königlichen Purpurs ver— 
geſſend, in ſeiner Freude die koſtbaren Ge— 
wänder mit Thränen benetzte und vor den 
Reliquien des heiligen Märtyrers hertanzte.“ 
Und endlich wiſſen wir, daß im ganzen 
Mittelalter religiöſe Tänze in den Kirchen 
gebräuchlich waren. 


Um eine andere Reihe von verwandten 
Gebräuchen erklären zu können, müſſen wir 


auf die Niederwerfung in ihrer urſprüng— 
lichſeen Form zurückgehen. Die Menſchen 
können nicht vor ihrem Könige ſich im 
Sande wälzen oder wiederholt ihren Kopf 
gegen die Erde ſchlagen oder vor ihm krie— 
chen, ohne ſich ſelbſt zu beſchmutzen. In 
Folge deſſen wird der hängengebliebene 


Staub oder die Erde als begleitendes Merk- 


zeichen der Unterwerfung anerkannt, woraus 


ſich der Brauch entwickelt, dieſe Betäubung | 


willkürlich auf ſich zu nehmen und im eif— 
rigen Beſtreben nach Begütigung dieſelbe 
abſichtlich noch größer zu machen. Die 
Verbindung dieſes Brauches mit dem Act 
der Niederwerfung iſt uns bereits gelegent— 
lich bei einigen Fällen aus Afrika entgegen— 
getreten, und Afrika liefert noch andere 
deutliche Beiſpiele. „In den Congo-Län— 


dern,“ ſagt Burton, „wirft man ſich vor 
jedem Banza oder Dorfhäuptling nieder, die 


159 


Erde wird gefüßt und Staub auf Stirn 
und Arme geſtreut.“ Und derſelbe erzählt 
uns, daß die Dahomeaniſche Begrüßung 
aus zwei Handlüngen beſtehe: ſich nieder— 
zuwerfen und Sand oder Erde auf das 
Haupt zu ſtreuen. Ebenſo leſen wir, daß 
„ſie (das Kakanda-Volk am Niger) ſich bei 
der Begrüßung eines Fremden beinah bis 
auf die Erde bücken und mehrmals Staub 
auf ihre Stirne ſtreuen.“ Und indem Li— 
vingſtone die peinliche Genauigkeit ſchil— 
dert, welche die Balonda in ihren Sitten 
zur Schau tragen, ſagt er: 

„Wenn die Untergebenen auf der Straße 
ihren Oberen begegnen, ſo fallen ſie ſofort 
auf die Kniee und reiben Staub auf ihre 
Arme und Bruſt. Während einer Anrede 
an eine Reſpect verlangende Perſon griff 
der Sprechende alle zwei oder drei Secunden 
ein wenig Sand von der Erde auf und 
rieb ſich die Oberſeite ſeiner Arme und 
ſeiner Bruſt damit ein . . . Wenn ſie aber 
ganz außerordentlich höflich ſein wollen, ſo 
bringen fie eine Maſſe Aſche oder Pfeifen- 
thon in einem Stück Haut herbei, nehmen 
ganze Hände voll davon und reiben ſich 
damit die Bruſt und die Vorderſeite ihres 
Oberarmes ein.“ 

Ueberdies können wir beobachten, daß 
hier ſo gut wie in allen andern Fällen die 
Ceremonie allmälig einer Abkürzung unter— 
liegt. Von denſelben Balonda berichtet Li- 
vingſtone: „Die Häuptlinge führen das 
Manöver, ſich Sand auf die Arme zu 
reiben, ebenfalls aus, aber indem ſie blos 
thun, als ob ſie etwas Sand aufhöben.“ 
Und am untern Niger bedecken ſich die Leute 
lihre Köpfe], wenn ſie ihre Niederwerfungen 


ausführen, wiederholt mit Sand oder we— 


nigſtens machen ſie alle die Bewegungen, 
als ob ſie ſolches thäten. Sobald eine Frau 
eine ihrer Bekannten bemerkt, kniet ſie ſo— 


158 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


fort nieder und thut, als ob ſie abwechſelnd chen bis zum äußerſten Extrem gingen, 


Sand auf jeden Arm ſtreute.“ Daß dieſe 
Ceremonie auch in Aſien in der gleichen 


Abſicht befolgt wurde und noch wird, iſt 
ebenfalls klar. So wurde ſie als Ausdruck 
der ſtaatlichen Demüthigung von den Prie- 


ſtern beobachtet, welche, als ſie Florus um 


Schonung für die Juden anzuflehen kamen, 


„Staub in großer Maſſe auf ihre Häupter 
geſtreut hatten und die Bruſt mit nichts als 
zerriſſenen Fetzen bedeckt zeigten.“ Und in 
der Türkei kann man noch heutzutage Zeuge 
dieſes Brauches in abgekürzter Form ſein. 
Bei einer Truppenrevue pflegen ſelbſt die 
zu Pferde ſitzenden Officiere, indem ſie 


ihre Vorgeſetzten begrüßen, „der Form nach 
die Vorſchrift zu erfüllen, ſich Staub aufs 


Haupt zu ſtreuen“, und wenn gewöhnliche 
Leute eine Carawane von Pilgern auf— 
brechen ſehen, ſo „machen ſie wenigſtens 
die Geberde, als ob ſie Staub auf ihren 
Kopf würfen.“ 

Die Urkunden der Hebräer beweiſen, 
daß dieſes vor ſichtbaren Perſonen übliche 
Zeichen der Unterwerfung auch vor unſicht— 
baren Perſonen gemacht wurde. Mit den 
andern Begräbniß-Ceremonien verband ſich 
auch das Beſtreuen des Hauptes mit Aſche. 
Daſſelbe wurde aber auch gethan, um die 
Gottheit zu verſöhnen, wie denn z. B. 
„Joſua ſeine Kleider zerriß und vor der 
Lade des Herrn auf ſein Angeſicht zur 
Erde niederfiel bis zum Abend, er und 
die Aelteſten von Iſrael, und ſie ſtreuten 
Staub auf ihre Häupter.“ Auch heute 
noch kommt ein ähnlicher Gebrauch unter 
den Katholiken bei Gelegenheit ganz be 
ſonderer Demüthigung vor. 

Eine ähnliche Ableitung geſtattet auch 
die Ceremonie des Händefaltens. Aus den 
Gebräuchen eines Volkes, bei welchem die 
Unterwürfigkeit und alle Zeichen einer ſol— 


vollzogen wird. 


wurde bereits ein Beiſpiel herausgegriffen, 
welches die natürliche Entſtehung dieſer Halt— 
ung andeutet. Im alten Peru galt es für 
ein Zeichen demüthiger Unordnung, mit ge— 
bundenen Händen und einem Strick um 
den Hals zu erſcheinen, d. h. der Zuſtand 
von Kriegsgefangenen wurde nachgeahmt. 
Als der König von Uganda den Beſuch der 
Capitäne Speke und Grant erwiderte, 
„ſaßen ſeine Brüder, eine ganze Bande 
kleiner Spitzbuben, einige mit Handſchellen, 
hinter ihm. . . . Es wurde erzählt, der 
König ſei, bevor er auf den Thron kam, ſtets 
in Eiſen gefeſſelt herumgegangen, wie dies 
jetzt ſeinen kleinen Brüdern widerfährt.“ 
Und von den Chineſen andrerſeits erzählt 
uns Doolittle, daß „am dritten Tage 
nach der Geburt eines Kindes . . . die Ce— 
remonie der Feſſelung ſeiner Handgelenke 
. . . Dieſe Dinger werden 
getragen, bis das Kind vierzehn Tage alt 
iſt . . . manchmal aber auch . . . mehrere 
Monate oder ſogar ein Jahr lang . . . Sie 
glauben, ein derartiges Binden der Hände 
ſei geeignet, das Kind davor zu bewahren, 
daß es in ſeinem ſpätern Leben ſtreitſüchtig 
werde.“ 

Solche Hinweiſe auf den Urſprung des 
Brauches, verbunden mit ſolchen Beiſpielen 
davon abgeleiteter Sitten, drängen uns zu 
dem Schluſſe, daß das Erheben der gefal— 
teten Hände als Theil jener primitiven 
Ehrenbezeugung, welche abſolute Unterwür— 
figkeit ausdrücken ſoll, in der That ein Dar— 
bieten der Hände war, auf daß ſie gebun— 
den werden könnten. 

Die oben beſchriebene Haltung des 
Khonds zeigt uns den Act in ſeiner ur— 
ſprünglichen Form; und wenn wir dann 
bei Huc leſen, daß „der mongoliſche Jäger 
uns begrüßte, indem er ſeine gefalteten 


Hände zur Stirne erhob,“ oder bei Drury, 


vornehmen Manne nähern, die Hände in 
bittender Weiſe emporhalten, ſo können wir 
nicht bezweifeln, daß dieſe Haltung der 
Hände jetzt Ehrfurcht ausdrückt, weil ſie 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


daß die Malagaſſen, wenn ſie ſich einem 


urſprünglich Unterwerfung bezeichnete. Von 
den Siameſen, die in ihren ſtaatlichen Ver- 
hältniſſen jo gedrückt und in ihren Gebräu- 
chen jo ſervil find, ſagt La Soubere: 


„Wenn Du Deine Hand einem Siameſen 
entgegenſtreckſt, um ſie in die ſeinige zu 
legen, ſo drückt er ſeine beiden Hände in 
die Deine, als ob er ſich ganz und gar in 
Deine Gewalt geben wolle.“ Daß aber 


das Darbieten beider Hände die hier aus- 


geſprochene Bedeutung hat, ergibt ſich aus 
anderweitigen Belegen. In Unyanynembe: 
„wenn Zwei von ihnen einander be— 


gegnen, ſo legt der Wezee ſeine beiden 


Hände mit der Innenfläche zuſammen und 
dieſe werden dann von dem Watuſi (einem 
Angehörigen einer mächtigeren Race) ſanft 
gedrückt;“ und in Sumatra „beſteht die Be— 
grüßung in einer Verbeugung des Körpers, 
wobei zugleich der Untergebene ſeine gefal— 
teten Hände zwiſchen diejenigen des Höher— 
geſtellten legt und dieſelben hierauf zu ſeiner 
Stirne emporhebt.“ Dieſe Beiſpiele er- 
innern uns daran, daß ein ähnlicher Act 
früher in Europa als Unterwürfigkeitszeichen 
galt. Wenn der Vaſall ſeinem Lehensherrn 
huldigte, ſo ſank er auf die Kniee und legte 
ſeine gefalteten Hände zwiſchen diejenigen 
des Letzteren. 

Wie hier abermals eine als Ausdruck 
ſtaatlicher Unterordnung dienende Haltung 
zur religiöſen Verehrungsform wird, braucht 
kaum noch erörtert zu werden. Wir finden 
im Orient beim mahommedaniſchen Anbeter 
dasſelbe Falten der Hände über dem Haupte, 
was, wie wir geſehen haben, ebendaſelbſt 


159 


Ehrfurcht vor einem lebenden Oberherrn 
bezeugt. Bei den Griechen „werden die 
olympiſchen Götter in aufrechter Stellung 
mit erhobenen Händen angebetet, die Mee— 
resgötter mit horizontal, die Götter des 
Tartarus mit nach unten gehaltenen Händen. 
Und das Erheben der mit einander zuge— 
wendeten Flächen gefalteten Hände, was 
vormals in ganz Europa von dem gemeinen 
Manne verlangt wurde, wenn er einen Vor— 
nehmen ſeines Gehorſams verſichern wollte, 
lehrt man bei uns noch den Kindern als 
Haltung beim Gebet. 

Ebenſowenig darf zu bemerken unter— 
laſſen werden, daß ein ähnlicher Gebrauch 
der Hände ſelbſt in den alltäglichen geſell— 
ſchaftlichen Verkehr herabſteigt. Der Zu— 
ſammenhang läßt ſich im fernen Oſten noch 
heute deutlich verfolgen. „Wenn die Sia— 
meſen einander begrüßen, ſo falten ſie die 
Hände und erheben ſie vor's Geſicht oder 
über den Kopf.“ Die erſte und am we— 
nigſten unterthänige unter den acht Ab— 
ſtufungen der Ehrenbezeugungen in China 
beſteht darin, die Hände zuſammenzulegen 
und vor die Bruſt zu erheben. Selbſt bei 
uns laſſen ſich noch Reſte dieſer Form er— 
kennen. An einem gefälligen Ladendiener 
oder einem übereifrigen Wirth kann man 
gelegentlich beobachten, wie er die etwas er— 
hobenen Hände zuſammenlegt und loſe gegen 
einander reibt, in einer Weiſe, die wohl 
die Vermuthung über die Herkunft von 
jenem primitiven Zeichen des Gehorſams er— 
wecken kann. 

Im Anſchluß hieran kommt eine andere 
Gruppe von Ehrenbezeugungen, die etwas 
verſchiedenen, wenn auch verwandten Ur— 
ſprungs iſt, zur Behandlung. Die bisher 
beſprochenen beeinflußen die Kleidung des 
Unterworfenen nicht direkt; aber gerade aus 
den Veränderungen der Kleidung, ſei es in 


160 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


ihrer Anordnung, Beſchaffenheit oder Art, 
entſpringt gleichfalls eine ganze Reihe cere— 
monieller Gebräuche. 

Der Beſiegte, vor ſeinem Beſieger in 
den Staub hingeſtreckt und ſelbſt ſein Eigen— 
thum geworden, verliert natürlich zugleich 
den Beſitz alles deſſen, was er an ſich trägt. 
Der geringere Verluſt ſeines Eigenthums 
iſt an den größern ſeiner eigenen Perſon ge— 
knüpft, und ſo liefert er nicht nur ſeine 
Waffen aus, ſondern gibt auch dem Sieger, 
wenn er es verlangt, jedes Stück ſeiner 
Kleidung hin, daß des Nehmens werth iſt, 
während letzterer dieſe Dinge oft aus demſel— 
ben Grunde ſich aneignet, weshalb er auch 
die Waffen nimmt: denn da das Gewand 
manchmal die Haut eines grimmigen Thieres 
oder ein mit Trophäen verzierter Mantel 
iſt, liefert es gleich den Waffen eine neue 
Zugabe zu den Beweiſen ſeiner Tapferkeit. 
Auf jeden Fall iſt es klar, daß, auf wel— 
chem beſonderen Wege auch der Gebrauch 
entſtanden ſein mag, einem Beſiegten ſeine 
Kleider zu nehmen, die theilweiſe oder voll— 
ſtändige Nacktheit des Kriegsgefangenen die 
Zeugniſſe für ſeine Unterjochung bekräftigt. 
Daß dies die vor Alters im Orient herr— 
ſchende Anſchauung war, erſehen wir 
aus deutlichen Beweiſen. In Jeſaias, 
Cap. XX 2—4 leſen wir: „Da ſprach 
der Herr: Gleichwie mein Knecht Jeſaia 
nackend und barfuß geht, drei Jahre lang 
zum Zeichen .. . alſo wird der König zu 


Aſſyrien hintreiben das gefangene Aegypten 
und das vertriebene Mohrenland, beides 


Jung und Alt, nackend und barfuß.“ Auch 
fehlt es nicht an Zeugniſſen von andern 
Raſſen, daß die Wegnahme und die Hin— 
gabe der Kleidung dem entſprechend zum 
Zeichen ſtaatlicher Unterwerfung und in 
einigen Fällen ſogar zum Höflichkeitsgebrauch 
geworden iſt. In Fidſchi, an dem für die 


“ 


Bezahlung des Tributs feſtgeſetzten Tage 
„ſtreifte der Häuptling von Somo-Somo 
zuerſt ſeine Gewänder ab, ſetzte ſich dann 
nieder und löſte ſogar die Schleppe oder 
die Decke, welche von ungeheurer Länge 
war, von ſeinem Leibe. Er gab ſie dem 
Sprecher hin, welcher ihm dafür ein Stück 
überreichte, das nur eben groß genug war, 
um die Blöße zu bedecken. Alle übrigen 
Somo-Somo⸗-Häuptlinge, welche ſämmtlich, 
wenn ſie auf den Platz traten, eine Schleppe 
von mehreren Ellen Länge hatten, entkleideten 
ſich vollſtändig, ließen auch ihre Schleppen 
zurück und gingen hinweg . . . indem fie 
alſo nackend das ganze Somo-Somo Volk 
verließen.“ 

Ferner leſen wir, daß während Cook's 
Aufenthalt auf Tahiti zwei Männer von 
höherem Range „an Bord kamen und ſich 
Jeder feinen beſondern Freund auswählten ... 


Dieſe Ceremonie beſtand darin, daß ſie 


einen großen Theil ihrer Kleider ſich ab— 
nahmen und ſie uns umhingen.“ Auf 
einer andern polyneſiſchen Inſel, Samoa, 
finden wir ſodann dieſen Höflichkeitsact er— 
heblich abgekürzt: blos der Gürtel wird 
abgenommen und als Geſchenk überreicht. 

Wenn wir ſolche Thatſachen als Schlüſſel 
verwenden, ſo kann kaum ein Zweifel da— 
ran beſtehen, daß dieſe Auslieferung des 
Gewandes es iſt, woraus jene, in mehr 
oder weniger weit gehender Entblößung des 
Körpers beſtehenden, Ehrenbezeugungen ent— 
ſtanden ſind. Wir finden alle möglichen 
Grade der Entblößung, die überall in 
gleichem Sinne aufgefaßt wird. Aus Ibn 
Batula's Bericht über ſeine Reiſe nach 
dem Sudan im vierzehnten Jahrhundert 
citirt Herr Tylor die Stelle, daß „Frauen 
nur in unbekleidetem Zuſtand vor das An— 
geſicht des Sultans von Melli treten dürfen 
und ſelbſt des Sultans eigne Töchter ſich 


dieſer Sitte fügen müſſen;“ und wenn wir 
natürlich doch noch erhebliche Zweifel hin— 
ſichtlich der Exiſtenz einer ſolchen Ehren— 
bezeugung hegen, welche dergeſtalt bis zu 
ihrem urſprünglichen Extrem getrieben wird, 
ſo heben ſich auch dieſe, wenn wir in 
Speke leſen, daß heutigen Tages noch 
am Hofe von Uganda „ſplitternackte aus— 
gewachſene Frauen als Diener fungiren.“ 
Andere Theile von Afrika zeigen uns un— 
vollſtändige, wenngleich immer noch ſehr 
erhebliche Entkleidung als Ehrenbezeugung. 
In Abyſſinien müſſen die Untergebenen in 
Gegenwart ihrer Oberen den Körper bis 
auf den Gürtel herab entblößen; „ſolchen 
gleichen Ranges gegenüber jedoch wird blos 
der Zipfel des Kleides für kurze Zeit ge— 
lüftet.“ Daſſelbe kehrt in Polyneſien wieder. 
Die Tahitier entkleiden „den Körper bis 
zu den Lenden in Gegenwart des Königs“, 
und Forſter berichtet, daß auf den Ge— 
ſellſchafts inſeln im Allgemeinen „die niedern 
Volksklaſſen in Gegenwart ihrer höchſten 
Häuptlinge aus lauter Ehrfurcht ihr Ober— 
kleid ablegen.“ Wie dieſe Ehrenbezeugung 
einer ferneren Abkürzung unterliegt und 
ſich zugleich von den Herrſchern auf andere 
Perſonen ausdehnt, erſehen wir deutlich bei den 
Eingebornen der Goldküſte. Cruickſhank 
ſchreibt: „Sie begrüßen auch die Europäer 
und gelegentlich ebenſo einander, indem ſie 
mit der rechten Hand ihr Kleid ein wenig 
von der linken Schulter herabziehen und 
ſich zu gleicher Zeit zierlich verbeugen. 
Wenn ſie ſich ſehr ehrfurchtsvoll zu bezeigen 
wünſchen, ſo entblößen ſie die Schulter 
vollſtändig und halten das Gewand erſt 
unterhalb der Arme, ſo daß der Körper 
der Perſon von der Bruſt an aufwärts 
unbekleidet bleibt.“ 

Und von denſelben Völkern bemerkt 
Burton, daß „in ganz Yoruba-Land 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


nehmen des Hutes.“ 


161 9 


und an der Goldküſte das Entblößen der — 
Schultern daſſelbe bedeutet wie bei uns 
das Hutabziehen.“ 

Daß die Entblößung des Hauptes, hier 
ſchon vermuthungsweiſe mit der Entblößung 
des Oberkörpers verglichen, in der That 
urſprünglich dieſelbe Bedeutung hatte, dürfte 
kaum in Frage gezogen werden. Selbſt 
in gewiſſen europäiſchen Gebräuchen iſt die 
Verwandtſchaft zwiſchen den beiden Formen 
erkannt worden; wie denn z. B. Ford be— 
merkt, daß „in Spanien den Mantel Ab— 
legen fo viel bedeutet wie . . . unſer Ab— 
Sie iſt aber auch 


in Afrika ſelbſt zu erkennen, wo in Dahome 


beide mit einander verbunden ſind: „Die 
Männer entblößten ihre Schultern, zugleich 
ihre Mützen und großen Schirmhüte ab— 
nehmend“, ſagt Burton in der Schilderung 
ſeines Empfangs daſelbſt. Wir finden 
daſſelbe in Polyneſien, wo auf Tahiti an- 
geſichts des Königs nicht blos die Kleider 
bis auf die Lenden herabgeſtreift, ſondern 
auch der Kopf entblößt wird. Hiernach 
ſcheint es, daß das bekannte Hutabziehen bei 
den europäiſchen Völkern, das bei uns ſogar 
häufig auf eine bloße Berührung des Hutes, 
ja auf eine entſprechende Handbewegung zu— 
ſammenſchrumpft, gleichfalls ein Ueberbleibſel 
jener Formalität der Selbſtentkleidung iſt, 
wodurch der Gefangene die Hingabe Alles 
deſſen, was er hatte, ausdrücken wollte. 
Auch das Entblößen der Füße iſt ein 
Brauch von gleichem Urſprung, wie dies 
bei den Eingebornen der Goldküſte deut— 
lich zu erkennen iſt; denn während dieſe, 
wie wir ſahen, zum Zeichen ihrer Ehrer— 
bietung theilweiſe den Oberkörper entkleiden, 
löſen ſie zugleich die Sandalen von ihren 
Füßen „als Kundgebung ihrer Ehrfurcht“, 
ſagt Cruickſhank: ſie fangen alſo den 
Körper an beiden Enden ſeiner Hüllen zu 


| 162 


entledigen an. Ueberall im alten Amerika 
hatte das Entblößen der Füße einen ähn— 
lichen Sinn. In Peru „trat kein Herr, 
ſo mächtig er auch ſein mochte, in reicher 
Kleidung vor das Angeſicht des Ynca, ſon— 
dern nur in demüthigem Anzug und barfuß;“ 
und in Mexico „beſtand für die Könige, 
welche Vaſallen des Montezuma waren, das 
ſtrenge Gebot, ihre Schuhe abzulegen, wenn 
ſie ihm unter die Augen kamen;“ ja die 
Wichtigkeit dieſes Aktes war ſo groß, daß, 
da „Michoacan von Mexico unabhängig 
war, der Herrſcher den Titel Cazonzi, d. h. 
beſchuht, annahm“. Aehnliche Berichte 
von aſiatiſchen Völkern haben uns längſt 
mit dieſem Brauch bekannt gemacht. In 
Burmah „iſt ein Europäer, wenn er dem 
König begegnet oder mit ſeinem Gefolge 
zuſammentrifft, ſelbſt in den Gaſſen und 
auf den Landſtraßen verpflichtet, ſeine Schuhe 
auszuziehen.“ Und ebenſo muß in Perſien 
Jedermann, der vor das königliche Angeſicht 
tritt, ſeine Füße entblößen. 

Eine Beſtätigung aller dieſer Erklär— 
ungen bietet die noch ſelbſtverſtändlichere 
Auffaſſung gewiſſer Gebräuche, denen wir 
abermals in jenen Geſellſchaften begegnen, 
wo außerordentlich ſtarke Kundgebungen der 
Unterwürfigkeit gefordert werden. Ich meine 
das Gebot, vor dem Angeſicht des Herrſchers 
in grober Kleidung — in der Kleidung 
der Sclaven zu erſcheinen. So oft im 
alten Mexico Montezuma's Hofleute, um 
ihm zu dienen, „in ſeine Gemächer traten, 
hatten ſie zuerſt ihre reichen Gewänder 
abzulegen und gewöhnlichere Kleidung an— 
zuziehen . . . und nur barfuß und mit ge— 
ſenkten Augen war es ihnen geſtattet, vor 
ſein Angeſicht zu treten.“ So war es auch 
in Peru: Neben dem Geſetz, daß ein Unter— 
than, ſo mächtig er auch ſein mochte, vor 


dem Ynca nur mit einer Laſt auf dem 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Rücken erſcheinen durfte, zum Zeichen ſeiner 
Knechtſchaft, und neben dem Geſetz, daß er 
barfuß ſein müſſe, zum ferneren Zeichen 
ſeiner Knechtſchaft, beſtand noch, wie wir 
geſehen haben, das Geſetz, daß „kein Herr, 
ſo vornehm er auch war, in reichen Kleidern 
vor das Angeſicht des Anka treten durfte, 
ſondern nur in beſcheidenem Anzuge“, aber— 
mals Knechtſchaft ausdrückend. Ein ähn— 
licher, obgleich nicht ſo weit gehender Brauch 
herrſcht in Dahome, wo gleichfalls eine 
ſtrenge Autokratie und uneingeſchränkte 
Unterwerfung unter dieſelbe beſteht. Die 
höchſten Unterthanen, des Königs Miniſter, 
dürfen „auf Pferden reiten, ſich in Hänge— 
matten tragen laſſen, ſeidene Gewänder 
tragen und ein zahlreiches Gefolge halten 
mit großen Sonnenſchirmen von eigner 
Form, mit Fahnen, Trompeten und andern 
muſikaliſchen Inſtrumenten. Aber beim Ein— 
tritt in das königliche Thor werden alle 
dieſe Inſignien bei Seite gelegt.“ Selbſt 
im mittelalterlichen Europa wurde die Unter— 
ordnung unter einen Sieger oder einen 
Höherſtehenden durch ein ſolches Ablegen 
der Theile der Kleidung und anderen Zu— 
behörs ausgedrückt, die auf die Würde irgend 


welchen Bezug hatten, und man erſchien 


dem entſprechend in verhältnißmäßig ärm— 
lichem Zuſtand, wie er mit der Knechtſchaft 
übereinſtimmend war. So z. B. in Frank— 
reich, wo im Jahre 1467 die Behörden 
einer eroberten Stadt, die ſich einem ſieg— 
reichen Herzog ergeben hatte, „mit ſich nach 
ſeinem Lager dreihundert der angeſehenſten 
Bürger im bloßen Hemde, barhäuptig und 
barbeinig herausführten, welche ihm die 


Schlüſſel der Stadt übergaben und ſich 


ſelbſt ihm auf Gnade und Ungnade aus— 
lieferten.“ Und ſogar die Leiſtung der 
Lehnshuldigung war mit Gebräuchen von 
ähnlicher Art verbunden. Saint Simon 


beſchreibt eines der ſpäteſten Beiſpiele dieſer 
Art und nennt unter andern dabei befolgten 
Ceremonien die Hingabe des Schwertes, 
der Handſchuhe und des Hutes, wozu er 
bemerkt, daß dies geſchähe, „um den Vaſall 
in Gegenwart des Oberherrn aller Zeichen 
ſeiner Würde zu entkleiden“. 
Verſöhnungsakte dieſer Art dehnen ſich 
gleich ſolchen anderer Art von dem gefürch— 
teten Weſen, das ſichtbar iſt, auch auf das 
gefürchtete Weſen aus, das nicht mehr ſicht— 
bar iſt — auf den Geiſt und den Gott. 
Wir erinnern blos daran, daß bei den 
Juden das Bußethun in Sack und Aſche 
geſchah, um den Geiſt zu verſöhnen; 
ſodann erfahren wir, daß dieſe Sitte noch 
heute im Orient fortlebt, wie denn Herr 
Salt von einer trauernden Frau ſchreibt, 
daß ſie mit Sackleinwand bekleidet und mit 
Aſche beſtreut geweſen, oder wie Burck— 


hardt „die weiblichen Verwandten eines 


geſtorbenen Häuptlings durch alle Haupt— 
ſtraßen laufen ſah mit halbentblößtem 
Köcper und das bischen Kleidung, was 
ſie noch anhatten, aus Lumpen beſtehend, 
während der Kopf, das Geſicht und die 
Bruſt faſt ganz mit Aſche bedeckt waren.“ 
So ermahnt auch Jeſaias, der ſelbſt das Bei— 
ſpiel dazu giebt, die widerſpenſtigen Iſrae— 
liten, mit Jehovah Frieden zu ſchließen: 
„Geißelt Euch, entblößet Euer Haupt und 
gürtet Sackleinwand um Eure Lenden!“ 
Auch an Parallelen für das Entblößen der 
Füße fehlt es nicht. Dieſer Brauch galt 
bei den alten Juden für ein Zeichen der 
Trauer, wie uns dies das Gebot in 
Ezechiel, Cap. XXIV, 17 lehrt: „Heim⸗ 
lich magſt du ſeufzen, aber keine Todten— 
klage führen; ſondern du ſollſt deinen 
Schmuck anlegen und deine Schuhe an 
deine Füße anziehen;“ und ebenſo war bei 
den Hebräern das Ausziehen der Schuhe 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


ein Akt der Verehrung. Von den Peru— 
anern, welche barfuß vor das Angeſicht des 
Yuca traten, leſen wir, daß „Alle, ausge— 
nommen der König, ihre Schuhe auszogen, 
zweihundert Schritte bevor ſie die Thore 
(des Tempels der Sonne) erreichten; aber 
der König behielt ſeine Schuhe an, bis er 
an die Thore kam.“ Endlich gilt daſſelbe 
auch von der Entblößung des Hauptes. 


Neben manchen anderen Ceremonien, zur 


Verſöhnung des lebenden Herrſchers dienend, 
wird dieſe letztere auch beobachtet, um den 
Geiſt des gewöhnlichen und ebenſo den des 
außergewöhnlichen Todten zu verſöhnen, 
welcher vergöttert und dauernd verehrt 
wird. Dahin gehört das Entblößen des 
Hauptes am Grabe, wie es auch bei uns 
noch Brauch iſt, während in manchen Län— 
dern ſogar die den Hut abziehen, welche 
nur einem Leichenbegängniß begegnen. Da— 
hin gehört ferner das Abnehmen des Hutes 
vor den Bildern von Chriſtus und der 
Madonna draußen und im Hauſe, das 
Niederknieen und Entblößen des Kopfes 
in katholiſchen Ländern, wenn die Hoſtie 
vorübergetragen wird, und das Abnehmen 
der Kopfbedeckung beim Betreten geweihter 
Stätten in allen Ländern. 

Endlich dürfen wir auch den Umſtand 
nicht übergehen, daß die Ehrenbezeugungen 
dieſer Gruppe, welche man urſprünglich 
nur den am meiſten gefürchteten höchſten 
Perſonen, mit der Zeit aber auch den we— 
niger Mächtigen erwies, ſich allmälig gleich- 
falls weiter ausdehnen, bis ſie ganz allge— 
mein werden. Einige der oben angeführten 
Citate haben nebenbei ſchon gezeigt, daß in 
Afrika theilweiſe Entblößung der Schulter 
als Begrüßung zwiſchen Gleichgeſtellten 
gilt und daß ein ähnliches Abnehmen des 
Mantels in Spanien den gleichen Zweck 


erfüllt. So entſteht denn auch aus der 


164 


Sitte, barfuß vor das Angeſicht eines 
Königs und in einen Tempel zu treten, 
ein ganz allgemeiner Höflichkeitsbeweis: 
die Damaras legen ihre Sandalen ab, bevor 
ſie das Haus eines Fremden betreten; ein 
Japaneſe läßt ſeine Schuhe an der Thüre 
ſtehen, ſelbſt wenn er nur in einen Laden 
geht; „beim Eintritt in ein türkiſches Haus 


gilt es als ſtändige Regel, die Ueberſchuhe 


oder Galoſchen am Fuße der Treppe zu— 
rückzulaſſen.“ Und in Europa ſodann, wo 
das Entblößen des Hauptes eine Ceremo— 
nie bei der Lehenshuldigung und bei reli— 
giöſer Verehrung war, iſt dies gegenwärtig 
zu einem Achtungsbeweis geworden, den 
man ſogar einem Arbeiter beim Eintritt 
in ſeine Hütte ſchuldet. 

Auch die Zeichen vorgeblicher Freude 
entwickeln ſich zu Höflichkeitsformen, wo 
keine Rangesverſchiedenheiten beſtehen. So 
berichtet Grant: „Wenn in dem Toorkee— 
Lager eine Geburt vorkam ..... jo ver— 
ſammelten ſich die Weiber vor dem Thore 
der Mutter, um durch Händeklatſchen, Tan— 
zen und Schreien ihre Freude auszudrücken. 
Ihr Tanz beſtand darin, daß ſie in die 
Luft ſprangen, ihre Beine in höchſt unge— 
ziemender Weiſe von ſich warfen und mit 
den Ellbogen ihre Seiten bearbeiteten.“ 
Und wo es die Umſtände geſtatten, werden 
dann ſolche Achtungsbeweiſe gegenſeitig aus— 
getauſcht: Bosman erzählt uns, daß, 
wenn an der Sclavenküſte „zwei Perſonen 
von gleicher Stellung einander begegnen, 
alle Beide gleichzeitig auf ihre Knie nieder— 
fallen, in die Hände klatſchen und ſich 
gegenſeitig begrüßen, indem ſie einander 
einen guten Tag wünſchen.“ Und es kommen 
Fälle vor, wo ſolche Gegenſeitigkeit der 
Complimente, ſogar in Form von Nieder— 
werfung, ſelbſt zwiſchen Freunden beſteht. 
Unter den Moskitos, jagt Bancroft, 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


„wirft ſich Einer dem Andern zu Füßen 
und dieſer hebt ihn dann auf, umarmt ihn 
und fällt ſeinerſeits nieder, um nun unter 
des Erſteren Beiftund wieder aufzuſtehen 
und von ihm herzlich umarmt zu werden.“ 
Solche extreme Beiſpiele liefern eine ſichere 
Beſtätigung, wenn es deren überhaupt be— 
darf, für den Schluß, daß die gegenſeitigen 
Verbeugungen und Knixe und das Hutab— 
ziehen, wie ſie bei uns gebräuchlich ſind, 
nur Ueberbleibſel der urſprünglichen Nieder— 
werfung und Beraubung des Kriegsgefan— 
genen darſtellen. 0 

Hinſichtlich des Handkuſſes unter Gleich— 
geſtellten ſei noch aus Niebuhr eine 
Aeußerung über einen nah verwandten Ge— 
brauch citirt: „Wenn ſich zwei Araber 
der Wüſte begegnen, ſo ſchütteln ſie ſich 
mehr denn zehn mal die Hände. Jeder 
küßt dann ſeine eigene Hand und wieder— 
holt beſtändig die Frage: Wie geht es 
Dir? ... In Yemen thut Jeder, als 
ob er des Andern Hand zu ergreifen wünſchte, 
während er die eigene zurückzieht, um das 
Empfangen gleicher Ehre zu vermeiden. 
Um ſchließlich dem Wettſtreit ein Ende 
zu machen, geſtattet dann der ältere von 
Beiden dem Andern, ſeine Finger zu 
küſſen“. 

Dürfen wir nun hierin nicht vielleicht 
die Quelle des Händeſchüttelns erblicken? Je 
mehr das Mißlingen des Beſtrebens Bei— 
der, die Hand des Andern zu küſſen, das 
im Voraus erwartete Reſultat iſt, wird 
dieſe Bewegung allmälig einen regel— 
mäßigeren und rhythmiſcheren Charakter 
annehmen. Jedenfalls beſteht ein viel 
größerer Unterſchied zwiſchen dem einfachen 
Händedruck, auf welchen dieſe Begrüßung 
oft reducirt erſcheint, und dem altväteriſchen 


herzlichen Händeſchütteln, als zwiſchen die— 


ſem und der Bewegung, welche zu Stande 


— 


kommen muß, wenn ſich ein Jeder beſtrebt, 
die Hand des Andern zu küſſen. 

Welcher Art alſo auch immer die Ehren— 
bezeugung ſein mag, jedenfalls hat ſie die— 
ſelbe Wurzel wie die Trophäen und Ver— 
ſtümmelungen. Ganz in die Hände des 
Siegers gegeben, welcher entweder einen 
Theil ſeines Körpers zum Andenken an 
den Sieg abhaut und ihn dadurch tödtet 
oder aber ſich mit einem minder wichtigen 
Theil begnügt und ihn nur als Unter— 
worfenen kennzeichnet, liegt der beſiegte Feind 
vor Jenem hingeſtreckt da, ſei es auf ſeinem 
Rücken, ſei es mit deſſen Fuß auf ſeinem 
Nacken, mit Staub oder Schmutz bedeckt, 
waffenlos und mit zerriſſenen Gewändern 
oder auch des trophäengeſchmückten Mantels 
beraubt, der ſein Stolz war. Dadurch 
werden die Niederwerfung, die Beſchmutzung 
mit Staub und der Verluſt der Kleidung 
als beiläufige Folgen der Beſiegung gleich 
der Verſtümmelung zu anerkannten Beweiſen 
derſelben, woraus dann zu allererſt die er— 
zwungenen Unterwürfigkeitsbezeugungen von 
Sclaven gegen ihre Herren, von Unterthanen 
gegenüber ihren Gebietern, ſodann die frei— 
willige Annahme einer unterthänigen Stell— 
ung vor den Vornehmeren und endlich ſo— 
gar jene Höflichkeitsbewegungen hervorgehen, 
welche, obwohl Unterordnung ausdrückend, 
doch unter Gleichgeſtellten beobachtet werden. 

Daß alle ſolche Ehrenbezeugungen im 
kriegeriſchen Weſen wurzeln, iſt eine Folge— 
rung, die ganz mit der Thatſache überein— 
ſtimmt, daß ſich dieſelben in der That in 
gleichem Maße entwickeln, als der kriege— 
riſche Typus einer Geſellſchaft ausgeprägt 
iſt. Derartige Unterwerfung bezeugende 
Haltung und Bewegung kommen nicht bei 
führerloſen Stämmen und ſolchen mit noch 
unbeſtimmter Häuptlingsmacht vor, wie es 
die Feuerländer, die Andamaneſen, die Tas— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


165 


manier und die Eskimos ſind; und die Be— 
richte über Etiquetteformen bei den wan— 
dernden und noch faſt gar nicht organiſirten 
Gemeinſchaften von Nordamerika erwähnen 
nichts oder nur Unbedeutendes von Hand— 
lungen, welche Knechtſchaft oder Unterord— 
nung ausdrücken ſollen. Allerdings giebt 
es in Indien gewiſſe einfache und durch 
Friedensliebe ausgezeichnete Geſellſchaften 
ohne ſtaatliche Organiſation, bei denen de— 
müthige Ehrenbezeugungen vorkommen, wie 
z. B. die Todas. Bei der Hochzeit legt 
eine Todabraut ihren Kopf unter den Fuß 
des Bräutigams. Da aber Ausnahmen 
von dieſer und von noch weniger ausge— 
prägter Art nur bei ſeßhaften, Viehzucht 
oder Ackerbau treibenden Stämmen zu be— 
obachten ſind, deren Vorfahren jene Mittel— 
ſtufen zwiſchen dem wandernden und dem 
ſtationären Zuſtand, während welcher im 
Allgemeinen kriegeriſche Thätigkeit vor— 
herrſchte, bereits durchlaufen haben, ſo dürfen 
wir wohl mit Recht vermuthen, daß dies 
blos übriggebliebene Ceremonien ſind, die 
ihre urſprüngliche Bedeutung verloren haben, 
und dies um ſo mehr, als in dem ange— 
führten Falle weder jene geſellſchaftliche, 
noch jene häusliche Unterordnung beſteht 
als deren Ausdruck ſie doch erſcheinen könn— 
ten. Dagegen finden wir in den durch kriege— 
riſche Ereigniſſe zur Verſchmelzung und in— 
nerer Befeſtigung gebrachten Geſellſchaften, 
welche den kriegeriſchen Organiſationstypus 
erlangt haben, das ſtaatliche wie das ge— 
ſellſchaftliche Leben ganz außerordentlich durch 
unterthänige Ehrenbezeugungen charakteriſirt. 
Fragen wir zunächſt, in welchen ſchwachent— 
wickelten Geſellſchaften die kriechenden Nie— 
derwerfungen und das ſich Ducken und 
Winden vor den Vornehmen am meeſten 
herrſcht, ſo iſt die Antwort nicht zweifel— 
haft. Wir finden ſie in dem kriegeriſchen, 


2 


CE A 


166 


cannibaliſchen Fidſchi, wo die Gewalt des 
Herrſchers über ſeine Unterthanen und ihr 
Eigenthum unbeſchränkt iſt und wo das 
Volk in einigen Sclavendiſtrikten ſelbſt der 
Anſicht iſt, es ſei aufgezogen worden, um 
verſpeiſt zu werden; wir finden ſie in Ugan— 
da, wo beſtändig Krieg herrſcht, wo die 
Einkünfte von der Plünderung benachbar— 
ter Stämme wie der eigenen Unterthanen 
herſtammen und wo von dem König, wenn 
er um ſich ſchießt, geſagt wird: „da ſeine 
Hoheit kein Wild fand, das er ſchießen 
konnte, ſchoß er viele Leute nieder;“ und 


wir finden fie in dem bluttriefenden Da- 


home, wo die benachbarten Geſellſchaften 


überfallen werden, um mehr Köpfe zur 


Ausſchmückung des Königspalaſtes zu er— 


halten, und wo Jedermann bis hinauf zum 


höchſten Miniſter des Königs Sclave iſt. 
Was etwas weiter vorgeſchriltene Staaten 
betrifft, ſo kommen ſie in Burmah und 
Siam vor, wo der aus früheren Zeiten 
überlieferte kriegeriſche Typus wenigſtens 
die Gewalt des Monarchen ebenfalls ohne 
jede Einſchränkung gelaſſen hat; in Japan 
ferner, wo, entſprechend einem während 
der Kriege vergangener Zeiten entwickelten 
und befeſtigten Despotismus, ſtets dieſe 
kriechenden Ehrenbezeugungen jedes Stan— 
des gegen den über ihm ſtehenden beobachtet 
werden, und in China, wo bei einer ähn— 
lichen Regierungsform von gleicher Abſtam— 
mung immer noch das Geſetz in Kraft iſt, 
daß man ſich vor dem höchſten Herrſcher 
faſt platt auf die Erde werfen und mit 
der Stirne auf den Boden aufſchlagen müſſe. 
Gleiches gilt auch vom Küſſen der Füße 
als Ehrenbezeugung. Dies war ſtehender 
Gebrauch im alten Peru, wo das ganze 
Volk unter der Organiſation und der Zucht 
der Regierung ſtand. Es herrſcht in Ma 
dagaskar, wo kriegeriſcher Aufbau und 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Thätigkeit der Geſellſchaft ſehr beſtimmt 
ausgeprägt ſind. Und bei mehreren Völ— 
kern des Oſtens, die heute noch wie von 
jeher unter autokratiſcher Herrſchaſt leben, 
beſteht auch dieſe ceremonielle Form gegen— 
wärtig noch ſo ungeſchmälert wie in den 
älteſten Zeiten. Nicht anders verhält es 
ſich ſodann mit dem vollſtändigen oder 
theilweiſen Abnehmen der Kleider. Die 
extremſten Formen dieſes Brauches kommen, 
wie wir ſahen, in Fidſchi und Uganda vor, 
während für die etwas mildere Form, das 
Entblößen des Körpers bis auf die Lenden 
herab, Beiſpiele aus Abyſſinien und Tahiti 
angeführt werden konnten, wo die könig— 
liche Gewalt, wenn auch immer noch groß, 


doch nicht mehr ſo rückſichtslos mißbraucht 


wird. Und dies beſtätigt ſich endlich auch 
hinſichtlich des Entblößens der Füße. Dies 
war im alten Peru und im alten Mexico 
eine dem König ſchuldige Ehrenbezeugung, 
wie ſie es heute noch in Burmah und in 
Perſien iſt: — alles Länder, deren despo— 
tiſche Regierungsformen ſich aus kriegeriſchen 
Verhältniſſen hervor entwickelt haben. Die— 
ſelben Beziehungen laſſen ſich zum Schluß 
auch in Betreff der übrigen extremen Ehren— 
bezeugungen herausfinden: daß man Staub 
aufs Haupt ſtreut, grobe Kleider anlegt, 
mit einer Bürde belaſtet eintritt und ſich 
die Hände bindet. 

Vergleichen wir nun noch die Gebräuche 
der europäiſchen Völker, wie ſie in früheren 
Zeiten herrſchten, als der Krieg das Haupt— 
geſchäft des Lebens war, mit denen, welche 
wir gegenwärtig unter uns beobachten, wo 
der Krieg aufgehört hat, dieſe große Rolle 
zu ſpielen, ſo tritt dieſelbe Wahrheit zu 
Tage. 

Ueberdies läßt ſich beobachten, daß ſelbſt 
zwiſchen den kriegeriſcheren und den weniger 
kriegeriſchen Nationen von Europa entſpre— 


— 


tQ—— 8 è1 o —0—d—————— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


chende Verſchiedenheiten beſtehen: auf dem 
Continent werden alle dieſe Ehrenbezeugun— 
gen ausführlicher und eifriger befolgt als in 


England. Dafür laſſen ſich Zeugniſſe bei— 


bringen; denn von Seiten der höheren Stände, 
welche eben jenen herrſchenden Beſtandtheil des 
geſellſchaftlichen Baues bilden, der hier ſo gut 
wie überall aus kriegeriſchem Weſen hervor— 
gegangen iſt, wird dieſen Formen nicht blos 
bei Hofe, ſondern auch im Privatverkehr 
weit mehr Aufmerkſamkeit geſchenkt als von 
Seiten der das induſtrielle Element bilden— 
den Claſſen, bei denen gegenwärtig kaum 
mehr als die Verbeugung und das Kopf— 
nicken zu ſehen iſt. Und dann läßt ſich 
die bezeichnende Thatſache beifügen, daß 
bei den vorzugsweiſe kriegeriſchen Beſtand— 
theilen unſerer Geſellſchaft, der Armee und 
der Marine, nicht blos eine Menge vor— 
geſchriebener Ehrenbezeugungen viel regel— 
mäßiger und ſtrenger beobachtet wird als 
bei irgend einem anderen Stande, ſondern 
daß überdies bei dem einen von ihnen, der 
Marine, die ſich ja ganz beſonders durch 
die abſolute Herrſchaft ihrer höheren Offi— 
ciere charakteriſirt, noch ein Brauch fort— 
beſteht, der in gewiſſen Sitten barbariſcher 
Geſellſchaften ſeine nächſte Parallele findet: 
in Burmah iſt es geboten, „bei der An— 
näherung an den Palaſt ſich mehrmals 
niederzumerfen;“ die Dahomeaner führen 
dieſe Ceremonie vor dem Thore des Pa— 
laſtes aus; in Fidſchi iſt eine tiefe Ver— 


beugung das vorgeſchriebene „Zeichen der 


Ehrfurcht, das man einem Häuptling oder 
ſeinem Gehöfte oder einer Häuptlings-Nie— 
derlaſſung zu erweiſen hat;“ und geht man 
an Bord eines engliſchen Kriegsſchiffes, ſo 
iſt es Sitte, vor dem Hinterdeck den Hut 
abzunehmen. 


Be 


167 


Auf ein Minimum find diefe Ceremo— 
nien in unſerem Begräbniß- und Kirchen— 
Ceremoniell herabgedrückt. Hier ſind die 
Ehrenbezeugungen für die Todten, abge— 
ſehen von dem Entblößen des Hauptes am 
Grabe, vollſtändig verſchwunden und ſo 
ergeht es auch den im Cultus vorkommen— 
den Ceremonien dieſer Art. Selbſt das 
Niederknieen als religiöſe Verehrungsform 
iſt bei uns ziemlich außer Gebrauch ge— 
kommen; und die unkriegeriſchſte unter unſern 
Secten, die Quäker, kennt überhaupt gar 
kein religiöſes Ceremoniell mehr. 

Der innere Zuſammenhang, den wir 
hier für dieſe Erſcheinungen ebenſo wie 
früher für ſo manche ähnliche aufdecken 
konnten, ſtellt ſich endlich auch ſofort als 
der allein naturgemäße dar, wenn wir be— 
denken, daß kriegeriſche Verhältniſſe, an ſich 
ſchon mehr gewaltſamer Natur, mit Noth— 
wendigkeit den ſteten Gegenſatz von Befehlen— 
den und Gehorchenden bedingen, und daß alſo, 
wo ſolche Verhältniſſe herrſchen, ſprechende 
Zeichen der Unterordnung gefordert werden 
müſſen, während umgekehrt induſtrielle Ver— 
hältniſſe, mögen ſie ſich in den Beziehungen 
zwiſchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder 
zwiſchen Verkäufer und Käufer ausprägen, 
welche ja ſtets nur auf gegenſeitigem Ein— 
verſtändniß beruhen können, in ſich nichts 
Zwingendes haben, und daher, wo ſie vor— 
herrſchen, blos auf Erfüllung der contract— 
lich eingegangenen Verpflichtungen Nachdruck 
gelegt werden kann; und daraus ergibt ſich 
dann von ſelbſt eine immer mehr um 
ſich greifende Abnahme im Gebrauche von 
Zeichen der Unterordnung. 


(Fortſetzung folgt.) 


8 


Kleinere Mittheilungen und Journallchau. 


Der Mars und ſeine Monde. 


ie Beobachtungen, zu denen 
Mars während ſeiner außeror— 
dentlichen Annäherung an die Erde 
in den Monaten Auguſt, Septem— 


der 
| ſcheint, als Wagenlenker zu begleiten (Ilias 


ber und Oktober vorigen Jahres den 


Aſtronomen und den Aſtrophyſikern Ge— 
legenheit bot, dürften nun ziemlich voll— 
ſtändig der Oeffentlichkeit übergeben worden 


der hauptſächlichſten Ergebniſſe derſelben 
verſuchen. 


monde.“) Der Vorſchlag, dieſelben Romu— 
lus und Remus zu taufen, hat nicht den 
Beifall des Entdeckers Prof. Aſaph Hall 


Zunächſt noch einige Nachträge 
zu der frühern Mittheilung über die Mars 


gefunden, er hat ihnen vielmehr die Namen 
photometriſche Vergleichung der relativen 


zweier anderen Kinder des Kriegsgottes, 


Deimos und Phobos (Schrecken und Furcht), 


beigelegt. Von ihnen ſagt nämlich Heſiod: 
. . . doch dem Ares, 

Welcher die Schilde zerbricht, gab Schrecken 
und Furcht Kythereia, 

Gräßliche Kinder; ſie jagen der Männer ge— 
dichtete Reihen, 

In dem entſetzlichen Kampf mit dem ſtädte— 
verheerenden Ares. 
Die Benennung iſt inſofern nicht übel 


u) Kosmos II. S. 159. 


gewählt, als bei Homer Ares, im Augen— 
blicke, wo er ſich anſchickt, zur Erde herab— 
zuſteigen, dieſen ſeinen Kindern aufträgt, 
die Pferde anzuſchirren und ihn, wie es 


N19) 

Einer Publication”) des Profeſſor 
Eduard C. Pickering in Cambridge ent— 
nehmen wir, daß der auf der Sternwarte 
des Harward-College angeſtellte Verſuch, 
die Durchmeſſer dieſer kleinſten aller be— 


fein und wir können eine Zuſammenfaſſung kannten Himmelskörper nach ihrer Lichtſtärke 


zu ſchätzen, für den äußern Mond (Dei— 
mos) einen Durchmeſſer von 5,9—6 eng— 
liſchen Meilen und für den inneren Mond 
(Phobos) von 6,5—7 engliſchen Meilen, 
alſo ein Verhältniß von 9: 10 ergeben 
hat. Dieſe Schätzungswerthe ſind, da es 
ein andres Mittel nicht gab, durch eine 


Lichtſtärken der Monde mit der des Planeten 
ſelbſt bewerkſtelligt worden, und es wurde 
dabei angenommen, daß den Trabanten ein 
gleiches Vermögen, das Sonnenlicht zurück— 


zuſtrahlen, zukomme, wie der Oberfläche 


des Planeten ſelbſt. 


Die Dauer einer 
Rotation des Mars beſtimmte Luiz Cruls 


auf dem Obſervatorium von Rio Janeiro 


I 


*) American Journal of Science V. XV. 
Jan. 1878. 


aus der Bewegung der in dieſer Zeit 
ausgezeichnet genau zu verfolgenden Flecken 
zu 24 Stunden 37 Minuten und 34 
Secunden, alſo 12 Secunden mehr, als 
Beer und Mädler früher gefunden 
hatten.“) 

Mannigfacher als die rein aſtronomiſchen 
ſind die aſtrophyſiſchen Ergebniſſe geweſen, 
für deren Zuſammenſtellung wir hauptſäch— 
lich einigen Berichten der Monthly Notices 
of the Royal Astronomical Society 
(Vol. XXVIII. 1 und 2) verpflichtet ſind. 
Die Spektral-Analyſe wurde von Maunder 
in Greenwich angewendet, um die Beſchaffen— 
heit der Mars-Atmoſphäre zu ergründen 
und am 23. Auguſt und 26. September 
konnte das Spektrum mit dem des in 
gleicher Höhe ſtehenden Mondes verglichen 
werden. Es zeigten ſich beide Male neben 
den Fraunhofer'ſchen Linien ſchwache ver— 
waſchne Streifen, die um ſo beſtimmter 
auf das Vorhandenſein einer dünnen 
Atmoſphäre gedeutet werden können, als 
von den acht, im Marsſpektrum beobachteten 
Streifen nur drei im Mondſpektrum vorkom— 
men. Die verſchiedenen Theile des Planeten 
gaben ein in der Intenſität der Farben— 
abtheilungen wechſelndes Spektrum, wäh— 
rend die Streifen dabei völlig oder beinahe 
dieſelben blieben. So erſchien im Spektrum 
der Randtheile das rothe Ende blaſſer, 
während das Violet ſich von allen Theilen 

gleich ſtark erwies und ſich ebenſo weit 
erſtreckte wie im Spektrum des Mondes. 
Die dunklen Flecken, z. B. der große 
„Dawes-Ocean“, ergaben ein dunkleres 
Spektrum, namentlich im rothen und gelben 
Theile. Im Uebrigen blieben dieſe Flecke 
ſich außerordentlich gleich, ſo daß man an— 
nehmen muß, Wolkenbildungen und andre 
Urſachen, ſachen, welche die Klarheit der Mars⸗ 
) Comptes Comptes rendus T. LXXXV. p. 1060. 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


169 


atmoſphäre ſtören könnten, müßten verhält— 


nißmäßig ſehr ſelten ſein. Auf der Green— 
wicher Sternwarte hat man in allen klaren 
Nächten der Oppoſitions-Periode Zeich— 
nungen der Flecken und ſonſtigen Erſchein— 
ungen vorgenommen und dabei nur ſo 
geringe Aenderungen bemerkt, daß man 
nicht ſicher iſt, ob dieſelben nicht von ge— 
ringen Trübungen unſerer eigenen Atmo— 
ſphäre, welche die zarteren Details ver— 
wiſchen, herrühren könnten. 

Nur gegen den Rand des Planeten 
ſchienen ſich geringe Aenderungen der Mars— 
Atmoſphäre bemerkbar zu machen. Etwa 
4“ vom Rande verſchwinden die Zeichnungen, 
die man auf Oberflächen-Bildungen des 
Planeten bezieht, in der Regel gänzlich, 
und der Rand erſcheint als hellerer Ring, 
deſſen Glanz ſich aber an einigen Tagen 
bis zum gänzlichen Verſchwinden mäßigte. 
Ein leichter Wechſel der Atmoſphären— 
Durchſichtigkeit ließ ſich auch aus dem ver— 
ſchiedenen Anſehen der Farbe, ſowohl der 
dunkleren Flecken als der helleren Partieen, 
erkennen. Die Farbe der dunklen Flecke 
wechſelte zwiſchen blaugrau, olivengrün und 
kobaltblau, die der helleren Theile zwiſchen 
orange, gelb und ſcharlach. Zuweilen 
ſchienen kleinere helle Flecken neu aufzu— 
treten, die möglicherweiſe auf Wolkenbild— 
ungen gedeutet werden können. 

Ganz übereinſtimmende Ergebniſſe lie— 
ferten die unter viel günſtigeren Beding— 
ungen von Nacht zu Nacht entworfenen 
Zeichnungen der unter Green's Leitung 
ſtehenden Sternwarte von Madeira. Die 
nach dem Rande und nach den Polen hin 
allmälig erblaſſenden Details blieben ſich 
durch vierzig Nächte, wie die Zeichnungen 
beweiſen, mit geringen Abweichungen gleich. 
Die beiden Pole ſind bekanntlich ſtets mit 
einer mehr oder weniger ſchimmernden Decke 


umgeben, deren weißer Glanz ſich deutlich 
von dem vorwiegend rothen Lichte der 
Scheibe abhebt, und deshalb auf ziemlich 
weit ſich erſtreckende Maſſen von Polareis 
bisher gedeutet wurde. Dieſe blendend 
weiße Maſſe erlitt am Südpol während der 
vorjährigen Beobachtungs-Periode eine be— 
trächtliche Verminderung, ſo daß ſie nach den 
Beobachtungen Cruls in Rio de Janeiro 
am 13. October nicht mehr die Hälfte 
ihrer früheren Ausdehnung beſaß und nicht 
mehr den Rand des Planeten erreichte. 
Dieſe auch auf den andern Sternwarten 
beobachtete Verminderung der weißen Maſſen, 
mögen dieſelben aus Eis, Schnee, oder nur 
aus Wolken beſtehen, iſt ſehr erklärlich, da 
in dieſer Zeit der betreffende Pol vor— 
wiegend von der Sonne erwärmt wurde, 
d. h. ſeinen Sommer hatte. Am Rande 
dieſer weißen Polarzone zeigten ſich öfter 
auch einige iſolirte weiße Flecke, wie Eis— 
berge oder an hohen Bergen haftende Wolken, 
und andrerſeits bemerkte man Zerklüftungen 
des Randes der weißen Zone, als ob dort 
dunklere Thäler oder Fjorde ſich hinein— 
erſtreckten, während zugleich vorgeſchobene 
und ſelbſt ganz getrennte weiße Maſſen 
am Rande ſichtbar wurden. 6 

Am 21. Auguſt machte man auf Ma— 
deira eine ſehr intereſſante Beobachtung, 
die auf lebhafte meteorologiſche Proceſſe 
in der Mars-Atmoſphäre hindeutete. Man 
bemerkte nämlich eine Reihe von Linien, 
die eine Meridian-Richtung zeigten und 
dem Pole zuſtrebten; dieſelben laſſen ſich 
vielleicht auf das Hinfließen kalter Luft— 


wegungen alſo, die unſern Paſſaten ver— 
gleichbar geweſen wären. 


ſtröme nach dem Aequator deuten, Luftbe- 


Alle dieſe Beobachtungen führen zu 
kosmologiſchen, noch mit phyſikaliſchen Grün- 


Schlüſſen, die im Allgemeinen nicht erheblich 


| von den bisherigen Anſichten abweichen. In 


den leicht in Einklang bringen laſſen. Auch 


170 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


einem hohem Maße iſt dies indeſſen der 
Fall hinſichtlich der Beobachtungen und 
Folgerungen des Herrn John Brett, dem 
ein ausgezeichneter Reflector zur Verfügung 
ſteht. Dieſer Beobachter bemerkte zuerſt am 
28. September, daß die weiße Kuppe des 
Poles einen deutlichen Schatten nach Oſten 
auf den Planeten warf, und damit ſtimmt 
die ältere Beobachtung, die man bisher für 
eine Augentäuſchung (durch ſogenannte Irra— 
diation) gehalten hat, daß dieſe weiße Maſſe 
ſich beiderſeits, im Profil geſehen, über den 
Rand des Planeten erhebt. Brett ver— 
muthet nunmehr, daß dieſe weiße Maſſe 
mit der Veſte des Planeten gar nicht zu— 
ſammenhänge, ſondern über derſelben ſchwebe, 
er nimmt an, daß ſie aus Dunſt- oder 
Wolkenmaſſen beſtehe, die ſich darum einzig 
an den Polen zeigen, weil dieſe vielleicht 
die einzigen Regionen des Planeten dar— 
ſtellen, die kühl genug ſind, um eine an— 
ſehnlichere Verdichtung des Waſſerdampfes 
der Mars-Atmoſphäre zu geſtatten. Da 
man den Mars wegen der gleichbleibenden 
Zeichnung ſeiner Oberfläche für einen feſten 
Weltkörper halten muß, ſo nimmt Brett 
wenigſtens an, daß er ſich noch in Roth— 
gluth befinde, und erklärt ſich ſo den tief— 
rothen Schein der centralen Theile. Die 
ihre Form beibehaltenden dunklen Flecken 
müßten dann natürlich für alles andere eher, 
als für Meeresbecken angeſehen werden. 
Die zwar andauernde aber keineswegs ſehr 


vollkommene Durchſichtigkeit der Atmoſphäre 


erklärt er ſich durch die höhere Temperatur 
derſelben, welche eine Verdichtung des Waſſer— 
dampfes, außer an den Polen, nirgends 
geſtatten möge. 

Dieſe Annahmen würden ſich aber, wie 
dem Referenten ſcheinen will, weder mit 


erſcheint eine viel wahrſcheinlichere Deutung 
dieſer neuen Forſchungsergebniſſe naheliegend 
genug. Wenn man nämlich im Gegentheile 
annimmt, daß die Atmoſphäre des Mars 
nur verhältnißmäßig wenig Waſſerdampf 
enthält, ſo wird die Wolkenbildung faſt ganz 
auf die Polargegenden beſchränkt werden, 
welche letzteren unter ihrer ſelten ſchwinden— 
den Wolkendecke mit ewigem Eiſe bedeckt 
ſein mögen. Der beobachtete Farbenwechſel 
ſowohl der dunklen, als der hellen Flecke 
deutet unverkennbar auf einen Zuſammen— 
hang mit atmoſphäriſchen Aenderungen. 
Wahrſcheinlich haben wir hier überhaupt at— 
moſphäriſche Farben, wie Himmelbläue und 
Morgenroth. Die helleren Theile der Mars— 
oberfläche ſchimmern gelblich oder röthlich, 
die dunkleren bläulich durch das trübe Mittel. 
Daß die rothe Färbung nicht etwa dem 
Geſtein des Mars eigenthümlich iſt, wird 
durch den Umſtand widerlegt, daß die 
Marsmonde (obwohl aus gleicher Maſſe 
beſtehend?) kein rothes, ſondern rein weißes 
Licht zurückwerfen, eben weil ſie wahrſchein— 
lich keine Atmoſphäre beſitzen. Es läßt 


ſich ſogar annehmen, daß die Erde vom 


Mars aus an vielen Tagen ein ähnliches 
Ausſehen darbieten wird, wie dieſer uns, 


nämlich Wolkenmaſſen, die ſich im Winter 
von den Polen bis in die gemäßigte Zone 


erſtrecken, gleichbleibende Klarheit dagegen 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


giebt es in der ſüdeuropäiſchen und orien— 


171 


Die geſchlechtliche Zuchtwahl 


im Pflanzenreiche. 


Die meiſten Schriftſteller, welche ſich 
über die Entſtehung der Pflanzenarten aus- 
geſprochen haben, ſcheinen der Anſicht 
geweſen zu ſein, daß die Bildung neuer 
Typen verhindert werde, ſo lange die 
Möglichkeit freier Kreuzung zwiſchen den 
beginnenden Abänderungen beſtehe. Sie 
haben daher angenommen, daß eine 
räumliche oder zeitliche Trennung der ver— 
ſchiedenen Formen ſtattfinden müſſe, wenn 
ſich aus denſelben neue Arten herausbilden 
ſollen, da nur in dieſem Falle eine jede 
von ihnen ungeſtört ihren eigenthümlichen 
Entwickelungsgang verfolgen könne. Daß 
eine räumliche Trennung die Einwirkung 
zweier Pflanzenformen auf einander ver— 
hütet, verſteht ſich von ſelbſt. Denſelben 
Erfolg muß indeß auch eine zeitliche Trenn— 
ung, d. h. eine Verſchiedenheit der Blüthe— 
zeiten, haben. Von beſonderer Wirkſam— 
keit iſt natürlich die Einſchiebung einer 
Ruheperiode oder Vegetationspauſe zwiſchen 
die urſprünglich nahe bei einander liegen— 
den Blüthezeiten verwandter Formen. So 


taliſchen Flora einige Gattungen (Crocus, 
Bulbocodium, Erica), deren Arten theils 


im Herbſte, theils im Frühjahr blühen. 


nur in den Aequatorial-Gegenden. Freilich 


dürften dabei Trübungen der Erdkarte auch 


in den Aequatorialgegenden häufiger vor- 
kommen, aber dies kann recht wohl auf 


einen durchſchnittlich größeren Waſſergehalt 


unſerer Atmoſphäre bezogen werden. Auch 
auf dem Erdbilde wird ſich im Polarſommer 


die weiße Wolkenſchicht dieſer Zonen ver- 


kleinern. 


In dieſem Falle iſt offenbar die Einwirk— 
ung der frühen und ſpäten Arten auf 
einander vollſtändig unmöglich. Die Blüthe— 
zeiten nahe verwandter Arten oder ver— 
ſchiedener Exemplare einer und derſelben 
Art rücken übrigens auch mitten im Som— 
mer manchmal beträchtlich aus einander. 
Unter Umſtänden keimen die früh gereiften 
Samen einer Pflanze eher als die ſpät 
gereiften, ſo daß die aus erſteren hervor— 
gehenden Keimpflanzen vor Eintritt des 


172 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau 


Winters bereits ſehr kräftig entwickelt ſind 
und daher im nächſten Jahre auch eher 
zur Blühreife gelangen. Frühes Blühen 
kann ſomit manchmal erblich werden, ohne 
daß ſich die Conſtitution der Pflanze ſelbſt 
irgendwie verändert. Bei einer wirklich ho— 
mogenen Art wird dies Verhalten an und 
für ſich zu keinen Abänderungen führen; 
dagegen kann es bei variablen Formen mit 
beginnender Sonderung der Raſſen von 
großer Bedeutung werden und die Ent— 
wickelung ſelbſtſtändiger Typen weſentlich 
begünſtigen. Die Erſcheinung der Ver— 
frühung oder Verſpätung der Blüthezeit 
iſt beſonders durch A. Kerner näher 
gewürdigt und als Aſyngamie bezeichnet 
worden. Es iſt indeß wichtig, verſchiedene 
Reihen von Thatſachen aus einander zu 
halten. So giebt es z. B. von allen 
Getreidearten klimatiſche Varietäten, welche 
den Lebenskreislauf von der Keimung bis 
zur Fruchtreife in ungewöhnlich kurzer Zeit 
vollenden. In Gegenden mit rauhem Klima 
(Gebirgslagen, nordiſche Länder) entſtanden, 
behalten ſolche Varietäten die Schnellwüchſig— 
keit wenigſtens durch eine Reihe von Ge— 
nerationen auch unter milderen Himmels— 
ſtrichen bei. Entſprechende Erfahrungen 
machte Kerner bei Alpenpflanzen aus 
höheren Lagen. Solche unter klimatiſchem 
Einfluſſe erworbene Unterſchiede in der 
Blüthezeit ſtehen im Allgemeinen nicht im 
Zuſammenhange mit einer Neigung zu 
morphologiſcher Abänderung. Dagegen 
pflegen conſtante und erbliche Unterſchiede 
in der Blüthezeit bei Pflanzen, die unter 
gleichen Verhältniſſen wachſen, untrennbar 
verbunden zu ſein mit Eigenthümlichkeiten 


der äußeren Bildung. Es läßt ſich in ſolchen 
Fällen nicht entſcheiden, ob die Verſchiebung 
der Blüthezeit als Urſache oder als Symp- | 


tom einer beginnenden Abänderung aufzu— 


= 


faffen iſt. Vielleicht ift fie manchmal beides 
zugleich; jedenfalls kann auch das Symptom 
oder die Eigenſchaft für die raſchere Aus— 
prägung und Fixirung einer neuen Form 
beſonders wichtig werden.“ 

So treffend viele Bemerkungen Ker— 
ner's über die Bedeutung der Aſyngamie 
auch ſind, ſo geht dieſer Autor doch gewiß 
zu weit, wenn er glaubt, daß Variationen, 
welche nicht räumlich oder zeitlich iſolirt 
ſeien, ſchwer zu Ausgangspunkten neuer 
Arten werden könnten, weil ſie durch Kreuz— 
ungen mit den Stammformen zuſammen— 
fließen müßten. Dieſe Meinung kann ich 
nicht theilen. Als Beiſpiel führt Kerner 
die Gattung Rubus an, in welcher es 
keine aſyngamiſchen Individuen gebe. Allein 
die Formenkreiſe der Rubi verhalten ſich 
nicht anders als die der Gattung Hiera- 
cium, aus welcher Kerner gerade die 
erſten Beiſpiele von Aſyngamie entnommen 
hat. Weit entfernt, die Bedeutſamkeit der 
Aſyngamie für die Bildungsgeſchichte der 
Arten in Abrede ſtellen zu wollen, bin ich 
doch der Anſicht, daß die Natur ein noch 
einfacheres Mittel beſitzt, um einer Ver— 
miſchung beginnender Arten entgegen zu 
wirken. Viele Beobachter haben ſich dar— 
über gewundert, daß man verhältnißmäßig 
ſelten Miſchlinge zwiſchen den nächſtver— 
wandten Formen antrifft, ja man hat aus 
ſolchen Wahrnehmungen die Regel ableiten 
wollen, daß ein gewiſſer Betrag von ſpe— 
cifiſcher Verſchiedenheit die Baſtardbildung 
begünſtige. Beſonders nachdrücklich iſt dieſe 
Behauptung durch Alexis Jordan aus— 
geſprochen worden, ohne Zweifel den beſten 
Kenner der engſten Formenkreiſe. Die 
Regel hat indeß auch ihre Ausnahmen, 
da z. B. Phyteuma spieatum und Ph, 
nigrum, ſowie die verſchiedenen Taraxacum- 


Raſſen beim Zuſammentreffen an denſelben 


— ͤ ß . W- 


Standorten faſt immer deutliche Miſch— 
formen liefern. Auch bei vielen Kultur— 
pflanzen iſt nach den Erfahrungen der 
Gärtner Reinzucht und IJſolirung noth- 
wendig, wenn man die Raſſen beſtändig 
erhalten will. Jene Regel hat ſomit nur 
eine beſchränkte Gültigkeit und geſtattet 
zahlreiche Ausnahmen; die Thatſachen, auf 
welche ſie ſich bezieht, werden ſich ferner 
bei näherer Unterſuchung wahrſcheinlich ſehr 
wohl erklären laſſen, ohne daß man nöthig 
hat, eine ebenſo myſteriöſe wie capriciöſe 
Regel zu Hilfe zu nehme. Unmittelbarer 
Umſchlag der einen Form in die andere, 
ſowie Fortpflanzung durch Selbſtbefruchtung 
ſind gewiß als häufige Urſachen des Fehlens 
von Zwiſchenformen anzuſehen. 

Weitere Fingerzeige für die Beurtheil— 
ung dieſer Thatſachen giebt die Beobachtung 
der zufällig entſtandenen Baſtarde zwiſchen 
je zwei nicht allzu nahe verwandten Arten. 
Wer nach Hybriden ſucht, wird dieſelben 
verhältnißmäßig ſelten an ſolchen Plätzen 
antreffen, wo zwei zur Kreuzung geneigte 
Arten in großer Menge durch einander 
wachſen. Viel leichter erfolgt die Baſtard— 
bildung dort, wo die eine der Stammarten 
häufig, die andere ſparſam vorhanden iſt. 
Die Erklärung dieſer Erſcheinung iſt nicht 
ſchwierig. Läßt man den eigenen Blüthen— 
ſtaub des betreffenden Exemplars unberück— 
ſichtigt, ſo wird bei dichtem Durcheinander— 
wachſen und gleicher Häufigkeit beider Arten 
jede Narbe durchſchnittlich ebenſo viel frem— 
den Blüthenſtaub der eigenen Art wie der 
fremden Art erhalten. Von der iſolirt 
wachſenden Pflanze wird dagegen jede Narbe 


außer dem Blüthenſtaub des eigenen Exem⸗ 


plars nur ſolchen der fremden Art em— 


pfangen. Offenbar ſind in dieſem letzten 


Falle die Ausſichten für die Baſtardbild— 
ung viel günſtiger. Es verſteht ſich übri— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Art Anwendung, ſobald für jede der 


gens von ſelbſt, daß auch in Bezug auf 
die Wahrſcheinlichkeit von Hybridiſationen 
eine zeitliche Iſolirung ebenſo wirkt wie 
eine räumliche. Einzelne verfrühte oder 
verſpätete Blüthen der einen Art können 
natürlich leicht hybridiſirt werden, wenn 
die andere Art noch in vollem Flor ſteht. 

Alles was von dem Verhalten ver— 
ſchiedener Arten zu einander gilt, findet 
auch auf zwei verſchiedene Raſſen derſelben 


Blüthenſtaub der eigenen Raſſe eine größere 
Befruchtungsfähigkeit beſitzt als der der 
fremden. Falls dieſe Vorausſetzung zu— 
trifft, können zwei gleichzeitig blühende 
nächſtverwandte Pflanzenformen in größter 
Menge durch einander wachſen, ohne daß 
eine nennenswerthe Zahl von Blendlingen 
entſteht. Für jede der Raſſen kann der 
Blüthenſtaub der anderen durchaus geeignet 
zu vollkommener Befruchtung ſein, ohne 
daß in Wirklichkeit Kreuzung ſtattfindet; 
der Grund dieſer Erſcheinung liegt einfach 
darin, daß für jede Raſſe der eigene 
Blüthenſtaub den fremden an Wirkſamkeit 
noch übertrifft. Jedes Inſekt, welches eine 
Blüthe beſucht, wird in derſelben gewöhn— 
lich einige Pollenkörner aus mehreren früher 
beſuchten Blüthen auf der Narbe zurücklaſſen; 
von dieſen gleichzeitig zugeführten Pollenkör— 
nern verſchiedener Abſtammung werden nur 
die geeignetſten die Befruchtung wirklich voll— 
ziehen. Es findet daher auf der Narbe 
ein Wettkampf zwiſchen den verſchiedenen 
Pollenſorten ſtatt und der Ausgang dieſes— 
Wettkampfes hängt von der geſchlechtlichen 
Anpaſſung zwiſchen Blüthenſtaub und weib— 
lichen Organen ab. Für jede Modification 
im Bau und im Chemismus eines Stem- 
pels und einer Narbe muß eine beſtimmte 
Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes die denk— 
bar größte Befruchtungsfähigkeit 3 


174 


Es gründet ſich dieſe Behauptung aller— 
dings auf eine bisher nicht mit voller 
Schärfe zu beweiſende Annahme, nämlich 
darauf, daß in der That merkliche Unter— 
ſchiede in der Wirkſamkeit verſchiedener 
Pollenſorten, die den Formen einer und 
derſelben Art entſtammen, vorhanden ſind. 
Solche Unterſchiede ſind bisher nur in 
wenigen Fällen beſtimmt nachgewieſen wor— 
den, aber alle bekannten Thatſachen ſprechen 
dafür, daß ſie ganz allgemein vorhanden 
ſind. Es genügt, an einige bekannte Er— 
fahrungen zu erinnern. Der Blüthenſtaub 
der eigenen Art iſt im Allgemeinen ſtets 
wirkſamer als der einer fremden. Auch 
in Fällen, in welchen bei Ausſchluß des 
eigenen Pollens eine Hybridiſation leicht 
und ſicher erfolgt, findet eine ſolche doch 
niemals ſtatt, ſobald fremder Blüthenſtaub 
der eigenen und der fremden Art gleich— 
zeitig auf die Narbe gelangen. Anderer— 
ſeits giebt es eine Anzahl Pflanzen, deren 
Stempel durch den Blüthenſtaub der eigenen 
Blüthe oder ſelbſt des eigenen Exemplars 


entweder gar nicht oder doch nur ſchwierig 


befruchtet werden können. In ſolchen Fällen 


erfolgt nicht ſelten Hybridiſation leichter als 


Selbſtbefruchtung. Aus dieſen Thatſachen 
erhellt, daß ſowohl zu ferne, als auch in 


geſchlechtliche Verbindung erſchwert oder 
ſelbſt ganz verhindert. Ein anderer be— 
achtenswerther Umſtand iſt, daß bei Ge— 
wächſen mit dimorphen oder trimorphen 
Blüthen die größeren Pollenkörner ſtets 
zur Befruchtung der längeren Griffel be— 
ſtimmt ſind, die kleineren zur Befruchtung 
der kürzeren. Auch durch Vergleichung der 
betreffenden Organe bei nahe verwandten 
Arten findet man, daß größere Pollenkörner 
und längere Griffel einander zu entſprechen 
pflegen. Da in dieſen Fällen nur die ab— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


ſolute Griffellänge in Betracht kommen 
kann, ſo iſt es z. B. auch in hohem 
Grade wahrſcheinlich, daß ein üppiges, 
großblumiges, daher auch langgriffliges 
Exemplar einer beſtimmten Art leichter 
durch etwas größere Pollenkörner derſelben 
Art befruchtet werden wird, als durch die 
normalen. Es handelt ſich in dieſen Fällen 
offenbar um ein rein mechaniſches Moment; 
weit ſchwieriger iſt es, die chemiſche oder 
conſtitutionelle Affinität zwiſchen den Sexual— 
organen zu beurtheilen. Da jedoch, wie 
gezeigt, derartige Verſchiedenheiten beſtehen, 
ſo iſt an der Richtigkeit der oben gemachten 
Vorausſetzung nicht zu zweifeln: Für jede 
Abänderung in den weiblichen Organen 
muß eine entſprechende Abänderung im 
Blüthenſtaube die größtmögliche Befrucht— 
ungsfähigkeit beſitzen. 

Kehren wir zu dem Ausgangspunkte 
unſerer Betrachtungen zurück, ſo wird nach 
den vorſtehenden Auseinanderſetzungen die 
Fixirung der Varietäten einer variabeln 
Art nicht nur durch räumliche oder 
zeitliche Trennung ihrer Blüthen erfol— 
gen können, ſondern auch durch geſchlecht— 
liche, alſo dadurch, daß jede einen ihr 
beſonders angepaßten Blüthenſtaub erwirbt. 


Daß ſich innerhalb plaſtiſcher Arten unter 
manchen Fällen zu nahe Verwandtſchaft die 


den zahlloſen Abänderungen derartige in— 
timere Anpaſſungen zwiſchen den Sexual- 
organen einzelner Varietäten herausbilden 
können, wird man gewiß nicht für un— 
wahrſcheinlich halten. Daß ſich ſolche An— 
paſſungen wirklich herausgebildet haben, 
wird man glaublich finden, wenn man die 


oben angeführte Erfahrung berückſichtigt, 


Seelſtbefruchtung und Kreuzbefruchtung geben 


daß fo viele nahe verwandte Formen jo 
wenig Neigung zu gegenſeitiger Hybridiſa— 
tion zeigen. 

Die Erfahrungen Darwin's über 


der Hoffnung Raum, daß es gelingen wird, 
durch richtig geleitete Verſuchsreihen be— 
ſtimmte Aufſchlüſſe über die Wirkſamkeit 
verſchiedener Pollenſorten auf die weiblichen 
Organe verſchiedener Raſſen derſelben Art 
zu gewinnen. Ein wiſſenſchaftlicher Ver— 
ſuchsgarten würde höchſt fruchtbare Forſch— 
ungen über dieſe Fragen ermöglichen. 
Wenn die obigen Erwägungen richtig 
ſind, ſo laſſen ſich aus denſelben noch einige 
Folgerungen ableiten. Es läßt ſich näm— 
lich daraus ſchließen, daß geſellig entſtan— 
dene Raſſen nicht leicht durch einander hy— 
bridiſirt werden können und zwar deshalb 
nicht, weil eine ſexuelle Sonderung zu ihrer 
Entwickelung nothwendig war. Haben ſich 
jedoch zwei Formen unter dem Schutze der 
Aſyngamie oder ſtandörtlicher Trennung 
zu beſonderen Raſſen entwickelt, ſo iſt es 
nicht nothwendig, daß ſie den eigenen Blü— 
thenſtaub unbedingt dem fremden vorziehen. 
Es iſt z. B. der Fall denkbar, daß der 
Blüthenſtaub der einen Form dem der 
anderen entſchieden überlegen iſt und zwar 
nicht nur für die eigene, ſondern auch für 
die fremde Raſſe. Vielleicht bieten uns 
die beiden Weidenarten Salix fragilis und 
8. alba ein Beiſpiel dieſer Art. Die in 
Bergthälern Europas heimiſche Knackweide 
(S. fragilis) wird häufig durch Flüſſe, 
gelegentlich auch durch Menſchen, in die 
Ebenen hinabgeführt und trifft dort mit 
der wahrſcheinlich Anfangs durch Anbau 
verbreiteten weißen Weide (S. alba) zu— 
ſammen, durch welche ſie in ausgedehnteſtem 
Maße Hybridifirt wird. Die echte Knack— 


weide würde in den Ebenen allmälig ver— 
ſchwinden, wenn ſie nicht durch Zuzug aus 
den Bergthälern erſetzt würde. 

Die organiſche Lebensthätigkeit richtet 
ſich auf zwei Zwecke: Selbſterhaltung und 
Fortpflanzung. 


Da von jeder Species 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


173 


nur ein Theil der möglichen Nachkommen— 
ſchaft zur Entwickelung gelangen kann und 
da bei den ſexuell differenzirten Organis— 
men ſtets ein Ueberſchuß von männlicher 
Befruchtungskraft vorhanden iſt, ſo muß 
nothwendig ſowohl ein Kampf ums Daſein 
als auch ein Kampf um die Fortpflanzung 
ſtattfinden. Der Kampf um die Fort— 
pflanzung nimmt ſehr verſchiedene Formen 
an. Im Pflanzenreiche tritt er in zweier— 
lei Geſtalt auf, nämlich als Wettkampf um 
die Transportmittel, die den Blüthenſtaub 
auf die Narbe bringen, und als Wettkampf 
um die Vollziehung der Befruchtung zwi— 
ſchen den auf die Narbe gelangten Pollen— 
körnern. Der Wettkampf um die Trans— 
portmittel iſt vielfach ſtudirt worden; die 
Blüthen haben durch ihn Geſtalt, Farbe, 
Nectar und Duft erhalten. Der Wett— 
kampf auf der Narbe kann direct nur 
auf den Blüthenſtaub und allenfalls auf 
die weiblichen Organe von Einfluß ſein. 
Da er aber dahin führt, daß die Befrucht— 
ung zwiſchen den einander am beſten ange— 
paßten Organen ſtattfindet, ſo begünſtigt 
er diejenigen Exemplare und diejenigen 
Raſſen, welche Inhaber ſolcher gut ange— 
paßten Organe ſind, und hindert deren 
Vermiſchung mit anderen Raſſen. Im 
Thierreiche herrſchen ganz analoge Verhält— 
niſſe. Gleich wie der Kampf um das 
individuelle Daſein die natürliche Ausleſe 
und dadurch die natürliche Züchtung zur 
Folge hat, ſo bedingt der Kampf um die 
Fortpflanzung die geſchlechtliche Ausleſe und 
geſchlechtliche Züchtung. Der Begriff der 
geſchlechtlichen Zuchtwahl iſt bisher weit 
enger gefaßt worden, weil man zunächſt 
namentlich die Entwickelung der ſexuellen 
Charaktere ins Auge gefaßt hatte. Die 
Herausbildung der acceſſoriſchen Geſchlechts— 
merkmale iſt jedoch nur eine einzelne Wirk— 


176 


ung des Kampfes um die Fortpflanzung, 
ſo daß ſich meiner Anſicht nach die hier 
vorgeſchlagene Erweiterung des Begriffes 
der geſchlechtlichen Züchtung von ſelbſt 
rechtfertigt. Die in vorſtehenden Zeilen 
näher betrachtete Erſcheinung des Wett— 
kampfes der Pollenkörner auf derſelben 
Narbe iſt indeß der geſchlechtlichen Zucht— 
wahl in engerem Sinne, wie ſie bei den 
höheren Thieren ſtattfindet, durchaus ana— 
log, allerdings abgeſehen von dem Um— 
ſtande, daß bei den Thieren oft ein activer 
Kampf ſtattfindet und daß der Wettkampf 
unter ihnen oft durch ein äſthetiſches, alſo 
ein pſychiſches Moment entſchieden wird. 
Der weibliche Theil nimmt bei Thieren 
wie bei Pflanzen nur dadurch am Wett— 
kampfe theil, daß er gewiſſe Nebenbuhler 
begünſtigen kann. Dies mehr paſſive Ver— 
halten des weiblichen Elements läßt einen 
Vergleich zu, der freilich nur einſeitig iſt, 
aber einen Theil der betreffenden That— 
ſachen ſcharf beleuchtet. Der Wettkampf 
der verſchiedenartigen Pollenkörner auf den 
verſchiedenen Narben läßt ſich nämlich ver— 
gleichen mit dem Wettkampfe zwiſchen ver— 
ſchiedenen Sämereien auf verſchiedenen 
Bodenarten. Wie die beſondere Beſchaffen— 
heit eines jeden Bodens beſtimmte Säme— 
reien und die daraus hervorgehenden Pflan— 
zen begünſtigt oder ausſchließt, ſo begünſtigt 
oder hindert auch die Beſchaffenheit der 
Griffel und Narben die Keimung und die 
Wirkſamkeit gewiſſer Pollenſorten. Die 
nothwendige Folge davon iſt eine genaue 
geſchlechtliche Anpaſſung, wie im anderen 
Falle die Anpaſſung zwiſchen den verſchie— 
denen Bodenarten und den eigenthümlichen 
Floren, welche auf ihnen gedeihen. 
Bremen. W. O. Focke. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Die Vorkeime von 
Gymnogramme leptophylla Desv. 


Am Schluſſe einer längeren Arbeit über 
die Entwickelungsgeſchichte der Gymno- 
gramme leptophylla, eines Mittelmeer- 
Farns, der jedoch auch verſprengt im üb— 
rigen Europa z. B. in Meran und in 
Jerſey vorkommt, und ſich dadurch aus— 
zeichnet, daß ſeine Vorkeime durch adventive 
Sproſſungen ausdauernde krauſe Raſen 
bilden, während die Wedel (dev ſonſt aus— 
dauernde Theil der Farnkräuter) nach der 
Sporenbildung alsbald abſterben, macht 
Dr. Carl Goebel einige für die Stamm— 
geſchichte der Farne intereſſante Bemerkungen, 
die wir in faſt wortgetreuem Auszuge mit— 
theilen wollen: 

„Man hat bisher die Vorkeime ledig— 
lich als Träger der Sexualorgane der 
Farne aufgefaßt. Die Beobachtung der 
Vorkeime von Gymnogramme leptophylla 
(und Osmunda regalis) zeigt aber, daß 
dem Prothallium unter Umſtänden auch 
eine ganz ſelbſtſtändige Vegetation zukommt. 
Daß dieſe unterbleibt, wenn ein Embryo 
entwickelt wird, das hat ſeinen einfachen 
phyſiologiſchen Grund darin, daß dieſer 
jetzt alle Nährſtoffe, welche vom Prothallium 
aſſimilirt werden, in Anſpruch nimmt. Es 
iſt dies ein ähnliches Verhältniß, wie das, 
welches eintritt, wenn das Wachsthum 
einer phanerogamiſchen Blüthenachſe durch 
eine Terminal-Blüthe beendigt wird ... 

Es iſt nicht zu verkennen, daß das 
Verhältniß zwiſchen geſchlechtlicher und un— 
geſchlechtlicher Generation bei dem be— 
ſprochenen Farn ein andres iſt, als bei 
den meiſten andern Farnen. Die geſchlecht— 


liche Generation iſt es hier, die eigentlich 
dauernd vegetirt, auf ihr erſcheint die un— 
geſchlechtliche, wie das Moosſporogonium 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


auf dem Moospflänzchen. Dieſe unge— 
ſchlechtliche Generation hat einen ſehr ein— 
fachen Bau und eine ſehr begrenzte Exiſtenz. 
Die zarten durchſcheinenden Wedel beſtehen 
aus drei Zellſchichten. Die Blattfläche wird 


von der beſchreibenden Botanik als kahl be⸗ 


zeichnet, ſie zeigt aber, namentlich auf der 


Oberfläche, außer den bei den Farnen ſo 


häufigen Drüſenhaaren, lange ſpitze, ein— 
bis zweizöllige Haare ... 
chen iſt kaum angedeutet . . . und erreicht 
ſelten eine größere Länge als 5 Millime— 
ter .. . die ganze ſporenbildende Generation 


bei Meran im October nur Prothallien 


Das Stämm⸗ 


und im Mai iſt die Pflanze abgeſtorben. 
An kräftigen Herbarien-Exemplaren tragen 


ſchon die allerunterſten Blättchen, die un— 
getheilt, rundlich ſind, einzelne Sporen— 


häufchen; die ganze Farn-Pflanze geht alſo 


hier in der Sporenbildung auf. Es er— 
innert dieſes Verhältniß an das bei den 
Mooſen vorkommende Verhältniß zwiſchen 


geſchlechtlicher und ungeſchlechtlicher Gene- 


ration. Iſt es doch gerade der Umſtand 


daß bei den Mooſen die geſchlechtliche Gene- 
ration das eigentlich Vegetirende, die un- 


geſchlechtliche dagegen ein vorübergehendes, 
nur zur Sporenbildung beſtimmtes Glied 
iſt, was die Kluft zwiſchen Mooſen und 


Gefäßkryptogamen als eine ſo tiefe erſcheinen 


läßt. Auf der Seite der Mooſe zeigt An- 
thoceros allein eine Annäherung an die bei 


den Gefäßkryptogamen (d. h. den Farnen 


und Bärlapp-Gewächſen) ſtattfindenden Ver— | 


hältniſſe. Das Sporogonium von Antho- 
ceros nämlich wächſt in feiner baſalen Partie 
fort und bildet hier neue Sporen, während 


1. 


zeitig. Hat ſo bei Anthoceros die ungeſchlecht— 
liche Generation eine Eigenthümlichkeit, die 
an das lange andauernde Wachsthum der— 
ſelben Generation bei den Gefäßkrypto— 
gamen erinnert, jo hat andererſeits Gymno- 
gramme leptophylla eine ungeſchlechtliche 
Generation, die faſt ausſchließlich der Pro— 
duction von Sporen dient. Dagegen iſt 
hier wie bei Anthoceros und den Mooſen 
im Allgemeinen die geſchlechtliche Generation 
das eigentlich Vegetirende, die geſchlechtliche 
Generation iſt es, die perennirt. Außer- 


dem aber zeigt dieſelbe auch eine höhere 
vegetirt nur wenige Monate; Milde ſah 


morphologiſche Differenzirung, als ſonſt von 
Farnprothallien bekannt iſt, eine Differen- 
zirung, die an diejenige der Vorkeime von 
Osmunda regalis erinnert. Will man auch 
keinen Werth darauf legen, daß Gymno- 
gramme flächenbürtige Adventivpſproſſen be— 
ſitzt, wie Anthoceros punctatus, betrachtet 
man ferner das Auftreten einer beſondern, 
Archegonien tragenden Sproſſung bei ymno— 
gramme als reine Anpaſſungserſcheinung 
(an die Scharf geſchiedenen Herbſt- und Früh— 
jahrs-Vegetationsperioden der Mittelmeer— 
länder), ſo iſt doch nicht zu verkennen, daß 
die bei Gymnogramme und Osmunda auf- 
tretende Verzweigung des Prothalliums 
ein Merkmal höherer morphologiſcher Dif— 
ferenzirung iſt. Durch dieſe ſchließen ſich 
dieſe Prothallien, wie ſchon in ihrem Habitus 
an die ſogenannten Lebermooſe, ſpeciell 
an Anthoceros und Pellia an ... In der 
That gleichen die dichotom verzweigten 
Osmunda-Vorkeime ganz einem Thallus 
von Pellia epiphylla. 

Allerdings iſt das Prothallium gewöhn— 


lich nur der Träger der Geſchlechtsorgane. 
die des oberen Theiles längſt gereift ſind. 
Bei den übrigen Mooſen dagegen wird das 
Sporogonium ein für alle Mal fertig ge | 


Faßt man aber in's Auge, wie in der Reihe 
der Archegoniaten die geſchlechtliche Gene— 
ration, die bei den Mooſen noch relativ hoch 


bildet und entwickelt ſeine Sporen gleich- differenzirt iſt, immer mehr zurücktritt, je 


8 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


23 


zu > 


178 


höher die ungeſchlechtliche Generation aus— 
gebildet iſt — ein Verhältniß, welches man 
ſich durch eine Rückbildung der geſchlecht— 
lichen Generation erklären kann —, ſo wird 
es kaum zweifelhaft ſein, daß man auch die 
Farnprothallien in ihrer jetzigen Form als 
theilweiſe rückgebildete Nachkömmlinge einer 
lebermoosähnlichen Stammform wird auf— 


zufaſſen haben. In den oben beſchriebenen 


Fällen aber ſehen wir, daß es Farnpro— 
thallien giebt, die in der That noch eine 
lebermoosähnliche Differenzirung zeigen. 
(Botaniſche Zeitung, 35. Jahrgang 
Nr. 42, 43, 44. — 1877.) Zum Schluſſe 


wollen wir nicht unterlaſſen, darauf auf- 


merkſam zu machen, daß dieſe Beobachtungen 
eine gute Unterſtützung bilden für die unſres 


Wiſſens zuerſt von Dr. Hermann Müller | 
könnten. In der That giebt es ein ſolches 


ausgeſprochene Anſicht über das genealo— 


giſche Verhältniß der Farne zu den Leber- 
ſchwach duftender Blume. Allein auch dieſe 


mooſen. (Kosmos I. S. 104.) 


In Blumen gefangene Schwärmer. 


Die Arten der im wärmeren Aſien 
heimiſchen Gattung Hedychium werden 
ausſchließlich durch Schmetterlinge befruchtet, 
wie ihre lange enge Blumenröhre beweiſt. 


Eine der hier eingeführten Arten, mit | 
leuchtend rothen geruchloſen Blumen, hat, 


ſich in wunderbar vollkommener Weiſe der 
Uebertragung des Blüthenſtaubes durch die 
Flügel langrüſſelicher Tagfalter angepaßt; 


ſie iſt bis jetzt die einzige Pflanze, bei der 


man dieſe eigenthümliche Art der Beſtäub— 
ung beobachtet hat. *) 
Eine zweite Art, mit größeren, rein 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


das Maß der Tagfalterrüſſel weit über— 
ſteigender Blumenröhre, wird fleißig beſucht 
von Schwärmern mit entſprechend langem 
Rüſſel. Doch wird dieſen Schwärmern 
der Zugang zum Honig nicht ſelten ver— 
ſperrt durch unberufene Gäſte. Ein ſchmales 
kurzflügliges, ſchwarzes Käferchen, das ſich 


in Menge auf allen möglichen Blumen 


einzufinden pflegt, dringt häufig auch in 
die Blumenröhre des weißen Hedychium 
und neben ihm bleibt dann kein Raum für 
den Rüſſel der Schwärmer. 

Falls in der Heimat der Hedpchien 
ein ähnlicher Käfer gleich häufig die Arbeit 
der die Beſtäubung vermittelnden Schwär— 
mer ſtört, würde die natürliche Ausleſe die 
Entſtehung engerer Blumenröhren begünſti— 
gen, in denen keine Käfer ſich feſtſetzen 
engröhriges Hedychium mit hellgelber, 
für Käfer unzugänglichen Blumenröhren 
haben ihre Gefahren, — für die Schwär— 
mer, wie für die Blumen. Ineidit in Seyllam, 
qui vult evitare Charybdim. Größere 
Schwärmer mit langem und verhältnißmäßig 
dickem Rüſſel vermögen dieſen in die enge 
Röhre wohl einzuführen, aber nicht — oder 
doch nicht immer — wieder herauszuziehen 
und ſind dann einem langſamen Hunger— 
tode preisgegeben. Macrosilia rustiea und 
Antaeus ſcheinen nicht ſelten dieſem Schick— 
ſale zu erliegen; andere Schwärmer habe 
ich noch nicht als Gefangene des Hedychium 
getroffen. Einer meiner Freunde fand ein— 
mal in ſeinem Garten die eiförmigen Blü— 


tenähren dieſes Hedychium ringsum be— 


weißen, beſonders Abends ſtark duftenden 


Blumen und etwa 0,1 Meter langer, alſo 


Vergl. Hermann Müller in: Nature, 
Vol. XIV. p. 173. — 1876. 


hangen mit gefangenen, zum Theil ſchon 
todten Schwärmern. Ich ſelbſt ſah noch 
vor Kurzem (am Morgen des 30. Januar) 
ein Männchen von Maerosilia Antaeus 
zwiſchen den Blumen des gelben Hedychium 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


hangen; es ſchien todt; doch als ich die 
Blütenähre abſchnitt, begann es wieder zu 
ſchwirren und, anſehnliche Duftpinſel am 
Grunde des Hinterleibes entfaltend, einen 
ſtarken Geruch zu verbreiten, der mehr an 


den der Beutelratten als an Moſchus er- 
Welche vergeblichen Anſtrengungen 


innerte. 
das Thier ſchon gemacht hatte, um ſich zu 
befreien, dafür zeugte der Zuſtand der 
Blume, in deren Röhre fein Rüſſel feſtſaß. 
Blumenblätter, Staubbeutel, Narbe waren 
vollſtändig zerſtört und nichts übrig ge— 
blieben, als die dickwandige und durch feſte 
Deckblätter geſchützte Blumenröhre. Alle An— 


I 
| 
| 
| 
| 
| 
| 
| 
| 
| 


ſtrengungen aber ſchienen nur dazu gedient zu | 


haben, den Rüſſel immer tiefer in die enge 
Röhre hineinzuzwängen; denn es war der 
90 Millimeter lange Rüſſel nicht nur bis 
zum Grunde der 65 Millimeter langen 
Blumenröhre vorgedrungen, ſondern ſeine 
Spitze hatte ſich ſogar von da in einer 
Länge von 8 bis 10 Millimeter wieder 
aufwärts gebogen. — 

Während ſonſt ſüßer Nectar die Kerfe 
lohnt, die als Liebesboten den befruchtenden 
Staub von Blume zu Blume tragen, führt 
hier die Begegnung von Schmetterling und 
Blume zu gegenſeitigem Verderben. Wie 
mag es in der Heimat des Hedychium 
ſein? Ob auch dort in gleicher Weiſe ge— 
fährdete Schwärmer leben und ob dieſe etwa 
die Gefahr kennen und meiden gelernt haben? 

Ich empfehle dieſes Beiſpiel der an den 
Honig ſpendenden Blumenröhren zum Ver— 
derben der Blume und zu eigenem lang— 
ſamen Hinſterben aufgehängten Schwärmer 
zur Beachtung erſtens frommen Gemüthern, 
die auch in den Wechſelbeziehungen zwiſchen 
Blumen und Kerfen das Walten einer all— 
weiſen, allgütigen Vorſehung zu bewundern 
lieben, und zweitens Freunden des nie irrenden 
Unbewußten, denen zufolge „das Hellſehen 


11708, 


des Inſtinktes ja gerade immer ſolche Punkte 
betrifft, welche die bewußte Wahrnehmung 
überhaupt nicht zu erreichen vermag“. “) Hier 
wäre ein ſolcher Punkt, „für welchen der 
Mechanismus der ſinnlichen Erkenntniß nicht 
ausreicht“; die todtbringende Enge der Blu— 
menröhre, zu der ein einladend weiter Ein— 
gang führt, iſt von außen nicht zu erkennen; 
aber kein unbewußtes Hellſehen warnt den 
Schwärmer und kein Gott erlöſt mitleidig 
die nutzlos verſchmachtenden Opfer. 

Itajahy, 28. Februar 1877. 

Fritz Müller. 


Die Ackerbau treibenden Ameiſen 
in Texas. 


Herr H. C. MeCook hat der Aka— 
demie der Naturwiſſenſchaften in Philadel— 
phia über die Gewohnheiten dieſer höchſt 
ſonderbaren und intereſſanten Ameiſen 
(Myrmica molefaciens Buckley M. bar- 
bata Smith) eine Arbeit eingereicht, aus 
der die nachſtehenden Einzelheiten entnommen 
ſind. Der Verfaſſer hatte im Sommer 
1877 an einem Orte unweit Auſtin in 
Texas auf dem Tafellande im Südweſten 
des Colorado-River und ſeines Nebenfluſſes 
Barton-Creek inmitten einer großen Anzahl 
der Hügel dieſer Ameiſen Aufenthalt ge— 
nommen, um ihre Gewohnheiten ſorgſam 
zu ſtudiren. Aus der ſchwarzen und zähen 
Bodenſchicht, deren Tiefe von wenigen Zoll 
bis zu drei Fuß ſteigt, tritt hier und da 
Kalkſteinfelſen hervor. Die Anſiedlungen 
der Ameiſen waren ſehr zahlreich und längs 
der Wege auf den Feldern, ſowie auch auf 
den Straßen und Fußpfaden, ſelbſt in den 
Gärten und Höfen von Auſtin; ja eine 


* Hartmann, Philoſ. des Unbewußten. 


VI. Aufl. S. 368. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


180 


derſelben wurde ſogar auf dem ſteinge— 
pflaſterten Hofraume eines dortigen Hotels 
beobachtet. Es ſind gewöhnlich flache, kreis— 
förmige Landſtücke, mit hartem oder locke— 
rem Boden, von denen einzelne in ihrem 
Centrum niedrige Hügel aufweiſen, die aus 


Kieskörnchen von 2—3 Gran Gewicht 
aufgeſchichtet ſind. Die Feldſtücke wechſeln 
in der Ausdehnung, gewöhnlich haben ſie 
einige Fuß Durchmeſſer. Drei bis ſieben 
Wege ſtrahlen von ihnen aus und führen 
in das umgebende Pflanzendickicht. Dieſe 
Straßen ſind oft von beträchtlicher Länge 
und während der Werkſtunden mit einem 
Gewimmel kommender und gehender Ameiſen 
bedeckt. Die Letzteren halten während der 
Mittagshitze Sieſta, indem ſie allgemein 
gegen zwölf Uhr ihre Arbeit abbrechen 
und nicht vor zwei oder drei Uhr Nach— 
mittags zu derſelben zurückkehren. Die 
geſammelten Samen wurden ſtets von der 
Erde aufgenommen, es waren hauptſächlich 
die Samen kleiner Wolfsmilchgewächſe, 
Rubiaceen und Gräſer. Die Ameiſen 
bewährten ſich als echte Schnitter. Die 
Samen wurden durch die Centralpforten 
in die Speicher eingeführt. Sie werden 
dort geſchält und die Hülſen herausgebracht, 
um in abgeſonderten Haufen aufgeſchichtet 
zu werden, die auch bei der ſorgfältigſten 
Unterſuchung keinen Samen mehr finden 
ließen. Am meiſten ſcheinen ſie ein Gras, 
Aristida stricta, zu bevorzugen und es 
ſcheint ſogar, daß ſie dies für ihren Bedarf 
anſäen, obwohl dies der Berichterſtatter 
nicht ſelbſt beobachtet hat. (Andere Natur— 
forſcher haben nicht nur die Ausſaat, 
ſondern auch das Reinhalten und Jäten 
der Getreidefelder beobachtet. Red.) Da— 
gegen hat Mr. MeCook die innere Ein— 
theilung des Hügels in Wohn- und Spei— 


cherräume genau beſchrieben. Es mag noch 


So 


bemerkt werden, daß dieſe Ameiſen im 
Kriege ſehr geſchickt und daß ihre Angriffs— 
mittel faſt ſo ſchlimm als diejenigen der 
Wespen ſind. Auch erwieſen ſie ſich trotz 
ihrer friedlichen Beſchäftigung ſo wohl be— 


wandert in den Kriegswiſſenſchaften, daß 


Herr MeCook mehr als eine Nieder— 
lage von ihnen erlitten haben würde, wenn 


er nicht eine kleine Armee (von zwei Mann) 


ins Feld geführt hätte, welche mit den 
Angriffsluſtigen kämpfte, während er ihre 
Speicher, Ammenſtuben und den Palaſt 
ihrer Königin verwüſtete, um uns Kund— 
ſchaft darüber zu verſchaffen. Herr Pro— 
feſſor Leidy fügt dieſer in den Denk— 
ſchriften der Akademie erſchienenen Arbeit 


die Bemerkung hinzu, daß er während 


eines früheren Sommers die Gewohnheiten 
einer verwandten Art (M. occidentalis) in 
den Felſengebirgen ſtudirt und ſie ganz 
den hier beſchriebenen entſprechend gefunden 
habe, nur daß jene Art auch Hausthiere 
hielt und eine ſchöne große Schildlaus 
wegen ihrer Zucker-Produktion pflegte. 
(Nature No. 439 March 1878.) 


Das Embryonalkleid der Fußhühner. 


In einer werthvollen Arbeit über die 
Entwickelungsgeſchichte der Vogel— 
feder“) veröffentlicht Prof. Dr. Theodor 
Studer aus Bern ſeine bei Gelegenheit 
der „Gazellen“- Expedition auf der Inſel 
Neu - Britannien gemachten Beobachtungen 
über die Entwickelung der Fußhühner. Die 
eigenthümliche Gruppe der Megapodier oder 
Fußhühner, deren Verbreitung ſich auf die 
auſtraliſche Region beſchränkt, zeichnet ſich 


bekanntlich durch die eigenthümliche Brut— 


*) eitfcheift für wiſſenſchaftliche Zoologie. 


Band XXX. Heft 3. 1878, 


— 


pflege aus, die von derjenigen der übrigen 
Carinaten?) beträchtlich abweicht. Während 
dieſe in einem mehr oder weniger geſchütz— 
ten Neſt durch ihre Körperwärme, die ſie 
dem Ei mittheilen, den Embryo lebens— 
und entwickelungsfähig erhalten, überlaſſen 
die Megapodier dieſes Geſchäft bald der 
durch die Gährung faulender Subſtanzen, 
in die ſie die Eier hüllen, hervorgebrachten 
Wärme, bald dem von den Strahlen der 
tropiſchen Sonne durchglühten Sande. So 
ſcharrt Megacephalon Maleo Tem. und 
Leiopa ocellata Tem. Haufen von Blät— 
tern, Humus, faules Holz und ähnlichen 
Stoffen zuſammen, um in Gemeinſchaft die 
Eier hineinzulegen, während Megapodus 
Freyeinetti Tem. Löcher in den Sand 
ſcharrt, um dort die hineingelegten Eier 
ſich ſelbſt zu überlaſſen. Sie nähern ſich 
alſo darin den Gewohnheiten der Reptilien, 
während ſogar die Strauße, die im Körper— 
bau denſelben unter allen Vögeln entſchieden 
am nächſten ſtehen, wenigſtens zeitweiſe dem 
Brutgeſchäfte obliegen. 

Durchgängig ſind die Eier der Fuß— 
hühner im Verhältniß zu ihrer Körper— 
größe enorm groß und enthalten ein Dotter— 
material, welches dem Embryo erlaubt, ſich 
noch im Ei bis zu einer hohen Stufe zu 
entwickeln. Während, ſo weit bekannt, die 
Jungen aller übrigen Vögel beim Verlaſſen 
des Eies mit einem eigenthümlichen gleich— 
artigen Dunengefieder, dem Embryonal— 
gefieder, bekleidet ſind, tragen die Mega— 
podier ſchon vom erſten Tage an ihr de— 
finitives Gefieder, deſſen Beſtandtheile in 


) Carinaten oder kielbrüſtige Vögel wird 
die größere Abtheilung der lebenden Vögel 
im Gegenſatze zu den Ratiten oder Strauß⸗ 
vögeln genannt. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


181 


Jungen ſchon vom Ei weg zu fliegen im 
Stande ſind. Es fragt ſich nun, ob das 
embryonale Dunenkleid, das ſich, wie ge— 
ſagt, ſonſt bei den Neſtjungen aller Vögel 
findet, hier gar nicht zur Entwickelung 
kommt, oder ob daſſelbe noch im Ei ſich 
entwickelt und abgeworfen wird, bevor der 
Vogel das Ei verläßt. Im letzteren Falle 
würde die Anſicht von der großen phylo— 
genetiſchen Bedeutung des Embryonalgefie— 
ders, welche Prof. Studer ſchon früher 
ausgeſprochen hat, erheblich verſtärkt wer— 
den, denn man hätte es dann mit einem 
Gebilde zu thun, welches eine phy— 
ſiologiſche Bedeutung nicht haben 
kann. 

Während des Aufenthalts Sr. Maj. 
Corvette Gazelle auf der Inſel Neu-Bri— 
tannien im Norden von Neu-Guinea hatte 
Herr Prof. Studer Gelegenheit, den Em— 
bryo von Megapodius Freyeinetti zu be— 
obachten und an dieſem die angeregte Frage 
zu prüfen. Die Gazelle ankerte am 12. 
Auguſt 1875 in Greatharbour, einer Seiten— 
bucht der Blanchebay im Nordoſten der 
Inſel. Die Umgebung des faſt kreisrunden 
Hafens iſt vulkaniſchen Urſprungs, im Weſten 
erheben ſich drei Vulkankegel, von denen alte, 
mit Gras und Buſchwerk bewachſene Lava— 
ſtröme nach dem Ufer ziehen, an dem 
überall aus Spalten heißes Waſſer und 
Schwefelwaſſerſtoffgaſe dringen. Im Norden 
dehnt ſich eine Ebene mit Untergrund von 
ſchwarzem Augitſand und mit hohem Gras 
und vereinzelten Palmen beſtanden, aus. 


Hier war der Hauptaufenthalt der Mega— 
Deck-, Schwung- und Steuerfedern nebſt 


Unterdunen differenzirt ſind, ſo daß die 


podier. Dieſelben, meiſt ein Hahn begleitet 
von zwei bis drei Hennen, trieben ſich im 
hohen Graſe herum und flogen nur auf— 
geſcheucht kurze Strecken weit, um bald 
wieder auf niederen Bäumen ſich nieder— 
zulaſſen. 


182 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Beim Betreten des Landes fielen bald 
Löcher im Sande auf, welche in einen kurzen 
1—2 Fuß langen Gang führten, jo weit, 
daß man bequem die Hand einführen konnte. 
Im Grunde deſſelben fanden ſich, loſe im 
Sande verſcharrt, 2 — 3 große, länglich 
ovale Eier von gelblich brauner Farbe. 
Einzelne waren friſch gelegt, andere ent— 
hielten Embryonen, die leicht als zu Me— 
gapodius gehörend zu erkennen waren. 
Der von der Sonne durchwärmte ſchwarze 
Lavaſand hatte die hohe Temperatur von 
38-40 C. und kühlte ſich während der Nacht 
nur wenig ab. Das Ei iſt im Verhältniß zum 
Vogel, der vom Schnabel bis zur Schwanz— 
ſpitze 40 Centimeter mißt, ſehr groß. Sein 
Längsdurchmeſſer beträgt 85 Millimeter, 
der größte Querdurchmeſſer in der Mitte 
50 Millimeter. 

Friſch ausgekrochene Junge fanden ſich 
am 16. Auguſt. Die Thierchen waren 
mit dem Federkleid der Alten bis auf die 
Steuerfedern bedeckt, liefen raſch im hohen 
Graſe umher und waren im Stande, auf— 
geſcheucht eine kurze Strecke zu fliegen. 
Keine Spur von Embryonaldunen war an 
ihnen zu entdecken. In einigen Eiern fan— 
den ſich Embryonen von 60 — 70 Milli— 
meter Länge, alle Beobachteten im gleichen 
Entwickelungsſtadium. Ihre Form war voll— 
kommen ausgebildet, der ganze Kör— 
per bedeckt mit haarartigen, 
ſchwarz pigmentirten Gebilden, 
von 0,5 — 1 Centimeter Länge, die 
mit den Federkeimen, welche das 
Hühnchen beim Ausſchlüpfen zeigt, 
die größte Analogie darboten. 
Dieſe Gebilde ſtaken nur loſe in der Haut 
und fielen ſchon bei etwas derber Berühr— 
ung aus.. Die anatomiſche Unter— 
ſuchung ergab durchweg Uebereinſtimmung 
mit dem Bau der Embryonaldunen und 


zwar ſpeciell derjenigen der Hühnervögel. . . 
Alſo auch bei den Megapodiern ſehen wir 
ein vorläufiges Embryonalgefieder auftreten, 
das aber phyſiologiſch nicht mehr zur Gelt 
ung kommt, ſondern noch im Ei abgeſtoßen 
wird, um dem definitiven Gefieder Platz 
zu machen, mit dem der Vogel das Ei 
verläßt. Bei der Conſtanz, mit welcher 
bei den Vögeln ein überall gleichartiges 
Embryonalgefieder auftritt, kann man ſich 
der Vermuthung nicht enthalten, daß das— 
ſelbe einen Zuſtand der Hautbedeckung 
repräſentirt, welcher vielleicht den Vorläu— 
fern unſerer Vogelwelt in früheren Perioden 
eigen war. . 
Hinſichtlich der Pinguinfedern bemerkt 
der Verfaſſer in derſelben Arbeit: „Iſt ſo— 
mit die Uebereinſtimmung der Pinguin— 
federn mit anderen Vögeln anzunehmen, fo 
bietet doch die Befiederung des Pinguins 
Verhältniſſe dar, die mehr einen embryo— 
nalen Charakter tragen und vielleicht dieſe 
eigenthümliche Vogelform als einen ältern Ty— 
pus dürfen beanſpruchen laſſen. Erſtens iſt 
das Federkleid noch gleichmäßig über den gan— 
zen Körper verbreitet, ohne in beſtimmten 
Formen angeordnet zu ſein. Dieſes findet ſich 
in der übrigen Vogelwelt nur bei gewiſſen 
Ratiten, dem Apteryx, Dromaeus und bei 
den jungen Vögeln mit Embryonaldunen. 
Zweitens ſind mit Ausnahme der Steuer— 
und Schmuckfedern bei gewiſſen Arten 
ſämmtliche Federn blos mit lockern Fahnen 
nach Art der Dunen verſehen, und nicht 
in verſchiedene Federformen geſondert, wie 
ſolche bei anderen Vögeln eine Sonderung 
in Deck- und Dunenfedern bedingen. 
Wichtig iſt in Hinſicht auf die Ver— 
hältniſſe der Ruderſchwingen der Fund 
eines foſſilen Pinguins, Palaeeudyptus 
antarcticus Huxl., in tertiären Sandſteinen 
Neuſeelands (Hector, on the remains of 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


a gigantie Pinguin, Transactions and 
Proceed. of the New-Zealand Instit. 
Vol. IV. 1871.) Es iſt intereſſant, daß 
bei dieſer gigantiſchen Form der Humerus 
noch nicht die Verkürzung und Verbreiter— 
ung beſitzt, wie bei unſeren jetzt lebenden 
Pinguinen. Während bei dieſen der Hu— 
merus flach und nach dem diſtalen Ende 
zu verbreitert iſt, dabei die Länge des Fe— 
mur nicht erreicht, iſt er bei jenem ein 
Sechstheil länger als der Femur und nach 
dem diſtalen Ende der Diaphyſe verſchmä— 
lert. Wir dürfen daraus vielleicht den Schluß 
ziehen, daß die Anpaſſung der vordern 
Extremität als Ruderwerkzeug noch nicht 
ſo weit gediehen war, wie bei den jetzigen 
Arten, und damit die Federbedeckung der— 
ſelben noch nicht ſo ſchuppenartig knapp 
anliegend war, wie dies zur Ueberwindung 
des Widerſtandes im Waſſer nothwendig iſt, 
alſo dieſe Modification des Körpergefieders 
erſt als eine ſpäter erworbene betrachtet 
werden dürfte.“ 


Darwinismus und Talmud. 


In einer Reihe leſenswerther Artikel, 
die im laufenden Jahrgange des „Jüdi— 
ſchen Literaturblattes““) erſchienen 
ſind, hat Herr Dr. Placzek in Brünn 
eine Reihe merkwürdiger Stellen aus der 
Agada und andern Theilen des Talmud 
hervorgehoben und commentirt, welche be— 
weiſen, daß das jüdiſche Gelehrtenthum 
— wie andererſeits auch von den Arabern 
bekannt iſt — ſchon ſehr früh ein allmä— 
liges Werden des Menſchen und der ge— 
ſammten Natur, ſowie eine Anpaſſung an 


) Herausgegeben von Rabbiner Dr. 
Moritz Rahmer. Robert Frieſe, Leipzig. 
1878. No. 1, 6, 7, 9 und folg. 


. 


verſchiedene Lebensbedingungen, alſo eine 


allmälige Veränderung derſelben ins Auge 


gefaßt hat. Wir heben aus der ausführ— 
lichen und gedankenreichen Arbeit in Kürze 
einige der Sätze hervor, die uns am merk— 
würdigſten erſchienen find. Das biogenetiſche 
Grundgeſetz auf den Menſchen angewendet, 
kann in einer noch allgemeineren Faſſung 
in dem Satze gefunden werden: . 

„Alle Formen der Schöpfung, der or— 
ganiſchen und unorganiſchen, wiederholen 
ſich bei der Bildung des Menſchen.“ (Aboth. 
d. R. N. 31; ähnlich Jalkuth Reu- 
beni 9. a.) 

Der Blick der Agadiſten errieth ſchon 
in der ganzen Schöpfung eine Stufenfolge 
vom Niedern zum Höhern. (Ber. Rabba 
19; Bechai zu P. Wajakhel; Pardess 
180a.) Die Ahnung, daß die geiſtige Ent— 
wickelung des Menſchengeſchlechts unermeß— 
liche Zeiträume durchzumachen hatte, bis 
ſie bei einem Abraham oder einem Moſes 
anlangen konnte, ſpricht aus der Midraſch— 
Erklärung des Pſalmverſes 105, 8: „das 
Wort gebot er dem tauſendſten Geſchlechte.“ 
Nach der bibliſchen Chronologie war es 
jedoch das 26ſte; die Lücke wird durch die 
ſeltſame Bemerkung ausgefüllt: „974 Gene— 
rationen wurden vernichtet“ (Ber. Rabba 
28), oder nach der Verſion des Talmud 
(Chagiga 13b) „hätten fo viele Geſchlech— 
ter erſchaffen werden ſollen“. Nach einem 
Andern wird unter dem „tauſendſten Ge— 
ſchlechte“ Abraham gemeint. Dann wären 
980 Generationen der Vernichtung anheim— 
gefallen oder — der Vergeſſenheit. 

Dem Adam theilt der Talmud thie— 
riſches Weſen und einen Schweif zu (Bera- 
choth 61a. Erubin 18. a) Nav Je— 
huda jagt: „Der Menſch ward zu einem 
thieriſchen Weſen, d. h. anfangs hatte der 


Menſch einen Stumpf oder Schweif, wie 
E 


184 


ein Thier; doch Gott nahm ihm dann 
denſelben der menſchlichen Würde wegen.“ 
An einer andern Stelle heißt es: Adam 
wurde aus dem von allen Weltgegenden 
zuſammengeleſenen Staube erſchaffen (damit 
er ſich überall acclimatiſiren könne.) (Synh. 
38. n.) In Beziehung auf die Farbe der 
Urmenſchen waren die Talmudiſten nicht der 
Anſicht Prichard's, daß Adam vielleicht 
oder gar wahrſcheinlicherweiſe ein Neger 
geweſen ſei, ſondern ſie theilten die Anſicht 
der meiſten Darwiniſten, daß die dunkel— 
farbigen Stämme Abkömmlinge hellfarbiger 
Menſchen ſeien. Es gibt dafür manche 
Gründe, unter denen ſich auch der befin— 
det, daß die neugebornen Negerkinder bei— 
nahe dieſelbe Hautfarbe aufweiſen, wie neu— 
geborne Kaukaſier. So meint denn auch 
der Talmud, Cham ſei zu Anfang von 
ähnlicher Hautfarbe geweſen, wie ſeine Brü— 
der und habe erſt ſpäter die ſchwarze Farbe 
angenommen. Zum Belege nachfolgende 
Stellen: 

„Nach dem Fluche Noachs erſt ward 
Cham jo mißgeſtaltet.“ (Ber. Rabba 36.) 
„Cham ward geſtraft an ſeiner Hautfarbe.“ 
(Synhedrin 108 b; Tanchuma 12.) Die 
Schriftſtelle: „Verändert der Kuſchite ſeine 
Haut?“ (Jerem. 13, 23) deutet der Tal- 
mud (Sabbat 107 b) dahin: „Die Haut 
des Kuſchiten kehrt nicht zurück,“ d. h. zu 
ihrer urſprünglichen hellen Farbe — ein 
Beweis alſo für die rabbiniſche Anſchauung 
von einer erfolgten Umbildung der chami— 
tiſchen Race. Die Abſonderlichkeit der Ku— 
ſchiten wird übrigens auch auf die Depra— 
virung der Sitten bezogen. (Ber. Rab. 36. 
M. Schocher Tow zu Psalm 7.) 

Einen beſonders lebhaften Ausdruck ge— 
winnen die Anſichten von dem Anpaſſungs— 
ver mögen der lebenden Weſen an ihre Um— 
gebung in dem Zwiegeſpräche zwiſchen Rabbi 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.“ 


Hillel und jenem Wichte, der eine Wette 
um 400 S. eingegangen war, den ſanften 
Rabbi in Ungeduld oder Zorn zu verſetzen. 
(Sabbat 31 a.) Es war vor einem Sab— 
bat, und Hillel gerade beſchäftigt, zu 
deſſen Empfange ſich vorzubereiten, als 
jener Spötter ihn mit frechem Wort meh— 
reremal aus dem Hauſe rief und in der 
Abſicht, ihn zu reizen, die nach ſeiner Mei— 
nung geringfügige Frage an ihn richtete: 
„Warum ſind die Köpfe der Babylonier ſo 
ſeltſam rund?“ Hillel antwortete ruhig: 
„Eine hochwichtige Frage, haft du da, mein 
Sohn, gethan. Wiſſe, die Köpfe der Ba— 
bylonier ſind ſo geſtaltet, weil ſie keine 
klugen Hebammen haben“ (d. h. entweder 
weil dieſe die Köpfe der Kinder nicht mit 
der nöthigen Vorſicht behandeln, oder weil 
ſie die weichen Schädelknochen der Kinder 
durch künſtliche Preſſungen umgeſtalten). 
„Warum ſind die Augen der Tarmudier 
(Steppenbewohner) eng geſchlitzt?“ „Auch 
das iſt eine gar wichtige Frage, entgegnet 
Hillel. Ihre Augen ſind ſo eng geſchlitzt, 
weil fie in ſandiger Gegend leben.“ („Ihr 
Wohnort hat, erklärt Raſchi, eine ſolche 
Veränderung bei ihnen hervorgebracht, daß 
die Spalte ihrer Augenlider nicht ſo groß 
iſt, als bei uns, damit der Flugſand ſie 
nicht beläſtige.“) „Warum ſind die 
Füße der Afrikaner ſo breit und platt?“ 
fragte jener endlich. „Du haſt wieder, meint 
Hillel, eine ſehr bedeutſame Frage an 
mich gerichtet: weil ſie in ſumpfigen Ge— 
genden wohnen.“ („Sie waten barfuß im 


Waſſer, und daher breiten ſich ihre Füße 


immer mehr aus, damit ſie nicht in den 
Tümpeln verſinken,“ bemerkt Raſchi zu 
dieſer Stelle). Prägnanter als Rabbi 
Hillel und der gelehrte Commentator des 
11. Jahrhunderts kann man die Anpaj- 
ſung an beſondere örtliche Verhältniſſe durch 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


vortheilhafte Abänderungen des Körperbau's 
in der That kaum ausdrücken. Und es 
ſteht dem Manne, von dem es heißt: „Es 
gab keine Wiſſenſchaft, die er nicht betrieben, 
ſogar alle Sprachen; er verſtand, was 


Berge, Hügel und Thäler künden, was ſich | 
Bäume und Kräuter, wilde und zahme 


Thiere erzählen“ (Soferim 16. 9.), dem 
naſeweiſen Jungen gegenüber, vorzüglich, 
alle dieſe Fragen für hochwichtig zu erklä— 
ren Auch die beſonderen Körperbeſchaffen— 


heiten der Thiere werden im Talmud von 


gleichem Geſichtspunkte aus erklärt. „Wa— 
rum hat das Kameel einen kurzen Schweif?“ 


„Weil es von Dornen ſich nährt.“ „Zwi- 
boldt's und Ritter's Verdienſt iſt es, 


ſchen Dornengeſtrüpp umherſtreifend, würde 


ein längerer Schweif an den Dornen hän- | 


gen bleibend, es arg beläſtigen.“ Raſchi. 
„Warum hat das Rind 
Schweif?“ 
lebend, die Mücken ſich vom Leibe halten 
muß.“ „Warum zieht das Huhn, wenn 


es die Augen ſchließt, das untere Augen- 
lid über das obere?“ „Weil es auf dem 
uud darüber. 


Dachgebälke ſchläft. Der aufſteigende Rauch 


einen langen 
„Weil es an feuchten Orten 


0 


würde es ſonſt blenden.“ (Sabbat 77 b.) 


Das klingt zum Theil ſehr im Sinne 


Lamarck's, obwohl, wie der Verfaſſer 


zugiebt, alle dieſe Citate auch zu Gunſten 


einer teleologiſchen Theologie verſtanden 
werden können. N 


Land und Leute. 


Ein ganz ähnliches Thema, wie das in 
den vorſtehend angezogenen Talmudſtellen 
behandelte, lag einem Vortrage zu Grunde, 
den Prof. Dr. Kirchhoff aus Halle gegen 
Ende Februar 1878 in Berlin gehalten 
hat, und „das deutſche Land als Mitbildner 
des deutſchen Volkes“ betitelt hatte. Wir 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


entnehmen einem Zeitungsreferate einige 
kurze Andeutungen über den Gedankengang 
des Vortrages. 

„Auf dem Zuſammenwirken von Ab— 
ſtammung, Bodenbeſchaffenheit und geſchicht— 
licher Entwickelung“ begann der Vortragende, 
„baſirt die körperliche und geiſtige Aus— 
ſtattung der Stämme und der Nationen. 
Zwei dieſer Faktoren entziehen ſich der er— 
ſchöpfenden wiſſenſchaftlichen Betrachtung. 
Von dem Daſein des Menſchen kennen wir 
nur wenig, vollkommen überblicken wir da— 
gegen die Beſchaffenheit des Grund und 
Bodens und die damit vielfach zuſammen— 
hängenden klimatiſchen Einflüſſe. Hum— 


die engen Beziehungen der Geographie zur 
Völkerkunde erkannt zu haben. Sehen wir 
darauf hin die Stammes ⸗-Unterſchiede in 
Deutſchland an, ſo ſpringt zuerſt der Gegen— 
ſatz zwiſchen den Bewohnern der Ebene und 
denen der Berge in's Auge. In den Alpen 
wohnt ein Hünengeſchlecht. Jeder vierte 
Rekrut im Militairbezirk Tölz mißt 6 Fuß 
Soweit die Wetterzone der 
Berge reicht, wohnen Rieſen. In der ganzen 
Münchener Hochebene iſt außergewöhnliche 
Körpergröße zu Hauſe. Aber auch der 
ſandige Boden der Ebene iſt dem körper— 
lichen und geiſtigen Gedeihen ſeiner Be— 
wohner zuträglich. Der Menſchenſchlag der 
ſandigen Geeſt und der fetten Marſch unter— 
ſcheidet ſich erheblich. Hier große und hagere, 
dort unterſetzte und gedrungene Geſtalten. 
In den Städten pflegen die Körper ſich 
länger zu ſtrecken, als auf dem platten 
Lande, Auge und Haar der Städter dunkeln 
im Verlauf der Generationen. Auch ende— 
miſche Krankheiten bringt die Bodenbeſchaffen— 
heit mit ſich. Die ſumpfreichen Niederungen 
an den Ufern der Nordſee ſind die Heimath 
des Marſch- oder Wechſel-Fiebers, welches 


24 


186 


ſich, dem Laufe der größeren Ströme fol— 
gend, auch noch weit in das Land hinein— 
ſtreckt. Kropf und Cretinismus ſind die 
Plagen des Gebirges. Sie ſind im Hima— 
laya nicht minder verbreitet als in den 
Alpen, wo Juvenal ſie ſchon kennt. Nur 
Mangel an Luft und Licht ſind die Ur— 
ſachen des Cretinismus, wie ſie in den 
dumpfen Thälern der mittleren Bergregio— 
nen vorhandeu ſind. In den höheren Re— 
gionen, wo ein friſcher Luftzug herrſcht, 
findet ſich dieſe körperliche und geiſtige Ver— 
krüppelung nicht. Die Natur des Bodens 
übt einen tiefgreifenden Einfluß auf die 
ganze Geſtaltung des Lebens aus. Wohn— 
ung, Nahrung, Kleidung, geiſtige Thätigkeit 
ſtehen mit ihr in engem Zuſammenhange. In 
den Bergen blüht die Viehzucht, in der Ebene 
der Ackerbau, in den Flußniederungen der Han— 
del. Die Kunſt gedeiht nur kümmerlich an 
den Ufern des deutſchen Meeres, wo dagegen 
die Rebe an den Berglehnen emporſteigt, da 
haben ſtets Dichtung und Geſang geblüht.“ 

Aehnliche Beziehungen, zwiſchen Körper— 
geſtalt und Lebensweiſe, wie ſie Herr Prof. 


Kirchhoff in feiner Rede erwähnte, hat 


man ſehr oft zu bemerken geglaubt, aber 


ſchon Montaigne hat darauf hingewieſen, 
wie vorſichtig man in ſolchen Schlüſſen ſein 
muß, wenn ſie nicht dem Schuh des The 


ramenes (der auf alle Füße paßte), glei— 
chen ſollen. Der genannte ausgezeichnete 
Kritiker verweiſt zur Illuſtration (Essais 
III. 9) auf zwei Aeußerungen über die 
Urſachen einer und derſelben Körperbildung, 
in denen ſich zwei berühmte Autoren ſtark 
widerſprechen. Torquato Taſſo ſagt 
nämlich in ſeiner Vergleichung Italiens mit 
Frankreich („Paragone dell' Italia alla 
Francia,“ nella parte prima delle Rime 
e Prose. Ferrara 1585. p. 11). „Die 
franzöſiſchen Edelleute haben im Allgemeinen 


Nur und Dinku). 


(Im Herzen Afrikas. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


ziemlich ſchmächtige Beine im Vergleiche zu 
dem übrigen Körper, aber man muß die 
Urſache hiervon nicht auf's Gerathewohl der 
Eigenthümlichkeit des Klimas (del eielo) 
zuſchreiben, ſondern der Art ihrer Leibes— 
übung: Da ſie nämlich faſt fortwährend zu 
Pferde ſitzen, ſtrengen ſie die untern Theile 
nur wenig an, ſo daß die Natur dorthin 
auch nicht viel Nahrungsſtoff gelangen 
läßt. Im Gegenſatze hierzu ſagt aber 
Sueton (Caligula c. 3): „Zu der 
übrigen Wohlgeſtalt des Germanieus 
paßten ſeine dünnen Beine nicht recht, doch 
gewannen dieſelben allmälig an Kraft und 
Fülle durch tägliches Reiten nach dem Früh— 
ſtück.“ Man würde dieſe direkt entgegen— 
ſtehenden Meinungen allenfalls vereinen 
können, wenn man annehmen dürfte, daß 
der eine den Oberſchenkel, der andere den 
Unterſchenkel gemeint hätte, aber beide be— 
zeichnen ausdrücklich den letzteren (gamba 
und erus). Daher kann man es dem alten 
Montaigne nicht verübeln, wenn er die 
Geſchmeidigkeit des menſchlichen Geiſtes be— 
wundert, durch die er ſich allen Erſchein— 
ungen anpaßt, überall eine Erklärung findet. 
Zu der Bemerkung des Profeſſor Kirch— 
hoff, daß die Bewohner der fetten Marſch— 
gegenden hager und groß ſeien, ſtimmt ſehr 
wohl eine Beobachtung Schweinfurth's, 
auf die ich um ſo lieber in dieſem Zuſam— 
menhange hinweiſen will, weil ſie die vor— 
hin mitgetheilte Talmud-Bemerkung über 
afrikaniſche „Sumpffüße“ erläutert. „Nir— 
gends in der Welt“ ſagt Schweinfurth 
Leipzig 1874. S. 
128) „ſcheint ſich das Geſetz der Natur, 
demzufolge gleiche Exiſtenzbedingungen ana— 
loge Formen unter den verſchiedenſten Thier— 
arten hervorbringen, mehr zu bewahrheiten, 
als hier (nämlich im Lande der Schilluk, 


„Daß Menſchen und Thiere in vielen 
Gebieten, deren phyſikaliſche Beſchaffen— 
heit ſie in grellen Gegenſatz zu den 
Nachbarländern ſtellt, etwas Gemeinſchaft— 
liches in der Summe ihrer Merkmale 
und eine gewiſſe Harmonie in ihrem Cha- 
rakter darbieten, läßt ſich nicht bezweifeln. 
Eines der frappanteſten Beiſpiele für einen 
derartigen Parallelismus bieten im Gegen— 
ſatze zu dem ſteinigen und felſigen Innern 
des Gebietes, die Völker, welche an dieſen 
ſumpfigen Flußniederungen anſäſſig find: 
Schilluk, Nuer und Dinku. Als Menſchen, 
ſagte ſchon früher Heuglin, machen fie 
den Eindruck des Flamingo unter den Vö— 
geln und gewiß, er hat Recht: es ſind 
Sumpfmenſchen, die vielleicht auch eine An— 
deutung von Schwimmhaut zwiſchen den 
Zehen zeigen würden, erſchienen dieſe nicht 
durch den Plattfuß erſetzt und die ebenſo 
bezeichnende Verlängerung der Ferſe. Da— 
zu kommt noch ihre ſonderbare Gewohn— 
heit, nach Art der Sumpfvögel auf einem 
Beine zu ſtehen und das andere mit dem 
Knie zu unterſtützen. So pflegen ſie in 
dieſer Stellung bewegungslos ſtundenlang 
zu verharren. Ihr gemeſſener, langer Schritt 
im hohen Schilf iſt dem des Storches zu 
vergleichen. Dürre und langſchüſſige Glied— 
maßen, ein ebenſo verlängerter dürrer Hals 
auf dem ein kleiner und ſchmaler Kopf 
ruht, vervollſtändigen dieſe Uebereinſtimm— 
ung.“ Daß das Sumpfland mit ſeinem 
decimirenden Einfluß ſich bald einen aus— 
geprägten, dem Miasma entwachſenen Typus 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


187 


erzieht, iſt leicht verſtändlich; in der von 
den Menſchen mit Vorliebe gewählten Stell— 
ung der Sumpfvögel, die den letzteren durch 
den beſonderen Mechanismus des Vogel— 
beins ſehr erleichtert wird, dürfte indeſſen 
wohl nur die zur Gewohnheit gewordene 
Nachahmung eines alltäglichen Vorbildes 
zu erkennen ſein. 


„Blumen der Luft.“ 


Mit Bezug auf dieſen von Jean 
Paul ihrer glänzenden Farben wegen den 
Tag- Schmetterlingen beigelegten Namen 
(Vergl. Kosmos I. S. 260) ſchreibt Herr 
Dr. Fritz Müller aus Itajahy in einem 
Privatbriefe vom 1. März c.: 

„Im vergangenen Monat machte ich 
einen mehrwöchentlichen Ausflug nach dem 
Hochlande im Norden unſerer Provinz, 
Sao Bento im Quellgebiete des Rio negro, 
der mir recht hübſche Ausbeute, aber faſt 
nur von ſpeciell lepidopterologiſchem Inter— 
eſſe lieferte. Häufig war dort der von 
Boisduval als très rare bezeichnete 
Papilio Grayi, deſſen Männchen wirklich 
auch in Betreff des Geruches als „Blume 
der Luft“ bezeichnet werden kann. Der 
von den Hinterflügeln ausgehende Duft iſt 
ſo ſtark und ſo würzig, daß ich den 
Schmetterling wie eine Blume, zum ge— 
legentlichen Daranriechen in der Hand ge— 
tragen habe.“ 


Carl Mägeli 

über die Speciesfrage der Spalt— 

pilze, über den Kampf um's Daſein 

bei den letztern und über die natür— 

liche Zuchtwahl bei der Differen— 
zirung des Menfchengeſchlechts. 


mutations-Theorie mehr als eines 


und 


geben 
Sachen der Abſtammungslehre ſich ent— 
ſchieden die größten Verdienſte erworben 
hat, wird ſeit langer Zeit von ſchlecht⸗ 
unterrichteten Gegnern der Darwin'ſchen 


auf botaniſchem Gebiet in 


Lehre nichts deſto weniger mit großem 
Pathos zu den ihrigen gezählt. Aller— 
dings geſteht Nägeli dem Darwin 
ſchen Zuchtwahl-Princip nicht die ganze 
hohe Bedeutung zu, wie ſie Darwin in 
den erſten Auflagen ſeiner „Entſtehung der 
Arten“ betont hat. Es iſt ja bekannt, 
daß Darwin ſelbſt — nachdem er die 
Nägeli'ſchen Abhandlungen geleſen — 
ſich zu einer Conceſſion herbei ließ, obſchon 
gerade unter ſeinen deutſchen Anhängern 
ſich wenig Luſt zeigte, der Nägeli'ſchen 
„Vervollkommnungs-Theorie“ 


er bewährte Pflanzen-Phyſiologe, 
welcher im Streit um die Trans- 


Literatur und Kritik. 


der ſchwerwiegendſten Voten abge⸗ 


Darwins behaupten — die Zuchtwahllehre 
des Engländers in Frage ſtellen könnte. 

Auch in der neueſten Arbeit Nägeli's“) 
ſind wiederum für die Descendenzlehre und 
Zuchtwahl-Theorie einige ſehr intereſſante 
Geſichtspunkte enthalten. Der Verfaſſer, 
welcher ſich zehn Jahre lang mit der Unter— 
ſuchung der Spaltpilze beſchäftigte, ehe er 
ſeine epochemachende Theorie von den nie— 
dern Pilzen und den Infektionskrankheiten 
der Oeffentlichkeit übergab, beſpricht ge— 
legentlich auch die in neueſter Zeit mit 
Lebhaftigkeit ventilirte Speciesfrage der 
Spaltpilze. Er gelangte zu folgendem 
Reſümé: 

Die Frage von der ſpecifiſchen Ver— 


ſchiedenheit der Spaltpilze gewährt ſchon 


deshalb ein hohes Intereſſe, weil dieſe 
Organismen ſehr verſchiedenartige Zer— 
ſetzungen bewirken; dieſe Frage ſteigert ſich 
aber zur höchſten Bedeutung, wenn wir 
— wie das jetzt in den wiſſenſchaftlichen 
Kreiſen geſchieht — annehmen, daß die 
Contagien und Miasmen ſelbſt nichts An— 
deres ſind, als Spaltpilze. Gegenüber der 


Anſicht Cohn's, welche auch diejenige vieler 


Aerzte geworden iſt, und wonach jede 


) Die niedern Pilze in ihren Be— 
ziehungen zu den Infektionskrankheiten und 


inſoweit der Geſundheitspflege (München, bei Olden— 


| beizupflichten, daß fie — wie die Gegner burg 1877). 


Literatur und Kritik. 


Function der Spaltpilze durch eine 
beſondere Species vertreten ſei, 
verhält ſich das aus zahlreichen Experi⸗ 
menten gewonnene Reſultat eher ablehnend 
als zuſtimmend. „Ich habe ſeit 10 Jahren 
wohl tauſende von verſchiedenen Spalthefe— 
formen unterſucht und ich könnte (wenn 
ich Sarcine ausſchließe) nicht behaupten, 
daß auch nur zur Trennung in zwei ſpecifiſch 
verſchiedene Formen Nöthigung vorhanden 
ſei“ (S. 20). Wir laſſen Nägeli in 
der Folge ſelbſt reden. 

„Alle Spaltpilze ſind kurze Zellen (vor 
der Theilung etwa 1½ mal, nach derſelben 
3/4 ſo lang als breit); fie zeigen fi) bald 
ſchwärmend, bald ruhend; die Verſchieden— 
heiten beſtehen bloß in der ungleichen Größe 
und darin, daß die Zellen ſich nach der 
Theilung von einander lostrennen oder daß 
ſie zu Stäbchen und Fäden verbunden 
bleiben, welche bald gerade, bald mehr oder 
weniger ſchraubenförmig gewunden ſind. 

Nun habe ich bei der nämlichen Zer— 


ſetzung oft einen ziemlich weiten Formen- 
kreis der anweſenden Spaltpilze oder, mit 


andern Worten, ein Gemenge von mehreren 


Formen, die man gewöhnlich ſpecifiſch oder 
ſelbſt generiſch trennt, beobachtet, anderſeits 


bei ganz verſchiedenen Zerſetzungen dem 


Anſcheine nach durchaus die gleichen Spalt 


pilze gefunden. Dieſe Thatſache iſt der 
Behauptung, daß jeder Zerſetzung eine 
ſpecifiſche Pilzform zukomme, durchaus un— 
günſtig. £ 

Eine andere ſehr beachtenswerthe That— 
ſache iſt die, daß die Spaltpilze auch Ver— 
bindungen zerſetzen, welche in der Natur 
entweder nicht, oder doch nur in der Art 
vorkommen, daß eine Zerlegung durch Spalt— 
pilze dort nicht ſtattfindet. Eine ſolche Ver⸗ 
bindung iſt das Glycerin, welches zwar 
beim Keimen von fetthaltigen Samen ent— 


— — 


189 


ſteht, aber das Zellgewebe nicht verläßt 
und im Naturzuſtande vielleicht nie Ver— 
anlaſſung zu einem beſondern Gährungs— 
proceß gibt. Wo kamen nun, als zum 
erſten Mal künſtlich dargeſtelltes Glycerin 
in Gährung gerieth, die Spaltpilze her, 
wenn dieſelben ſpecifiſch verſchieden ſind? 
Ich bin überzeugt, daß es unter den vielen 
Kunſtprodukten der organiſchen Chemie noch 
manche giebt, welche durch die gewöhulichen 
Spaltpilze eigenthümliche Zerſetzungen er- 
leiden. 

Endlich iſt noch eine äußerſt wichtige 
Thatſache zu erwähnen, nämlich die Um⸗ 
wandlung der beſtimmten Hefennatur eines 
Pilzes in eine andere. Dieſelbe iſt zwar 
ſchon längſt den Hausfrauen bekannt, welche 
wiſſen, daß gekochte Milch nicht ſauer, ſondern 
bitter wird; fie wurde aber in der Wiffen- 
ſchaft nicht beachtet. Man kann den ſäure— 
bildenden Spaltpilzen durch verſchiedene 


Behandlung (Erwärmen, Austrocknen, Züch— 


ten in ſchlechterer Nährlöſung) das Ver— 
mögen, Säure zu bilden, ganz oder theil— 
weiſe nehmen, ſo daß ſie eine zuckerhaltige 
Nährlöſung nur noch ſchwach ſauer machen 
oder dieſelbe auch vollkommen neutral laſſen. 
Man kann dann dieſen umgeſtimmten For— 
men durch Cultur das urſprüngliche Ver— 
mögen wieder anzüchten. 

Wenn ich ſage — fährt Nägeli fort 
— daß die uns bekannten morphologiſchen 


Eigenſchaften der Spaltpilze und ihr Ver— 


mögen, verſchiedene Zerſetzungen zu be— 
wirken, eine generiſche und ſpecifiſche Unter— 
ſcheidung nicht rechtfertigen, und daß ſelbſt 
die Möglichkeit vorliege, alle Formen in 
eine einzige Species zu vereinigen, ſo liegt 
es mir doch fern, dieſe Behauptung wirk— 
lich auszuſprechen. — — — So ſehr ich 
auf der einen Seite überzeugt bin, daß 
die Spaltpilze ſich nicht nach ihren Hefen— 


er 


190 


wirkungen und ihrer Formbildung ſpeeifiſch 
gliedern, und daß man viel zu viele Arten 
unterſchieden hat, ebenſowenig iſt es mir 
auf der andern Seite wahrſcheinlich, daß 
alle Spaltpilze eine einzige naturhiſtoriſche 
Art darſtellen. Ich möchte vielmehr ver— 
muthen, daß es einige wenige Arten 
giebt, die aber mit den jetzigen 
Gattungen und Arten wenig ge— 
mein haben und von denen jede einen be— 
ſtimmten, aber ziemlich weiten Formenkreis 
durchläuft, wobei verſchiedene Arten in ana— 
logen Formen und mit gleicher Wirkung 
auftreten können“ (S. 22). 

Nägeli iſt der Anſicht, daß jede der 
wirklichen Spaltpilz-Species nicht blos 
als Micrococeus und als Bacterium, als 
Vibrio und als Spirillum auftreten kann, 
ſondern daß jede wirkliche „Art“ auch ver— 
ſchiedene Zerſetzungen, wie Milchſäurebil— 
dung, Fäulniß und verſchiedene Krankheits— 
formen des menſchlichen und thieriſchen 
Körpers zu bewirken vermag. Er hält es 
für denkbar, daß dieſe kleinen, der wiſſen— 
ſchaftlichen Forſchung ſo ſchwer zugänglichen 
Organismen durch Anpaſſung einen mehr 
oder weniger ausgeſprochenen Character er— 
halten, indem ſie während vieler Genera— 
tionen die gleichen Nährſtoffe aufnehmen 
und die gleiche Gährwirkung ausüben oder 
indem ſie keine Gelegenheit finden, irgend 
eine Gährung zu vollbringen. Dabei wür 
den die verſchiedenen, aber ſehr veränder— 
lichen Spaltpilzarten morphologiſch doch 
eine beſtimmte Form (Mierococeus, Bac- 


terium 2c.) bevorzugen, indeß fie phyſio— 


logiſch für die eine Gährungs- oder Zer— 
ſetzungsform tauglicher würden, als für 
andere Funktionen. Den verſchiedenen äu— 
ßern Verhältniſſen entſprechend würden ſich 
ſonach Spaltpilzformen von ungleich ſtar— 
kem Gepräge und ungleicher Conſtanz aus— 


Literatur und Kritik. 


bilden. Der nämliche Spaltpilz würde ein— 
mal in der Milch leben und Milchſäure 
bilden, dann auf Fleiſch und hier Fäulniß 
bewirken, ſpäter im Wein und daſelbſt 
Gummi erzeugen, nachher in der Erde, ohne 
Gährung hervorzubringen, endlich im menſch— 
lichen Körper, um hier bei irgend einer 
Erkrankung ſich zu betheiligen. Er würde 
an jedem Ort ſeine Natur den neuen Ver— 
hältniſſen nach und nach anpaſſen. 

Da die Wiſſenſchaft zur Bezeichnung 
verſchiedener Formen und Vorgänge ver— 
ſchiedener Namen bedarf, ſo wird es trotz 
der Wahrſcheinlichkeit, daß die verſchiedenen 
Spaltpilzſpecies die Fähigkeit beſitzen, ganz 
ähnliche Geſtalten anzunehmen, doch zweck— 
mäßig fein, auch fürderhin von Micrococcus— 
formen, von einer Vibrionenform, einer Bac— 
terienform, einer Spirillenform u. ſ. w. 
zu reden. Es darf dabei nur nicht über— 
ſehen werden, daß die mit dieſen Namen 
belegten Objekte ſehr veränderlich ſind und 
fortwährend ſich in einander verlieren.“ 

Das Hauptgewicht des Nägeli'ſchen 
Buches liegt in ſeiner praktiſchen Bedeutung 
für die Geſundheitspflege; denn wenn ſeine 
Anſicht über die Natur der Spaltpilze rich— 
tig iſt, ſo nimmt die gleiche Pilzart im 
Laufe der Generationen abwechſelnd ver— 
ſchiedene, morphologiſch und phyſiologiſch 
ungleiche Formen an, welche im Verlaufe 
von Jahren und Jahrzehnten bald die Säu— 
erung der Milch, bald die Butterſäure— 
bildung im Sauerkraut, bald das Lang— 
werden des Weines, bald die Fäulniß der 
Eiweißſtoffe, bald die Zerſetzung des Harn— 
ſtoffes, bald die Rothfärbung ſtärkemehl— 
haltiger Nahrungsmittel (blutende Hoſtien“ 
und „blutendes Brod“) bewirken und bald 


Diphterie, bald Typhus, bald recurri— 
rendes Fieber, bald Cholera, bald Wech— 


ſelfieber, bald Gelbfieber erzeugen. 


3 


Literatur und Kritik. 


Dieſer ungeheuren Veränderlichkeit in 


Form und Funktion der Spaltpilze kommt 
namentlich auch der Umſtand zu ſtatten, 
daß ſich dieſe Organismen mit einer bei— 
ſpielloſen Energie vermehren; denn es iſt 
conſtatirt, daß ſich ein Spaltpilzchen in 
ſehr günſtiger Nährlöſung bei einer 
Temperatur von 37 Grad alſo bei der 
menſchlichen Körperwärme, jeweilen inner— 
halb 20—25 Minuten zu theilen vermag, 
ſo daß unter den günſtigſten Verhältniſſen 
in Zeit von 24 Stunden 58 — 72 Gene⸗ 
rationen auf einander folgen können. 

Iſt das Abänderungs- und Anpaſſungs— 
vermögen, wie es bei der einzelnen Gene— 
ration zum Ausdruck gelangt, auch nur 
ſehr klein, ſo ſummirt ſich der Erfolg des— 
ſelben in kurzer Zeit durch zahlloſe Gene— 
rationen eben doch zu einer enormen Größe. 
Nägeli führt dieſen Punkt nicht aus; 
aber es ergibt ſich für den Anhänger der 


Descendenz-Theorie von ſelbſt die Wahr 
ſcheinlichkeit, daß ſich bei den niedern Pil- 


zen der Schizomyceten -Gruppe das, was 


man im höhern Pflanzenreich eine neue 


„Art“ nennen würde, in viel kürzerer Zeit 
bilden wird, als bei den höhern Gewächſen. 
Wenn letztere zur Bildung einer neuen Art 


Spaltpilze befähigt ſein, in wenig Jahren 
oder in wenig Jahrzehnten „neue Species“ 
zu bilden. 
Dauer der Spaltpilz-Species eine viel kür— 
zere ſein, als die Dauer einer Pflanzen-Art 
höherer Ordnung. Will man aber ſolchen 
kurzdauernden Spaltpilz-Species den Na— 
men „Art“ nicht zuerkennen, ſo kämen wir 
zu dem Schluß, daß alle dieſe Spaltpilz— 
formen in ewiger Abänderung begriffen 
ſind und daß hier die naturhiſtoriſche Spe— 
cies im gewöhnlichen Sinne uns wie 


| Queckſilber zwiſchen den Fingern entſchlüpft. 


191 


Bei Anlaß der Beſprechung aller Lebens— 
bedingungen der niedern Pilze kommt 
Nägeli unter Nr. 6 zu einem Moment, 
das „bis jetzt faſt gar nie berückſichtigt 
wurde.“ Und doch iſt die Kenntniß des— 
ſelben zur Erklärung einer Menge von 
Thatſachen unbedingt nothwendig. Es iſt 
die Mitwirkung von Pilzen aus andern 
Gruppen, die auf analoge Lebensbedingun— 
gen angewieſen ſind. Kaum iſt — ſeit die 
Darwin'ſche Lehre von der natürlichen Zucht— 
wahl beſteht, der „Kampf um's Da— 
ſein“ mit dem Wohlbefinden, dem Ge— 
ſundsheitszuſtand des Menſchen in ſo nahe 
Beziehung gebracht worden, wie in Nägeli's 
Buch von den niedern Pilzen, das ja nicht 
verfehlen wird, wegen ſeiner eminent prak— 
tiſchen Bedeutung auch den Weg zu jenen 
Gegnern Darwin's zu finden, die Nägeli 
als ihren Mitkämpfer betrachteten. „Der 
Kampf ums Daſein wird bei den 
niedern Pilzen ebenſo heftig und 
wie der Erfolg zeigt, mit viel ener— 
giſcheren Mitteln geführt, als bei 
allen andern Pflanzen.“ (S. 31.) 

Nägeli weiſt zuerſt an einigen Bei— 
ſpielen aus der höhern Pflanzenwelt nach, 


wie dort im Kampf ums Daſein die eine 
Jahrtauſende beanſpruchen, ſo dürften die 


von zwei verwandten Pflanzen je nach 
Standort und anderweitigen Verhältniſſen 


über die andere den Sieg davon trägt oder 
Dementſprechend dürfte die 


unterliegt. (Rhododendron ferrugineum 
und ‘Rh. hirsutum auf kalkarmem und 
kalkreichem Boden, Primula officinalis und 
Primula elatior auf trockenem und feuch— 
tem Standort.) „Das gleiche Geſetz be— 
herrſcht das Gebiet der niedern Pilze. Eine 
Gattung, die unter beſtimmten Verhält— 
niſſen ganz gut gedeiht, wird durch eine 
andere Gattung, die hier als die bevor— 
zugtere erſcheint, verdrängt, während 
die erſtere unter andern Verhältniſſen im 


Rn 


192 


Gegentheil die letztere zu verdrängen ver— 
mag.“ — Hiefür wird vom Verfaſſer ein 
ſchlagender Beleg in's Feld geführt: Wenn 
von den drei niedern Pilzgruppen der 
Spalt-, Sproß- und Schimmelpilze Keime 
in eine beſtimmte zuckerhaltige, neutral rea— 
girende Nährlöſung gebracht werden, ſo 
nehmen allein die Spaltpilze in ausgiebiger 
Weiſe überhand und veranlaßen Milch— 
ſäuregährung. Wird dagegen der nämlichen 
Nährlöſung ½% Weinſäure zugeſetzt, ſo 
werden die Sproßpilze Sieger über die 
beiden andern Pilzgruppen und veranlaſſen 
weingeiſtige Gährung. Verſetzt man endlich 
die gleiche Nährlöſung mit 4 oder 5% 
Weinſäure, ſo ſiegt die Schimmelpilzgruppe 
über die beiden andern. In allen drei 
Fällen ſind es die Keime von mindeſtens 
zwei verſchiedenen Pilzgruppen, die ſich je— 
weilen in der betreffenden Nährlöſung zu 
entwickeln und zu vermehren im Stande 
wären, wenn man ſie der Concurrenten 
entledigte. Das Experiment beweiſt alſo 
auch bei den niedern Pilzen die Exiſtenz 
des struggle for life. 

Ein dritter Punkt von entwicklungs— 
geſchichtlichem Intereſſe, auf den Nägeli 
in ſeinem Buch von den niedern Pilzen 
im Vorübergehen eingeht, betrifft die Diffe— 
renzirung unſeres eigenen Geſchlechtes. 
Da und dort ſpricht der Verfaſſer von 
einer Anpaſſung unſeres Organismus an 
die Einwanderung dieſer und jener in unſern 
Körper gelangenden niedern Pilze. Letztere 
treten unter Umſtänden mit den lebenden 
thieriſchen Zellen unſeres Körpers in Con— 
currenz; ſiegen die lebenden Gewebe über 
die eingewanderten Spaltpilze, ſo bleibt 
unſer Organismus vor Erkrankung ver— 
ſchont; dies findet in den meiſten Fällen 
wirklich ſtatt, da wir annehmen müſſen, 
daß fortwährend auf den verſchiedenſten 


Literatur und Kritik. 


Wegen Spaltpilze in unſern Körper ge— 
langen und dort zu vegetiren und ſich zu 


vermehren ſtreben. Da unſer Organismus 


alſo den meiſten Spaltpilzformen gegenüber 
Sieger bleibt, ſo dürfen wir wohl von 
einer Anpaſſung in dieſem Sinne reden. 
Allein in gewiſſen Fällen, wo unſere 
Conſtitution gegenüber beſtimmten Spalt— 
pilzformen geſchwächt erſcheint, werden 
die letztern Sieger, und die Concurrenz 
zwiſchen Spaltpilz und lebendem thieriſchem 
Gewebe ſchlägt in dem Sinne aus, daß 
Erkrankung erfolgt‘, z. B. Ausbruch von 
Wechſelfieber, Typhus, Cholera, Gelbfieber, 
Diphtherie, Blattern, Maſern ze. Je nach— 
dem die eingewanderten Spaltpilze, welche 
Anſteckung zu verurſachen vermochten, im 
ſumpfigen Boden entſtanden ſind oder von 
einem mit einer anſteckenden Krankheit be— 
hafteten thieriſchen Organismus herrühren, 
ſpricht man von Miasmenpilzen (Boden— 
pilzen) und von Contagienpilzen (Kranken— 
pilzen). Nun ſucht der Phyſiologe die höchſt 
praktiſche Frage zu beantworten: Können 
wir mit unſern Sinnen die inficirende Luft, 
welche uns die Spaltpilze zuführt, an ge— 
wiſſen Merkmalen erkennen? — Die Ant- 
wort fällt verneinend aus; denn das Ge— 
ſicht, unſer menſchliches Auge gibt uns 
wegen der Kleinheit der Miasmen- und 
Contagienpilze keinen Aufſchluß darüber, ob 
in einer Atmoſphäre Spaltpilze vorhanden 
find oder nicht. Von den andern Sinnes- 
organen kann nur noch das Geruchsorgan 
in Frage kommen, und von dieſem weiſt 
Nägeli nach, daß es uns ebenfalls über 
die Spaltpilze der Luft keinen Aufſchluß 
gibt; denn die Miasmen- und Contagien— 
pilze können nur im trockenen Zuſtand durch 
die Luft fortgetragen und in unſern Körper 
verſchleppt werden, alſo als Staub zur 
Anſteckung Veranlaſſung geben. Trockener 


Literatur und Kritik. 


Staub riecht aber nicht. 


Die Miasmen | 


und Contagien find durchaus geruchlos; 


die Malaria iſt mit dem Geruchsſinn nicht | 


wahrnehmbar und Contagienpilze, welche 
in übelriechenden Subſtanzen vorhanden 
ſein können, wie ſie es wirklich ſind, z. B. 
in Choleraſtühlen u. ſ. w., vermögen 
ſo lange nicht in die Luft zu gelangen, 
als jene übelriechende Subſtanz feucht iſt; 
mit dem Austrocknen der letztern ver— 
ſchwindet aber der üble Geruch, ſo daß 
die wirkliche Gefahr der Anſteckung — 
entgegen der landläufigen Meinung — 
erſt dann eintritt, wenn keine übeln Ge— 
rüche mehr von der inficirenden Subſtanz 
aufſteigen. Nägeli zeigt ganz überzeugend, 
daß die Miasmen- und Contagienpilze 
wohl meiſtens in kurzer Zeit von den 
Fäulnißpilzen verdrängt werden, daß ſie 
in faulenden, übelriechenden Subſtanzen 
alsbald in unſchädliche gewöhnliche Fäulniß— 
pilze übergehen, daß alſo gerade ſtark faulende 
Subſtanzen am wenigſten verdächtig ſind. 
Das widerſpricht aber der bisherigen An— 
ſchauung von Aerzten und Laien. 
es iſt nicht das erſte Mal, daß die Wiſſen— 
ſchaft ein landläufiges Vorurtheil als ver— 
nunftwidrig unmöglich gemacht hat. Und 
wenn die Gegner der Nägeli'ſchen Theorie 
den Einwand in's Feld führen, daß der 
Menſch doch von Natur einen inſtinctiven 
Widerwillen gegen übelriechende Subſtanzen 
beſitze und daß dieſer Widerwille ſtark für 
einen berechtigten Verdacht gegen ſtinkende, 
faulende Stoffe ſpreche, ſo begegnet Nä— 
geli dieſem Einwand folgendermaßen: 
Gegen den ſowohl von der Theorie als 
der Erfahrung bewieſenen Satz, daß die 
Gefährlichkeit einer Atmoſphäre unabhängig 
iſt von dem Geruche, den ſie verbreitet, 
und daß die hauptſächlichſte Wirkung einer 
ſt inkenden Luft in der Beleidigung unſerer 


Allein 


Naſe und unſeres äſthetiſchen Gefühles be— 
ſteht, — gegen dieſen Satz könnte man 
einen phyſiologiſchen Einwurf machen, der 


nicht mit Stillſchweigen übergangen werden 


kann. Unſere Sinne ſind ohne Zweifel 
gewiſſermaßen als die Wächter der Geſund— 
heit zu betrachten; ſie zeigen uns im Allge— 


meinen an, was für den Organismus vor— 


theilhaft oder nachtheilig iſt. Man könnte 
nun daraus den Schluß ziehen wollen, daß 
der Geſtank faulender Stoffe, weil er uns 
widrig iſt, eben deshalb nothwendig auch 
ſchädlich ſei. 

Wir müſſen hier zuvörderſt eine nicht 
hierher gehörige Seite der Frage von der 
Beſprechung ausſchließen, nämlich den un— 
beſtreitbaren Umſtand, daß Alles, was auf 
unſere Sinne unangenehm einwirkt und 
dadurch das Nervenſyſtem afficirt, in gleichem 
Maße auch das allgemeine Wohlbefinden 
beeinträchtigt. Darum handelt es ſich jetzt 
nicht, ſondern um die Frage, ob über dieſe 
ſelbſtverſtändliche Wirkung hinaus eine übel— 
riechende Luft noch in ſpecifiſcher Weiſe der 
Geſundheit Schaden bringe. 

Zunächſt iſt zu bemerken, daß jener 
Grundſatz, unſere Sinne bezeichneten durch 
ihr Wohlbehagen oder Mißbehagen, was 
uns zuträglich oder ſchädlich ſei, doch in 
ſeiner Allgemeinheit auf ziemlich ſchwachen 
Füßen ſteht. Wir ſehen dies deutlich am 
Geſchmacksorgan und theilweiſe auch am Ge— 
ruchsorgan. Mit wohlſchmeckenden Speiſen 
und Getränken macht man ſich krank und 
mit bittern und widrigen Medicinen kurirt 
man ſich wieder. Gewiſſe Speiſen werden 
erſt gegeſſen, nachdem ſie Zerſetzungsproceſſe, 
bei denen fi) viele Spaltpilze bilden, durd- 
gemacht haben und dadurch gewiß nicht 
zuträglicher, wenn auch nicht ſchädlich, 
geworden find. Der Feinſchmecker ver— 


langt, daß am Wildpret und an einigen 


8 


Kosmos, Band III. Heft 2. 


25 


194 


Käſeſorten die begonnene Fäulniß bemerk— 
lich ſei. 

Dennoch hat die Ausbildung unſeres 
Geſchmacks- und Geruchsorgans im Großen 
und Ganzen gewiß die Bedeutung, die man 
ihr zuſchreibt. Aus den Forſchungen der 
neuern Zeit auf phylogenetiſchem Gebiet, 
welche wir vorzüglich Darwin verdanken, 
geht unbeſtreitbar hervor, daß die Sinnes— 
organe ſich als nützliche Einrichtungen aus— 
gebildet haben. Demnach muß auch der 
ſo allgemein vorhandene Abſcheu vor 
Stoffen, welche nach Fäulniß riechen 
und ſchmecken, und die Vorliebe für wohl— 
ſchmeckende und wohlriechende Subſtanzen 
eine naturgeſetzliche Urſache haben. Es ſind 
nützliche Inſtinkte, welche ſich in 
der langen Geſchichte des Men— 
ſchengeſchlechts unter einfachen 
Verhältniſſen durch Anpaſſung 
ausgebildet haben, die aber für 
unſere complicirten, durch Cul— 
tur vielfach veränderten 
hältniſſe nicht mehr ausreichen 
und in manchen Beziehungen mit 
denſelben ſelbſt in Widerſpruch 
gerathen ſind. 

Nägeli fügt hier in Form einer 
Anmerkung bei, daß dieſes Nicht-mehr-aus- 
reichen und In-Widerſpruch-gerathen das 
Schickſal aller natürlichen Anpaſſungen ſei, 
„aller jener Eigenſchaften, die ſich unter 
dem Einfluß von beſtimmten Umſtänden 
durch eine unendlich lange Generationsreihe 
ausgebildet haben und conſtant geworden 
ſind. Unter veränderten Verhältniſſen wer— 


theilig, — vererben ſich aber vermöge der 
erlangten Conſtanz noch durch eine lange 
Zeitperiode.“ Gewiß dürfte es ein Leichtes 
ſein, dergleichen Inſtinkte, die unſerm Ge— 
1 ſchlechte als ſchädliche Erbtheile noch an— 


Literatur und Kritik. 


Ver⸗ 


den fie überflüſſig, zuweilen ſelbſt nach- 


haften, zu mehreren namhaft zu machen. 
Nach jeder großen Anſtrengung, welche 
unſere Körperkräfte bis zur höchſten Er— 
hitzung in Anſpruch nimmt, drängt unſer 
Organismus inſtinktiv nach plötzlicher Ab— 
kühlung und doch bekommt uns dieſe in 
der Regel ſehr ſchlecht, ja in vielen Fällen 
führt ſie plötzlichen Tod herbei, während 
der Hund, der Affe und andere höhere 
Säugethiere die plötzliche Abkühlung ſehr 
leicht ertragen. Die Natur hat bei der 
Differenzirung des Menſchengeſchlechtes aus 
behaarten Vorfahren uns das natürliche 
Haarkleid abgeſtreift; das inſtinktive Drän— 
gen nach plötzlicher Abkühlung bei jedes— 
maliger Erhitzung iſt uns aber geblieben, 
eine beſtändige Gefahr für den Unvorſich- 
tigen und Unbedachtſamen. 

Nägeli findet für unſern Widerwillen 
gegen übelriechende Stoffe folgende vein- 
darwiniſtiſche Erklärung: 

Der Abſcheu vor dem Fäulnißgeſchmack 
hat ſich ohne Zweifel dadurch ausgebildet, 
daß die Lebensmittel im Allgemeinen mit 
der zunehmenden Fäulniß immer mehr die 
Eigenſchaft verlieren, den Körper zu nähren 
und ihn als Genußmittel anzuregen. Indi— 
viduen, die gegen den Fäulnißgeſchmack 
gleichgültig ſich verhielten oder denſelben 
gar liebten, mußten als weniger leiſtungs— 
fähig zu Grunde gehen und hatten ſomit 
keine Nachkommen, die ihre Geſchmacks— 
eigenthümlichkeit erbten. Würden die Lebens— 
mittel durch die Fäulniß an Nähr- und 
Genußwerth gewinnen, fo hätte ſich noth— 
wendig der Geſchmack des Menſchen ſo 
ausgebildet, daß er ein faules Ei als De— 
licateſſe betrachtete. 

Aus dem gleichen Grunde iſt uns der 
Fäulnißgeruch widerwärtig; das Geruchs— 
organ zeigt uns die Gefahr an und warnt 


das Geſchmacksorgan. Individuen mit einer | 


für die Fäulniß empfindlichen Naſe mußten 
unter übrigens gleichen Umſtänden die beſſer 
genährten ſein. Dieſer Erklärungsgrund 
reicht vollfommen aus, um unſern Abſcheu 
vor dem Geſtank begreiflich zu machen. 
Es iſt aber möglich, fährt Nägeli 
fort, daß noch eine andere Urſache einwirkte, 
um das Geruchsorgan in dieſer Richtung 
auszubilden. Die Fäulnißpilze ſind zwar 
viel weniger gefährlich, als die Miasmen— 
und Contagienpilze; in größerer Menge 
aber verurſachen ſie ebenfalls krankhafte 
Störungen. Der Aufenthalt an Orten, 
wo fortwährend Fäulnißproceſſe ſtatthaben, 
wo ſtets auch ausgetrocknete Fäulnißſtoffe 
ſich befinden, wo vielleicht auch Miasmen 
ſich bilden, iſt demnach ungeſund. Solche 
Stätten mochte es im Urzuſtande wohl 
geben, wo die noch halbwilden Menſchen 
die Jagdthiere verzehrten und wo ſich Ab— 
fälle und Auswurfsſtoffe anhäuften. Die 
Luft an dieſen Orten war nicht nur mit 
übelriechenden Gaſen, ſondern auch mit 


ſchädlichen Keimen beladen. Diejenigen In 


dividuen, welche durch ihr Geruchsorgan 
veranlaßt wurden, ſolche Stätten bald zu 
verlaſſen, mußten im Vortheil ſein gegen— 
über denjenigen, denen ihre Naſe erlaubte, 
ſich daſelbſt aufzuhalten und ſich zur Ruhe 
hinzulegen. 

Aber wenn auch der Widerwille vor 
dem Fäulnißgeruch aus dem zuletzt ge— 
nannten Grunde entſtanden iſt, ſo folgt 
daraus keineswegs, daß eine übelriechende 
Luft die Trägerin von ſchädlichen Keimen 
ſein müſſe. Es folgt daraus blos, daß in 
der Urzeit des Menſchengeſchlechtes unter 
urſprünglichen und natürlichen Verhältniſſen 
Fäulnißgeruch und Anſteckungsſtoffe nicht 
ſelten zugleich auftraten. Der Widerwille 
vor dem Fäulnißgeruch erklärt ſich dann 
aus dem auch anderweitig conſtatirten Um— 


Be... 


Literatur und Kritik. 


ſelbe Schlachtfeld betritt. 


ſtande, daß es dem Menſchen an einem 
Sinnesorgan für die Wahrnehmung der 
Infektionsſtoffe mangelt und daß deswegen 
der Organismus ſich bei der Anpaſſung 
der Sinnesorgane daran gewöhnte, die— 
jenigen wahrnehmbaren Verhältniſſe zu 


verabſcheuen, welche einſt am häufigſten mit 


den Infektionsſtoffen vergeſellſchaftet waren. 
In unſerer Zeit könnte die Lage der Dinge 
eine ganz andere, ſelbſt entgegengeſetzte ge— 
worden ſein; es könnte in Folge veränder— 
ter Einrichtungen der Fäulnißproceß (der 
an und für ſich in Sachen der Anſteckung 
durch Infektionsſtoffe ganz gefahrlos iſt) 
zeitlich von dem Austrocknungsproceß (der 
allein gefahrbringend werden kann) ge— 
trennt ſein, ſo daß ſtinkende Luft immer 
unſchädlich, die geruchloſe dagegen mehr 
oder weniger gefährlich und unſer nicht 
vortrefflich angepaßtes Geruchsorgan jetzt 
in dieſem Punkte ein falſcher Rathgeber 
geworden wäre. (S. 150.) 

In der That iſt das Nägeli'ſche 
Buch, deſſen Schwerpunkt im mediciniſchen 
und hygieniſchen Intereſſe liegt, reich an 
Erfahrungsſätzen, welche dieſe letztere Aus— 
einanderſetzung als die wiſſenſchaftlich wahr— 
ſcheinlichſte erſcheinen laſſen. So weiſt der 
Verfaſſer an anderer Stelle nach, daß es 
eine durchaus verkehrte Praxis iſt, Schlacht— 
felder mit vielen verſcharrten Menſchen— 
und Thierleichen nur ſo lange als gefährlich 
betrachten, zu als ſich der üble Leichengeruch, 
den man ganz irrig einen „verpeſtenden“ 
nennt, geltend macht, während man kurz 
nachher, wenn die Gerüche ſchweigen und 
die Luft „rein“ iſt, ganz unbeſorgt das— 
Die Miasmen 
entwickeln ſich erſt nach vollendeter Fäul— 
niß und können erſt dann die Luft wirklich 
verpeſten, wenn der Fäulnißproceß und die 
Entwickelung ſtinkender Gaſe in Folge der 


196 


Literatur und Kritik. 


Austrocknung aufgehört haben. Nach der | zu gelangen. Das Buch verliert dadurch 


Nägeli'ſchen 


kende Luft ev. weit verdächtiger, als die 


ihr an gleicher Stelle vorangegangene übel— 
riechende Atmoſphäre. 
Zürich. Dr. Arnold Dodel-Port. 


Entwickelungsgeſchichte des Welt— 
und Erdgebäudes und der Orga— 
nismen. Im Sinne einheitlicher Welt— 
anſchauung nach dem heutigen Stande 
der Naturerkenntniß, leicht faßlich dar— 
geſtellt von J. Aug. Piväny. Plauen 
im Vgtl. A. Hohmann 18 77. 

Unter den Büchern über Darwinismus 
und Entwickelungsgeſchichte, die in neuerer 
Zeit wie Pilze aus dem Boden ſchießen, 
gehört das vorliegende Werk zu der leider 
großen Zahl derjenigen, welche der neuen 
Lehre mehr ſchaden als nützen werden. Wir 
verkennen keineswegs die guten Abſichten 
und den Fleiß des Verfaſſers, der auf 
noch nicht dreihundert Dftavfeiten eine ge— 
drängte Ueberſicht deſſen zu geben verſuchte, 
was in den Werken von Lyell, Vogt, 
Büchner, Darwin, Häckel, Jäger 
und anderer Vertreter der neuen Weltan— 
ſchauung enthalten iſt, aber wir können 
diesmal keine günſtige Löſung der Aufgabe 
conſtatiren. Was zunächſt abſtößt, iſt die 
ungemeine Trockenheit der Aufzählung, wir 
hören eine Maſſe Thatſachen, aber der 
Darſtellung fehlt Individualität und Leben. 
Sodann können wir der Eintheilung keinen 
Beifall zollen, da faſt die Hälfte des kleinen 
Buches ausſchließlich der Entwickelung der 
unorganiſchen Welt gewidmet iſt, während 
die Entwickelung der Pflanzen- und Thier— 
welt auf wenigen Seiten abgethan wird, 
um raſch zum Menſchen und zur Aufzähl— 
ung der ſogenannten Entwickelungsgeſetze 


Theorie iſt die nicht ſtin- alle Anſchaulichkeit und Wirkung, zumal 


es auf jede erläuternde Illuſtration ver— 
zichtet hat. Indeſſen würde dieſe Eintheil— 


ung an ſich einen ernſten Tadel nicht her— 
ausfordern, wenn nicht alle die Hypotheſen 


und Schlüſſe der vorgenannten und andrer 
Autoren als ſichere Thatſachen geſchildert 
würden, die genau ſo ſich vollzogen haben 
ſollen, wie die Gewährsmänner den Her— 
gang als möglicherweiſe oder ſehr wahr— 
ſcheinlich geſchehen, darſtellten. Dem Autor 
derartiger Werke liegt die ernſte Pflicht ob, 
immer durchblicken zu laſſen, daß das 
Meiſte, was wir zu wiſſen glauben, nur 
Hypotheſe, wenn auch Hypotheſe von oft 
ſolcher Wahrſcheinlichkeit iſt, daß ſich alle 
andren Anſichten daneben wie Hallucina— 
tionen darſtellen. Aber der Verfaſſer geht 
jo weit, ſogar Anſichten wie die Bolger’- 
ſchen über Vulkanismus, mit eben der 
Sicherheit als Thatſachen darzuſtellen, wie 
etwa die Kant-Laplace'ſchen Welt— 
bildungshypotheſen u. A. Solche Werke 
müſſen nothwendig auf das große Publi— 
kum irreführend, auf den Unterrichteten 
verſtimmend wirken, und ſie ſind es zum 
guten Theil, welche bei einer großen An— 
zahl gebildeter Laien die Mißſtimmung 
gegen die neuen Lehren unterhalten. Die 
Selbſtgewißheit des Verfaſſers ſteigert ſich 
an zahlloſen Stellen ſeines Werkes zu 
Rechnungen über die Dauer beſtimmter kos— 
miſcher Vorgänge, Rechnungen, die faſt 
immer das Ergebniß von Mißverſtändniſſen, 
willkürlicher Annahmen, und das verräthe— 
riſche Zeichen mangelnder Vorſicht und 
Selbſtkritik ſind. So leſen wir z. B. auf 
S. 59 mit geſperrter Schrift: „Es be— 
durfte daher eines Zeitraumes von 114 
Millionen Jahren, bis das ſalzloſe Urmeer 
durch den Zufluß von Süßwaſſer zu ſeinem 


Literatur und Kritik. 


jetzigen Kochſalzgehalte gelangen konnte.“ 
Was ſoll uns nun dergleichen? 
erſtens iſt es ſehr fraglich, ob ein ſalzfreies 
Urmeer überhaupt exiſtirt hat, da mög— 


Denn 


licherweiſe der Erdball ſich vorher mit einer 


Kruſte flüchtiger Salze bedeckt hatte, ehe 
ſich die Waſſerdampfmaſſen in flüſſiger 
Geſtalt auf ihm niederſchlugen, zweitens iſt 
jene überflüſſige Rechnung auf den Salz— 


gehalt der jetzigen Flüſſe geſtützt, und 


drittens vermögen wir den beſtändigen Salz— 
verluſt der Meere nicht in beſtimmten Zah— 
len ausdrücken. Eine Rechnung aber, bei 
der man von vornherein ſagen muß, daß 
das Reſultat vielleicht mit zehn multiplicirt, 
oder durch hundert dividirt werden muß, 


um der Wahrheit näher zu kommen, die 


iſt mehr als überflüſſig. 
ſagt uns in der Vorrede, daß das Werk 
keineswegs eine bloße Compilation ſei, 
ſondern daß es auch beſonders wichtige 
eigene Ergänzungen der kosmiſchen Theorie 
bringe, und er macht uns insbeſondere auf 
zwei derſelben im Voraus aufmerkſam, die 
wir deshalb kurz betrachten wollen. Auf 
Seite 32 glaubt er der Mehrzahl der 
heute lebenden „Phyſiker und Natur— 
philoſophen“ ein Licht darüber aufſtecken 


Der Verfaſſer 


zu ſollen, wie ſie ſich die im Weltall zer— | 
ſtreute Urmaterie, ehe fie ſich zu Welt- | 


körpern ballte, zu denken haben. Der Ver⸗ 
daß die 


faſſer bildet ſich nämlich ein, 
Männer der Wiſſenſchaft in dem Irrthum 
befangen wären, der Weltſtoff ſei ehemals 


durch eine ungeheure Glut in dem dünnſten 


Dampf aufgelöſt geweſen. Referent muß 


geſtehen, daß er dieſe Anſicht zum erſten 


Male in dem Pivany'ſchen Buche ge— 
funden hat, daß der Verfaſſer ſomit wohl 


ein Hirngeſpinnſt bekämpft, deſſen alleiniger 


Urheber er ſelber iſt. Die zweite große 


Entdeckung finden wir auf S. 122 mit 


197 


geſperrter Schrift wiedergegeben, wie es 
denn der Verfaſſer liebt, halbe und ganze 
Schriftſeiten durch geſperrten Druck hervor— 
zuheben. „Ich behaupte“, ſagt der Ver— 
faſſer emphatiſch, „daß die Lebenserſchein— 
ungen (im eben verſtorbenen Organismus) 
nur deshalb aufgehört haben, ſich zu mani— 
feſtiren, weil eben das Eiweiß des leben— 
digen Organismus nicht mehr das Eiweiß 
des todten Organismus iſt, weil es eine 
Veränderung ſeiner chemiſchen Conſtitution 
erlitten hat, weil es in einen andern 
allotropen, muthmaßlich in einen polymeren 
Zuſtand übergegangen iſt.“ Dieſem wohl auf 
Mißverſtändniſſen der Jäger'ſchen Auf— 
ſtellungen beruhenden Orakelſpruche gegen— 
über, müſſen wir bemerken, daß ein Orga— 
nismus jedenfalls bereits in Folge viel 
geringerer Umſetzungen ſeiner Beſtandtheile 
zu Grunde gehen müßte, als durch eine 
ſo totale Umſetzung, wie ſie der Begriff 
der Polymerie oder der Allotropie verlangt. 
Solche Divinationen in geſperrter Schrift 
verſtimmen unſäglich und bieten dem Geg— 
ner beſtändigen Stoff zu höhniſchen Apo— 
ſtrophen. Zum Unglücke häufen ſich der— 
artige Mißverſtändniſſe in Cardinalfragen. 
Auf S. 138 leſen wir, natürlich wieder in 
geſperrter Lapidarſchrift: „Wenn wir in 
zwei Individuen, die nicht von einander 
abſtammen, Aehnlichkeiten und Verſchieden— 
heiten in dem Baue ihres Körpers wahr— 
nehmen, ſo ſind die erſteren von einem 
gemeinſchaftlichen Vorfahren ererbt, die 
letzteren während des Lebens der beider— 
ſeitigen Ahnenreihe bis zurück zu dem ge— 
meinſchaftlichen Vorfahren durch Anpaſſung 
erworben worden.“ Laſſen wir den mehr 
als ſonderbaren Eingangsſatz dieſes „Ge— 
ſetzes“ unkritiſirt, und verſuchen wir uns 
darnach z. B. die Aehnlichkeit aller Waſſer— 
thiere und aller Waſſerpflanzen unter ein— 


* 


198 


Literatur und Kritik. 


ander zu erklären. 
iſt hier umgekehrt die Aehnlichkeit durch 
Anpaſſung erworben; der Verfaſſer hat 
keinen Unterſchied zwiſchen Homologie und 
Analogie zu machen verſtanden. So ſehen 
wir ihn leider nur allzu oft ſeine Autori— 
täten übertrumpfen und über das Ziel 
hinwegſchießen. Gleich im Eingange finden 
wir behauptet, daß ſich auf keinem aus 
dem Alterthume ſtammenden Gemälde auch 
nur eine Spur von violetter Farbe befinde. 
Eine ſolche Behauptung hat weder Geiger, 
noch Gladſtone oder Magnus auf— 
geſtellt, im Gegentheile man kennt ſolcher 
Gemälde in großer Zahl, und nicht etwa 
blos ein einziges, wie der Verfaſſer ſich 
nachträglich verbeſſernd, hinzuſetzt. Auch 
liegt darin nicht der Schwerpunkt der Frage, 
denn ein Maler der blau- oder violettblind 
wäre, könnte recht gut blaue und violette 
Pigmente verwenden, ſobald ſie ihm einen 
ähnlichen Eindruck verurſachen, wie die 
entſprechenden Naturgegenſtände. Wir wiſſen 
z. B., daß ältere Maler in Folge einer 
Gelbfärbung der Augenflüſſigkeiten und 
weil fie dann Blau und Voolett weniger 
deutlich empfinden, nun erſt recht anfangen, 
dieſe Pigmente in den grellſten Nüancen 
zu verwenden, und von dem engliſchen 
Genremaler Mulready iſt es bekannt, 
daß er in ſeinem Alter die Vegetation blau, 
den menſchlichen Körper violett malte, 
eben weil er den violetten Farbſtoff nicht 
ſo ſah, wie die Mehrzahl der geſunden 
Menſchen. — — — Unſere Beurtheilung 
ſeines Buches wird dem Verfaſſer und 
vielleicht auch manchem unſrer Leſer ſehr 


Wie wir leicht ſehen, 


hart erſcheinen. Wenn ein Parteiorgan fo 
ſtreng urtheilt, was ſollen dann die Gegner 
ſagen? Indeſſen die Sache iſt die, daß 
wir hier nicht mit kleinen Fehlern und 
Mißgriffen zu rechten haben, denen jeder 
Autor mehr oder weniger unterworfen iſt, 
ſondern mit Grundſchäden, die unſerer 
Sache mehr Nachtheil bringen als man 
wohl glaubt. i 


Andachten von Wilhelm Jordan. 
Frankfurt a. M. Selbſtverlag von W. 
Jordan. 1877. (In Commiſſion bei F. 
Volckmar. Leipzig.) 

Der „ſo weit die deutſche Zunge klingt,“ 
rühmlichſt bekannte Rhapſode und Wieder— 
erneuerer der Nibelunge bietet in dieſem 
elegant ausgeſtatteten Bande eine Reihe 
didactiſcher Gedichte, meiſt epiſcher Form, 
welche die darwiniſtiſche Weltanſchauung 
poetiſch zu verklären beſtimmt ſind. Die 
Grundſtimmung der Gedichte iſt eine reli— 
giöſe und alſo ihrem Titel entſprechend: 
Der Gedanke des Verfaſſers vom „alten 
und neuen Glauben“, daß Kunſtformen 
einen Erſatz für Ideale bieten könnten, die 
in andrer Form verloren gegangen ſind, 
ſcheint als Leitmotiv darin nachzuwirken. 
Die Gedichte bergen in kerniger, edler 
Sprache einen Schatz erhebender und ver— 
ſöhnender Gedanken, die auf den Leſer, 
wenn er ſich nur erſt an die Neigung des 
Verfaſſers, unſre Sprache zu bereichern, ge— 
wöhnt hat, vollauf die beabſichtigte Wirkung 
hervorbringen. Wir empfehlen das Buch 
unſern Leſern angelegentlichſt. 


Offene Briefe und Antworten, 


Profeſſor Frohſchammer und die 
Freiheit der Wiſſenſchaft. 


ni 
| 


it Bezug auf meinen Auffag über 
die Virchow 'ſche Rede an der letzten 
Naturforſcherverſammlung zu Mün— 
chens) erhalte ich von Herrn Profeſſor 
Dr. J. Frohſchammer ein berichtigendes 
Schreiben, welches ich mit um ſo größerem 
Vergnügen hier zum Abdrucke bringe, als 
daſſelbe einen vermeintlichen Gegner in 
einen nüchteren, objektiven Beurtheiler, ja 
zum Theile ſogar in einen Anhänger der 
Ideen umſtempelt, welche in dieſem Organe 
ſelbſt vertreten werden. Daß damit auch 
alle Folgerungen hinfällig ſind, die ich an 
den vermeintlichen Standpunkt des gedachten 
Herrn Profeſſors knüpfte, iſt ſelbſtver— 
ſtändlich. Ich laſſe alſo das fragliche 
Schreiben hiermit folgen. 

Friedrich v. Hellwald. 


München, den 23. Febr. 1878. 
Hochgeehrter Herr! 

Erſt jetzt iſt mir das Quartal-Heft 
der Zeitſchrift „Kosmos“ Okt — Dez. 1877 
zugekommen und ich finde darin von Ihnen 
einen Artikel, betreffend die Freiheit der 
Wiſſenſchaft und Virchow's Vortrag bei 
Kosmos, Band II. S. 172. 


der Münchner Naturforſcher-Verſammlung. 
Daſelbſt heißt es: „Leute, welche z. B. 
tagtäglich gegen den römiſchen Jeſuitismus 
donnern wie Joh. Huber, Frohſchammer 
und der ganze Reſt der lebensunfähigen 
altkatholiſchen Sekte ſcheinen ſich gar nicht 
bewußt zu ſein, daß ſie ſelbſt in ihrem 
Kampfe gegen Darwin und ſeine Schüler 
in vollſtem Maße einem wiſſenſchaftlichen 
Jeſuitismus huldigen ꝛc.“ Sie erklären 
mich hier alſo für einen Altkatholiken und 
für einen Bekämpfer Darwins. Beides iſt 
durchaus unrichtig und unberechtigt. Ich 
habe den Altkatholicismus ebenſo für lebens— 
unfähig und für ſchwächliche Halbheit er— 
klärt wie Sie und zwar nicht erſt jetzt, 
ſondern ſchon bei ſeinem Entſtehen, im Jahre 
1871 in der „Augsb. Allg.-Ztg.“ und 
anderwärts, wie Sie leicht aus meinem 
Buche: Ueber die religiöſen und kirchenpoli— 
tiſchen Fragen der Gegenwart erſehen könnten. 
Die Altkatholiken reſp. die Führer derſelben 
Huber, Friedrich, Zirngiebl x. 
haſſen daher kaum Jemanden ſo ſehr, wie 
mich und zeigen ihre gehäſſige, erbitterte 
Geſinnung ſo oft es nur möglich. Man 
mag meine Schriften und mein Streben 
kritiſiren und beurtheilen, wie es beliebt, 
aber Niemand hat das Recht mich als 
Altkatholiken zu bezeichnen — ſei es zu 
Lob oder Tadel. 


5 


200 


Offene Briefe und Antworten. 


Was die Darwin'ſche Lehre betrifft, 
ſo war ich (was freilich ignorirt wird) der 
erſte in Deutſchland, der davon eine ein— 
gehende Darſtellung und Kritik publicirt 
hat (in meiner philoſophiſchen Zeitſchrift 
„Athenäum“ 1862). Damals gab es noch 
keine unermeßliche Darwin-Literatur und 
es war noch nicht möglich aus 99 Schriften 
mit Leichtigkeit eine hundertſte zu fabriciren 
wie jetzt. Darwin ſelbſt nahm Kennt— 
niß von meiner ausführlichen (mehr als 
100 Seiten umfaſſenden) Abhandlung und 
ſchrieb mir im Herbſte 1862 einen freund— 
lichen Brief, in welchem er ausdrücklich die 
Richtigkeit meiner Darſtellung ſeiner Lehre 
anerkannte und mir ſeinen Dank dafür 
ausſprach, daß ich trotz meiner kritiſchen 
Bemerkungen doch ſo vielfach die Größe 
und das Verdienſt ſeines Werkes anerkannt 
habe. Seitdem hat ſich meine Anſicht nicht 
ungünſtiger, ſondern eher günſtiger geſtaltet. 
Als Hypotheſe habe ich allerdings Darm in's 
Lehre bezeichnet — aber ſo bezeichnen Sie 
dieſelbe doch auch ſelbſt noch immer — 
ſogar in dem in Frage ſtehenden Artikel. 
Darwin ſelbſt kann Kritik ganz wohl ver— 
tragen, er verlangt nicht blinde kritikloſe 
Annahme ſeiner Anſichten, als ſeien dieſe 
ein neues Glaubensſyſtem. Ein princi— 
pieller Bekämpfer der Descendenzlehre und 
ſelbſt der Darwin'ſchen Form der— 


ſelben war ich nie, wenn ich auch nicht 
Würden 


Alles ohne Weiteres annahm. 
oder wollten Sie mein neueſtes Werk: 


1 


Die Phantaſie als Grundprincip des Welt— 
proceſſes, 1877, kennen, ſo würden Sie 
auch wiſſen, daß dieſem Verſuche eines 
philoſophiſchen Syſtems durchaus die Des— 
cendenzlehre zu Grunde liegt und eine um— 
faſſende Ausführung derſelben iſt. 

Unter dieſen Umſtänden darf ich von 
Ihrer Gerechtigkeitsliebe wohl erwarten, 
daß Sie das Unrecht, welches Sie mir in 
Ihrem Artikel öffentlich zugefügt haben, 
bei nächſter Gelegenheit auch öffentlich gut 
zu machen ſuchen werden. 

Unter die Gegner der Freiheit der 
Wiſſenſchaft werden Sie mich aber wohl’ 
nicht deshalb ſchon zählen, weil ich nicht 
alle Ihre Anſichten theile. Ich habe für 
die Freiheit der Wiſſenſchaft in München 
gekämpft durch meine Schrift: Ueber die 
Freiheit der Wiſſenſchaft, 1861, als dies 
noch gefährlich war und man noch nicht con 
amore eine Cauſerie darüber vor einem 
dankbaren Publicum veranſtalten konnte, 
wie Virchow gethan. Die Schrift hat 
mir Verfolgungen genug zugezogen, Opfer 
genug gekoſtet und mich nahezu um 
meine Stelle gebracht. Zum Dank dafür 
wird dieſelbe jetzt ignorirt und ich ſelbſt gar 
noch als Gegner der freien Wiſſenſchaft 
hingeſtellt! 

Genehmigen Sie die Verſicherung 

beſonderer Hochachtung, mit der ich bin 
Ihr ergebener e 
Prof J. Frohſchammer. 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


Zur Experimental-Achhetik, 
Bon 


Ruclolf Nedtendacher. 


uftad Theodor Fechner 
hat zum erſten Male in ſei— 
Zi nem Schriftchen „Zur experi— 
A mentalen Aeſthetik“ (Leipzig, 
Hirzel, 1871) und in ſeiner „Vorſchule 
der Aeſthetik“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 
1876) eine ſowohl für den Philoſophen 
wie für den Künſtler bedeutungsvolle Car— 
dinalfrage, von neuen Geſichtspunkten aus— 
gehend, zu löſen verſucht, die Frage näm— 
lich: Ob es möglich ſei, eine Grundform 
der Schönheit aufzuſtellen; ob es ein 
Größenverhältniß gebe, welches in der 
Anſchauung als ein an ſich äſthetiſch Werth— 
vollſtes vor Anderen vorzuziehen ſei; ob 
mit einem Wort eine Schönheit an ſich, 
eine Schönheit à priori exiſtire? 

Die Künſtler ſtellten meiſtens als einen 
Fundamentalſatz die Behauptung auf, ab— 
geſehen von Rückſichten der Verwendung 
ſei jedes Verhältniß äſthetiſch gleichgültig; 
Kant, Schiller, Herbart dagegen 
glaubten die Schönheit gerade von jeder 
Rückſicht auf die Verwendung der Verhält— 
niſſe befreien zu müſſen, um ſie in ihrer 
vollen Reinheit zu gewinnen. Fechner 


nun iſt der Ueberzeugung, dieſe Kernfrage 
müſſe auf experimentellem Wege der Löſung 
näher gebracht werden. Fechner verwirft 
die früheren Verſuche, eine ſolche abſolute 
Schönheitsform, Schönheitslinie, ein Schön— 
heitsverhältniß feſtzuſtellen, indem fie auf 
Grund falſcher Vorausſetzungen gemacht 
worden ſeien. 

Daß der Kreis die Linie abſoluter 
Vollkommenheit, die Kugel die abſolute 
Schönheitsform, Quadrat und gleichſeitiges 
Dreieck die ſchönſten Figuren, die fünf 
ſtereometriſch regelmäßigen die ſchönſten 
Körper ſeien, daß endlich das Verhältniß 
1:1 oder 1: 2 allen anderen vorgezogen 
werden müſſe, wird ſtets denen am ein— 
leuchtendſten ſein, welche von dem Vor— 
urtheil befangen ſind, die Schönheit müſſe 
in der Einfachheit liegen; die genaunten 
Formen, Figuren, Verhältniſſe entſprechen 
dieſer Anforderung an die Schönheit voll— 
ſtändig. Wer hingegen die Schönheit durch 
die Einheit in der Mannigfaltigkeit for— 
mulirt wiſſen will, dem werden die Ellipſe, 
die Spirale, ein dreiachſiges Ellipſoid, ein 
complicirteres Verhältniß, wie z. B. das— 


Kosmos, Band II. Heft 3. 


— 


EUR 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


202 


jenige des goldenen Schnittes, als voll— 
kommenſte Principien der Schönheit gelten 
können. 
anſichten gegründeten Hypotheſen über das 
allgemeine Schönheitsprincip wendet ſich 
Fechner, indem er durch das Experiment 
erſt die Gültigkeit dieſer Hypotheſen be— 
wieſen haben will. 
klar, daß, wenn es ein ſolches abſolutes 


Princip der Schönheit gäbe, daſſelbe über- 


all dann nachweisbar ſein müßte, wenn 
wir ein äſthetiſches Urtheil durch das Prä— 
dicat ſchön fällen; in der Natur- wie in 
der Kunſtſchönheit müßte dieſes Grund— 
princip ſich entdecken laſſen und Zeiſing 
glaubte, in dem Verhältniß des goldenen 


Schnittes dieſes geheimnißvolle Grundprin- 
Das Ber- | 


cip wirklich entdeckt zu haben. 
hältniß vom goldenen Schnitt, welches wir 
zukünftig, wie Fechner gethan, durch das 
Zeichen © abkürzungshalber ausdrücken 


wollen, bedeutet bekanntlich, daß ſich der klei 
nere Theil (minor) einer Ausdehnung zum 


größeren (major) verhalten ſolle wie dieſer zur 
Summe beider; in eine Formel ausgedrückt 


b 
würden wir jagen; — =, in 
en 1 jagen: , ap: in 
Zahlen 1 11803 Zeiſing 


legt dieſem Verhältniß einen wahrhaft un— 
endlichen Werth bei und ſucht in der Kunſt 
aller Zeiten und Völker, in den Natur— 
gebilden und Naturwiſſenſchaften, in der 
Geſtaltung der Erde und der Bewegung 
der Sterne nach Beiſpielen der Verwend— 
ung dieſes Princips. Wo die Wirklichkeit 
einmal nur in grober Annäherung auf 
das Verhältniß vom goldenen Schnitt paßt, 
da nimmt Zeiſing zu dem, wie Fech— 
ner ſagt, bis zu gewiſſen Grenzen freilich 
zuzugeſtehenden Satze ſeine Zuflucht: „Daß 
überhaupt die realen Erſcheinungen die Idee 
nie ganz erreichen und gewiſſe Abweichun— 


So viel iſt jedenfalls 


gen ſogar nothwendig werden, wenn der 


Gegen dieſe auf theoretiſche Vor- 


innere Reichthum der Idee in mannigfacher 
Erſcheinung zu Tage treten ſoll.“ 
Fechner ſagt dagegen: Wie kann ein 
Verhältniß überhaupt noch als ein Ideal— 
Verhältniß der Wohlgefälligkeit gelten, wenn 
Abweichungen von ihm es an Wohlgefäl— 
ligkeit übertreffen? Fechner ſagt ferner, 
es ſei ſehr zu verwundern, daß ein Prin— 
cip, welchem Zeiſing eine ſo außerordent— 
liche Bedeutung zuſchreibt, ſeither Jeder— 
mann verborgen bleiben konnte. Fügen 
wir bei, wenn Zeiſing Recht hätte be— 
halten wollen, ſo hätte er doch alle anderen 
denkbaren Verhältniſſe von 1 zu einer an— 
deren Größe, als eben im Weltall weniger 
oft vorkommend als das Verhältniß vom 
goldenen Schnitt, nachweiſen müſſen, und 
das wäre ihm wohl ebenſo wenig gelungen, 


als das Problem, den goldenen Schnitt 
als in den meiſten Fällen verwendet zu 


conſtatiren. 

Fechner verlangt mit Recht, daß man 
das Grundprincip der Schönheit zunächſt 
nur auf die Schönheit in der Anſchauung 
beziehen ſolle, denn man dürfe nicht a priori 
ein muſikaliſch als wohlgefälligſt erklärtes 
Schwingungsverhältniß auch als ein in der 
Anſchauung am günſtigſten Erſcheinendes an— 
nehmen. Selbſtverſtändlich darf die Er— 
forſchung dieſes Grundprincips der Schön— 
heit nicht auf den Vergleich von Qualitäten 
und Intenſitäten der Temperatur, des Ge— 
ruchs, Geſchmacks und Taſtgefühls ausge— 
dehnt werden, die wir ja an und für ſich 
aus dem Bereich des Schönen in das des 
Angenehmen verweiſen. Auch geſteht Fech— 
ner höheren philoſophiſchen Geſichtspunkten 
kein Recht zu, ohne Weiteres als Ausgangs— 
punkte zur Auffindung des geſuchten Schön— 
heitsprincips zu dienen. 

Was nun die Feſtſtellung des Schön— 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 203 


heitsprincips mittelſt praktiſcher Verſuche 
anbelangt, ſo läßt ſich an einem concreten 
Fall am beſten erläutern, worin ſeither 
Fehler gemacht wurden; man ſuchte z. B. 
das Princip der formalen Wohlgefälligkeit 
vom menſchlichen Körper abzuleiten, wählte 
alſo als Unterſuchungsobjekt ein zu Com— 
plicirtes, welches nicht blos durch die 
Erſcheinung der Form, ſondern auch aus 
anderen, außerhalb der Form liegenden 
Gründen wohlgefällig erſcheint. Man 
wählte anſtatt des rein formellen menſch— 
lichen Körpers, wie er uns in den Werken 
der Plaſtik vor Augen tritt, als Unter— 
ſuchungsobjekt den wirklichen Menſchen, alſo 
die nicht unter den einfachſten Bedingungen 
angeſchaute Form. Der menſchliche Körper 
iſt an und für ſich ungeeignet zur Ableit— 
ung eines einfach formulirten Schönheits— 
princips, weil ſeine Abtheilungen zu wenig 
Beſtimmte ſind, um ihre Dimenſionen mit 
Ausſchluß jeder Willkür oder Anlegung 
eines Maßſtabes genau zu gewinnen und 
auf Grund ſicherer Maße die Verhältniſſe 
zu prüfen. 

Will man von Erfahrungsreſultaten 
das Schönheitsprincip ableiten, ſo muß 
man die Verſuche 1) mit einfachen Objekten 
vornehmen, z. B. mit einem Rechteck oder 
Parallelepipedon, 2) man muß das Objekt 
als reine Form der Unterſuchung zu Grunde 
legen, d. h. alſo von jedem Zweck abſtra— 
hiren, dem es im Leben dienen ſoll und 
kann, von jedem Stoff, in welchem wir 
es anzuſchauen gewohnt ſind; man muß 
mit einem Worte die direkte Wohlgefällig— 
keit des Unterſuchungsobjekts im Auge ha— 
ben und von jeder Steigerung oder Min— 
derung derſelben durch aſſociative Vorſtell— 
ungen ganz abſehen. Will man die reine 
Wohlgefälligkeit des Verhältniſſes 
Rechteckes im Vergleich mit anderen prüfen, 


eines 


ſo darf man demnach nicht an ein Buch 
oder eine Thür denken, zu welchem wir es 
verwendet, nicht daſſelbe als eine Platte 
von Gold, Holz, Marmor unterſuchen, in 
welchen Stoffen es zur Erſcheinung kommt, 
ſondern man muß auf die reine Form oder 
das Verhältniß ſeine Aufmerkſamkeit richten. 
Man muß drittens ohne Vorurtheil und 
Vorausſetzung den Verſuch beginnen, man 
darf nicht experimentiren, um das ſchon 
zum Voraus angenommene Princip bewei— 
ſen zu wollen, ſondern das Princip ſoll 
ſich erſt aus der Unterſuchung ergeben. 5 

Nach Aufſtellung dieſer Grundſätze, 
nach welchen die Experimente vorgenommen 
werden ſollen, beſpricht Fechner in ſeiner 
Vorſchule der Aeſthetik die Einwürfe, welche 
gegen die Nützlichkeit ſolcher Experimente 
erhoben werden können. 

Den Einwurf, daß ſelbſt die iſolirt 
vorgeſtellten oder angeſchauten Verhältniſſe 
und Formen, welche in dieſer Weiſe äſthe— 
tiſch am vortheilhafteſten erſcheinen, in ihrer 
Verwendung, in ihrer relativen Lage zu 
anderen Verhältniſſen und Formen dieſes 
Vortheils verluſtig werden könnten, daß 
ſomit die an ſich wohlgefälligſten Formen 
und Verhältniſſe in ihrer Anwendung ſich 
nicht feſthalten ließen, widerlegt Fechner 
nach Vorausſchickung einiger Beiſpiele in 
vier Sätzen. 

Als Belege für obigen Einwurf führt 
er an, ein Kreis in einem Quadrat ge— 
zeichnet ſei wohlgefälliger, als ein um ein 
Quadrat gezeichneter; ein Kreis paſſe beſſer 
wie eine Ellipſe in ein Quadrat, eine 
Ellipſe beſſer als ein Kreis in ein Rechteck. 
Wenn Fechner aber von dieſen Beiſpielen 
ausſagt (Experimental-Aeſthetik), dieſes 
Mehr oder Weniger der Wohlgefälligkeit 
ſei ganz unabhängig von Nebenvorſtellungen 


und ergäbe ſich aus der reinen Anſchauung, 


204 Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


ſo ſcheint er unſeres Erachtens zu irren. 
An dieſe einfachen Figuren des Kreiſes 
oder Quadrats, der Ellipſe oder des 
Rechtecks knüpfen ſich bei ihrer Zuſammen— 
ſtellung neue Vorſtellungen des Berührens 
und Durchſchneidens, alſo ſolche, welche 
Fechner als aſſociative Faktoren im Ge— 
ſammteindruck bezeichnet. Die Tangente hat 
in ihrem Berührungspunkt mit einer Curve 
auf einen Moment, in einem keeinſten 
Theil der Linie, eine Gemeinſamkeit mit 
dem Bildungsgeſetze der Curve, die Stetig— 
keit der Krümmung geht hier in eine an— 
dere von unendlich großem Radius über. 
Anders die Linie, welche die Stetigkeit der 
Curve unterbricht, momentan hemmt, ihrem 
Bildungsgeſetz alſo widerſpricht. Drei Punkte 
der Curve fallen mit drei Punkten der 
Tangente faſt zuſammen, wenn die Abſtände 
der Punkte unendlich klein ſind; ſie fallen 
ganz zuſammen, wenn der Krümmungs— 
halbmeſſer der Curve unendlich groß wird. 
Das Quadrat, welches vom Kreis um— 
ſchrieben iſt, trifft deſſen durch die Eckpunkte 
gezogene Tangenten unter Winkeln von 
450, daran wird nichts geändert, wenn 
man auch den Halbmeſſer des Bogens un— 
endlich klein oder groß annimmt. 

Der oben erwähnte Einwurf, ſowie 
ein anderer, welcher Fechner gemacht 
wurde, daß nämlich Bildungszuſtand, Alter, 
Geſchlecht und Individualität das äſthetiſche 
Urtheil beeinfluſſen werden, ſomit alle Ex— 
perimentirungsverſuche in Frage ſtellen 
müſſen, iſt ihm nur ein Sporn, die Sache 
ſelbſt möglichſt zu klären, um das Princip 


reiner zu gewinnen. 

Blicken wir uns in dem Zimmer um, 
in welchem wir uns gerade befinden, ſo 
ſehen wir bei Allem, was zur Verwendung 
gekommen, gewiſſe Formen und Verhältniſſe 


dominiren, indem ſie die Hauptgeſtalt, das 
Hauptverhältniß der Objekte beſtimmen: ſie 
veranlaſſen uns, unſere Aufmerkſamkeit vor 
Allem auf das Ganze zu richten und die 
Einzeltheile zunächſt außer Acht zu laſſen, 
ebenſo wie die nicht zum Gegenſtand ge— 
hörige Umgebung. Bald ſehen wir die 
Gegenſtände von dieſer losgetrennt, wie die 
Bilder und Spiegel durch einen Rahmen, 
bald ſehen wir ſie als Mobilien ihren 
Platz und damit ihre Umgebung ändern, 
bald ſchaffen wir ihnen, z. B. den Kunſt— 
werken, eine gleichgültige Umgebung, damit 
die Sache ſelbſt deſto reiner zur Wirkung 
komme. Da die Wohlgefälligkeit durch den 
Einfluß der Umgebung auf die Zuſammen— 
ſtellung von Formen und Verhältniſſen 
geändert wird, ſo werden wir gezwungen, 
ſtets die größtmögliche Wohlgefälligkeit her— 
zuſtellen, alſo unter der unendlichen Anzahl 
möglicher Combinationen von Formen und 
Verhältniſſen die günſtigſten auszuſuchen; 
daraus ergiebt ſich aber die Aufgabe, nach 
den Urſachen und Bedingungen zu forſchen, 
welche das Endreſultat, die wohlgefälligſte 
Wirkung, hervorgebracht haben; wir ent— 
decken damit die Geſetze des Wohlgefälligſt— 
wirkenden, wir lernen den äſthetiſchen 
Mittelpunkt ſo zu ſagen kennen, in wel— 
chem ſich, dem Schwerpunkt einer Maſſe 
vergleichbar, die Fähigkeit einer Combina— 
tion von Formen und Verhältniſſen, äſthe— 
tiſch zu wirken, concentrirt. Oder anders 
ausgedrückt, wir finden gleichſam die Aſſym— 
ptote als einer Grenzlinie, das Ideal, 


welchem ſich die Schönheit der zu unter— 


der Schönheit in der Anſchauung deſto ſuchenden Combinationen nähert, oder von 


welchem ſie ſich entfernt, wir finden die 
Maxima und Minima, die höchſten und 
niedrigſten Grade ihrer äſthetiſchen Werthe 
in Bezug auf eine feſte Norm ihrer Be— 
urtheilung. Der Erwachſene von höherer 


i ) 


::.. — A a nn 


und mittlerer Bildung wird uns bei der 
Unterſuchung ſolcher Verhältniſſe im All— 
gemeinen als der Urtheilsfähigſte gelten. 
Das etwa ſind Fechner's Einwend— 
ungen zur Widerlegung der Widerſprüche 
gegen den Werth der äſthetiſchen Experi— 


Controlirens mancher äſthetiſcher Anſichten, 
Behauptungen, Theorien zuertheilen will, 
als daß er ſich von ihnen einen beſondern 
praktiſchen Gewinn verſpricht; denn dem 
Gefühl des Künſtlers traut er unter allen 
Umſtänden die größte Sicherheit in der 
Beurtheilung einzelner Fälle zu. 

Sehen wir nun einmal zu, wie Fech— 
ner experimentirt und was ſich aus den 
Experimenten ergab. Nach ihm ſind drei 
verſchiedene Methoden des Experimentirens 
möglich: Entweder man läßt viele Perſonen 
zwiſchen den hinſichtlich ihrer Wohlgefällig— 
keit zu vergleichenden Formen oder Form— 
verhältniſſen wählen, oder man läßt das 
nach ihrem Geſchmack Wohlgefälligſte durch 
ſie ſelbſt herſtellen, oder endlich, man mißt 
im Gebrauch vorkommende Formen und 
Verhältniſſe und ſucht die Gründe ihrer 
Wohlgefälligkeit im Vergleich mit den ge— 
wonnenen Zahlenwerthen zu erforſchen. 

Fechner dehnte ſeine Unterſuchungen 
zunächſt auf drei einfache und zugleich 
leichtverſtändliche Beiſpiele von Formen 
und Verhältniſſen aus: 

1. Auf die Theilung einer geraden 
Linie in zwei Theile; 

Auf die Figur des Kreuzes; 

3. Auf das Rechteck und deſſen eigen— 

thümlichſtes Specimen, das Quadrat. 

Die Frage iſt im erſten Falle: Iſt die 
Gleichtheilung der Geraden vortheilhafter 
oder äſthetiſch weniger günſtig als jede 
andere, und wenn das Letztere der Fall 
iſt, wo liegt das äſthetiſch Centrum, wel— 


1 
. 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


mente, welchen er mehr die Rolle des 


205 


ches Theilungsverhältniß iſt das günſtigſte? 
Im zweiten Falle handelt es ſich um das 
gleicharmige oder ungleicharmige Kreuz; iſt 
das zweite äſthetiſch günſtiger wie das erſte? 
und, falls man bejahend antwortet, welches 
ungleicharmige Kreuz iſt das Schönſte? 

Endlich drittens, iſt das Quadrat oder 
ein anderes Rechteck das Schönſte, und 
zwar, welches iſt das Wohlgefälligſte? 

Die Endergebniſſe von Fechner's 
Unterſuchungen ſind, kurz geſagt, folgende: 

1. Die horizontale Gerade ſieht ſym— 
metriſch getheilt, alſo halbirt, am vortheil- 
hafteſten aus. Die Theilung der Verti— 
calen konnte nicht ſo vorgenommen werden, 
daß ſich ein äſthetiſches Maximum ergeben 
hätte, die Beantwortung der Frage blieb 
unbeſtimmt in Bezug auf die Verticale. 

2. Ueber das gleicharmige Kreuz ſpricht 
ſich Fechner nicht aus; bei dem ungleich— 
armigen iſt dasjenige Verhältniß das beſte, 
bei welchem der Querbalken ſich zum Längs— 
balken wie 1: 2 verhält. 

3. Unter den Rechtecken iſt das Qua— 
drat das ungünſtigſte von allen; ebenſo 
ſind die ſehr langen Rechtecke äſthetiſch un— 
vortheilhaft. Ja ſogar ſcheint es, daß das 
Quadrat ſelbſt von den ihm zunächſt ſtehen— 
den Verhältniſſen an Schönheit überboten 
wird. 

Das günſtigſte Verhältniß iſt beim 
Rechteck dasjenige des goldenen Schnittes, 
bei welchem ſich alſo die kleinere Seite zur 
größeren verhält wie dieſe zur Summe beider. 

Ein weiteres Ergebniß der Unterſuch— 


ungen Fechner's war dasjenige, daß 
unter allen Vierecken das Rechteck am 


wohlgefälligſten iſt, und daß jedes geringe 
Abweichen vom Parallelismus der Seiten 
unvortheilhafter iſt als ein noch beträcht— 
licheres Abweichen vom goldenen Schnitt— 
Verhältniß. 


Mit der Unterſuchung der Rechtecke 
verfuhr Fechner auf folgende Weiſe: 

Um ſtets die relative Lage der Nedt- 
ecke zu einander wechſeln zu können, ſchnitt 
er zehn Cartonblätter aus; damit die Farbe 
keinen Einfluß auf die Wahl ausüben könne, 
damit ferner jede ſonſtige Täuſchung ver— 
mieden werde, verwendete Fechner weißen 
Carton und gab den Blättern genau den— 
ſelben Flächeninhalt, welcher einem Quadrat 
von 80 Millimeter Seite entſprach. Dieſe 
den Experimenten zu Grunde gelegten Recht— 
ecke hatten die Seiten-Verhältniſſe: 1:1 
(Quadrat), 6: 5; 5: 4; 4: 3; 29:20; 
32% O % 1% ( 

Das goldene Schnitt-Rechteck würde 
nahezu dem Werthe 34: 21 entſprechen. 

Mit dieſen Rechtecken wurde während 
mehrerer Jahre in der Weiſe operirt, daß 
verſchiedenen Perſonen die in beliebiger und 
bei jedem Verſuch wechſelnder Lage auf einer 
ſchwarzen Tafel ausgebreiteten Rechtecke zur 
Auswahl vorgelegt wurden mit dem Er— 
ſuchen, ſich über das ihnen am wohlgefäl— 
ligſten oder häßlichſten erſcheinende Verhält— 
niß auszuſprechen. 

Da es Fechner um ein Durchſchnitts— 
urtheil als desjenigen der Wahrheit ſich 
wohl am meiſten nähernden zu thun war, 
ſo wurden die Rechtecke nur Perſonen aus 
den gebildeten Ständen und von reiferem 
Alter aber von verſchiedenſtem Geſchmack, 
verſchiedenſtem Charakter und verſchieden— 
ſtem Lebensberuf vorgelegt; die Urtheile 
ſeitens des männlichen und weiblichen Ge— 
ſchlechts wurden getrennt verzeichnet und 
ſummirt, um die Verſuchsergebniſſe in Pro— 
centſätzen auszudrücken. 

Fechner theilt in einer Tabelle die 


ſehr merkwürdigen Reſultate ſeiner Expe- 


rimente mit, zugleich berichtet er aber auch 
über das Verhalten der Perſonen den Ver— 


206 Redtenbacher, Zur Elementar -Aeſthetik. 


ſuchen gegenüber, welches mir zum Voraus 
entſcheidender zu fein ſcheint als die Zahlen— 
werthe der Tabelle ſelbſt: „Die Meiſten 
erklärten von vornherein, je nach der Ver— 
wendung könne dieſes oder jenes Rechteck 
das wohlgefälligſte ſein.“ 

Dieſes erſte Majoritätsurtheil ſpricht 
ſomit ganz entſchieden gegen die Bevorzug— 
ung des goldenen Schnitt-Verhältniſſes. 

Auch auf die von Fechner geſtellte 
Frage, ob die Perſonen nicht, ganz abge— 
ſehen von jeder Rückſicht auf Zweck und 
Bedeutung, eines dieſer Rechtecke wegen ſeiner 
Seitenverhältniſſe bevorzugen würden, lau— 
tete das Majoritätsurtheil im gbeichen Sinne 
wie das frühere: „Entweder Alle oder 
die größere Mehrzahl verweigerten hienach 
ein Urtheil, weil kein Unterſchied zu finden 
ſei.“ 

Alſo iſt das Durchſchnittsurtheil auch 
bei der Gegenprobe zu Ungunſten der An— 
nahme gefällt worden, daß es ein abſolut 
wohlgefälligſtes Verhältniß gäbe, und die 
Verweigerung eines Urtheiles oder die Be— 
hauptung, die Verwendung des Rechteckes 
entſcheide über ſeine Wohlgefälligkeit, be— 
ruhte ohne Zweifel nicht auf einer Vor— 
eingenommenheit zu Gunſten eines Dogma, 
ſondern ſie war eben die naturgemäßeſte 
Antwort auf die geſtellte Frage. 

Wie konnte nun Fechner zu den früher 
angegebenen Verſuchsreſultaten gelangen, 


nachdem doch die Majorität ſich ganz an— 


ders entſchieden hatte, als er dort ſagte? 
Fechner theilt mit, der Reſt der Per— 
ſonen, welcher ein beſtimmtes Bevorzugungs— 
urtheil zu Gunſten eines der zehn Rechtecke 
gefüllt habe, habe ſich ihnen gegenüber ſo 
eigenthümlich verhalten, daß die Ordnung 
in der Reihenfolge der Bevorzugungen keine 
zufällige ſein könne. Uns will nun ſcheinen, 
als ſeien die Experimente nicht vollſtändig 


— — T 


Redtenbacher, Zur Elementar-Aeſthetik. 


genug gemacht worden, und als ließe ſich 
aus Fechners Tabelle gerade das Gegen— 
theil von dem herausleſen, was er gefunden 
haben will. Er müßte das Gegenexperiment 
machen und tauſenden von Perſonen das 
Rechteck vom goldenen Schnitt mit der Be— 
hauptung vorlegen, es ſei von allen Recht— 
ecken das Schönſte; das Ergebniß der 
Zuſtimmung oder des Widerſpruchs müßte 
mit entſcheiden, ob die erſten Verſuche richtig 
waren. 

Geſetzt den Fall, daß die Summe der 
Vorzugsurtheile bei weiblichen wie männ— 
lichen Perſonen unbedingt dem goldenen 
Schnitte ſich zuwende, die Summe, der Ver— 
werfungsurtheile dem Verhältniß 1: 1 oder 
5: 6 entſpräche, wer bürgt uns denn dafür, 
daß unſer ſo gewonnenes Reſultat ein ſolches 
von abſoluter Giltigkeit ſei? Denkbar wäre 
es ja an ſich ſchon, daß, die Möglichkeit 
vollſtändiger Experimente vorausgeſetzt, für 
verſchiedene Zeiten und Völker ſich ver— 
ſchiedene Geſchmacksnormen ergäben; viel— 
leicht würde für verſchiedene Städte eines 
Landes, für verſchiedene Berufsleute in einer 
Stadt, für verſchiedene Arbeiter eines Be— 
rufs ein anderes Normalrechteck als das 
ſchönſte gelten, und das wäre um ſo eher 
möglich, da ja eine abſolute Abſtraktion 
der Anſchauung von Nebengedanken kaum 
gefordert werden kann. Fechner theilt 
ja ſelbſt in ſeiner Experimentaläſthetik mit, 
die Leute hätten ſtets bei Auswahl eines 
Rechteckes an ein Buch, eine Thür, ein 
Kartenblatt, einen Pfefferkuchen ꝛc. gedacht, 
und es ſei ihnen ſchwer gefallen, die reine 
Form zu prüfen, von jeder Verwendung 
derſelben zu abſtrahiren. Auch ſcheinen 
mir gerade die nebenſächlichen Ergebniſſe 
von Fechners Verſuchen ſehr ſchwer— 
wiegend zu ſein, um den Werth der Tabelle 
zweifelhaft zu machen oder beſſer geſagt, 


207 


ihr eine andere Auslegung aufzunöthigen. 
Die Nebenreſultate feiner Experimente faßt 
Fechner mit folgenden Worten zuſammen: 
„Fräulein A. V., von ſehr gutem Ge— 
ſchmack nannte unter Bevorzugung von O 
die beiden längſten Rechtecke 2:1 und 6:5 
„„leichtſinnige Formen““ und erklärte das 
kurze 6: 5, indem fie es ſolidariſch mit 
jenem verwarf, für „„gemein.““ An dem— 
ſelben Rechtecke wurde mehrfach getadelt, 
daß es faſt wie ein Quadrat ausſehe und 
doch keins ſei; ja der blinde Herr von 
Ehrenftein nannte es nach Anleitung des 
Taſtgefühls eine „„heuchleriſche Form““. 

Was nun das Urtheil des Fräuleins von 
ſehr gutem Geſchmack anbelangt, ſo iſt das— 
ſelbe zwar recht geiſtreich, aber wer kann 
verſtehen, was das Fräulein eigentlich ſagen 
wollte? Oder ſollte ich der Einzige ſein, 
dem es nicht gegeben iſt, den Sinn dieſer 
dunkeln Worte zu errathen? 

Das Urtheil des Herrn von Ehren— 
ſtein iſt kein Geſchmacks-, ſondern ein Taſt— 
urtheil, welches hier gar nicht in Betracht 
kommt; für das Taſtgefühl beiſpielsweiſe 
wird vielleicht die Formvollendung eines 
dreiachſigen Ellipſoides auf einem anderen 
Achſenverhältniß beruhen, als für die An— 
ſchauung. 

Was das mehrfach getadelte Rechteck 
5: 6 anbelangt, ſo pflegen wir ferner 
allerdings das Ideal über jede Annäherung 
an daſſelbe zu ſtellen; in der Kunſt ſind 
ſolche Annäherungswerthe wie 5: 6 anſtatt 
1:1 indeſſen kaum entbehrlich, ja ſogar 
oft willkommen, um beſondere Wirkungen 
zu erzielen; ſo z. B. paßt ein Spitzbogen, 
der ſich ſehr ſtark dem Halbkreis nähert, für 
ein Feſtungsthor oder einen Tunnel ſehr gut 
und ſieht pikanter aus, als der Rundbogen. 
Stichbogen, welche faſt dem Halbkreis gleich— 


kommen, wirken in der Architektur ſehr un— 


‚•I/ r m 


günſtig, ſehr flache dagegen, welche ſich wenig 
von der geraden Linie entfernen, können einem 
Brückenbogen, einer Fenſterüberdeckung den 
Charakter elaſtiſchſter Spannung verleihen. 
Die feineren Nuancen von einfachen Formen 
und Verhältniſſen ſpielen bei den Maß— 
werken des gothiſchen Bauſtiles eine ſehr 
wichtige Rolle, und an ſolchen wie anderen 
Architekturformen läßt ſich ſo recht erkennen, 
wie gefährlich für das äſthetiſche Urtheil 
| jedes eigenſinnige Feſthalten an einem Dogma 
wird. 

Wie Fechner weiter mittheilt, ſagte 
Buchbinder Wellig, unter ſchwankendem 
Vorzug zwiſchen O und 23: 13, von den 
kürzeſten Formen 1: 1, 6: 5, 5:4, 4: 3, 
„ſie hätten kein Verhältniß.“ Dieſer Mann 
hat ohne Zweifel an Bücher gedacht, als 
er ſein Geſchmacksurtheil fällte; quadratiſche 
Bücher find häßlich; 6: 5, 5: 4, 4:3 
eignen ſich für Salonwerke, die auf den 
Tiſch gelegt werden, nicht ſchlecht. Goldener 
Schnitt und 23: 13 paſſen ſicherlich ſehr 
gut zu Oktavbänden; Wellig hatte es 
wohl meiſtentheils mit ſolchen zu thun. 
„Eine Dame zog das Verhältniß 2: 1 vor, 
„„weil es ſo ſchön ſchlank ſei““. Der 
goldene Schnitt wurde von mehreren Per— 
ſonen bei der Bevorzugung für das „„no— 
belſte““ Verhältniß erklärt.“ Soweit 
Fechner. 

2: 1 ſchlank zu nennen, will mir nicht 
ganz behagen; offenbar hätte dieſelbe dann 
dieſes Verhältniß zu „corpulent“ genannt, 
wenn man ihr auch Rechtecke von größeren 
Verhältniſſen vorgelegt hätte als 2 
e n . f. 

Zu Notizbüchern und Viſitenkarten paßt 
das goldene Schnittverhältniß recht gut; 
Letztere mögen mehrere Perſonen wohl im 
Auge gehabt haben, als ſie O für „nobel“ 
erklärten. Eine Viſitenkarte von 6400 U 


% . 


Redtenbacher, Zur Elementar -Aeſthetik. 


Millimeter Flächeninhalt und dem O Ver— 
hältniß hat allerdings etwas ſehr Nobles, 
beſonders wenn eine hübſche Grafenkrone und 
ein langer Name mit allerlei Prädicaten 
daraufſteht. 

Alle dieſe, von Fechner mitgetheilten 
und einigermaßen ſeitens der gefragten Per— 
ſonen begründeten Urtheile ſcheinen doch 
darauf hinzudeuten, daß die betreffenden 
Leute ſich von allerlei Nebengedanken nicht 
frei zu machen wußten. 

Um noch einmal auf meine frühere 
Behauptung zurückzukommen, Fechners 
Verſuche ſeien nicht vollſtändig genug ge— 
weſen, um ein die Kernfrage entſcheidendes 
Endergebniß zu gewinnen, ſei doch noch 
daran erinnert, daß Fechner über das 
Verhältniß 2: 1 nicht hinausging. 

Die Experimentaläſthetik müßte, um 
ganz ſicher zu ſein, unterſuchen, ob unter 
den Rechtecken, welche über dem Verhältniß 
2:1 liegen, noch bedeutende Bevorzugungen 
möglich ſind, welche, ähnlich wie es beim 
goldenen Schnitt-Verhältniß der Fall iſt, 
ſich durch eine einfache Formel ausdrücken 
laſſen. 

Was würde man denn gegen die Auf— 
faſſung einwenden können, daß das Quadrat 
und das O Rechteck als Grenzwerthe zu 
betrachten ſeien, jenes als ein Minimum, 
dieſes als das erſte Maximum unter einer 
Reihe Anderer, welche ſich zwiſchen dem 
Verhältniß 1: 1 und unendlich: 1 auf— 
finden ließen? Wäre es nicht möglich, 
daß dem 1: 1 und dem Verhältniß 


a 777 
ee drittes äſthetiſch günſtigſtes 
Verhältniß entſpräche nach der Formel 
amt 5 alſo — 3 wo 7 die 
TU Tr TU T 

& 


Ludolph'ſche Zahl bedeutet; ein Rechteck, 


3 


Redtenbacher, Zur Elementar = Vejthetif. 


deſſen größere Seite, verglichen mit der 
Kleinere, ſich wie 1415. 1 .ver- 
hält, könnte ja ſehr wohl als äſthetiſch 
vortheilhafter erſcheinen als ein anderes 
vom Verhältniß 3: 1. Dieſe Gleichung 
hätte ja eben ſoviel Eigenartiges wie die 
Gleichung vom goldenen Schnitt. 

Frägt man ſich einmal, ob denn Fech— 
ners ſo einfache Unterſuchungsbeiſpiele wirk— 
lich ſolche ſind, welche mit Ausſchluß irgend 
welcher Nebengedanken eine äſthetiſche Be— 
urtheilung erfuhren; frägt man ſich, ob ſie 
nicht ſchon von ſelbſt zu Vorurtheilen ver— 
leiten, die das äſthetiſche Urtheil beeinfluſſen, 
ſo ſteigen gar bedenkliche Zweifel in die 
Zuverläſſigkeit der Experimente und ihre 
Ergebniſſe auf. 

Wenn wir auf dem Papier eine horizon— 
tale Linie halbiren, ſo theilen wir ſie ſo, 
daß die Vorſtellung eines Gleichgewichtes 
der Theile in Bezug auf den Theilungs— 
punkt durch eine Figur veranſchaulicht wird. 

Wir können zwar dieſe zweite Vor— 
ſtellung eines Gleichgewichtes von der erſten 
einer Gleichtheilung der geraden Linie im 
Geiſte trennen, nicht aber in der Anſchau— 
ung; die unvortheilhafte Erſcheinung der 
ungleichen Theilung einer Linie wird ferner 
ebenſo aufgehoben, ſobald wir uns an 
ihren Enden verticale Linienkräfte verſinn— 
bildlichen, welche das Gleichgewicht in Be— 
ziehung auf den Theilungspunkt herzuſtellen 
im Stande ſind, wie wir ja auch in der 
Architektur keine abſolute Symmetrie, wohl 
aber ein Gleichgewicht der Maſſen verlan— 
gen, um dem äſthetiſchen Urtheil zu genügen. 
Die ungleiche Theilung einer Verticalen 
wird uns ſtets als das Bild eines Stabili— 
lätsverhältniſſes erſcheinen und dann beſſer 
wirken als die indifferente Gleichtheilung, 
falls nicht durch das Ueberwiegen des Ober— 
theiles die Vorſtellung von einem Ueber— 


a 


209 


gewicht, einem labilen Zuſtand hervorge— 
rufen wird, was in der Kunſt auch berechtigt 
ſein kann. Wird ein Kreuz unrichtig ge— 
theilt, ſo geht eben die ganz beſtimmte 
Vorſtellung eines Kreuzes verloren, und 
deshalb verwerfen wir dieſe Figur. 
Fechner ſtellte ſich die Aufgabe, in 
ein Rechteck von beliebigem Verhältniß drei 
ſich rechtwinklich oder unter 45 ſchneidende 
Linien ſo zu verzeichnen, daß ſie ein richti— 
ges Verhältniß haben; um eine direkte An— 
wendung des Problems zu geben, möge 
es in die Form gefaßt ſein: ein Steinmetz 
von künſtleriſch gebildetem Auge wolle ſein 
Steinmetzzeichen auf einem Quaderſtein ſo 
anbringen, daß es am wohlgefälligſten er— 
ſcheine. Hier richtet ſich das Theilungs— 
verhältniß vollſtändig nach der Figur des 
Rechteckes; die Abſtände der Endpunkte der 
Linien von der Contour desſelben ſpielen eine 
ebenſo wichtige Rolle wie ihr Theilungs— 
verhältniß. Läßt man den einen Quer- 
balken rechtwinklig, den anderen unter 45° 
den Verticalbalken ſchneiden und zeichnet 
das Rechteck parallel zu den normal ſtehenden 
Balken, ſo beurtheilt das Auge nicht nur 
die Theilungsverhältniſſe, ſondern auch die 
getheilte Figur des Rechtecks ſelbſt, und es 
kann der Fall eintreten, daß man, unzu— 
frieden mit dieſer, durch einen an der 
richtigen Stelle angebrachten Punkt das 
mangelhafte Verhältniß corrigirt; der Stein— 
metz von geübtem Auge hätte vielleicht ſtatt 
eines Punktes den Anfangsbuchſtaben ſeines 
Namens auf der Quaderfläche angebracht. 
Setzt man dieſelbe Figur des ebengenannten 
Steinmetzzeichens nicht parallel mit dem 
Rechteck, ſondern ſchief zu demſelben, jo 
verlangt das Auge vielleicht die Markirung 
zweier iſolirter Punkte in der getheilten 
Fläche, damit ein Gleichgewicht der Maſſen 
entſtehe. Läßt man das Rechteck ganz weg, 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


210 


jo iſt die Figur des Steinmetzzeichens dann 
am wohlgefälligſten, wenn eine Harmonie 
der Längen der Theile und der Winkel 
(45 9 ſieht etwas zu ſpitzig aus) in Bezug 
auf eine ſichtbare oder ideale Achſe erzielt 
wird, die durch den Schwerpunkt der Figur 
geht. Bei dieſem Beiſpiel, welches gewählt 
wurde, um von der uns gewohnten Figur 
des Kreuzes ganz zu abſtrahiren, erkennt 
man ſehr bald, ſowie man einige Verſuche 
macht, daß das äſthetiſche Maximum unter 
allen Umſtänden mit den Gleichgewichts— 
verhältniſſen der Maſſen einer abgetheilten 
Figur in Bezug auf eine Axe, beſſer geſagt 
ihren Schwerpunkt, zuſammenfällt. 

An anderen Orten hat Fechner über 
ſeine Verſuche, unter allen möglichen 
Ellipſen diejenige herauszufinden, welche 
uns als äſthetiſch am vollkommenſten gilt, be— 
richtet. Im erſten Augenblick giebt man nur 
zu leicht zu, daß ſehr flachgedrückte Ellipſen 
ſowie ſolche, welche ſich dem Kreis nähern, 
ungünſtiger wirken als eine gewiſſe normale 
Ellipſe, deren Krümmungsänderung ſtetiger 
erſcheint, wie bei jenen. Hier iſt es nun 
offenbar ſehr fraglich, ob denn die Figur 
einer Ellipſe uns in der Anſchauung ohne 
alle Nebenvorſtellungen, als eine reine An— 
ſchauung vorſchwebe, oder ob wir ſie uns 
nicht vorſtellen als Veranſchaulichung eines 
Bewegungsgeſetzes. Denken wir uns zwei 
leuchtende Punkte elliptiſche Bahnen be— 


ſchreiben, welchen verſchiedene Axenverhältniſſe | 
bis dahin und ſpäter ſoviel mit meiner 


entſprechen, und nehmen wir an, daß die 


Wege, welche jeder Punkt in jeder Zeiteinheit 


zurücklegt, alſo die Geſchwindigkeit bei beiden 


Ellipſen und auch bei jeder einzelnen von 


ihnen, conſtant bliebe; würde uns dies 
leuchtende Linienſpiel wohl bei einer flachen 


Ellipſe weniger ſchön erſcheinen, als bei 
der Normalellipſe oder bei einer ſchwachen 


Abweichung vom Kreis? 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


Können wir uns die Ellipſe und ihr 
Spezimen, den Kreis, überhaupt als reine 
Anſchauung vorſtellen oder haben wir nicht 
vielmehr ſtets dieſelben als entſtanden durch 
die Bewegung eines Punktes um einen an— 
deren nach einem beſtimmten Geſetz, als 
entſtanden aus der Durchdringung zweier 
Cylinder, Kegel, Ellipſoide ꝛc. im Auge? 
Die erſte Definition des Kreiſes, welche 
das Centrum als nicht gehörig zu der 
Curve umgeht, die Definition, daß der 
Kreis eine Curve von ſtets conſtant bleiben— 
der Krümmung ſei, enthält ja ſchon die 
Vorausſetzung einer Bewegung. Und können 
wir uns ein Rechteck, um auf dieſes endlich 
zurückzukommen, anders denken als con— 
ſtruirt aus zwei Linienpaaren, welche ſich 
rechtwinklig ſchneiden? 

Reine Anſchauungen, mit welchen die 
Geometrie operirt, beſtehen doch wohl nur 
in der Vorſtellung, aſſociiren ſich aber mit 
anderen, ſowie wir ſie mit dem Bleiſtift 
auf Papier oder in weißem Carton fixiren 
wollen. 

Im Jahre 1872 zeichnete ich zum erſten— 
mal das Rechteck vom goldenen Schnitt auf, 
nachdem mir die Zeiſing'ſche Behauptung, 
dasſelbe ſei principiell das äſthetiſch werth— 
vollſte, ſchon 1868 durch Lotze's Ge— 
ſchichte der Aeſthetik bekannt war. 1868 
hatte ich gerade meine nach allen Richtungen 
hin und bei den beſten Lehrkräften gepflo— 
genen Architekturſtudien beendet, hatte mich 


Kunſt und der Praxis beſchäftigt, daß ich 
mir ſchon einiges Urtheil über das goldene 
Schnitt-Rechteck zutrauen durfte, als ich 
mit ſeiner Conſtruction durch Fechners 
Experimentaläſthetik bekannt wurde. 

Nicht wenig war ich im erſten Augenblick 
über dieſe Figur betroffen, ſie war mir 
ganz neu und ich wußte keine rechte Ver— 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 211 


wendung für ſie, ſie war mir zu neutral. 
Als Verhältniß für Thür oder Fenſter 
war mir das Rechteck nicht ſchlank genug, 
quergelegt als Form eines Atlas oder Oel— 
bildes zu lang, als Zeitungsformat zu 
hoch oder zu niedrig, je nachdem, kurzum 
ich wußte kein Beiſpiel ſeiner direkten Ver— 
wendung, und, ich mochte abſtrahiren von 
Nebenvorſtellungen, ſoviel ich nur wollte, 
es gefiel mir gar nicht. Heute kann ich 
in ihm ebenſowenig als im Quadrat mehr 
als ein neutrales Verhältniß erblicken, ich 
möchte Beide, wenn der Vergleich nicht zu 
gewagt iſt, als Knotenpunkte in einer Reihe 
möglicher anderer Verhältniſſe betrachten, 
die man bei Fechners Experimenten nicht 
als äſthetiſch Vortheilhafteſte betonte, ſon— 
dern eben, wie Fechner verlangt, als 
ſolche, bei welchen Nebenvorſtellungen nur 
in ſehr geringem Maaße ſich geltend machten. 

Es ſei auch mir geſtattet, einige Ver— 
ſuchsreſultate anzuführen. Vor mir liegen 
vier Briefkarten auf dem Tiſch. Die 
holländiſche mißt 122: 87, die franzö— 
ſiſche 120: 80, die ruſſiſche 128 : 86, die 
deutſche 146: 90 mm. 
gefällt mir entſchieden am beſten, die anderen 
ſind mir für eine Briefkarte zu lang im 
Verhältniß zur Breite. Die deutſche Karte 
gefällt mir weniger wie die franzöſiſche 
und die ruſſiſche; zwiſchen dieſen Beiden 
kann ich eine oder keine Entſcheidung treffen, 
je nachdem ich die Vorder- oder Rückſeite 
betrachte. 

Suche ich nach Gründen über 
mein augenblickliches Geſchmacksurtheil, ſo 
muß ich vor Allem entſchieden ſagen, daß 
mir die holländiſche Briefkarte unbedingt 
beſſer gefällt, wie die anderen. Die Karten 
ſind alle beſchrieben, und zwar die hollän— 


dieſes 


diſche und die deutſche der Quere, die an- 


deren der Länge nach. 


Die holländiſche 


Die deutſche Karte iſt aus Mainz zu— 
geſendet; eine Zweite, die ich hier kaufte, 
mißt 91: 144 mm. und gefällt mir auf- 
fallend viel beſſer als die erſtere, ja ſie 
rangirt direkt nach der holländiſchen. Be— 
trachte ich ihre unbeſchriebene Rückſeite, ſo 
kommt mir das Verhältniß unvollkommener 
vor, als das der bedruckten Vorderſeite. 
Die bedruckte, beſchriebene und abgeſtempelte 
Vorderſeite der franzöſiſchen Karte gefüllt 
mir entſchieden beſſer, als die äquivalente 
ruſſiſche, die Rückſeiten derſelben gefallen mir 
beide nicht, ich kann keiner den Vorzug geben. 

Eine Hinneigung zu einem der vier 
Länder kann meine Wahl nicht beeinflußt 
haben, ebenſowenig kann meine Bevorzugung 
aus der Erinnerung an die Adreſſanten 
entſprungen ſein, da ſie mir als Freunde 
ziemlich gleich werth ſind. 

Unterſuche ich, in wie weit ſich die Karten 
dem Verhältniß des goldenen Schnitts 
nähern, ſo ergiebt ſich, daß gerade die 
Karte mir am beſten gefällt, welche ſich 
am weiteſten von ihm entfernt; denn das 
Verhältniß der Karten iſt folgendes: 


holländiſche Karte 122:87 1,42 

ruſſiſche „ 
franzöſiſche „„ 5 
zweite deutſche „ = 141:90 1,56 
erſte deutſche „ 146: 90 1,62 


Die erſte deutſche Karte, welche den 
O nur wenig überſchreitet, gefiel mir weniger 
als die ruſſiſche und die franzöſiſche, welche 
nach der andern Seite hin ſtärker von O 
abweichen; die zweite deutſche Karte gefiel 


mir immer noch beſſer als der goldene 
Schnitt. Der Unterſchied der Vorder- und 


Rückſeite einer und derſelben Karte kommt 
offenbar auf Rechnung einer optiſchen Täu- 
ſchung, inſofern die Linien, die gedruckte 
Aufſchrift und die Briefmarke der Karte 
alſo als aſſo— 


die Anſchauung beeinflußen, 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


ciative Faktoren das Urtheil mit beſtimmen; jo müßte ihre Größe und Dicke eine an— 


ſonſtige angeführte Differenzen meines Ge— 
ſchmackurtheils wurden theilweiſe durch die 
gedruckten Rändchen hervorgerufen, welche 
der deutſchen Karte fehlen. Ich habe mir 
nachträglich noch eine Briefkarte aus Trieft | 
mit italieniſchem Druck und öſterreichiſchem 
Wappen verſchafft; fie hat faſt daſſelbe 
Format wie die holländiſche Karte, gefällt 
mir aber beſſer wie dieſe; Trieſter-Karte 
os Fe 

Aus dieſen Experimenten folgere ich 
zunächſt, ohne die Unumſtößlichkeit dieſer 
Folgerung behaupten zu wollen: 

1. Daß jede verwendete Grundfigur, 
jedes Größenverhältniß gleichgültig iſt. 

2. Daß ſie eine äſthetiſche Bedeutung 


| 
| 


erſt gewinnen durch einen Zweck, dem fie 


dienen. Dieſer Zweck iſt Fechners aſſo— 
ciatiwer Faktor. 

3. Daß ein Zweck (in unſerem Falle 
bei einer Poſtkarte verwendet zu werden) 
am vollſtändigſten erreicht wird, wenn die 
Grundfigur, alſo unſer Rechteck, ſich dem 
Flächeninhalt nach einer beſtimmten Grenze 
nähert, die ſich ganz aus dem praktiſchen 
Gebrauch ergiebt. Je nach dem Flächen— 
inhalt muß das Verhältniß des Rechteckes 
ſich ändern. 

4. Daß dieſer zweckmäßigſten Größe 
ein ganz beſtimmtes Verhältniß als äſthetiſch 
Vollendetſtes entſpricht. 

Wir haben auf das Material gar keine 
Rückſicht genommen; anſtatt des Kartons 
könnte man eben ſo gut matt emaillirtes 
dünnes Stahlblech, mit Kreidegrund über— 
zogenes Pergament, dünnes Holz ec. zur 
Anfertigung von Briefkarten verwenden. 
Das Stahlblech würde elaſtiſcher und ſchwerer 


ſein, als der Carton, der dünne Holzſpan 


leicht und zerbrechlich; wollten ſolche Poſt— 
karten dem Zweck vollſtändig entſprechen, 


dere ſein, als diejenige der gewöhnlichen 
| Briefkarten, und damit würde das äſthetiſch— 


günſtige Verhältniß ſich ebenfalls ändern. 
Wollte man die Karten mit einem gedruck— 
ten Rand oder einer Umrahmung verſehen, 
ſo müßte deren Breite ſich nach der Größe 
und dem Verhältniß der Fläche richten. 
Ich folgere ſomit: 

5. Daß das äſthetiſche Centrum ſich 
mit der Anzahl der aſſociativen Faktoren 
ändert. Die Schönheit iſt ſomit eine Funk— 
tion F einer Grundform oder Grundan— 
chauung A, welche unter den verſchiedenſten 
Bedingungen a, b, c, d . . . als aſſociativer 
Faktoren, zu einem Zweck 2 angewendet 
wird. Faßt man die aſſociativen Faktoren 
a, b, c, d.. . zuſammen zu einer gemein— 
ſchaftlichen Reſultante R, ſo iſt der Aus— 
druck der Schönheit 8 = F (A, R, 2). 
Man wird zugeben müſſen, daß dieſe For— 
mulirung der Schönheit beſſer auf jeden 
einzelnen, der Unterſuchung zu unterwer— 
werfenden Fall paßt, als das Dogma vom 
goldenen Schnitt. Was ſoll ein ſolches 
Dogma überhaupt bedeuten? Das Ding 
an ſich, die Schönheit an ſich, die in 
unſerem Menſchenleben ebenſoviel Sinn hat, 
als die ſittliche That an ſich oder das 
Lebensglück an ſich, die Wahrheit an ſich, 
die kein Menſch gethan, genoſſen, erkannt hat. 

Sollte Fechner, der Freund des 
Paradoxon, welcher gerade mit Vorliebe 
falſche Theorien ad absurdum zu führen 
ſucht, wirklich an dem Dogma vom goldenen 
Schnitt feſthalten und uns nicht vielmehr 
mit ſeiner Experimentaläſthetik zu täuſchen 
geſucht haben? 

Als Objekte, welche ſich beſonders für 
die Experimentaläſthetik eignen, möchte ich 
die Kryſtallformen halten; bei ihnen denken 
wir kaum an einen Zweck, dem ſie dienen 


ſollen, und die aſſociativen Faktoren kommen 
nur inſofern in Betracht, als die nicht 
zur reinen Anſchauung der Form gehörigen 
Eigenthümlichkeiten wirklicher Kryſtalle, der 
Glanz und die Durchſichtigkeit, die Farbe 
und das Lichtbrechungsvermögen, eher die 
reine Auſchauung zu verſtärken als zu 
ſchwächen im Stande ſind. 

Verzerrte Kryſtallformen ſehen unvor— 
theilhafter aus, als regelmäßig geſtaltete. 
Die kryſtalliniſche Wirkung kommt am voll— 
ſtändigſten zur Geltung, wenn die Kryſtalle 
durchſichtig und glänzend, ſchwarz und glän— 
zend, undurchſichtig-metallglänzend find. 
Dieſe Eigenſchaften gehören eigentlich zur 
Grundvorſtellung, welche wir uns vom 
Weſen des Kryſtalles machen, wie ja ſchon 
der Sprachgebrauch in kryſtallklar, kryſtall— 
hell, kryſtallglänzend zu erkennen giebt. 
Bei den modernen, in Kryſtallform aus 
Glas geſchliffenen Briefbeſchwerern dient 
nicht die Form derſelben einem Zweck, ſondern 
blos das Gewicht des Stoffes; ihre Er— 
ſcheinung iſt rein auf die Wohlgefälligkeit 
in der Anſchauung berechnet, ebenſo wie 
diejenige geſchliffener Edelſteine. 

Dftaöder und Würfel find als End— 
punkte einer Reihe von unendlich vielen 
Combinationen zwiſchen Beiden zu betrach— 
ten, deren Mittelpunkt die bekannte, aus 
ſechs Quadraten und acht gleichſeitigen Drei— 
ecken beſtehende Combination bildet, welche 
weder den Würfel noch das Dftaöder vor— 
herrſchen läßt. 

Bei dem Kryſtall ſpielen nach den 
Flächen die Ecken die Hauptrolle, in zweiter 
Linie kommen die Kanten in Betracht. 
Daher ſehen enteckte Oktaßder und Würfel 
weniger günſtig aus als entkantete. Im 
Dftaöder, treffen die Achſen mit den Ecken 
zuſammen; die Dftaödereden find wichtiger 
als die Würfelecken, daher ſehen enteckte 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


Dftaöder weniger vortheilhaft aus als 
enteckte Würfel. Die Dodefaöder, Ikoſite— 
traöder ſehen enteckt weniger gut aus, als 
entkantet. Zuſchärfung der Kanten durch 
doppelſchneidige Flächenpaare, Zuſpitzungen 
der Ecken durch die Flächengruppen der 
Ikoſitetraßder wirken ſchöner als die Ent- 
eckungen und Entkantungen, weil ſie die 
reine Anſchauung der Grundform weniger 
ſtören. Combiniren ſich die letzteren mit 
den erſteren, ſo kann die reine Anſchauung 
ſehr gehoben werden, da die Ecken und 
Kanten, erſt wenn ſie durch Flächen er— 
ſetzt werden, überhaupt zur Anſchauung 
in der Wirklichkeit kommen. Ein ofta- 
driſcher Diamant kann durch ſeine lebhafte 
Strahlenbrechung ſehr gefällig wirken (ſo 
die Berühmtheit des Limburger Domſchatzes), 
ſchwarz dagegen wird er der Enteckung und 
Entkantung bedürftig ſein. Ein Würfel 
oder Dftaöder von durchſcheinendem Stoff 
kann ganz bleiben, weil das Durchſcheinen 
des Lichtes an den Ecken und Kanten ſchon 
die Anſchauung hebt. Schwach kryſtalliniſch 
eingeſenkte oder erhöhte Flächen vermehren 
die plaſtiſche Wirkung der Grundform oder 
auch den Glanz und die Reflexwirkungen 
(beſonders bei Metallglanz), können daher 
die reine Anſchauung verſtärken. 

Sowie aber alle dieſe Zuthaten die 
Grundgeſtalt vollſtändig aufheben, ſo daß 
die Kryſtallform der Kugel ſich nähert, 
jo wird die Grundanſchauung verwiſcht. 
Daher wird man den Facettenſchliff, welcher 
dem natürlichen Vorkommen des Diamants 
in der Form des Achtundvierzigflächners 
entſpricht, nur bei ſtark glänzenden und 
lichtbrechenden Stoffen anwenden wollen. 
Das Thema „Aeſthetik der Kryſtallformen“ 
ließe ſich weiter verfolgen; dieſe Grund— 
principien ihrer Wohlgefälligkeitsverhält— 
niſſe mögen hier genügen. Wollte man 


214 


fragen, welche Combination aller ganzen 
Grundformen des regulären Syſtems (aljo 
abgeſehen von den Hälften des Dftaöders 
und der Vierundzwanzig- reſp. Achtundvier— 
zigflächner) als ein äſthetiſches Maximum 
zu betrachten wäre, ſo würde man wohl 
eine Rangſtufe dieſer Kryſtallformen in 
Bezug auf das Vorherrſchen der einzelnen 
Elemente in der Combination annehmen 
müſſen, bei welcher das Dftaöder vorzu— 
herrſchen hätte. Ein Diamant, in dieſer 
Weiſe geſchliffen, würde ſich dem Brillant— 
ſchliff nähern, ein ſchwarzer Diamant würde 
zur Erhöhung ſeiner Erſcheinung wahr— 
ſcheinlich eine andere Rangſtufenreihe der 
genannten Grundformen erfordern. 

Von den Kryſtallformen ſei geſtattet 
auf mehrere andere, in der Baukunſt ihre 
Rolle ſpielenden Formen überzugehen und 
über ſie einige Bemerkungen zu machen. 


Ich behauptete, die reine Anſchauung des 
Würfels als durchſichtigen, lichtbrechenden, 
farbloſen Kryſtalles würde verſtärkt durch 


ſchwache Zuſchärfung und Abſtumpfung 
der Kanten und Ecken, wobei die Zuſchär— 
fung in erſter, die Abſtumpfung in zweiter 
Linie ſtehe; die Verſtärkung der reinen 
Anſchauung beruhe darauf, daß anſtatt der 
immateriellen Ecken und Kanten reflektirende 
und die Lichtbrechung verſtärkende Flächen 
aufträten, ſomit alſo außer den glänzenden 
Flächen des Kryſtalles auch die wichtigſten 
geometriſchen Punkte ſeiner Geſtalt hervor— 
gehoben würden, in welchen das Zuſam— 
mentreffen ſeiner Flächen ſtattfindet. 
Dieſer Verſtärkung der reinen An— 
ſchauung dagegen würde nun jede Abrun— 
dung der Kanten und Ecken entgegenwirken, 
als dem Weſen des Kryſtalles wider— 
ſprechend. Ein Steinquader, welcher un— 
durchſichtig, ſchwach lichtbrechend und reflek— 


Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 


tirend iſt, wird anders behandelt werden 
müſſen, als der durchſichtige Stoff, will 
man die reine Anſchauung verſtärken. Bei 
glänzendem Metall ſind ſchwache Abrun— 
dungen von Ecken und Kanten zuläſſig, weil 
die durch ſie hervorgerufenen Glanzlichter 
und die Reflexe im Halbſchatten im Verein 
mit den ſpiegelnden Flächen die Immate— 
riellität der reinen Form tilgen; davon 
macht man in den verſchiedenſten Zweigen 
der Kunſtinduſtrie bekanntlich Gebrauch. 

Die ganze Behandlungsweiſe von weißem 
Marmor richtet ſich nach dem Grade ſeiner 
Transparenz; die feinſten Nuancen ſeiner 
Geſtaltung kommen zur Wirkung; nicht 
ebenſo verhält es ſich mit gewöhnlichem 
Hauſtein, mit Holz und Backſtein. Will 
man die Ecken und Kanten von Quadern, 
Balken, Backſteinverbindungen beſonders her⸗ 
vortreten laſſen, ſo genügen die Abſtumpfun— 
gen, Abrundungen und Enkkantungen durch 
einfaches Schrägen nicht, es werden vielmehr 
erſt durch Hohlkehlen in Verbindung mit 
convexen Formen die gewünſchten Effekte 
erzielt. Der romaniſche und gothiſche Bau— 
ſtil macht, wie von den Hohlkehlen, ſo auch 
von den Abſchrägungen verſchiedenſter Nei— 
gungsverhältniſſe reichlicheren Gebrauch, als 
die in ſüdlichen Ländern entſtandenen übrigen 
Bauweiſen, in denen, Dank der um die Hälfte 
ſtärkeren Intenſität des Sonnenlichts, man 
mit einfacheren Mitteln ſein Ziel erreichen 
kann. 

Das ſind nun längſt bekannte Dinge, 
welche indeſſen immer nur ein und daſſelbe 
bezeugen: daß es keine abſolut wohlgefäl— 
ligen Formen, Verhältniſſe ꝛc. giebt, ſondern 
daß die Wohlgefälligkeit ebenſo ſtets von 
anderen Faktoren abhängig iſt, wie der 
Schatten eines Gegenſtandes von ſeiner 
relativen Stellung zum Licht. 


Rs 


. 2 Hafen, die 05 oft zu den 
i N Wurzelfüßlern gerechnet wird, 
bilden die ſogenannten Schleim— 
pilze oder Myxomyceten, von Anderen 
auch Pilzthiere oder Mycetozoen 
genannt. Schon dieſer doppelte Name be— 
zeichnet ihre zweifelhafte Protiſten-Natur. 
Sie leben in zahlreichen verſchiedenen Arten 
an feuchten Orten, im abgefallenen Laube 
der Wälder, zwiſchen Moos, auf faulendem 
Holze und dergl. Früher galten ſie all— 
gemein als Pflanzen, und zwar für Pilze, 
weil ihr reifer Fruchtkörper täuſchend dem 
blaſenförmigen Fruchtkörper der Gaſtro— 
myceten oder Blaſenpilze ähnlich iſt (Fig. 
43 B). Dieſer Fruchtkörper bildet kugelige 
oder länglich runde, oft auf einem Stiele 
feſtſitzende Blaſen, meiſt von der Größe 
eines Stecknadelkopfes oder eines Hanf— 
kornes, bisweilen aber auch von mehreren 
Zoll Durchmeſſer. Die derbe äußere Hülle 
der Fruchtblaſen umſchließt ein feines Mehl, 
das aus Tauſenden von mikroſkopiſchen 
Zellen beſteht. Dies ſind die Fortpflanz— 
ungszellen oder Sporen. 


Das Protiſtenreich. 


Von 


Ernſt Haeckel. 


IM. 


Während aber bei den Blaſenpilzen, 
wie bei allen anderen echten Pilzen, ſich 
aus dieſen Sporen die charakteriſtiſchen 
Pilzfäden oder Hyphen, lange dünne Faden— 
ſchläuche entwickeln, entſtehen daraus bei 
den Myxomyceten ganz andere Keime. Aus 
der feſten Zellmembran einer jeden Spore 
ſchlüpft nämlich, ſobald dieſe ins Waſſer 
gelangt, eine nackte, lebhaft bewegliche Zelle 
aus (Fig. 42, 1—3). Anfangs ſchwimmt 
dieſe Zelle mittelſt eines langen Geißel— 
fadens, den ſie peitſchenförmig nach Art 
der Geißelſchwärmer hin und her ſchwingt, 
frei im Waſſer umher (Fig. 42, 4, 5). 
Später ſinkt ſie zu Boden und nimmt die 
Form einer Amoebe an (Fig. 46, 6, 7). 
Ganz gleich einer echten Amoebe kriecht ſie 
umher, indem ſie veränderliche Fortſätze 
ausſtreckt und wieder einzieht. Auch nimmt 
ſie nach Art der Amoeben ihre Nahrung auf. 

Viele ſolcher amoeboiden Zellen können 
nun ſpäterhin zuſammenfließen und mit 
einander verwachſen (Fig. 42, 8 11). 
Dadurch entſtehen große Protoplasma -Netze 
mit vielen Kernen (Syncytien, Fig. 
42, 12). Indem ihre Kerne ſich auflöſen, 


216 Haeckel, Das 
werden ſie zu kernloſen Plasmodien 
(Fig. 43 4). Solche große Plasmodien, 
oft ganz coloſſale Protoplasma Netze, kriechen 


7 


+ 


Fig. 42. 


Fig. 43. Myrompceten. 


die glänzend gelben (oft mehrere Fuß großen) 
Protoplasma -Geflechte von  Aethalium, 


Zu den größten Plasmodien gehören 


Protiſtenreich. 


gleich einem rieſigen Rhizopoden langſam 
umher und ändern beſtändig ihre unbe— 
ſtimmte Geſtalt. 


Keimung einer Myxomyceete (Physarum album). 1. Eine Keimzelle oder 
Spore. 2. Aus der dunkeln Hülle der Spore tritt die nackte Zelle hervor (3). Dieſe ver— 
wandelt ſich in eine Geißelzelle (4, 5) und darauf in eine Amoebe (6, 7). Mehrere Amoebeu 
fließen zuſammen (8, 9, 10, 11) und bilden 


ſo ein Plasmodium (12). 


RER 


A. Ein größeres Plasmodium (von Didymium leucopus). 
B. Eine reife Frucht (von Areyria incarnata). 
geplatzt und das Haarfaden-Geflecht (Capillitium, ep) hervorgetreten iſt. 


C. Dieſelbe, nachdem die Wand (p) 


welche die Lohbeete der Gerbereien durch— 


ziehen und unter dem Namen „Loh— 


blüthe“ allen Gerbern bekannt ſind. 


Haben die Plasmodien durch Wachsthum 
und Nahrungsaufnahme eine gewiſſe Größe 
erreicht, ſo ziehen ſie ſich auf einen kuge— 
ligen, birnförmigen oder kuchenförmigen 
Haufen zuſammen, umgeben ſich mit einer 
Hülle und das ganze Protoplasma zerfällt 
in zahlloſe kleine Sporen, zwiſchen welchen 
ſich meiſtens (jedoch nicht immer) ein Ge— 
flecht von äußerſt feinen Haarfäden aus— 
breitet (Capillitium, Fig. 43 cp). Wenn 
dieſe Fruchtkörper (Fig. 43 B) ganz reif 
ſind, platzt die äußere Hülle (Fig. 43 0); 
das Capillitium wird vorgetrieben und das 
feine Sporen-Pulver zerſtreut. 

Obgleich nun dieſe blaſenförmigen 
Fruchtkörper mit ihrem Sporenpulver und 
Capillitium die größte Aehnlichkeit mit den— 
jenigen von gewiſſen echten Pilzen beſitzen, 
haben ſie doch mit dieſen letzteren keine 
Spur von Verwandtſchaft, wie ihre gänz— 
lich verſchiedene Entwickelung zeigt. Will 
man überhaupt die Myxomyceten in nähere 
Beziehung zu irgend einer anderen Orga— 
nismen-Gruppe bringen, ſo bleiben nur die 
Rhizopoden übrig. In der That glei- 
chen die kriechenden negfürmigen Plasmodien 


dev Myxomyceten jo ſehr gewiſſen nackten 
Wurzelfüßlern (Lieberkühnia), daß man 
ſie gar nicht unterſcheiden kann. Es giebt 


kein paſſenderes Objekt, um ſich die merk— 
würdigen Strömungen in dem kriechenden 
nackten Protoplasma unmittelbar vor Augen 
zu führen, als die Plasmodien der gemeinen 
Lohblüthe, die im Frühjahr auf den Loh— 
beeten der Gerbereien ſehr leicht zu haben 
iſt und die Lohe in Form von gelben, 
rahmähnlichen Schleimhäuten durchzieht. 
Bringt man ein wenig von dieſem gelben 
Protoplasma in einer feuchten Kammer 
auf ein Glasplättchen, ſo iſt letzteres ſchon 
nach 10 — 20 Stunden von einem feinen 
Faden⸗Netz überſponnen, in deſſen Fäden 


— 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


hat. 


217 


man unter dem Mikroſkop die lebhafte 
Protoplasma-Strömung prächtig verfolgen 
kann. 

Im Anſchluß an die Myxomyceten 
müſſen wir hier auch auf die echten Pilze 
(Fungi) einen Blick werfen, mit welchen 
man die erſteren früher irrthümlich vereinigt 
Die echten Pilze, welche in ſo zahl— 
reichen, anſehnlichen und mannigfaltigen 
Formen in unſern Wäldern und Feldern, 
auf Pflanzen- und Thierkörpern ſchma— 
rotzend leben, werden oft auch als Schwämme 
bezeichnet. Sie haben aber mit den echten 
Schwämmen oder Spongien gar nichts zu 
thun; denn dieſe letzteren, wozu der ge— 
wöhnliche Badeſchwamm gehört, und welche 
ſämmtlich — mit einziger Ausnahme des 
Süßwaſſer-Schwammes, Spongilla, — im 
Meere leben, ſind echte Thiere und be— 
ſitzen ein Darmrohr mit Mundöffnung 
u. ſ. w. Die Pilze dagegen bilden eine 
gänzlich verſchiedene und ſehr eigenthümliche 
Klaſſe von niederen Organismen. Zwar 
gelten ſie heute noch allgemein als echte 
Pflanzen. Allein in den wichtigſten 
anatomiſchen und phyſiologiſchen Beziehun— 
gen weichen ſie ſo ſehr von allen übrigen 
Pflanzen ab, daß es wohl richtiger iſt, ſie 
als eine ſelbſtſtändige Klaſſe von Pro- 
tiſten zu betrachten. Ernährung und 
Stoffwechſel der Pilze iſt thieriſch, nicht 
pflanzlich. Sie bilden kein Protoplasma, 
kein Chlorophyll, kein Stärkemehl, keine 
Celluloſe, wie die echten Pflanzen. Viel— 
mehr bedürfen ſie wie die Thiere, zu ihrer 
Exiſtenz und Ernährung vorgebildetes Pro— 
toplasma, welches ſie aus dem Körper an— 
derer Organismen, lebender und todter 
Thiere, Pflanzen und Protiſten, entnehmen. 

Die Fortpflanzung der Pilze iſt meiſtens 
ungeſchlechtlich, und auch da, wo ſie ge— 
ſchlechtlich erſcheint, ganz eigenthümlich. Das 


5 218 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Form-Element, aus dem fi der Körper kernloſe Cytode, die ſogenannte Hyphe 
aller Pilze aufbaut, iſt nicht eine echte, oder der „Pilzfaden“. Durch ſeitliche 
kernhaltige Zelle, wie bei allen Thieren [Sproſſung und fortgeſetzte Theilung in 
und Pflanzen, ſondern eine fadenförmige, einer Axe, bilden ſie verzweigte gegliederte 


, 


5. 


a] 


Fig. 44. Ein Champignon, aus der Ord— Fig. 45. Eine Diatomee oder 
nung der Hutpilze (Hymenomycetes). Bacillarie (Surirella 
A. Das Fadengeflecht Mycelium), aus ver- dentata). Die Schachtelzelle 
äſtelten und netzförmig verbundenen Reihen iſt vom Rande geſehen, ſo 
von Pilzfäden (Hyphen) gebildet (m). Aus daß man ſieht, wie die bei— 
dem Myeelium ſproßen ſolide birnförmige den Schalenklappen (s u. d) 
Fruchtkörper hervor (I), in welchen ſich ein über einander greifen, gleich 
ringförmiger Luftraum bildet (II, III, . einer Schachtel (s) und ihrem 


Unterhalb ſondert ſich der Stiel (IV, st), Deckel (d). In der Mitte 
oberhalb der Schirm des Hutes (), von der Kern (n), p Protoplasma. 
welchem die Hymenium Rippen in den Luft⸗ 
raum hineinwachſen (V. 1); der untere Boden 
des Luftraums platzt ſpäter und hängt als 
Schleier (Velum) vom Rande des Hutes herab. 


Fäden, und zahlloſe ſolche Pilzfäden, in | geſtielte „Hut“ oder Schirm unſerer großen 
langen Ketten an einander gereiht, fi ver- Hutpilze, z. B. vom Champignon 
äſtelnd und netzartig verbindend, ſetzen alle (Fig. 44), iſt blos der Fruchtkörper, 
Organe der Pilze zuſammen. Der bekannte welcher ſich zur Zeit der Reife aus einem 


= — ar — = > — rennen) 


unſcheinbaren Fadengeflechte, dem Mycelium 
(Fig. 44, I m) entwickelt; die ſtrahligen, 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


| 


f 
| 


blattförmigen Rippen, welche ſich an der 


Unterſeite des regenſchirmähnlichen Hutes 
bilden, ſind von der Fruchthaut (Hyme— 
nium) überzogen, in welcher ſich ungeſchlecht— 
lich die Fortpflanzungs-Cytoden („Sporen“) 
bilden. Je genauer man die eigenthümliche 
Anatomie und Keimungsgeſchichte der Pilze 


verfolgt, je unbefangener man ſie vergleicht, 


deſto mehr überzeugt man ſich, daß dieſe 
merkwürdigen Organismen keine echten 
Pflanzen ſind, ſondern eine ganz ſelbſt— 
ſtändige Klaſſe von neutralen Protiſten 
darſtellen. 

Daſſelbe gilt von der formenreichen 
Klaſſe der Kieſelzellen (Diatomeae 
oder Bacillariae), die auch gewöhnlich zu 
den Pflanzen gerechnet werden. Dieſe zier— 
lichen kleinen Organismen bevölkern in un— 
geheuren Maſſen die ſüßen und ſalzigen 
Gewäſſer unſeres Erdballs. In großen 
Mengen angehäuft, bilden ſie gewöhnlich 
einen gelben oder gelbbraunen Schleim, der 
Steine, Waſſerpflanzen u. ſ. w. überzieht. 
Bald ſind die Diatomeen einzeln lebende 
Einſiedlerzellen, bald Colonien oder Ge— 
ſellſchaften (Coenobien), welche aus vielen 
gleichartigen, locker verbundenen Zellen zu— 
ſammengeſetzt erſcheinen. 

Viele Diatomeen ſitzen feſt; die meiſten 
aber bewegen ſich in ganz eigenthümlicher 
Weiſe, langſam ſchwimmend oder fort— 
rutſchend, im Waſſer umher. Die Organe 
dieſer Ortsbewegung ſind noch gänzlich un— 
bekannt, vielleicht feinſte Wimperreihen. 

Das Charakteriſtiſche an dem Zellen— 
körper der Diatomeen iſt die eigenthümliche 
Kieſelſchale, in welcher ihr Zellenleib 
eingeſchloſſen iſt. Dieſe Schale iſt aus 


zwei Hälften zuſammengeſetzt, welche ſich zu 
wie 


einander genau ſo verhalten, eine 


todten 


219 


Schachtel zu ihrem Deckel (Fig. 45). 
Die kernhaltige Zelle, welche in dieſer 
Schachtel lebt, theilt ſich in zwei Hälften, 
und jede Hälfte bildet ſich zu ihrem 
Schachteldeckel eine neue Schachtel. Dieſer 
Proceß wiederholt ſich mehrfach, wobei na— 
türlich jede folgende Generation kleiner 
wird. Schließlich aber entſteht eine Gene— 
ration, welche beide Schalenhälften abwirft, 
wieder bis zur Größe der erſten, größten 
Generation heranwächſt, und ſich nun mit 
einer neuen Kieſelſchachtel erſter Größe um— 
giebt. Wegen der unendlich mannigfaltigen 
und zierlichen Geſtalt dieſer Kieſelſchale, 
ſowie wegen ihrer äußerſt feinen Skulptur, 
ſind die Diatomeen ſehr beliebte Unter— 
haltungs-Objekte für mikroſkopiſchen Form— 
genuß. Wenn ſich die Kieſelſchalen der 
Diatomeen maſſenhaft auf dem 
Grunde der Gewäſſer anſammeln und zu 
Stein verkitten, können ſie ganze Gebirgs— 
ſchichten zuſammenſetzen, ſo z. B. den Po— 
lirſchiefer, das Bergmehl u. ſ. w. 
Während die meiſten, bisher von uns 
betrachteten Protiſten-Gruppen große und 
formenreiche Klaſſen darſtellen, giebt es 
nun noch eine Anzahl von kleineren, iſolir— 
ten, bisweilen nur durch eine oder wenige 
Formen repräſentirten Protiſten, deren Ein— 
reihung in das Syſtem ſehr ſchwierig iſt. 
Dies gilt z. B. von den ſonderbaren La— 
byrinthulen, Geſellſchaften von locker 
verbundenen, einfachen, ſpindelförmigen, gel— 
ben Zellen, die in einer eigenthümlichen 
Fadenbahn umherrutſchen. Eine andere 
Gruppe, intereſſant wegen ihrer Mittel— 
ſtellung zwiſchen verſchiedenen Protiſten— 
Klaſſen, bilden die Catallakten, durch 
die Gattungen Synura und Magosphaera 
repräſentirt. Sie bilden ſchwimmende Gallert— 
kugeln, zuſammengeſetzt aus einer Anzahl 
birnförmiger gleichartiger Zellen, welche mit 


220 


ihren ſpitzen inneren Enden im Centrum der 
Gallertkugel vereinigt ſind. Später löſen 
ſich dieſe Zellgeſellſchaften oder Coenobien 
auf. Die einzelnen iſolirten Zellen ſchwim— 
men noch eine Zeit lang ſelbſtſtändig um— 
her und können jetzt mit Ciliaten verwech— 
ſelt werden. Dann aber ſinken ſie auf 


den Meeresboden 


A 


Fig. 46. 
Küſte. 
Fig. 47. 


einer Amoebe. 


erhalten bewegliche Wimpern und verbinden 
ſich wieder zu einer Flimmerkugel. 
dreht ſich die Kugel rotirend um ihren 
Mittelpunkt, ſprengt ihre Hülle und ſchwimmt 
wieder frei in der Form umher, von wel— 
cher wir ausgegangen ſind (Fig. 46). Das 
Intereſſe dieſer merkwürdigen Protiſten liegt 
alſo weniger in beſonderen Eigenthümlich— 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


nieder und verwandeln 


Magosphaera (planula), eine ſchwimmende Flimmerkugel von der norwegiſchen 
A von der Oberfläche, B im Durchſchnitt. 


Nun 


ſich in amoebenähnliche Zellen. Gleich 
echten Amoeben kriechen dieſe umher, freſſen, 
wachſen und kapſeln ſich ſchließlich ein; der 
Zellenkörper zieht ſich kugelig zuſammen 
und umgiebt ſich mit einer Gallerthülle. 
Innerhalb derſelben theilt ſich die Zelle 
ſpäter wiederholt in 2, 4, 8, 16, 32 
Zellen u. ſ. w. Dieſe werden birnförmig, 


B. 


Protamoeba (primitiva), ein Moner mit lappenförmigen Pſeudopodien, gleich 
A kriechend, B in Theilung begriffen, Ca, Ob in zwei Hälften getheilt. 


| keiten, als vielmehr in der neutralen Mittel— 
ſtellung, welche ſie zwiſchen Amoeben, In— 
fuſorien und Volvocinen einnehmen, und 
wodurch ſie dieſe verſchiedenen Protiſten— 
Klaſſen verknüpfen. Wir nennen ſie daher 
„Mittlinge oder Vermittler“ (Catal- 
lacta). 

Werfen wir einen vergleichenden Rück— 


blick auf alle bisher betrachteten Protiſten— 
Klaſſen, ſo ſehen wir, daß darin die orga— 
niſche Zelle bald ganz ſelbſtſtändig auftritt, 
und als Einſiedler-Zelle (Monoeyta) 
den ganzen Organismus repräſentirt, bald 
mit ihresgleichen ſich zu lockern Geſellſchaf— 
ten verbindet und einfache Zellen-Ge— 
meinden oder Zellen-Horden (Coenobia) 


3 4 / U ö j 
5 . f' 1 
. 


nismen ohne Organe“. Ihr ganzer leben— 
diger Leib beſteht in völlig entwickeltem 
Zuſtande nur aus einem einfachen Proto— 
plasma-Stückchen, welchem ſelbſt der Kern, 
der Charakter der echten Zelle, noch fehlt. 
Bezüglich ihrer Bewegungen gleichen dieſe 
denkbar einfachſten Organismen bald den 
Amoeben (Fig. 47), bald den Wurzel— 
füßlern (Fig. 48), bald den Geißelſchwär— 
mern (Fig. 50). Sie vermehren ſich in 
einfachſter Weiſe durch Theilung. Von der 
größten theoretiſchen Bedeutung ſind ſie für 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


76 N 779 HI 
} 1 
40 
1 1 
Fig. 48. Protomyxa aurantiaca, ein Moner mit wurzelförmig veräſtelten, fadenartigen 
Pſeudopodien, gleich einem Rhizopoden. 


darſtellt. Nun iſt aber hiermit keineswegs 


die tiefſte Stufe der Organiſation erſchöpft, 
welche uns die organiſche Welt darbietet. 
Vielmehr treffen wir noch unterhalb dieſer 
einzelligen Protiſten jene niedrigſte und un— 
vollkommenſte Klaſſe von Organismen an, 
die wir als Moneren bezeichnen (Fig. 
47, 48). 


Nee 


\\ 


Die Moneren find wahre „Orga- die dunkle Frage von der erſten Entſtehung 


des Lebens auf unſerer Erde. Denn nur 
Moneren können im Beginn des organiſchen 
Lebens auf unſerm Planeten durch Urzeug— 
ung entſtanden ſein; nur Moneren können 
die älteſten Stammeltern aller übrigen Or— 
ganismen ſein. Gerade in dieſer Beziehung 
ſind die Moneren des Tiefſeegrundes, und 
vor Allem der berühmte Bathybius 
(Fig. 49) vom höchſten Intereſſe. 

Eine ſehr wichtige und intereſſante 
Monerengruppe bilden die Zitterlinge 
(Vibriones oder Bacteria, Fig. KR 


Haeckel, Das 


Obgleich dieſe winzigſten Körperchen, die 
zu den allerkleinſten Organismen gehören, 
meiſtens von den Botanikern zu den Pflan— 
zen gerechnet und als „Spaltpilze 
(Schizomycetes)“ den echten Pflanzen an— 
gereiht werden, geſchieht das doch ohne jeden 
genügenden Grund. Mindeſtens haben die— 
jenigen Zoologen, welche ſie als einfache 
Thiere betrachten, ebenſo viel Recht dazu. 
Die Bakterien ſind eben echte Proti— 
ſten, und zwar kleinſte Moneren, deren 
höchſt einfache Organiſation und ganz neu— 


Fig. 49. Bathybius (Haeckelii). Ein 
Plasmodium aus den Tiefen des Oceans. 


Die veräſtelten Plaſſon-Ströme, durch deren 
Verbindung das Netz entſteht, ändern ſich 
beſtändig. 


Die Bewegung der Bakterien iſt meiſtens 


ſehr lebhaft, zitternd oder wimmelnd, viele 
ſind korkzieherartig gedreht und ſchrauben 
ſich im Waſſer fort (Fig. 50, 3). In 
einem einzigen Waſſertröpfchen können Mil 
lionen ſolcher kleinſten Organismen vereinigt 
ſein. Irgend welche Organiſations-Ver— 
hältniſſe, namentlich ein Zellkern, find an 
denſelben nicht nachzuweiſen; ſie ſind daher 
auch nicht wirkliche Zellen, ſondern kern— 
loſe Cytoden, gleich den anderen Mo 
neren. Ihre Fortpflanzung geſchieht in 


Protiſtenreich. 


traler Charakter ſie weder dem Thierreich, 
noch dem Pflanzenreich anzuſchließen geſtattet. 

Die Bakterien ſind meiſtens ſtabförmige 
Körperchen, die ſich lebhaft im Waſſer be— 
wegen. Als Organe der Bewegung iſt bei 
einigen größeren Formen eine äußerſt feine, 
ſchwingende Geißel erkannt, die an beiden 
Enden des Stäbchens vortritt, ſo bei Spi— 
rillum (Fig. 50, 4). Wahrſcheinlich iſt 
eine ſolche auch bei den kleineren Vibrionen 
vorhanden und nur wegen ihrer außer— 


ordentlichen Zartheit nicht wahrzunehmen. 


> 


SE) 
Fig. 50. Zitterlinge (Bacteria), ſehr 
ſtark vergrößert. 1. Sarcine, eine ein⸗ 
fachſte Cytode, im menſchlichen Magen 
ſchmarotzend, welche ſich durch kreuzförmige 
Theilung vermehrt. 2. Bacillus, gerade 
Stäbchen. 3. Vib rio, korkzieherartig ge— 
wundene Stäbchen. 4. Spirillum, eben 
ſolche Spiralſtäbchen, die aber an beiden 

Enden eine äußerſt feine, ſchwingende 

Geißel tragen. 
einfachſter Weiſe durch Theilung. Oft zer— 
fällt jedes Stäbchen in eine große Anzahl 
hinter einander gelegener Stückchen. 

Die große Bedeutung der Bakterien 
beſteht darin, daß ſie die Zerſetzung und 
Fäuluiß der organiſchen Flüſſigkeiten be— 
wirken, in welchen ſie ſich aufhalten. Sie 
ernähren ſich von den organiſchen Subſtan— 
zen (namentlich eiweißartigen Körpern), die 
in ſolchen Flüſſigkeiten aufgelöſt ſind. 
Wahrſcheinlich ſind ſie die Urſache vieler 
der ſchlimmſten, anſteckenden und epidemiſchen 


2 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Krankheiten. So iſt es neuerdings nament— 
lich vom Milzbrand und den Blattern feſt— 


ohne willkürlichen Zwang weder zum Thier— 


geſtellt, daß nur Bakterien, die im Blute 


der milzbrandkranken und blatternkranken 
Thiere leben, die Uebertragung dieſer tödt— 
lichen Krankheiten bewirken. 

Ueberblickt man unbefangen prüfend 


und vergleichend die Maſſe von verſchieden- 


artigen Urweſen, die wir in unſerem Protiſten— 
reiche vereinigt haben, ſo ſcheint die Selbſt— 


ſtändigkeit dieſes letzteren keines weiteren 


Beweiſes zu bedürfen. Denn es exiſtirt 
noch heute eine ungeheure Menge von for— 


menreichen, mikroſkopiſchen Weſen, die wir 


N 


Fig. 51. 


fläche. B im Längsſchnitt. 

Uebrigens ſcheint gegen das Thierreich 
hin eine feſte und klare Abgrenzung des 
Protiſtenreiches ſchon jetzt ſicher gewonnen 
zu ſein. Denn bei allen echten Thieren 
entwickelt ſich der Leib aus zwei urſprüng— 
lichen Zellenſchichten, die unter dem Namen 
der Keimblätter bekannt ſind. 

Aus dem äußeren oder animalen (Exo— 
derma oder Hautblatt, Fig. 51) ent- 
ſtehen die Organe der Empfindung und 
Bewegung; aus dem innern oder vegeta— 


reich noch zum Pflanzenreich rechnen können. 
Aber das natürliche Verhältniß dieſer bei— 
den großen Lebensreiche zu jenem neu— 


tralen, zwiſchen Beiden mitten inne 
ſtehenden Protiſtenreiche wird noch 


Gastrula (Darmlarve) eines Kalkſchwammes, Olynthus. 
e äußeres Keimblatt (Hautblatt oder Exoderm). 
Keimblatt (Darmblatt oder Entoderm). 


vielfacher Durchforſchung und Klärung be— 
dürfen. Insbeſondere wird die Ent— 
wickelungsgeſchichte der Protiſten noch 
viel genauer und umfaſſender zu erforſchen 
ſein. Denn vor allem die Entwickelungs— 
geſchichte wird hier, wie überall, der „wahre 
Lichtträger“ für das Verſtändniß der bio— 
logiſchen Erſcheinungen ſein. 


A von der Ober— 
i inneres 


o Urmund. g Urdarmhöhle. 


tiven Keimblatte (Entoderma oder Darm— 
blatt, Fig. 51) die Organe der Ernähr— 
ung. Das letztere umſchließt eine ernäh— 
rende Höhle, die erſte Anlage des Magens 
oder den Urdarm (g), und dieſer öffnet 
ſich nach außen durch eine einfache Mund— 
öffnung, den Urmund (o). Die bedeut— 
ungsvolle Keimform, welche uns den Thier— 
leib dergeſtalt, blos aus zwei Keimblättern 
gebildet, vor Augen führt, iſt die Gaſtrula 
(Darmlarve oder Becherkeim). 


Dieſe Gaftrula ift das wahre 
Thier in einfachſter Form. Denn 


Haeckel, Das Protiſtenreich. f 


(Fig. 53), die Gliederthiere (Fig. 54), 


| 
| 


bei allen echten Thieren fängt die Ent- 


wickelung des Eies zur verſchiedenartigen 
Thierform mit der gleichartigen Bildung 
dieſer Gaſtrula an. Die niederſten Pflan— 
zenthiere, die Phyſemarien (Fig. 56), wie 
die Schwämme (Fig. 51), die niedrigſten 
Würmer (Fig. 52), ebenſo die Sternthiere 


| 
| 


| 
| 


ebenfo wie die Weichthiere (Fig. 55), ja 
ſogar die niedrigſten Wirbelthiere (Fig. 57), 
durchlaufen in früheſter Jugend dieſe Ga— 
ſtrula-Keimform; die anderen Thiere 
bilden zweiblättrige Keimformen, die nur 
als abgeänderte Gaſtrula-Keime betrachtet 
werden können; ſo auch die Säugethiere, 
mit Inbegriff des Menſchen (Fig. 58); 


Fig. 52—57. Gaſtrula von ſechs verſchiedenen Thieren. Fig. 52. (B) Wurm (Sagitta)- 
Fig. 53 (0) Seeſtern (Uraster). Fig. 54 (D) Krebs (Nauplius). Fig. 55 (E) Schnecke 
(Lymnaeus). Fig. 56 (A) Pflanzenthier (Gastrophysema). Fig. 57 (F) Wirbelthier 
(Amphioxus). — Ueberall bedeutet: e Hautblatt (Exoderm). i Darmblatt (Entoderm). 
d Urdarm. o Urmund. 


überall baut ſich der echte Thierleib ur— 
ſprünglich aus zwei Keimblättern 
auf. Hingegen erhebt ſich kein einziges 
Protiſt zur Produktion von Keimblättern 
und zur Bildung einer Gaſtrula. 
Weniger klar und ſcharf läßt ſich unſer 
Protiſtenreich gegen das Pflanzeureich 
hin abgrenzen. Doch dürften auch hier die 
Verhältniſſe der individuellen Entwickelung 


und des feineren Baues die Handhabe 
liefern, mit deren Hülfe wir die Grenz— 
linie ziehen können. Auch bei den echten 
Pflanzen ordnen ſich die Zellen, welche den 
Körper zunächſt aufbauen, in beſtimmter 
Weiſe zu Zellenreihen oder Zellenſchich— 
ten: und die charakteriſtiſche einfachſte 
Pflanzenform der Art bildet den ſogenann— 
ten Thallus oder das „Zellenlager“. 


— —— — —— — ——2 ne 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


Bei den niederen Pflanzen bleibt der Thal— 
lus als ſolcher zeitlebens beſtehen, bei den 
höheren ſondert oder differenzirt er ſich in 
Stengel und Blätter. Auch vermehren ſich 
alle echten Pflanzen auf geſchlechtlichem Wege, 
während dies bei den Protiſten nicht der 
Fall iſt. 


Eine abſolute Grenze freilich zwi- 
ſchen den drei organiſchen Reichen können 


und wollen wir nicht feſtſtellen. Denn 
auch die echten Pflanzen, wie die echten 
Thiere, durchlaufen in 
ihrer früheſten Ent— 
wickelung, als einzel— 
liges Ei, als einfacher 
Zellenhaufen u. ſ. w. 
niedere Formzuſtände, 
welche gewiſſen Pro- 
tiſten gleichen. Nach 
unſerem biogenetiſchen 
Grundgeſetze müſſen 
wir daraus den Schluß 
ziehen, daß ſämmtliche 
Organismen, Thiere, 
Protiſten und Pflan⸗ 
zen, von höchſt ein— 
fachen einzelligen Or⸗ 
ganismen abſtammen; 
und wenn wir dieſe 
älteſten Stammformen 
heute lebend vor uns hätten, würden wir 
ſie jedenfalls für neutrale Protiſten 
erklären. a 
Eine gute negative Charakteriſtik der 
Protiſten, gegenüber den echten Thieren und 
den echten Pflanzen, läßt ſich darauf grün- 
den, daß ſie weder eine Gaſtrula mit 
zwei Keimblättern bilden, wie die erſteren, 
noch einen Thallus oder ein Prothal- 
lium, wie die letzteren. Damit in Zu— 
ſammenhang ſteht der Umſtand, daß die 
Protiſten niemals wirkliche (aus vielen 


(Kaninchen). 


höhle ausfüllt. 


. 


Fig. 58. Gaſtrula eines Säugethieres 
e Hautblatt (Exoderm). 
i Darmblatt (Entoderm). d eine centrale 
Entoderm-Zelle, welche die enge Urdarm— 
o eine Entoderm-Zelle, 
welche die Urmundöffnung verſtopft. 
Ebenſo wie beim Kaninchen verhält ſich 
wahrſcheinlich auch die Gaſtrula beim 
Menſchen. 


Erfahrung bleibt uns für die Erkenntniß 


Zellen zuſammengeſetzte) Gewebe und 
Organe bilden, wie alle echten Thiere 
und Pflanzen. Auch iſt es ſicher von 
großer Bedeutung, daß die große Mehr- 
zahl aller Protiſten ſich ausſchließlich auf 
ungeſchlechtlichem Wege fortpflanzt 
(durch Theilung, Knospenbildung, Sporen— 
bildung). Aber ſelbſt bei den wenigen 
Protiſten, welche ſich bereits zur geſchlecht— 
lichen Zeugung in einfachſter Form erheben, 
geht der Gegenſatz zwiſchen männlichen und 
weiblichen Theilen nie— 
mals ſo weit, wie es 
bei allen echten Thieren 
und Pflanzen der Fall 
iſt. Sie repräſentiren 
in jeder Beziehung 
jene niedere älteſte 
Bildungsſtufe, welche 
jedenfalls der Ent- 
wickelung echter Thiere 
und echter Pflanzen 
vorausgegangen ſein 
muß. 

Dieſe Betrachtungen 
führen uns auf den- 
jenigen Weg, auf 
welchem allein eigent— 
lich das Verhältniß 
der drei organiſchen 
Reiche zu einander entſcheidend aufgeklärt 
werden kann, auf den Weg der Stam— 
mesgeſchichte oder Phylogenie. Wenn 
wir ganz genau wüßten, wie ſich das or— 
ganiſche Leben auf unſerem Erdball von 
Anfang an entwickelt hat, wie die Thiere, 
Protiſten und Pflanzen urſprünglich ent— 
ſtanden ſind, dann würden wir auch das 
Verhältniß der drei Reiche zu einander 
klar und unzweideutig beurtheilen können. 
Aber der ſichere Weg der unmittelbaren 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


29 


226 Haeckel, Das Protiſtenreich. 


dieſes wichtigen Verhältniſſes auf ewig ver— 
ſchloſſen. Kein lebendes Weſen und keine 
Schöpfungsurkunde kann uns erzählen, wie 
jener älteſte Entwickelungsgang des orga— 
niſchen Lebens vor vielen Millionen von 
Jahren begonnen und wie er ſich weiter— 
hin zunächſt geſtaltet hat. Tauſende von 
Arten und Gattungen, Millionen von Ge— 
nerationen ſind ins Grab geſunken, ohne uns 
ſichtbare Spuren ihrer Exiſtenz hinterlaſſen zu 
haben. Und gerade die wichtigſten von 
Allen, die älteſten und einfachſten Formen, 
konnten wegen des Mangels harter Körper— 
theile keine Verſteinerungen zurücklaſſen. 
Aber wenn uns auch der ſtreng empi— 
riſche Weg der Erkenntniß in dieſer hoch— 
wichtigen Urſprungsfrage unwiderruflich ver— 
ſchloſſen iſt, ſo bleibt uns doch hier, wie 
überall, zur Ausfüllung unſerer Erkenntniß— 
lücken der Weg der wiſſenſchaftlichen Hy— 
potheſe offen. Wenn dieſe hiſtoriſche 


Hypotheſe ſich in umfaſſender Weiſe 
Geſellſchaften von gleichartigen Zellen. 


auf die bisher erkannten wiſſenſchaftlichen 


Thatſachen ſtützt, jo iſt fie in der Natur- 


geſchichte der Lebeweſen ebenſo berechtigt, 


Wiſſenſchaften. Und wie uns die allgemein 
anerkannten geologiſchen Hypotheſen dazu 
geführt haben, eine befriedigende Einſicht 
in den Entwickelungsgang unſeres Erdballs 
zu gewinnen, ſo werden auch die phylo— 


gründen, Licht über den Entwickelungsgang des 


Wir können hier nicht auf eine Be— 


gehen, welche über dieſen Entwickelungsgang 
aufgeſtellt worden ſind. Nur auf diejenige 


Vorſtellung wollen wir ſchließlich noch einen 


wie in der Geologie, in der Archäologie, 
der Culturgeſchichte und anderen hiſtoriſchen | 


genetiſchen Hypotheſen, die wir auf die von 
Darwin reformirte Descendenz-Theorie 


organiſchen Lebens auf der Erde verbreiten. 


leuchtung und Begründung aller der ver- 
ſchiedenen phylogenetiſchen Hypotheſen ein- 


flüchtigen Blick werfen, welche heut zu tage 


am meiſten innere Wahrſcheinlichkeit für 
ſich hat. Danach müſſen wir annehmen, 
daß das Leben auf unſerem Planeten mit 
der ſelbſtſtändigen Entſtehung der allerein— 
fachſten Protiſten aus anorganiſchen Ver— 
bindungen begonnen hat. Dieſe älteſten 
Lebeweſen der Erde werden den noch heute 
exiſtirenden Moneren ähnlich geweſen 
ſein: einfachſte lebende Protoplasma-Stück— 
chen ohne jegliche Organbildung. Daraus 
werden ſich zunächſt durch Sonderung eines 
Kernes im Innern einzellige Protiſten 
gebildet haben, und zwar hüchſt einfache, 
formloſe und indifferente Zellen, gleich 
den Amoeben. Indem einige von die— 
ſen einzelligen Protiſten, von geſelligen 
Neigungen getrieben, ſich daran gewöhnten, 
in kleinen Geſellſchaften vereinigt zu leben, 
werden die erſten vielzelligen Organismen 
entſtanden ſein, und zwar zunächſt auch 
nur wieder einfache Zellenhorden, lockere 


Nun iſt es wohl wahrſcheinlich, daß 
dieſe älteſten und einfachſten Entwickelungs— 
vorgänge des organiſchen Lebens ſich an 
zahlreichen verſchiedenen Stellen des jugend— 
lichen Erdballs gleichzeitig und unabhängig 
von einander wiederholt haben. So können 
alſo verſchiedene und vielleicht zahlreiche 
Formen von Protiſten unabhängig von 
einander entſtanden ſein; zuerſt einzellige, 
ſpäter vielzellige. Durch den allgemeinen 
Kampf ums Daſein, der auch unter dieſen 
Protiſten frühzeitig ſich geltend machte, 
werden dieſelben allmälig zu höherer Son— 
derung und Vervollkommnung angetrieben 
worden ſein. Als wichtigſter Vorgang iſt 
ſicher die gegenſätzliche Sonderung von 


thieriſchen und pflanzlichen Lebensproceſſen 


hervorzuheben. Die einen Protiſten began— 
nen mehr an thieriſche, die andere an 


pflanzliche Lebensweiſe ſich anzupaſſen, und 
mit der Lebensweiſe in Wechſelwirkung ent— 
ſtand die charakteriſtiſche Körperform. Eine 
dritte, conſervative Gruppe von Protiſten 
behielt den urſprünglichen neutralen Cha- 
rakter bei. Indem jene Anpaſſungen ſich 


im Laufe der Zeit durch Vererbung befeſtig— | 


ten, bildeten ſich neben einander die drei 
großen organiſchen Reiche aus. 

Mit Beziehung auf den Stoffwechſel 
und die Ernährung würden wir freilich 
ſagen können, daß dieſe älteſten Bewohner 
unſeres Planeten Pflanzen waren, — 
richtiger: Protiſten mit pflanzlichem Stoff— 
wechſel; Protiſten, welche gleich echten Pflan— 


zen aus Waſſer, Kohlenſäure und Ammo- 
niak die wichtigſte „Lebens-Baſis“, das 
und dieſes 
Plaſſon ſonderte ſich ſpäter in Protoplas— | 


Plaſſon, zuſammenſetzten, 
ma und Nucleus. 

Die älteſten Thiere hingegen — oder 
richtiger: die älteſten Protiſten mit thieri— 
ſchem Stoffwechſel, waren Paraſiten, 
ſchmarotzende Protiſten, welche es bequemer 
fanden, fi” das von anderen Protiſten 
gebildete Protoplasma anzueignen, als ſelbſt 
ſolches zu bilden. Da eben urſprünglich 
viele Protiſten-Stämme ſich unabhängig 
von einander entwickelt haben können, von 
verſchiedenen autogonen Moneren abſtam— 
mend, ſo können auch dieſe Anpaſſungen ſich 
mehrmals (polyphyletiſch) wiederholt haben. 

Aber auch wenn wir dieſe viel— 
ſtämmige (polyphyletiſche) Hypotheſe ver— 
werfen und wenn wir mehr zu der ein— 
ſtämmigen (monophyletiſchen) Annahme hin— 
neigen, daß der Urſprung aller lebenden 
Weſen auf eine einzige gemeinſame Stamm— 
form zurückgeführt werden muß, auch dann 
werden wir doch im Ganzen wieder zu 
ähnlichen Vorſtellungen über das Verhält— 
niß der drei Reiche gelangen. Auch in 


Haeckel, Das Protiſtenreich. 


ten. 


227 


dieſem Falle werden wir annehmen müſſen, 
daß jene älteſte urſprüngliche Stammform 
eine einfachſte Cytode, ein Moner war, 
und daß ſich aus den Nachkommen jenes 
Moners zunächſt einfache Zellen entwickel— 
Dieſe Zellen werden ſich wieder in 
thieriſche und pflanzliche geſondert haben, 
und ſo wird ſich nach einer Richtung hin 
das Thierreich, nach einer anderen das 
Pflanzenreich ausgebildet haben, zwei ge— 


waltigen, weit verzweigten Stämmen ver- 
gleichbar. Aber aus der gemeinſamen Wurzel, 


in der dieſe beiden großen Stämme zuſam— 
menhängen, haben ſich außerdem noch zahl— 
reiche niedere und indifferente Wurzelſchöß— 
linge ſelbſtſtändig entwickelt; und dieſe bilden 
zuſammen unſer Reich der Protiſten. 
Jedenfalls bleibt ſo viel ſicher, daß Thier— 
reich und Pflanzenreich nur in ihren voll— 
kommeneren Formen ſich ſchroff gegenüber 
ſtehen, in ihren niederen Formen dagegen durch 
das Protiſtenreich untrennbar zuſammenhän— 
gen. Die wiſſenſchaftliche Begründung dieſer 
wichtigen Anſchauung iſt uns erſt durch die 
großartigen Fortſchritte der letzten 40 Jahre 
möglich geworden. Aber mit dem Genius des 
Propheten hat ſchon vor 70 Jahren einer unſrer 
tiefblickendſten Naturphiloſophen, Deutſch— 
lands genialſter Dichter, dieſelbe Anſchauung 
ahnungsvoll ausgeſprochen. In Jena ſchrieb 
Goethe 1806 den merkwürdigen Satz 
nieder: „Wenn man Pflanzen und Thiere 
in ihrem unvollkommenſten Zuſtande be— 
trachtet, ſo ſind ſie kaum zu unterſcheiden. 
So viel aber können wir ſagen, daß die 
aus einer kaum zu ſondernden Verwandt— 
ſchaft als Pflanzen und Thiere hervortre— 
tenden Geſchöpfe nach zwei entgegengeſetzten 
Seiten ſich vervollkommnen, ſo daß die 
Pflanze ſich zuletzt im Baume dauernd und 
ſtarr, das Thier im Menſchen zur höchſten 
Beweglichkeit und Freiheit ſich verherrlicht.“ 


— — . — — 


Die Königinnen der Meliponen. 


Von 


Dr. Fritz Müller. 


ie ſchönſte unter den ſtachelloſen 
Honigbienen des ſüdlichen Bra- 
ſiliens iſt die Coyrepü oder 
große Mandacaia. Sie hat 
etwa die Größe einer europäi— 
ſchen Honigbiene; ihre etwas geringere 
Länge wird durch größere Breite auf— 
gewogen. Kopf und Bruſt ſind glänzend 
ſchwarz, der oben unbehaarte Hinterleib 
rothbraun, mit vier dottergelben Quer— 
binden geziert. Im April 1873 entnahm 
ich einem hohlen Baumſtamme ein Volk 
dieſer ſchönen Biene, um es in meinem 
Garten lebend zu beobachten. Nachdem ich 
Brutwaben und Honigtöpfe und mit ihnen 
die größte Zahl der Bewohner herausge— 
nommen hatte, bemerkte ich zwiſchen den 
in der Höhle des Baumes zurückgebliebenen 
bunten Erbauern des Neſtes etwas kleinere 
Bienen, deren einfarbiger, glänzend brauner 
Hinterleib mit eigenthümlich ſeidenartig 
glänzenden, bräunlichen, hinterwärts gerich— 
teten Haaren bekleidet war. Sie waren 
im ganzen Ausſehen ſo verſchieden, daß ich 
gar nicht an die Möglichkeit dachte, ſie 
öknnten derſelben Art angehören. Ich fing 


| 


neun dieſer Bienen; alle waren Weibchen, 
wie die zwölfgliedrigen Fühler und die 
einfachen Fußklauen bewieſen (bei den Männ— 
chen der Meliponiden ſind die Fußklauen 
geſpalten); allein ihre Hinterſchienen beſaßen 
nicht die nackte, glänzende, vertiefte Außen— 
fläche, das „Sammelkörbchen“, in welchem 
die Arbeiter der Meliponen den Blüthen— 
ſtaub heimtragen. Die Außenfläche der 
Hinterſchienen war gewölbt und behaart, 
zum Blüthenſtaubſammeln kaum tauglich. 
Dies legte den Gedanken nahe, es ſeien 
„Kukuksbienen“, die ihre Eier in die mit 
Futterbrei gefüllten Brutzellen ihrer Ver— 
wandten einſchmuggeln. Unter den Hum— 
meln kennt man ja eine ganze Anzahl ſolcher 
ſchmarotzenden Arten. 

Bald darauf erhielt ich ein Volk einer 
zweiten Melipona-Art, der Gurupü. Sie 
iſt ſo groß wie die vorige Art, matt ſchwarz 
und auf der ganzen Oberſeite, auch des 
Hinterleibes, mit dichter, ſenkrecht abſtehen— 
der, bräunlicher oder ſchwärzlicher Behaar— 
ung bekleidet. Nach wenigen Wochen ging 
dieſes Volk zu Grunde, wahrſcheinlich weil 
wegen Weiſelloſigkeit die älteren Arbeiter 


Müller, Die Königinnen der Meliponen. 


ſich zerſtreut hatten; die zurückgebliebenen 
Drohnen und jüngeren Arbeiter mußten 
dann Hungers ſterben, nachdem ſie die vor— 
handenen Vorräthe aufgezehrt hatten. Eines 
Tages vermißte ich die Wache am Flug— 
loche, es flogen keine Bienen mehr, dagegen 
liefen zahlreiche Ameiſen aus und ein. Ich 
fand bei Unterſuchung des Stockes todt 
oder ſterbend 294 meiſt noch nicht ausge— 
färbte Arbeiter, 59 Drohnen, die dagegen 
faſt alle ſchon ausgefärbt waren, und 21 
zum Theil noch in den Brutzellen einge⸗ 
ſchloſſene Weibchen, täuſchend ähnlich den 
bei den Coyrepü gefundenen, wie ſie 
durch die außen gewölbten und behaarten 
Hinterſchienen von den Arbeitern, und höchſt 
augenfällig durch die braungelbe, ſeiden— 
glänzende, hinterwärts gerichtete Behaarung 
des Hinterleibes von allen übrigen Be— 
wohnern des Stockes ſich unterſcheiden. 

Eine eingehendere Unterſuchung, die 
mein Bruder Hermann Müller vor— 
nahm, ergab, daß dieſe abweichenden Weib— 
chen der beiden Stöcke verſchiedenen Arten 
angehörten, von denen jede trotz des ganz 
verſchiedenen Ausſehens in vielen Punkten 
ſich eng anſchloß an die Arbeiter, in deren 
Geſellſchaft ſie gefunden worden war. 

Im Freien habe ich nur einmal ein 
ſolches Weibchen gefangen, ſo ähnlich den 
früher geſehenen, daß mir bei oberflächlicher 
Betrachtung kein Unterſchied auffiel; indeß 
wollte ein glücklicher Zufall, daß daſſelbe, 
wie mein Bruder feſtſtellte, einer dritten 
Art angehörte, und ſich ebenſo an unſere 
dritte größere Melipona-Art, die Mondury 
(Melipona Mondury Smith = Fulva 
Lep.) anſchloß, wie die beiden erſteren an 
die große Mandagaia und die Gurupn. 

Häufiger als die genannten drei größe— 
ren iſt hier eine vierte, kleinere (6 bis 7,5 

eillimeter lange) Melipona-Art, die eben— 


— 


229 


falls den Namen Mandacaia führt und 
beſonders durch ihre außergewöhnliche Ver— 
änderlichkeit merkwürdig iſt. Kopf und 
Bruſt ſind matt ſchwarz, der oberſeits un— 
behaarte, glänzende Hinterleib iſt bald 
ganz ſchwarz, bald ſchwarz mit röthlichem 
Grunde, bald braunroth, bald röthlich, und 
auf dem Rücken mit vier, ſeltener fünf, 
gelben oder auch weißlichen, ununterbroche— 
nen oder mehr oder weniger breit unter— 
brochenen Querlinien gezeichnet. Das Schild— 
chen iſt bald glänzend ſchwarz, bald gelb. 
Die Kinnbacken (Mandibeln) ſind bald ganz— 
randig, bald mehr oder minder deutlich ge— 
zähnt, ſo daß nach dieſem Merkmal, durch 
welches Latreille die Gattungen Meli- 
pona und Trigona unterſchied, von den 
Arbeitern dieſer Art einige zu Melipona, 
andere zu Trigona gehören würden. Von 
dieſer Art beſaß ich gegen Ende des Jahres 
1874 drei Völker, alle mit ſchwarzem, 
quergeſtreiftem Hinterleib, zwei auch mit 
ſchwarzem Schildchen, während bei dem 
dritten gelbe und ſchwarze Schildchen in 
ungefähr gleicher Häufigkeit vorkamen. 

Am 31. Oktober 1874 ſah ich zum 
erſten Male auch bei dieſer Art ein Weib— 
chen, welches durch einfarbig braunen Hinter- 
leib mit hinterwärts gerichteter, ſeidenglän— 
zender, gelbbrauner Behaarung in dem Ge— 
wimmel der Arbeiter ſich bemerklich machte; 
es war etwas kleiner als dieſe. Bald fand 
ich dieſe Weibchen auch in den beiden an— 
deren Stöcken, und zwar in der Farbe des 
Schildchens übereinſtimmend mit den Ar— 
beitern des betreffenden Volkes. Unter dem 
Volke, deſſen Arbeiter bald ſchwarze, bald 
gelbe Schildchen trugen, fing ich fünf ſol— 
cher Weibchen mit ſchwarzem und ebenfalls 
fünf mit gelbem Schildchen. 

Nach dieſem Funde war natürlich nicht 
mehr daran zu denken, daß dieſe Weibchen 


230 


fremde Eindringlinge, daß ſie Kukuksbienen 
fein könnten; es waren ohne Frage Weib- | 


chen der Art, bei welcher ſie lebten. Ob 
jungfräuliche Königinnen oder ob etwa ein 
beſonderer Stand heiliger Jungfrauen), 
die, ohne von einem Manne zu wiſſen, 
Drohneneier legen, wie die von Vogel 
beobachteten „Drohnenmütterchen“ der ägyp— 
tiſchen Bienen, kann ich noch nicht endgültig 
entſcheiden; da jedoch bis auf den rieſig 
angeſchwollenen Hinterleib mein Bruder die 
Königin der Coyrepu völlig übereinſtim— 
mend fand mit den kleinen Weibchen des— 
ſelben Volkes, ſo iſt das Erſtere mir wahr— 
ſcheinlicher 

So haben wir denn hier vier Melipona— 
Arten, deren fruchtbare Weibchen, ſeien es 
Königinnen oder heilige Jungfrauen, über— 
raſchend ähnlich ſind, während die unfrucht— 
baren Weibchen (Arbeiter) und die Männ— 
chen (Drohnen) jeder Art ſich weit von 
denen der übrigen Arten und von den frucht— 
baren Weibchen der eigenen Art entfernen. 


ſein? 

Daß die Weibchen mehrerer verwandten 
Arten einander ſehr ähnlich, die Männchen 
dagegen von einander und von den eigenen 
Weibchen ſehr verſchieden ſind, kommt auch 
bei den Schmetterlingen vor, und man 
darf in dieſem Falle annehmen, wie Dar— 
win überzeugend nachgewieſen hat, daß die 
unanſehnlicheren Weibchen die urſprüngliche 
Zeichnung und Färbung bewahrten, wäh— 
rend die Männchen ihr glänzendes Kleid 
der von den Weibchen geübten geſchlecht— 
lichen Ausleſe verdanken. Auch bei unſeren 


) Ich ſchlage dieſe in der chriſtlichen 
Mythologie ſeit lange in gleichem Sinne üb— 


langathmigen Fremdwortes: „parthenogene— 
tiſche Weibchen“. 


Müller, Die Königinnen der Meliponen. 


Wie mag dieſes Verhalten zu erklären: 


liche deutſche Bezeichnung vor an Stelle des 


Meliponen wird man die übereinſtimmende 
Tracht der fruchtbaren Weibchen als Erb— 
theil einer gemeinſamen Stammform an— 
ſprechen dürfen, und man würde ebenſo die 


Bedenken der geſchlechtlichen Ausleſe zu— 
ſchreiben, wenn es ſich eben nur um die 
Männchen handelte. Das Auffallendfte aber 
in dieſem Falle iſt nicht die Verſchiedenheit 
der Männchen, ſondern daß die unfrucht— 
baren Weibchen das Gewand der Männ— 
chen und nicht das der fruchtbaren Weib— 
chen tragen. Drohnen und Arbeiter ſtim— 
men in Größe, Geſtalt und Färbung faſt 
vollſtändig überein; nur die Farbe des Ge— 
ſichtes iſt bisweilen abweichend; außerdem 
fehlen den Drohnen die Sammelkörbchen 
der Hinterſchienen, ihre Fußklauen ſind 
geſpalten, ihre Fühler dreizehngliedrig. 
Leider iſt — und damit fehlt jedem 


bei ſtachelloſen Honigbienen noch nicht feſt— 
geſtellt, wodurch die Entſtehung der drei 
verſchiedenen Stände bedingt iſt, und ſie 
ſtehen in ihrem Bau und namentlich auch 
in ihrer Brutpflege den ſtachelbewehrten 
Honigbienen der alten Welt nicht nahe ge— 
nug, um ohne Weiteres das bei letzteren 
Erforſchte auf ſie übertragen zu dürfen. 
Die in einſchichtigen wagerechten Waben an— 
geordneten Brutzellen ſind bei den Meli— 
ponen ſämmtlich von gleicher Größe, mögen 
ſie für Männchen, fruchtbare oder unfrucht— 
bare Weibchen dienen (bei den nahe ver— 
wandten Trigonen kommen beſondere, ſehr 
große „Weiſelwiegen“ vor). Die Brut⸗ 
zellen werden mit Futterbrei gefüllt, bevor 
das Ei gelegt wird, und ſobald dies ge— 
ſchehen, ſofort geſchloſſen. Wenn alſo aus 
den Eiern Weibchen oder Männchen her— 
vorgehen, je nachdem ſie befruchtet werden 
oder nicht, ſo kann wenigſtens die Königin 


Verſchiedenheit der Männchen ohne große 


Erklärungsverſuche der ſichere Boden — 


* 


nicht durch verſchiedene Größe der Zellen 
veranlaßt werden, die Befruchtung zu voll— 
ziehen oder zu unterlaſſen, und wenn die 
Entwickelung der Weibchen zu Königinnen 
oder Arbeitern bedingt iſt durch verſchiedene 
Ernährung der Larve, ſo könnte dabei nur 
die Beſchaffenheit, nicht aber die Menge 
des Larvenfutters in Betracht kommen. 
In einem wichtigen Punkte ſtimmen übri— 
gens die Meliponen mit den europäiſchen 
Bienen überein: Die fruchtbaren Weibchen 
entwickeln ſich raſcher, die Drohnen lang— 
ſamer als die Arbeiter, und dieſe Ueber— 
einſtimmung ſpricht allerdings zu Gunſten 
der Annahme, daß auch die Urſachen, welche 
die Entſtehung des einen oder des anderen 
der drei Stände bedingen, dieſelben ſein 
mögen. Iſt dies aber der Fall, ſo muß 
es um ſo befremdender erſcheinen, daß die 
von den Drohnen gezeugten fruchtbaren 
Töchter das Gewand des Vaters nicht erben, 
während die von der Königin vaterlos er— 
zeugten Söhne es erhalten. 

Es iſt kaum denkbar, daß Arbeiter und 
Drohnen unabhängig von einander daſſelbe 
von dem der Königin ſo weit verſchiedene 
Ausſehen erlangt haben; vielmehr wird 
daſſelbe von einem der beiden Stände er— 
worben und dann auf den andern über- 
tragen worden ſein. 


———ů — — ä ——U—— —— —— ——— — ů — —— ——! 


Müller, Die Königinnen der Meliponen. 


231 


Die Annahme, daß die Arbeiter zuerſt 
die alterthümliche, von der Königin ziemlich 
treu bewahrte Tracht ablegten, und daß 
von ihnen aus die neue Tracht auf die 
Drohnen überging, würde die weitere, durch 
nichts zu ſtützende Annahme fordern, daß 
nicht nur in ſeltenen Ausnahmefällen, wie 
bei der europäiſchen Biene, ſondern regel— 
mäßig die Arbeiter der Meliponen Drohnen- 
eier legen. 

Bei weitem wahrſcheinlicher ſcheint es, 
daß, wie bei vielen Schmetterlingen, zu— 
nächſt die Männchen der verſchiedenen Arten 
durch geſchlechtliche Ausleſe ſich immer weiter 
von einander und von ihren Müttern ent— 
fernten. Die ganz eigenthümliche und bis 
jetzt wohl beiſpielloſe Weiſe der Vererbung, 
durch welche dieſe allmälig anwachſende Ver— 
ſchiedenheit der Männchen in gleichem Grade 
auch auf die unfruchtbaren, aber gar nicht 
auf die fruchtbaren Weibchen übertragen 
wurde, dürfte vielleicht damit in Zuſammen⸗ 
hang ſtehen, daß Drohnen und Arbeiter 
daſſelbe, die Königinnen aber ein anderes 
Larvenfutter erhalten. 

Doch ſtatt weitere unbeweisbare Mög— 
lichkeiten aufzuſuchen, will ich lieber einfach 
geſtehen, daß ich eine befriedigende Erklär— 
ung bis jetzt nicht zu geben weiß. 


f 


Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Von 


Herbert Spencer. 


VI. 


Anredeformen. 


/ 5 as die Verbeugung durch eine 
3 Handlung, das drückt die An— 
5 redeform durch Worte aus. 
Wenn beide gemeinſamer Ab— 
fa ſind, ſo durfte man dies ſchon 
im Voraus annehmen, und daß erſteres 
der Fall iſt, läßt ſich in der That nach— 
weiſen. Es treffen ſich Beiſpiele, wo beide 
Formen unterſchiedslos gebraucht werden, 
da eben die eine das Aequivalent der 
andern darſtellt. So bemerkt Capitän 
Spencer von den Polen und ſlaviſchen 
Schleſiern: 

„Keine Eigenthümlichkeit im Auftreten 
kennzeichnet vielleicht dieſe beiden Völker 
beſſer, als ihre unterwürfige Art, irgend 
eine Freundlichkeit anzuerkennen; denn ihr 
Ausdruck des Dankes iſt das ſervile „Upa— 
dam do nög* (ich falle zu Euren Füßen), 
was keineswegs eine bloße Redensart ſein 
ſoll: man braucht ihnen die Kleinigkeit von 
ein paar Pfennigen zu ſchenken, und ſie 


fallen buchſtäblich nieder und küſſen einem 


und zum König: 


die Füße.“ 


Hier wird alſo die Stellung des Be— 


| fiegten vor feinem Sieger entweder that— 


ſächlich angenommen, oder er bekennt ſich 
in Worten dazu, und gegebenen Falls kann 
die wörtliche Darſtellung als Erſatz für 
die wirklich ausgeführte Handlung gelten. 
Andere Zeugniſſe führen uns Worte und 
Handlungen in ähnlicher Verknüpfung vor, 
ſo z. B. wenn ein türkiſcher Höfling, über— 
haupt gewöhnt, unterwürfige Verbeugungen 
zu machen, den Sultan anredet: „Mittel— 
punkt des Weltalls! Deines Sklaven Haupt 
liegt zu Deinen Füßen!“ — oder wenn 
ein Siameſe, der ſich alltäglich den kriechend— 
ſten Niederwerfungen unterzieht, zu ſeinem 
Vorgeſetzten ſagt: „Herr und Wohlthäter, 
zu deſſen Füßen ich liege,“ zu einem Für— 
ſten aber: „Ich, die Sohle Deines Fußes,“ 
„Ich, ein Stäubchen an 
Deinen geheiligten Füßen.“ Oder noch 
beſſer, wenn ein Siameſe aus dem Gefolge 
des Königs ſagt: „Hoher und vortrefflicher 
Herr, ich, Dein Sklave, bitte darum, die 


königlichen Befehle entgegennehmen und ſie 


auf mein Gehirn, auf den Scheitel meines 


Kopfes legen zu dürfen,“ womit abermals 
in Worten jene abſolut unterwürfige Stell— 
ung angedeutet wird, bei der das Haupt 
unter dem Fuße des Siegers liegt. 

Es mangelt aber auch aus näher ge— 
legenen Ländern nicht an Beiſpielen, welche 
dieſe Erſetzung wirklich ausgeführter Ehren— 
bezeugungen durch ein bloßes Bekenntniß 
der Bereitwilligkeit dazu beleuchten. In 
Rußland muß ſelbſt in der gegenwärtigen 
Zeit eines gemäßigten Despotismus eine 
Petition ſtets mit den Worten beginnen: 
„Der und der ſchlägt ſeine Stirn“ (auf 
die Erde), und Bittende werden deshalb 
„Stirnſchläger“ genannt. Am Hofe von 
Frankreich war es bis zum Jahre 1577 
noch Sitte, daß die Einen ſagten: „Ich 
küſſe die Hand Euer Gnaden,“ Andere aber 
ſogar: „Ich küſſe Euer Herrlichkeit Füße.“ 
Und in Spanien, wo mancherlei aus ver— 
gangenen Zeiten überkommene orientalijche 
Gebräuche noch fortbeſtehen, können wir 
ſelbſt heutigen Tages noch hören: „Wenn 
man aufſteht, um Abſchied zu nehmen, ſo 
muß man einer Dame gegenüber ſagen: 
„Meine Dame, ich lege mich zu Ihren 
Füßen,» worauf fie entgegnen wird: „Ich 
küſſe Ihre Hand, Herr.»“ 

Uebrigens ließ ſich ſchon aus dem, was 
vorher gegangen iſt, in der That entnehmen, 
daß die Anredeformen ſolchen Urſprungs 
und Charakters ſein würden. Neben an— 
dern Mitteln, um den Sieger, den Herrn 
oder den Beherrſcher zu verſöhnen, werden 
natürlich auch Anreden verſucht werden, 
welche mit dem Bekenntniß der Beſiegung, 
d. h. mit der wörtlichen Wiederholung der 


um ſich dann zu den verſchiedenartigſten 
Redeweiſen zu entwickeln, welche alle den 
Zuſtand der Knechtſchaft laut anerkennen. 
Die Folge davon wird alſo ſein, daß die 


mit derſelben verbundenen Lage beginnen, 


m 


Spencer, Die Herrſchaft des Cęremoniells. 233 


Anvedeformen im Allgemeinen, da fie von 
ſolchen Originalen abſtammen, ſämmtlich 
die Angehörigkeit oder Unterwerfung unter 
die angeredete Perſon mehr oder weniger 
deutlich ausdrücken werden. 

Unter den begütigenden Redeweiſen giebt 
es einige, welche, ſtatt die natürliche Folge 
einer Niederlage, die Niederwerfung, dar— 
zuſtellen, vielmehr den damit verbundenen 
Zuſtand ausdrücken, in welchem der Be— 
ſiegte der Barmherzigkeit des Angeredeten 
anheimfällt. Eine der ſeltſamſten Formen 
dieſer Art kommt bei den cannibaliſchen 
Tupis vor. Während einerſeits ein Krieger 
ſeinen Feind anſchreit: „Möge jegliches 
Unglück über Dich, mein Fraß, kommen,“ 
wurde andererſeits von dem gefangenen 
Hans Stade bei der Annäherung an eine 
Behauſung verlangt, daß er die Worte 
ſpreche: „Ich, Eure Speiſe, bin gekommen.“ 
An anderen Orten nimmt dieſe wörtliche 
Hingabe des Lebens wieder andere Formen 
an. So wird verſichert, daß in Rußland 
während früherer Jahrhunderte die Bitt- 
ſchriften an den Czaar mit den Worten 
anfingen: „Laß unſere Köpfe nicht abhauen, 
o mächtiger Herr, weil wir es gewagt haben, 


Dich anzureden, ſondern höre uns!“ Und 


obwohl ich keine direkte Beſtätigung dieſer 
Aeußerung habe finden können, ſo erhält 
ſie doch eine indirekte Stütze in der heute 
noch gebräuchlichen Redensart: „Wer zum 
Czaar geht, der wagt ſeinen Kopf,“ und 
nicht minder in dem Verschen: 

„Meine Seele Gott, 

Mein Land gehört mir, 

Mein Kopf dem Czaar, 

Mein Rücken Dir!“ 

Statt des Bekenntniſſes ſodann, daß 
der Redende nur von dem wirklichen oder 
vorgeblichen Oberherrn geduldet fortlebe, 
finden wir die Verſicherung des Sprechen— 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


30 


234 


den, daß er ſich perſönlich als Eigenthum 
des Angeredeten betrachte, oder ſeinen Beſitz 
zu deſſen Verfügung ſtelle, oder beides. 
Afrika, Polyneſien und Europa liefern 
Zeugniſſe hierfür. 
Haus eines Serracolet (Binnenlandnegers) 
betritt, ſo kommt dieſer heraus und ſagt: 


„Weißer Mann, mein Haus, mein Weib, | 
ſache jo gut wie verdunkelt, daß das Wort 


meine Kinder gehören Dir.“ Auf den 
Sandwichinſeln pflegt ein Häuptling, den 
man frägt, wem das Eigenthumsrecht über 
ein ihm angehöriges Haus oder Canoe zu— 


ſtehe, zu antworten: „Es gehört Euch und 
iſt. Wenn alſo, wie dies in der Bibel ſo 


mir.“ In Frankreich lautete die höfliche 
Anrede, welche im fünfzehnten Jahrhundert 
ein Abbé auf ſeinen Knieen liegend an die 
Königin richtete, wenn dieſelbe ſein Kloſter 


beſuchte: „Wir übergeben und opfern Dir 
die Abtei mit allem, was darinnen iſt, 


unſere Leiber wie unſer Eigenthum.“ Und 
gegenwärtig gilt in Spanien, wo die Höf— 
lichkeit erfordert, daß alles, was ein Gaſt 
bewundert, ihm ſogleich angeboten werde, 
folgende Regel: „Der Ort, von welchem 
man (einen Brief) datirt, ſoll von rechts— 
wegen bezeichnet werden als . . . . dies 
Euer Haus, wo es auch immer ſein mag; 
man darf nicht ſagen: dies mein Haus, 


da man eben ausdrücken will, daß man es 
auch ſeinen Vater „Saul's Knechte“ nennt. 


ſeinem Correſpondenten zur Verfügung ſtelle.“ 

Allein dieſe Formen, einen wirklichen 
oder vorgeblichen Höhern anzureden, indem 
man denſelben indirekt der Unterordnung 
unter ihn mit ſeinem Körper und ſeiner 


Habe verſichert, ſind nur von nebenſächlicher | 


Bedeutung im Vergleich zu den direkten 
Verſicherungen der Sklaverei und Knecht— 
ſchaft, welche, obgleich in barbariſchen Zeiten 


in Gebrauch gekommen, doch durch die 


Jahrhunderte der Civiliſation bis auf die 
gegenwärtige Zeit herab fortbeſtanden haben. 
Die bibliſchen Erzählungen haben uns 


Wenn ein Fremder das 


ſpricht. 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


damit vertraut gemacht, daß das Wort 


„Knecht“ ganz gewöhnlich von Seiten eines 
Unterthanen oder eines niedriger Stehenden 
auf ſich ſelbſt angewendet wird, wenn er 
mit einem Herrſcher oder einem Höhern 
In unſern Zeiten der Freiheit 
haben die durch tägliche Gewöhnung feſt— 
geſetzten Gedankenverbindungen die That— 


„Knecht“, wo es in der Ueberſetzung alter 
Geſchichten gebraucht wird, „Sklave“ be— 
deutet, geradezu das Verhältniß bezeichnet, 
in welches ein Kriegsgefangener gerathen 


häufig vorkommt, die Ausdrücke „Dein 
Knecht“ oder „Deine Knechte“ einem König 
gegenüber gebraucht werden, ſo ſind die— 
ſelben von Rechts wegen als Bezeichnung 
für denſelben Zuſtand der Unterjochung 
zu nehmen, welcher etwas weitläufiger 
durch die im letzten Kapitel angeführten 
Wendungen angedeutet wird. Offenbar 


pflegten dieſes ſelbſterniedrigende Wort nicht 


blos die eigentlichen Diener zu gebrauchen, 
ſondern auch ganze beſiegte Völker und 
ſelbſt Unterthanen im Allgemeinen, wie dies 
z. B. daraus erſichtlich iſt, daß der dem 
König Saul noch unbekannte David, als 
er mit dieſem redet, ſowohl ſich ſelbſt als 


Und ähnliche Verwendungen des Wortes 
dem Herrſcher gegenüber haben ſich bis in 
die jüngſten Zeiten herab erhalten. 

Schon ſehr frühe aber kam es dazu— 
daß ſolche Betheuerungen der Knechtſchaft, 
die man urſprünglich nur vor dem einen 


Inhaber der höchſten Gewalt ausſprach, auch 


ſolchen von untergeordneter Macht gewid— 
met wurden. Als die Brüder Joſephs in 
Aegypten vor dieſen gebracht wurden und 
ſich vor ihm fürchteten, nannten ſie ſich ſelbſt 
ſeine Knechte oder Sklaven; und nicht blos 


— 


dies, ſondern ſie ſprachen auch von ihrem 
Vater ſo, als ob er in demſelben Verhält— 
niß zu ihm ſtünde. Ueberdies finden ſich 
Zeugniſſe, daß dieſe Anredeform ſogar in 
den Verkehr zwiſchen Gleichgeſtellten über— 
ging, wo es ſich um Erlangung einer 
Gunſt handelte, wofür wir z. B. auf Buch 
der Richter, Cap. XIX, 19 verweiſen. Wie 
unter den europäiſchen Völkern eine ähn 
liche Unterwürfigkeit Platz gegriffen hat, 
braucht wohl kaum näher erörtert zu wer— 
den; Beiſpiele für einige der durchlaufenen 
Stufen werden genügen. Unter den fran— 
zöſiſchen Höflingen war im ſechszehnten 
Jahrhundert die Redensart gebräuchlich: 
„Ich bin Ihr Knecht und der beſtändige 
Sklave Ihres Hauſes,“ und bei uns ſelbſt 
waren in früheren Zeiten viele derartige 
Betheuerungen der Knechtſchaft im Schwange, 
wie z. B.: „Ganz zu Ihrem Befehl,“ 
„Stets zu Ihrer Hochehrwürden Verfüg— 
ung,“ „In vollkommenſter dienſtbarer Un— 
terthänigkeit“ u. ſ. w., während in un— 
ſeren Tagen dieſe Formen nur ſelten und 
dann meiſtens in ironiſchem Sinne wirklich 
ausgeſprochen werden und ihre Vertreter 
nur noch im ſchriftlichen Verkehr hinter— 
laſſen haben: „Ihr gehorſamer Diener,“ 
„Ihr unterthäniger Diener“ — und ſelbſt 
dieſe finden in der Regel nur dann An— 
wendung, wenn es ſich darum handelt, 
einen gewiſſen Abſtand aufrecht zu erhalten, 


weshalb fie dann oft im Grunde eine ges 


rade entgegengeſetzte Bedeutung bekommen. 

Daß dieſelben verſöhnenden Worte auch 
für religiöſe Zwecke im Gebrauch waren, 
iſt eine allbekannte Wahrheit. In der 
jüdiſchen Geſchichte werden die Menſchen 
ebenſo gut als Knechte Gottes wie als 
Knechte des Königs dargeſtellt. Von den 


benachbarten Völkern wird dort berichtet, 
daß ſie ihren verſchiedenen Gottheiten ganz 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


235 


auf dieſelbe Weiſe dienen, wie die Sklaven 
ihren Herrn Verehrung zollen. Und es 
finden ſich manche Beiſpiele, wo dieſe Be— 
ziehungen zum ſichtbaren und zum unſicht— 
baren Herrſcher auf ganz gleichlautende 
Weiſe ausgedrückt werden; ſo wenn wir 
leſen: „Der König hat die Bitte ſeines 
Knechtes erfüllt,“ an einer andern Stelle: 
„Der Herr hat ſeinen Knecht Jacob erlöſt.“ 
Somit hat der Ausdruck „Dein Knecht“, 
wie er jetzt bei uns im Gottesdienſt ge— 
braucht wird, eine ganz analoge Geſchichte 
gehabt, wie alle anderen Elemente des re— 


ligiöſen Ceremoniells. 


Hier dürfte es denn auch beſſer als 
irgend anderswo am Platze ſein, darauf 
aufmerkſam zu machen, daß das Wort 
„Dein Sohn“, einem Herrſcher, einem 
Höhergeſtellten und ſonſt einer Perſon ge— 
genüber angewendet, urſprünglich durchaus 
für gleichbedeutend mit „Dein Knecht“ gilt. 
Wenn wir bedenken, daß in den roheſten 
Geſellſchaften die Kinder blos unter Duld— 
ung der Eltern leben, und daß in den 
patriarchaliſchen Gemeinweſen, von denen 
die civiliſirten Geſellſchaften Europas ab— 
ſtammen, der Vater volle Gewalt über 
Leben und Tod ſeiner Kinder beſaß, ſo 
wird uns ſofort einleuchtend, daß die Be— 


theurung, eines Andern Sohn zu fein, nichts 


Anderes bedeutet, als daß man ſein Knecht 
oder Sklave ſei. Wir kennen Beiſpiele aus 
der alten Zeit, welche uns die Gleichwer— 
thigkeit beider Ausdrücke bezeugen, wie 
wenn Ahas Boten zu Tiglath-Pileſar, dem 
Könige von Aſſyrien, ſandte und ihm ſagen 


| ließ: „Ich bin Dein Knecht und Dein 
Sohn; komm herauf und rette mich.“ Und 


es mangelt nicht an neueren Zeugniſſen, 


die wir jenen mittelalterlichen Zeiten ent— 


nehmen können, wo, wie wir ſchon früher 
ſahen, ein Herrſcher oft ſich ſelbſt einem 


236 


mächtigeren Herrſcher zur Adoption anbot, 
wodurch er zu ihm in das Verhältniß 
kindlicher Knechtſchaft trat und ſich ſeinen 
Sohn nannte. Dies thaten z. B. Theo— 
debert I. und Childebert II. den Kaiſern 
Juſtinian und Mauritius gegenüber. — 
Endlich erfahren wir auch, daß an einigen 
Orten dieſer Ausdruck der Unterordnung 
gleich wie alle übrigen ſich ausgebreitet hat, 
bis er zu einer gewöhnlichen Höflichkeits— 
form wurde. „Ein Samoaner kennt kaum 
eine eindringlichere Redeweiſe, als wenn er 
ſich ſelbſt den Sohn des Angeredeten nennt.“ 

Von dieſen Höflichkeitsphraſen, welche 
Erniedrigung des Sprechenden ausdrücken, 
gelangen wir zu ſolchen, die eine andere 
Perſon erhöhen ſollen. Jede Art für ſich 
allein iſt ſchon ein Bekenntniß relativer 
Unterordnung, aber noch viel nachdrücklicher 
wird dieſe Betheuerung, wenn beide Arten ver— 
bunden werden, wie es gewöhnlich geſchieht. 

Auf den erſten Blick erſcheint es keines— 
wegs ſehr einleuchtend, daß auch Lobesreden 
gleich den übrigen Verſöhnungsmitteln ſich 
auf das Verhalten des Beſiegten gegen den 
Sieger zurückführen laſſen ſollten; aber es 


fehlt uns nicht an Beweiſen, daß ſie in 


der That auf dieſe Weiſe entſtanden ſind, 
ſicherlich wenigſtens in vielen Fällen. Die 
geſchlagenen Feinde des ſiegreichen Ramſes II. 
ſchicken ihren Bitten um Gnade die lob— 
preiſenden Worte voraus: „Fürſt, der Du 
Dein Heer ſchützeſt, tapfer mit dem Schwerte, 
Bollwerk Deiner Truppen am Tage der 
Schlacht, König, gewaltig an Kraft, großer 
Sovran, Sonne, mächtig in Wahrheit, 
Liebling des Ra, gewaltig in Siegen, Ram— 
ſes Miamon.“ Offenbar beſteht dann auch 
kein Unterſchied zwiſchen ſolchen von den 


denjenigen, welche ſpäter von denſelben 
Leuten im Zuſtand eines dauernd unter— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


jochten Volkes ausgehen, oder auch den ge— 
wöhnlichen Lobreden der Unterthanen vor 
ihren kriegeriſchen und despotiſchen Herr— 
ſchern. So gelangen wir unmittelbar zu 
den rühmenden Redensarten, wie ſie an 
den König von Siam gerichtet werden: 
„Mächtiger und heiliger Herr!“ „Gött— 
liche Barmherzigkeit!“ „Göttliche Ord— 
nung!“ „Herr des Lebens!“ „Beherr— 
ſcher der Erde“ u. ſ. w., oder wie ſie vor 
dem Sultan gebräuchlich ſind: „Der 
Schatten Gottes!“ „Glorie des Univer— 
ſums!“ oder vor dem chineſiſchen Kaiſer: 
„Sohn des Himmels!“ „Herr von zehn— 
tauſend Jahren!“ oder wie ſie vor ungefähr 
zwei Jahren die Bulgaren an den Kaiſer 
von Rußland richteten: „O geſegneter 
Car!“ „Glückſeliger Czar!“ „Rechtgläu— 
biger, mächtiger Czar!“ oder endlich wie 
diejenigen, mit denen in früheren Zeiten 
jede Anrede an den franzöſiſchen Monarchen 
begann: „O Hochgnädiger! o Großmäch— 
tiger! o ſehr Barmherziger!“ Und mit 


dieſer Verſöhnung durch direkte Schmeichelei 
verbinden ſich zumeiſt auch andere Formen, 


in denen die Schmeichelei indirekt ausge— 
ſprochen iſt, indem Bewunderung alles deſſen 
geheuchelt wird, was der Herrſcher ſagt. 
Die Höflinge des Königs von Delhi hielten 
ihre Hände empor und ſchrieen: „Wunder, 
Wunder!“ nach jeder gewöhnlichen Rede; 
oder wenn er am hellen Tage ſagte, es ſei 
Nacht, ſo antworteten ſie: „Schauet den 


Mond und die Sterne!“ Und in früheren 
Zeiten pflegten die Ruſſen auszurufen: 


„Gott und der Fürſt haben es gewollt!“ 
„Das kann nur Gott und der Fürſt wiſſen!“ 
Wurden demnach ſolche Lobreden ur— 


ſprünglich nur vor den Höchſten gebraucht, 
Beſiegten dargebrachten Lobpreiſungen und 


| 


fo ſtiegen fie doch natürlich bald zu Men— 
ſchen von geringerer Gewalt und von da 
immer tiefer hinab. Einen Beleg dafür 


— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


finden wir in den Anredeformen, welche 
um das ſechszehnte Jahrhundert in Frank— 
reich gebräuchlich waren: vor einem Cardi— 
nal „Hochberühmter und Hochzuverehren— 
der“; vor einem Biſchof „Hochwürdiger 
und Hochberühmter“; vor einem Herzog 
„Hochberühmter und hochzuverehrender Herr, 
mein vielgeehrter Meiſter“; vor einem Mar— 
quis „mein hochberühmter und vielgeehrter 
Herr“; vor einem Doktor „Tugendreicher 
und Ausgezeichneter“. Und aus der Ver— 
gangenheit unſers eigenen Volkes laſſen ſich 
ja genug ſolcher höflicher Redensarten auf— 
zählen, welche auch von Leuten niedern 
Ranges beanſprucht wurden: „Hochehrwür— 
diger“ galt für Ritter und manchmal auch 
für Barone, „Hochedler“ oder „Ehren— 
feſter“ für Edelleute; und ſelbſt bei Raths— 
herren und bei gewöhnlichen mit „Herr“ 


angeredeten Leuten waren ähnliche Lobes⸗ 
titel, wie z. B. „der Hochwerthe und Ehr— 


würdige,“ „der Ehrwürdige, Tugendſame 
und Hochwerthe“ gebräuchlich. In Ver— 


bindung mit ſolchen ſchmeichelhaften Bei- 


namen verbreiteten ſich aber auch Schmei— 
cheleien von ausführlicherer Form, ganz be— 
ſonders im Orient, wo ja beides bis zum 
Aeußerſten getrieben wird. Auf einer chi— 
neſiſchen Einladungskarte iſt das in vollem 
Ernſte an eine ganz gewöhnliche Perſon 
gerichtete Compliment zu leſen: „Zu wel— 
cher Höhe des Glanzes wird Ihre Gegen— 
wart uns emporſteigen laſſen!“ Taver— 
nier, welchem ich das oben erwähnte Bei— 
ſpiel einer kaum glaublichen Schmeichelei 
vom Hofe von Delhi entnommen habe, 
fügt hinzu: 
das gemeine Volk über;“ und nachdem er 
geſchildert, auf welche Weiſe er ſelbſt mit 
Menſchen des Alterthums von ganz über— 
menſchlicher Macht verglichen worden ſei, 
erwähnt er noch, daß ſogar ſein militäri— 


„Dieſes Laſter geht ſogar in 


ſcher Begleiter den größten Eroberern gleich— 
geſetzt und von ihm geſagt worden ſei, er 
mache die Welt erzittern, wenn er ſein 
Pferd beſteige, — eine Redeweiſe, die un— 
gefähr auf gleicher Stufe ſteht wie das 
Beiſpiel, welches Herr Roberts aus dem 
Orient von der einer gewöhnlichen Perſon 
gegenüber beobachteten Höflichkeit anführt: 
„Mein Herr, es giebt nur zwei Weſen, 
welche etwas für mich thun können; das 
erſte iſt Gott und das zweite ſind Sie.“ 
Wenn wir dann ferner leſen, daß zu 
Tavernier's Zeiten im ganzen Orient 
die Redensart gebräuchlich war: „Des 
Königs Wille geſchehe!“ — was unmittel— 
bar an unſer Wort erinnert: „Gottes 
Wille geſchehe!“ — ſo lenkt dies unſere 
Aufmerkſamkeit darauf, wie durchaus über— 
einſtimmend viele der an die Könige und 
an die Gottheiten gerichteten Verherrlich— 
ungsreden lauten. Wo der kriegeriſche 
Geſellſchaftstypus hoch entwickelt iſt und 
dem Monarchen nicht blos erſt nach ſeinem 
Tode, ſondern ſchon lange vorher Göttlich— 
keit beigelegt wird, wie vor Alters in 
Aegypten und Peru und gegenwärtig noch 
in Japan, China und Siam, da kommt 
es natürlich ganz von ſelbſt dazu, daß die 
lobpreiſenden Redewendungen, die man an 
den ſichtbaren Herrſcher und nachher an 
den unſichtbar gewordenen Herrſcher richtet, 
im weſentlichen dieſelben ſind. Und haben 
ſie die äußerſte Grenze der Ueberhebung 
mit Bezug auf den König ſchon zu deſſen 
Lebzeiten erreicht, ſo können ſie ſelbſtver— 
ſtändlich kaum noch weiter gehen, wenn 
dieſer geſtorben und vergöttert worden iſt. 
Die auf ſolche Weiſe bedingte weſentliche 
Uebereinſtimmung aber erhält ſich dann 
auch auf ſpäteren Entwickelungsſtufen fort, 
wo ſich der Urſprung der Gottheiten längſt 
nicht mehr unmittelbar nachweiſen läßt. 


238 


In der vollſtändigen Ehrenbezeugung 
vermiſchen ſich, wie wir ſahen, zwei Ele— 
mente, von denen das eine Unterwerfung, 
das andere Zuneigung ausdrücken ſoll; 
und zwei ganz entſprechende Elemente treten 
auch in der vollſtändigen Anredeform zu— 
ſammen. Mit den Worten, welche auf 
Verſöhnung abzielen, indem ſie den Sprechen— 
den erniedrigen oder den Angevedeten er— 
höhen oder beides zugleich, werden Worte 
verflochten, die Anhänglichkeit an die be 
treffende Perſon kundgeben Glück— 


wünſche für ihr Leben, ihre Geſundheit 


und ihr Wohlergehen. 

Betheuerungen der Theilnahme an der 
Wohlfahrt und dem Glück eines Anderen 
ſind natürlicherweiſe noch früher entftanden 
als Betheuerungen der Unterwerfung. Eben— 
ſo wie jenes Herzen, Küſſen und Lieb— 
koſen, wodurch ſich die Zuneigung kund— 


giebt, auch als Höflichkeitsgebräuche ſelbſt 


bei Wilden ohne jede Regierung oder gegen— 
jeitige Unterordnung vorkommt, ſo gehen 
auch freundliche Anreden der Zeit nach 
ſolchen voraus, die das Bekenntniß der 
Unterwerfung enthalten. 
genindianern - in 


Bei den Schlan— 
Nordamerika wird ein 
Fremder mit den Worten bewillkommnet: 
„Es iſt mir ſehr angenehm, ich bin 
ſehr erfreut“; und in Südamerika finden 
wir die Araucanier, deren geſellſchaftliche 
Organiſation noch nicht durch kriegeriſche 
Verhältniſſe zum Zwangstypus entwickelt 
worden iſt, bei die Formalität 
bei einer Begegnung, welche „10—15 Mi— 
nuten in Auſpruch nimmt“, aus eingehen— 
den Nachfragen nach dem Wohlergehen, aus 
mancherlei Beglückwünſchungen und Bei 
leidsbezeugungen beſteht. 

Dieſes Element in der Begrüßung er 
hält ſich dann ſelbſtverſtändlich fort, wäh— 
rend die zum Ausdruck der Unterwerfung 


denen 


Erde herab zu machen.“ 
lichen Völkern, 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


dienenden Handlungen und Redeweiſen in 
Gebrauch kommen. Wir ſahen bereits, daß 
in Verbindung mit knechtiſchen Ehrenbezeug— 
ungen gute Wünſche und Gratulationen an 
einen Höhergeſtellten gerichtet werden bei 
verſchiedenen Negervölkern, an der Küſte 
wie im Innern; unter den Fulahs und 
Abyſſiniern finden wir kunſtreich aus— 
gedachte Erkundigungen über das perſön— 
liche Wohlergehen des Angeredeten und das 
Befinden ſeiner Angehörigen. Aſien aber, 
wo ſich der kriegeriſche Geſellſchaftstypus 
weit höher entwickelt hat, iſt es vor Allem, 
das uns auch die höchſte Entwickelungsſtufe 
dieſer Redeformen darbietet. Von ganz 
hyperboliſchen Redeweiſen ausgehend, wie 
„O König, mögeſt Du ewig leben!“ 
gelangen wir zu Begrüßungen von Gleich— 
geſtellten, welche in ähnlicher Weiſe das 
lebhafteſte Mitgefühl ausdrücken; ſo bei 
den Arabern, welche ihren Eifer kundzu— 
geben ſuchen, indem ſie raſch nach einander 
mehrere Minuten lang wiederholen: „Gott 
ſei Dank, wie geht es Euch?“ und die 
zum Beweis ihrer guten Erziehung gelegent— 
lich das ſich anſchließende Geſpräch durch 


3. B.: 
. Bez 


die abermalige Frage unterbrechen: „Wie 


geht es Euch?“ — So auch bei den 
Chineſen, welche auf einer gewöhnlichen 
Viſitenkarte, die zur Anmeldung des Be— 
ſuches dem Portier abgegeben wird, fol— 
gendermaßen ganz direkt ihre Zuneigung 
ausſprechen: „Der zärtliche und aufrichtige 
Freund Eurer Herrlichkeit und der un— 
ermüdliche Schüler Eurer Lehre ſtellt ſich 
hiermit vor, um ſeinen Beſuch abzuſtatten 
und ſeine Verbeugung ſelbſt bis auf die 
Unter den weſt— 
in deren geſellſchaftlicher 


Organiſation die perſönliche Macht niemals 


eine ſolche Höhe erreicht hat, ſind auch die 
Betheuerungen der Zuneigung und ängſt— 


er. 


N 
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. =. 


lichen Fürſorge zu weniger ſtarken Ueber— | tikaliſchen und ſonſtigen Abänderungen der 


treibungen gelangt, und je mehr die Frei— 
heit zunahm, deſto mehr traten jene zurück. 
Im vierzehnten Jahrhundert pflegte in 
Frankreich an der königlichen Tafel „jedes— 
mal, wenn der Herold ausrief: «Der König 
trinkt!» die ganze Geſellſchaft ihre Wünſche 
auszuſprechen und zu rufen: „Lang lebe 
der König !?“. Und obſchon in andern 
Ländern ſo gut wie bei uns dieſelbe oder 
eine ähnliche Form des Wunſches jetzt noch 
gebräuchlich iſt, ſo kehrt ſie doch bei weitem 
nicht mehr ſo häufig wieder. Gleiches gilt 


auch von den im geſellſchaftlichen Verkehr 
Vornehmeren den Rücken zuzukehren. Ebenſo 


ausgeſprochenen guten Wünſchen. 

Es iſt dabei intereſſant, zu beachten, 
wie neben dieſen ganz allgemein ver— 
breiteten Redeformen, in welchen die 
göttliche Hülfe zu Gunſten der begrüß— 
ten Perſon angerufen wird — wie z. B. 
in dem „Möge Gott Euch ſeine Gunſt 
erweiſen!“ der Araber, in dem „Gott er— 
halte Euch geſund!“ der Ungarn, oder in 
dem „Gott ſchütze Euch!“ der Neger und 
neben ſolchen, die durch Erkundigungen nach 
dem Geſundheitszuſtand, dem Wohlergehen 
und dem Glück des Betreffenden die Theil— 
nahme bezeichnen ſollen und die gleichfalls 
weit verbreitet ſind, noch gewiſſe andere 
vorkommen, deren Eigenthümlichkeit von 
den Verhältniſſen des Orts hergenommen 
iſt. Dahin gehört das orientaliſche „Friede 
ſei mit Euch!“ das aus jenen ſtürmiſchen 
Zeiten herſtammt, wo Friede das große 
Deſideratum war; ein anderes iſt das: 
„Wie ſchwitzt Ihr?“ das die Aegypter 
gebraucht haben ſollen, und noch wunder— 
licher iſt die Frage: „Wie haben Euch die 
Mosquitos zugeſetzt?“ welche nach Hum— 
boldt am Orinoco die Morgenbegrüßung 
bildet. f 

Es bleiben endlich noch jene gramma— 


Sprache zu erörtern übrig, welche gleichſam 
auf Umwegen den Angeredeten erhöhen 
oder den Sprechenden erniedrigen. Die— 
ſelben zeigen gewiſſe Analogien mit andern 
Theilen des Ceremoniells. Wir haben ge— 
ſehen, daß, wo außerordentliche Unterwürfig— 
keit herrſcht, der Gewalthaber, ſofern er 
ſich nicht ganz unſichtbar hält, bei Strafe 
des Todes nicht angeblickt werden darf; 
und aus dieſer Vorſtellung, daß es eine 
unverzeihliche Frechheit ſei, eine höherſtehende 
Perſon anzuſchauen, iſt jedenfalls in man— 
chen Ländern der Gebrauch entſtanden, einem 


giebt der Gebrauch, vor einem verehrten 
Menſchen den Boden oder irgend einen 
Jenem gehörenden Gegenſtand zu küſſen, 
eigentlich zu verſtehen, daß die untergeord— 
nete Perſon ſo tief unter Jenem ſtehe, daß 
ſie ſich nicht einmal die Freiheit nehmen 
dürfte, ihm auch nur die Füße oder das 
Gewand zu küſſen. In ganz ähnlichem 
Sinne nun zeigen die als Höflichkeitsaus— 
druck verwendeten Sprachformen theilweiſe 
die Eigenthümlichkeit, daß ſie eine direkte Be— 
ziehung zu der angeredeten Perſon vermeiden. 

Beſondere Modificationen der Sprache, 
als deren gemeinſames Reſultat ſich die 
Aufrechterhaltung eines beſtimmten Abſtandes 
zwiſchen Höhern und Niedern ergiebt, ſind 
weit verbreitet und kommen ſchon auf eini— 
gen verhältnißmäßig ſehr frühen Entwickel— 
ungsſtufen vor. Von dem herrſchenden 
Volke unter den Abiponen leſen wir, daß 
„die Namen der zu dieſer Claſſe gehörenden 
Männer alle mit „in“ endigen, und die— 
jenigen der Frauen, welche gleichfalls dieſer 
Ehre theilhaftig ſind, mit „en“. Dieſe 
Sylben muß man ſelbſt den Hauptwörtern 
und Zeitwörtern anhängen, wenn man mit 
ihnen ſpricht.“ Ferner „enthält die Sprache 


240 


der Samoaner «ein beſonderes und unver— 
änderliches Vocabular von Wörtern, welche 
die Höflichkeit im Verkehr mit Höhern anzu⸗ 
wenden gebietet.“ Bei den Javanern „iſt es 
unter keinen Umſtänden irgend Jemand, von 
welchem Rang er auch ſein mag, geſtattet, 
ſeinen Vorgeſetzten in der gewöhnlichen oder 
Volksſprache des Landes anzureden“. Und 
hinſichtlich der alten mexicaniſchen Sprache 
erfahren wir durch Gallantin, daß es 
„eine beſondere Form derſelben giebt, die 
Ehrfürchtige genannt, welche die ganze 
Sprache durchdringt und in keiner anderen 
gefunden wird ... Dies hält man für 
die einzige (Sprache), in welcher jedes von 
einem Niedrigeren geäußerte Wort ihn an 
ſeine ſociale Stellung erinnert“. 

Die allgemeinſte unter den indirekten 
Sprechweiſen, welche durch die Etiquette 
in die Redeformen eingeführt worden ſind, 
ſcheint ihre Wurzel in dem primitiven Aber⸗ 
glauben hinſichtlich der Eigennamen zu 
haben. Von der Vorſtellung ausgehend, 
daß der Name eines Menſchen einen Be- 
ſtandtheil ſeiner Individualität bilde und 
daher der Beſitz ſeines Namens irgend 


welche Gewalt über ihn verleihe, zeigen die 


Wilden beinahe überall ein Widerſtreben 
gegen die Mittheilung ihrer Namen und 
vermeiden in Folge deſſen auch in der Unter- 
haltung den Gebrauch derſelben, wodurch 
fie einem Zuhörer verrathen werden könn— 
ten. Mag dies nun die einzige Urſache 
ſein oder außerdem noch das Gefühl mit⸗ 
wirken, daß man ſich, indem man den 
Namen eines Menſchen ausſpricht, eine 
gewiſſe Freiheit gegen dieſen herausnehme, 


jedenfalls iſt es eine Thatſache, daß bei 
1 0 5 


allen Völkern die Namen eine Art von 
Heiligkeit erlangen und einen Namen un— 


und in China, 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Höheren. Eine wunderliche Folge davon iſt 
die, daß, da auf früheren Stufen die Perſo⸗ 
nennamen von Gegenſtänden hergenommen 
wurden, die Namen ſolcher Gegenſtände 
außer Gebrauch geſetzt und andere dafür 
eingeführt werden müſſen. Bei den Kaffern 
„darf eine Frau das I-gama (dem bei 
der Geburt gegebenen Namen) ihres Mannes 
oder eines ſeiner Brüder nicht öffentlich 
ausſprechen, noch darf ſie das verbotene 
Wort in ſeinem gewöhnlichen Sinne brau- 
chen ... Das I-gama des Häuptlings 
wird ganz aus der Sprache des Volkes 
ausgeſchieden“. Ferner: „Da der erbliche 
Name des Häuptlings von Pango-Pango 
(in Samoa) jetzt Maunga oder Berg 
heißt, ſo darf in ſeiner Gegenwart dies 
Wort nie zur Bezeichnung eines Berges 
gebraucht werden, ſondern man muß dafür 
einen höfiſchen Ausdruck ... an die Stelle 
ſetzen.“ Aber auch da, wo Eigennamen 
von weiter entwickelter Art in Gebrauch 
ſind, finden ſich immer noch ähnliche Ein⸗ 
ſchränkungen in der allgemeinen Anwendung 
derſelben; ſo in Siam, wo „der Name 
des Königs von keinem Unterthan aus⸗ 
geſprochen werden darf; derſelbe wird ſtets 
durch irgend eine Umſchreibung bezeichnet, 


wie etwa «der Meiſter des Lebens», «der 


Herr des Landesd, «das Oberhaupt?“ — 
wo „eder alte Mann des 
Hauſesd, «der Vorzügliche Ehrwürdige > 
und verehrter großer Fürſts die Aus- 
drücke ſind, mit denen ein Beſucher den 
Vater ſeines Wirthes benennt“. 

In Verbindung mit dem Vermeiden 
des Eigennamens beim Verkehr mit einem 
Höhern findet ſich, wie ſchon einige der 


obigen Beiſpiele zeigen, ein Vermeiden der 


nöthig zu nennen für verboten gilt, ganz 


perſönlichen Fürwörter, welche gleichfalls 
eine allzu direkte Beziehung mit dem an- 


beſonders dem Niedrigeren im Verkehr mit geredeten Individuum herſtellen würden, 


W 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


als daß ſie zuläſſig wären, wo es auf 
Beobachtung eines beſtimmten Abſtandes 
ankommt. Wie bereits angeführt wurde, 
wird in Siam, wenn man nach des Königs 
Befehlen frägt, die Pronomialform ſo viel 
als möglich vermieden, und daß dieſer 
Gebrauch bei den Siameſen ganz allgemein 
iſt, geht aus der Bemerkung des Paters 
Bruguiere hervor, daß fie „zwar per— 
ſönliche Fürwörter haben, dieſelben aber 


ſelten brauchen“. Auch bei den Chineſen iſt 
dieſer Styl in der Anrede in den alltäg- | 


lichen Verkehr herabgeſtiegen. „Wenn ſie 
nicht intime Freunde ſind, ſo ſagen ſie nie— 
mals «Ih» und «Ihr», was eine grobe 
Unhöflichkeit wäre. Statt z. B. zu ſagen: 
Ich anerkenne ſehr den Dienſt, den Ihr 
mir erwieſen habts, pflegen fie vielmehr zu 
ſagen: «der Dienſt, welchen der Herr oder 
der Doktor für ſeinen geringſten Diener 
oder Schüler gethan, hat mich außerordent— 
lich gerührt ).“ 


Endlich kommen wir noch zu jenen 


Abänderungen im Gebrauche der Fürwörter, 
welche dazu dienen, den Höhern zu erheben 


und eines iſt auf die Frauen beſchränkt. .. 


und den Niedrigen herabzudrücken. „Ichs 


und «mich werden im Siameſiſchen durch 
verſchiedene Wörter ausgedrückt, je nachdem 
es ſich um den Verkehr erſtens zwiſchen 
einem Herrn und ſeinem Sclaven, zweitens 


zwiſchen einem Sclaven und ſeinem Herrn, 

* 7 „ . | 
drittens zwiſchen einem gemeinen Mann und | 
einem Adligen und viertens zwiſchen Per- 


ſonen gleichen Ranges handelt, und ſchließ— 
lich gibt es noch eine Anredeform, die nur 
von den Prieſtern angewendet wird.“ Noch 
weiter iſt dies Syſtem bei den außerordent— 


lich ceremonienreichen Japaneſen ausgebildet. 
„In Japan hat jeder Stand ſein ihm 


eigenthümliches „Ich?, das kein anderer 
Stand brauchen darf, und ein anderes 
gehört ausſchließlich dem Mikado an . 


241 


Es gibt acht Fürwörter der zweiten Perſon, 
welche ſpeciell für Dienſtboten, Schüler und 
Kinder gelten.“ Wenn auch im Weſten die 
durch veränderte Anwendung der Pronomial— 
formen ausgedrückten Unterſchiede nie jo 
weit gegangen ſind, ſo waren ſie doch deut— 
lich genug zu erkennen. In Deutſchland 
„wurden in frühern Zeiten .. . alle Unter— 
gebenen nur in der dritten Perſon Sing. 
mit «Er» angeredet“, d. h. alſo: eine ab— 
weichende Form, durch welche der Unter⸗ 
gebene nicht direkt angeſprochen, ſondern 
nur erwähnt wurde, als ob man mit einer 
andern Perſon ſpräche, diente dazu, um 
ihn von dem Sprechenden entfernt zu halten. 
Und daneben finden wir die umgekehrte 
Thatſache, daß „die Untergebenen ohne Aus— 
nahme die dritte Perſon Plur. gebrauchen, 
wenn ſie ihre Vorgeſetzten anreden“: eine 
Form, die einerſeits dem Vorgeſetzten durch 
Anwendung der Mehrzahl höhere Würde 
beilegt, zugleich aber auch durch ihre ver— 
hältnißmäßige Indirectheit den Abſtand vom 
Untergebenen vergrößert, und welche, nach— 
dem ſie als Verſöhnungsmittel der Gewalt— 
haber angefangen, gleich allen übrigen ſich 
immer weiter verbreitet hat, bis ſie zum 
allgemeinen Begütigungsmittel geworden 
iſt. In der engliſchen Sprache, welche 
einer derartigen mißbräuchlichen Anwen— 
dung von Fürwörtern, die zur Erniedrig— 
ung dienen ſollen, entbehrt, findet ſich 
nur die Einführung des „Ihr“ ſtatt des 
„Du“, welche, einſtens eine aus Höflichkeit 
angebrachte Uebertreibung, gegenwärtig in 
Folge ihrer Ausbreitung durch alle Stände 
die ceremonielle Bedeutung vollſtändig ver— 
loren hat. Offenbar aber hing ihr noch 
etwas von dieſer Bedeutung an zu der 


Zeit, als die Quäker daran feſthielten, aus- 
ſchließlich das „Du“ zu brauchen; daß jenes 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


242 


in noch frühern Zeiten aber dazu diente, 
Anſpruch auf äußerlichen Reſpekt verleihen 


eine beſtimmte höhere Würde beizulegen, 
läßt ſich aus der Thatſache erſchließen, daß 
während der merovingiſchen Periode in 


Frankreich, als ſich dieſer Gebrauch nur 


erſt theilweiſe feſtgeſetzt hatte, die Könige 
den Befehl erließen, daß man ſie nur im 
Plural anrede. Wer ſich aber gar nicht 
denken kann, daß, wenn er mit „you“ 
(Ihr) angeredet wird, dies einſt den Sinn 
hatte, die angeredete Perſon zu erhöhen, 
der wird genügenden Anhalt dazu finden, 
wenn er dieſe Verkehrung der Sprache in 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. | 


Solche anreden, deren Stellung ihnen den 


würde.“ Dieſe Fälle weiſen ſchon deutlich 
genug auf die allgemeine Thatſache hin, 
daß, wo keine Unterordnung beſteht, auch 
nicht jene Redeformen ſich ausbilden, welche 


die angeredete Perſon erhöhen und die 


ihrer primitiven und noch ausdrucksvolleren 
Geſtalt in's Auge faßt, wie ſie z. B. in 
Schranke kennt und wo zugleich die Phraſen 
voll Schmeichelei und Unterwürfigkeit, welche 


Samoa vorkommt, wo man zu einem Häupt— 
ling ſagt: „Seid Ihr beide gekommen?“ 
oder: „Geht Ihr beide fort?“ 

Da die Anredeformen in Worten aus— 
drücken, was die Ehrenbezeugungen durch 
Handlungen andeuten, ſo werden ſie natür— 


ſprechende erniedrigen. Wo ſich dagegen eine 
abſolute perſönliche Herrſchaft findet, da 
nehmen auch die Selbſtdemüthigungen und 
die Erhöhungen Anderer durch Worte ganz 
übertriebene Formen an. 

Geſellſchaftliche Organismen wie der— 
jenige von China ſind es beſonders, wo 
die Gewalt des „Kaiſerlichen Höchſten“ keine 


zuerſt im Verkehr mit den Herrſchern ge— 


braucht wurden und ſpäter ſich allgemeiner 


lich auch dieſelben allgemeinen Beziehungen 
zu den verſchiedenen Geſellſchaftstypen zeigen. 
Dieſer Parallelismus ſoll hier noch kurz 


dargelegt werden. 

Burton ſagt in ſeiner Schilderung 
der Dakotahs, welche jeder ſtaatlichen Or— 
ganiſation entbehren und nicht einmal dem 
Namen nach Häuptlinge kannten, bevor 
die Weißen anfingen, Standesunterſchiede 
zwiſchen ihnen zu machen: — „Ceremonien 
und Gebräuche in unſerem Sinne des 
Wortes haben ſie nicht;“ und er führt als 
Beiſpiel an, daß ein Dakotah das Haus 
eines Fremden mit einem einfachen Ausruf 
betrete, der nichts weiter als „Gut!“ bedeute. 
Bailey bemerkt von den Veddahs, daß 
ſie „beim Anreden Anderer keine der Höflich— 
keitsformen brauchen, die im Singaleſiſchen 
ſo außerordentlich verbreitet ſind: das Für— 
wort «to», Du, kommt allein in Anwen— 
dung, mögen ſie mit einander ſprechen oder 


verbreiteten, ſoweit in's Extrem getrieben 
worden ſind, daß man, um ſich nach dem 
Namen eines Andern zu erkundigen, die 
Form anwendet: „Dürfte ich es wagen, zu 
fragen, welches Euer edler Vorname und 
Euer erhabener Name iſt?“ worauf die 
Antwort lautet: „Der Name meiner kalten 
(oder armen) Familie iſt — —, und mein 
unedler Name iſt — —.“ Und fragen wir 
ferner, wo die am meiſten ausgekünſtelten 
Abänderungen im Gebrauche der Fürwörter 
vorkommen, welche durch das Ceremoniell 
veranlaßt werden, ſo finden wir ſie bei den 
Japaneſen, bei denen unaufhörliche Kriege 
vor langen Zeiten ſchon einen Despotis— 
mus feſt eingewurzelt haben, der göttliches 
Anſehen erlangte. 

Auch wenn wir nun noch das Europa 
der Vergangenheit, das ſich durch ſociale 
Gebilde charakteriſirt, welche durch fort— 
währende Kämpfe entwickelt und dieſen an— 
gepaßt waren, mit dem modernen Europa 
vergleichen, in welchem zwar noch Kämpfe 


in großem Maaßſtab vorkommen, die aber 
doch viel mehr nur eine zeitweilige als eine 
dauernde Form der geſellſchaftlichen Thätig— 
keit bilden, ſo bemerken wir, daß die Höf— 
lichkeitsausdrücke gegenwärtig nicht nur viel 
ſeltener gebraucht werden, ſondern auch ſelbſt 
viel weniger übertrieben ſind. Nicht minder 
tritt dieſer Gegenſatz hervor, wenn wir die 
modernen europäiſchen Geſellſchaften, welche 
in höherm oder geringerem Grade für 
Kriegszwecke organiſirt ſind, neben einander 
ſtellen, oder wenn wir innerhalb der letzteren 
die regulativen Beſtandtheile, welche kriege— 
riſchen Zuſtänden ihre Entwickelung ver— 
danken, mit den induſtriellen Beſtandtheilen 
vergleichen. 

So ſehr auch der Gebrauch einer unter— 
thänigen Höflichkeitsſprache bei unſern herr— 
ſchenden Claſſen in der neueren Zeit abge— 
nommen hat, ſo bleibt derſelbe doch noch viel 
erheblicher als bei den induſtriellen Claſſen, 
ganz beſonders bei denjenigen, welche keine 
direkten Beziehungen mit den herrſchenden 
Claſſen beſitzen. 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 243 


Dieſer Zuſammenhang iſt offenbar in 
dieſem Fall ſo gut wie in den früheren 
nothwendig bedingt. Wollte man behaupten, 
daß in Verbindung mit dem erzwungenen 
Gehorſam, den eine kriegeriſche Organiſation 
fordert und der überhaupt alle Theile einer 
auf kriegeriſche Thätigkeit eingerichteten Geſell⸗ 
ſchaft durchdringt, ganz naturgemäß Anrede⸗ 
formen vorkämen, welche nicht Unterwerfung 
ausdrückten, und wollte man gar umgekehrt 
behaupten, daß mit dem lebhaften und un- 
gezwungen vor ſich gehenden Austauſch von 
Erzeugniſſen, Geld, Arbeitsleiſtungen u. ſ. w., 
welcher das Leben einer induſtriellen Geſell— 
ſchaft charakteriſirt, naturgemäß allerhand 
übertriebene Lobpreiſungen Anderer und 
knechtiſche Herabwürdigung der Sprechenden 
ſelbſt ſich verbänden, ſo läge die Ungereimt— 
heit einer ſolchen Behauptung klar zu Tage. 
Die Ueberzeugung von der Unrichtigkeit dieſer 
hypothetiſchen Behauptung aber wird ander— 
ſeits dazu beitragen, uns die Richtigkeit der 
entgegengeſetzten, hier verfochtenen Anſicht 
deutlich vor Augen zu führen. 


(Fortſetzung folgt.) 


DIE — 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Das Relief der Gebirgsſtöcke und 
die Grundform der Erofions-Chäler. 


9 60 


‚ine vielfach, beſonders unter den 


fi 


85 
8 
AH frage dreht ſich darum, ob das 
Relief der bergigen Gegenden mehr 
durch Eruption und Aufſchüttung der Maſſen 
neben einander, oder mehr durch nachträg— 
liche Ausſpülung und Auswaſchung be— 
dingt ſei. Man nimmt wohl jetzt allge— 
mein an, daß die große Mehrzahl z. B. 
der Alpenthäler ihre Geſtalt hauptſächlich 
den Eis- und Waſſerſtrömungen verdanken, 
die wir noch jetzt, wenn auch in wahrſchein— 


7 
\9 


Furchungen folgen ſehen. Es iſt merk— 
würdig, daß man bei einer ſo vielfachen 
Beſchäftigung mit dem Gegenſtande über 
die Reliefform dieſer Thäler ziemlich all— 
gemein Anſichten verbreitet findet, die, wie 
Herr Dr. Theodor Fuchs kürzlich ge— 


| 
| 


| 
| 


ihrer Aufgabe in der Weiſe, daß ſie die 
Eroſionsfurche ſpitz beginnen und in dem 
Maße, als die Waſſermaſſe zunimmt, immer 
breiter werden laffen. In der Wirklichkeit 


iſt die Sache aber gerade umgekehrt, denn 


engliſchen Geologen erörterte Streit- 


jedes Eroſionsthal iſt oben in ſeinem An— 
fange breit und wird nach unten zu ſchmäler. 
Ein Jeder vermag ſich leicht zu überzeugen, 
daß dieſer birnförmige Typus nicht nur 
den kleinen Regenriſſen der Wände eines 
Bahndurchſtichs, ſondern auch den Alpen- 
thälern zukommt, in denen er ſeine Sommer- 
friſche ſucht. Alle beginnen ſie oben mul— 
den- oder keſſelförmig und werden immer 
ſchmäler, um oft durch eine ſchmale Spalte 


in ein weiteres Thal oder in die Ebene zu 
lich ſehr vermindertem Umfange, ihren 


zeigt hat,) den Thatbeſtand geradezu um 


kehren. Die meiſten Menſchen und ſogar 
die meiſten Kartographen, wenn ſie das 
zu einem Bache oder Fluſſe gehörige Ero 
ſionsthal zu zeichnen haben, entledigen ſich 


) Jahrbuch der k. k. geologischen Reichs— 
anſtalt. Band XXVII. 1877. S. 453. 


ab 


münden. Selbſt die Canons, jene tiefen, 
ſchluchtartigen Spalten, welche das ſtrömende 
Waſſer in die Plateauländer einſchneidet, 
machen keine Ausnahme von dieſer Regel, 
denn auch hier beginnt jede einzelne mit 
einem weiten, circusförmigen Keſſel und 
gewinnt erſt im weiteren Verlaufe ſeinen 
Einſchnitts-Charakter. Dieſe eigenthümliche 
Geſtaltung der Canons iſt bereits von 
Charles Darwin in ſeinen „Geolo— 


giſchen Beobachtungen über die 


vulkaniſchen Inſeln“, von denen wir 
kürzlich eine neue deutſche Ausgabe erhalten 
haben, charakteriſirt worden; er beſchreibt 


g — 


— 


— T1⁊[— 


a 


dort?) (S. 138) in Neu-Süd⸗Wales große 
Thäler dieſer Art, die ſich oben zu mehrere 
Meilen breiten und amphitheatraliſch von 
hohen Felsklippen umgebenen Buchten öffnen, 
und am Ausgange unten ſo eng werden, 
daß ſie einen für Menſchen und Vieh gleich 
unpaſſirbaren Spalt bilden. Einen im All— 
gemeinen ähnlichen Eindruck erhalten wir 
aber auch überall bei uns. „Wenn man,“ 
ſagt der Verfaſſer, „aus dem Flachlande 
kommend, ſich einem Gebirge, z. B. den 
Alpen oder Karpathen, nähert, ſo ſtellt ſich 
daſſelbe dem Beſchauer als eine geſchloſſene 
Mauer dar, und vergebens ſucht das Auge 
nach den Thälern, welche den Blick in das 
Innere des Gebirges eröffnen würden. 
Durch eine ſchmale Thalenge, oft durch 
eine wahre Felsſpalte, betritt man das 
Innere der Gebirgswelt; kaum hat man 
aber dieſelbe hinter ſich, ſo beginnt das 
Thal ſich zu erweitern, die Bergwände 
treten zu beiden Seiten immer mehr und 
mehr zurück und ſchließlich gelangt man in 
einen weiten Thalkeſſel, aus dem es weiter 
keinen Ausweg giebt, als rechts und links 
über die Bergjoche. Es iſt dies der all— 
gemeine Charakter aller Gebirgsthäler, die 
durch Eroſion gebildet ſind, und gewiß 
wird Jeder, der das Gebirge aus eigener 
Anſchauung kennt, ſich ſofort zahlreicher 
Beiſpiele erinnern, welche dieſer Schilder— 
ung entſprechen. Wenn man ſich einen 
halbkugeligen Gebirgsſtock vorſtellt, der 
durch ſtrahlenförmig herabrinnende Ge— 
wäſſer erodirt wird, ſo wird derſelbe bei 
Annahme einer birnförmigen Geſtalt der 
Eroſionsthäler einen mittleren Kern erhal— 
ten, von welchem radienartig eine Anzahl 


) Mit einer Karte und vierzehn Holz— 
ſchnitten. Ueberſetzt von V. Carus. Stutt- 
gart, 1877. Schweizerbart'ſche Buchhand— 
lung (E. Koch). 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


245 a 


von Speichen auslaufen, welche ſich ſämmt— 
lich nach außen zu verbreitern. Indem nun 
die einzelnen Thäler ſich hinten immer mehr 
verbreitern, werden nach und nach die radien— 
förmigen Scheidewände in der Nähe des 
Centralſtockes immer mehr und mehr ſchwin— 
den und ſchließlich theilweiſe abgetragen wer— 
den, jo daß der erodirte Gebirgsſtock ſchließ— 
lich die Geſtalt eines centralen Wipfels an— 
nimmt, der von einem Kranze niedriger 
Berge umgeben wird, von deren jedem ein 
ſattelförmig eingeſenkter Grat zum Central— 
ſtock hinüberführt. Wenn man eine Karte 
des Montblanc oder des Monte Roſa be— 
trachtet, ſo findet man, daß dieſelben that— 
ſächlich die im Vorhergehenden theoretiſch ab— 
geleitete Reliefform beſitzen und daß dieſelbe 
in allen ähnlichen Fällen mit der größten 
Regelmäßigkeit wiederkehrt. Es iſt wohl klar, 
daß dieſe Auseinanderſetzungen von größter 
Wichtigkeit für die kartographiſche Dar— 
ſtellung von Gebirgsreliefen ſind. Wenn 
man eine beliebige unſerer bisherigen 
Karten vornimmt und auf derſelben die 
Darſtellung des Gebirgsterrains betrachtet, 
ſo bemerkt man Folgendes: So weit die 
Reliefformen wirklich nach der Natur auf— 
genommen ſind, zeigen die Thäler aus— 
nahmslos die vorbeſprochene mulden- oder 
birnförmige Geſtalt; ſowie man aber in 
das feinere Detail kommt, welches nicht 
mehr aufgenommen, ſondern nach einer ge— 
wiſſen Schablone manirirt iſt, erhalten die 
Thalfurchen ſofort die entgegengeſetzte Ge— 
ſtalt, indem ſie ſämmtlich ſpitz beginnen 
und im weitern Verlaufe breiter werden. 
Würde man eine derartige Karte mit zweier— 
lei einander diametral entgegengeſetzten Thal— 
formen als den wirklichen Ausdruck der 
vorhandenen Verhältniſſe annehmen, ſo würde 
man natürlich vollkommen irre gehen, in— 
dem man ſelbſtverſtändlich für die beiden 


2 


246 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau 


verſchiedenen Thalformen auch zwei verſchie— 
dene Urſachen ſuchen würde. In Wirklich- 
lichkeit iſt jedoch nur einerlei Thalbildung 
vorhanden, indem alle Thalbildungen von 
dem kleinſten Waſſerriſſe an bis zu den 
großen Hochgebirgsthälern dieſelbe birn— 
förmige Geſtalt beſitzen und mithin auch 
alle auf dieſelbe Urſache, nämlich auf die 
Eroſion, zurückgeführt werden können. Die 
Urſache dieſer birnförmigen Geſtalt der 
Eroſionsthäler iſt wohl bereits in ihrer 
erſten Anlage zu ſuchen. Bei jedem Erd— 
ſturz oder Regenriß fällt eine birn- oder 
keilförmige Terrainmaſſe, deren Spitze nach 
vorn gekehrt iſt, heraus, und indem nun 
die Eroſion in dem hintern Theile der ſo 
gebildeten Aushöhlung mehr Angriffspunkte 
findet als vorne, muß das Thal bei dem 
allmäligen Zurückweichen immer breiter und 
breiter werden. (Dazu kommt wohl, daß 
die von oben herabgeſchwemmten Maſſen 
den untern Lauf des Thales ausfüllen und 
den Waſſerlauf nöthigen, ſich dort tiefer 
einzuſchneiden; oft mag auch die untere 
kluftartige Oeffnung die Wirkung eines 
ehemaligen Waſſerfalles ſein, wie z. B. die 
Schlucht, aus der die Sallenche ihre präch— 
tige Cascade bei Martigny ergießt. Ref.) 

Man kann mit dem Verfaſſer nur wünſchen, 
daß ſeine Betrachtungen von Seiten unſerer 
Kartographen praktiſch verwerthet würden, 
denn dadurch würden unſere Gebirgskarten 
gewiß einen viel einheitlicheren und natur— 
gemäßeren Ausdruck erhalten, als 15 gegen— 
wärtig beſitzen. 


Leuchtende Bacterien. 
In einer vor zwei Jahren erſchienenen 
Schrift: „Die Nekrobioſe in morphologiſcher 
Beziehung“, wurde von den Herren Kar— 


ſten und Nüeſch die Anſicht aufgeſtellt, 
daß die Bacterien, Vibrionen, Hefenzellen 
u. ſ. w. keine ſpecifiſche Selbſtſtändigkeit 
beſitzen, ſondern aus dem pathologiſch ver— 
änderten Inhalt thieriſcher und pflanzlicher 
Zellen entſtehen, und ſie nennen dieſe ver— 
meintliche Umbildung der kleinſten, im 


Zellſaft ſchwimmenden Körnchen Nekro— 


bioſe, gleichſam ein Leben nach dem Tode. 
— Der lebende Menſchen- und Thierkörper 
enthält keineswegs, wie Billroth, Ti— 
gel, Friſch wollen, in Blut und Gewe— 
ben Bacterienkeime, aber dieſelben ſollen 
auch nicht von außen eingeführt werden, 
ſondern die Bacterien entſtehen ihrer 
Anſicht nach erſt nach dem Tode aus 
den kleinſten Bläschen des Protoplasma, 
und zwar durch eine Umbildung derſelben 
und nicht durch generatio aequivoca. In 
einem neueren Artikel in der „Gäa“ 
(1877, Heft 9) „Ueber das Leuchten des 
Fleiſches geſtorbener Thiere“ führt Nüeſch 
an, daß noch nie, obſchon mehrere Beob— 
achter die Bacterien für Pilzformen halten, 
eine wirkliche Pilzvegetation an denſelben 
beobachtet worden iſt, nie auch etwas auf 
ſexuelle Proceſſe Deutendes; — die Bacte— 
rien erfüllen die Arbeit, die complicirten 
Verbindungen der Pflanzen- oder Thier— 
körper in einfachere zurückzuführen und 
dieſe Körper hierdurch zu zerſtören, welche 
ſonſt, nach Cohn's Bemerkung, Form und 
Miſchung Jahrtauſende bewahren würden, 
wie etwa die Mumien, oder die Mammuth— 
leichen im Eiſe. — Durch die Bacterien, 
von welchen manche auch pathologiſch ſo 
wichtig ſind, entſtehen bei der Verweſung 
Fäulniß und Gährung, ſowie, als Bildungs— 
und Ausſcheidungs-Produkte derſelben, Gaſe 
und Farbſtoffe, wie der anilinartige Farb— 
ſtoff der blutenden Hoſtien, der blaue Farb— 


| ftoff des Lackmus, blaue, gelbe und rothe 


.. en 


* 


Milch, grüner und gelber Eiter u. ſ. w. 
Aber neben den Pigmentbacterien giebt es 
auch leuchtende. Im April 1877 wurde 
Dr. Nüeſch durch einen Schreckensruf des 
Dienſtmädchens veranlaßt, in die dunkle 
Vorrathskammer zu gehen; dort ſah er 
twa ein Dutzend in einer Schüſſel liegende 
Schweinscoteletten mit grünlichem Lichte ſo 
hell leuchten, daß umſtehende Perſonen 
ſich erkennen konnten und die Zeit am 
Minuten-, ja ſogar am Secundenzeiger ab— 
geleſen werden konnte. 
zeigte eine Menge kleiner, meiſt kugeliger 
Bacterien, nebſt „hefenartig vergrößerten“, 
ſowie die prachtvollſten Octasder und re— 
gulären Säulen. Von den unzähligen 
leuchtenden Punkten und Strichen bewegten 
ſich einzelne hin und her. Von Fäulniß, 
üblem Geruch u. dergl. war nichts zu be— 
merken. — Der Schlächter, von dem die 
Coteletten bezogen worden waren, theilte 
mit, daß ſeit mehreren Wochen alles Fleiſch, 
auch Ochſenfleiſch, in ſeinem Verkaufsladen 
leuchtend werde, ohne daß er dafür einen 
Grund anzugeben vermöge und obwohl 
er auf größte Reinlichkeit der Räume halte. 
Fleiſch aus anderen Localitäten der Stadt 
zu derſelben Zeit bezogen, leuchtete durch— 
aus nicht, während in ſeinem Locale, wel— 
ches Dr. Nüeſch beſuchte, die Hälfte der 
geſchlachteten Ochſen, Kühe und Schweine 
prächtig leuchtete; am intenſivſten war das 
grünlich weiße Licht an den Uebergangs— 


ſtellen des fetten zum magern Fleiſch. — - 


Die leuchtende Maſſe breitete ſich in con— 
centriſchen Kreiſen binnen 3 — 4 Tagen 
immer weiter über die Fleiſchſtücke aus, 
konnte mit dem Meſſer auf die verſchieden— 
ſten andern Theile von Thierkörpern, aber 
nur wenn ſie roh waren, übertragen wer— 
den und vermehrte ſich daſelbſt raſch, was 
hingegen auf gekochtem Eiweiß und gekoch— 


Das Mikroskop 


247 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


ten Kartoffeln nur ſehr langſam geſchah; 
friſches oder altes Blut leuchtete nie. — 
Beim Eintritte der Fäulniß, wo die eigent— 
lichen Fäulnißbacterien auftreten, verſchwand 
das Leuchten ganz, und faſt augenblicklich, 
wenn einem Präparat Carbol-Salicyl— 
Schwefelſäure oder Weingeiſt zugeſetzt wurde. 
— Im Local des Schlächters dauerte das 
Leuchten etwa von Oſtern bis Pfingſten, 
wo die mittlere Temperatur 10“ nicht 
überſtieg; unentſchieden bleibt, ob es dann 
in Folge der ſteigenden Wärme oder der — 
zum Desinficiren angewandten Carbolſäure 
und Chlordämpfe verſchwunden iſt. Herr 
Dr. Nüeſch glaubt, früher ſei nur ein 
einziges Mal und zwar um Oſtern 1592 
zu Padua leuchtendes Fleiſch beobachtet und 
von Fabricius ab Aquapendente 
unterſucht worden, aber nach den Mittheil- 
ungen von Henze und Valentin iſt 
ſolches auch 1868 in einem Hauſe zu Bern 
und in Heidelberg auf der Anatomie be— 
obachtet worden, und Fleiſch von todten 
Seefiſchen hat man ſogar ziemlich häufig 
leuchten ſehen. (Mittheilungen der natur— 
forſchenden Geſellſchaft in Bern. Nr. 923 
— 936. Bern 1878. S. 24.) 


G. de Saporta's Unterſuchungen 
über die ſogenannten Noeggerathien. 


Die älteſten Erdſchichten, welche Pflan— 
zenreſte bergen, weiſen neben der über— 
wiegenden Zahl von Gefäßkryptogamen 
(d. h. Farnen, Schafthalmen und Bärlapp— 
Gewächſen) eine nur kleine, aber nach und 
nach zunehmende Schaar Samen tragender 
Gewächſe auf. Außer den Nadelhölzern 
erſcheinen einige Pflanzen mit breiteren 
Blättern, Cordaites, Pothocites, An- 
thocithes und namentlich die Noegge— 


8 


1 


rathien, Pflanzen, die man anfangs für 
Palmen und andere monocotyliſche Ge— 


wächſe hielt und damit die ſtufenweiſe 
Ausbildung des Pflanzenreiches gewiſſer⸗ 
maßen in Frage ſtellte. Daß dieſe Pflan— 


zen, abweichend von den Kryptogamen, 
Samen trugen, beweiſen die ſchon in den 


Steinkohlenſchichten zahlreich vorkommenden 


Samen, auf denen man die Pflanzengattungen 
Rhabdocarpus, Trigonocarpon u. A. 
begründet hat, obwohl dieſe Samen wahr— 
ſcheinlich größtentheils zu den obigen, ſchon 
nach ihren Blättern anderweitig benannten 
Pflanzenarten gehörten. Da jene Pflanzen— 


formen ihres Gleichen in der heutigen 
Welt nicht mehr beſitzen, vollkommen aus- 
geſtorben find, jo war eben der Phantafie 


ein weiter Spielraum gegeben; heute iſt 


Pflanzen des Steinkohlenwaldes nicht zu 
den höheren Abtheilungen der Mono- und 


Dicotyledonen gehört haben, ſondern zu 


jener Uebergangsklaſſe der Urſamen— 
Pflanzen (Archispermae), welche die 
anſcheinend blüthenloſen Gewächſe (Krypto— 
gamen) mit den offen blühenden (Phanero— 
gamen) vermitteln. 

Zu dieſer wegen ihrer Uebergangs— 
natur doppelt lehrreichen Abtheilung gehö— 
ren von den heute lebenden Pflanzen die 
Zapfenbäume oder Nadelhölzer 
(Coniferae), die Gnetaceen, und die 
Sagobäume oder Palmenfarne (Cy— 
cadeae); den letzteren glaubte man nun— 
mehr jene erwähnten merkwürdigen breit— 
blättrigen Samenpflanzen der Primärzeit 
am beſten anreihen zu können. Am frühe— 
ſten wurde dies mit den Noeggerathien 
verſucht, die in großen Maſſen und man— 
nigfachen Formen vorkommen und z. B. 
in Saarbrücken den Hauptbeſtandtheil gan— 
zer Kohlenflötze bilden. Es find Blatt— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


fiedern von zum Theil anſehnlicher Größe 
und mannigfachem Umriß, die der deutſche 
Paläontologe Sternberg zu Ehren des 
um den deutſchen Bergbau hochverdienten 
Bergrath Jacob Noeggerath benannte, 
und die im Allgemeinen den Umriß eines 
halbaufgeklappten Damenfächers mit engen, 
mehr oder weniger parallelen Adern zeigen. 
Der berühmte franzöſiſche Paläontologe 
Brongniart ſtellte die Noeggerathien 
wie geſagt, zu den Cycadeen, nicht aber 
ohne dabei zu bemerken, daß eine volle 
Uebereinſtimmung allerdings nicht vorhan— 
den ſei und daß man ſie vielleicht als be— 
ginnende, den Reigen eröffnende Cycadeen 
betrachten dürfe. 

Die Sagobäume oder Cycadeen gehören 


für die Evolutionstheorie zu den intereſſan— 
man indeſſen darüber einig, daß alle jene 


teſten Ueberbleibſeln der Vorzeit, da ſie 
noch heute im Habitus, wie in ihrer Ent— 
wickelung und im anatomiſchen Bau drei 
ſonſt unvereinbar ſcheinende Familien ver— 
binden, nämlich die Farne, Nadelhölzer 
und Palmen (vergl. Kosmos I. S. 536); 
ſie nehmen unſer ferneres Intereſſe in An— 
ſpruch als Charakterpflanzen der Jurazeit, 
in welcher ſie den geſammten Erdball in 
allen Zonen ſchmückten und ſeinen Wäldern 
gewiß das Hauptgepräge gaben (Kosmos 
II. S. 561). An dieſer hiſtoriſchen Be— 
deutung nehmen nun die Noeggerathien um 
ſo mehr Theil, als ſie, wie erwähnt, die 
Vorgänger derſelben geweſen zu ſein ſcheinen, 
da man zweifelloſe Cycadeen bisher erſt in 
triaſiſchen Schichten gefunden hatte, wäh— 
rend der Oolith dann das Zeitalter ihrer 
reichſten Entfaltung, jo recht die Herrſchafts— 
Epoche der Cycadeen bezeichnete. In der 
Kreidezeit waren ſie noch zahlreich, obwohl 
die Abnahme merklich iſt; in den tertiären 
Schichten hat man auffallender Weiſe keine 


oder doch nur vereinzelte Cycadeen-Reſte 


gefunden, und heute bewohnen fie, meift 
in Geſellſchaft ihrer alten Kameraden, der 
baumartigen Farne, einen ſchmalen Gürtel 
der warmen Zone, der ſich mit geringen 
Unterbrechungen um die Veſte der Erde 
herumlegt. Trotz alledem war die Ge— 
ſchichte der Cycadeen noch immer ſo lücken— 
haft, daß ſie den Gegnern der Evolutions— 
Theorie geradezu als Operationsfeld dienen 
konnte, wie nachſtehende Bemerkungen be— 
weiſen mögen. Der ausgezeichnete Paläo⸗ 
phytologe C. W. Williamſon in Man- 
cheſter ließ ſich darüber noch vor drei Jahren 
wie folgt, aus:“) 

„Welches auch,“ ſchrieb er, „wenn wir 
die Urflora betrachten, die Schwierigkeiten 
(der Evolutionstheorie) ſein mögen, noch 
größere warten unſer, wenn wir von den 
älteren Schichten zu den jüngeren empor— 
ſteigen. Die Erſcheinung der Cycadeen in 
der meſozoiſchen Epoche ſtellt eine der erſten 
und ausgeprägteſten dieſer Schwierigkeiten 
dar. Woher ſind ſie gekommen? Ich finde 
keine Pflanze, die den Anſchein erwecken 
könnte, einen Uebergang zwiſchen irgend— 
welchen paläozoiſchen Pflanzen zu den voli- 
thiſchen Cycadeen zu bilden. Wenn die ſelt— 
ſame Stangeria des ſüdlichen Afrika, deren 
Farnblätter auf dem Stamm einer Cycadee 
ſitzen und wahre Cycadeenfrüchte bringen, 
in den permiſchen und triaſiſchen Felſen 
gefunden worden wäre, ſo würde man ſie 
als prächtiges Beiſpiel eines zwiſchen Far— 
nen und Cycadeen ſtehenden Gliedes haben 
citiren können. Unglücklicher Weiſe erſcheint 
dieſe anſcheinend verallgemeinerte Form am 
Ende der Geſchichte, zu einer Zeit, wo 
man nichts mehr damit anfangen kann, 
während ſie im Anfange derſelben höchſt 
werthvoll geweſen wäre. Wir finden keine 
Stangeria in den Uebergangsſchichten, noch 
9 Revue seientifigue IV, p. 1067. 1875. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


249 


irgend eine andere Pflanze, die geeignet 
wäre, als Stützpunkt des Ueberganges 
von den Steinkohlenpflanzen zu den ooli- 
thiſchen Cycadeen genommen zu werden.“ 

Wir können an dieſem Raiſonnement nicht 
vorübergehen, ohne zu conſtatiren, wie höchſt 
ungerecht die Gegner der Evolutionstheorie 
zu verfahren pflegen. Der Umſtand, daß 
noch heute eine Pflanze exiſtirt, die das 
vollkommene Ausſehen eines Farnbaumes 
mit der primitiven Blüthenbildung der 
Cycadeen vereint, wird uns hier gleichſam 
zum höhnenden Beweiſe hingeworfen, daß 
früher ſolche Uebergangsformen nicht exiſtirt 
hätten. Alexander Braun hat in ſeiner 
in demſelben Jahre erſchienenen Arbeit über 
die Cycadeen ?) darauf hingewieſen, daß 
man die Stangeria betrachten dürfe wie 
ein doppelt gefiedertes Pterophyllum mit 
verſchmolzenen Segmenten, und er vergleicht 
fie der Gattung Anomozamites, alſo un: 
mittelbar zweien ausgeſtorbenen Gattungen, 


welche der meſsozoiſchen Landſchaft ihre 


eigenſte Phyſiognomie verliehen haben. 
Aber auch alle übrigen heute lebenden 
Cycadeen ſind trotz der ungezählten Jahr— 
tauſende, die ſeit ihrem erſten Auftreten 
verfloſſen ſind, in der Entwickelung ihrer 
Wedel und ihrer Blüthen am Blattrande 
noch immer ſo farnähnlich, daß man den 
obigen Ausſpruch gauz unbegreiflich finden 
muß. Nach den Erfahrungen, die wir in 
allen Regionen des Thier- und Pflanzen— 
reiches machen können, neigten freilich die 
Uebergangsformen vorzugsweiſe zum Aus⸗ 
ſterben, und die überlebenden Glieder können 
unmöglich eine ſo geſchloſſene Reihe bilden, 
wie fie die Gegner der Evolutionstheorie 
unter Nichtachtung aller maßgebenden Ver— 
hältniſſe immer wieder verlangen. 


n den Monatsberichten der Berliner 
Akademie. 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


250 


Während höchſtens 
lebender Cycadeen bekannt ſind, 
Schimper ſchon 175 foſſile Arten auf, 
die ſich auf 18 Gattungen vertheilen, und 
dabei ſind meiſtens nur die ſicher beſtimm— 
baren gezählt worden. Zu ihnen müſſen 
aber nach Brongniart außer den Noeg— 
gerathien, von denen wir gleich ausführ— 
licher berichten, noch die gänzlich ausgeſtor— 
benen Erzeuger der nicht von den Nadel— 
hölzern ſtammenden Steinkohlenſamen (Car— 
polithen) gerechnet werden, da es lauter or— 
thotrope Samen von dem Bau der Archi— 
ſpermenſamen ſind. Nach dieſen Samen 
kommen zu der oben angeführten Anzahl 
noch 96 Arten Urcycadeen, die ſich auf fünf 
gänzlich ausgeſtorbene Gattungen vertheilen. 
Auch Cordaites, deſſen Arten im Stein— 
kohlenwalde unſere Yucca- und Aloeform 
vertrat und deshalb von Weiß zu den 
Monocotylen gerechnet werden, gehörte nach 
Brongniart zu den Ur-Cycadeen, von 
denen man die verſchiedenſten Monocotyle— 
donen-Zweige abzuleiten verſucht wird. Ganz 
vor kurzem iſt übrigens in der Darlington— 
Grube eine Cordaites-Art mit erhaltenen 
Blüthen gefunden worden, deren Unterſuch— 
ung abzuwarten iſt.“) 

Nach dieſer Einleitung kommen wir 
nun zu den neuen Unterſuchungen über die 
Noeggerathien des franzöſiſchen Paläophy— 
tologen G. de Saporta, über welche 
derſelbe ſeit Ende März dieſes Jahres der 
Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften zu 
wiederholten Malen Bericht erſtattet hat. 
Dieſelben haben, um es im Voraus zu 
ſagen, das lehrreiche Reſultat ergeben, daß 
die bisher unter dem Gattungsnamen 
Noeggerathia vereinigten foſſilen Pflanzen 
theils zu den Farnen, theils zu den Cycadeen, 
theils zu den Coniferen, theils zu einer 


10 American Journal of Science. April 1878. 


hundert Arten 


zählt 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


mitten zwiſchen den beiden letztgenannten 
Archiſpermen-Abtheilungen ſtehenden Gruppe 
gehörten, die Saporta „Subeoniferae* 
tauft. So ſehr alſo glichen ſich damals 
die Blattformen gewiſſer Farne, Cycadeen 
und Coniferen, daß man ſie bisher in eine 
Gattung zuſammenwerfen konnte! Insbe— 
ſondere lehrreich war die letzte Mittheil— 
ung des genannten Forſchers über Noeg- 
gerathia expansa und cuneifolia Brongn. 
die wir gewöhnlich als typiſch in den Wer— 
ken über Paläontologie (4. B. bei d'Or— 
bigny und Carl Vogt) abgebildet fin- 
den und die aus den permiſchen Sand— 
ſteinen vom Uralgebiete ſtammen.“) 

Dieſe Arten waren von einem mächti— 
gen Wuchſe, weshalb man in der Regel 
nur Bruchſtücke ihrer wedelförmigen Blätter 
findet. Viel ſeltener bekommt man voll— 
ſtändige Exemplare vor Augen, nach denen 
man eine Reſtauration der Pflanze ver— 
ſuchen könnte. Die Abſchnitte haben ſämmt— 
lich keilförmigen Umriß, d. h. ſie breiten 
ſich aus ſpitzem Baſiswinkel oben wie ein 
ſchmaler Fächer aus, oder theilen ſich in 
kleinere Zipfel und Segmente mit immer 
gleichem Stielwinkel. Die Haupttheilungen 
ſind ſtets dichotom (d. h. zweigabelig) und 
Spindeln wie Blattfläche bieten häufige 
Beiſpiele dichotomer Theilung; indeſſen be— 
gegnet man auch fiederartigen und tricho— 
tomen Einſchnitten. Die von der Ader— 
ung genommenen Kennzeichen — welche 
wegen ihrer großen Beſtändigkeit für die 
Paläontologie ſehr wichtig ſind — ſind 
auch hier ſehr gleichmäßig, die Adern gehen 
nicht von den Blattwurzeln aus, ſondern 
man unterſcheidet auf jedem vollſtändigen 
Segment eine Mittelrippe, von welcher der 
Länge nach die Seitennerven dicht hinter 


) Comptes rendus T. LXXXVI. p. 869. 
1878. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


einander abgehen, um ſich unter einem mehr 
oder weniger ſpitzen Winkel fächerförmig 
auszubreiten, wobei ſie ſich immer von 
Neuem dichotomiſch theilen. . .. 

Die eben beſchriebenen Eigenthümlich— 
keiten kommen faſt nur bei Farnen vor. 
Bei den Arten der foſſilen Gattung Sphe— 
nopteris und namentlich auch bei der foſ— 
ſilen Gattung Eremopteris findet man, 
wenn auch in verkleinerter Geſtalt, eine 
jenen Noeggerathien durchaus ähnliche Blatt— 
bildung wieder; es findet ſich bei ihnen 
nicht allein die allgemeine Dichotomie des 
Wedels, ſondern auch die Bildung kleiner, 
an den unterſten Gablungen vorkommender 
ohrförmiger Fiederchen, ſowie die Theilung 
in keilförmige Segmente und die Aderung 
wieder. Unter den lebenden Farnen weiſen 
die Wedel von Asplenium furcatum Thnb. 
und einiger Spaltfarne oder Schizäaceen, 
wie Aneimia villosa Humb. et Bonpl. 
und A. adiantifolia Sw. eine ähnliche 
Bildung auf. Herr von Saporta ftellt 
deshalb die vermeintlichen Ur-Cycadeen vom 
Ural zu den Farnen und zwar in die 
Nähe der Schimper 'ſchen Gattung Ere- 
mopteris unter dem Namen Psygmo- 
phyllum. Referent kann hierbei nicht die 
Bemerkung unterdrücken, daß ihm aus der 
angedeuteten Vergleichung keineswegs die 
Farnnatur dieſes Psygmophyllum bewieſen 
erſcheint, denn das Blatt der jetzt lebenden 
und weiter unten zu erwähnenden Salis— 
buria adiantifolia (Ginkgo biloba) hat 
ebenfalls Geſtalt und Aderung eines Farn— 
krautes, und Niemand würde, wenn es nur 
im foſſilen Zuſtande bekannt wäre, die 
Conifere darin ſogleich erkennen. 

Dieſen farnartigen 


„Noeggerathien“ 


ſchließt ſich eine kleinere Form aus den Berg- 
werken von Malaſinski im Gouvernement 


Perm an, die ſich, bei im Allgemeinen 


ähnlicher Geſtalt, doch noch dadurch unter— 
ſcheidet, daß die Nerven unter einander 
anaſtomoſiren, d. h. Netze und Schlingen 
bilden, wodurch dieſe foſſilen Reſte zuweilen 
den untergetauchten und unfruchtbaren We— 
deln der Farngattungen Ceratopteris 
Brongn. und Parkeria Hook., die in 
Sumpfſtationen der wärmeren Zone vor— 
kommen, ſehr ähnlich werden. Es iſt des— 
halb dieſe vorweltliche Pflanzenform von 
den oben genannten getrennt und Dicho— 
neuron Hookeri Sap. getauft worden. 
Indeſſen darf man nicht fürchten, daß 
alle ſogenannten Noeggerathien nunmehr 
unter die Farne verwieſen werden müßten, 
denn gerade die beiden älteſten derſelben, 
ſowohl der Zeit ihres Auftretens wie der 
Namengebung nach, Noeggerathia foliosa 
Sternb. und N. rhomboidalis Vis., die 
in den mittleren Steinkohlenſchichten Böh— 
mens vorkommen, mußten trotz aller habi— 
tuellen Uebereinſtimmung mit den Vorge— 
nannten auch von Saporta als echte 
Cycadeen anerkannt und daher im Beſitz 
ihres rechtmäßigen und wohlerworbenen 
Taufnamens nach dem deutſchen Geologen 
belaſſen worden. Damit iſt alſo die Ehre 
derjenigen Naturforſcher gerettet, welche die 
Noeggerathien als Ur-Cycadeen bezeichneten. 
Dagegen neigt eine fernere Art, Noeg— 
gerathia Goepperti Liehtw. — und das 
iſt wiederum ſehr lehrreich — bei mancher 
Uebereinſtimmung mit den Cycadeen fo ſehr 


zu den Coniferen hinüber, daß Saporta 


für ſie eine beſondere Mittelfamilie auf— 
ſtellen mußte, die er Subeoniferae nennt. 
Er hat dieſelbe, welche in permiſchen 
Schichten Rußlands und Böhmens vor— 
kommt, entſprechend ihrer neuen Stellung 
umtaufen müſſen und Dolerophyllum 
Goepperti benannt. In dieſe Zwiſchen— 
klaſſe werden wahrſcheinlich noch manche 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


andere Cycadeen umziehen müſſen, ſo z. B. 
die permiſche Gattung Stenzelia ( Me- 
dullosa elegans), welche A. Braun in 
ſeiner vorhin erwähnten Arbeit über die 
Stellung der Cycadeen eine Mittelform 


| 


zwiſchen Cycadeen, Coniferen und Mono- 


cotyledonen nennt. 

Drei andere ſogen. „Noeggerathien“ 
erwieſen ſich bei genauerer Unterſuchung 
als offenbare Coniferen aus der Gruppe 
der farnblättrigen Zapfenbäume (Salis— 
burieae), nämlich die nunmehrigen Gink- 
gophyllum flabellatum (Lindl. et Hutt.) 
Sap. aus engliſchen Steinkohlenſchichten, 
G. Grassetti Sap. aus permiſchen Schich— 
ten von Lode ve (Depart. Herault) und 
G. kamenskianum Sap. aus permiſchen 
Schichten Rußlands. Die Gruppe der 
farn- und cycadeen-blättrigen Zapfenbäume, 
von deren Schönheit heute nur der einzige 
überlebende Ginkgo- Baum Chinas Kunde 
giebt, hat ſomit zu den mannigfachen in 
jüngerer Zeit beſchriebenen neuen Arten 
(vergl. Kosmos II. S. 562) einen weite— 
ren, ſehr nachdenklichen Zuwachs erhalten, 
und an Stelle jener einzigen, nach Wil— 
liamſon nicht vorhandenen Urcycadee 
ſehen wir dem Dunkel der Vorzeit ganze 
Reihen entſteigen, die ſie mit den Farnen 
nach der einen und mit den Nadelhölzern 
nach der andern Seite vermitteln. Möge 
es Herrn de Saporta gefallen, bald 
die näheren, mit Abbildungen erläuterten 
Details ſeiner Unterſuchungen, von denen 
die Denkſchriften der Akademie nur Aus— 
züge brachten, zu veröffentlichen und uns 
damit in den Stand ſetzen, die Vermuth— 
ungen, die unwillkürlich dabei aufſteigen, 
näher zu prüfen. 


Ueber den Einfluß des Auftretens 


höherer Lebensformen auf den Bau 
der älteren Krokodil-Arten 


las Profeſſor Owen eine intereſſante Ab— 
handlung in einer Februarſitzung der Lon— 
doner Geologiſchen Geſellſchaft, aus welcher 
wir das Nachſtehende entnehmen: Zunächſt 
im Allgemeinen auf den Einfluß der Um— 
gebung und äußeren Einwirkungen auf den 
Bau der Lebeweſen hinweiſend, bemerkte er, 
daß bei den Raubthieren auch auf die Ver— 
änderung ihrer Beute Rückſicht zu nehmen 
ſei. Er folgerte, daß kaltblütige Waſſer— 
thiere in größerem Verhältniſſe den meſo— 
zoiſchen als den neozoiſchen Krokodilen zur 
Nahrung gedient haben würden, und brachte 
damit den wohlmarkirten Unterſchied in 
Verbindung, welchen dieſe beiden Gruppen 
in ihrem geſammten Baue darbieten. Die 
meſozoiſchen Krokodile haben doppelhöhlige, 
die neozoiſchen nur vorn gehöhlte Wirbel, 
und da dieſe letztere Eigenthümlichkeit der 
Wirbelſäule ſie befähigt, ſich auch in der Luft 
bequem zu bewegen, mag ſie mit dem ver— 
mehrten Auftreten von Landſäugethieren 
in der Tertiärzeit, denen die Krokodile ans 
Ufer folgten, in Verbindung gebracht wer— 
den. Die meſozoiſchen Krokodile waren in 
einen viel vollſtändigeren und ſtärkeren 
Hautpanzer eingehüllt, als ihre Nachfolger, 
zweifellos zum Schutze gegen die großen 
Ichthyoſaurier, Pleſioſaurier und andere 
Raubreptile, die mit ihnen das Waſſer be— 
wohnten. Seit aber dieſe mächtigen Räuber 
am Ende der Secundärzeit verſchwunden 
ſind, iſt die Panzerung der Krokodile ge— 
ringer geworden und die Verminderung des 
Gewichtes und der Steifigkeit hat ihnen 
die zur Erlangung von Landthierbeute er— 
forderliche Behendigkeit verliehen. Der 


Unterſchied in der Stellung der 2 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


und andere damit in Verbindung ſtehende 
Naſen- und Gaumenbildungen ſtehen an— 
ſcheinend mit der von den jüngeren Kro— 
kodilen erworbenen Fähigkeit in Verbind— 
ung, ein kräftiges Säugethier untergetaucht 
zu halten, ohne dem Waſſer Zutritt zu 
den an die Spitze der Schnauze hinauf— 
gerückten Naſenlöchern und der Luftröhre 
zu geſtatten. Aus demſelben Grunde iſt 
Owen umgekehrt geneigt, ſogar jenen groß— 
ſchnäuzigen Krokodilen der Purbeckſchichten 
(3. B. Goniopholis erassidens und simus) 
die ſo wohl befähigt ſcheinen, mit großen 
und kräftigen Säugethieren zu kämpfen, 
eine Fiſchnahrung zuzuſchreiben. Die ge— 
ringe Größe der Schläfengruben bei ter— 
tiären und jetzt lebenden Krokodilen wird 
von Owen als ein fernerer Beweis der— 
ſelben Anpaſſungsrichtung betrachtet. Dieſe 
Oeffnungen wurden nämlich verringert durch 
die fortſchreitende Verſtärkung des knöcher— 
nen Daches der Schläfenhöhlen, welche 
ihrerſeits mit der Vermehrung der Schläfen— 
muskeln an Maſſe und Kraft in Verbind— 
ung ſteht, denn dieſe ſpielen beim Zubeißen 
und Feſthalten die Hauptrolle. Die Unter— 
ſchiede in der Länge und Stärke der Kiefer 
ſprechen für dieſelbe Entwickelungsrichtung. 
Ferner waren die vorderen Gliedmaßen 


kürzer bei den meſozoiſchen als bei den 


neozoiſchen Krokodilen, dadurch andeutend, 
daß die erſteren in ihren Gewohnheiten 
ſtrenger an das Waſſer gebunden waren. 


Von allen Krokodilen werden die Vorder- 
d. h. das neue Individuum f beſteht aus 
den Körper gezogen, wobei kürzere Glied- 
aus väterlichen Elementen 5, aus miütter- 


glieder beim ſchnellen Schwimmen eng an 


maßen weniger hinderlich ſind als längere. 
Auf der andern Seite mußten ſie weniger 
zur Fortbewegung auf dem Lande geeignet 
ſein. Als indeſſen die das Ufer beſuchen— 
den Säugethiere in der Tertiärzeit häufiger 
wurden, ſahen ſich die Krokodile häufig 


verſucht, Angriffe auf ſolche vorübergehende 
Landbeute zu machen, und dadurch mögen 
die Vorderfüße an Größe und Kraft bei 
den neozoiſchen Arten allmälig zugenommen 
haben. (Nature. No. 436. 1878.) 


Profefor Mantegazza's Meogeneſis 
und ſeine Anſichten 
über die geſchlechtlichen Formunterſchiede 
der Thiere. 


Um den Haupteinwürfen gegen die na— 
türliche Zuchtwahl zu begegnen, hat Dr. 
Mantegazza, einer der geiſteichſten 
Vorkämpfer des Darwinismus in Italien, 
eine neue ſupplementäre Theorie aufgeſtellt, 
die, wenn auch bisher von ihrem Gründer 
nur angedeutet, uns doch ſchon in ihrem 
Embryonal-Gewande einer kurzen Erwähn— 
ung werth erſcheint. 

Nach Herrn Mantegazza könnten 
wir die Theorien der Geneſis der lebenden 
Formen ſämmtlich auf zwei Formeln, eine 
empirische und eine wiſſenſchaftliche, zurück— 
führen. Nach der erſten wäre das Kind 
oder das neue Individuum gleich der Hälfte 
des Vaters plus der Hälfte der Mutter, 


oder 8 2 
während die wiſſenſchaftliche Formel des 
neuen Individuums ſich wie folgt ergäbe: 


8 . 
X X 
der Summe dreier unbekannter Größen; 


lichen Elementen P; und aus ataviſchen 
Elementen at. 

Jemehr väterliche und mütterliche Cha— 
raktere das Individuum aufweiſt, um ſo 
mehr gleicht es ſeinen Eltern, der Species 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


& 


oder der Varietät, der es angehört; während, 
wenn die elterlichen Elemente ſich in Größe 
faſt auf Null reduciren und das ataviſche 
Element vorherrſcht — d. h. die Summe 
aller ataviſchen Elemente, aller organiſchen 
Möglichkeiten, — dann differirt das Kind 
bedeutend und mit einem Male von ſeinen 
Eltern; wir haben alsdann ein Monſtrum, 
eine Varietät, eine neue Species, je nachdem 
wir dieſes neue Geſchöpf betrachten, welches 
Mantegazza als durch Neogeneſis 
entſtanden betrachtet und folgendermaßen 
formulirt: 

f= E & + EAA 
wobei mit E, E', E“ evanescente 
(verſchwindbare) Größen bezeichnet werden. 

Aehnliche Ideen ſind bereits von Prof. 
Delpino in feinem Neomorphismus, ſowie 
auch von Mivart angeregt worden. Doch 
unterſcheiden fie ſich von denen Mante— 
gazza's darin, daß Erſtere die neuen 
Charaktere nicht von den Eltern, noch von 
den Ahnen ableiten, während Mante— 
gazza glaubt, die ſcheinbare Neuigkeit be— 
ſtehe nur in den verſchiedenen Proportionen, 
in welchen das elterliche Element und der 
große kosmiſche Atavismus das neue In— 
dividuum bilden. Es iſt Faktum, daß das 
Kind ſtets vom Vater und der Mutter 
verſchieden iſt, aber der Grad der Verſchie— 
deuheit kann unendlich klein oder unendlich 
groß ſein. 
digere, der die Geſetze der gewöhnlichen 
Vererbung giebt, während der zweite die 
Ausnahme, die Neogeneſis, bildet. Sind 
die Monſtroſitäten, reſp. die neuen Cha— 
raktere, dem Individuum oder der Species 
nicht ſchädlich, keine Deformitäten, um die 
ſexuelle Zuchtwahl zu verhindern, fo ſteht 
der Transmiſſion derſelben durch Vererb— 


J 5 
7, Al 
E 


ung nichts entgegen und können fo der Aus- 


Der erſte Fall iſt der beftän- | 


gang für neue Varietäten und Species werden. 
Auf dieſe Art könnten wir uns erklären, 
wie in einem geringeren Zeitraume große 
Umwandlungen ſtaltgefunden, weshalb wir 
in den Erdſchichten viele Intermediär-Formen 
vermiſſen müſſen. 

Man könnte der Neogeneſis vorwerfen, 
ſie bedinge einen Rückſchritt in der Ent— 
wickelung der lebenden Weſen und ſei des— 
halb der Evolutionstheorie entgegengeſetzt. 
Doch iſt dem nicht ſo. Dieſes fatale Re— 
ſultat des Rückſchrittes ergiebt ſich nur 
dann, wenn die neuen Charaktere gleich— 
zeitig monſtrös und pathologiſch, wenn fie 
den Lebensbedingungen des betreffenden In— 
dividuums conträr ſind. Es iſt keiner 
Pflanze ſchüdlich, wenn deren Blätter ihre 
Form ändern, wenn die Blüthen Farbe 
wechſeln oder die Anzahl der Staubgefäße 
ſich modificirt. Dem unter unſern Augen 
gebildeten Pfau ſind die neuen Charaktere, 
die ihm dem Namen Pavo nigripennis 
einbrachten, durchaus nicht ſchädlich. In 
vielen Fällen ſind ſogar die durch Neogeneſis 
erſchienenen Charaktere ſehr nützlich, ver— 
leihen dem Individuum neue Fähigkeiten 
und Kräfte, erhalten ſich durch natürliche 
Ausleſe und durch Vererbung. Ferner darf 
man den Begriff des Wortes Atavismus 
nicht zu eng faſſen: es bleibe wohl ver— 
ſtanden, daß das ataviſche Element die 
Summe aller ataviſchen Elemente, 
aller organiſchen Combinations— 
möglichkeiten iſt, nicht die einfache 
Rückkehr zu einem alten, durch die natürliche 
Selektionstheorie ausgemerzten Charakter.“) 


) Anmerk. der Redaktion. Würde 
es nicht doch richtiger ſein, in dieſem dritten 
Faktor, der die elterlichen Anlagen modificirt, 
vielmehr das Wirken der neuen Lebensbeding— 
ungen, der immer ſich verändernden Welt zu 
ſuchen? 


In dem angezogenen Beiſpiel des 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Vom großen Lebensbaume divergiren 
tauſend Zweige; aber obwohl das Werk 
der Umwandlung unaufhörlich und langſam 
vor ſich geht, ſo häufen ſich von Zeit zu 
Zeit in einem Individuum ſolche und ſo 
viele Differenzen, daß ſie eine neue Form 
bilden; neu jedoch nur durch die verſchie— 
denen Proportionen der väterlichen, mütter— 
lichen und ataviſchen Elemente, die ſie ent— 
hält, die ſie aber, von äußeren Umſtänden 
begünſtigt, neuer Kräfte und neuer Aus— 
dehnung fähig machen. Wie die anſcheinend 
entgegengeſetzten Begriffe von Sterblich— 
keit und Fruchtbarkeit nur diverſe 
Momente ein und deſſelben Phänomens 
ſind, ſo ſind die unbegrenzte fortwährende 
Veränderlichkeit der Individuen und die 
Beſtändigkeit der Species nur diverſe Mo— 
mente derſelben Thatſache, die ſich nicht 
widerſprechen, ſondern ergänzen, und mehr 
denn je erſcheint in dem unendlichen, tauſend— 
fachen Reichthum von Formen klar und 
ganz die große Einheit der Materie! 

Dr. Mantegazza, findet ferner, daß 
die Darwin'ſche Theorie der ſexuellen 
Zuchtwahl, ſo meiſterhaft ſie auch von dem 
großen engliſchen Gelehrten durchgeführt 
wurde, dennoch manche Lücken zeige, zu 
deren Ausfüllung andre Factoren herbeige— 
zogen werden müßten. Zunächſt formulirt 


ſchwarzrückigen Pfaues, der an den verſchie— 
denſten Orten Europas ſeit Jahrhunderten 
immer wieder erſcheint und jedesmal eine 
bedeutende Neigung zeigt, die alte Raſſe zu 
verdrängen, iſt es vielleicht richtiger, ſtatt eines 
Rückſchlages, eine neue Form zu vermuthen, 
die von der neuen Zeit und Heimath geſchaf— 
fen wird, und ſich gerade deshalb ſo aus— 
gezeichnet bewährt. Schon der Umſtand, daß 
dieſer ſchwarzrückige Pfau einen ſo merk— 
würdigen Federwechſel durchläuft, ſcheint mir 
der verbreiteten Anſicht, daß man es hier 
mit Atavismus zu thun habe, nicht günſtig. 


255 


er die Einwürfe gegen die ſexuelle Zucht— 
wahl unter folgenden ſechs Abſchnitten. 

I. Der Liebes kampf in der Thier— 
welt exiſtirt; oft erringt das Männchen 
die Siegespalme erſt nach blutiger Schlacht: 
aber das Weibchen verfällt unvermeidlich 
dem Sieger; ſelbſt wenn es auch den Be— 
ſiegten vorziehen wollte, ſo müßte es den— 
noch dem ſtärkeren Männchen unterliegen. 
Mit wenigen Ausnahmen, wie Darwin 
auch ſelbſt zugiebt, verfolgen bei faſt allen 
Thieren die Männchen die Weibchen mit 
großem Eifer. Wenn alſo in dieſen Fällen 
das Männchen kämpft, wählt und erobert, 
wozu nützt ihm dann der ganze Apparat 
der vielfältigſten Schönheit, mit dem die 
Natur es ausgeſtattet? Nach Bertlett 
laſſen die Affen zur Brunſtzeit jedes 
Männchen, ſelbſt von andren Species, zur 
Begattung zu; wenn dieſe Thatſache 
auch nur unter anormalen Umſtäuden, d. h. 
während der Gefangenſchaft der Thiere in 
zoologiſchen Gärten, feſtgeſtellt wurde, fo 
verliert ſie dennoch nicht ihren Werth und 
zeigt uns, daß die Auswahl ſeitens des 
Weibchens ſehr ſchwierig iſt. 

Weshalb ſoll ſich auch das Männchen 
ſchön machen müſſen? Kann daſſelbe doch 
nach erfolgter Eroberung das Weibchen 
auch ohne deſſen Zuſtimmung befruchten; 
während im Männchen beſondere phyſiſche 
Bedingungen der Geſchlechtsorgane dazu 
nöthig ſind. Sollten die Schönheit oder 
andere äſthetiſche Elemente, wie der Geſang 
und verſchiedene pſychologiſche Kundgeb— 
ungen, zur Liebeserregung dienen, ſo hätten 
ſie ſich im Weibchen finden müſſen, um 
beim Männchen die geſchlechtlichen Kräfte 
wach zu rufen. Es iſt begreiflich, daß ſich 
beim Männchen die Hörner, Nägel, Klauen, 
Muskel, überhaupt alle offenſiven und de— 
fenſiven Waffen aus geſchlechtlicher 8 


— — 


256 


entwickeln und verbreiten: dagegen bleibt 
der Zweck aller andren ſecundären geſchlecht— 
lichen Charaktere, die einem äſthetiſchen 
Range angehören, unverſtändlich. 

II. Der Geruch iſt bei vielen Säuge— 
thieren par excellence der erregende 
Sinn der Geſchlechtsorgane und macht den 
ganzen äſthetiſchen Apparat von Farben 
und Formen, mit denen die meiſten Männ— 
chen geziert ſind, vollſtändig unnütz. Wenn 
aber das Männchen faſt immer ſucht, ver— 
folgt und erwirbt, warum iſt daſſelbe ſo 
reichlich mit geſchlechtlichen Gerüchen verſehen? 
Sollte nicht vielmehr das keuſche, zurück— 
gezogene, verborgene Weibchen dieſe Gerüche, 
dieſe Ausdünſtungen von ſich geben, um 
dem Gefährten den Weg zur Liebe anzu— 
deuten? Mantegazza hat während zwei 
Jahren verſchiedenen Generationen von 
Kaninchen gleich nach deren’ Entwicklung 
die Augen ausgeſtochen, aber die Liebe ent— 
wickelte ſich in dieſen Blinden ohne Hinder— 
niß, denn ſie beſaßen ihre Geruchsorgane. 
Schiff hat dagegen den neugeborenen 
Hunden die Geruchsnerven außer Gebrauch 
geſetzt und unter andern Folgen zeigte ſich 
auch die, daß das Männchen nicht das Weib— 
chen aufzufinden wußte. 

III. Die Schönheit des Männchens 
variirt zu ſehr auch in nahverwandten 
Vogelſpecies, um deren Urſprung durch 
bloße geſchlechtliche Zuchtwahl erklären 
zu können. Geſtehen wir den Thieren auch 
den feinſten äſthetiſchen Sinn zu, ſo finden 
wir es doch ſchwierig zu glauben, die ver— 
ſchiedenſten Formen, die entgegengeſetzten 
Farben ſeien einzig und allein das Reſul— 
tat des ſpeciellen Geſchmacks verſchiedener 
Weibchen, die ſich im übrigen unter ſich 
ſo ſehr gleichen. Widerſteht uns denn nicht 
die Annahme, die Feder des Pfaues oder 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


diesvogels ſei durch die geſchlechtliche Aus— 
wahl des Weibchens entſtanden, während 
das faſt immer intelligentere Männchen es 
iſt, welches das Weibchen liebt und das— 
ſelbe als Kriegstrophäe erringt, ſich aber 
mit den beſcheidenſten und gewöhnlichſten 
Tinten in ſeiner Gefährtin begnügt? 

IV. Die Zähmung, ſowie manche an— 
dere äußeren Bedingungen der Nahrung, 
Farbe ꝛc. ändern gar ſchnell das Geſchlechts— 
kleid; wäre daſſelbe das Ergebniß langer 
Jahrhunderte geſchlechtlicher Zuchtwahl, ſo 
müßte es doch tief in der Species einge— 
graben bleiben. Genügt nicht der Albinis— 
mus, um in den Thieren verſchiedenſter 
Natur die reichſten und ſchönſten Farben— 
ſpiele zum Verſchwinden zu bringen? Und 
vielleicht iſt der Albinismus blos die Folge 
einer geringen hiſtologiſchen Modification 
der Pigment erzeugenden Organe. 

V. Bei den meiſten Fiſchen findet keine 
Berührung der Geſchlechtsorgane ſtatt, und 
obgleich man behaupten könnte, das Weib- 
chen gebäre ſeine Eier nur dann, wenn es 
ein gefälliges Männchen in der Nähe ſieht, 
ſo muß man andrerſeits auch die Schwie— 
rigkeit einer wirklichen und eigentlichen Se— 
lektion anerkennen, wenn man beobachtet, 
in welchem wilden Durch- und Ueber- 
einander die Männchen zur Laichzeit die 
Weibchen verfolgen. Und doch beſitzen die 
Fiſche ſehr wichtige ſecundäre ſexuelle Cha— 
raktere. 

VI. Der wichtigſte Einwurf gegen die 


geſchlechtliche Zuchtwahl dürfte jedoch aus 


der Beobachtung der poly gamiſchen 
Thiere folgen, bei denen die ſecundären 
ſexuellen Charaktere ſehr tief und bedeut— 
ſam ſind. Wenn unter ſo vielen Männ— 
chen, die um den Beſitz eines Harems 
kämpfen, nur Eines Sieger bleibt, ſo 


auch das ſtrahlende Prachtgefieder des Para- braucht daſſelbe für die Weibchen gewiß 


nicht das ſchönſte Männchen zu fein, da 
ja nicht die Schönheit, ſondern die Kraft 
ihm die Sultansrechte verſchafft; und be— 
ſitzt es dieſelben einmal, ſo gehören die 
eroberten Weibchen ihm ganz und gar; es 
führt ſie zur Weide und zur Ruhe wie 
ein Hirt und König. Und ferner wäre 
hier noch zu bemerken: Wenn ſo viele 
Männchen ſterben oder von den Weibchen 
(unter den polygamiſchen Thieren) fern 
bleiben, wie kommt es, daß immer mehr 
Männchen als Weibchen geboren werden? 

Dieſe Schwierigkeiten, welche der ge— 
ſchlechtlichen Zuchtwahl-Theorie entgegen— 
ſtehen, dürften den denkenden Darwinianer 
wohl zu weiteren Forſchungen anregen, um 
auch den Schleier dieſer Naturerſcheinungen 
zu lüften. Dr. Mantegazza hat ſelbſt 
einen Verſuch zur Erklärung einiger der 
von ihm angeführten, in die Darwin'ſche 
ſexuelle Selektionstheorie nicht hineinpaſſenden 
Thatſachen gemacht. Es ſcheint ihm ein— 
facher zu ſein, die geſchlechtliche Charakter— 
verſchiedenheit durch die ſpecielle Natur der 
ſpermatiſchen Abſonderung (Secretion) zu 
erklären, welche bei ihrer Erſcheinung zur 
Pubertätszeit durch die Reabſorption alle 
Gewebe durchdringt, deren Ernährung be— 
deutſam modificirt und dadurch neue For— 
men, neue Farben, neue anatomiſche und 
phyſiologiſche Charaktere zum Vorſchein 
bringt. 

Bei den unmannbaren Thieren gleichen 
ſich Männchen und Weibchen oft ſo ſehr, 
daß deren Unterſcheidung ſchwer fällt, wie 
auch das Alter oft die ſecundären ſexuellen 


Charaktere verſchwinden oder wenigſtens 
undeutlicher werden läßt. Auch die Ver— 
ſchneidung (Caſtration) verhindert beim 


Männchen die Entwickelung jener Charak— 
tere, die es von ſeiner Gefährtin ſo ſehr 
verſchieden macht. Andrerſeits erſcheint bei 


“ 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


vielen Thieren das Hochzeitskleid nur zur 
Liebes- oder Brunſtepoche, alſo gleich— 
zeitig mit der Abſonderung des Sperma 
oder des Eies und mit ihr verſchwindet es 
auch wieder. Die Barthaare erſcheinen auf 
dem Kinn des mannbaren Menſchen, die 
Sporen entwickeln ſich ſtärker auf den 
Beinen des Hahns; Hörner, Farben, Ge— 
ſang, Gewebe und Funktionen modificiren 
ſich, ſobald der Teſtikel in Thätigkeit tritt 
und der abſorbirte Theil der Samenfeuch— 
tigkeit eine neue ſtarke Aktion auf die Er— 
nährung der hiſtologiſchen Elemente aus— 
übt. Wenn bei den Ameiſen und Bienen 
und bei ſo vielen anderen Inſekten ein 
verſchiedener Nahrungsſtoff genügt, das 
Geſchlecht einer Larve zu ändern, wenn 
eine amerikaniſche Weide (Salix humilis) 
in Folge des Stiches von zehn verſchiede— 
nen Inſekten zehn diverſe Gallen erzeugt, 
warum ſoll dann nicht eine ſo potente 
Feuchtigkeit, wie der Same, die Ernähr— 
ung der dadurch beeinflußten Gewebe mo— 
dificiren, warum nicht auch die Seeretion 
des Eierſtockes den Organismus des Weib— 
chens verändern und ſo ſecundäre ſexuelle 
Charaktere produciren? Bei den polyga— 
miſchen Thieren müſſen die geſchlechtlichen 
Unterſchiede tiefer ſein, denn da das Männ— 
chen viele Weibchen zu befruchten hat, jo 
muß auch die ſpermatiſche Abſonderung um 
ſo ſtärker und lebhafter vor ſich gehen und 
den ganzen Organismus durchdringen. 
Freilich genügt in vielen Fällen die 
natürliche Zuchtwahl zur Erklärung der 
Unterſchiede in Farben und Formen, be— 
ſonders bei den Schmetterlingen und bei 
den Vögeln, die ihre Eier im offenen 
Felde brüten; doch ſind dies ſecundäre, 
nebenſächliche Gründe, die nur einige That— 
ſachen ſexueller Differenzirung erklären. Die 
Haupturſache iſt nach Dr. Mantegazza 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


die ſpermatiſche Secretion, die nothwen— 
diger Weiſe die verſchiedenſten ſecundären 
ſexuellen Charaktere nach ſich zieht, welche 
letztere ſich dagegen nicht entwickeln oder 
kaum angedeutet werden, wenn man 
durch Amputation der Teſtikeln vor der 
Pubertät verhindert, daß der Same ſich 
entwickklle und folglich den Organismus 
gründlich modificire. Wäre dem nicht ſo, 
weshalb ſollten dann nicht die von ſo vielen 
Generationen durch geſchlechtliche Zuchtwahl 
in einem Individuum angehäuften Keime 
auch nach der Verſchneidung (Ca— 
ſtration) im Männchen erſcheinen? Wenn 
dieſe Theorie auch immer nur eine Hypo— 
theſe iſt, ſo ſcheint ſie doch den phyſiolo— 
giſchen Geſetzen der Ernährung des Orga— 
nismus angemeſſen und kann auch auf expe— 
rimentellem Wege unterſucht werden. 
Florenz. 3. E Zilliken⸗ 


De Maillet's 
Phantaſien über die Umwandlung 
der Arten. 


in Lothringen, (an welchem Orte, habe ich 


nicht in Erfahrung bringen können) geboren. 


In ſeiner Jugend lag er eifrig dem Studium 
alles Wiſſenswerthen ob: Seine Schriften ver— 


zum Generalconſul von Aegypten ernannt, 
benutzte er ſeine Mußeſtunden, um ſich in 
ſeiner Art naturgeſchichtlich zu bethätigen 
und in ſeinem exaltirten Kopfe die wunder— 
lichen Hirngeſpinſte auszubrüten, mit denen 
wir uns im „Kosmos“ gar nicht beſchäf— 
tigen dürften, wären ſie nicht von einigem 
hiſtoriſchen Intereſſe und wären ſie nicht 
mit den Lehren eines Lamarck zuſammen— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


geſtellt worden. Im Jahre 1709 über— 
nahm Maillet das Conſulat von Livorno, 
1715 machte er im Auftrage der franzö— 
ſiſchen Regierung eine Reiſe nach den Han— 
delsplätzen der Barbarei und der Levante 
und zog ſich nachher mit einer anſehnlichen 
Penſion ins Privatleben zurück. Er ſtarb 
im Jahre 1738 in Marſeille. 

Zwei kleinere Abhandlungen De 
Maillet's über Aegypten und Aethio— 
pien ſind mir nicht zu Geſicht gekommen. 
Vor mir liegt fein bekanntes Buch: „Tellia- 
med ou Entretiens d'un philosophe in- 
dien avec un missionaire frangais sur 
la diminution de la mer“, neue Auflage, 
2 Bände, 1755, in welchem er unter dem 
Namen Telliamed (Buchſtabeninverſion 
von De Maillet) als indiſcher Philoſoph 
ſein Syſtem darlegt. Die Schrift iſt nie 
zu Lebzeiten De Maillet's erſchienen, 
ſondern nach ſeinem Tode von einem Un— 
genannten in, wie dieſer ſelbſt ſagt, umge— 
arbeiteter Form herausgegeben worden. 

Von vorn herein iſt es charakteriſtiſch, 
daß De Maillet ſein Buch einem ge— 
wiſſen Cyrano de Bergerac, Ver— 


faſſer von Reiſen auf Sonne und Mond, 
Benoit de Maillet wurde 1659 


widmet und ſich, mit Recht, „den ſehr treuen 
Nachahmer“ dieſes „närriſchen“ Menſchen 
nennt. Ueber die Vergangenheit der Erde 
phantaſirt er nämlich ganz ebenſo, wie jener 


über Zuſtände auf Sonne und Mond. 
rathen große Gelehrſamkeit. Im Jahre 1692 


Die Verſteinerungen ſind es, die die 
volle Aufmerkſamkeit Maillet's in erſter 
Linie auf ſich ziehen. Was bedeuten ſie; 
wie ſind ſie zu Stande gekommen; wo fin— 
den ſie ſich; was lehren ſie uns? Sind 
ſie wirklich blos Figurenſteine, Naturſpiele, 
Produkte kindlicher Beluſtigungen des Schöp— 


fers, ſeine eigenen lebenden Geſchöpfe auch 


in Stein nachzubilden? Oder ſind ſie etwa, 
wie Langy in Luzern (es iſt wohl 


Nikolas Lang gemeint) glaubt, da— 


durch entſtanden, daß von Organismen ſich 


Keime in irgend einer Weiſe loslöſten, in 
die Luft gelangten, durch Poren in das 
Innere der Felſen eindrangen und dem 
Material, in welches ſie geriethen, den Im— 
puls gaben, ſich zu entſprechenden Verſtei— 
nerungen zu geſtalten? Nein, ſo können 
die Verſteinerungen nicht entſtanden ſein. 
Iſt es nicht von vorn herein wahrſchein— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


wirklich, und zwar alle, unter Waſſer ge— 


bildet. Am Boden der Gewäſſer entſtehen 
beſtändig Niederſchläge, von den feſten Be— 
ſtandtheilen, die das Waſſer an verſchieden 
Orten ablöſt, herrührend. Dieſe Nieder— 


ſchläge umhüllen die am Grunde des Waſſers 


licher, daß ſie wirkliche Ueberreſte von 


Thieren und Pflanzen ſind, die an der be— 


treffenden Stelle gelebt haben? Wie ſteht 


es dann aber mit der Thatſache, daß Ver— 


ſteinerungen von Meeresthieren an Orten, 


die jetzt gar nicht mehr vom Meere bedeckt 


ſind, angetroffen werden, daß fie ſich über 


all auf dem Feſtlande, ja auf den höchſten 
Bergen vorfinden? Ja, die große Mehrzahl 


der Verſteinerung beſteht aus Meevesformen. 


Die angezogenen merkwürdigen Ver— 
hältniſſe erklären ſich nach Telliamed ganz 
leicht und natürlich durch die Annahme, daß 
alle Orte, wo ſich Verſteinerungen vorfinden, 
früher einmal vom Meere bedeckt geweſen 
ſind. Im Anfang war die Erde mit 
Waſſer bedeckt und nirgends ragte Feſtland 
aus demſelben hervor. Im Schoße des 
Urmeeres bildeten ſich allmälig Gebirge, 
deren Gipfel durch ein allgemeines Zurück— 
ſinken des Waſſers nach und nach frei wurden. 
Im Verlaufe vieler Jahrtauſende hat das 
beſtändige Abnehmen des Meeres den ge— 
genwärtigen Zuſtand der Erde herbeige— 
führt. Dieſe Abnahme geſchieht auch heute 
noch und unſere ausgedehnten Meere werden 
über kurz oder lang kleinere Binnenwaſſer— 
becken bilden. Dies der kurze Sinn der 
langen Rede Telliamed's. Auf die 
phantaſtiſche Begründung dieſer Anſicht kön— 
nen wir nicht eingehen. 

Die Verſteinerungen haben ſich alſo 
@ 


liegenden Ueberreſte von Thieren und Pflan— 
zen, ſie erſtarren, nachdem ſie vom Waſſer 
verlaſſen. So ſind die Ueberreſte von 
Madreporen, Korallen, Auſtern, Röhren 
von Röhrenwürmern zu Verſteinerungen 
geworden. So haben ſich die durch Fäul— 
niß macerirten Gerippe von Fiſchen, Wall— 
fiſchen u. |. w. am Boden der Gemwäſſer 
verſteinert. Landthiere müſſen irgendwie 
ins Waſſer gerathen und ertrunken ſein, 
denn neben verſteinerten Waſſerthieren ſind 
auch Schlangen und Eidechſen, in einem 
Falle ſogar ein mitten in einem Felſen 
befindliches Ei mit noch flüſſigem Inhalt 
und verſteinerte Federn bekannt geworden. 
Man hat die verſteinerten Skelette ertrun— 
kener, rieſenhafter Menſchen gefunden und 
verſteinerte Schiffe mit Rudern, Ankern 
u. ſ. w. (doch hat man dieſe nur aus der 
Ferne geſehen), die offenbar im Urmeere 
Schiffbruch gelitten. 

Es erzählen uns alte Ueberlieferungen, 
alte Aufzeichnungen, hauptſächlich die hei— 
lige Schrift, von einer allgemeinen Sünd— 
fluth, die in kurzer Zeit die Spitzen der 
höchſten Berge erreichend und in kurzer 
Zeit wieder! zurücktretend alles Lebende 
zu Grunde richtete. Können die Ver— 
ſteinerungen nicht von einer ſolchen allge— 
meinen Sündfluth herrühren? Doch nein, 
es herrſcht Ordnung in der Lage und 
Vertheilung der Foſſilien, es herrſcht 
Ordnung in der Struktur der ſie einſchlie— 
ßenden Schichten. Ueberdies iſt eine allge— 
meine Sündfluth mit der darauf ſchwim— 
menden Arche Noah überhaupt ein Unſinn. 


— — — — — 
— — = — = 


260 


Woher kamen denn die Waſſer jo ſchnell und 


wohin liefen ſie ſo raſch ab? Wie konnten die 
Fiſche und andere Waſſerthiere zu Grunde 
gerichtet werden, da ſie ſich ja ſtets in 
ihrem Elemente befanden? Wie konnte 
Noah von allen Arten, auch den in ganz 
entfernten Ländern lebenden, je ein Pärchen 
in ſeine Arche aufnehmen? Zugegeben, 
daß er ſogar Raum für Elephanten, Rhi— 
noceros, Kamele u. ſ. w. in ſeiner Arche 
hatte, ſo ſcheint es doch ſonderbar, daß er 


alle ſehr kleinen, faſt unſichtbaren Organis- 


men zuſammenbrachte und insbeſondere die 
ſo ſehr läſtigen Wanzen, Flöhe, Läuſe und 
Milben in der Arche cultivirte. Kurz, 
die ganze Geſchichte von der allgemeinen 
Sündfluth und der Arche Noah erſcheint 
Telliamed durchaus nicht plauſibel und 
er führt ſie auf locale Ueberſchwemmungen 
zurück. 

Im Anfange, als noch die ganze Erd— 
oberfläche von den Waſſern bedeckt war, 
exiſtirten nur ſehr wenige Waſſerthiere und 
Waſſerpflanzen. Dieſe ſelbſt entſtanden 
höchſt wahrſcheinlich aus Keimen, die von 
anderen Himmelskörpern auf unſere Erde 
gelangt waren leine Anſicht, die ja neuer— 
dings wieder geltend gemacht wird). Wie 
aber find nachher aus den Waſſerorganis— 
men Landorganismen entſtanden? Die 
Antwort iſt leicht! Das Waſſer iſt ja 
nur condenſirte Luft und die Luft ver— 
dünntes Waſſer! Ferner: haben wir nicht 
im Waſſer die Analoga aller auf dem 
Lande lebenden Weſen? Finden ſich nicht 
im Meere Kräuter, Sträucher, Bäume; 
giebt es da nicht z. B. Meeräpfel, Meer— 
birnen, Meerroſen? Ja, Telliamed hat 
ſogar eigenhändig eine Traube aus dem 
Meere gezogen und er überzeugte ſich, daß 


eine Beere daran reif und ſchmackhaft 
war! In Bezug auf die Thiere findet 


in der Luft. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Von 


ganz die nämliche Analogie ſtatt. 
den Waſſerthieren kriechen und gehen die 
einen auf dem Boden des Meeres: ſie ent 
ſprechen denjenigen Formen, welche auf dem 
Feſtlande umherlaufen; die anderen, wie 
die Fiſche, fliegen im Waſſer, wie die Vögel 
Ja ſogar ganz im Einzel— 
nen finden ſich alle Analogien in Farbe, 
Geſtalt, Art der Lebensweiſe, z. B. zwi— 
ſchen Fiſchen und Vögeln. In Anbetracht 
dieſer Fülle allgemein bekannter und aner— 
kannter Thatſachen erſcheint es für jeden 
vorurtheilsloſen, vernünftig denkenden Men— 
ſchen ſelbſtverſtändlich, daß ſich beim Sin— 
ken des Urmeeres und Freiwerden des 
Feſtlandes diejenigen Formen, die allmälig 
an die Luft geſetzt wurden, an das neue 
Medium gewöhnten. Waren es auch nur 
wenige unter Tauſenden, ſo konnten doch 
dieſe wenigen ihr raſch umgewandeltes Ge— 
ſchlecht durch Fortpflanzung vermehren und 
ausbreiten. Daß der Uebergang von der 
Luftathmung im Waſſer zur Luftathmung 
auf dem Lande ſehr wohl möglich iſt, lehren 
uns ja die Amphibien, denen es ganz gleich— 
gültig iſt, ob ſie auf dem Lande oder im 
Waſſer leben. 

Laſſen wir Telliamed in einer ſeiner 
Ausführungen ſelbſt reden: „Es konnte 
vorkommen und es kommt ja, wie wir 
wiſſen, ziemlich oft vor, daß beflügelte und 
fliegende Fiſche beim Jagen oder beim Ver— 
folgtwerden, aus Raubluſt oder Todesfurcht, 
vielleicht auch durch Wellen an das Ufer. 
geworfen, ins Schilfdickicht oder auf Raſen 
fielen, von wo ſie nicht mehr ins Meer 
zurückgelangen konnten. In dieſem Falle 
erlangten ſie vielleicht ein größeres Flug— 
vermögen. Ihre nicht mehr vom Waſſer 
gebadeten Floſſen ſpalteten und krümmten 
ſich in Folge der Trockenheit. Während 
ſie an ihrem neuen Wohnorte einige Nahr— 


ungsmittel zum Unterhalte vorfanden, ver— 
längerten ſich die von einander losgelöſten 
Strahlen ihrer Floſſen, bekleideten ſich mit 
Bärten, oder richtiger geſprochen, es ver— 
wandelten ſich die Häute, welche ſie vorher 
mit einander verbanden. Der von dieſen 
zerriſſenen Häutchen gebildete Bart wurde 
größer; die Haut bedeckte ſich unmerklich 
mit Flaum von derſelben Farbe, die ſie 
ſelbſt hatte; der Flaum wurde entwickelter. 
Die kleinen Floſſenfedern am Bauche, die zu 
gleicher Zeit mit den anderen Schwimm— 
floſſen die Ortsbewegung der betreffenden 
Fiſche im Waſſer vermittelten, wurden 
Beine und dienten zum Gehen auf dem 
Lande. Andere kleine Veränderungen in 
der Geſtalt gingen Hand in Hand. Schnabel 
und Hals verlängerten ſich bei den einen, 
bei den anderen verkürzten ſie ſich; ähnliches 
geſchah mit dem übrigen Körper. Im 
Ganzen aber blieb Uebereinſtimmung mit 


Anm. der Red. Unſer geehrter Mit— 


arbeiter ſcheint uns hier doch den Telliamed 


nicht nach Verdienſt zu würdigen. Es darf 


nicht vergeſſen werden, daß in der langen 


Nacht von Lucrez bis auf Goethe dieſe 
Traumphantaſie denn doch die erſten Ahnun— 
gen der Entwickelung höherer organiſcher For— 
men aus niederen brachte. Wie tief ſtand 
der in den Naturwiſſenſchaften ſonſt ſo wohl 
erfahrene Voltaire unter Maillet, als er 
deſſen Anſichten von dem ehemaligen Leben 


der verſteinerten Thiere beſpöttelte, und allen 


Ernſtes behauptete, die verſteinerten Muſcheln 
und Ammonshörner der Gebirge ſeien von 
darüber ziehenden Pilgern verloren worden; 
ja noch in unſerm Jahrhundert gab es Leute, 
welche die Verſteinerungen für alles Andere 


eher als für die Reſte lebendiger Thiere hal- 
ten wollten. De Maillet eilte ſeiner Zeit 


weit voraus, und im Uebrigen hat er ja ſeine 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 261 | 


der erſten Form; auch iſt und bleibt fie 
(die Uebereinſtimmung) immer leicht er— 
kenntlich.“ 

Auch des Menſchen Urſprung iſt nicht 
verſchieden von demjenigen der Landthiere 
und Landpflanzen. Wie dieſe aus ent— 
ſprechenden Waſſerformen hervorgingen, ſo 
entſtand der Menſch aus Waſſermenſchen. 
Solche Waſſermenſchen exiſtiren wirklich; 
zahlreiche Beobachtungen beweiſen es un— 
zweifelhaft; aufgenommene ausführliche Pro— 
tocolle erhärten die Beobachtungen. Ja, 
wir finden alle Stufen: Waſſermenſchen, 
deren Hinter- oder Unterleib in einen mit 
Schuppen bedeckten Fiſchſchwanz endigt; 
Waſſermenſchen von unſerer Form, aber 
mit Schwimmhäuten zwiſchen Fingern und 
Zehen u. ſ. w. 

So die Umwandlung der Arten nach 
De Maillet! 

Bern. 


Dr. Arn. Lang. 


Meinungen im Gewande einer Phantaſie vor— 
getragen, ſo daß uns ihre romanhafte Faſſung 
nicht überraſchen kann. Die oben erwähnten 
„Reiſen in den Staaten der Sonne und des 
Mondes“ von C. de Bergerac gehören 
trotz ihrer phantaſtiſchen Geſtalt zu den aus— 
gezeichnetſten Werken der älteren franzöſiſchen 
Literatur. Der Verfaſſer, ein Schüler Gaſ— 
ſendi's, hat mit ebenſo viel Geiſt als Witz 
die Thorheiten der irdiſchen Philoſophie in 
dieſen Reiſen gegeißelt, und auf die Inquiſi— 
tion, welche Galilei zum Widerruf zwang, 
iſt nie eine köſtlichere Perſiflage gemacht wor— 
den, als jene Epiſode der Mondreiſe, in 
welcher die Mondbewohner den ſie beſuchen— 
den Erdenbürger zwingen, ſeine Behauptung, 
die Erde ſei eine bewohnte Welt, um die 
ſich der Mond drehe, öffentlich zu widerrufen. 
Bergerac's Werke verdienen noch heute 
geleſen zu werden. K. 


——H—k — 2 — —v —hZͥ — 


Neal 


Fiteratur und Kritik. 


„An’est ce que la matière?“ 


ieſe difficile Frage richtete, wie be— 
kannt, einſt der tapfere Korſe an einen 
9 der von ihm jo verachteten „Deutſchen 

Ideologen“, an Jacobi, und als 
dieſer im Moment keine Antwort zu 
finden wußte, wandte ihm Napoleon ohne 
Weiteres verächtlich den Rücken zu. 
Verhalten des großen Tyrannen wie das 
des Philoſophen in dieſem Falle ſticht 
merklich ab von dem Verfahren jenes 
indiſchen Despoten und ſeines Aſtrologen, 
zwiſchen denen, wie erzählt wird, einſt die 
Frage nach dem wahren Weſen Gottes zur 
Sprache kam. 
bat ſich eine Bedenkzeit aus, welche er ſich 
ſtets verlängern ließ, und der Despot war 


klug genug, das Schweigen auch als eine 


Antwort zu nehmen. 
Muß ſich auch die Philoſophie die Be— 


denkzeit für jene Frage in infinitum ver- 
Erkenntnißkraft 
Schall das Begreifen erzeuge. 


längern laſſen? — Eine Antwort hierauf 
ſuchen wir in der vor uns liegenden Schrift 
von Johannes Huber, „Die Forſch— 
ung nach der Materie.“ München, 
1877, Ackermann. — Sehen wir, welchen 
Aufſchluß ſie uns über dieſe 
geben vermag. Wichtig genug iſt dieſe; um— 
faßt doch dieſe Frage Napoleons an Jacobi, 


das Ding trägt, 


| 


nebſt der andern Frage des Pilatus an 
Chriſtus — „Was iſt Wahrheit?“ — faſt 
Alles, was wir zu wiſſen wünſchen. Auch 
die Tyrannen können mehr fragen, als die 
Weiſen beantworten können. Doch was 
will jene Frage? Fragen wir erſt die 
Frage, was ſie denn frage? 


Was wollen wir wiſſen, wenn wir 


fragen: Was iſt die Materie? Wenn 
Das 


das Kind bei dem Anblick eines ihm. bis 
dahin unbekannten Weſens oder Dinges 
fragt: was iſt das? und wir antworten 
ihm mit einem beliebigen Namen, den 
ſo beruhigt es ſich wohl 
dabei — auf kurze Zeit. Wir ſagten ihm 


vielleicht, der von ihm ſinnlich empfundene 
Der gefragte Sternfundige | 


Gegenſtand, der ihm die verwunderte Frage 
erpreßte, was er denn ſei? ſei ein Hund, 
oder eine Roſe, oder ein Schiff. Das 
Kind beruhigt ſich dabei, und wie das 
Kind, ſo beruhigte ſich die Menſchheit und 


beruhigen ſich noch heute Tauſende bei dem 


Namen, als ob ihm eine verborgene 
innewohne, als ob der 
Aber all- 


mälig erwacht das Bewußtſein, daß der 


Name nur ein Symbol iſt für die Sache, 


eine Münze mit verſchwindend geringem 


Frage zu 


ſetzung klar iſt, 


Erkenntnißwerth, der nur noch da vorhan— 
den iſt, wo der Etymologie die Zuſammen— 
ein Wort, das nur der 


Fr 


Erinnerung, nicht der Erkenntniß dient. 
Da erwacht die quälende Frage von Neuem: 
Was iſt das? Was iſt „Hund“, „Roſe“, 
„Schiff“? Und die Gefragten befinden ſich 
oft in nicht geringer Verlegenheit, wie ſie 
dem fragenden Kinde begreiflich machen 
ſollen, was denn der Gegenſtand ſei. Denn 
wenn ſie auch ſo hochgebildet ſind, um etwa 
Abſtracta, wie Pflanze, Thier, Gegenſtand 
zu gebrauchen, wie iſt damit dem gedient, dem 
dieſe Abſtracta zuletzt ſelbſt wieder Räthſel 
ſind? Dann muß oft ein Gleichniß, 
ein Bild, ein charakteriſtiſches Attribut 
dazu dienen, um die Neugierde zu be— 
friedigen. Aber auch das Attribut iſt ein 
allgemeinerer Begriff oder eine allgemeinere 
Anſchauung, die dem fragenden Subjekte 
ſchon bekannt ſein muß; und ſo, ſehen wir, 
bleiben zwei Arten von Antworten übrig 
auf die Frage: man bringt das Unbekannte, 
was zur Frage reizt, entweder unter einen 
höheren Allgemeinbegriff, oder man ver— 
gleicht es mit einem anderen bekannten 
Dinge. Und ſehen wir genauer zu, ſo 
ſind dieſe beiden Arten Antworten einer 
und derſelben Gattung. Denn da auch der 
Allgemeinbegriff eine Sammlung von Ueber— 
einſtimmungen, von Gleichförmigkeiten der 
Beſchaffenheit iſt, ſo iſt das Begreifen durch 
ihn auf daſſelbe Princip baſirt wie das 
Begreifen durch Analoges, Aehnliches — 
auf die Gleichheit. All unſer Begreifen 
iſt ein Zuſammenfaſſen von Gleichheiten; 
begriffen iſt oder ſcheint etwas, wenn es 
mit einem anderen, uns faktiſch oder nur 
ſcheinbar mehr Bekanntem gleich geſetzt iſt. 

Wenden wir das Geſagte auf unſeren 
vorliegenden Fall an, indem wir alſo fragen: 
„Was iſt die Materie?“ ſo kann unſere 
Abſicht ebenfalls nur dahin gehen, etwas 
zu finden, wodurch wir die Materie zu 


begreifen vermögen, alſo eine Vorſtell— 


Literatur und Kritik. 


ung, mit der wir das gleichſetzen können, 
was wir Materie nennen. Nur wenn es 
uns möglich iſt, ein ſolches Etwas zu fin— 
den, kann die Materie als begriffen gelten. 
Denn wir fragen ja nicht „wie iſt die 
Materie“, d. h. wir fragen nicht nach ihren 
Beſchaffenheiten, ſondern wir fragen, „was 
iſt fie”? d. h. was für einer Art der 
Dinge, welcher Klaſſe von Gleichförmig— 
keiten des Seins iſt ſie zuzuzählen? 

Hier iſt nun aber darauf aufmerkſam 
zu machen, daß dieſer Proceß begrifflicher 
Reduktion ſeine Grenzen hat, an denen jeder 
weitere Reduktionsverſuch ſcheitert; d. h. das 
Begreifen muß ein Ende haben, weil wir 
die letzten Gleichförmigkeiten, zu denen wir 
gelangen, nicht weiter auf andere reduciren, 
können. Selbſt wenn es uns gelänge, alle 
Dinge auf ein letztes Element zu reduciren, 
ſo müßte ja eben dieſes ſelbſt unbe— 
greiflich ſein, weil es nicht mehr unter 
einen höheren Begriff ſubſummirt werden 
kann. Es könnte uns wohl begreifbar er— 
ſcheinen, wenn nämlich dieſes letzte Ele— 
ment uns das bekannteſte wäre, was in 
unſere Erfahrung tritt, aber dieſer Schein 
darf nicht über die Thatſache hinwegtäuſchen, 
daß dieſes Element zwar wohl wißbar 
aber eben doch faktiſch unbegreiflich iſt. 

Gehen wir mit dieſen methodologiſchen 
Principien an die genannte Schrift und 


ſſehen wir, wie weit fie uns mit dem Be— 


greifen der Materie führt. Sie zerfällt 
in eine Einleitung, in einen erkenntniß— 
theoretiſchen und in einen metaphyſiſchen 
Theil. Jene Einleitung ſtellt das Problem 
und theilt die hiſtoriſchen Notizen mit; der 
erkenntnißtheoretiſche Theil behandelt im 
Allgemeinen die Frage: ob die Materie 
ſei; der metaphyſiſche Theil: was dieſelbe 
ſei? Durch die ganze Schrift aber zieht 
fi) bald mehr oder minder offen die Po- 


263 5 


) 


264 


lemik gegen den Materialismus und damit 
natürlich die Frage: Kann man die Ma— 
terie zum Weltprincip erheben, wie man 
mit den Idealiſten den Geiſt oder den 
Willen oder gar nach neueſter Verſion 
die Phantaſie zum Weltgrund zu 
machen beſtrebt iſt? Und das iſt eben 
die Frage, ob man die Phänomene, deren 
Complex die Welt ausmacht, aus dem ma— 
teriellen Element als alleinigem Princip ab— 
leiten könne? Neuerdings hat ſich nun 
aber bei der Unmöglichkeit dieſer Ableitung 
die Theorie der Seelenhaftigkeit 
der Materie wieder erhoben, alſo eine 
neue Auflage des Hylozoismus. Wir freuen 
uns, auch den ſcharfſinnigen Kritiker, der 
die genannte Schrift uns vorlegt, auf die— 
ſem Wege zu ſehen, und ſchöpfen daraus 
die Hoffnung, daß die Kluft, welche die 
ſogen. moniſtiſche Anſchauung von den An— 
hängern des alten Idealismus noch ſcheidet, 
immer mehr ausgefüllt werde, wozu ja 
durch Fechner, Lange, Wundt u. A. 
ſchon der beſte Anfang gemacht iſt. Es 
ſind zwei Wege, auf denen man zu dieſem 
Reſultat gelangt, einmal der erkenntniß— 
theoretiſche Weg, durch den wir zu 
dem Ergebniß geführt werden, daß die Ma— 
terialität ein phänomenales Daſein beſitzt, 
und nichts als eine ſubjektive Form iſt, in 
der unſere Senſationen von uns aufgefaßt 
werden. Wir haben ja zunächſt nur Sen— 
ſationen, und es iſt eine bloße Hypoſtaſirung 
unſerer Empfindungszuſtände, wenn wir 
dieſelben loslöſen von dem Boden unſerer 
Subjectivität und als caput mortuum des 
Bewußtſeins ſtehen laſſen. Es iſt gleich— 
ſam eine unnatürliche Zerſetzung unſerer 
Empfindungen, wenn wir ſie von der 
Nabelſchnur, mit der ſie an unſer Bewußt— 
ſein, als ihren Geburtsort, geknüpft ſind, 
| losreißen und auf ſich ſelbſt ftellen. Gehen 


Literatur und Kritik. 


wir vom menſchlichen Bewußtſein aus, fo 
löſt ſich die Welt in Senſationen, in ein 
Spiel von Empfindungen und Empfindungs— 
verhältniſſen auf. Huber hat dieſe er— 
kenntnißtheoretiſche Analyſe ſehr ſcharfſinnig 
an allen Vorſtellungen durchgeführt, welche 
mit dem Begriffe der Materie enger zu— 
ſammenhängen, an Raum, Zeit, Kraft 
und Bewegung. Unſere ganze Vorſtell— 
ungswelt entſteht nur aus umgeprägten 
Senſationen. Huber kommt hier mannig- 
fach ſelbſtſtändig auf dieſelben Reſultate, 
welche durch Mill's Examination of 
Sir Hamilton's Philosophy neuerdings 
die Hume 'ſche Gedankenwelt wieder zu 
Ehren bringen. Dieſen Empfindungen ent— 
ſprechen nun nach Huber objektive Kraft- 
bewegungen, Aktionen von immateriellen 
Kraftcentren, welche eben die von unſerer 
Auffaſſung unabhängige Welt der Dinge 
darſtellen. So kommen wir denn alſo zu 
der Vorſtellung, daß die Welt aus Kraft— 
ſtrömungen, Kraftbeziehungen be— 
ſtehe, die wir uns ſowohl aus erfenntniß- 
theoretiſchen Gründen, als nach dem 
Princip der Analogie als weſensverwandt 
mit dem Pſychiſchen denken müſſen, und 
der Grund, den Huber in Uebereinſtimm— 
ung mit den Naturforſchern dafür geltend 
macht, iſt die Nothwendigkeit, den elemen— 
taren Proceſſen pſychiſche Werthe, wenn auch 
von noch ſo geringer Intenſität, zuzuſchreiben, 
weil ſonſt das Auftreten der pſpchiſchen 
Phänomene bei den höheren Organismen 
ohne zureichenden Grund wäre. Wenn 
uns nun alſo auch nach dem Geſetz der 
Erhaltung der Kraft eine Umwandlung 
oder Transformation chemiſcher, elektriſcher, 
alſo phſiſcher Kräfte im Organismus in pſy— 
chiſche Phänomene vorzugehen ſcheint, ſo iſt 
dies eben nur ein trüglicher Schein, da 
nach dieſer Anſchauung ſämmtliche phyſiſche 


Proceſſe von pſychiſchen Vorgängen begleitet 
und geleitet wären. Es findet in dem 
Nervenſyſtem immer nur eine Transforma— 
tion in phyſiſche Proceſſe ſtatt, nicht direkt 
in pſychiſche, und die letzteren Phänomene 


träten dann alſo nur im menſchlichen Ge 


hirn ſtärker auf, als in den übrigen Atom- 
complexen. 
keine faßbare Formel für das Verhältniß 
des Phyſiſchen und Pſychiſchen gegeben, und 
zunächſt kommen wir über ſolche Unbeſtimmt— 


ſeite des Seeliſchen ſei, nicht hinaus. Auch 
eine andere Schwierigkeit hat Huber mehr 
herausgeſtellt, als gelöſt: auf der einen 
Seite wird das Materielle erkenntniß— 
theoretiſch als bloße Erſcheinung, als 
bloßes Phänomen für unſere Auffaſſung 
behandelt, und dann beſtünden überhaupt 
nur immaterielle Kräfte, und alle räumli— 
chen Phänomene beſtänden nur in unſerer 
ſub jectiven Vorſtellung; auf der an— 
dern Seite wird das Materielle im meta— 
phyſiſchen Sinne als Erſcheinung eines 
hinter ihm wirkenden Immateriellen vorge— 
ſtellt, oder als unaufhörlicher Begleiter des— 
ſelben, aber eine von unſerer Auf— 
faſſung unabhängige räumliche 
Wirklichkeit beſitzend. Hierin beſteht ja 
die enorme Schwierigkeit, die der ſpinozi— 
ſtiſchen, auch von Huber mit Scharfſinn 
und Eleganz vertretenen Anſicht gegen— 
überſteht: Das Materielle, das nach dieſer 
Anſicht die Kehrſeite des Geiſtigen iſt, 
oder nach einem Ausdruck Fechner's: 
das ſich zum Geiſtigen verhält wie 
das Concave zum Convexen an derſelben 
Curve, — daſſelbe Materielle, das alſo 
hier als unabhängige Wirklichkeit gefaßt 
wird, wird doch andererſeits wieder zur 
bloßen phänomenalen Exiſtenz herabgedrückt, 
wie die ſecundären Eigenſchaften Farbe, 


Freilich hat uns auch Huber 


Literatur und Kritik. 


265 


Ton u. ſ. w. Dieſe Schwierigkeit, welche 
ja bekanntermaßen ſchon bei Spinoza 
ſelbſt hervortritt, iſt durch die neueſte Phaſe 
dieſer Frage, die durch die Conſtatirung 
des Geſetzes der Erhaltung der Kraft ge— 
kennzeichnet iſt, nur verſchärft worden. Dies 
iſt der Punkt, auf den alle Unterſuchungen 
zu richten ſind, wie ſich die Materie als 
Erſcheinung im erkenntnißtheo— 
retiſchen Sinn (d. h. als unſere Sen— 


ſation) zu der Materie als Erſcheinung 
heiten, wie daß die Materie die Außen- 


im metaphyſiſchen Sinn (d. h. als 
Außenſeite des Seeliſchen) verhalte. Huber 
huldigt hier einem erkenntniß⸗theoretiſchen 
Realismus, der wenigſtens bis auf Weite— 
res jedenfalls die natürlichſte und nüchternſte 
Anſchauung iſt. Die pſychiſchen Impulſe 
der Monaden (oder nach Caspari Syn— 
aden) vollziehen ſich in wirklichen räum— 
lichen Bewegungen, die auch unabhängig 
von unſerer Vorſtellung ſtattfinden. Da— 
gegen, gegen eine ſolche Verabſolutirung, 
d. h. Loslöſung der Raumvorſtellung von 
einem vorſtellenden Subjekt und Verſelbſt— 
ſtändigung des Raumes, erhebt freilich die 
Erkenntnißtheorie ganz gewichtige Bedenken, 
die ſich auch Huber durchaus nicht ver— 


hehlte, und an anderen Stellen will er 


nur die relative Wirklichkeit des Raumes 
und damit des Materiellen anerkennen, d. h. 
denſelben nur eine Wirklichkeit zugeſtehen, 
ſo lange ſie das Correlat zum vorſtellenden 
Subjekt bilden. Wer wird ſchließlich uns 
aus dieſem labyrinthiſchen Cirkel heraus- 
helfen? Einerſeits bilden wir uns die 
Vorſtellung der vom Subjekt unabhängigen 
Dinge, die wir ſchlechterdings nicht anders 
als im Raume exiſtirend uns denken kön— 
nen; und andererſeits ſchrumpft dieſe Raum— 
vorſtellung ſammt ihrem ganzen materiellen 
Inhalt zu einer bloßen Funktion des Sub— 
jekts zuſammen. Dieſe Antinomie, deren 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


266 


Literatur und Kritik. 


Stachel niemals ſo bitter gefühlt wurde, terie als eines ſtarren, lebloſen Etwas, das 


als gerade jetzt, wird nun verſchärft durch 
die rein objektive Betrachtung des Seien- 


den; denken wir uns mit Huber das 
Seiende als exiſtirend in zwei Formen, der 
der Innerlichkeit und der der Aeußerlich— 
keit, ſo bleibt auch hier die Frage, wie 
denn dieſe beiden Formen zuſammenhängen? 
Auf der einen Seite wird das Pſpychiſche, 
auf der anderen das Phyſiſche als das 
Primitive, Beſtimmende gedacht; und außer— 
dem iſt die Verdoppelung der Welt durch 
dieſe Vorſtellung doch ein bedenklicher Ge— 
danke. Denn weder der Gedanke, daß 
dieſe Dualität eine abſolute, objektive und 
von unſerer Vorſtellung unabhängige, noch 
der andere, daß dieſelbe auf die Rechnung 
unſerer ſubjektiven Vorſtellungsformen zu 
ſetzen ſei, läßt ſich widerſpruchslos und 
befriedigend durchführen. Wir geben aber 
zu, daß die Huber'ſche Vorſtellung für 
unſere heutige Erkenntnißſtufe diejenige iſt, 
die die meiſte Befriedigung und jedenfalls 
einen Ruhepunkt für das Denken gewährt. 

Fragen wir nun aber, wie die Beant- 
wortung des Problems: was iſt die Ma— 
terie? ausgefallen ſei, und vergleichen wir 
dieſe mit den obigen methodologiſchen Prin— 
cipien, ſo ergiebt ſich, daß das Begreifen 
deſſen, was wir Materie nennen, nicht etwa 
durch einen höheren Allgemeinbegriff, unter 
den Materie ſubſumirt würde, zu Stande 
gebracht werden ſoll, ſondern durch die Re— 
duktion auf das beliebte Schema von 
Innen und Außen, alſo ſchließlich von 
Seele und Leib, von Weſen und Erſchein— 
ung, wobei immer noch die Zweideutigkeit 
bleibt, ob dieſer Erſcheinung eine außer— 
halb des vorſtellenden Subjekts ſelbſtſtän— 
dige Exiſtenz zuerkannt wird. Damit wird 
nun allerdings, worauf ja die ganze neuere 


Philoſophie ausgeht, der Begriff der Ma- 


auch außer unſerer Vorſtellung vorhanden 
ſein ſoll, überwunden und die Carteſianiſche 
Anſchauung definitiv beſeitigt. So ſympa— 
thiſch uns nun auch dieſes Ergebniß iſt, 
ſo können wir doch Huber's Behauptung, 
daß dieſes Reſultat durch ein dem Empfin— 
den und der Erfahrung gegenüber ſelbſt— 
ſtändiges Denken erreicht ſei, keineswegs 
zugeben. Dieſe Vorſtellung des Innen und 
Außen iſt eine ſo allgemeine Erfahrungs— 
thatſache, daß ſie keineswegs Reſultat eines 
„reinen Denkens“ iſt, das ja doch ohne— 
dies durch die neuere Philoſophie zum 
Mythus geworden iſt. Und wenn Huber 
meint, ohne ein ſolches „reines Denken“ 
wäre die Wiſſenſchaft gar nicht möglich, 
wenn dem Empfinden gegenüber nicht ein 
ſelbſtſtändiger Begriff wirkſam wäre, ſo iſt 
darauf zu erwidern, daß alles Denken nur 
ein Formen und Verbinden des Erfahrungs— 
inhaltes iſt. Nicht das „reine Denken“ 
entdeckt die Scheinhaftigkeit der Sonnen— 
bewegung oder des gebrochenen Stabes im 
Waſſer, ſondern dieſe ſcheinhaften Erfahr— 
ungen werden als ſolche erkannt oder eli— 
minirt, weil ſie anderen Erfahrungen wider— 
ſprechen. Auch das ſogenannte An-ſich der 
Materie, die Empfindung, wird nur auf 
Grund einer Analogie mit anderen Er— 
fahrungen ſtatuirt, weil die gewöhnliche 
Vorſtellung eines ſtarren Etwas, das durch 
Bewegungsanſtöße aus ſeiner trägen Ruhe 
aufgerüttelt wird, mit anderen Erfahrun— 
gen nicht übereinſtimmt. Nachdem wir ſo 
die materielle Welt auf Bewegungen von 
Kraftcentren reducirt haben, ſo bleibt, wenn 
wir überhaupt einmal dieſe Thatſachen 
„begreifen“ wollen, uns nichts übrig, als 
jene Bewegungsgeſetze auf Empfindungs— 
geſetze, jene Kraftcentren auf Empfindungs- 
centren zu reduciren. Es iſt dann jene 


Literatur und Kritik. 


Einheit hergeſtellt, die das Ideal aller 
moniſtiſchen Tendenz iſt, welche alle Phä— 
nomene auf ein Urphänomen zurückführen 
will, womit aber noch nicht der Monismus 
in jenem anderen Sinne geſetzt iſt, daß 


dieſe Kraftmittelpunkte wiederum als Efful- | 


gurationen einer abſoluten Weltkraft, oder 
als Schöpfungen eines abſoluten Geiſtes 
angeſehen werden. 
Conſequenz noch zieht, ſo möge mit weni— 
gen Worten darauf hingewieſen ſein, daß 
der Sprung von der Atomſeele zur Welt— 


ſeele, und nun vollends zu einem Weltgeiſt 


ein ſehr gewagter und gewaltſamer ift. 
Wir halten dieſe ganze Tendenz, das Viele 
wieder auf ein Ureins zurückzuführen, für 


einen ſchwer zu rechtfertigenden Trieb des 
Geiſtes; es iſt vielleicht nur ein Schein des 
Begreifens, kein wirkliches Begreifen, das 
uns dadurch zu Stande kommt, um ſo mehr, 
als ebenſo viele Gründe gegen als für 
einen ſolchen abſoluten Weltgeiſt ſprechen. 
Auch hier gelangen wir eben auf eine jener 


Antinomien, deren einſeitige Löſung kritiſch 
Ob es einer ſpätern 


nicht erlaubt iſt. 
Menſchheitsperiode gelingt, dieſe Antino— 
mien zu überwinden, wie es uns gelang, 
manche Antinomien des Alterthums, z. B. 
über das Weſen der Sprache, zu löſen? 
Die Vorſtellung, daß der Menſchengeiſt 
die Potenzirung niederer Empfindungs— 
ſummanden ſei, die uns den Schein der 
Materie erregen, ſo daß alſo die Welt der 
Schein iſt, „den eine Welt immaterieller 
Energien in uns hervorzaubert“, wird von 
Huber in ſcharfſinniger und umſichtiger 
Weiſe vertreten; und der Panpſychismus 
zählt ja neuerdings viele Anhänger, wie 


man dieſe Anſchauung ſtatt Hylozoismus 


zu nennen beliebt hat. 
Auch Zöllner in der Einleitung zu den 
„Principien einer elektrodynamiſchen Theorie 


267 


der Materie“ hat einen weitern Schritt auf 
dieſem Gebiete gethan, zu dem er ſchon in 
ſeinem Kometenbuch jo bedeutſame Beiträge 
lieferte. Er erklärt die Annahme einer 
„inanimate, brute matter“ für ein höl— 
zernes Eiſen oder einen kugeligen Würfel. 
Ob aber ſeine Behauptung, daß es be— 


greiflich ſei, wie beſeelter, leben- 
Da Huber auch dieſe 


diger Stoff ohne irgend eine ſonſtige 
Vermittelung auf einen andern Körper ohne 
gegenſeitige Berührung wirken könne, ſtich— 
haltig ſei, möchten wir billig bezweifeln. 
Wir halten es hierüber lieber mit 
Denen, welche die Unbegreiflichkeit 
aller dieſer letzten Phänomene behaupten. 
Nur wenn man mit Zöllner und Huber 
die Einheit des Weltbewußtſeins 
annimmt, ließe ſich vielleicht eine ſolche 
Begreiflichkeit effektuiren. Aber dieſer An— 
nahme einer durch- und übergreifenden Ein— 
heit der pſychiſchen Elemente, oder mit an— 
deren Worten — eines einheitlichen Welt— 
geiſtes, möchten wir nicht ohne Weiteres 
beiſtimmen, ſo ſehr wir mit dem Verfaſſer 
gegen den Materialismus vulgaris gemein— 
ſame Sache machen. Schon die Re— 
duktion aller phyſiſchen Phänomene und 
Proceſſe auf pſychiſche Werthe und Geſetze, 
falls ſie einmal bis ins Detail ausgeführt 
und nicht blos als allgemeines Poſtulat 
aufgeſtellt wird, iſt ein Reſultat, welches 
den gemeinen Materialismus vernichtet. 
Die weitere Frage, ob nun eine Einheit 
und was für eine in dieſem conſtitutio— 
nellen Syſtem pſychiſcher Elemente anzu— 
nehmen ſei, iſt eine von den bisher be— 
ſprochenen weſentlich zu trennende; wie auch 
Huber ſie erſt am Schluſſe und blos 
anhangsweiſe behandelt.“) Wer ſich für das 

Und gerade auch vom Standpunkt des 
Theismus aus, den der Verfaſſer vertritt, in— 
dem er in derſelben Weiſe wie neuerdings 


ja 


268 


Einzelne all dieſer Fragen intereſſirt, den 
verweiſen wir auf Huber's Schrift ſelbſt, 
die wir der Beachtung aller Leſer als einen 
anregenden Beitrag zu dem Problem der 
Materie empfehlen, deſſen einzelne Seiten 
mit Geſchick und Eleganz behandelt ſind. 
Insbeſondere iſt die Schrift ſehr dazu ge— 
eignet, zu der Klärung und Schlichtung 


der auf dieſem Gebiete herrſchenden Con- 


troverſen beizutragen und iſt ein erfreuliches 
Zeichen einer conciliatoriſchen Geſinnung. 
Str. i. E. H, N 


Phyſiologie und Descendenztheorie 
von E. v. Hartmann. 
(2. Auflage. Berlin 1877.) 
Von 
Dr. G. Seidlitz, 


Privatdocent in Königsberg.“) 


Werkes, die beſte Kritik der Philoſophie des 
Unbewußten enthaltend, 1872 anonym er— 
ſchien, war es zunächſt nicht unwahrſcheinlich, 


daß E. v. Hartmann ſelbſt der Verfaſſer 
fein konnte; *) denn das Ganze machte mehr »falſchen“ Standpunkt der Naturforſcher 


geſtellt, um zu zeigen, daß er ihn „voll— 


den Eindruck eines Correktivs als einer 
vernichtenden Polemik, ſicherte der Philo— 


wieder Weismann, die ſchöpferiſche Kraft an 


den Anfang der Dinge ſtellt, ſcheint es uns 


nicht nur nicht geboten, ſondern ſogar ge— 
fährlich, der empiriſchen Welt eine ſolche Ein— 
heit zuzuſchreiben, da dann entweder neben 


Gott noch ein Weltgeiſt geſetzt wird, oder 
jener ganz in dieſem in pantheiſtiſchem Sinne 


aufgehen müßte. 
Eingeſandt im Oktober 1877. 
*) Vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 18. 


Literatur und Kritik. 


ſophie des Unbewußten in ſchonender Weiſe 
eher einen ehrenhaften Rückzug als ſchmach— 
vollen Untergang. Der anonyme Autor 
entſchuldigte und erklärte ſo natürlich die 
Irrthümer und Mängel der Philoſophie 
des Unbewußten, verfiel ſogar ſtellenweis 
ſelbſt in Ddiefelben,*) ſo daß man unwill— 
kürlich an einen Selbſtkritiker denken mußte, 
der zu beſſerer Einſicht gelangt, nur noch 
mit dem öffentlichen Bekenntniß zögert. 


Einen totalen Rückfall konnte man aber 
nach einer ſolchen vorzüglichen und ſach— 


gemäßen Selbſtkritik nicht erwarten, und 
mußte daher den Gedanken, Hartmann 


ſei der Anonymus, gänzlich von der Hand 


Das Unbewußte vom Standpunkt der 


weiſen, als ſpätere Schriften von ihm, na— 
mentlich fein „Wahrheit und Irr— 
thum des Darwinismus“ deutlich 
zeigten, daß er nach wie vor feſt in dem 


Sattel feines teleologiſchen Steckenpferdes 


ſaß. Die Möglichkeit, daß Jemand im 
Stande iſt, ſeine Irrthümer klar und deut— 
lich aus einander zu ſetzen, um ſchließlich 


doch bei ihnen zu verharren, durfte man 
Als die erſte Auflage des vorliegenden 


von einem Mann wie Hartmann nicht 
vorausſetzen. Jetzt freilich muß man 


an dieſe Möglichkeit glauben, da der Autor 


in der Vorrede zur zweiten Auflage erklärt, 
er habe nur „ſcheinbar“ ſich auf den 


kommen beherrſche“. Man wird ſich nun— 
mehr der Erwartung nicht ganz zu ver— 


ſchließen brauchen, vielleicht künftig einmal 


wieder umgekehrt den Standpunkt der Phi— 
loſophie des Unbewußten vom Autor als 
„falſch“ und als „ſcheinbar eingenommen“ 
bezeichnet zu ſehen. Es erſcheint dieſe 

* Z. B. S. 70 (2. Auf . 870, wo 
er von einem „Weltwillen“ und von 
einer „metaphyſiſchen Wurzel der 
Welt“ ſpricht. 


Erwartung um ſo gerechtfertigter, als in 
der anonymen Schrift thatſächlich kein Satz 
aus der „Philoſophie des Unbewußten“ 
als falſch bezeichnet wurde, ohne den aus— 
führlichen Nachweis, daß und warum 
er falſch ſei, während gegenwärtig (in der 
Vorrede und den Anmerkungen zur zweiten 
Auflage) die unmotivirten Vorausſetzungen 
der Philoſophie des Unbewußten bis zur Er— 
müdung einfach wiederholt und der Stand— 
punkt des Anonymus ſchlechtweg, ohne 
jeden Beweis, verworfen wird. So 
heißt es z. B. S. 276: „Die Gegenſchrift 
ſchießt dadurch über das Ziel hinaus, daß 
ſie ſich auf den Standpunkt einer mecha— 


niſtiſchen Naturphiloſophie ſtellt, und durch 
den Nachweis natürlicher Vermittelungen 


die Wirkſamkeit teleologiſcher Principien in 
und neben der mechaniſchen Vermittelung 
widerlegt zu haben beanſprucht.“ — Daß 
dieſer Standpunkt verwerflich ſei, 
wird hier einfach als ſelbſtverſtändlich vor— 
ausgeſetzt, wahrſcheinlich weil auf den vor— 
hergehenden Seiten zum Ueberfluß wieder— 
holt wurde, daß die Philoſophie des Un— 
bewußten auf einem anderen zu ſtehen 
und die Wirkſamkeit teleologiſcher Prin— 
cipien hinter und neben den mechaniſchen 
zu poſtuliren geruhe. — Zu unſerer 
Verwunderung müſſen wir aber S. 260 


die Worte leſen: „Wir find noch weit ent- 


fernt zu verſtehen, wie alle Naturerſchein— 
ungen durch Mechanik der Atome zu erklären 
ſeien; daß aber alle nur hieraus 
und aus keinen anderen Eigen— 
ſchaften der Natur zu erklären 
ſeien, iſt als das ſicherſte Nefultat 
zu betrachten, deſſen die moderne Natur— 
wiſſenſchaft ſich zu rühmen hat.“ — Iſt 
das nicht reine mechaniſtiſche Naturphiloſophie? 
Wie damals der Anonymus einige Rück— 


fälle zu Irrthümern des Unbewußten, ſo | 


Literatur und Kritik. 


269 


ſcheint jetzt die Philoſophie des Unbewußten 
an bedenklichen Recidiven zum anonymen 
Standpunkt zu leiden. Doch man kann 
wie geſagt kaum wiſſen, welcher Stand— 
punkt ſich ſchließlich als der allereigentlichſte 
des vielgeprüften Autors entpuppen wird. 


Für die Sache ſelbſt iſt das übrigens ganz 


gleichgültig; denn an der objektiven Wahr: 
heit kann Nichts geändert werden, wenn 
auch ihr eifrigſter Verfechter noch ſo oft 
ſeine Stellung zu ihr ändert oder ſie gar 
verläugnet. Daher verliert die Schrift des 
Anonymus dadurch Nichts von ihrem Werth, 
daß der Autor nachträglich ſein Kind für 
illegitim erklärt. Unſer Urtheil,“) daß fie 
die beſte philoſophiſche Leiſtung im Sinne 
der Selektionstheorie ſei, bleibt unerſchüttert, 


und die vereinzelten Irrthümer, auf die 


wir ſchon bei der erſten Beſprechung des 
Werkes hinwieſen, “) find jetzt naturgemäß 
als Rückfälle zu Irrthümern des Unbewußten 
erklärlich und um ſo leichter zu entſchuldigen. 
Ueber den S. 21— 250 unverändert wieder— 
gegebenen Text der erſten Auflage iſt gegen— 
wärtig Nichts weiter zu ſagen, dagegen 
ſind die Angriffe des unnatürlichen Vaters, 
die er S. 253 — 361 hinzugefügt, zurück 
zu weiſen. 

Wir finden im Ganzen zwölf Vor— 
würfe, die wir einzeln unterſuchen wollen, 
ob ſie geeignet ſcheinen, den Standpunkt 
der Gegenſchrift zu erſchüttern. 

1. Der erſte Vorwurf (S. 276) iſt der 
ſchon erwähnte, daß der anonyme Autor 
auf dem mechaniſtiſchen Standpunkt ſtehe, 
während der teleologiſche der allein richtige 
ſei. Dieſer Vorwurf kann einfach als 
petitio principii zurückgewieſen werden. 
) Vergl. meine „Darwin'ſche Theorie“, 
2. Aufl. S. 16, 17 u. 21. 

%) Vergl. Augsb. Allg. Ztg. 1873. Nr. 1. 
Beilage. 


U 


2. Der zweite Vorwurf (S. 279) 
tadelt, daß der anonyme Schriftſteller die 
Philoſophie des Unbewußten vom Stand— 
punkt der Descendenztheorie anzugreifen 
verkündige, in der That aber dieſes vom 
Standpunkt der Selektionstheorie thue, und 
ſomit nicht nur ſich einer Verwechſelung 
ſchuldig, ſondern auch einen ganz „in der 
Luft ſchwebenden“ Angriff mache; 
denn die Selektionstheorie ſei bekanntlich 
von der Philoſophie des Unbewußten ver— 
worfen und nur die Descendenztheorie 
anerkannt worden. — Alſo weil die Phi— 
loſophie des Unbewußten die Selektions— 
theorie nicht anerkennen will, iſt jede Kritik 
von dieſem Standpunkt aus „in der Luft 
ſchwebend?!! — Was aber die „Ver— 
wechſelung“ anbelangt, ſo iſt es durch— 
aus ſtatthaft die allgemeine Bezeichnung 
Descendenztheorie zu wählen, da die Se— 
lektionstheorie eine echte Descendenztheorie 
und zwar augenblicklich die anerkannteſte 
Descendenztheorie iſt, — namentlich iſt 
dies ſtatthaft, wenn man den Unterſchied? 
zwiſchen dem allgemeineren und dem ſpe— 
cielleren Begriff fo genau ſeſtſtellt, wie der 
Anonymus es gethan. Und dieſes Ver 
fahren nennt Hartmann (S. 280) „eine 
für den Standpunkt des Darwinismus 
typiſche Confuſion“! Solche 
„Confuſionen“, die bei gleichzeitiger ſchar— 
fer Begriffsbeſtimmung einen ſpecielleren Be— 
griff unter den allgemeineren ſubſummiren, 
kann man ſich ruhig als „typisch“ vor— 
werfen laſſen. Schlimmer dagegen ſind 


die Confuſionen, die man leider nur zu 


oft in den Schriften der Gegner entdeckt. 
Dieſelben richten ihre Angriffe angeblich 
immer gegen die „Darwin'ſche Theorie“ 
(einer ſogar gegen die „Darwin'ſchen Theo— 
rien“). Sieht man aber genauer zu, ſo 
wird man bald gewahr, daß ſie die Dar 


Literatür und Kritik. | 


win'ſche Seleftionstheorie oft nicht einmal 
kennen, ſondern gegen irgend eine beliebige 
andere Descendenztheorie, im beſten Falle 
gegen die Lamarck'ſche Anpaſſungstheorie, 
bisweilen aber auch nur gegen ſelbſtge— 
ſchaffene (und darum leicht zu bekämpfende) 
Windmühlen, polemiſiren. Einige Autoren 
ſind hierin ſo hartnäckig, daß ihnen das 
Betonen der reinen Darwin'ſchen Lehre 
als etwas ganz Neues erſcheint, und 
ſie ſich daher das gänzliche Schwinden ihrer 
Lieblingsangriffspunkte nicht anders als 
durch ein „Einlenken“ oder „Rück— 
zug“ des Gegners erklären können. So 
macht es z. B. Wigand auf der vor— 
letzten Seite ſeines bekannten Werkes, 
was in die Sach- und Literaturkenntniß, 
der ſein grauſamer dreibändiger Vernicht— 
ungskrieg gegen den Darwinismus den 
Urſprung verdankt, einen tiefen und einiger— 
maßen entſchuldigenden Einblick gewährt.“) 

Ein anderes und zwar ein ſehr erfreu— 
liches Beiſpiel von Verwechſelung lieferte 
jüngſt Prof. Teichmüller in Dorpat.“) 
Er unterſuchte nämlich die philoſophiſchen 
Principien „des Darwinismus“ und 
entdeckte dabei, daß derſelbe „als wiſ— 
ſenſchaftliche Theorie für ver— 
loren betrachtet werden müſſe.“ 
— Seinen Ausführungen muß man im 
Allgemeinen beiſtimmen; denn erſtens iſt 
die von ihm bekämpfte Theorie wirklich 


) Dabei muß rühmend anerkannt wer— 
den, daß der Autor im 3. Bande ſich alle 
Mühe gegeben hat, die Literatur wenigſtens 
zum Theil kennen zu lernen. Wenn noch ein 
4. und 5. Band in Ausſicht ſtänden, was 
leider nicht der Fall zu ſein ſcheint, da der 
Autor ſchon im 3. von uns Abſchied nimmt, 
ſo würde er ſich vielleicht allmälig noch zur 
vollen Beherrſchung des Stoffes aufſchwingen. 

) Feſtrede zur Jahresfeier der Univer— 
ſität Dorpat. 12. Deebr. 1876. 


‚ unhaltbar, — nur iſt nicht recht klar, war- 


um man ſie gerade „Darwinismus“ 
nennen ſoll, — und zweitens verkündet er 
S. 90 als Erſatz ſeine Theorie, die 
nicht nur eine Descendenztheorie iſt, ſon— 
dern auch durch hogiſche Unbeſtreit— 
barkeit imponirt. Wir würden nicht 
zögern, dieſe vortreffliche Theorie, die wir 
natürlich acceptiren, nach ihrem Verkündiger 
die Teichmüller'ſche Theorie zu nennen, — 
leider ſteht dem aber im Wege, daß ſie 
nicht ganz neu, ſondern nur ein wichtiger 
Faktor”) aus einer anderen Theorie iſt, 
die man bereits voreilig nach ihrem erſten 
Urheber die Darwin'ſche genannt hat. 

3. Der dritte Vorwurf (S. 282) ſoll 
dem Anonymus daraus erwachſen, daß er 
S. 24 (2. Aufl.) die „natürliche Zucht— 
wahl“ die wirkende Urſache des 
Ueberganges genannt habe. Die „Aus— 
leſe im Kampf ums Daſein“ ſei aber 
niemals causa efficiens, ſondern nur ne— 
gative Bedingung, wie ſchon Wigand 
durch ſein vortreffliches Gleichniß des Mä— 
cenatenthums erläutert habe, und eine mit— 
wirkende Bedingung dürfe nicht mit der 
poſitiven causa efficiens des Vorganges 
verwechſelt werden. 

Der Vorwurf wäre ſchlagend, wenn er 
die Selektionstheorie irgendwie träfe. Die 
Natur ausleſe iſt ganz richtig keine 
causa effieiens, ſondern nur die negative 
Bedingung des Ueberlebens, welches 
die direkte Folge individueller Vor— 
theile iſt. Dieſe individuellen Vortheile 
ſind dagegen die poſitive causa efficiens 
des einmaligen Ueberlebens, und ſind ihrer— 
ſeits poſitiv verurſacht durch angeborene 
individuelle Variation, die wiederum direkte 
Folge ungleicher Vererbung der Merkmale 

) Erklärung der angebornen individuellen 
Abweichung durch ungleiche Vererbung. 


Literatur und Kritik. 


iſt. Wer hat denn aber jemals dieſe po— 
ſitiven causge efficientes mit den nega— 
tiven Bedingungen der Naturausleſe ver— 
wechſelt? Der Anonymus nicht, und die 
Selektionstheorie auch nicht. In dem an— 
gezogenen Ausſpruch, der die „natürliche 
Zuchtwahl“ als die „Urſache des Ueber— 
ganges“ bezeichnet, iſt nämlich ſelbſtver— 


ſtändlich unter „Uebergang“ nicht etwa die 


individuelle Variation, ſondern das Reſul— 
tat der ganzen Naturzüchtung, alſo die 
Ausrüſtung verſtanden, und unter 
„natürliche Zuchtwahl“ nicht die einmalige 
einfache Naturausleſe, ſondern die ganze 
complicirte Natur züchtung,“) mit allen 
in ihr enthaltenen Faktoren, von denen 
einige als negative Bedingungen, andere 
als causae effieientes zu bezeichnen find, 
Die Behauptung, daß die Naturausleſe die 
individuelle Variation verurſache, 
wäre in der That mehr als eine Ver— 
wechſelung, ſie wäre ein Nonſens, der aber 
dem Anonymus grundloſer Weiſe unter— 
ſtellt wird. Wenn Wigand in abſo— 
luter Unkenntniß der Selektionstheorie ihr 
einen ſolchen Nonſens unterſtellt, und 
dann durch ſein vortreffliches Mäcenaten— 
gleichniß ſchlagend widerlegt, ſo läßt 
ſich das eben als Mißverſtändiß entſchul— 
digen. Hartmann aber mußte doch von 
ſeiner anonymen Zeit her den richtigen 
Sachverhalt noch im Gedächtniß haben, 
andernfalls hätte er die Gegenſchrift auf— 


) Die Unterſcheidung zwiſchen Natur— 
ausleſe und Naturzüchtung wird Hartmann 
ſich ſchon bemühen müſſen in meiner „Dar— 
win'ſchen Theorie“ ſelbſt nachzuleſen, falls es 
ihn intereſſirt; die Unterſcheidung zwiſchen 
Ausrüſtung und Anpaſſung aber in meinen 
„Beiträgen zur Descendenztheorie“. Die ge— 
nauen Sachregiſter, deren ich mich befleißigt 


habe, erleichtern das Auffinden. 


212 


merkſamer ſtudiren ſollen, ehe er an ſeine 
eigene Widerlegung ging. 

S. 283 fährt Hartmann fort: „Die 
Urſachen ſind eine beſtimmt gerichtete 
Variation, welche gewiſſe Modificationen 
des Typus erzeugt, und eine Fortdauer 
dieſer Variationsrichtung in der Vererbung. 
Dieſe Urſachen ſind nach dem Eingeſtänd— 
niß des Darwinismus ſchlechthin unbekannte 
Faktoren.“ — Der zweite Satz klingt ganz 
ſo, als ob beide im Sinne des Darwinis— 
mus geſprochen ſeien. Dem iſt aber nicht 
ſo. Der erſte Satz enthält im Gegentheil 
eine ganz andere, eine teleologiſche 
Descendenztheorie, wie fie etwa Snell, 
Huber oder Hartmann formuliren 
würden, und von den in derſelben genann— 
ten zwei Urſachen, „beſtimmt (d. h. plan— 
mäßig) gerichtete Variation“ und „Ver— 
erbung“, weiſt der Darwinismus nur die 
erſte als einen ſchlechthin unbekann— 
ten Faktor zurück, acceptirt dagegen die 
zweite als eine wohlbekannte, em— 
piriſch conſtatirte Thatſache. An Stelle des 
erſtgenannten, „ſchlechthin unbekannten“ 
Faktors, mit dem nur die Teleologen ganz 
munter operiren, hat nun Darwin ſich 
erlaubt, zwei andere bekannte That— 
ſachen als Faktoren einzuführen: die an— 
geborene Ungleichheit der Indi— 
viduen und die Vertilgung durch 
feindlichen Einfluß. Wir haben jetzt ſtatt 
einer beſtimmt gerichteten Va— 
riation nach jeder Generation zahlreiche, 
verſchieden gerichtete individuelle Variationen, 
von denen erſt durch jedesmalige Ausjätung 
eine beſtimmte (aber nicht voraus 
beſtimmte, ſondern die augenblicklich paſ— 
ſendſte) Variation übrig bleibt. Das 
Reſultat iſt daſſelbe, nur daß die Teleo— 
logie einen unbekannten Faktor „Plan— 
mäßigkeit“ einführt, während der Darwi— 


Literatur und Kritik. 


nismus das rein mechaniſche Prin— 
cip der Selektion für ſeine Erklärung 
des Vorganges benutzt. Merkwürdig iſt, 
daß Hartmann in der ganzen Auslaſſung 
(S. 282 — 283) dieſes wichtigſte Princip 
des Darwinismus vollſtändig igno— 
rirt, während es ihm doch zur Zeit 
ſeiner anonymen ſchriftſtelleriſchen Thätig— 
keit ganz bekannt geweſen iſt. Darf man 
ſo ſeine eigenen Kenntniſſe verleugnen, nur 
um conſequent einen alten Standpunkt zu 
behaupten? Demſelben Motiv iſt wohl 
der Ausſpruch (S. 283) entſprungen: „Der 
Darwinismus habe nicht das Geringſte 
dazu gethan, um die Frage nach den Ur— 
ſachen der Typenumwandlung einer Ent— 
ſcheidung im Sinne der mechaniſtiſchen Welt— 
auffaſſung näher zu rücken, als ſie es vor 
ſeinem Auftreten war; .. . er habe dieſe 
Urſachen nicht erklärt, und ſie auch nicht 
als rein mechaniſches Princip enthüllt.“ 

Dieſer Behauptung gegenüber muß 
nochmals daran erinnert werden, daß die 
einzigen von der Selektionstheorie euthüllten 
Principien keine anderen ſind als Erb— 
lichkeit, Ungleichheit der Indivi— 
duen“!) und Vertilgung durchäußere 
Einflüſſe. Sind das nun nicht rein 
mechaniſche, oder ſind es etwa metaphyſiſche 
Principien? 

4. Der vierte Vorwurf (S. 284 — 285) 
tadelt den Anonymus, daß er der Natur- 
wiſſenſchaft das Recht zuſpreche, jede meta— 
phyſiſche Aushilfe von der Hand zu 
weiſen, „denn die Prätenſion des Natur- 
forſchers, durch ſeine exakten Forſchungen in 


) Auf welche Weiſe die angeborene Un— 
gleichheit der Individuen durch ungleiche Ver— 
erbung und dieſe durch den fortſchreitenden 
Stoffwechſel der Eltern verurſacht wird, 
habe ich ausführlich in meiner „Darw. Theorie“ 
2. Aufl. S. 93—95 erörtert. 


der materiellen Grundlage der Welt die 
philoſophiſche Erklärung derſelben über— 
flüſſig machen zu können, ſei für den den— 
kenden Menſchen noch weit komiſcher als 
der Verſuch, die Wirkung der ſixtiniſchen 
Madonna naturwiſſenſchaftlich aus 
Farbſtoff, Lichtſtrahlung u. ſ. w. erklären 
zu wollen.“ 

Welcher Naturforſcher erhebt denn ſolche 
Prätenſionen, wie die geſchilderten? So 
viel mir bekannt, würde ein heutiger Natur- 
forſcher ſich der Aufgabe, die ſixtiniſche 
Madonna naturhiſtoriſch zu „erklären“, 
auf die Weiſe entledigen, „daß er die reli— 
giöſen und ethiſchen Ideen entwickelte, auf 
denen das Werk beruht, die culturhiſtori— 
ſchen Verhältniſſe, durch welche es bedingt 
iſt und die äſthetiſchen Begriffe, welche 
ſeine Wirkung auf das Gemüth des Be— 
ſchauers verſtändlich machen“, — alſo ge— 
rade ſo wie Hartmann es von einem 
Philoſophen erwartet, und Niemand würde 
ſagen, daß das keine Erklärung im Sinne 
der Naturwiſſenſchaften ſei; denn „religiöſe 
und ethiſche Ideen“, „culturhiſtoriſche und 
mythologiſche Verhältniſſe“, ebenſo wie 
„äſthetiſche Grundbegriffe“ ſind keine 
metaphyſiſchen Principien, ſondern 


der naturhiſtoriſchen Erforſchung und Er- 


klärung durchaus zugängliche Objekte, deren 
ſich die neuere Anthropologie und Pſycho— 
logie längſt bemächtigt hat. Speciell die 
Stellung des Darwinismus zu dieſen 
Fragen hätte Hartmann unter Ande— 
rem auch z. B. aus Carneri's „Sitt- 
lichkeit und Darwinismus, drei Bücher 
Ethik, Wien 1871“ erſehen können, einem 
Buch, das er nirgend berückſichtigt, geſchweige 
denn widerlegt hat. 

Ebenſo ſcheint Hartmann nicht be— 
merkt zu haben, daß ſeit bald 20 Jahren 
die Naturwiſſenſchaften ſich nicht mehr dar— 


Literatur und Kritik. 


273 


auf beſchränken, „exakte Forſchungen“ 
und Beſchreibungen zu liefern, ſondern im 
Gegentheil jo frei find, philoſophiſche 
Erklärungen zu ſuchen und zu finden, 
durch welche die von gewiſſen Philoſophen 
feſtgehaltenen metaphyſiſchen Aushülfen de 
facto überflüſſig geworden ſind. Philo— 
ſophiſche Erklärungen weiſen alſo die 
Naturforſcher nicht von der Hand, wohl 
aber metaphyſiſche. In dem ganzen 
Excurs von S. 283 bis S. 285 wirft 
Hartmann aber dieſe beiden grundver— 
ſchiedenen Begriffe unaufhörlich durch ein— 
ander und ſucht die Unentbehrlichkeit der 
metaphyſiſchen Erklärung durch die 
Unumgänglichkeit der philoſophiſchen 
Methode zu beweiſen. Solch ein qui pro 
quo iſt dem Anonymus wahrlich nie 
paſſirt, und ebenſowenig hat derſelbe ſich 
je einen ſo unmotivirten Analogieſchluß zu 
Schulden kommen zu laſſen, wie der S. 
284 285 gezogene, der Menſch ſei eben— 
ſo gut ein Kunſtprodukt wie die ſixtiniſche 
Madonna, vom Menſchen als Mikrokosmus 
könne man getroſt auf den Makrokosmus 
ſchließen, folglich müſſe der Urheber der 
Welt ein Künſtlergeiſt ſein. Sollte 
man auf dieſem Wege logiſcher Analogie— 
ſchlüſſe nicht ebenſo gut ergründen können, 
daß der Urheber der Welt Raphael ge— 
heißen haben müße? 

Es liegt hier wiederum der bereits 
den Teleologen Bianconi, Wigand und 
Krönig vorgehaltene*) Fehler zu Grunde, 
der einem Philoſophen von Fach nicht 
widerfahren dürfte, Gleichniſſe für 
Beiſpiele auszugeben und die gewollte 
Zweckmäßigkeit der Induſtrismen mit der 
gewordenen Zweckmäßigkeit der Natur- 
produkte in einen Topf zu werfen. Un— 
bekannt konnte dieſer Fehler Hartmann 
3 Vergl. m. „Beitr. z. Desc.“ S. 44. 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


=——— 


nicht fein; denn als Anonymus hat er ihn 
nachdrücklich gerügt und vortrefflich zwiſchen 
den beiden auf ganz verſchiedenen Urſprung 
hinweiſenden Arten der Zweckmäßigkeit 
unterſchieden. 

5. Eine fünfte ſcharfe Rüge erfährt 
der Anonymus S. 287 dafür, daß er an— 
geblich die Differenz des Unorganiſchen und 
Organiſchen durch ein bloßes „oder auch“ 
überſprungen und den Uebergang vom 
einen zum anderen durch Summation zahl— 
loſer unerheblicher Minimalſchritte habe 
„erſchleichen“ wollen. — Der Anonymus 
iſt aber von dieſer Beſchuldigung frei zu 
ſprechen; denn wenn man die incriminirte 
Stelle (S. 39 d. 2. Aufl.) nachlieſt, ſo 
gewahrt man mit Erſtaunen, daß das ver— 
dächtigte „oder auch“ gar nicht vom Un— 
organiſchen zum Organiſchen hinüber 
führt, ſondern blos zwiſchen „vorüber— 
gehender Annäherung der organiſchen 
Materie an die organiſche Form“ und 
„vorübergehendem Eintritt in dieſelbe“ 
vermittelt. Bon unorganiſcher Materie 
iſt in dem ganzen Satze nicht einmal die 
Rede, und die „minimalen Schritte“ 
verhelfen den vorgebildeten organiſchen Ver— 
bindungen zu organiſcher Form. Bei 
einer noch jo rigoroſen Selbſtkritik bleibt 
es immer wünſchenswerth, daß man ſich 
nicht Vergehen zur Laſt lege, die man gar 
nicht begangen hat, — der platoniſche 
Dialog artet ſonſt zu leicht in tendenziöſe 
Spiegelfechterei aus. 

Bei Gelegenheit der Frage, ob man 
die generatio aequivoca durch Summa— 
tion minimaler Schritte erklären dürfe, 
hätte Hartmann mit Nutzen G. Jaeger's 
betreffende Theorie“) ſtudiren 


könnnen. 


Statt deſſen findet man dieſelbe nirgends von 


Eine kurze Zuſammenfaſſung derſelben 
iſt auch in meiner „Darw. Theorie“ gegeben. 


Literatur und Kritik. 


ihm auch nur erwähnt, geſchweige denn 
widerlegt. 

6. Der Anonymus ſoll ſich auch S. 40 
(der 2. Aufl.) der „bei dem Darwinismus 
ebenſo wie bei dem älteren Materialismus 
ſtereotyp wiederkehrenden“ Verwechſelung 
von negativer Bedingung und po— 
ſitiven Urſachen ſchuldig gemacht haben, 
indem er nur die Möglichkeit der Ent— 
ſtehung der erſten Organismen aus unor— 
ganiſchen Kräften ohne metaphyſiſche Nach— 
hülfe — gezeigt, nicht aber poſitive 
Urſachen für dieſen Vorgang angegeben 
habe (S. 287). — Hier iſt es wiederum 
zu bedauern, daß nicht G. Jaeger's aus— 
führlichere Theorie der Generatio aequi- 
voca zum Gegenſtande der Kritik gemacht 
worden iſt. Da hätte man doch erfahren, 
ob die in derſelben verwertheten treibenden 
Urſachen, nämlich Wärme, Feuchtig— 
keit, Elektricität, chemiſche Wahl— 
verwandtſchaft, am Ende auch nur 
„negative Bedingungen“ ſind. 

Wenn die „ftereotype Verwechſelung“ 
des Darwinismus und Materialismus 
darin beſteht, die Eigenſchaften der 
Dinge als pofitive Urſache ihrer 
Wirkung auf einander und des erfolgenden 
Reſultates zu betrachten, ſo kann man ſich 
auch dieſen Vorwurf ſchon gefallen laſſen. 

7. Auf S. 42 (der 2. Aufl.) ſagt 
der Anonymus, jede Funktion jet phylo— 
genetiſch früher da, ehe das ihr jpecifiich 
dienende Organ ſich entwickelt, was weſent— 
lich dazu beitrage, viele Räthſel (in Bezug 
auf die erſte Anlage von Organen) auf 
mechaniſchem Wege (mittelſt der Selektions— 
theorie) zu löſen. Hiergegen glaubt Hart— 
mann S. 288 erinnern zu müſſen, daß 
eine Funktion, die früher als ihr Organ 
vorhanden iſt, nicht aus dieſem Organ ab— 
geleitet werden dürfe; denn das Prius 


rr. nn. 


Literatur und Kritik. 


könne nie durch das Poſterius cauſal erklärt 
werden. — Das iſt unzweifelhaft richtig 
und darum eben ſuchen die Naturforſcher 
ſtets das Spätere durch das Frühere 
cauſal zu erklären: die causae finales über⸗ 
laſſen wir gern den Teleologen. Auch der 
Anonymus iſt dieſem Grundſatz treu ge— 
blieben; denn er will ja gerade die ſpätere 
Ausbildung eines ſpecifiſchen Organes durch 
die früher vorhandene Funktion erklären, 
— und nicht umgekehrt. 

8. Zum achten Vorwurf giebt der 
Anonymus dadurch Veranlaſſung, daß er 
S. 42 (der 2. Aufl.) die Entwickelung 
aller ſpecifiſchen Dispoſitionen und Organe 
aus den Fähigkeiten des Protoplasmas (in 
Folge von Arbeitstheilung und Vervoll— 
kommnung durch Naturzüchtung) ableitet. 
— „Hier ſei die mechaniſche Vermittelung 
mit dem ſchöpferiſchen Princip ()) 
verwechſelt“, meint Hartmann S. 288; 
„denn letztere bedürfe zwar einer materiellen 
Baſis und finde dieſelbe im Protoplasma, 
das noch tabula rasa ſei; aber je leerer 
die Tafel, deſto weniger könne die Funk— 
tion des Schreibens () und die Schrift— 


züge aus der Beſchaffenheit der 


Tafel (!) erklärt werden, deſto mehr be- 


dürfe es dazu der Annahme eines Schrei— 
bers.“ — Mit ſolch unverblümter peti— 
tio prineipii und mit ſolchen, durch ein 
bloßes Wortſpiel („tabula rasa“) herbei— 
gezogenen, ſonſt in keiner Hinſicht 
paſſenden Gleichniſſen beweiſt man 
wahrlich Nichts. 


9. „Es ſei ein Irrthum, meint Hartz | 
mann S. 289, daß die Aufzeigung der 
allmäligen mechaniſchen Vermittelung des 
zweckmäßigen Reſultats irgend etwas gegen 
| nicht beſſer poltern, — ein Beweis, daß 


ſeinen teleologiſchen Charakter beweiſe.“ — 
„Beweiſen“ läßt ſich zwar überhaupt 
Nichts gegen die teleologiſche Auffaſſung, 


ſelbſt gegen ihre naivſte Regen ſchickende 
und Haare zählende Form nicht, weil ſie 
eben Glaubensſache iſt, — aber über- 
flüſſig läßt fie ſich machen und aus— 
ſchließen kann man ‚fie aus wiſſen— 
ſchaftlichen Betrachtungen. Kant's 
Satz, daß der Mechanismus allein die 
einzige wirkliche Erklärung liefere, 
und die einfache logiſche Conſequenz, mit 
einer wirklichen und richtigen Er- 
klärung auch befriedigt zu ſein, ſind 
bei denkenden Menſchen bereits zu ſehr 
zur Geltung gelangt, um jetzt noch durch 
die Philoſophie des Unbewußten fortdisputirt 
werden zu können. 

10. Einen verhältnißmäßig nur kleinen 
Putzer bekommt der Anonymus S. 295 
dafür, daß er S. 63 (der 2. Aufl.) 
„ſtillſchweigend die Unmöglichkeit voraus— 
ſetzt, daß die irdiſche Entwickelung jemals 
in den Strom einer Entwickelung von 
höherer Individualitätsſtufe einmünden und 
in letzterer aufgehobenes Moment werden 
könne. Die Unmöglichkeit ſei aber 
nicht unglaublicher, als es vor 100 
Jahren die Telegraphie und die Spektral— 
analyſe waren.“ — Das klingt ja faſt, 
als ob es uns gemahnen ſolle, es nicht für 
„unglaublich“ zu halten, wenn wir Hart— 
mann nächſtens unter den Spiritiſten 


| jehen. Dieſer Erinnerung bedarf es übri— 


gens kaum. Auch S. 267 wird ja der 
Geiſterklopferei geradezu das Wort geredet, 
als einer „heilſamen Reaktion (sic!) 
gegen die epidemiſche, durch die 
blendende Neuheit des Darwinismus unter— 
ſtützte Anſteckungskraft des Un— 
glaubens an den Geiſt“ (sch) 


*) Man könnte von der Kanzel herab 


mein Urtheil (Darw. Th. 2. Aufl. S. 242) 
über Hartmanns Verwandtſchaft mit den 
Dunkelmännern nicht falſch war. 


276 


Erwähnt mag hier noch werden, daß 
ebenda S. 268 der zeitgemäßen Verur— 
theilung des „Materialismus“ wieder 


einmal mit einer gründlichen Verquickung 


vonpraktiſchemundphiloſophiſchem 
Idealismus reſp. Materialismus nachge— 
holfen wird). Doch find wic an dieſes 
Manöver ſeitens der philoſophiſchen 
Idealiſten **) zu ſehr gewöhnt, um uns dar— 
über zu wundern. Dagegen iſt ein anderes 
qui pro quo neu und verdient hervorge— 
hoben zu werden Hartmann ſagt S. 
268, um zu zeigen, daß die materia- 

) Ueber die ſcharfe und nachdrückliche 
Unterſcheidung dieſer grundverſchiedenen 
Begriffe, die der Anonymus ſeiner Zeit vor— 
nahm, verlautet hier nichts, noch weniger 
wird dieſelbe als falſch nachgewieſen. 


Literatur und Kritik. 


praktiſch mit dem Herzen als Ideale feſt— 


i | 
liſtiſchen Philoſophen und die Na— 
turforſcher“) dem praktiſchen Ma— 
terialismus verfallen müſſen: „Es iſt 


widerſinnig, Ideen, die der Verſtand als 
Illuſionen durchſchaut zu haben glaubt, doch 


halten zu wollen, als ob ſie nicht Illuſio— 
nen, ſondern Wahrheit wären.“ Man 
lernt doch immer etwas zu! Ich hatte 
bisher gemeint, es wären Idealiſten 


geweſen, welche die Entdeckung machten, 
daß ihre Ideen und Vorſtellungen reine 


) Das nachdrücklichſte und geſchickteſte 


Beiſpiel dieſer Taktik lieferte jüngſt mit gutem 
Erfolge Profeſſor Huber. 
ſchüre: „Die ethiſche Frage“ München 
1875 (zuerſt in der Augsb. Allg. Z. 1875 
Nr. 23—25 erſchienen) zeigte er ſchlagend, 
wohin die Tendenzen des „Materialismus“ 
und „Darwinismus“ zielen, daß ſie nichts 
Anderes im Schilde führen, als die Menſch— 
heit ihrer Ideale zu berauben und 
damit eine allgemeine Zerſtörung von 
Cultur und Geſittung einzuleiten. Wäh- 
rend einſt Zöckler ähnliche Beſchuldigungen 
ohne nähere Motivirung ausſprach (worauf 
ich, Darw. Th. 2. Aufl. S. 249, geantwortet 
habe) unternimmt es Huber, Alles das mit 
wörtlichenſeitenlangen Citaten zu be— 
legen, aus denen der empörendſte Cynismus 
ſo nackt und ſchroff hervortritt, daß die Ur— 
heber und Verbreiter ſolcher Lebensanſchau— 
ungen unzweifelhaft als höchſt kulturfeindliche, 
gefährliche Menſchen gebrandmarkt daſtehen. 
Huber hat nur zu ſagen vergeſſen, daß 
dieſe Citate nur den praktiſchen Materia— 
lismus betreffen, mit dem philoſophiſchen 
aber ebenſowenig zu thun haben wie mit dem 
Darwinismus, daß ſie auch gar nicht von 
Vertretern des philoſophiſchen Materialismus 


In feiner Bro- 


Illuſionen ſeien, denen nicht die Spur einer 


oder des Darwinismus herrühren, ſondern 
vielmehr von Leuten, die den Darwinismus 
nicht einmal kannten (Moleſchott, 
Mathilde Reichard, Schuricht), da ihre 
Schriften früheren Datums ſind. Durch 
das Verſchweigen dieſes ziemlich wichtigen 
Thatbeſtandes wird dem unbefangenen Leſer, 
der es verabſäumt auf die Jahreszahlen zu 
achten, der Irrthum nahe gelegt, es ſeien die 
Vertreter der heutigen materialiſtiſchen und 
darwiniſtiſchen Philoſophie, gegen die ja die 
Broſchüre theilweis gerichtet iſt, nun auch 
wirklich Urheber oder mindeſtens An hän⸗ 
ger jenen eitirten cyniſchen Anſchauungen. 
Einem Irrthum ſollte man lieber vorbeugen 
als Vorſchub leiſten. Ebenſo iſt die Taktik 
Hubers, daß er die Beſtrebungungen eines 
Carneri, Reuſchle, Dulk, Wundt, 
Zöllner u. ſ. w. (vergl. m. Darw. Th. 2. 
Aufl. S. 5— 10 u. S. 188-194), — die 
gerade darauf ausgehen, Sittlichkeit, Tugend, 
Rechtsgefühl, Nächſtenliebe, Pflichttreue, Pa— 
triotismus u. ſ. w. als höchſte Errungen— 
ſchaften der Menſchheit durch die Dar— 
win'ſche Theorie zu erklären und zu ſtützen, 
— einfach ignorirt, wohl nur darauf zurück— 
zuführen, daß die Broſchüre eben das Gegen— 
theil beweiſen ſollte. Sie iſt daher praktiſch, 
aber nicht ethiſch zu nennen. Doch der Zweck 
heiligt das Mittel! 

) Auch dieſe zwei Begriffe werden von 
Hartmann immerfort durcheinander ge— 


worfen. 


Literatur und Kritik. 


wahrhaftigen realen Welt zu Grunde liege, 
während die Materialiſten im Gegen— 
theil für die Realität ihrer Ideen und 
Vorſtellungen eingetreten ſeien, da dieſelben 
durch ſinnliche Wahrnehmungen vermittelſt 
des Denkorganes vollbrachte Abſtraktio— 
nen einer wirklichen realen Welt 
und daher ebenſo wie die aus den Ideen 
entſprungenen Ideale keine bloßen Illu— 
ſionen, ſondern reine Wahrheit wären. 
Wie man ſich doch täuſchen kann, wenn 
man kein Philoſoph, ſonden ein einfacher 
Naturforſcher iſt! 

11. Bei der Erklärung der erſten 
Anfänge einer neuen Funktion wirft 
Hartmann S. 324 dem Anonymus 
vor, über das eigentliche Problem mit dem 
ſcheinbar harmloſen Satz „iſt aber ein 
ſolcher Verſuch erſt ein Mal gelungen“, 
— hinweggeſchlüpft zu fein. Wir können 
die Abſichten des Anonymus natürlich nicht 
ſo gut beurtheilen als Hartmann, haben 
aber ſ. Z. gemeint, er drücke ſich an der 
betreffenden Stelle ſo kurz aus, nicht um 
„hinüber zu ſchlüpfen“, ſondern um ſich 
ſtillſchweigend auf die genugſam bekannte 
Anſicht der Darwin'ſchen Theorie zu 
ſtützen, daß beiſſogenannter Neubildung 
einer Funktion niemals von wirklicher 
Neubildung die Rede ſei, ſondern ſtets 
von einer Umbildung, von einem Funk— 
tionswechſel.“) Der erſte minimale Schritt 
zu ſolchem Funktionswechſel, ebenſo wie 
ſein ſpäterer Zuwachs (bei jeder Genera— 
tion progreſſiver Naturzüchtung) fällt ins 
Bereich der ungleichen Vererbung, iſt alſo 
materiell — cauſal begründet. 

12. Die ſocialen Inſtinkte der 


) Einer ausführlichen Auseinanderſetz⸗ 
ung kann ich mich hier enthalten, indem ich 
auf meine Beiträge zur Descendenztheorie. 
S. 167 verweiſe. 


geſchlechtsloſen Individuen der geſelligen 
Inſekten ſeien durch die Selektionstheorie 
nicht erklärbar, meint Hartmann S. 340, 
weil hier alle Individuen, die der Ein— 
wirkung der Gewohnheit unterworfen ſind, 
nicht an der Fortpflanzung theilnehmen, 
alſo auch ihre erworbenen Prädispoſi— 
tionen nicht vererben können. 

Ganz recht! Eine Vererbung erwor— 
bener Fertigkeiten iſt hier in der That 
völlig ausgeſchloſſen, nicht aber eine 
Selektion angeborener (in der Königin 
jedesmal latent bleibender) Fertigkeiten. 
Es iſt dieſes Beiſpiel einer der ſchlagend— 
ſten Beweiſe für die Darwin 'ſche Selek— 
tionstheorie und gegen die Lamarck'— 
ſche Anpaſſungstheorie und daher auch von 
mir längſt in dieſem Sinne Haeckel gegen— 
über verwerthet *). 


Dies ſind, ſo weit ich finden kann, die 
12 hauptſächlichſten Angriffe, durch welche 
die Stellung des Anonymus als unhaltbar 
nachgewieſen ſein ſoll. Die übrigen 
Anmerkungen les find ihrer im Ganzen 
260) betreffen theils untergeordnete Neben— 
ſachen, theils wiederholen ſie blos das 
Thema: „Nachweis der mechaniſchen Ver— 
mittelung ſchließt die Möglichkeit teleologiſch— 
metaphyſiſcher Eingriffe nicht aus.“ 
Jedenfalls iſt der Verſuch, ſeinen anonym 
eingenommenen Standpunkt nachträglich als 
„falſch“ zu discreditiren, Hartmann 
ſchlecht gelungen. 

Dann folgt S. 365— 406 die Pole— 
mik gegen O. Schmidt, die ein merk— 
würdiges Gemiſch von Recht und Unrecht 
darſtellt. 

Recht hat Hartmann z. B. ent⸗ 
ſchieden S. 366, wo er Schmidt vor— 
) Vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 146. 


I 


3 


278 


wirft, die Zweckmäßigkeit rundweg läugnen 
zu wollen, und nicht wenigſtens die ge 
ſcheiden will, während doch jede Erklärung 


wordene im Sinne der Selektionstheorie 
zu acceptiren. Ferner S. 378, wo er 
Schmidt's Kritik eine zu gereizte 
nennt.“) Auch wo er ſich dagegen ver— 
wahrt, G. Carus als Autorität reſp. als 
Quelle benutzt zu haben. Ferner dürfte 
Hartmann in dem Discurs über die 
enthirnten Fröſche (S. 390-392), über 
die Weinbergſchnecke und die Hundeeſſer 
(S. 394), über die zerſchnittenen Inſekten 
(S. 394 395), über die fleiſchfreſſende 
Pflanze Dionaea (S. 399 — 401), über 
die geköpften Heuſchrecken (S. 401-403) 
und über die Hydra (S. 403404) zum 
Theil Recht haben. 

Unrecht dagegen hat Hartmann 
z. B. ©. 367 (auch S. 371374), wo 
er ſich aufs hohe Pferd ſchwingt und nur 
teleologiſch-metaphyſiſche Erklärungen als 
echte philoſophiſche gelten laſſen will, 
während Schmidt ganz richtig, wie wir 
ſeit Kant gewohnt ſind, nur die mecha— 
niſche als wirklich befriedigende und ſomit 
echt philoſophiſche Erklärung betrach— 
tet. Ferner S. 369 — 370, wo es heißt, 
der Darwinismus menge in die natur— 
wiſſenſchaftliche Erklärung teleologiſche Ge— 
ſichtspunkte, weil die Utilität eine unter— 
geordnete Form der Teleologie ſei, — als 
ob die auf gewordener naturhiſto— 
riſcher Zweckmäßigkeit beruhende Utilität 
irgend etwas mit der gewollten teleo— 
logiſchen Zweckmäßigkeit zu ſchaffen 
hätte!“) Dann hat Hartmann S. 370 


) Beiläufig bemerkt iſt aber Hartmanns 


Antikritik noch um Vieles reicher an perſön- 
lichen Ausfällen und an ungehörigen Verun- 


glimpfungen, z. B. S. 381—382. 
% Der Anonymus hatte das ſo klar und 
präciſe aus einander gehalten! 


Literatur und Kritik. 


Unrecht, wo er zwiſchen naturphiloſophiſcher 
und naturwiſſenſchaftlicher Erklärung unter— 


eo ipso ein philoſophiſcher Akt iſt. 
Haeckel hat das in ſeiner generellen 
Morphologie vortrefflich auseinander geſetzt, 
hätte alſo widerlegt, aber nicht ſtillſchwei— 
gend übergangen werden ſollen. Ebenſo iſt 
Hartmann S. 377 im Unrecht; denn 
Schmidt's „Proteſte“ ſind z. Th. ſehr 
gegründet, wenn auch zugegeben werden 
muß, ſie hätten vielleicht noch beſſer be— 
gründet werden können. — S. 382 nennt 


Hartmann den Od- Reichenbach einen 


„anerkannten Naturforſcher“. Sollte 
dieſe Aeußerung nicht auf irgend einer 
Namensverwechſelung beruhen? Der (ver- 
ſtorbene) Od- Reichenbach iſt mir nie 
als Naturforſcher bekannt geworden.“) 
Pſychologiſch beurtheilt, iſt er dadurch zu 
entſchuldigen, daß er mehr von Anderen 
getäuſcht wurde, als er Andere abſicht— 
lich täuſchen wollte; immerhin aber über— 
nahm er durch die Publication die Verant— 
wortung für den von ihm inaugurirten 
Od-Schwindel. Das genügt aber nicht, 
um den Namen „Naturforſcher“ zu ver— 
dienen. Oder ſollte in Hartmanns 
Augen die famoſe, wenn ich nicht irre, in 
Prag erſchienene „Pſyche, Zeitſchrift 
für Odwiſſenſchaft und Geiſter— 
kunde“ auch kein Schwindel, ſondern 
am Ende gar ein „anerkanntes naturwiſſen— 
ſchaftliches Journal“ geweſen ſein? — Un— 
recht hat Hartmann ferner S. 395 
— 397, wo er feine Cruſtaceen-Abſtamm— 
ung der Fiſche zu beſchönigen und zu ent— 
ſchuldigen ſucht, ſtatt ſie einfach ſogleich als 


) Als Chemiker, namentlich wegen ſeiner 
Theer-Unterſuchungen anfänglich von Ber— 


zelius und Liebig anerkannt, iſt er nach— 
her von Letzterem zurückgewieſen worden. Red. 


8 


lapsus calami*) einzugeſtehen und die 
Seite zu ſparen. 

Das größte Unrecht endlich begeht 
Hartmann am Schluß S. 405 — 406, 
wo er triumphirend ausruft: „Wenn das 
von Schmidt Vorgebrachte Alles oder 
auch nur das Wichtigſte von dem iſt, was 
gegen die naturwiſſenſchaftlichen Grundlagen 
der Philoſophie des Unbewußten von fach— 
männiſcher Seite vorgebracht werden kann, 
ſo müſſen dieſelben ſich einer nahezu un— 
antaſtbaren Solidität erfreuen. Dieſe erſte 
ausführliche Kritik der Philoſophie des 
Unbewußten aus der Feder eines wirk— 
lichen Naturforſchers iſt ein trauriges 
testimonium paupertatis für die ge— 
ſammte heutige Vertreterſchaft der Natur— 
wiſſenſchaft und eine dringende Aufforder— 
ung, die erlittene Scharte ſo bald als 


möglich auszuwetzen d. h. zu den zeit- 


bewegenden Problemen der Philoſophie 
eine minder unfähige Stellung zu gewinnen.“ 

Gegen den erſten dieſer zwei Sätze iſt 
zu erinnern, daß die Naturwiſſenſchaft es 
als ſelbſtverſtändlich betrachtet, wenn Grund— 
lagen (alſo Thatſachen), die man ihr ent— 
lehnt, ſofern man ſie nur richtig entlehnt, 
ſich einer unantaſtbaren Solidität 
erfreuen. Ob aber jedes auf dieſen Grund— 


lagen errichtete Gebäude ebenfalls ſolid ſei, 


iſt eine ganz andere Frage, die in Bezug 


auf die Philoſophie des Unbewußten ent 


ſchieden zu verneinen iſt. Mit dem Nach— 
weis, daß die Prämiſſen richtige ſind, iſt 
für die Richtigkeit der Schlußfolgerungen 
noch Nichts bewieſen. Wohl aber iſt das 
Gegentheil nachgewieſen worden, 
nämlich daß die Philoſophie des Unbewuß— 
ten aus den richtigſten naturhiſtoriſchen 
Prämiſſen falſche Theorien aufbaut und 


99 Aufmerksam habe ich auf denſelben 
ſchon 1870 a. a. O. S. 171 gemacht. 


. 


Literatur und Kritik. 279 


zwar hat das der Anonymus in dankens— 
werther Ausführlichkeit nachgewieſen. Ob 
derſelbe ein „wirklicher Naturforſcher“ war, 
iſt ganz gleichgültig. Durch ſeine erſchöpfende 
Kritikwaren und ſind die „wirklichen Na— 
turforſcher“ ähnlicher ausführlicher Müh— 
waltung jedenfalls enthoben; denn nachdem 
er alle Fehler der falſchen Rechnung aufge— 
deckt (was ihm, wie wir jetzt wiſſen, beſſer 
gelingen mußte, als jedem Anderen) iſt 
Alles geſchehen was zu wünſchen war. Es 
wird ſich daher jetzt wohl kaum Jemand 
dazu finden, gegen die bereits abgethane 
Philoſophie des Unbewußten nochmals auf— 
zutreten, blos um dem glücklichen Autor 
nicht den Ruhm zu laſſen, die beſte Kritik 
ſeiner Philoſophie ſelbſt geliefert zu haben. 
Dieſer Ruhm ſoll ihm nicht ſtreitig gemacht 
werden; denn es war gewiß eine feine 
ſtrategiſche Maßregel, durch eine erſchöpfende 
Kritik allen anderen vorzubeugen und 
nachher zu triumphiren, man habe keine 
anderen Angriffe erfahren. Weniger 
fein dagegen iſt es, den Umſtand, daß 
das Urtheil der Naturforſcher ſich auf Zu— 
ſtimmung zur anonymen Kritik oder auf 
Schweigen beſchränkte, für „Unfähig— 
keit“ und für eine „Scharte“ zu er⸗ 
klären. Das Maß dieſer Grobheit (sit 
venia verbo) wird nur übertroffen von 
der Selbftüberhebung *), mit welcher die 
Erfindung des Unbewußten ein „zeit— 
bewegendes Problem“ genannt wird. 
Daß man auch aus anderen Gründen als 
aus Unfähigkeit ſchweigen könne, z. B. weil 
man einer Sache nur geringe oder ephe— 

Beide Mittel ſind nicht gerade zweck— 
mäßig gewählt zur Herbeiführung der S. 18 
angekündigten Verſöhnung zwiſchen Natur— 
wiſſenſchaft und Philoſophie: denn es giebt 
Wenige, die ſich durch ſolch' rauhe Schale 
angezogen fühlen, dem Kern objectiv gerecht 


zu werden. 


280 


Literatur und Kritik. 


en 


mere Bedeutung zuſchreibt, iſt dem Autor 
der welterſchütternden Philoſophie des Un— 
bewußten natürlich nicht in den Sinn ge— 
kommen. 

Uebrigens haben nicht einmal alle Na— 
turforſcher geſchwiegen. Abgeſehen von 
Stiebeling's ausführlicher Zurückweiſ— 
ung, (die durchaus nicht in allen Punkten 
ſo mißrathen war, wie in der Inſtinkt— 
frage) iſt kurze Kritik einzelner Irrthümer 
der Philoſophie des Unbewußten gelegent— 
lich mehrfach geübt worden.“) Die Ver— 
lagshandlung verſteht es ja ſo vortrefflich, 
die „öffentlichen Urtheile“ zu ſam— 
meln und zu verwerthen, ſofern ſie Lob 
ſpenden. Sollten ihr die tadelnden gänz— 
lich entgangen ſein? 

Was Hartmann's Schrift „Wahr— 

heit und Irrthum des Darwinismus“ be- 
trifft, ſo ſind die darin enthaltenen Angriffe 
gegen die Selektionstheorie ſchon ſo oft 
vorgebracht und zurückgewieſen worden, daß 
man nunmehr aufhören kann, ſie bei jedem 
neuen Vorbringer aufs Neue abzuſchlachten. 
Zu einer wiederholten Verarbeitung faſt 
aller aufgeworfenen Einwände hatte ſich 
ohnehin jüngſt eine willkommene Gelegen— 
heit geboten!“), bei der gerade die Teleo— 
logie (die ja die einzige Differenz zwiſchen 
Hartmann und uns bildet) ausführlich 
ihre Rechnung gefunden hat. Einem un— 
parteiiſchen Leſer dürfte es daher nicht 
ſchwer fallen, die Wahrheit und den Irr— 
thum des Darwinismus gegen die ent— 
ſprechenden Beſitzthümer der Gegner abzu— 
wägen. 
) Vergl. z. B. m. Darw. TA. 1. Aufl. 
S. 190, 191, 195—196, 211, und 2. Aufl. 
S. 18, 242, 244, und Beitr. z. Desc. S. 53 
u. 166. 


) Vergl. Baer u. d. Darw. Theorie 
in m. Beitr. z. Descendenz-Th. Leipzig. 1876. 


Zwei neue Schriften über Goethe's 
Verhältniß zur Evolutions-Theorie. 


J. Goethe ein Gegner der Des— 
cendenz-Theorie. Eine Streit— 
ſchrift gegen Ernſt Haeckel von 
J. Th. Cattie, Docent der Zoologie 
und Botanik an der Realſchule zu 
Arnheim. — Utrecht 1877. J. L. 
Beijers. 

II. Goethe's Verhältniß zur Na— 
turwiſſenſchaft und feine Bedeut- 
ung in derſelben. Nebſt einigen bis— 
her ungedruckten Fragmenten von 
Goethe. Von Dr. S. Kaliſcher. 
(Separat-Abdruck aus dem 33. Bande 
der Hempel'ſchen Goethe-Ausgabe.) 
Berlin 1878. Guſtav Hempel (Bern— 
ſtein u. Frank). 

Sehr bald nach dem Erſcheinen des 
grundlegenden Darwin'ſchen Werkes machten 
ſich einzelne Stimmen vernehmbar, welche 
darauf hinwieſen, daß Goethe im Großen 
und Ganzen die Natur mit ganz ähnlichen 
Augen angeſchaut habe wie Lamarck und 
Darwin, daß er zumal die Entwickelung 
der höheren Lebensformen aus den niederen 
mit aller möglichen Beſtimmtheit verkündet 
habe. Der Erſte, welcher darauf hinwies, 
war wohl Dr. H. Meding in einer 1861 
erſchienenen kleinen Schrift: „Goethe als 
Naturforſcher in Beziehung zur Gegenwart.“ 


Eine eingehendere Vergleichung der Goethe'- 


1 


ſchen mit der Darwin'ſchen Naturauffaſſung 
veröffentlichte ſodann ein franzöſiſcher Schrift— 
ſteller E. Caro in einer Arbeit, die zu— 
erſt in der Revue des deux mondes 
(Novemb. 1865) und im Jahr darauf 
als beſonderes Werk in erweiterter Geſtalt 
(La Philosophie de Goethe) erſchien. Zur 
ſelben Zeit hatte auch Haeckel in ſeiner 
1866 erſchienenen „Generellen Morpho— 


Vorgänger Darwin's hingeſtellt, und ſpä— 


Literatur und Kritik. 


ter in ſeiner Schöpfungsgeſchichte an ver- 


ſchiedenen Ausſprüchen Goethe's dargethan, 
daß dem großen Dichter eine ähnliche Welt— 
anſchauung ſich erſchloſſen hatte, wie dem 
großen britiſchen Naturforſcher. 

Wenn ſich gegen dieſe Auffaſſung 


Literarhiſtoriker und fromme Patrioten ge- 


wendet hätten, ſo würde man ſich nicht 
weiter gewundert haben, denn dieſe hätten 
vielleicht ein wirkliches Herzensintereſſe ge— 
habt, Goethe wegen einer ähnlichen Vor— 
gängerſchaft in Schutz zu nehmen und bei 
dem Mangel an völliger Uebereinſtimmung 
in den Aeußerungen des tiefblickenden Dich— 
ters hätten ſie genug Ausſicht gehabt, die 
Sache in den Augen ihrer Parteigänger 
ſiegreich durchzufechten. Merkwürdiger Weiſe 
indeſſen rührt die anſehnliche Reihe von 
Proteſten, die gegen Haeckel's Deutung 
der Goethe'ſchen Naturanſchauung in 
Journalen und ſelbſtſtändigen Schriften 
eingelegt worden iſt, von lauter Anhängern 
Darwin's her, als ob letzterem ein Zu— 
ſammentreffen mit den Anſichten eines der 
erhabenſten Geiſter aller Zeiten zum Nach— 
theil gereichen könnte. Osc. Schmidt, 
Carl Semper, Robby Koſſmann, 
O. Zacharias, Th. Cattie und andere 
Gegner Haeckel's in der erwähnten Frage, 
ſchienen als gleichzeitige Anhänger, Kenner 
und Bewunderer Darwin's und Goe— 
the's gewiß vorzugsweiſe befähigt, in dieſer 
Frage ein gerechtes Urtheil abzugeben, und 
es wird uns ſchwer werden, zu verſtehen, 
weshalb ſie dennoch nicht das Richtige ge— 
troffen haben. 

Die Erklärung liegt darin, daß jeder 
einzelne der meiſt aphoriſtiſchen Ausſprüche 
Goethe's für ſich betrachtet, allerdings 
verſchiedene Auslegungen zulaſſen mag. Die 


* 


„ 


logie“ Goethe neben Lamarck als einen bilderreiche Sprache eines Dichters iſt eben 


nicht die exakte eines Naturforſchers; an 
eine ſtrenge Terminologie nicht gewöhnt, 
braucht ſie daſſelbe Wort zu andern Zeiten 
in einem ganz verſchiedenen Sinne, und 
wenn man nun die zweite Anwendungsart 


in den erſten Satz einſchiebt, iſt es leicht, 


dieſem einen vielleicht ganz entgegengeſetzten 
Sinn beizulegen. Als Oscar Schmidt 
in ſeiner Schrift: „War Goethe ein Dar— 
winianer?“ dieſe Frage mit Nein! beant— 
wortete, ging er hauptſächlich von der An— 
ſicht aus, daß Goethe, wo er von den 
Umwandlungen, Entwickelungen u. ſ. w. 
eines Typus ſpricht, damit nur die Wand— 
lungen der Idee und des Bauplanes ge— 
meint habe, der verſchiedenen Thier- und 
Pflanzenformen zu Grunde liegend ge— 
dacht werden könne. Wir werden aber 
nachher ſehen, daß Goethe in aller 
Wirklichkeit die Entwickelung höherer 
Formen aus niedriger ſtehenden in Er— 
wägung gezogen hat, und O. Schmidt 
hat dies auch nachträglich (Deutſche Rund— 
ſchau, April 1876) ausdrücklich zugegeben, 
wobei er aber bei der Meinung verharrt, 
Goethe habe eine ſolche Auffaſſung ab— 
gelehnt. 

Unbedenklich darf den Gegnern ſo viel 


zugegeben werden, daß Goethe weder die 


Lamarck'ſchen noch die Darwin'ſchen An— 
ſichten in aller Schärfe getheilt oder vor— 
weg genommen habe, allein das iſt auch nie 
behauptet worden. Wenn man aber das 
ganze Dichten und Trachten Goethe's 
um das Verſtändniß der lebenden Natur 
ins Auge faßt, wenn man nicht die einzel— 
nen Worte, an denen ſich deuteln läßt, 
ſondern die Geſammtrichtung ſeines Stre— 
bens zum Ausgangspunkte der Beurtheil— 
ung nimmt, ſo wird es trotz der Dunkel— 
heit mancher Ausdrücke und trotz der ſo 


Kosmos, Band III. Heft 3. 


zur baaren Unmöglichkeit, die evolutioniſti— 
ſchen Tendenzen der Goethe'ſchen Naturan— 
ſchauung zu verkennen. 

Dennoch kommt Cattie in ſeiner 
oben erwähnten Schrift, gerade wie vor 
ihm Semper und Koſſmann, zu dem 
mit fettem Druck hervorgehobenen End— 
urtheil, daß Goethe ein Anhänger 
des Dogmas von der Conſtanz 
der Arten geweſen ſei. „Aus den oben 
entwickelten Gründen,“ ſagt Cattie, 
„glaube ich feſt und ſicher behaupten 
zu können, daß Goethe nicht Mitbegrün— 
der der Descendenz-Theorie, ſondern vielmehr 
ein Gegner derſelben geweſen iſt.“ Ref. 
bekennt ſich abſolut unfähig, derartige Ver— 
irrungen der Kritik zu verſtehen; derſelbe 
Denker, der nicht müde geworden iſt, über 
das Conſtanz-Dogma zu fpötteln, der 
die endliche Erſchütterung deſſelben durch 
Etienne Geoffroy de St. Hilaire 
als ein Ereigniß begrüßt hat, gegen wel— 
ches er die Juli- Revolution für Bagatelle 
erklärte, derſelbe Mann ſoll nun zu einem 
Anhänger des Conſtanz-Dogmas gemacht 
werden! Die Beweisführung Cattie's 
für dieſe horrible Entdeckung iſt ſo heiter, 
daß ſie uns die Trauerfeierlichkeit an dem 
Grabe des geſunden Menſchenverſtandes 
überwinden helfen mag, ſie lautet in Kürze 
folgendermaßen: Goethe hatte unter dem 
Titel „Probleme“ einige Aphorismen hin— 
geworfen, unter denen ſich auch folgende 
Bemerkung befindet: „Die Idee der Me— 
tamorphoſe iſt eine höchſt ehrwürdige, aber 
zugleich auch höchſt gefährliche Gabe von oben. 
Sie führt ins Formloſe, zerſtört das Wiſſen, 
löſt es auf. Sie iſt gleich der vis cen— 
trifuga und würde ſich ins Unendliche ver— 
lieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zu— 
gegeben, ich meine den Specificationstrieb, 


Literatur und Kritik. 


erklärlichen Schiefheit mancher Aufſtellungen 


das zähe Beharrungsvermögen deſſen, was 
einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine vis 
centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde 
keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann.“ 
Man wird Haeckel zugeben müſſen, daß 
dieſe Worte einen tiefen Sinn erhalten, 
wenn man die Metamorphoſe oder vis 
centrifuga — Variationstrieb oder An— 
paſſung, d. h. Umwandlungstendenz im 
Allgemeinen, den Specificationstrieb oder 
die vis centripeta —= Vererbungstendenz 
(Beharrungsvermögen des Gewordenen) 
ſetzt, und daß ſie einen andern Sinn nicht 
leicht haben können. Das Manuſcript, 
welches außer dieſem Satze noch anderes 
Aehnliches enthielt, ſandee Goethe an 
den Profeſſor der Botanik Ernſt Meyer 
in Königsberg, zu welchem er, ohne ihn 
perſönlich zu kennen, eine lebhafte Zuneig— 
ung empfand, mit der Bitte, ſeine Mein— 
ung darüber zu ſagen, die er dann als 
Zeugniß reiner Sinn- und Geiſtesgemein— 
ſchaft mit abdrucken wolle. Ernſt Meyer 
befand ſich aber diesmal nicht in voraus— 
geſetzter reinſter Sinnesgemeinſchaft mit 
Goethe. Er machte von der Beurtheiler— 
Rolle, die ihm Goethe zugeſchoben, den 
rechtſchaffenen Gebrauch und ſchrieb mit be— 
ſonderem Bezug auf Goethe's Ketzereien, 
die auch im Obigen durchblicken, offenbar 
mißbilligend: „. . . Aus innigſter Ueber⸗ 
zeugung behaupte ich feſt: gleicher Art iſt, 
was gleichen Stammes iſt. Es tft un— 
möglich, daß eine Art aus der andern her— 
vorgehe.“ Meyer iſt alſo unzweifelhaft 
ein Anhänger des Conſtanz-Dogmas, und 
daraus profitirt nun Cattie Folgendes: 
Da Goethe (che er wußte, was Meyer 
ſagen würde) ihre beiderſeitige Sinn— 
und Geiſtesgemeinſchaft hervorgehoben und 
Meyer's Antwort ausdrücklich mit ab— 
drucken gelaſſen hat, ſo habe er offenbar 


— Be En EEE 


dieſelbe Anſicht gehabt, quod erat demon- 
strandum. Man ſieht aus dieſem Falle, 
daß man in Hinblick auf allzu grobe oder 
allzu feine Geiſter unter ſeinen Leſern nie— 
mals vorſichtig genug ſein kann. Goethe 
hat in einer Zeit, wo die Gegenſätze noch 
nicht auf einander platzten, ahnungslos ſeine 
Meinung und die des wiſſenſchaftlichen 
Gegners nach einander abdrucken laſſen, 
wie er es vorher verſprochen, und dachte 
wohl, die Ueberſchrift: „Problem und 
Erwiederung“, ſowie ſeine ſonſt klar aus— 
geſprochene Meinung würden ihn vor Miß— 


verſtändniſſen ſchützen. Auch nennt er nach- 


träglich (S. 153 Band 33 der Hempel’- 
ſchen Ausgabe) die Erwiederung nur ſinn— 
voll, aber nicht ſeinem Sinne gemäß und 
fügt hinzu: „Beiderſeitige Aeußerun— 
gen möchten auch fernerhin Betrachtungen 
aufregend“ wirken. Man könnte das Letz— 
tere für eine Ueberſetzung des Leibſpruches 
gerechter Kritiker: audiatur et altera pars! 
halten, und wird eingeſtehen, daß wenn die 
entgegengeſetzte Meinung Goethe's auch 
nicht ausdrücklich aus zahlreichen anderen 
Aeußerungen hervorginge, er dennoch nicht 
mit Meyer identificirt werden dürfte. 


Auf die anderen Wortklaubereien Cat 
tie's wollen wir nicht weiter eingehen, und 
widerſtrebender Meinung, ſich ſchließlich voll— 


nur nach gebührender Bewunderung des 


erhabenen Standpunktes, von welchem er 


einige darwiniſtiſch klingende Behauptungen 


Goethe's „albernes Geſchwätz“ nennt, | 


bemerken, daß feine Schrift, ebenſo wie die 


Literatur und Kritik. 


Semper und Koſſmann'ſche, offenbar | 


nicht beſtimmt iſt, die Wahrheit über 


Goethe's Stellung zur Descendenztheorie 


an den Tag zu bringen, ſondern nur 
um einiges Gift gegen Haeckel auszu— 
ſpritzen, dem es als eine der ſchlimmſten 
„Fälſchungen“ in der Geſchichte der 
Philoſophie ausgelegt wird, Goethe zum 


| 
| 
| 


283 


Vorgänger Darwin's geſtempelt zu 
haben. 

Wenn den Tataren oder Hindoſtanern, 
ſo erzählt Rob. Shaw, eine Mücke in 
den Thee fällt, ſo tauchen ſie dieſelbe vor 
dem Weitertrinken und Herausfiſchen erſt 
unter, indem ſie ſagen, der eine Flügel des 
Thieres ſei giftig, aber unter dem andern 
Flügel ſitze das Gegengift, und man müſſe 
immer beides zugleich genießen, dann ſchade 
keines. Wir wollen ihrem Beiſpiele folgen 
und nun die zweite Schrift betrachten, die 
in der That als das wirkſamſte Gegengift 
der erſteren betrachtet werden kann. 

Die Ausgabe der naturwiſſenſchaftlichen 
Schriften Goethe's, welche Dr. S. 
Kaliſcher veranſtaltet hat, iſt von der 
Kritik mit Recht als die beſte und voll— 


ſtändigſte, welche exiſtirt, bezeichnet worden, 


wir haben alſo hier nicht das Urtheil eines 
Sonntags-Goetheaners, der auch einmal 
ſeine naturwiſſenſchaftlichen Schriften durch— 
blättert hat, zu erwarten, ſondern das eines 
Mannes, der dieſe Schriften in allen Aus— 
gaben verglichen, durchgearbeitet und mit 
zahlreichen Ergänzungen bisher ungedruckter 
oder unaufgenommener Theile verſehen hat. 
Und hierbei wollen wir im Voraus con— 
ſtatiren, daß der Verfaſſer, trotz anfänglich 


ſtändig zu der Auffaſſung Haeckel's be— 
kehrt und eine Reihe neuer Stützen für 
dieſelbe beigebracht hat. Da der Streit 
einmal ſo viel Staub aufgewirbelt hat, ſo 
wollen wir aus der eben ſo gründlichen 
wie ausführlichen Beweisführung Kali— 
ſcher's diejenigen Stellen herausheben, welche 
keinen Zweifel an der wahren Meinung 
Goethe's beſtehen laſſen. 

Als Goethe feine naturwiſſenſchaftlichen 
Studien begann, beherrſchte das durch 
Leibnitz, Haller, Bonnet, Linne und 


284 


alle namhaften Denker der Zeit angenom⸗ 
mene Dogma von der Panſpermie die 
ich doch leider bemerken, daß die ſtarre 


Wiſſenſchaft, nach welcher alle Formen von 
Ewigkeit an erſchaffen wären, und in der 
embryonalen Entwickelung nur wachſen und 


phoſe enthüllen ſollten. Dieſer Anſchauung 


trat zuerſt Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner 
1759 erſchienenen Theorin generationis | 


entgegen, lehrend, daß die Entwickelung des 
Einzelweſens eine Folge von Neubild— 
ungen darſtelle, wie ja jeder ſehen könne. 
Wolff's Stimme verhallte ſpurlos, und 
erſt als Goethe in der Pflanzen— 
metamorphoſe denſelben Werdeproceß 
nachwies und unermüdlich immer wieder 


betonte, befreundeten die Geiſter ſich all- 


mälig mit der Theorie der Epigeneſe, 
die erſt ſehr ſpät die Alleinherrſchaft 
errang. Mit Recht konnte' daher Helm— 
holt „Ueber Goethe's naturwiſſenſchaftliche 
Arbeiten“ (Populäre wiſſenſchaftliche Vor— 
träge, 1. Heft) ſagen: „Ihm gebührt der 
große Ruhm, die leitenden Ideen zuerſt 
vorgeſchaut zu haben, zu denen der einge— 
ſchlagene Entwickelungsgang der genannten 
Wiſſenſchaften (von der organiſchen Natur) 
hindrängt und durch welche deren gegen— 
wärtige Geſtalt beſtimmt wird.“ 

Wie vollkommen Goethe ſich in die 
Gedanken Wolff's, den er ſeinen „vor— 
trefflichen Vorarbeiter“ nennt, eingelebt hatte 
und wie hoch er ſchon im Jahre 1792 auf 
den Standpunkt hinabſah, den man ihm 
heute zuſchieben möchte, zeigt auf das Klarſte 
eine humoriſtiſche Bemerkung in ſeiner 
„Campagne in Frankreich“, in welcher er 
die Unmöglichkeit ſchildert, ſeine Ideen den 
Conſtanzdogmatikern jener Zeit begreiflich 
zu machen. „Wenn ich,“ berichtet 
„meine morphologiſchen Gedanken, ſo ge 
läufig ſie mir auch waren, in beſter Ord— 


er, 


Literatur und Kritik. 


nung und, wie es mir ſchien, bis zur 
kräftigſten Ueberzeugung vortrug, ſo mußte 


Vorſtellungsart, nichts könne werden, 


als was ſchon ſei, ſich aller Geiſter 
die vorangelegten Theile in der Metamor- | 


bemächtigt habe. In Gefolg deſſen mußt 
ich denn auch wieder hören, daß alles 
Lebendige aus dem Ei komme, worauf ich 
denn mit bitterem Scherze die alte 
Frage hervorhob, ob denn die Henne oder 
das Ei zuerſt geweſen? Die Einſchachtel— 
ungslehre (d. h. die der von dem Conſtanz— 
Dogma unzertrennliche Panſpermie) ſchien 
ſo plauſibel und die Natur mit Bonnet 
zu kontempliren, höchſt erbaulich.“ Merk— 
würdiger Weiſe iſt es Goethe verborgen 
geblieben, daß ein Zeitgenoſſe von ihm, 
Lamarck, denſelben Ideen (daß die ganze 
Natur geworden, nicht erſchaffen ſei) hul— 
digte, wie er, ſonſt würde er ſich ebenſo 
innig an denſelben angeſchloſſen haben, wie 
vorher an Wolff und ſpäter an Geof— 
froy de Saint-Hilaire. In dem 
berühmten Streite des letzteren mit Cuvier, 
der Goethe ſo außerordentlich intereſſiren 
mußte, harrte er trotz des ſcheinbaren 
Sieges des letztgenannten großen Zoologen 
treu auf Seiten des Beſiegten aus, und 
Iſidor Geoffroy de Saint-Hi— 
laire (der Sohn) war beſſer unterrichtet, 
als die oben genannten deutſchen Goethe— 
Kritiker, als er den deutſchen Dichter in 
ſeiner „Allgemeinen Naturgeſchichte“ (1854 
— 62) Band II. S. 406 einen „bis zum 
Extrem“ gegangenen Anhänger der Lehre 
von der Veränderlichkeit der Arten nannte. 

Wir ſehen aus dieſem Allen wie vollauf 
Haeckel Grund hatte, die Stellen Goe— 
the's, die er in der „Schöpfungsgeſchichte“ 
abgedruckt hat, ſo zu deuten, wie er ſie 
gedeutet hat, denn dies iſt die einzig mög— 
liche Deutung, ſobald man Goethe's 


3 


ER 


Literatur und Kritik. 


Naturanſchauung im Ganzen betrachtet. Wo 
Goethe von einem Urtypus, vom Ur— 
thier und von der Urpflanze ſpricht, 
da hatte er Abſtraktionen der Wirklichkeit 
im Auge und keine leeren philoſophiſchen 
Conſtruktionen. Es iſt gerade dieſe Ver— 
ſchmelzung der ontogenetiſchen mit den phy⸗ 
logenetiſchen Schlüſſen, die Goethe's 
Naturanſchauung ſogar über diejenige La— 
marck's erhebt. 

Zu den von Haeckel citirten Nach— 
weiſen bringt Kaliſcher eine Nachleſe, 
die jede weitere Discuſſion ausſchließt. In 
den von Riemer mitgetheilten Aphoris— 
men ſagt Goethe: „Die Natur kann zu 
Allem, was ſie machen will, nur in einer 
Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge. 
Sie könnte zum Exempel kein Pferd machen, 
wenn nicht alle übrigen Thiere vorauf— 
gingen, auf denen ſie wie auf einer Leiter 
bis zur Struktur des Pferdes heranſteigt. 
So iſt immer Eines um Alles, Alles um 
Eines willen da, weil ja eben das Eine 
auch das Alles iſt.“ Damit man nicht 
etwa auch hier eine ſinnloſe ſyſtematiſche 
Stufenleiter hineinzudeuten verſucht ſei, möge 
man die Bemerkungen Goethe's über den 
von Dr. Jäger 1820 beſchriebenen foſ— 
ſilen Stier von Stuttgart vergleichen, in 
denen es heißt: „Auf allen Fall läßt ſich 
das alte Geſchöpf als eine weitverbreitete 
untergegangene Stamm raſſe betrachten, 
wovon der gemeine und indiſche Stier als 
Abkömmlinge gelten dürften.“ Wir 
werden nachher ſehen, wie er ſich die all— 


mälige Umwandlung der ſehr abweichenden 
Schädel- und Knochenbildung dieſer Thiere 


ausmalt. Sehr ſchön ſchildert der angeb— 


zurückzieht.“ 


liche Anhänger des Conſtanz-Dogmas das 
ſcheinbare zeitweiſe Stillſtehen der Bildung 


in der Erſcheinung, indem er in ſeinen 
Bemerkungen über d' Alton's Faulthier⸗ 


285 


und Dickhäuter-Werk ſagt: „Wir glauben 
auch (d. h. wie d' Alton) an die ewige 
Mobilität aller Formen in der 
Erſcheinung. Hier kommt jedoch zur 
Sprache, daß gewiſſe Geſtalten, wenn ſie 
einmal generiſirt, ſpecificirt und individua— 
liſirt ſind, ſich hartnäckig lange Zeit durch 
viele Generationen erhalten und ſich auch 
ſelbſt bei den größten Abweichungen immer 
im Hauptſinne gleich bleiben.“ D' Alton 
und Pander hatten nämlich in der Ein— 
leitung ihres Werkes die fortlaufende Um— 
wandlung der Thiere in der Zeit und nach 
den örtlichen Verhältniſſen unumwunden 
ausgeſprochen, und Goethe erklärt, wie 
man ſieht, ausdrücklich ſeine Meinungs— 
übereinſtimmung mit dem ſehr weiſen Zu— 
ſatz, daß die Umwandlung nicht eine fort— 
während ſichtbare ſei, ſondern daß die ſpeciali— 
ſirten Formen viele Generationen hindurch 
die einmal gewonnene Geſtalt beibehalten. 

Aber auch den Menſchen erklärte 
Goethe als unzweifelhaft aus dem Thier— 
reich hervorgegangen. Die Auffindung des 
Zwiſchenkiefers beim Menſchen gab ihm, 
wie er an Knebel ſchrieb, einen neuen 
Beleg, daß „der Menſch auf's Nächſte mit 
den Thieren verwandt ſei“. „Ich war 
völlig überzeugt,“ erklärt er in den Tag- und 
Jahresheften 1790, „ein allgemeiner, durch 
Metamorphoſe ſich erhebender Typus gehe 
durch die ſämmtlichen organiſchen Geſchöpfe 
durch, laſſe ſich in allen ſeinen Theilen auf 
gewiſſen mittleren Stufen gar wohl beob— 
achten und müſſe auch noch da anerkannt 
werden, wo er ſich auf der höchſten Stufe 
der Menſchheit ins Verborgene beſcheiden 
Es iſt lehrreich, dieſe Worte 
mit andern zu vergleichen, die Ecker— 
mann im zweiten Bande ſeiner „Geſpräche“ 
aufgezeichnet hat. „So hat der Menſch,“ 


läßt Eckermann Goethe ſagen, um die 


Lächerlichkeit der teleologiſchen Naturauf— 
faſſung (in der alten Form) darzuthun, 
„in ſeinem Schädel zwei unausgefüllte hohle 
Stellen (die Sinus frontales). Die Frage 
warum? würde hier nicht weit reichen, 
wogegen aber die Frage wie? mich belehrt, 
daß dieſe Höhlen Reſte des thieriſchen 
Schädels ſind, die ſich bei ſolchen ge— 
riugeren Organiſationen in ſtärkerem Maße 
befinden und die ſich beim Menſchen, 
trotz ſeiner Höhe, noch nicht ganz 
verloren haben.“ In einer Tendenz 
der Hinterbeine bei Quadrupeden, ſich über 
die vordern zu erheben, glaubt er „die 
Grundlage zum aufrechten Stande des 
Menſchen zu erblicken“, und ſchon in ſeiner 
1796 verfaßten Abhandlung über die Be— 
deutung der vergleichenden Anatomie lehrt 
er nach entwickelungsgeſchichtlichen Principien 
„das einfachere Thier in dem zuſammen— 
geſetzteren Menſchen wieder entdecken“, nach— 
dem er im Voraus bemerkt, daß er hier 
vorzüglich die Wirbelthiere im Auge habe. 

Dieſe Citate genügen vollauf, die 
abſolute Werthloſigkeit aller in Sachen 
Goethe's gegen Haeckel gerichteten Streit— 
ſchriften vom kritiſchen Standpunkte und 
zugleich ihre hohe Bedeutung für die Er— 
kenntniß der „Moral“ darzulegen. Zur 
weitern Beleuchtung des Prädicats: „albernes 
Geſchwätz“, welches Cattie in einer ſon— 
derbaren Verwechslung der Goethe'ſchen 
Abſtammungstheorien mitjeinen mitgetheilten 
Anſichten von denſelben, auf die es allerdings 
paßt, gebraucht, wollen wir mit freier Be— 
nutzung des von Kaliſcher geſammelten 
Materials noch zeigen, wie weit Goethe 
auch in der Theorie ſeinen Zeitgenoſſen 
voraus geeilt war. 
geſchloſſen finden wir das teleologiſche Prin— 
cip bei ſeinen Erklärungsverſuchen. „Vau— 
cher,“ ſagt er von dem bekannten Botaniker, 


Von vornherein aus- 


Literatur und Kritik. 


„erklärt die phyſiologiſchen Phänomene nach 
teleologiſchen Anſichten, welche die unſrigen 
nicht ſind, noch ſein können,“ und führt 
die Mißbildungen als Beweis gegen dieſelbe 
an, etwa wie wir heute den Kropf und 
andere Illuſtrationen der Dysteleologie ver— 
wenden. In dem erſten, 1795 verfaßten 
„Entwurf einer allgemeinen Einleitung in 
die vergleichende Anatomie“ erklärt er im 
vierten Abſatz den Grund der zweckmäßigen 
Zuſammenwirkung aller Organe: „Das 
Thier wird durch Umſtände zu Umſtänden 
gebildet; daher ſeine innere Vollkommenheit 
und ſeine Zweckmäßigkeit nach außen.“ 
Freilich könnten, wie er in demſelben Ab— 
ſchnitte ſagt, auch „Theile nach außen zu 
unnütz erſcheinen, weil der innere Zuſam— 
menhang der thieriſchen Natur ſie ſo ge— 
ſtaltete, ohne ſich um die äußern Verhält— 
niſſe zu kümmern.“ Man muß dabei un— 
willkürlich der rudimentären Organe geden— 
ken. Gleich darauf kommt er auch auf 
die umgeſtaltenden Wirkungen der Elemente 
und des Klimas, der Umgebung im All— 
gemeinen zu ſprechen, und entwickelt dabei 
(1795) Anſichten, die ſich den Lamarck'ſchen 
nahe verwandt zeigen. In den ſchon er— 
wähnten Bemerkungen über d' Alton's 
Bearbeitung der Dickhäuter und Faulthiere 
ſchildert er die Entſtehung plumper Thiere 
in einer poetiſchen Fabelform, weil, wie er 
hinzuſetzt, die Proſa für ſolche Dinge un— 
zulänglich je. Wenn ein Walliiſch, ſagt 
er, aus dem Tiefmeer in einen Kiesſumpf 
gerathe, der ihm erlaube, weiter zu leben, 
ohne doch in dieſem Element ſchwimmen zu 
können, ſo würden ſich die Bewegungs— 
organe herausbilden, um dieſen plumpen 
Körper zu tragen. Freilich käme immer 
nur ein höchſt plumpes Thier zu Stande. 
Aber, ſetzt er hinzu, „es iſt ſonderbar ge— 
nug, daß dieſe Sklaverei, das innere Un— 


Literatur und Kritik. 287 


vermögen, ſich den äußern Verhältniſſen ſeines botaniſchen Studiums“: „Das Wechſel— 


gleich zu ſtellen, auch auf feine Abkömmlinge hafte der Pflanzengeſtalten . . . . erweckte 
übergeht,“ d. h. daß dieſe Abkömmlinge bei mir immer mehr die Vorſtellung, die 
immer plump oder faul bleiben. uns umgebenden Pflanzenformen ſeien nicht 

Während hier im Sinne des Geoffroy urſprünglich determinirt und feſtgeſtellt, 
de St. Hilaire die Wirkung der Außen- ihnen fer vielmehr ..... eine glückliche 


welt mächtiger dargeſtellt wird als der innere Mobilität und Biegſamkeit verliehen, um 
Trieb, überwiegt die Kraft des Letzteren in ſo viele Bedingungen, die über dem 
in der ſchönen Phantaſie, die Dr. Körte Erdkreis auf fie einwirken, ſich zu fügen 
aus Ballenſtedt von der Entſtehung des und darnach bilden und umbilden 
Stieres entworfen hat, und welche Goethe zu können. Hier kommen die Verſchieden— 
mit ausdrücklicher Beiſtimmung in ſeine heiten des Bodens in Betracht; reichlich 
Bemerkungen über den foſſilen Stier auf- genährt durch Feuchte der Thäler, ver— 
genommen hat. Wir wollen die Hauptſtelle kümmert durch Trockne der Höhen, geſchützt 
daraus wiedergeben, da fie höchſt charak- vor Froſt und Hitze in jedem Maße oder 
teriſtiſch dafür ift, wie man in den Jah- beiden unausweichbar blosgeſtellt, kann 
ren 1820 — 22 dieſe Probleme behandelte: das Geſchlecht ſich zur Art, die Art 
„Zwiſchen dem Urſtier und Ochſen,“ ſchrieb zur Varietät, und dieſe wieder durch andere 
Dr. Körte, „liegen Jahrtauſende, und ich Bedingungen in's Unendliche ſich verändern.“ 
denke mir, wie das Jahrtauſende hindurch | Aehnlich ſagt er in dem Aufſatze über 
von Geſchlecht zu Geſchlecht immer ſtärkere D' Altons Nagethierſkelette: „Eine innere 
thieriſche Verlangen auch nach vorn hin und urſprüngliche Gemeinſchaft aller Or— 
bequem zu ſehen, die Lage der Augenhöhlen ganiſation liegt zum Grunde; die Verſchieden— 
des Urſtier-Schädels und ihre Form all- heit der Geſtalten dagegen entſpringt aus 
mälig verändert; wie das Beſtreben, leichter, den nothwendigen Beziehungsverhältniſſen 
klarer und noch weiter hin zu hören, die zur Außenwelt, und man darf daher ... 
Gehörkammern dieſer Thierart erweitert eine unaufhaltſam fortſchreitende Umbildung 
und mehr nach innen gewölbt, und wie mit Recht annehmen, um die ebenſo con— 
der mächtige thieriſche Inſtinkt für Wohl ſtanten als abweichenden Erſcheinungen be— 
ſein und Nahrung immer mehr Eindrücke greifen zu können.“ 
der ſinnlichen Welt in ſich aufzunehmen, die Im Uebrigen ſetzte Goethe bei den 
Stirn allmälig mehr gehoben hat.“ Es mag mannigfachen Umbildungen der Thiere und 
bei dieſen Bemerkungen an die Marſh'ſchen Pflanzen das Walten gewiſſer allgemeiner 
Unterſuchungen über das Gehirnwachsthum Bildungsgeſetze voraus und hat in zahl— 
der tertiären Thiere erinnert werden. reichen Stellen feiner naturwiſſenſchaftlichen 
In einer viel widerſpruchsfreieren Form, Schriften als eine Haupturſache der Geſtalten— 
als es in dieſen beiden Phantaſieſtücken ge- mannigfaltigkeit, das auch von Cuvier 
ſchah, hatte Goethe ſchon längſt vorher und Darwin anerkannte Geſetz der Cor— 
die Geſtalten umbildende Wirkung der relation oder Wechſelbeziehung der Theile 
Anpaſſung geſchildert. Der Cattie'ſche hervorgehoben. Er pflegte das ſo aus— 
Anhänger des Conſtanz-Dogma's ſagt in zudrücken, „daß keinem Theile etwas zu— 


Bezug auf die Pflanzen in der „Geſchichte gelegt werden könne, ohne daß einem andern | 


„ —..... — 


1 288 


etwas abgezogen werde.“ Da hiernach die 


Abweichungen ſich ſtets nach mehreren Rich— 


tungen zugleich wenden müſſen, ſo wirft dieſes 


Geſetz allerdings Licht auf die Formen- und 
Farbenmannigfaltigkeit gewiſſer Gruppen von 
Pflanzen und Thieren. In ſeinem Gedichte 
„Metamorphoſe der Thiere“ iſt dieſe Wechſel— 
beziehung der Geweihbildung zur Bezah— 
nung angedeutet: 
Denn ſo hat kein Thier, dem ſämmtliche Zähne 
den obern 
Kiefer umzäunen, ein Horn auf ſeiner Stirne 
getragen, 
Und daher iſt den Löwen gehörnt der ewigen 
Mutter 
Ganz unmöglich zu bilden und böte ſie alle 
Gewalt auf. 
Endlich hat Goethe auch den „Kampf 
um's Daſein“ in ſeinen „Sprüchen in 
Proſa“ (Werke, Ausgabe von 1853. III. 
S. 317) ſehr lebendig geſchildert. Er ſagt 
dort: „Die Natur füllt mit ihrer grenzen— 
loſen Produktivität alle Räume. Betrachten 
wir nur bloß unſere Erde: Alles was wir 
bös, unglücklich nennen, kommt daher, daß 
ſie nicht allem Entſtehenden Raum geben, 
noch weniger ihm Dauer verleihen kann. 
Alles, was entſteht, ſucht ſich Raum und 
will Dauer; deswegen verdrängt es ein 
Anderes vom Platz und verkürzt ſeine 
Dauer.“ Es wäre mir von großem In— 
tereſſe zu erfahren, wann Goethe dieſe 
Sprüche niedergeſchrieben hat, was ich aus 
meiner Ausgabe nicht erſehen kann. Ich 
habe nämlich dieſe Stelle ſtark in Verdacht, 
der Embryo jener früher in dieſer Zeit— 
ſchrift (Bd. I. S. 456) erwähnten ſehr ähnlich 
klingenden Stelle in Herders „Ideen“ 
zu ſein, auf welche hin man hauptſächlich 
deſſen Anſpruch, ein Vorgänger Darwins 
zu heißen, begründen wollte. Ja noch mehr, 
ich fürchte ſehr ſtark, daß alles das, was 
man in den „Ideen“ darwiniſtiſch oder 


Literatur und Kritik. 


vielmehr evolutioniſtiſch nennen könnte, nahe— 


zu wörtlich auf Kant und Goethe zu— 


rückgeführt werden kann. Der letztere äußerte 
zu Falk ausdrücklich, im erſten Bande von 
Herders Ideen befänden ſich viele Ideen, 
die ihm gehörten, beſonders im Anfange. 
(Joh. Falk, Goethe, 3. Aufl. S. 32) 
Das iſt nicht ſo zu verſtehen, als wenn 
Goethe dieſen Anfang, auf den es eben 
ankommt, ſelbſt geſchrieben hätte, aber er 
gab ſeinem Freunde die unmittelbarſte An— 
regung, wie er das in dem 1807 verfaßten 
Aufſatz: „Bildung und Umbildung orga— 
niſcher Naturen“ erzählt hat. Nachdem er 
daſelbſt von ſeinen Forſchungen nach dem 
Urthier und der Urpflanze berichtet hat, 
fährt er fort: „Meine mühſelige, qualvolle 
Nachforſchung ward erleichtert, ja verſüßt, 
indem Herder die Ideen zur Geſchichte 
der Menſchheit aufzuzeichnen unternahm. 
Unſer tägliches Geſpräch beſchäftigte ſich mit 
den Uranfängen der Waſſererde und der 
darauf von Alters her ſich entwickeln— 
den organiſchen Geſchöpfe. Der Uranfang 
und deſſen unabläſſiges Fortbilden ward 
immer beſprochen und unſer wiſſenſchaftlicher 
Beſitz durch wechſelſeitiges Mittheilen und 
Bekämpfen täglich geläutert und bereichert. 
Mit andern Freunden unterhielt ich mich 
gleichfalls auf das Lebhafteſte über dieſe 
Gegenſtände, die mich leidenſchaftlich beſchäf— 
tigten, und nicht ohne Einwirkung und 
wechſelſeitigen Nutzen blieben dieſe Geſpräche. 
Ja, es iſt vielleicht nicht anmaßlich, wenn 
wir uns einbilden, manches von daher Ent— 
ſprungene, durch Tradition in der wiſſen— 
ſchaftlichen Welt Fortgepflanzte trage nun 
Früchte, deren wir uns erfreuen, ob man 
gleich nicht immer den Garten benamſet, 
der die Pfropfreiſer hergegeben.“ 

Nach alledem wird man ſchwerlich um— 
hin können, das Meiſte was in Herders 


— w— ů ů 2 


Fe 


Literatur und Kritik. 


Ideen darwiniſtiſch erſcheint, auf Goethe 


zurückzuführen, denn nur in dem Gedanken— | 
kreiſe Goethe's tritt alles das organiſch ver- 
mittelt auf, was in Her der's Schriften 
Die gute Ordnung, 


eher fremd erſcheint. 
in welcher Herder alle dieſe Ideen wieder— 


gab, täuſchte leicht, und ſchon Frau von 


Stein verfiel in den Irrthum des Herrn 
von Bärenbach, als ſie an Knebel be— 
richtete: „Herder's neue Schrift macht 
wahrſcheinlich, daß wir erſt Pflanzen und 
Thiere waren.“ Die ſchöngeiſtige Dame 
ſetzt hinzu: „Goethe grübelt jetzt gar denk— 
reich in dieſen Dingen,“ ohne zu ahnen, 
daß dieſer eben der Urheber jener von 
Herder kaum getheilten Schlußfolgerungen 
war. Denn wir haben vorhin geſehen, daß 
die Abſtammung des Menſchen aus dem 
Thierreiche ein Goethe geläufiger Gedanke 
war. Herder hingegen hat dieſen Ge— 
danken nicht nur unausgeſprochen gelaſſen, 
ſondern im Gegentheile mehrfach Miene 
gemacht, dem Menſchen im Naturganzen 
eine Ausnahmsſtellung zu wahren, z. B. 
im 6. Capitel des dritten Buches. Es 
ſtimmt das ganz mit ſeiner ſonſtigen Art 
zu denken überein, und ſo hoch man ſeine 
übrigen Verdienſte anſchlagen mag, das— 
jenige eines bahnbrechenden Genies auf dieſem 
Gebiete wird man ihm nur inſofern zuſchreiben 
dürfen, als er zur Populariſirung der Kant— 
und Goethe'ſchen Ideen beigetragen hat. 
Zum Schluſſe haben wir Herrn Dr. 
Kaliſcher wiederholt für ſeine ausgezeich— 
nete, im Vorſtehenden reichlich ausgenützte 
Arbeit zu danken, und alle diejenigen, welche 
den ganzen Umfang der Bedeutung Goethe's 
für die Naturwiſſenſchaft und die gänzliche 
Unfähigkeit gewiſſer Perſonen, dieſelbe zu 
begreifen, kennen zu lernen wünſchen, auf 
das eingehende Studium ſeines Buches zu 
verweiſen. a K. 


289 


J. Grundzüge einer Vibrattons— 
theorie der Natur. Von 
Baron N. Dellingshauſen. Re— 
val, Verlag von Franz Kluge. 1872. 
IX. 403 S. 
II. Beiträge zur mechaniſchen 
Wärmetheorie. Von Baron 
N. Dellingshauſen. Heidel— 
berg, Carl Winter's Univerſitäts— 
buchhandlung. 1874. II. 119 S. 
III. Die rationellen Formeln der 
Chemie auf Grundlage der 
mechaniſchen Wärmetheorie 
entwickelt von Baron N. Dellings— 
hauſen. Heidelberg, Carl Winter's 
Univerſitätsbuchhandlung. Erſter 
Theil. Unorganiſche Verbindungen. 
1876. II. 163 S. Zweiter Theil. 
Organiſche Verbindungen. 1877. 

I 1560. 


Obengenannte drei, reſp. vier Schriften 


eines wohlbekannten Verfaſſers ſind im 
Weſentlichen dem nämlichen Grundgedanken 
entſproſſen und können deshalb recht wohl 
auch unter einem gemeinſamen Geſichtspunkt 
betrachtet werden. Nachdem der Verf. ſchon 
im Jahre 1851 ein — uns unbekannt 
gebliebenes — Werkchen unter dem Titel 
„Verſuch einer ſpeculativen Phyſik“ hatte 
erſcheinen laſſen, ſah er ſich durch ander— 
weite Beſchäftigungen am Fortarbeiten ver— 
hindert; jedoch ließ er den Gegenſtand 
nicht aus den Augen und begann, nachdem 
faſt zwanzig Jahre darüber hingegangen 
waren, in raſcher Folge mehrere Mono— 
graphien zu veröffentlichen, welche die in 
jener Jugendarbeit angedeuteten Grundſätze 
zu erweitern, zu berichtigen und auf be— 
ſtimmte Disciplinen anzuwenden beſtimmt 
ſind. Dieſer Grundſätze ſind es nun be— 
ſonders zwei, deren Durchführung und 


Verſöhnung dem Verfaſſer offenbar eine 


u 


Kosmos, Band III. Heft 3. am 


— —— 


— 


290 

Lebensaufgabe iſt. 
mit Recht, eifriger Anhänger der mecha— 
niſchen Wärmetheorie, andererſeits aber, 
wenn er dies auch weit weniger beſtimmt 
ausſpricht, Gegner der atomiſtiſchen und 
Freund der dynamiſchen Weltanſicht. Wer 
nun weiß, daß die Vibrationslehre der 
Wärmeerſcheinungen, wie ſie bei uns haupt— 
ſächlich von Krönig und Clauſius be— 


gründet ward, ganz unmittelbar auf der 
ein großer Vortheil, daß die den Dyna— 


Vorſtellung von kleinſten Elementarpartikeln 
der Körper beruht, wer ſich ferner die 
extrem-atomiſtiſchen Vorſtellungen gegen— 
wärtig hält, welche unter dem Einfluſſe 
der Engländer die kinetiſchen Theorien all— 
mälig zu beherrſchen ſich anſchicken, der 
durfte von Anfang an dem Verſuch, zwei 
ſolche Gegenſätze zu einer einheitlichen und 
harmoniſchen Weltanſchauung zu vereinigen, 
mit Spannung entgegenſehen. Wir glauben 
nun von vornherein zu der Erklärung ver— 


pflichtet zu fein, daß Herrn v. Dellings⸗ 
dieſer Widerſprüche 


hauſen's Löſung 
eine gleich originelle wie auch befriedigende, 
um nicht zu ſagen, elegante iſt. Die Ma— 
terie ſelbſt iſt ihm 
lückenlos, die Wärmeſchwingungen werden 


durch die Schwingungen des Stoffes ſelbſt 


hervorgebracht und übermittelt. Sowie 
jedoch Reflexionen und dadurch bedingte 
Interferenzerſcheinungen der Wärmewellen 
eintreten, müſſen nothwendig ſtehende Wellen 
entſtehen, und der ganze Körper wird durch 
eine Reihe von Flächenſcharen in „Vibra— 
tionsatome“ zerlegt. „Die Vibrationsatome 
ſind alſo ſtehende Wärmewellen, welche 
nach allen Seiten hin durch unbewegliche 
Knotenflächen von den anderen ſtehenden 


Er iſt nämlich, gewiß 


zuſammenhängend, 


Wärmewellen des Körpers abgegrenzt wer- 


den“. Die Grenzflächen bewegen ſich nicht, 
jeder Punkt im Innern aber beſchreibt eine 
von den ſpeziellen Bedingungen der Wärme 


Literatur und Kritik. 


Uebertragung geſtaltlich abhängige krumme 
Linie. 

Daß dieſe Hypotheſe den Namen einer 
geiſtreichen verdiene, ſowie daß ihr Urheber 
auch ſehr gut mit ihr umzugehen wiſſe, 
wird kein Leſer des erſten Buches in Ab— 
rede ſtellen. Jede der beiden gegenſätzlichen 
Theorien wird ſo zu ſagen auf ihrem 
eigenſten Gebiete vertheidigt und bekämpft, 
und zumal daraus erwuchs dem Verfaſſer 


mikern ſonſt ganz verſagten mathematiſchen 
Hülfsmittel, deren Ausbildung eben doch 
allein dem conſequenten Atomismus zu 
danken iſt, auch ſeiner Vermittelungslehre 
willig zur Verfügung ſich ſtellen. Der 
Verfaſſer weiß die Formeln der höheren 
Analyſis gewandt zu handhaben und ſcheut 
vor dieſer ſonſtigen Crux der Molekular— 
theoretiker keineswegs zurück; doch würden 
wir immer gerne noch mehr Deduktion 
mit Rechnung und weniger Deduktion mit 
Worten in dem Buche ſehen. Dieſe letztere 
führt leicht zu Irrthümern, wie denn 
(S. 108) der gegen ein Elan ſius'ſches 
Fundamentaltheorem erhobene Vorwurf doch 
nur auf einer unrichtigen Auslegung einiger 
an ſich correkter mathematiſcher Ausdrücke 
beruht. Auch über die gegen Ende des 
Buches zur Darſtellung gebrachten philo— 
ſophiſch-mathematiſchen Ausdrücke würden 
wir mit dem Verfaſſer ziemlich zu rechten 
haben, wenn wir dieſe Bemerkungen für 
ein Fachjournal niederzuſchreiben hätten. 
Nur betreffs der eigentlich conſtituirenden 
Hypotheſe möchten wir noch ein Bedenken 
zur Sprache bringen, welches nicht ſowohl 
dieſer ſelbſt als vielmehr der Art ihrer 
Herleitung gilt. Es wird nämlich im Ein— 
gang des Werkes ein ſcharfer Vorwurf 
gegen diejenigen Theoretiker gerichtet, welche 
auf Grund irgend einer willkürlich aus— 


kein. 2 


gedachten Annahme über das Weſen des 
Stoffes und der ſtofflichen Bewegung alle 
Naturerſcheinungen durch bloße Spekulation 
in ihrem Syſtem einreihen zu können glau— 
ben. Ohne Hypotheſen nun geht es auch 
im vorliegenden Falle nicht ab, denn weder 
iſt die Wellenbewegung der Materie eine 
ohne Weiteres ſelbſtverſtändliche Thatſache, 
noch auch ſcheint uns die Bildung allſeitig 
abgeſchloſſener Wellen fo zwingend bewieſen, 
daß man dieſen Erſatz der üblichen Atome 
als eine ſichere Errungenſchaft anzuerkennen 
genöthigt wäre. Wir, die wir der Ueber— 
zeugung ſind, daß ohne Hypotheſen keine 
Naturforſchung möglich, haben gegen das 
Beſtreben des Verfaſſers gar nichts einzu— 
wenden und räumen gerne ein, daß manche 
ſeiner ſpäteren Entwickelungen wohl dazu 
geeignet ſei, den Grundvorſtellungen als 
nachträgliche Stütze zu dienen. 
Die zweite der oben 


Literatur und Kritik. 


lungen mit den ſeparaten Titeln: Mathe— 
matiſche Begründung der Vibrationstheorie 
der Wärme. Die inneren Bewegungen und 
ihr Einfluß auf den Aggregatzuſtand der 
Körper. Die Wärme, eine innere lebendige 
Kraft der Körper. Die chemiſche Wärme 
der Körper. — Die mathematiſche Betrachtung 
wiegt in dieſen rein wiſſenſchaftlichen und 
ohne Rückſicht auf Allgemeinverſtändlichkeit 
durchgeführten Spezialunterſuchungen weit 
mehr vor als in Nr 1 — gewiß zum 
Vortheil der Sache ſelbſt. Insbeſondere 
möchten die Nachweiſungen des zweiten 
Artikels über Aggregatzuſtand und Kryſtal— 
liſation allgemeinſter Beachtung würdig ſein. 

Einen ſchlagenden Beweis für die Energie, 
mit welcher der Autor an ſich ſelbſt und 
ſeinen Ideen arbeitet, ſowie ein ſchönes 
Zeugniß für den durch dieſe nicht leichte 
Thätigkeit erzielten Erfolg bieten die beiden 


g aufgeführten 
Schriften zerfällt in vier einzelne Abhand- 


en 


Monographien über Reform der phyſikaliſchen 
Chemie. Obwohl zu einem competenten 
Urtheil auf dieſem Gebiete nicht vollberechtigt, 
glaubt der Berichterſtatter doch immerhin 
ſeinen individuellen Wahrnehmungen Aus— 
druck verleihen zu dürfen. In einer trefflich 
geſchriebenen hiſtoriſchen Einleitung weiſt 
der Verf. die Unzulänglichkeit aller bisher 
aufgeſtellten atomiſtiſchen Theorien nach, 
und wenn wir auch nicht ſeinen Schluß 
als vollkommen logiſch begründet gelten 
laſſen können, daß die Schuld an dieſen 
Mißerfolgen eben lediglich die Atomenlehre 
ſelbſt treffe, ſo können wir doch ſeinem 
Entſchluß, eine neue, völlig anders geartete 
Grundlage zu ſchaffen, nur vollkommenſte 
Billigung zollen. Dieſer neue Grundgedanke 
beſteht darin, daß die Vibrationsatome in 
den chemiſch einfachen Körpern als durch 
einfache, in den zuſammengeſetzten Körpern 
dagegen als durch mehrfache, ſich durch— 
kreuzende Wärmewellen entſtanden, voraus— 
geſetzt werden. Treffen zwei Syſteme ſolcher 
Wellen zuſammen, ſo bildet ſich nach dem 
Geſetze von der Uebereinanderlagerung kleiner 
Schwingungen ein neuer Gleichgewichtszu— 
ſtand heraus, d. h. es iſt eine chemiſche 
Verbindung zweier vorher getrennter Stoffe 
ins Leben getreten. Geſtützt auf dieſe Iden— 
tificirung eines chemiſchen Vorgangs mit 
einem mechaniſchen gelingt es Dellings— 
hauſen, nicht nur die anorganiſchen, ſondern 
ſogar auch die weit complicirteren organiſchen 
Verbindungen zu bewältigen. Bemerkt ſei 
noch, daß gerade dieſer Theil ſeiner Be— 
ſtrebungen in der Fachpreſſe — beſonders 
auch bei praktiſchen Chemikern — eine ſympa— 
thiſche Aufnahme gefunden hat. 

Wir erkennen in den zielverwandten 
Arbeiten, von denen vorſtehend die Rede 
war, ebenſowohl ſtrenge Conſequenz im Feſt— 
halten eines für wahr erkannten Principes, 


Br 


292 


als auch, zu erfreulicher Ausgleichung, einen 


mit der chronologiſchen Reihenfolge überein— 


ſtimmenden ſtetigen Fortſchritt in der Kunſt, 


jenes Princip mit den Thatſachen in Einklang 
zu ſetzen. Mag auch noch Vieles ſchwankend 
und im Fluſſe, mag vor Allem der Atomis— 
mus durchaus nicht in dem hier behaupteten 
Maße erſchüttert ſein: darin wird jeder 
Leſer mit uns übereinſtimmen müſſen, daß 
das naturphiloſophiſche Syſtem des Heidel— 
berger Forſchers mit der überwiegenden 


S. 99) auf das bekauntermaßen nicht ſehr 
häufige Vorkommen ſogenannter „Zwiſchen— 
ſtufen“ einen Wahrſccheinlichkeitsbeweis für 
die Nicht-Exiſtenz derartiger Formen zu 
gründen verſucht, und eine ähnliche, wenn 
auch mathematiſch ungleich höher ſtehende 


Unterſuchung Seidel's findet man in 


Mehrzahl der nur angeblich moniſtiſchen, that. 
ſächlich aber chimäriſchen Speculationen moder- 


ner Weltverbeſſerer nichts gemein hat. 
Ansbach. Prof. S. Günther. 


Theorie und Erfahrung. Beiträge 
zur Beurtheilung des Darwinismus von 
Dr. Paul Kramer, Oberlehrer am 
königl. Gymnaſium in Schleuſingen. Halle 
a. S. Verlag von Louis Nebert. 1877. 
VI. 171 Seiten. 

In vier blos durch die gemeinſame 


Tendenz unter ſich verbundenen Kapiteln 
3 


ſucht der Verf. eine Anzahl von Punkten 
aufzuzeigen, deren Aufklärung der darwini— 
ſtiſchen Lehre noch nicht im erwünſchten 
Maße gelungen ſei. Für den Unterzeichneten 
kommt aus unmittelbar einleuchtenden Grün— 
den ausſchließlich das erſte „Mathematiſche 
Entwickelungen“ überſchriebene Kapitel in 
Betracht, und auch hier wird er ſich, die 
empiriſchen Grundlagen der Prüfung Anderer 
überlaſſend, vornämlich mit dem Gange 
der Unterſuchung zu beſchäftigen haben. 
Von mathematiſcher Seite ſind der 
Entwickelungslehre bereits mehrfache Ein— 
wände gemacht worden. So hat z. B. Fr. 
Pfaff in ſeiner Schrift „Die neueſten 
Forſchungen und Theorien auf dem Gebiete 
der Schöpfungsgeſchichte“ (Frankfurt 1868, 


dem bekannten Buche J. Huber's da, 
wo er von dem ſporadiſchen Auftreten voll— 
blütiger Geſchöpfe handelt. Es wird kaum 
in Abrede geſtellt werden können, daß dieſen 
rein theoretiſchen, nicht immer von ganz 
ſicheren Prämiſſen ausgehenden Erörterungen 
nur ſehr relativer Werth zukommt, allein 
beachtenswerth bleiben ſie immer und ver— 
dienen jedenfalls ernſthaftere Erwägung, 
als ihnen z. B. Seidlitz zu Theil werden 
läßt, der den „Rechner Seidel“ — nebenbei 
bemerkt, einen der großartigſten Denker, 
deren ſich unſer Vaterland jemals rühmen 
durfte — blos mit ein paar Worten ab— 
fertigt. In eine verwandte Kategorie gehören 
nun auch die Studien des Herrn Kramer, 
nur ſind ſie planmäßiger, umfaſſender und 
deshalb auch wichtiger, als jene mehr gelegent— 
lich angeſtellten Betrachtungen früherer Jahre. 

Das betreffende Kapitel ſelbſt gliedert 
ſich wieder nach ſieben Abſchnitten. Im 
erſten derſelben entwickelt der Verf. einige 
Fundamentalgleichungen zwiſchen den Größen 
m, p, n, n', t, t“, r, 8, s“, welchen ſucceſſive 
nachſtehende Bedeutung eignet: Verhältniß— 
zahl der Männchen und Weibchen einer 
beſtimmten Thierart, Zähler und Nenner 
des die Variabilität dieſer Art ausdrückenden 
„Variabilitätscoöfficienten“, Zähler und 
Nenner eines ſupponirten „Abnahmecoäffi— 
cienten“, „Vervielfältigungscoöfſicient“, Zäh— 
ler und Nenner eines Bruches, deſſen Multipla, 
mit dem Abnahmecoöfficienten multiplicirt, 
den Abänderungsphaſen der in der Variation 
begriffenen Organismen entſprechen. Um 


ke 


„ und Kritik. 293 


all' dieſe Größen durch ein mathematiſches 


nicht unmittelbar beweisbarer Hypotheſen 
gezwungen, die aber freilich wenigſtens mit 
den Lebensbedingungen gewiſſer Thiergattun— 
gen verträglich ſein müſſen. Die gewonnene 
Fundamentalformel wird nunmehr in den 
folgenden Abſchnitten, wie der Mathematiker 
ſich auszudrücken pflegt, discutirt, d. h. auf 
ſpezielle Fälle angewandt. 


Zunächſt wird angenommen, die Anzahl 
der Männchen ſei das mfache von derjenigen 


der Weibchen; hinzutreten dann noch einige 


aus faktiſchen Erſcheinungen hergeholt wird. 
Mit Hülfe einiger Sätze aus der Reihenlehre 


darauf führt, daß trotz immer wieder in 


lichen Geſtalt abgewichenen Individuen auch 
bei langen Zeiträumen nur eine ſehr geringe 
ſei, und daß aus dem entſtehenden Chaos 


ſchiede ausgenommen werden können. Dieſe 
Ergebniſſe ſind allerdings mit der Grund— 
anſchauung Darwin's nicht recht verträglich, 
ein auffälliger Umſtand, der eine doppelte 


als weſentliches Bedingniß die Annahme mit 
enthalten, daß die Eltern unmittelbar oder 
doch ſehr bald nach der Geburt ihrer Jungen 


der Inſekten ein häufiger Fall iſt. Immerhin 
verdient auch die entgegengeſetzte Voraus— 
ſetzung berückſichtigt zu werden, daß nämlich 
ein Theil der Erzeuger-Paare bis in eine 
beliebige Generation ihrer Nachkommen hinein 
am Leben bleibt; wie leicht zu erſehen, 


@ 


Band zuſammenfaſſen zu können, ſah ſich 
der Verf. natürlich zur Aufſtellung gewiſſer 
ſprechendes Reſultat: „Die Zwiſchenformen 


gleichem Sinne auftretender Variationsten- 
denzen die Anzahl der von der urſprüng⸗ 


von Zwiſchenformen keine ſcharfen Unter- 


gleich nachher zu erörternde Erklärung zuläßt. 
In den vorhergehenden Betrachtungen war 


abſterben, wie dies bekanntlich im Leben 


den Variabilitätscoöfficienten eines einzelnen 
weitere Einſchränkungen, deren Berechtigung 


Verhältniß zur Größe der Variation ſteht. 
ergeben ſich dann Sätze, deren Deutung 


faßlicher, daß ſich auch Naturforſcher von 
verlangt dieſe im dritten Abſchnitte durch- 


geführte Unterſuchung einen umfänglichen 
mathematiſchen Apparat. Allein auch hier 
wiederum liefert die Endformel ein ent— 


find fo zahlreich und in einem fo mannig— 
faltigen Grade abgeſtuft, daß ſich kein ſcharf 
erkennbarer, ſecundärer Geſchlechtscharakter 


ausbildet.“ Die vierte Abtheilung geht 
von den Spezialwerthen p = m — 2 


aus, denkt ſich aber die Abnahmecoöfficienten 
der variirten Thiere kleiner und kleiner 
werdend. Hier lehrt die Rechnung, daß, 


Organs recht klein vorausgeſetzt, die Conſtanz 
der Einzelformen nahezu im umgekehrten 


Die Conſtruktionen des zweiten Abſchnittes 
werden dann im fünften unter einem er— 
weiterten Geſichtspunkt wieder aufgenommen, 
indem nämlich jetzt die Fruchtbarkeit des 
weiblichen Geſchlechtes progreſſiv fein ſoll; 
an den ermittelten Ergebniſſen wird dadurch 
übrigens nichts geändert. Abſchnitt 6 be— 
ſchäftigt ſich mit einem von Darwin ſelbſt 
näher ausgeführten Beiſpiel, um zu zeigen, 
daß die von demſelben gezogenen allgemeinen 
Schlüſſe mit einer exakten Ausnützung der 
Original-Angaben nicht übereinſtimmen. An 
ſiebenter Stelle endlich finden wir eine übrigens 
ſehr maßvoll gehaltene Polemik gegen die 
analogen Unterſuchungen von Seidlitz 
und dann noch einen kurzen Rückblick, in 
welchem mit Hinweiſung auf das bekannte 
Werk von Wigand nochmals betont wird, 
daß die Annahmen einer unbeſchränkten und 
richtungsloſen Veränderungsfähigkeit in dem 
auf ſie gegründeten Calcul durchaus keine 
Begründung fänden. 

Der Calcul des Verf. iſt ein ſo leicht 


nicht ſpezifiſch mathematiſcher Vorbildung 


. 


294 


von deſſen relativer Correktheit leicht 
thetiſchen Philoſophie“ folgt den „Grund— 


zu überzeugen im Stande ſein werden. 
Was freilich deſſen abſolute Richtigkeit 
anbetrifft, ſo iſt es damit eine ganz andere 
Sache. Müßte auch jene zugegeben werden, 
ſo wäre der Darwinismus in ſeinen Grund— 
veſten erſchüttert, allein ſolche Rieſenarbeit 
kann ein Complex von Rechnungen, in die 


ſo viele unbewieſene Annahmen eingehen, 


ſo viele nothgedrungene Vereinfachungen ſich 
einfügen müßen, doch wohl nicht leiſten 
wollen. Derartige Abſichten dürfen wir 
auch dem Verf. ſelbſt nicht unterlegen, der 
ja immer ſeine kritiſchen Tendenzen hervor— 
hebt, und in dieſem Sinne glauben wir 
auch der gebotenen Leiſtung einen entſchie— 
denen Werth zuſprechen zu müſſen. Mögen 
nun die Forſcher den erfahrungsmäßigen 
Grundlagen der Rechnung andere beſſere 


ſubſtituiren, um mit deren Hülfe plauſiblere 


Reſultate zu erzielen, oder mögen ſie durch 
einzelne Incongruenzen zwiſchen Rechnung 
und Beobachtung zu erneuter Reviſion der 
Thatſachen ſich veranlaßt ſehen — immer 
wird die darwiniſtiſche Weltanſchauung zu 
jener Selbſtkritik getrieben werden, an wel— 
cher es die begeiſterten Anhänger nicht ſelten 
fehlen laſſen, obſchon der Meiſter ſelbſt mit 
dem leuchtendſten Beiſpiel ſteter Nachprüfung 
und beſonnener Entſagung vorangegangen 
iſt. Ob für eine ſolche Kritik auch die 
übrigen Kapitel der Kramer'ſchen Schrift 
wünſchenswerthe Anregung darbieten, weiß 
Referent nicht beſtimmt, möchte es aber 
vermuthen. 
Ansbach. Prof. S. Günther. 


Die Principien der Sociologie, 
von Herbert Spencer. Autoriſirte 
deutſche Ausgabe von Dr. B. Vetter. 
J. Band. Stuttgart, E. Schweizerbart 
(E. Koch), 1877. (VIII.) 570 S. 8°. 


Literatur und Kritik. | 


Von Spencer's „Syſtem der ſyn— 


lagen der Philoſophie“ (1 Bd., 1875), und 
den „Principien der Biologie“ (2 Bde., 
1876 und 1877) hiermit der erſte Band 
der Sociologie, das neueſte Werk des 
Verfaſſers (die gegenwärtig in dieſer Zeit— 
ſchrift zum Abdruck gelangenden Artikel über 
„die Herrſchaft des Ceremoniells“ werden 
einen Theil des ſpäter erſcheinenden zweiten 
Bandes der Sociologie bilden). Es han— 
delt ſich darin vorerſt nur um die „That— 
ſachen der Sociologie“, d. h. um Feſt— 
ſtellung des Materials und der darauf ein— 
wirkenden Kräfte, mit denen eine ſynthetiſche 
Betrachtung der geſellſchaftlichen Entwickel— 
ung des Meuſchen rechnen muß. Dahin 
gehören nun zwar in erſter Linie die 
„äußeren Faktoren“ des Klimas, der Boden— 
beſchaffenheit, der Ernährungsweiſe ꝛc., welche 
unſtreitig ihren bedeutſamen Einfluß auf 
die körperliche und geiſtige Verfaſſung, ins— 
beſondere des primitiven oder Urmenſchen 
ausüben und deren allgemeine Wirkung 
hier trefflich erörtert wird. Viel wichtiger 
aber noch, weil unter allen Umſtänden und 
in jeder Entwickelungsphaſe wirkſam, ſind 
die „inneren Faktoren“, wie ſie aus der 
Natur des primitiven Menſchen ſelbſt fol— 
gen: ſeine phyſiſchen, emotionellen und in— 
tellektuellen Eigenthümlichkeiten. Jedoch auch 
damit iſt die Ueberſicht noch nicht erſchöpft. 
Wie in jedem durch Verbindung zahlreicher 
Einheiten entſtandenen Aggregat neue, auf 
das Ganze und die Theile zurückwirkende 
Kräfte frei werden, ſo kommen auch ſchon 


in den erſten Anfängen der Geſellſchafts 


bildung Ideen und Gefühle zum Vorſchein, 
welche das Benehmen des primitiven Men— 
ſchen und damit feine ſocialen Verhältniſſe 
ganz weſentlich bedingen. 

Der Unterſuchung dieſes Gegenſtandes iſt 


er 


— 


Literatur und Kritik. 


denn auch der größte Theil des vorliegenden 
Buches gewidmet, und es ergeben ſich dabei 
höchſt überraſchende, in wichtigen Punkten den 
landläufigen Annahmen durchaus zuwider— 
laufende Reſultate. Auf die meiſterhafte 
Darſtellung derſelben hier auch nur ſtellen— 
weiſe näher einzugehen, iſt leider nicht 
thunlich, um ſo weniger, als eben das faſt 
überreichliche Beweismaterial ſo klar und 
folgerecht geordnet iſt und die daraus ge— 
zogenen Schlüſſe ſich ſo ſtreng logiſch an 
einander fügen, daß ein Herausreißen des 
Einzelnen aus dem Zuſammenhang den 
imponirenden Eindruck des Werkes noth— 
wendig abſchwächen, das in ſcharfen Zügen 
hingeworfene Bild bis zur Unkenntlichkeit 
verzerren müßte. Nur Weniges ſei noch 
angedeutet. f 

Von den naturgemäßen Anſchauungen 
der niedrigſten Wilden über Schlaf und 
Traum, Leben und Tod und Wiederſehen 
ausgehend, zeigt der Verf., wie daraus die 
bei allen auf etwas höhere Stufe vorge— 
ſchrittenen Völkern nachweisbare Vorſtell— 
ungen von Seelen und Geiſtern, von einer 
andern Welt und einem andern Leben her— 
vorgehen mußten, wie daran die Ausbild— 
ung der Mythen, der religiöſen Ideen und 
Formen und endlich all der verſchiedenen 


Weltanſchauungen ſich anknüpfte, welche den 


höchſt entwickelten Zweigen unſeres Ge— 
ſchlechts eigen ſind. Den ſcheinbar zweck— 
loſen, widerſinnigen, oft ſo unbegreiflich 


grauſamen Aberglauben alter und neuer 
ſich in keiner Weiſe mit der Vermehrung 


Zeit, die Wundergeſtalten und Geſchichten 


der Götter und Helden, Lage und Beſchaf- 
philoſophiſchen und pſychologiſchen Durd- 
dringung deſſelben, um die tauſend und 


fenheit ihrer Wohnſitze, kurz Alles, was 
uns in dieſen merkwürdigen Dingen räthſel— 


haft, willkürlich, verworren ſcheint, erkennen 


wir im hellen Lichte von Spencer's 
Entwickelungslehre als natürliches Produkt 


295 


je von den ſpitzfindigen Tifteleien unſerer 
Philoſophen und Mythologen beengt und 
zurückgeſtoßen gefühlt hat, ohne doch ihrem 
Banne ſich entziehen und etwas Beſſeres 
an die Stelle ihrer ausgeklügelten Syſteme 
ſetzen zu können, der wird ſicherlich auf— 
athmen, wenn ihm der friſche, naturkräftige 
Hauch aus dieſem Buche entgegenweht, 
wenn er ſich der fatalen Auswahl zwiſchen 
göttlicher Offenbarung und abgeſchmackter 
Speculation enthoben und die altbekannten, 
aber nie verſtandenen Geſtalten als leben— 
dige Glieder einem großen, durch alle Zei— 
ten und Völker mächtig aufſtrebenden Or— 
ganismus eingeordnet ſieht. Jedem denken— 
den Leſer ſei das ſchöne Werk hiermit auf's 
Angelegentlichſte empfohlen. 


Die Urgeſchichte der Menſchheit 
mit Rückſicht auf die früheſte Entwidel- 
ung des Geiſteslebens, von Dr. Otto 
Caspari, Profeſſor an der Univerſität 
zu Heidelberg. Mit Abbildungen in 
Holzſchnitt und lithographirten Tafeln. 
Zweite durchgeſehene und vermehrte Aus— 
gabe. Leipzig, F. A. Brockhaus 1877. 
2 Bände. 

Das nunmehr in der neuen Bearbeitung 
fertig vorliegende Werk nimmt bekanntlich 
unter den Werken über Urgeſchichte, die ſeit 


kurzem zu einer Bibliothek angewachſen ſind, 


eine beſondere Stellung ein. Es beſchäftigt 
des Materials, ſondern einzig mit der 
abertauſend Einzelheiten, welche Anthropo— 


logen, Ethnologen und Archäologen geſam— 
melt haben und noch zu ſammeln beſtrebt 


der allgemeinen Vorbedingungen. Wer ſich ſind, unter einheitlichen Geſichtspunkten zu 


296 


ordnen. Was der Verfaſſer über Eutſtehung 
der Sprache und Religion, über Feuer— 
findung, Feuerkultus und deren Einfluß auf 
Geſittung und Geiſtesbildung geſagt hat, 
iſt zum Theil bereits Gemeingut der Wiſſen— 
ſchaft geworden, und Niemand, der die Vor— 
geſchichte zum Gegenſtande ſeines eingehenden 
Studiums machen will, wird ungeſtraft dieſe 
ſynthetiſchen Rückverſetzungen in das primi— 
tive Denken und Empfinden des Urmenſchen 
unbeachtet laſſen dürfen. Eine eingehende 
Analyſe des wohl vielfach bereits in den 
Händen unſerer Leſer befindlichen Buches 
würde jetzt nicht mehr am Platze ſein, wir 
begnügen uns deshalb mit der Bemerkung, 
daß die zweite Auflage an vielen Stellen 
die Spuren der nimmer raſtenden Arbeit 
des Verfaſſers erkennen läßt, und auch um 
mehrere neue Tafeln und Kapitel vermehrt 
worden iſt. Die äußere Ausſtattung iſt 
dem innern Werthe des Buches und dem Rufe 
der Verlagshandlung entſprechend. 


Literatur und Kritik. 


Die Opfer der Wiſſenſchaft oder die 
Folgen der angewandten Naturphiloſophie. 
Drei Bücher aus dem Leben des Profefior 
Deſens. Mitgetheilt von Alfred de 
Valmy. Leipzig 1878. Johann Am— 
broſius Barth. 

Mit vielem Vergnügen kommen wir 
dem Wunſche der berühmten Firma nach, 
dieſes kleine, elegant ausgeſtattete Büchlein, 
in welchem von den Gefahren der Spektral— 
analyſe, der Blutmedicin, des Santoninge— 
genuffes für Maler, der Sandblaſekunſt 
und ſchließlich auch des — Darwinis— 
mus die Rede iſt, den Gegner des Letzteren 
von ganzem Herzen zu empfehlen: es wird 
Viele darunter geradezu entzücken. Unſere 
nähern Freunde indeſſen, die wie weiland 
Wieland, gerne eine gute und gelungene 
Satire, ſei ſie auch gegen ihre Perſon oder 
Ueberzeugung gerichtet, leſen, wollen wir 
vor dieſer ſchwächlichen Verne-Nachahmung 
freundſchaftlichſt gewarnt haben. 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


K 2a m Wi ce u a 


f i er 


1 


— En GENE 


Prof. Th. Scwedof’s neue Hypothele 


über den Ursprung der Rometenformen. 


Dargeſtellt und erläutert von 


Paron M. Dellingshaufen. 


% 


m vorigen Jahre, 1877, hat 
. Theodor Schwedoff, 


I. Odeſſa, eine kleine Abhandlung, 

betitelt: „Idées nouvelles sur 
origine des formes cométaires“ (Odessa, 
Ulrich & Schultze) erſcheinen laſſen, welche 
ſowohl durch die Originalität der in ihr 
enthaltenen Gedanken, als auch durch die 
kurze, präciſe Ausdrucksweiſe gleich be— 
merkenswerth iſt; da dieſelbe in Deutſchland 
leicht überſehen werden könnte, halte ich es 
für eine Pflicht, die deutſchen Naturforſcher 
und insbeſondere die Aſtronomen auf dieſe 
bahnbrechende Schrift aufmerkſam zu machen. 
Der Werth derſelben tritt beſonders hervor, 
wenn man ſie mit der Behandlung des 
gleichen Gegenſtandes durch Zöllner in 
ſeinem Werke „Ueber die Natur der Cometen“ 
vergleicht; auf der einen Seite finden wir 
ein dickes Buch von 523 Seiten und kaum 
einen neuen Gedanken, auf der anderen 
Seite ein winziges Büchelchen von nur 14 
Seiten, aber jede Zeile inhaltſchwer. Auf 
den erſten acht Seiten gibt Herr Schwedoff 
die Gründe an, welche ihn dazu veranlaßt 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


haben, eine neue Theorie der Kometen auf— 
zuſtellen; ſo entſcheidend dieſe Gründe auch 
ſind, ſo hätte er ſich doch die Mühe erſparen 
können, denn die von ihm aufgeſtellten 
neuen Geſichtspunkte ſind ſo einfach und ſo 
einleuchtend, daß ſie ſofort überzeugend 
wirken und jeden Zweifel beſeitigen. 

Wie Newton, als er beim Anblick 
eines fallenden Apfels auf den Gedanken 
kam, daß die Schwere die allgemeine Urſache 
der Gravitation der Weltkörper ſei, nach 
keinem Grunde zu ſuchen hatte, um ſeine 
Anſicht zu unterſtützen, ſondern direkt daran 
gehen konnte, ſeine neu entſtandene Theorie 
an den beobachteten Thatſachen zu prüfen, 


ebenſowenig iſt es erforderlich, nach vielen 


Gründen zu ſuchen, um der Theorie des 
Herrn Schwedoff eine bleibende Stätte 
in der Wiſſenſchaft zu bereiten; ſie wird 
ſelbſt ihre Stelle einnehmen und dieſe 
unerſchütterlich behaupten. 

Ich übergehe daher die erſten acht Seiten 
und führe zunächſt das von Herrn Schwedoff 
aufgeſtellte Grundprincip der dynamiſchen 
Theorien der Kometenformen wörtlich an: 
„In den Kometen exiſtirt in Wirklichkeit 


38 


298 


nur der Kern als ein Körper oder als ein 
Syſtem von phyſiſchen Körpern. Alle übrigen 
Merkmale dieſer Geſtirne, wie die Nebel, die 
Schweife, die Ausſtrömungen u. ſ. w. ſind 


weder unendlich verdünnte Gaſe, noch aus- 
durch das widerſtandleiſtende Mittel ſtets 


gedehnte Dämpfe irgend welcher Körper; keine 
ſpecifiſche Kraft, keine außerordentliche Urſache, 
die unbekannt auf der Erde wäre, nimmt Theil 
an der Hervorbringung dieſer Erſcheinungen, 
die nichts Anderes ſind als Wellen, welche 


von den Kernen hervorgebracht werden, indem 


ſie ſich in einem widerſtandleiſtenden Mittel 
bewegen. 
planetaren Räume, 


durch den Weltraum fort.“ 
Um uns noch kürzer zu faſſen, ſagen 
wir alſo: 


Dieſes Mittel erfüllt die inter- 
gehört zu unſerem 
Sonnenſyſtem und pflanzt fi mit dieſem 


Die Kometenſchweife find Ver- 


dichtungs-Wellen, welche 
die Bewegung des Kometenkernes 
in einem widerſtandleiſtenden d. h. 


materiellen Mittel angeregt und, 
von der Sonne oder von dem Kerne 


aus beleuchtet, für uns ſichtbar 
werden. 

Das iſt der glückliche Gedanke, welcher, 
von Herrn Schwedoff zuerſt ausgeſprochen, 
beſtimmt iſt, die bisher in der Aſtronomie 
noch herrſchenden Anſichten zu läutern und 
Conſequenzen nach ſich zieht, die für den 
Augenblick in ihrer Geſammtheit noch kaum 
zu überſehen find. Einige dieſer Conſe— 
quenzen werden von Herrn Schwedoff 
ſelbſt entwickelt; ich gehe auf dieſelben 
ausführlicher ein, weil mir dadurch die 
Gelegenheit geboten wird, die neue Theorie 
nicht blos bekannt zu machen, ſondern auch 
einige abweichende Anſichten zu äußern. 

„Erſte Conſequenz. Unter allen Körpern 
unſeres Sonnenſyſtems ſind es nur die Kome— 
ten, welche Schweife und andere kometariſche 


durch 


Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


Formen zeigen können; die Planeten und 
ihre Trabanten müſſen dieſer Merkmale 
entbehren. Die Urſache davon iſt einfach 
und evident. Um eine Welle hervorzubringen, 
muß der Körper bei ſeinem Durchgange 


auf neue Partikelchen treffen, deren Ge— 
ſchwindigkeit hinreichend verſchieden von 
derjenigen des Körpers ſelbſt iſt. Ein 
Planet hat aber eine Bahn, welche wenig 
von einer Kreislinie abweicht; derſelbe be— 
wegt ſich daher ſeit einer unermeßlichen 
Zeit in einem ringförmigen Raume und 
trifft in ihm immer auf dieſelben Theile 
des Mittels. Es folgt daraus nothwendig 
eine Rotationsbewegung für alle Moleküle, 
welche in dieſem ringförmigen Raume ent- 
halten ſind. Daher der Mangel von 
Stößen und Wellen bei einem Planeten 
Der Trabant, wenn ein ſolcher vorhanden 
iſt, bringt einen gleichen kreisförmigen Strom 
in den Partikelchen hervor, die den Planeten 
umringen, weil ſeine Bahn ebenfalls wenig 
von einer Kreislinie abweicht. Daher auch 
bei den Trabanten das Fehlen einer Welle.“ 

„Zweite Conſequenz. Was die Kometen 
anbetrifft, ſo verändert ſich, wegen ihrer 
ſtark excentriſchen Bahn, ihre Entfernung 
von der Sonne in bedeutendem Maße. 
Ein Komet geht in jedem Augenblick aus 
einem mit der Sonne concentriſchen ring— 
förmigen Raume in einen anderen über, er 
trifft auf ſeinem Wege ſtets auf neue Theile 
und wenn er ihnen auch eine gewiſſe Ge— 
ſchwindigkeit ertheilen ſollte, ſo müßte dieſe 
Geſchwindigkeit doch bald zerſtört werden 
durch den Widerſtand anderer Theile oder 
durch die Wirkung anderer Kometen, deren 
Richtung eine den erſteren entgegengeſetzte 
iſt. Es folgt daraus, daß ein Komet ſich 
in dem Mittel auf eine Weiſe bewegt, als 
ob er in daſſelbe zum erſten Male eintrete. 


Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


Indem der Komet auf Theile trifft, deren 
Geſchwindigkeit nicht gleich der ſeinigen iſt 
oder die ſich in Ruhe befinden, übt er gegen 
dieſelben einen Stoß aus, welcher, ſich nach 
allen Seiten fortpflanzend, die Entſtehung 
von Elementarwellen veranlaßt. Die Ober— 
fläche, welche alle dieſe elementaren Wellen 
umringt, iſt die wahre Form des Kometen 
und die geocentriſche Projektion dieſer Ober— 
fläche iſt das Bild, welches ein Komet 
uns bietet.“ 

„Dritte Conſequenz. Nach dem ſo eben 
Geſagten iſt es klar, daß das Bild, welches 
ein Komet uns bietet, durch Rechnung wird 
beſtimmt werden können, ſobald die Fort— 
pflanzungsgeſchwindigkeit dieſer Wellen für 
die verſchiedenen Regionen des Weltraums 
bekannt ſein wird. Für den Augenblick 
muß die zu löſende Aufgabe umgekehrt 
werden, d. h. man hat aus dem gegebenen 
Bilde eines Kometen die Fortpflanzungs— 
geſchwindigkeit der Wellen zu beſtimmen. 
Nach meinen allerdings noch ſehr unvoll— 
ſtändigen Unterſuchungen berechnet ſich dieſe 
Geſchwindigkeit nach Zehnern von Kilometern 
in der Secunde, woraus hervorgeht, daß 
das interplanetare Mittel mit dem Licht— 
äther (2) nicht identiſch iſt.“ 

Herr Schwedoff ſcheint in dieſen drei 
erſten aus ſeiner Theorie abgeleiteten Con— 
ſequenzen das interplanetare Mittel oder, 
wie ich daſſelbe künftig kürzer bezeichnen 
will, den Weltäther als ruhend voraus— 
zuſetzen. 

Wie ein Irrthum ſtets viele andere Irr— 
thümer nach ſich zieht, ſo wird auch Herr 
Schwedoff durch die Annahme eines ur— 
ſprünglich in Ruhe befindlichen Weltäthers 
zu einer Reihe von Vorausſetzungen verleitet, 
die nichts weniger als warſcheinlich ſind. 

So nimmt Herr Schwedoff an, daß 
die Theile des Weltäthers, welche auf der 


299 


kreisförmigen Bahn des Planeten liegen, erſt 
durch dieſen in Bewegung verſetzt werden, 
daß ſie dabei eine gleiche Geſchwindigkeit, 
wie die des Planeten annehmen, ihm daher 
keinen Widerſtand leiſten und auch keine 
Welle erzeugen. Der Planet ſoll die Aether— 
theile gleichſam in einer ringförmigen Röhre 
vor ſich ſtoßen, während der übrige Welt— 
äther in Ruhe bleibt. Darauf kann man 
jedoch erwidern, daß die Bahn eines Pla⸗ 
neten nicht genau eine Kreislinie, ſondern eine 
Ellipſe iſt, daß ſomit immer neue Theile 
des Weltäthers ſeinem Stoße ausgeſetzt ſein 
müſſen, daß ferner die durch den Planeten 
aus ihrem Orte verdrängten Aethertheile 
nicht immer vor ihm in einer ringförmigen 
Bahn laufen können, ſondern durch den 
Widerſtand der vor ihnen liegenden Aether— 
theile nach allen Seiten ausweichen müſſen, 
daß endlich der hohle Raum, welchen der 
Planet hinter ſich läßt, durch das Nach— 
drängen der übrigen Aethermaſſe wieder 
ausgefüllt werden muß. Ein Planet würde 
alſo ſtets, wenn er nach einem Umlaufe 
wieder an ſeine ſchon früher eingenommene 
Stelle kommt, auf ruhenden Aether treffen, 
ſeinen Widerſtand zu überwinden haben, 
eine Welle erregen und müßte daher die 
Erſcheinung eines Kometenſchweifes zeigen. 
Die Vorausſetzung eines ruhenden Welt— 
äthers iſt daher unſtatthaft, er iſt bewegt 
und beſitzt überall dieſelbe Geſchwindigkeit 
und dieſelbe Bewegungsrichtung, wie die 
Planeten. 

Dieſe Anſicht habe ich bereits im Jahre 
1872 in meinen „Grundzügen einer Vibra- 
tionstheorie der Natur“ ausgeſprochen. 

Ich habe gezeigt, wie die Sonne als 
Rotationsmittelpunkt den geſammten Welt⸗ 
äther als einen bis in die entfernteſten 
Räume reichenden Wirbel mit ſich führt, 
wie die tangentiale Geſchwindigkeit dieſes 


1 


300 Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


Wirbels bei zunehmender Entfernung von 
der Sonne abnimmt und daſſelbe Geſetz wie 
die Planeten befolgt. Die Geſchwindigkeit 
der Planeten iſt alſo ſtets gleich derjenigen 
des Weltäthers, in dem ſie gleichſam 
ſchwimmen. Sie treffen daher auf keinen 
Widerſtand und können auch aus demſelben 
Grunde nicht die Erſcheinung der Kometen— 
ſchweife zeigen. Die Planeten als kleinere 
Rotationsmittelpunkte führen ebenfalls den 
Weltäther in einem Wirbel mit ſich herum, 
deſſen Geſchwindigkeit in einer gegebenen 
Entfernung gleich der Geſchwindigkeit des 
Trabanten iſt. Daher auch bei dieſen das 
Fehlen eines Widerſtandes und eines 
Kometenſchweifes. Die Kometen dagegen 
durchſtreifen den Weltäther in Richtungen, 
welche mit der Bewegung deſſelben nicht 
übereinſtimmen, ſie treffen daher überall 
auf einen Widerſtand, bringen dadurch 
Wellen hervor, welche von der Sonne oder 
dem Kerne beleuchtet uns als Kometen— 
ſchweife erſcheinen. 

Die Annahme eines rotirenden Welt— 
äthers erklärt alſo nicht allein den Mangel 
eines Widerſtandes bei den Planeten und 
ihren Trabanten, wodurch die Aſtronomen 
veranlaßt worden ſind, den Weltenraum 
als leer vorauszuſetzen, ſondern auch das 
Fehlen der Schweife; ſie erklärt aber auch 
die Bildung der Kometenſchweife bei ſolchen 
Weltkörpern, die ſich in anderer Richtung 
als der Weltäther bewegen. 

Die Behauptung, daß der Weltraum 
von einem widerſtandleiſtenden Mittel er— 
füllt ſei, iſt bereits häufig ausgeſprochen 
worden, ſo z. B. von Descartes und 
als Erklärung der abnehmenden Umlaufs— 
zeit des Encke'ſchen Kometen. Wie aber 
ſo manche andere Wahrheit, ſo iſt auch 
dieſe von den Fachmännern wenig beachtet 
worden und muß daher immer wieder von 


= 


Neuem wiederholt werden. Wenn ich ſo— 
mit gegen Herrn Schwedoff den Prioritäts— 
Anſpruch erhebe, den Satz, daß der 
interplanetare Raum von einem widerſtand— 
leiſtenden und zwar bewegten Mittel er— 
füllt ſei, zuerſt ausgeſprochen oder vielmehr 
wiederholt zu haben, ſo gebührt ihm da— 
gegen unſtreitig das Verdienſt, durch ſeine 
Erklärung der Kometenſchweife das Daſein 
des Weltäthers gleichſam greifbar und ſicht— 
bar gemacht zu haben. Man kann jetzt den 
Aſtronomen zurufen: Oeffnet die Augen 
und ſehet, der Weltäther liegt deutlich vor 
Euch und es eröffnet ſich für Euch ein 
weites Feld der Beobachtungen, um die 
neue Lehre zu beſtätigen und aus der Form 
der Kometenſchweife die Geſchwindigkeit 
und die Bewegungsrichtung des Weltäthers 
in dem interplanetaren Raume zu beſtimmen. 

Eine weitere, ſchwerwiegende Conſequenz 
der Theorie Schwedoff's iſt die, daß 
der Weltäther nunmehr auch die Vermittel— 
ung der Gravitation zwiſchen den 
Weltkörpern übernimmt. In meinen „Grund— 
zügen einer Vibrationstheorie der Natur“ 
habe ich nachgewieſen, daß der Weltäther, 
wie jedes Gas, nach allen Richtungen von 
longitudinalen Wellen durchlaufen wird, 
deren Schwingungsdauer und Geſchwindig— 
keit von der Größe derjenigen der Licht— 
wellen ſind. Indem dieſe elementaren 
Aetherwellen auf feſte Körper treffen, üben 
ſie auf dieſe durch ihre Stöße einen Druck 
aus und werden von denſelben in ihrer 
Fortpflanzung aufgehalten. Die Folge 
davon iſt, daß zwei Körper, welche in 
einem Gaſe oder in dem Weltäther einge— 
taucht ſind, auf ihren von einander abge— 
wendeten Seiten mehr Stöße der Aether 
wellen erleiden, als auf den einander 
zugekehrten; ſie bewegen ſich daher gegen— 
einander. Die Differenz der Stöße, welche 


P ⅛ —vRnͤ Ü Tree ee 


r 


ein Körper auf der einen und auf der 
anderen Seite erleidet, beſtimmt die Be— 
ſchleunigung, mit welcher er nach dem Cen— 
tralkörper gravitirt. 

Aus der beobachteten Beschleunigung 
läßt ſich dann die ſogenannte Maſſe des 
Centralkörpers beſtimmen, woraus umge— 
kehrt nothwendigerweiſe folgt, daß bei ver— 
ſchiedenen Körpern die Beſchleunigungen 
den Maſſen proportional ſind. Daß die 
Wirkung der Aetherwellen, als eine nach 
einem Centrum gerichtete, dem Quadrate 
der Entfernung von dem Mittelpunkte umge— 
kehrt proportionale iſt, verſteht ſich von ſelbſt. 

Dies iſt das Newton'ſche Geſetz, 
durch den Stoß der Aetherwellen erklärt. 

Die Aſtronomen verfahren in anderer 
Weiſe. Auch ſie gehen von der beobachteten 
Beſchleunigung aus, um die Maſſen der 
Weltkörper zu beſtimmen, ſchreiben dieſen 
Maſſen proportionale Anziehungskräfte zu 
und erklären dann durch die Anziehungs— 
kraft die Beſchleunigung, von der ſie aus— 
gegangen ſind; ſo drehen ſie ſich wie die 
Planeten in einem Kreiſe herum, geben 
ſich den Anſchein, die Gravitation zu er— 
klären, während ſie doch nur ein Wort 
(Anziehungskraft) an die Stelle eines Be— 
griffs geſetzt haben. 

Dieſer Umſtand erinnert mich an einen 
Spaziergang, den ich mit meiner kleinen, 
vierjährigen Tochter während eines Regens 
machte. 

„Papa, wo kommt das Waſſer in den 
Rinnen her?“ „Vom Dache, liebe Tochter.“ 
„Wie kommt das Waſſer auf's Dach?“ 
„Vom Regen.“ Woher kommt der Regen?“ 
„Aus den Wolken.“ Damit hatte das 
Fragen ein Ende. 

Die weitere Frage: „Woher kommen die 
Wolken?“ überſtieg die Faſſungsgabe des 


4 Verſtandes. 


Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


301 


Nicht 
Kindern auf den Univerſitätsbänken und 
ihrem Lehrer, dem Profeſſor der Aſtronomie, 


beſſer ergeht es den großen 


auf dem Katheder. Fragt man dieſen, 
warum die Weltkörper zu einander gravi— 
tiren, ſo heißt es: weil ſie ſchwer ſind. 
und fragt man weiter, warum die Körper 
ſchwer ſind, ſo macht er, um die Schwäche 
ſeiner Erklärung zu verbergen, ein ſehr 
gelehrtes Geſicht und antwortet: weil ſie 
ſich anziehen. 

Die weitere Frage, warum die Körper 
ſich anziehen, oder ob eine unvermittelte— 
Anziehungskraft möglich iſt, überſteigt augen— 
ſcheinlich die Faſſungsgabe der Zuhörer 
auf den Univerſitätsbänken und des Lehrers 
auf dem Katheder. Dieſe Frage: Wie 
iſt eine Anziehungskraft möglich? 
habe ich bereits im Jahre 1872 in meinen 
„Grundzügen einer Vibrationstheorie der 
Natur“ an die Aſtronomen gerichtet, bis— 
her aber keine Antwort erhalten, aus dem 
einfachen Grunde, weil ſie nicht wiſſen, 
was ſie mir darauf erwidern ſollen oder 
weil ſie eine ſo unverſchämte Frage einer 
Antwort nicht für würdig halten. Auch 
Herr Zöllner hat mir keine Antwort 
auf meine Frage gegeben, obgleich er in 
ſeinen „Wiſſenſchaftlichen Abhandlungen“ 
288 Seiten über die Kräfte und ihre 
Fernwirkungen zuſammengeſchrieben hat. 

Ein weiterer Gegenſtand, in Bezug auf 
welchen ich mich mit Herrn Schwedoff 
nicht einverſtanden erklären kann, iſt die 
von ihm aus der geringen Geſchwindigkeit 
der Wellen in den Kometenſchweifen ge— 
zogene Schlußfolgerung, daß der Weltäther 
mit dem Lichtäther nicht identiſch ſein 
könne. Wenn man den kühnen Griff ge— 
than hat, die Kometenſchweife als eine 
Wellenbewegung zu erkennen, ſo ſollte man 
ſich doch auch von der unbegründeten 


302 Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


Hypotheſe eines imponderabelen Lichtäthers 
emanzipiren können. Der Lichtäther, welcher 
nach den bisherigen Annahmen nicht blos 


den Weltraum, ſondern auch die in unſeren 


Händen befindlichen durchſichtigen Körper 
durchdringen ſoll, iſt bis jetzt noch von 
keinem Naturforſcher thatſächlich nachge— 
wieſen worden. 

Der Lichtäther ſoll außerdem nach der 
rohen atomiſtiſchen Theorie aus discreten 
Maſſetheilchen beſtehen. Nun wird aber 
das Licht durch transverſale Wellen fort— 
gepflanzt, während eine Bewegung ſich 
zwiſchen getrennten Maſſetheilchen 
nicht ſenkrecht zu ihrer Richtung 
mittheilen kann, es ſei denn, daß man 
wieder ſeine Zuflucht zu der begriffswidri— 
gen Annahme von Molekularkräften nimmt. 
Ein Lichtäther, wenn ein ſolcher exiſtiren 
ſollte, könnte alſo nicht aus discreten 
Maſſetheilchen beſtehen, ſondern müßte 
continuirlich ſein; dann wäre aber kein 
Raum für die Subſtanz der durchſichtigen 
Körper übrig; es giebt alſo keinen ſpeci— 
fiſchen Lichtäther, ſondern das Licht wird 
von der Materie der durchſichtigen Körper 
und des Weltäthers ſelbſt fortgepflanzt und 
dieſelbe iſt als Träger transverſaler Lichtwellen 
ebenfalls continuirlich. Damit habe ich 
zwei Fliegen mit einer Klappe geſchlagen 
und den doppelten Beweis geliefert, daß 
der imponderabele Lichtäther un— 
möglich und daß die Materie con— 
tinuirlich iſt. 

Aber, werden die an den althergebrachten 
Lehren feſthaltenden Naturforſcher einwenden, 
wie kommt es, daß die Geſchwindigkeit des 
Lichtes eine ſo bedeutend größere als die 


Luft fortgepflanzt werden? 
Die verhältnißmäßig größere Geſchwin— 
digkeit des Lichtes erklärt ſich, wie ich es 


bereits in meinen „Grundzügen einer 
Vibrationstheorie der Natur“ gezeigt habe, 
viel leichter bei der Annahme einer con— 
tinuirlichen Materie, als unter der Voraus- 
ſetzung eines Lichtäthers, dem man zuerſt 
die beiden ſich widerſprechenden Eigenſchaften 
einer ſehr geringen Dichtigkeit und einer 
ſehr großen Elaſticität zuſchreiben muß. 
Durch die verſchiedene Brechbarkeit der 
farbigen Strahlen ſehen wir, daß die Ge— 
ſchwindigkeit der Lichtwellen und ſomit auch 
der Wellen überhaupt eine Funktion der 
Schwingungsdauer iſt. Wenn alſo in 
einem continuirlichen Mittel durch eine ſehr 
ſchnelle, aber nur kurz andauernde Erſchütter— 
ung, wie eine Lichtſchwingung, eine Stör— 
ung des innern Gleichgewichts hervorge— 
bracht wird, ſo iſt die Rückwirkung der 
Elaſticität jo groß, daß die entſtehende 
Bewegung faſt momentan nach allen Richt— 
ungen mitgetheilt wird. Daher die große 
Fortpflanzungsgeſchwindigkeit des Lichtes. 
Bezieht ſich die Störung des Gleichgewichts 
auf größere Maſſen, iſt ſie eine länger 
andauernde und beſteht ſie, wie beim Schalle, 
aus allmälig und ſtetig in einander ver— 
laufenden Verdichtungen und Verdünnungen, 
ſo daß alle Theile des Mittels im früheren 
Zuſammenhange bleiben, ſo iſt auch 
die Fortpflanzung der auf dieſe Weiſe ent- 
ſtehenden Wellen ebenfalls eine verhältniß— 
mäßig langſamere. Daher die geringere Ge— 
ſchwindigkeit des Schalles. Noch langſamer 
als der Schall breitet ſich der Wind aus, der 
auch nur eine Folge von Verdichtungen 
und Verdünnungen iſt, und noch langſamer 
als der Wind können ſich die noch bedeu— 


tend größeren Aetherwellen bei dem ge— 
des Schalles iſt, wenn beide durch die 


ringen Drucke, dem ſie in den Kometen— 
ſchweifen ausgeſetzt find, fortpflanzen. Wenn 
ihre Geſchwindigkeit auch nicht mehr als 
10 Kilometer in der Secunde beträgt, ſo 


A ͤͤ⁰n! . ] ³ͤ -nTJ w ³ nn 


— N 


r Ya 0 ae 


PN 


Dellingshauſen. Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


iſt das kein triftiger Grund, um nicht 
annehmen zu dürfen, daß der Weltäther, 
der durch ſeine großen Wellen die Kometen— 
ſchweife bildet, auch zugleich der Träger 


der Licht- und Wärmewellen durch den 
Weltraum iſt. 
Durch meinen Widerſpruch gegen einige 


in der Naturwiſſenſchaft nur zu ſehr ein— 
gewurzelte Irrthümer habe ich mich ver— 
leiten laſſen, von meinem eigentlichen Gegen— 
ſtande abzuweichen; ich kehre zu demſelben 
zurück. Herr Schwedoff hat ſich ſelbſt 
davon überzeugt, daß ſeine Theorie mit 
einem ruhenden interplanetaren Mittel nicht 
verträglich iſt, und entwickelt daher ſeine drei 
letzten Conſequenzen unter der Vorausſetzung 
eines um die Sonne rotirenden Weltäthers. 

Gegen ſeine weiteren Vorſtellungen iſt 
daher nichts mehr einzuwenden, ſie ſind 
ebenſo einfach und klar, wie ſeine eigent— 
liche Theorie. Sie lauten folgendermaßen: 


wahrſcheinlich, daß das interplanetare Mittel 
ſeit dem Urſprunge unſeres Sonnenſyſtems 
mit einer rotirenden Bewegung begabt iſt, 
deren Ebene parallel zu dem Aequator der 
Sonne liegt. Aber ſogar wenn dieſe Ro— 
tation nicht von Anfang an exiſtiren ſollte, 
ſo müßte das Mittel dieſelbe durch die 
Einwirkung der Planeten erhalten. 


keit dieſer Rotation bei der Beſtimmung 


werden muß, weil die letztere durch die erſte 
vergrößert oder vermindert werden kann. 

Es folgt auch daraus, daß es Fälle 
geben kann, wo ein direkter Komet, deſſen 
Neigung klein und deſſen Entfernung von 
der Sonne im Perihel bedeutend iſt, keine 


weil ſeine Geſchwindigkeit wenig verſchieden 


„Vierte Conſequenz. Ich halte es für 


Es folgt daraus, daß die Geſchwindig-⸗ 


der Geſchwindigkeit der Wellen berückſichtigt 


wahrnehmbaren Wellen hervorbringen wird, 


| von derjenigen des umgebenden Mittels iſt.“ 


303 


„Fünfte Conſequenz. Wenn das wider— 
ſtandleiſtende Mittel mit einer Rotations- 
bewegung begabt iſt, ſo wird ſeine Wirk— 
ung auf einen Kometen von deſſen Richt⸗ 
ung und von der Neigung ſeiner Bahn 
abhängen. Wenn die Neigung der Bahn 
zu der Ebene der Rotation des Mittels 
nicht groß iſt, und wenn der Komet direkt 
iſt, ſo wird die Excentricität der Bahn 
progreſſiv vermindert, bis die Bahn eine 


Kreislinie wird, wonach jeder Widerſtand 


verſchwindet. Wenn dagegen der Komet 
retrograd iſt, oder wenn ſeine Bahn gegen 
die Rotationsebene des Mittels (Sonnen— 
Aequator) bedeutend geneigt iſt, ſo wird 
der Widerſtand des Mittels auf den Ko— 
meten ſo lange einwirken, bis derſelbe in 
die Sonne fällt. 

Es folgt daraus, daß die Wahrſchein— 
lichkeit eines ſolchen Falles größer iſt für 
kleine unſichtbare Körper, als für die großen 
Kerne, größer für die retrograden Kometen, 
als für die direkten, und noch größer für 
die retrograden Kometen, deren Bahnen mit 
der Ebene des Sonnenäquators zuſammen— 
fallen. Ich glaube, daß darin die mög— 
liche Urſache der Sonnenflecken liegt; ich 
enthalte mich jedoch jeder entſcheidenden 
Schlußfolgerung über dieſen Gegenſtand.“ 

„Sechſte Conſequenz. Die abſolute 
Länge eines Schweifes muß mit der Ge— 
ſchwindigkeit des Kernes zunehmen. Es 
folgt daraus, daß dieſe Länge um ſo größer 
ſein muß, je näher der Komet zu ſeinem 
Perihel iſt und je kleiner die Periheldiſtanz 
iſt. Für große Entfernungen von der 
Sonne muß ſich der Schweif in einen 
Nebel verwandeln (ſphäriſche Form der 
Wellen), deſſen Durchmeſſer mit dem Ra- 
dius vector des Geſtirnes wachſen muß.“ 

Um ſeine Theorie zu vervollſtändigen, 
giebt Schwedoff ein einfaches Mittel an, 


2 


304 


um die verſchiedenen Formen der Kometen— 
ſchweife künſtlich darzuſtellen. Er bedient 
ſich dazu eines ziemlich großen Geſchirres 
(von einem Quadratmeter Bodenfläche) mit 
Waſſer gefüllt, welches mit Tinte geſchwärzt 
wird, um das Spiegeln des Bodens zu 
verhüten. 

Fährt man nun längs der Oberfläche 
des Waſſers mit einem feinen Stabe hin, 
z. B. mit einem Bleiſtifte, ſo werden 
Wellen erregt, welche je nach der Geſchwin— 
digkeit des Stiftes verſchiedene Formen 
annehmen. Bewegt man den Stift nur 
langſam, ſo werden die Wellen rund; bei 
einer etwas ſchnelleren Bewegung des Stiftes 
nehmen -fie eine elliptiſch längliche Form 
an; bei einer noch ſchnelleren Bewegung 
werden ſie bandförmig, und bei einem ſehr 
ſchnellen Vorrücken des Stiftes breiten ſich 
die hinteren Enden der Wellen nach außen 
aus. Schwedoff vergleicht die Formen 
dieſer künſtlich dargeſtellten Wellen mit der 
Form des En cke'ſchen Kometen vom 19. 
Oktober 1838, zwei Monate vor ſeinem 
Perihel, ferner mit demſelben Kometen 44 
Tage vor ſeinem Perihel, mit dem Ko— 
meten von 1819 und mit dem großen 
Kometen von 1811 zwei Tage vor ſeinem 
Perihel und findet eine vollſtändige Ueber— 
einſtimmung, wie er es durch beigefügte 
Zeichnungen nachweiſt. 

Ebenſo läßt er den Stift eine kreis— 
förmige Bahn im Waſſer beſchreiben und 
bringt dadurch krummlinige Wellen hervor, 
welche genau die Form der Kometen von 
1744, von 1577 und von Donati dar— 
ſtellen. Endlich vergleicht er noch die Spur 
eines Bootes mit dem Kometen von 1769 
am 2. September, und auch hier iſt die 
Uebereinſtimmung eine auffallende. Ein 
Blick auf die Abbildungen der Kometen 
iſt genügend, um die Ueberzeugung zu ge— 


Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


winnen, daß Schwedoff mit ſeiner 
Theorie das Richtige getroffen hat. 

Das Beiſpiel mit einem Boote iſt be— 
ſonders geeignet, um die Theorie Schwe— 
doff's zu erläutern. Denke man ſich ein 
Boot auf einem ruhig fließenden Strome 
aufwärts ſteuernd; es muß ſich hinter ihm 
eine lange und ſtarke Welle bilden. Liegt 
das Boot vor Anker, ſo wird ſich die 
Strömung des Fluſſes an ihm brechen 
und unterhalb ebenfalls eine Wellenbeweg— 
ung, wenn auch eine geringere, entſtehen. 

Fängt das Boot an, abwärts mit dem 
Strome zu gehen, ſo werden, ſo lange 
ſeine Geſchwindigkeit eine geringere iſt als 
die des Fluſſes, die erregten Wellen ihm 
vorangehen; wird die Geſchwindigkeit des 
Bootes gleich der des Fluſſes, ſo wird es 
ruhig hinabgleiten und jede Wellenbewegung 
aufhören; wird endlich die Geſchwindigkeit 
des Bootes größer als die des Fluſſes, 
ſo wird ſich wieder hinter ihm eine Welle 
ausbilden, wenn auch eine geringere, als 
beim Aufwärtsſteuern des Bootes. Fährt 
das Boot quer über den Fluß, ſo werden 
die erregten Wellen von der Strömung 
abwärts getrieben und nehmen eine krumm— 
linige Form an. 

Alle dieſe Fälle wiederholen ſich bei 
den Kometen. Kämpft der Komet gegen 
den Strom des Weltäthers an, ſo bildet 
ſich hinter ihm ein großer und langer 
Schweif aus. Bewegt ſich der Komet in 
derſelben Richtung wie der Weltäther, iſt 
aber ſeine Geſchwindigkeit eine ſehr geringe, 
ſo kann der Schweif ihm vorangehen; iſt 
ſeine Geſchwindigkeit gleich der des Welt— 
äthers, ſo kann er ohne Schweif erſcheinen; 
wird ſeine Geſchwindigkeit größer, als die 
des Weltäthers, ſo bildet ſich hinter ihm 
wieder ein Schweif aus, wenn auch ein 
geringerer als bei den retrograden Kometen. 


Durchſchneidet der Komet die Strömung 
des Weltäthers, ſo werden die von ihm er— 
regten Wellen abgelenkt und er zeigt uns die 
Erſcheinung eines krummlinigen Schweifes. 

Dabei iſt nicht zu vergeſſen, daß der 
Anblick, welchen ein Komet uns bietet, 
auch von dem Standpunkte des Beſchauers 
auf der Erde abhängig iſt. Bewegt ſich 
der Komet auf die Erde zu oder von ihr 
hinweg, ſo kann der Schweif nicht ſichtbar 
werden oder nur als ein den Kometen 
umgebender Nebel erſcheinen. Am ſtärkſten 
wird ſich die Erſcheinung des Schweifes 
nur dann ausbilden, wenn die Bewegung 
des Kometen eine ſeitwärts gerichtete iſt 
und am allerſtärkſten bei den retrograden 
Kometen, bei welchen die Bewegung gegen 
den Strom des Weltäthers gerichtet iſt. 

Durch die Theorie des Herrn Schwe— 
doff erklären ſich alſo nicht allein alle 
denkbaren Formen der Kometenſchweife, 
ſondern auch, weil die Kometenſchweife nur 
Aetherwellen ſind, ihre Durchſichtigkeit, 
welche das Licht der Sterne faſt ungeſchwächt 
hindurchſcheinen läßt, ihre Beweglichkeit und 
die überraſchende Geſchwindigkeit, mit der 
ſie ſich entwickeln und ihre Form verändern. 
Die neue Theorie bezeichnet daher eine neue 
Phaſe in der Entwickelung der Aſtronomie. 


Zu den Kreisbahnen, in welchen die Alten 
Sonne, Mond und Sterne um die Erde 


herumlaufen ließen und den complicirten 
Epicyklen des ptolemäiſchen Syſtems, nach 
Kopernikus, der die Sonne in den 
Mittelpunkt des Planetenſyſtems verſetzte, 
und Kepler, der die Form der Planeten— 
bahnen beſtimmte, nach Newton, der in 
der Schwere die allgemeine Urſache der 
Gravitation erkannte, tritt die neue Lehre 
Schwedoff's hinzu, um den leeren Welt— 
raum zu füllen und die letzten Irrthümer 
der Aſtronomie zu beſeitigen. 


Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


305 


Mit dieſer Anerkennung ſchwindet die 
grauſige Leere, welche bis jetzt zwiſchen 
den Weltkörpern herrſchte, es ſchwindet die 
unbegreifliche, unvermittelt in die Ferne 
wirkende Anziehungskraft, da der 
continuirliche Weltäther von nun an die 
materielle Vermittelung der Gravitation 
übernimmt; mit der kosmiſchen Anziehungs— 
kraft ſchwinden die Molekularkräfte, 
die nur ein Strohhalm ſind, nach dem die 
in der Fluth ihrer Beobachtungen verfinfen- 
den Naturforſcher greifen, um damit die 
unbekannten Urſachen unerklär—⸗ 
ter Erſcheinungen zu bezeichnen; es 
ſchwinden die immateriellen Imponde— 
rabilien, dieſe Ausgeburten einer krank— 
haften Phantaſie; es ſchwinden endlich die 
Atome und Moleküle, denen man 
immer das erſt andichten muß, was man 
mit ihrer Hülfe beweiſen will, wie z. B. 
Clauſius, der in ſeiner Gastheorie die 
Atome ſo klein und die leeren Zwiſchen— 
räume ſo groß vorausſetzt, daß man ſich 
verwundert fragt, wie es wohl möglich iſt, 
daß wir die Wirkung der Gaſe ſpüren 
und von den großen, die Atome trennen— 
den Räumen nichts merken. 

Von allen oben erwähnten Irrthümern 
werden die Atome und Moleküle ſich bei 
den Chemikern am längſten erhalten. 

Obgleich die aus paarweiſe zuſammen⸗ 
gekoppelten Atomen beſtehenden Moleküle 
der einfachen Gaſe wie zwei Fliegen, die 
ſich begatten, im leeren Raume herumirren 
ſollen, obgleich die Kohlenſtoffverbindungen 
an Bienenſchwärme erinnern, in welchen 
der Kohlenſtoff die Stelle der Königin ver— 
tritt, und die gegenwärtig allgemein be— 
liebte Struktur- oder Kettentheorie nur 
eine Kette von Unwahrſcheinlichkeiten iſt, 
ſo haben ſich doch bis jetzt die Chemiker 
bei ihren im Allgemeinen mangelhaften 


— 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


39 


306 


mathematiſchen Kenntniſſen den neueren 
mechaniſchen Anſchauungen ſehr wenig zu— 
gänglich gezeigt. Zwar habe ich vor einigen 
Jahren in meinen „rationellen Formeln 
der Chemie“ die drei einfachen Sätze auf— 
geſtellt: 

1) daß alle Eigenſchaften der Körper 
auf ihren inneren Bewegungen beruhen; 


2) daß eine chemiſche Verbindung nur 


eine Vereinigung der inneren Bewegungen 
zweier Körper iſt; 
3) daß die chemiſchen Aequivalentgewichte 


mechaniſche Aequivalente und daher genau 


beſtimmt ſind. 
Jedoch ſcheinen die Chemiker bis jetzt 
nicht recht begriffen zu haben, welche ſichere 


Baſis ich für die theoretiſche Entwidel- 
habe, 


ung ihrer Wiſſenſchaft geſchaffen 
und fahren nach wie vor damit fort, ihre 
Strukturformeln zu entwickeln, die völlig 
zwecklos ſind, weil die Chemie nie zu einem 
endgültigen Reſultate gelangen wird, fo 
lange ſie von einer dogmatiſch atomiſtiſchen 
Grundlage ausgeht. Wenn ſich auch ab 
und zu ein Chemiker findet, der ſich den 
mechaniſchen Anſchauungen günſtig erweiſt, 
wie z. B. Kekulé, der in feiner Recto— 
ratsrede über „die wiſſenſchaftlichen Ziele 
und Leiſtungen der Chemie“ ſich ſogar, trotz 
ſeines Benzolringes, zu dem Satze erhebt, 
„daß die in der Zeiteinheit ausgeführte 
Anzahl von Schwingungen den chemiſchen 
Werth der Elemente darſtellt,“ ein Satz, 
der meinen Anſichten ſo nahe kommt, daß 
ich im Zweifel darüber bin, ob derſelbe 
nicht meinen „Rationellen Formeln,“ ohne 
Quellenangabe, wenigſtens dem Sinne nach 
entnommen iſt, ſo findet ſich ſofort ein anderer 
Chemiker, wie Kolbe, der ſogar nicht weiß, 
was eine Mechanik der Atome bedeutet („Kri— 
tik der Rectoratsrede von Aug. Kekulé. 
Separatabdruck S. 5) und ſich doch gegen— 


ͤ—— . — —⅜ MfN— 


Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 


über Kekulé zum Sprachlehrer aufwirft. 
Um jedoch meinerſeits nichts zu verſäumen, 
was dazu beitragen kann, unter den Che— 
mikern die mechaniſchen Anſchauungen zu 
verbreiten und um Herrn Kolbe auf ſeine 
Frage: Was heißt Mechanik der Atome? 
die Antwort nicht ebenſo ſchuldig zu bleiben, 
wie die Aſtronomen und Herr Zöllner 
mich auf meine Frage: Wie iſt eine An— 
ziehungskraft möglich? ohne Antwort gelaſ— 
ſen haben, ſo will ich ihm mittheilen, daß 


man unter einer Mechanik der Atome den 


erfolgreichen Verſuch verſteht, alle Natur— 
erſcheinungen durch Bewegung zu erklären. 
So erſcheint Alles in der Natur eng mit 
einander verbunden zu ſein; von den Ko— 
metenſchweifen wird man zu den chemiſchen 
Formeln geführt. Daher hoffe ich auch, daß 
die neue Theorie des Herrn Schwedoff 
mächtig dazu beitragen wird, den morſchen 
Bau der gegenwärtig noch in den Lehrbüchern 
der Phyſik und Chemie herrſchenden Natur- 
theorie zu ſtürzen und die Atome und 
Moleküle, die Imponderabilieu 
und Molekularkräfte, die ein aufrich— 
tiger Naturforſcher weder ausſprechen, noch 
niederſchreiben dürfte, dahin zu verweiſen, 
wohin ſie gehören, in den Abgrund der 
Vergeſſenheit, um ſie durch die alleinige 
Urſache aller Naturerſcheinungen zu er— 
ſetzen, durch — Bewegung.“) 


) Theilen wir auch nicht ganz die Entrüft- 
ung des bekannten Mathematikers, und glauben 
wir, daß noch einige Zeit verfließen wird, bevor 
man ſich mit Fug und Recht von allen Dogmen 
abwendet, ſo nehmen wir doch Antheil an 
der im Ganzen nicht unrichtigen Tendenz des 
Forſchers: Alle Erſcheinungen nur als Bewe— 
gungserſcheinungen aufzufaſſen und 
die phyſikaliſchen und chemiſchen Atome als 
Complexe von Bewegungsformen zu denken. 

Anm. der Red. 


2 


Ueber die Verbreitung des Bewuhtſeins 
in der organilchen Aubſtanz. 


Von 


Dr. S. Kühne. 


N 2 9 01 gewiſſer phyſtlagſcer 
N Vorgänge dem Protoplasma 
Gedächtniß zuzuſprechen geneigt iſt, jedenfalls 
deshalb, weil die Verſuche, auf andere Weiſe 
Licht in dieſelben zu bringen, reſultatlos 
geblieben ſind. Trotzdem ſehen wir, daß 
die meiſten exakten Phyſiologen ſich durch— 
aus ablehnend gegen jede Hypotheſe ver— 
halten, die auch nur die ſchüchternſten An— 
ſtrengungen macht, die Annahme des aus— 
ſchließlichen Sitzes der Seelenerſcheinungen 
in den Hemiſphären des großen Gehirnes 
zu erſchüttern. Manche von ihnen gehen ſo— 
gar ſo weit, daß ſie in ihren Lehrbüchern 
die ſeeliſchen Funktionen überhaupt nicht 
abhandeln, weil ſie aller phyſiologiſchen 
Analyſe bis jetzt getrotzt haben, und nur 
ein Gebiet für naturwiſſenſchaftlich unbe— 
gründete Hypotheſen ſein ſollen. Ein gleicher 
Verzicht wird von Dubois-Reymond 
ausgeſprochen, wenn er die Empfindung 
als etwas für immer Unerklärliches hinſtellt, 
obgleich man eigentlich nicht recht einfehen 


kann, warum er gerade fie als Grenze 
des Naturerkennens gewählt hat, von der 
doch Jeder genau aus Erfahrung weiß, 
was er darunter zu verſtehen hat, während 
alle übrigen Naturkräfte in ihrem Weſen 
mindeſtens ebenſo undefinirbar ſind. Unter 
dieſen Umſtänden wird der Verſuch gerecht— 
fertigt erſcheinen, auf Thatſachen geſtützt, 
zur Klärung dieſer Frage die genetiſche 
Methode anzuwenden, die ſchon ſo oft 
half, wo andere im Stiche ließen. 

Wenn man dem Protoplasma Ge— 
dächtniß zuſchreibt, um gewiſſe zweckmäßige 
complicirte Bewegungen zu erklären, die 
vererbt find und ſcheinbar unbewußt aus- 
geführt werden, ſo überſieht man dabei, 
daß mit ihm allein wenig oder nichts an— 
zufangen iſt, denn mit der Erinnerung an 
Vergangenes iſt noch nichts geſchehen; 
zur Ausführung einer Handlung gehören 
unbedingt noch andere pſychiſche Thätigkeiten. 
Hier kann nur dann bahnbrechend gewirkt 
werden, wenn es uns gelingt, die Hypotheſe 
des ausſchließlichen Sitzes des Bewußtſeins 
im großen Gehirn als unhaltbar nachzuweiſen. 
Wie weit ſich die Empfindung in der 


308 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. 


Natur nach abwärts erſtreckt, darüber gehen 
die Anſichten weit auseinander, dagegen 
wird ihr Vorhandenſein in den niedrigſten 
thieriſchen Organismen übereinſtimmend an— 
erkannt. Man kann hier auf ihre Gegen— 
wart nur durch eintretende oft zweckmäßige 
Bewegungen ſchließen, welche auf eine innere 
oder äußere Veränderung, die wir Reiz 
nennen, folgen; ſie bildet alſo ein Mittel— 
glied zwiſchen letzteren und der Bewegung. 
Viele Beobachtungen deuten darauf hin, 
daß Empfindung in derſelben Weiſe in Be— 
wegung umgeſetzt wird, wie es mit Wärme, 
Electricität ꝛc. der Fall iſt. 

Menſch und Thier machen ihrer Freude 
und ihrem Schmerze durch lebhafte Beweg— 
ungen Luft, mit merklichem Nachlaſſe der 
erregenden Empfindung. Ein von Angſt 
Gequälter erleichtert ſich durch beſtändiges 
Wechſeln ſeiner Lage, ja es iſt nicht ſelten, 
daß Melancholiker nur dann von ihrer 
Seelenqual befreit werden, wenn ſie irgend 
eine Gewaltthat begehen, mit welcher dann 
vollſtändige Beruhigung eintritt. Die ra— 
ſendſte Wuth tobt ſich in energiſchen Be— 
wegungen aus. Wir ſehen aus dieſen 
Beiſpielen, daß Empfindung mit dem Ein— 
tritte von Bewegung verſchwindet, oder ge— 
mindert wird, nachdem ſie ihrerſeits aus 
Bewegungsveränderungen entſtanden war, 
daß alſo beide in gegenſeitiger cauſaler Be— 
ziehung zu einander ſtehen. Die aus der 
Empfindung entſtandene Bewegung nennen 
die Phyſiologen eine Reflexbewegung. 

Was nun das Verhältniß der Em— 
pfindung zum Bewußtſein anbetrifft, ſo 
werden folgende Betrachtungen daſſelbe 
klarſtellen. Wenn wir uns im denkbar 
ruhigſten wachen Zuſtande befinden, ohne 
daß heftigere äußere oder innere Reize 
auf uns einwirken, ſo bemerken wir den— 
noch eine Summe verſchiedenartiger Em— 


U 


pfindungen, die wir bei Ausſchluß einer 
beſonderen Aufmerkſamkeit, als ein Ganzes 
annehmen. Sobald wir aber unſere 
Aufmerkſamkeit ſcharf darauf richten, fin— 


den wir Lichtempfindungen, leiſe Geräuſche, 


ſchwache Geruchs- und Geſchmacksempfind— 
ungen, denen ſich eine große Menge von 
Taſt⸗, Temperatur- und Muskelgefühlen 
anſchließen. Ganz paſſend kann man des— 


halb das Bewußtſein mit einem Waſſer— 


falle vergleichen, der in einer großen zu— 
ſammenhängenden Maſſe herabfällt, bei 
blitzdhchnell vorübergehender Beleuchtung 
aber ſeine Zuſammenſetzung aus Tropfen 
zu erkennen giebt. Könnten wir ein Ge— 
fühl nach dem anderen ausſchließen, ſo 


würde das Bewußtſein immer inhaltsleerer 
werden, ein Vorgang, den wir in der Na— 


tur treffen, wenn wir auf der Stufenleiter 
der Organismen nach abwärts ſteigen. 
Steigern ſich andererſeits durch mächtiger 
einwirkende Reize die Empfindungen, jo 
erſcheint auch das Bewußtſein entſprechend 
modificirt. Beide ſind alſo nur 
quantitativ von einander ver⸗ 
ſchieden. Stellen wir uns ein Weſen 
mit einfacher Empfindung vor, ſo iſt in 
ihm die letztere mit dem Bewußtſein identiſch. 

Die bisher angenommene Hppotheſe 
eines einzigen Bewußtſeins mit dem Sitz in 
den Großhirnhemiſphären ſtützt ſich darauf, 
daß man bei Thieren und Menſchen, denen 
die betreffenden Hirntheile entfernt oder 
auf andere Weiſe außer Function geſetzt 
waren, Erſcheinungen beobachtete, die man 
mit poſitiver Sicherheit mit Bewußtloſig— 
keit verknüpfen zu müſſen glaubte. Es iſt 
deshalb zunächſt nothwendig zu unterſuchen, 
worauf man bis jetzt die Diagnoſe der 
Bewußtloſigkeit gegründet hat. Gewöhnlich 
ſchließt man beim Menſchen, wenn Simula— 
tion ausgeſchloſſen iſt, ohne Weiteres darauf, 


Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. 


wenn der Betreffende auf Fragen keine 


Reize keinen Schmerz äußert. 


Verändert 


309 


wehrende Bewegungen macht, ſpäter aber 
Autwort giebt, auch keine Zeichen macht, 
daß er nicht ſprechen kann und auf heftige 


ſich nun der Zuſtand, erfolgen richtige 


Antworten, und erklärt der Kranke, von 
der fraglichen Zeit nichts zu wiſſen, ſo 


unterliegt es ſcheinbar keinem Zweifel mehr, 
daß er bewußtlos geweſen iſt. Die Dia— 


gnoſe baſirt alſo erſtens auf dem Aus- 


bleiben von gewiſſen Bewegungen nach 
Sinnesempfindungen, und zweitens auf dem 
eignen Zeugniſſe des Kranken. 
nun aber thatſächlich feſtgeſtellt, daß es 
nicht allein krankhafte Zuſtände giebt, welche 


das Bewußtſein mehr oder weniger intakt 
laſſen, aber die zur Erkennung deſſelben 
geforderten Bewegungen ausſchließen, ſon- 


dern auch, daß die negative Ausſage des 
Kranken dadurch veranlaßt werden kann, 
daß er ſich einfach an die fragliche Zeit, 
in Folge temporären Ausbleibens der Fixir— 
ung der Vorſtellungen, nicht erinnert. Daß 
letztere Annahme nicht in der Luft ſchwebt, 
beweiſen folgende Beobachtungen. Bei 
manchen ſchweren Erkrankungen, wie z. B. 
der Cholera, iſt nicht ſelten bemerkt worden, 
daß der Kranke auf der Höhe der Krankheit 
ganz richtige Antworten giebt und über— 
haupt den Eindruck eines vollkommen be— 
wußten Menſchen macht, nach eingetretener 
Reconvalescenz aber behauptet, ſich durch— 
aus an nichts zu erinnern, was mit ihm 
in der betreffenden Periode vor ſich gegangen 
iſt, und daß er in Folge deſſen bewußtlos 
geweſen zu ſein glaubt. Das Unſichere 
der obigen Beweisführung kann danach 
keinem Zweifel unterliegen und wir werden 
deshalb die Möglichkeit der abſolut ſicheren 
Feſtſtellung der Bewußtloſigkeit bezweifeln 
müſſen. 
rend der Operation heftig ſchreit und ab— 


Es iſt 


Wenn ein Chloroformirter wäh- 


behauptet, keinen Schmerz empfunden zu 
haben, ſo iſt damit keineswegs ſicher be— 
wieſen, daß er wirklich bewußtlos geweſen 
ſei. Das Ungeeignete einer ſolchen Annahme 
tritt recht frappant bei der Betrachtung 
eines Seelenzuſtandes zu Tage, welchen 


man doppeltes oder alternirendes Bewußt— 


ſein zu nennen pflegt. Es wechſeln hier 
gewöhnlich ein in der Entwickelung rück— 
ſtändiger und der normale Geiſteszuſtand 
mit einander ab, wobei ſich die Erinnerung 
nur auf die vorhergegangenen gleichwerthi— 
gen Perioden erſtreckt, während der Kranke 


überhaupt von dem Vorhandenſein dieſes 


doppelten Zuſtandes keine Ahnung hat, in 
welcher Periode er ſich auch befinden mag. 
Sofort mit dem Eintritte des Wechſels 


erinnert er ſich nicht mehr an den eben 


verlaſſenen Zuſtand und ebenſowenig an 
die mit dieſem gleichwerthigen. Läßt man 
hier die Ausſage des Kranken gelten, ſo 
muß man ihn conſequenterweiſe für per- 


manent bewußtlos erklären, weil er ſich in 


keiner der beiden Perioden an die andere 
erinnert, und doch können wir uns mit 
ihm jederzeit frei unterhalten. 

Auf ähnliche Ungereimtheiten ſtoßen 
wir bei der bisherigen Beurtheilung der 
wiſſenſchaftlich conſtatirten Fälle von Som— 
nambulismus, der bekanntlich darin beſteht, 
daß Jemand in angeblich bewußtloſem Zu— 
ſtande eine mehr oder weniger lange Reihe 
von höchſt complicirten uud zweckmäßigen 
Bewegungen ausführt, reſp. Geiſtesarbeit 
verrichtet. Nehmen wir als Beiſpiel jenen 
Schüler, welcher im ſomnambulen Zuſtande 
ſeine Schularbeiten regelmäßig viel beſſer 
machte, als in ſeinem gewöhnlichen, ſo muß 
man wirklich ſtaunen, daß man bis jetzt 
keinen Anſtand genommen hat, derartige 
volle pſychiſche Arbeit für bewußtlos aus— 


8 


geführt zu halten, während doch die An— 
nahme der ausgefallenen Fixirung der 
Vorſtellungen während des Anfalls eine 
viel ungezwungenere Erklärung bietet. Der 
ſomnambule Zuſtand charakteriſirt ſich da— 
nach durch eine nach einer beſtimmten Richt— 
ung hin ſcharf concentrirte pſychiſche Thä— 
tigkeit, wobei ſtörende Nebenvorſtellungen 
vollſtändig ausgeſchloſſen bleiben, die zur 
Erinnerung nothwendige Fixirung der erſte— 
ren aber nicht ſtattfindet. So erklärt es 
ſich leicht, daß der Nachtwandler auf ſeinen 
gefährlichen Wegen keine Furcht und keinen 
Schwindel kennt und deshalb mit einer 
Sicherheit ſich bewegt, die er im normalen 
Zuſtande nicht beſitzen würde. Auch ge— 
wiſſe epileptoide Zuſtände gehören hierher. 
So verliert, um ein bekanntes Beiſpiel zu 
wählen, ein Architekt in einem Neubau 
plötzlich ſcheinbar das Bewußtſein, fährt 
aber fort, ſich ganz zweckmäßig auf Leitern 
und Balken zu bewegen, ohne einen Fehl— 
tritt zu thun. Die Annahme des Aus— 
falles der Erinnerung bietet auch hier die 
befriedigendſte Erklärung. 

Iſt nun aber eine abſolut ſichere Dia— 
gnoſe der Bewußtloſigkeit, wie wir oben 
gezeigt haben, ſelbſt auf dem unbeſtrittenen 
Gebiete des Großhirnbewußtſeins nicht mög— 
lich, ſo dürfte es den Anhängern der aus— 
ſchließlichen Annahme des letzteren noch 
ſchwerer werden, den Beweis für das 
Nichtvorhandenſein des Bewußtſeins in den 
älteren Theilen des Nervenſyſtems zu führen. 

Der Nachweis des Großhirnbewußt— 


ſeins ſtützt ſich einzig auf zweckmäßig aus- 
geführte Bewegungen, welche auf Empfind— | 
ungen folgen, wir können deshalb die 


Beweiskräftigkeit ſolcher Reflexbewegungen 


auch für die niedriger differenzirten Nerven- 


gebiete in Anſpruch nehmen. 
Hier ſtoßen wir nun ſofort auf ener— 


310 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. 


giſchen Widerſpruch von Seiten der meiſten 
exacten Phyſiologen, welche den Schluß von 
zweckmäßigen Bewegungen auf Bewußtſein 
nicht anerkennen und zwar deswegen nicht, 
weil zufällige Verwundungen an Menſchen 
gezeigt haben ſollen, daß zweckmäßige Be— 
wegungen ſelbſt noch in Körpertheilen 
eintreten, die jeder Empfindung entbehren. 
So verliert ein Menſch, deſſen Rücken— 
mark unterhalb des Abganges der Re— 
ſpirationsnerven durchſchnitten iſt, zwar 
augenblicklich das Gefühl und die will— 
kührliche Bewegung in allen abwärts von 
der Wunde liegenden Körpertheilen, zieht 
aber bei einem leiſen Kitzel der Fußſohle 
dennoch das betreffende Bein ganz zweck— 
mäßig zurück, ohne ſich deſſen in ſeinem 
Gehirn im geringſten bewußt zu werden. 
Damit, glaubt man nun, iſt der unumſtöß— 
lichen Beweis geliefert, daß zweckmäßige 
Bewegung auch ohne Bewußtſein geleiſtet 
werden kann, und erklärt das Ganze für 
einen unbewußten Reflexvorgang, wobei 
man freilich die allgemein angenommene 
Definition der Reflexbewegung zu vergeſſen 
ſcheint, die beſagt, daß letztere eine aus 
Empfindung umgeſetzte Bewegung iſt. Weil 
man ſich aber Empfindung ohne Bewußt— 
ſein nicht denken kann, ſo ſtoßen wir hier 
auf einen argen Widerſpruch. Aus dieſer 
Beobachtung kann nur gefolgert werden, 
daß auch in den Rückenmarkscentren be— 
wußte pſychiſche Thätigkeit herrſcht, die aber 


im großen Gehirne nicht empfunden wird. 
Ehe wir nun zur Feſtſtellung des Ver— 
hältniſſes des Großhirnbewußtſeins zu dem 
der niedriger differenzirten Theile des Ner— 
venſyſtems übergehen, führen wir noch kurz 
einige einſchlägige Experimente an Thieren 
an, welche geeignet ſind unſere Streitfrage 
näher zu beleuchten. Entfernt man durch 
eine Operation die Großhirnhemiſphären 


Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organischen Subſtanz. 311 


eines Froſches, ſo verliert derſelbe dadurch 
nur die Fähigkeit von hier aus Bewegungen 
zu veranlaſſen oder zu hemmen, er iſt aber 
im Stande, alle ſonſt möglichen zweckmäßi— 
gen Bewegungen auszuführen, wenn die 
fehlende Anregung durch den Gehirnwillen 
auf andere Weiſe erſetzt wird. Sticht man 
einem derart enthirnten Froſch mit einer 
Nadel in den Rücken, ſo macht er einen 
Satz nach vorwärts, unter Vermeidung ihm 
in den Weg gelegter Hinderniſſe, zeigt da— 
durch alſo, daß ſogar, trotz des Mangels 
der Großhirnhemiſphären, ſein Sehvermögen 
noch erhalten iſt. Ohne äußeren Anreiz 
ſitzt er aber in natürlicher Stellung reg— 
ungslos da und verhungert, ſelbſt wenn 
er von Fliegen umringt iſt. Bringt man 
ihm dieſelben aber in den Schlund, ſo ver— 
ſchluckt er ſie ganz regelrecht, ſodaß man 
ihn auf dieſe Weiſe monatelang am Leben 
erhalten kann. Schneidet man ihm den 
ganzen Kopf ab, ſo bleibt er immer noch 
in ſeiner natürlichen Stellung und wird, 
wenn man ihm eine ätzende Flüſſigkeit an 
das Vorderbein bringt, dieſelbe mit dem 
Hinterbeine derſelben Seite abzuwiſchen 
ſuchen. Schneidet man ihm auch dieſes ab, 
ſo verſucht er denſelben Zweck mit dem 
Stumpfe zu erreichen und führt ſpäter, da 
dies nicht gelingen kann, andere complicirte 
Bewegungen aus, um die ätzende Flüſſig— 
keit zu entfernen. Jeder unbefangene Laie 
wird beim Anblicke ſolcher zweckmäßig aus— 
geführten Bewegungen nicht einen Augen— 
blick an der Bewußtheit derſelben zweifeln, 
der exacte Phyſiologe dagegen erklärt ſie 
einfach für rein automatiſche, unbewußte 
Reflexbewegungen, um die alte ſo lieb ge— 
wordene Bewußtſeinshypotheſe nicht auf— 
geben zu müſſen. Was es aber mit dieſen 
unbewußten Reflexbewegungen auf ſich hat, 
glauben wir oben gezeigt zu haben. 


Eine gleichmäßige Vertheilung des Be- 
wußtſeins kann man nur in einem Thiere 
annehmen, in welchem noch keine Arbeits— 
theilung des Empfindungsorganes ſtattge— 
funden hat; hier muß, bei Abweſenheit 
jeder Centraliſation, ein mit der Empfind⸗ 
ung noch identiſches Bewußtſeins in gleicher 
Stärke über das ganze Weſen vertheilt ſein. 
Differenzirt ſich aber die Empfindung, ſo 
wird fie ſich einerſeits anhäufen, anderer 
ſeits vermindern, ohne indeſſen in andere 
Arbeit verrichtenden Theilen vollſtändig 
zu verſchwinden. Nur wenn man annehmen 
wollte, daß eine vollendete Differenzirung 
ſtattfände und ſich die ganze Empfindung 
vollſtändig in der Centralſtelle anhäufte, 
könnte die Hypotheſe des ausſchließlichen 
Bewußtſeinsſitzes im Hirn aufrecht erhalten 
werden. Etwas Aehnliches iſt aber nir— 
gends nachgewieſen. So vollkommen unſer 
Verdauungskanal auch feine Funktion aus— 
übt, ſo iſt dem Protoplasma anderer Kör— 
pertheile dennoch die Verdauungskraft nicht 
vollſtändig abzuſprechen. Ein unter die 
Haut oder in die Lungen eines höheren 
Thieres gebrachtes Stück Knochenhaut oder 
Muskel wird ſchließlich ſo vollſtändig von 
den umgebenden Zellen zerſetzt und auf— 
genommen, daß man ſpäter auch keine Spur 
davon mehr nachweiſen kann; ja es giebt 
ſogar einen beſonders an Knochen beobach— 
teten krankhaften Zuſtand, der dadurch 
charakteriſirt iſt, daß gewiſſe Zellen die 
Verdauungskraft in ſo hohem Grade zeigen, 
daß ſie ihre Nachbarn geradezu verzehren. 
Das höchſt differenzirte Bewegungsorgan, 
die Muskelzelle, führt zwar ſeine Funktion 
am vollkommenſten aus, das weiße Blut⸗ 
körperchen bringt aber ſeine amoeboiden 
Bewegungen auch noch zu Stande. Wir 
haben deshalb durchaus keinen Grund an— 
zunehmen, daß gerade die Nerven in dieſem 


| 312 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. | 


l 


Punkte eine Ausnahme machen ſollten, 
wie denn überhaupt eine vollendete Diffe— 
renzirung kaum denkbar iſt. Freilich wird, 
dem Sparſamkeitsgeſetze der Natur ent- 
ſprechend, dem niedriger differenzirten Theile 
immer nur ſo viel Empfindung bleiben, 
als zur Ausübung ſeiner Funktion unbe— 
dingt nöthig iſt, während der größere Theil 
in die neue Centralſtelle übergeht. Wir 
werden deshalb das hellſte Bewußtſein 
immer in dem zuletzt entſtandenen Abſchnitte 
des Nervenſyſtems vorausſetzen dürfen, 
ohne dadurch berechtigt zu ſein, eine voll— 
ſtändige Bewußtloſigkeit der älteren anzu— 
nehmen. Je höher ſich nun die Empfind- 
ung durch die allmälige Entſtehung der 
Sinnesorgane entfaltet, deſto complicirter 
muß die pſychiſche Thätigkeit werden, die 
überall in mehr oder weniger zweckmäßigen 
Reflexbewegungen ihren Ausdruck findet. 
Der Uebergang zur nächſt höheren Stufe 
findet ſelbſtredend immer ſehr allmälig 
und continuirlich ſtatt; wir finden deshalb 
beiſpielsweiſe das Rückenmark eines Thieres 
deſto größer, je weniger die Entwickelung 
des Gehirns bei ihm fortgeſchritten iſt, 
und in Folge deſſen daſſelbe um ſo fähiger, 
auch ohne Hirnbewußtſein mit ſeinem eignen 
Bewußtſein dem Organismus zu dienen, 
wenn günſtige Umſtände dies geſtatten. 
Wenn wir nun ſchließlich einen Ver— 
gleich anſtellen zwiſchen den Leiſtungen un— 
ſeres in den Großhirnhemiſphären reſidi— 
renden Intellekts, als höchſter bis jetzt 
erreichter Entwickelungsſtufe des Nerven— 
ſyſtems, und denjenigen des Rückenmarks 
und Mittelhirns, ſo muß uns die große 
Sicherheit auffallen, mit welcher letztere 
funktioniren und wie wenig Anregung ſie 
nöthig haben, um die complicirteſten und 
zweckmäßigſten Bewegungen auszuführen, 


Zuſtande kaum zur Beobachtung kommen. 


Dabei geht die Vererbung dieſer Eigen— 


| haften ſehr leicht vor ſich, wie alle ange— 


borenen Bewegungen, die vom Großhirn— 
bewußtſein unabhängig vor ſich gehen, 


beweiſen. Wir ſehen hier einen mit wenigen 
Mitteln ſehr vollkommen arbeitenden Mecha— 


nismus, der ſeine Sache ſo gut verſteht, 
daß er die von ihm verlangten Leiſtungen 
ſozuſagen im Schlafe ausführen kann. 
Betrachten wir dagegen das jüngſte 
Erzeugniß der Differenzirung unſeres Ner— 


venſyſtems, das pſychiſche Organ im großen 
Gehirn, ſo bietet ſich uns ein weſentlich 


anderes Bild dar. Trotz des ungeheuren 


Vortheils, welchen der Menſch durch ſeinen 


Intellekt im Kampfe ums Daſein bekommen 
hat, läßt ſich nicht verkennen, daß die Thä— 
tigkeit deſſelben noch keineswegs eine hohe 
Stufe der Vollkommenheit erreicht hat. Auf 
keinem Gebiete des thieriſchen Lebens iſt 
Zweckmäßiges noch mit ſoviel Unzweck— 
mäßigem gemiſcht und deshalb der Ausleſe 
ein ſo reiches Feld geboten, als hier. Das 
Kind führt die complicirteſten Bewegungen 
gleich nach der Geburt, unabhängig vom 
Großhirnbewußtſein, mit voller Sicherheit 
aus, es ſaugt und ſchreit ganz vollkommen 
und lernt nach und nach ohne die geringſte 
Anleitung gehen. Wie ſchwierig wird es 
ihm dagegen intellektuelle Arbeit zu liefern! 
Die dauernde Fixation der Vorſtellungen, 


auf welcher das Gedächtniß beruht, geht 


meiſt nur nach häufiger Wiederholung der 


Eindrücke vor ſich und verwiſcht ſich leicht, 
wenn letztere nicht aufgefriſcht werden. 


Das 
willkührliche Hervorrufen von auf dieſe 
Weiſe erworbenen Vorſtellungen geht oft 
äußerſt zögernd von Statten, während 
nichtgewünſchte ſich unwillkührlich vordrän— 
gen. Daß ſich eine Vererbung des müh— 


während Unzweckmäßigkeiten im normalen ſam errungenen intellektuellen Materials 


vorbereitet, wird kaum angedeutet durch 
die mehr oder weniger große Leichtigkeit, 
mit welcher verſchiedene Menſchen geiſtige 
Aufgaben löſen; es kommt nur höchſt ſelten 
vor, daß man dabei die Empfindung hat, 
als träfe man auf Bekanntes und als leiſtete 
ſich in Folge deſſen die Arbeit ganz von ſelbſt. 

Die pfychiſche Thätigkeit des großen 
Gehirns macht im Allgemeinen den Ein— 
druck von etwas in der Bildung Begriffe— 
nem und Unfertigem, aus welchem das zur 
Vererbung Geeignete ganz allmälig abge— 
ſetzt wird, womit es unter Abnahme der 
Bewußtſeinsintenſität aus der Sphäre des 
Hirnbewußtſeins ſchwindet. Der Umſtand, 
daß die pfychiſche Thätigkeit des ganzen 
Nervenſyſtems nicht in allen ſeinen einzel— 
nen Theilen gefühlt wird, erklärt ſich leicht 
aus der Nutzloſigkeit, ja Schädlichkeit einer 
ſolchen Einrichtung, welche die Menge 
ſtörender Nebenvorſtellungen nur vermehren 
würde. Vielleicht ſind gewiſſe Geiſtes— 
krankheiten auf eine Störung dieſes nor— 
malen Verhältniſſes zurückzuführen. 

Faſſen wir nun ſchließlich die Haupt— 
punkte unſerer auf Thatſachen geſtützten und 
mit keinem Geſetze der Entwickelungslehre 
in Widerſpruch ſtehenden Theorie des Bewußt— 
ſeins zuſammen, ſo ergiebt ſich Folgendes: 

1. Empfindung und Bewegung ſind 
Eigenſchaften eines jeden thieriſchen Orga— 
nismus. 

2. Empfindung ſteht in demſelben Ver— 
hältniſſe zur Bewegung, wie Wärme, 
Elektricität, Magnetismus x. 

3. Das Weſen der Empfindung iſt 
uns durch die Selbſtbeobachtung näher ge— 
rückt, als das der anderen Naturkräfte. 


Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. 313 


4. Empfindung und Bewußtſein ſind 
nur quantitativ und nicht qualitativ von 
einander verſchieden. 

5. Jede Reflexbewegung iſt aus der 
Empfindung entſtanden und kann deshalb 
nicht ohne Bewußtſein vor ſich gehen. 

6. Eine abſolut ſichere Feſtſtellung 
der Bewußtloſigkeit im lebenden thieriſchen 
Organismus iſt ſelbſt auf dem Gebiete 
des Hirnbewußtſeins unmöglich. 

7. In gleicher Intenſität vertheilt iſt 
das Bewußtſein nur da, wo eine Arbeits— 
theilung der Empfindung noch nicht ſtatt— 
gefunden hat. 

8. Nimmt man die ausſchließliche Lo— 
caliſirung des Bewußtſeins im großen Ge— 
hirn an, ſo verfällt man in den Artbegriff 
und giebt die Möglichkeit einer vollſtändig 
abgeſchloſſenen Differenzirung zu. 

9. Da es ſich in den älteren Theilen 
des Nervenſyſtems um eine vererbte, gut 
fixirte und gekonnte pſychiſche Thätigkeit 
handelt, welche mit dem automatiſchen 
Herſdgen einer in suecum et sanguinem 
übergegangenen Lektion zu vergleichen iſt, 
ſo erſcheint hier das durch die höhere 
Differenzirung ſtark abgeſchwächt zurückge— 
bliebene Bewußtſein vollkommen genügend 
und iſt nicht im Stande, ſtörend in die 
Thätigkeit des Hirnbewußtſeins einzugreifen. 
Letzteres findet vielleicht bei gewiſſen Geiſtes- 
krankheiten ſtatt, wo einzelne Pſychologen 
aus dem Ungrunde auftauchende Vorſtell— 
ungen annehmen zu müſſen glaubten, wäh- 
rend es ſich dabei wahrſcheinlich nur um 
eine krankhaft erhöhte, in das Hirnbewußt⸗ 
ſein einbrechende Thätigkeit der älteren 
Nervengebiete handelt. 


— —— 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


40 


Die Infehten als unbewußte Blumezüdter, 


Von 


Dr. Hermann Müller. 


e nach Ch. Darwin's Theorie 


und Pflanzenarten bedingt. Wir ſind uns, 


indem wir dieſe Ausdrücke gebrauchen, ſehr 


wohl bewußt, daß wir ſie nur in über— 
tragenem, bildlichem Sinne verſtehen dür— 
fen, daß in der Natur die unerbittliche 
Macht phyſikaliſcher Kräfte waltet, bei denen 


Bzüchtung nennen wir den- 
Js jenigen Cauſalnexus, welcher 


die Entſtehung neuer Thier 


5 


zu ſtetem Zurückgehen auf dieſelbe veran— 
laſſen. Sie erinnern uns, daß wir, indem 
wir die Selektionstheorie zur Erklärung 
von Erſcheinungen der organiſchen Natur 
anwenden, im Grunde weiter nichts thun, 
als denſelben urſächlichen Zuſammenhang, 
durch welchen ſich die von uns gezüchteten 


Thiere und Pflanzen unter unſeren Augen 


von Erkennen und Wollen, alſo auch von 


Ausleſen und Züchten eigentlich nicht die | 


Rede ſein kann; wir bezeichnen daher, wo 


es darauf ankommt, jede Möglichkeit einer 


Mißdeutung beſonders ſorgfältig zu ver— 


meiden, das Ergebniß deſſelben urſächlichen 
Zuſammenhanges auch als das Erhalten 
Trotzdem 
aber geben wir für gewöhnlich den Aus- 


bleiben des Paſſendſten. 


drücken Naturausleſe und Natur— 
züchtung den Vorzug, nicht allein wegen 
ihrer größeren Kürze, ſondern hauptſächlich 
deshalb, weil ſie uns die Quelle unſeres 


Verſtändniſſes der Entſtehung der Arten in | 
lebendigem Bewußtſein erhalten und uns 


* 


verändern und in neue Raſſen umwandeln, 


hypothetiſch auf die in freier Natur von 
jeher ſtattgehabten Veränderungen der or— 
ganiſchen Formen und ihre Umwandlung 
in neue Arten übertragen. 

Je vollſtändiger die Bedingungen der 
Naturzüchtung mit denen der künſtlichen 
Züchtung übereinſtimmen, um ſo vollſtän— 
diger muß die Uebereinſtimmung der Pro— 
dukte beider ſein, um ſo begründeter der 
Vergleich, um ſo eingehender und klarer 
die Vorſtellung, welche wir von den unſerer 
n irekten Beobachtung entzogenen Vorgängen 
gewinnen, denen die uns jetzt vorliegenden 
Thier- und Pflanzenarten ihr Daſein ver— 
danken. Wenn ſich daher zeigen läßt, daß 
die Naturzüchtung der Blumen weit enger 
als andere Naturzüchtungen mit den Zücht— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


ungen des Menſchen übereinſtimmt, ſo wird 
ſich von einem näheren Vergleiche beider 
auch ein eingehenderes Verſtändniß der Ent— 
ſtehung der Blumengeſtalten erwarten laſſen, 
als wir es im Allgemeinen von organiſchen 
Geſtalten zu gewinnen im Stande ſind. 
Im Allgemeinen ſtimmen die thatſäch— 


lich vom Menſchen ausgeübte Züchtung 


und die angenommene Naturzüchtung in 
folgenden Stücken überein: 1) Von Gene— 
ration zu Generation wird die Individuen— 
zahl jeder in Züchtung begriffenen Art 
vervielfältigt. 2) Von Generation zu Ge— 
neration differiren die gleichzeitigen Indi— 
viduen unter ſich. 3) Von Generation zu 
Generation bleiben nicht alle, auch nicht 
beliebige, ſondern nur nach beſtimmten 
Richtungen hin vor den übrigen ſich aus— 
zeichnende Individuen zur abermaligen Ber- 
vielfältigung erhalten. 4) Dieſe ſich ver— 
vielfältigenden Individuen vererben ihre 
Eigenthümlichkeiten und unter ihnen auch 
diejenigen Eigenſchaften, denen ſie ihr Er— 
haltenbleiben verdanken, auf ihre Nach— 
kommen. — In beiderlei Züchtungen findet 
daher eine langſame Summirung kleiner 
individueller Abweichungen, eine allmälige 
Steigerung gewiſſer Eigenthümlichkeiten nach 
derſelben Richtung hin ſtatt, ſo lange die 
Umſtände, welche über das Erhaltenbleiben 
dieſer oder jener Individuen entſcheiden, 
dieſelben bleiben. 

Man erkennt ſofort, daß in Bezug auf 
die Bedingungen der Vermehrung, der 
Variation und der Vererbung beiderlei 
Züchtungen völlig mit einander überein— 
ſtimmen, daß dagegen die Bedingungen, 
welche über das Erhaltenbleiben dieſer oder 
jener Individuen entſcheiden, im Allgemei— 
nen bei der Naturzüchtung ganz andere 
ſind, als bei derjenigen des Menſchen. 

' Denn dev Menſch wählt als empfindendes 


L f 


315 


und denkendes Weſen diejenigen Individuen 
zur Vervielfältigung aus, welche ihm am 
beſten gefallen oder ihm am nützlichſten 
ſind, und beſeitigt oder vernachläſſigt will— 
kürlich die übrigen. Sein Vortheil, ſeine 
Liebhaberei, ſein willkürliches Handeln ſind 
die über das Erhaltenbleiben und Verviel— 
fältigtwerden dieſer oder jener Individuen 
entſcheidenden Momente. Die Produkte ferner 
Züchtung werden daher im Laufe der Ge— 
nerationen mehr und mehr ſeinem Vor— 
theile oder ſeiner Liebhaberei entſprechend. 
Bei der Naturzüchtung dagegen kann im 
Allgemeinen von Auswahl nach Vortheil 
und Liebhaberei, überhaupt von willkür— 
lichem Handeln nicht die Rede ſein. In— 
dividuen, die, gegenüber der Concurrenz 
aller übrigen, ſich nicht zu ernähren, oder 
ſich nicht zu ſchützen, oder nicht zur Fort— 
pflanzung zu gelangen, oder ihre Nach— 
kommenſchaft nicht zu ſichern vermögen, 
gehen natürlich zu Grunde, ohne ſich zu 
vervielfältigen. Die es vermögen, bleiben 
erhalten und übertragen ihre Eigenſchaften 
auf eine Mehrzahl von Nachkommen. Die 
Produkte der Naturzüchtung werden daher 
im Laufe der Generationen mehr und mehr 
ernährungsfähig, geſchützt, zur Erlangung 
der Fortpflanzung und zur Sicherung ihrer 
Nachkommen geeignet. 

Bei der Naturzüchtung der Blumen 
aber ſind nicht nur die Bedingungen den 
Vermehrung, der Variation und der Ver— | 
erbungen ganz dieſelben, wie bei der fünft- |) 
lichen Züchtung, ſondern zum großen Theile 


auch die Entſcheidung über das Erhalten— 
bleiben dieſer oder jener Individuen. Denn 
wie die blumenzüchtenden Menſchen, ſo üben 
auch die blumenbeſuchenden Inſekten eine 
wirkliche Auswahl aus, welche über die 
Vervielfältigung gewiſſer und das Zugrunde 
gehen der übrigen Individuen entſcheidet. 


Müller, Die Inſekten als 


316 


Wie die blumenzüchtenden Menſchen, ſo 
laſſen ſich auch die blumenbeſuchenden In— 
ſekten in dieſer Auswahl theils durch ihre 
Liebhaberei, theils durch ihren Vortheil be— 
ſtimmen. In beiden Fällen werden daher 
die gezüchteten Produkte im Laufe der Ge— 
nerationen immer entſprechender der Lieb— 


haberei oder dem Vortheile der Auswählen— | 


den. Die Inſekten haben zwar bei ihrer 
Auswahl niemals die Abſicht, durch die— 
ſelbe eine ihren Wünſchen beſſer entſprechende 
Blumenraſſe zu züchten, aber das iſt ja 


auch bei den Menſchen, welche Thier- und 


Pflanzenzucht betreiben, abgeſehen von den 


planmäßigen Züchtern der Neuzeit, nicht 


der Fall. Beide ſuchen ſich eben nur in 
den Beſitz der ihnen am beſten gefallenden 


oder nützlichſten Individuen zu ſetzen. Beide 
bewirken aber, wenn fie auch nur aus die 


em Grunde ihre Auswahl treffen, dadur 
) 


doch, ohne es zu wiſſen und zu wollen, | 


daß allmälig ihren Neigungen und Bedürf— 
niſſen beſſer entſprechende Lebensformen zur 
Ausprägung gelangen; beide wirken alſo 
als unbewußte Züchter. 

Auch darin ſtimmen beide vollſtändig 
überein, daß nicht die von dem empfinden— 
den Weſen nach ſeinen Neigungen getroffene 


Auswahl allein über die Eigenſchaften des 


Züchtungsproduktes entſcheidet, ſondern daß 
davon unabhängig Naturzüchtung mitwirkt. 
Außer dem von den Menſchen ausgeübten 
Ausjäten des ihm nicht Paſſenden findet, 
wenigſtens bei der Cultur fremder Pflanzen, 
natürlich ein Zugrundegehen aller derjenigen 
Individuen ſtatt, welche den neuen Lebens— 
bedingungen (dem Klima, dem Boden, den 
feindlichen Thieren u. ſ. w.) gegenüber 
nicht hinreichend ausgerüſtet ſind, mithin 
eine Naturzüchtung der den neuen Lebens— 
bedingungen entſprechenden Abänderungen. 
Daſſelbe muß natürlich bei der Blumen— 


unbewußte Blumenzüchter. 


züchtung der Juſekten erfolgen. Außer 
denjenigen individuellen Blumeneigenthüm— 
lichkeiten, welche den Neigungen oder dem 
Vortheile dieſer Züchter entſprechen und 
deren Auswahl beſtimmen, müſſen durch 
Naturzüchtung auch ſolche zufällig auftretende 
Abänderungen der Blumen zur Auspräg— 
ung gelangen, welche, unabhängig von der 
Auswahl der Inſekten, die Sicherung der 
Kreuzung bei eintretendem oder der Selbſt— 
befruchtung bei ausbleibendem Inſekten— 
beſuche ſteigern — wie überhaupt ſolche 
Abänderungen, welche den gegebenen Lebens— 
bedingungen beſſer entiprechen. 

Der einzige weſentliche Unterſchied zwi— 
ſchen den unbewußten Züchtern unter den 
Menſchen und Inſekten beſteht darin, daß 
die erſteren unmittelbar und meiſt wiſſent— 
lich und abſichtlich, die letzteren unbewußt 
und ungewollt und erſt mittelbar das Zu— 
grundegehen der ihnen weniger gefallenden 


oder weniger nützlichen, und die Verviel— 


fältigung der ihnen am beſten gefallenden 
oder nützlichſten Abänderungen bewirken. 
Die Menſchen nämlich jäten bekanntlich die 
ihnen nicht paſſenden Individuen aus oder 
entziehen ihnen die nothwendige Pflege und 
bewirken dadurch unmittelbar die aus— 
ſchließliche Vervielfältigung der bevorzugten 
Abänderungen. Die blumenbeſuchenden In— 
ſekten dagegen kreuzen die bevorzugten In— 
dividuen, überlaſſen die ihnen nicht paſſen— 
den Individuen der Selbſtbefruchtung und 
bewirken dadurch mittelbar in der Regel 
ganz daſſelbe Endergebniß. Denn da die 
aus Kreuzung hervorgehenden Nachkommen 
im Wettkampfe mit den aus Selbſtbefrucht— 
ung hervorgehenden (nach den Ergebniſſen 
der Darwin'ſchen Verſuche) ſtets den Sieg 
davon tragen, ſo bleiben auch in dieſem 
Falle die von den Auswählern bevorzugten 
Lebensformen in der Regel (ſoweit die zu— 


2 u 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


rückgeſetzten nicht etwa dem Wettkampfe ſich 
entziehen) ſchließlich allein übrig und wer— 
den allein weiter vervielfältigt. 

Bis auf dieſen einen ausdrücklich her— 
vorgehobenen Differenzpunkt unmittelbarer 
oder mittelbarer Ausjätung ſind die In— 
ſekten in ganz demſelben Sinne wie die 
Menſchen, deren Blumenzüchtung uns in 
allen Einzelheiten bekannt iſt, unbewußte 
Blumenzüchter. Wir werden daher hoffen 
dürfen, dadurch zu einem klareren und ein— 
gehenderen Verſtändniſſe der Blumenwelt 
zu gelangen, daß wir bei den Blumen— 
formen ausfindig zu machen ſuchen, welche 
ihrer Eigenthümlichkeiten von Inſekten ge— 
züchtet und welche durch Naturzüchtung aus— 
geprägt worden ſind. Denn die erſteren 
ſind uns ja, wenn uns dieſer Nachweis 
gelungen iſt, dann ebenſo verſtändlich wie 
die Produkte menſchlicher Blumenzüchtung. 

Die hiermit bezeichnete Aufgabe im 
Allgemeinen in Angriff zu nehmen und an 
einzelnen, weſentlich von einander verſchie— 
denen Blumenformen im Einzelnen ihrer 
Löſung zuzuführen, iſt der Zweck des vor— 
liegenden Aufſatzes. 

Wie der erſte Uebergang getrenntge— 
ſchlechtiger Windblüthler zur Inſektenblüthig— 
keit erfolgt ſein müſſe, haben wir bereits 
in einigen früheren Betrachtungen („Ueber 
den Urſprung der Blumen,“ Kosmos, Bd.]. 
S. 100 flgde. und „Ueber das Variiren 
der Größe gefärbter Blüthenhüllen,“ 
Bd. II. S. 11 flgade.) uns klar zu 
machen geſucht. Wir haben da geſehen, 


daß der erſte Schritt, welcher eine Kreuz— 
ung der Blüthen durch beſuchende Inſekten 


überhaupt ermöglichte, eine derartige Ab— 
änderung derſelben ſein mußte, welche die 


Beſucher zur Berührung mit beiderlei Ge 


ſchlechtstheilen, den Narben ſowohl als den 


Staubgefäßen, veranlaßte, d. h. entweder 


1 


317 


Abſonderung von Honig in beiderlei ein— 
geſchlechtig bleibenden Blüthen, wie bei 
Salix, oder, und zwar in der Regel, 
Zwitterblüthigwerden der zunächſt noch 
honiglos bleibenden Blüthen.“) Nothwen— 
dige Vorbedingung regelmäßiger Pol- 
lenübertragung durch Inſekten war außer— 
dem die Fähigkeit des Pollens, den Inſekten 
ſich anzuheften, wie ſie in der Regel durch 
Klebrigkeit der Pollenkörner erreicht wird. 

Wie viel iſt nun von der Ausprägung 
dieſer Abänderungen auf Rechnung der von 
der Wahl der Inſekten unabhängigen Natur- 
züchtung, wie viel auf Rechnung der von 
den Inſekten ausgeübten Blumenauswahl 
zu ſetzen? 

Für die Inſekten, welche zuerſt des 
Pollens wegen auf Blüthen flogen, war 
es offenbar ganz gleichgültig, ob ſie bei 
ihren Blüthenbeſuchen auch die Narben be— 
rührten oder blos die von ihnen ausge— 
nutzten Staubgefäße. Auch ein Behaften 
ihres Körpers mit Pollen war für ſie 
ſelbſt urſprünglich nutzlos und iſt über— 
haupt, auch im ſpätern Verlauf der In- 
ſektenentwickelung, ausſchließlich den Bienen 
nützlich geworden. 

Für die Pflanzen dagegen waren an— 
haftender Pollen und Zwitterblüthigkeit in 
der Regel die nothwendigen Vorbeding— 
ungen, um von den pollenraubenden In— 
ſekten die Wohlthat gelegentlicher Kreuzung 
mit getrennten Stöcken erfahren zu können. 

Nur durch eine von der Wahl der 
Inſekten ganz unabhängige Naturzüchtung 

) Ich füge nachträglich, mit Hinweiſung 
auf Kosmos, Bd. II. S. 396, hinzu, daß 
letzteres um ſo leichter erfolgen konnte, als ja 
ſehr häufig von dem einen Geſchlecht erwor- 
bene Eigenthümlichkeiten auch auf das andere 
ſich vererben, und als wir auch noch heute 


an getrenntgeſchlechtigen Windblüthlern hier 
und da einmal Zwitterblüthen auftreten ſehen. 


2, 


f 318 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


konnten alſo, und mußten beim Auftreten 
geeigneter Abänderungen, die in der Regel 
urſprünglichſten genannten beiden Blumen— 
eigenſchaften zur Ausprägung gelangen. 
Anders iſt es mit der Honigabſonder— 
ung. Für die Pflanze ſelbſt iſt es un— 
mittelbar, ohne Inſektenmitwirkung, ſoweit 
wir überſehen können, nutzlos, wenn ſich 
aus irgend einem Theile ihrer Blüthen 
Honig abſcheidet; erſt durch Anlockung von 
Kreuzungsvermittlern wird es ihr mittel— 
bar nützlich. Nur die Inſekten haben von 
der Honigabſonderung unmittelbaren Nutzen 
und laſſen ſich in ihrer Blüthenauswahl 
durch dieſelbe beſtimmen. Ihre Blüthen— 
auswahl wird es alſo auch geweſen ſein, 
welche das Erhaltenbleiben und Weiteraus— 
geprägtwerden honighaltiger Abſonderungen 
bewirkt hat. Die Blumengäſte haben 
ſich den Blumennektar vermuth— 
lich ſelbſt gezüchtet. 
Wenn alſo Salix, wie wir annehmen, 
1 durch bloßes Klebrigwerden des Pollens 
und Honigabſonderung, bei fortdauernder 
Getrenntgeſchlechtigkeit, von der Windblüthig— 
keit zur Inſektenblüthigkeit gelangt iſt, jo 
muß dieſer Uebergang durch die combinirte 
Wirkung der von der Wahl der Inſekten 
unabhängigen Naturzüchtung und der von 
den Juſekten geübten Blüthenauswahl zu 
Stande gekommen ſein; aber dieſe Art des 
Uebergangs war, wie bereits (Kosmos 
Bd. I. S. 111) gezeigt wurde, nur in 


der überwiegenden 
regelmäßige Kreuzung durch zufällig an— 
fliegende Inſekten überhaupt erſt ermöglicht 


werden der Blüthen (ohne Honigabſonder 
ung), ſind ganz unabhängig von der Blüthen— 
auswahl der Inſekten, durch blinde Natur- 


E 


ganz vereinzelten Fällen möglich. Die bei- 
den Abänderungen, deren Combination in 
Mehrzahl der Fälle 


züchtung, ausgeprägt worden. Gleichwohl 
iſt ſchon ſeit dem erſten Blüthenbeſuche und 
Pollengenuſſe eines ſeiner Nahrung wegen 
in der Luft umherfliegenden Inſektes Blüthen— 
auswahl und damit Blumenzüchtung ebenſo 
gewiß von den Inſekten ausgeübt worden, 
als die ihnen am meiſten in die Augen 
fallenden Blüthen auch am meiſten von 
ihnen beſucht worden ſind. Und wir haben 
bereits in dem zweiten der oben genannten 
Aufſätze (Kosmos Bd. II. S. 11 flgde.) 
geſehen, wie die Blüthengäſte, indem ſie die 
augenfälligeren Blüthen bevorzugten, unter 
Mitwirkung der Naturausleſe nicht nur im 
Beginn der Blumenentſtehung aus der 
Zapfen- und Kätzchenform der Windblüthler 
die mit großen, abſtechend gefärbten Hüll— 
blättern ausgerüſteten urſprünglichen, ein— 
fachen Blumenformen gezüchtet, ſondern auch 
im weiteren Verlaufe der Blumenentwickel— 
ung eine große Mannigfaltigkeit verſchiede— 
ner Arten von Blüthenpolymorphismus zur 
Ausprägung gebracht haben. Hier, wo 
wir die Blumenzüchterei der Inſekten mit 
derjenigen der Menſchen vergleichen wollen, 
muß, bei der Betrachtung der durch Augen— 
fälligkeit bedingten Auswahl, vor Allem 
die im Ganzen genommen große Aehnlich— 
leit der Geſchmacksrichtung und, damit zu— 
ſammenhängend, der Züchtungsprodukte der 
beiderlei Züchter auffallen. Denn augen- 
ſcheinlich iſt die Blumenzüchtung der In— 
ſekten, was Augenfälligkeit anbetrifft, durch 
diejenige des Menſchen im Großen und 
Ganzen nur in derſelben Richtung weiter 
geführt worden. Die Inſekten haben aus 
den kleinen ſchmuckloſen Windblüthen vor— 


zugsweiſe verhältnißmäßig großhüllige, bunt- 


hat, Klebrigwerden des Pollens und Zwittrig— | 


gefärbte Blumen gezüchtet; der Menſch hat 


von dieſen die ihm am beſten gefallenden 


in ſeine beſondere Pflege und Zucht ge— 
nommen und aus denſelben durch fortge— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


ſetzte Zuchtwahl neue Blumenraſſen hervor— 
gezaubert, die an Größe, Farbenpracht und 
Mannigfaltigkeit über ihre natürlichen 
Stammeltern kaum weniger hinausragen, 
als dieſe über ihre windblüthigen Urahnen. 
Und Aehnliches gilt von den Gerüchen. 
Dieſelben Farben und Gerüche, durch welche 
wenigſtens die den ausgeprägteren Blumen— 
beſuchern, namentlich den Bienen, Faltern 
und Schwebfliegen, angepaßten Blumen im 
Ganzen ſich auszeichnen, ergötzen auch uns, 
und es iſt andererſeits unmöglich, die 
Blumenthätigkeit dieſer Inſekten andauernd 
zu beobachten, ohne in manchen Fällen 
durchaus den Eindruck zu bekommen, daß 
ihnen die Farben und Wohlgerüche nicht 
etwa blos als Erkennungszeichen ihrer 
Nahrungsquellen dienen, ſondern daß auch 
ſie ſich an dem Sinneseindrucke . 
ergötzen.“ ) 

Jedoch laſſen ſich ſchon bei 99 5 zu⸗ 


erſt und in größter Allgemeinheit in An- 
wendung gekommenen Blumenausleſe der 
Inſekten nach Farbe und Geruch, eigen— 


thümliche Neigungen und Geſchmacksricht— 
ungen gewiſſer Blumenbeſucherklaſſen nicht 
verkennen. Zwar kommt es wohl kaum 
vor, daß Farben, welche irgend einer Klaſſe 
ausgeprägter Blumenbeſucher beſonders 
angenehm ſind, einer anderen ſo zuwider 


wären, daß ſie eine ausbeutereiche Blume 
um ihrer Farbe willen verſchmähten. 


Vielmehr ſehen wir weiße, gelbe, rothe 
und blaue Blumen, wenn ſie hinlänglich 
augenfällig ſind und den verſchiedenen Be— 
wet, gleich zugängliche und lohnende 
) Einzelne derartige Fälle ſind von mir 
an Schwebfliegen (bei Verbascum nigrum) 
und Wollbienen (Anthidium) beobachtet und 
näher beſchrieben worden. Siehe „Befrucht— 
ung der Blumen“, S. 278, „Anwendung der 
Darwin'ſchen Lehre auf Bienen“, S. 70. 


Ausbeute darbieten, ſowohl von Schmetter— 
lingen, als von Bienen, als von lang— 
rüſſeligen Fliegen (Syrphiden, Conopiden, 
Bombyliden) eifrig aufgeſucht, wie z. B. 
die von mir für Schafgarbe (Achillea 
Millefolium und Ptarmica), Löwenzahn 
(Taraxacum offieinale), Felddiſtel (Cir- 
sium arvense) und Berg -Jaſione (Jasione 
montana) aufgeſtellten Beſucherliſten un— 
zweideutig zeigen. 

Von den unausgeprägteſten 
Blumenbeſuchern aber gehen diejenigen 
Fliegen, welche ihren gaſtronomiſchen Neig— 
ungen den weiteſten Spielraum geſtatten, 
auch in ihren Farben- und Geruchslieb— 
habereien über die Grenzen des uns Men— 
ſchen und den meiſten ausgeprägten Blumen— 
beſuchern Erträglichen weit hinaus. Na— 
mentlich ſehen wir die Aas- und Koth— 
fliegen (Sarcophaga, Calliphora, Lucilia 
u. a.), welche keinerlei Anpaſſung an die 
Gewinnung von Blumennahrung beſitzen 
und ganz gut auch ohne Blumen auskom⸗ 
men könnten, zwar einerſeits Blumen be— 
ſuchen, deren Farbe, Duft und Honig- 
geſchmack auch die Honigbienen und uns 
ſelbſt ergötzen, wie z. B. Linde, 
weizen, 
mit mindeſtens gleichem, wenn nicht größe— 
rem Wohlbehagen auch die widrigſten 
Fäulnißprodukte (ſtinkende Kothhaufen, 
faulendes Fleiſch, Jauche, Eiter, Aas) be— 
tupfen und belecken, deren Farbe und Ge— 
ruch ſchon uns mit Ekel und Abſcheu er— 
füllt und auf die Honigbienen vermuthlich 
in gleicher Weiſe einwirkt. Auch manche 
kleine Fliegen und Mücken, die ſich für 
gewöhnlich in unſauberen Schlupfwinkel 
herumtreiben, ſo namentlich die kleinen 


Schmetterlingsmücken (Psychoda), die man 
häufig an Abtrittsfenſtern ſieht, gehen bis— 
weilen auf Blumen. 


Buch⸗ 


Thymian u. a., andererſeits aber, 


319 m 


320 


Natürlich mußte die abweichende Geſchmacks— 
richtung aller dieſer Dipteren von jeher 
auch auf ihre Blumenauswahl beſtimmend 
einwirken. Traten Blumenabänderungen 
auf, welche durch ſchmutzig gelbe oder durch 
fahl-bläuliche, leichenartige Farbe oder durch 
ein trübes Roth oder ſchwärzlich-purpurne 
Flecken für ſich oder combinirt mit Urin-, 
Abtritts- oder Aasgeruch an die oben ge— 
nannten Ekelſtoffe erinnerten und die an 
ſüßen Honigduft und liebliche Blumenfarben 
bereits gewöhnten Gäſte zurückſchreckten, ſo 
mußten ſolche auf die erwähnten Zweiflügler 
gerade eine ganz beſondere Anziehungskraft 
ausüben und dieſelben, wenn ſie ihnen zu— 
gleich einige Ausbeute oder auch nur einen 
angenehmen Schlupfwinkel darboten, zu 
immer erneuten Beſuchen veranlaſſen. Wenn 
daher ſolche Blumenabänderungen zugleich 
eine derartige gegenſeitige Stellung der 
Narben und Staubgefäße beſaßen, welche 


eine Kreuzungsvermittelung durch die zu 


und abfliegenden Fliegen wahrſcheinlich oder 
unausbleiblich machte, ſo waren alle Be— 
dingungen gegeben, um eine auf Koth- und 
Aasfliegen oder auf Pſychoden und andere 
winzige Dipteren ähnlicher Geſchmacksricht— 
ung ſich beſchränkende Blumenraſſe zu züchten. 
Andere Abänderungen derſelben Stammarten 
konnten gleichzeitig an denſelben Standorten 
einer bunten Geſellſchaft mannigfaltiger In— 
ſekten zugänglich bleiben oder ſich ſtufen— 
weiſe einem anderen beſchränkten Beſucher— 
kreiſe anpaſſen, da ja Sicherung der Kreuz— 
ungsvermittelung, mag ſie nun auf dem 
einen oder anderen Wege erreicht werden, 
in erſter Linie den Sieg über die vor— 
wiegend auf Selbſtbefruchtung beſchränkten 
Concurrenten entſcheidet und daher zum 
ſchließlichen Allein-Uebrigbleiben der jene 
Sicherung erreichenden Abänderungen füh— 
ren muß. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Es giebt vielleicht wenige Fälle, in 
denen ſich ebenſo leicht und einleuchtend wie 
in dieſem, im Gegenſatze zur Wagner’- 
ſchen Migrationstheorie, die Möglichkeit des 
Entſtehens neuer Arten an demſelben Wohn— 
ort, ohne irgend welche Wanderung, nach— 
weiſen läßt. Denn es leuchtet ohne Wei— 
teres ein, daß die bloße Abänderung der 
Farbe und des Geruches in der angedeu— 
teten Richtung dazu genügen kann. Da 
uns dieſelben Abänderungen zugleich den 
einfachſten und unmittelbarſten Uebergang 
urſprünglicher, allgemein zugänglicher Blu— 
men zur ausſchließlichen Anpaſſung an 
einen beſtimmten, eng begrenzten Beſucher— 
kreis darbieten, ſo empfiehlt es ſich, die 
von den Koth- und Aasfliegen, von den 
Schmetterlingsmücken und anderen kleineren 
Dipteren verwandter Geſchmacksrichtung 
ausgeübte Blumenzüchtung vorauszunehmen, 
und dann erſt zur Betrachtung der uns 
ſympathiſchen Blumenzüchter überzugehen. 

Wir betrachten alſo zunächſt 

1. Die Fäulnißſtoffe lieben— 
den Dipteren als unbewußte 
Blumen züchter. 

So leicht es, nach dem oben Geſagten, 
den von Koth- und Aasfliegen oder ande— 
ren Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren be— 
ſuchten Blumen ſein mußte, durch bloße 
Abänderung der Farbe und des Geruchs 
in der bereits angedeuteten Richtung alle 
feinfühligeren Blumengäſte auszuſchließen, 
ſo ſchwer erſcheint es von vornherein mög— 
lich, leichtlebig umher vagabundirende Gäſte, 
die nur durch den erſten Sinneseindruck 
getäuſcht ſtatt ihrer unſaubern Lieblings— 
gegenſtände auch einmal Blumen aufſuchen, 
zu regelmäßiger Kreuzungsvermittelung zu 
zwingen. Zwar iſt die Dummheit der ge— 
nannten Fliegen bei ihren Blumenbeſuchen, 


die ſchon im vorigen Jahrhundert Chr. C. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


5 


321 


2 


Sprengel bei vielen ſeiner Beobachtungen der beiden oben unterſchiedenen Arten na— 


auffiel, groß genug, um ſie durch Geſichts— 
und Geruchseindrücke, ſelbſt ohne beſondere 
Ausbeute für den Magen, oft wiederholt 
auf dieſelbe Blumenart zu locken. Aber 
wie ſollen ſie zu regelmäßiger Uebertrag— 
ung des Pollens einer Blume auf die 
Narbe einer anderen Blume derſelben Art 
gezwungen werden können? Sind ſie doch 
jo unregelmäßig in ihren Bewegungen, fo 
unſtet in der Verfolgung eines eben ins 
Auge gefaßten Zieles, daß ſie bei der 
mindeſten Störung von dannen fliegen, daß 
ſie ſich ſelbſt in keiner Weiſe den von ihnen 
aufgeſuchten Blumen anzupaſſen vermocht 
haben. In der That ſcheint nur eben ihre 
Dummdreiſtigkeit die Möglichkeit dargeboten 
zu haben, ſie als Liebesboten in den regel— 
mäßigen Dienſt der Blumen zu ſpannen. 
Gewiſſe Blumen haben ſich im buchſtäb— 
lichen Sinne des Wortes in Fallen und 
Gefängniſſe umgewandelt, in welche ſie 
Dipteren hineinlocken, um ſie erſt nach ge— 
thaner Befruchtungsarbeit, mit neuem Pollen 
beladen, wieder zu entlaſſen. Und die be— 
trogenen Fliegen und Mücken ſind leicht— 
lebig genug, um, kaum in Freiheit geſetzt, 
demſelben Sinnesreize, der ſie zum erſten 


Male in die Falle lockte, ſofort von neuem 


zu unterliegen, und das in mehrmaliger 
oder oftmaliger Wiederholung, ohne daß 
ſie durch Erfahrung gewitzigt werden. 

Es leuchtet ein, daß derartige Fallen 


und vorübergehende Gefängniſſe nicht durch | 
die Blumenauswahl der Fliegen und Mücken 


gezüchtet worden ſein können, da ja dieſe, 
wie man ſich leicht durch direkte Beobacht— 
ung überzeugen kann, ihrer gezwungenen 
Haft zu entkommen beſtrebt ſind, alſo ge— 
wiß nicht wiſſentlich und abſichtlich ſich in 
dieſelbe begeben. Vielmehr vertheilen ſich 
bei allen ſolchen Blumen die Wirkungen 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


türlicher Blumenzüchtung in folgender Weiſe: 

1. Zuerſt find von den Fäulnißſtoffe lie⸗ 
benden Dipteren ſolche Farben- und Ge— 
ruchsabänderungen ausgewählt und zu dau— 
ernden Eigenthümlichkeiten gezüchtet worden, 
durch welche die meiſten anderen Inſekten 
gerade zurückgeſchreckt werden. Die Pro— 
dukte ſolcher Züchtungen können ganz paſſend 
als Ekelblumen bezeichnet werden; denn 
nur ihrer Ekel erregenden Wirkung iſt es 
zuzuſchreiben, daß ſich ihr Beſucherkreis auf 
eine enge Geſellſchaft ſich vor nichts ekeln— 
der Gäſte beſchränkt hat. Es ſind dies 
außer den genannten Fliegen auch an Fäul— 
nißſtoffen ſich weidende Käfer,“) die ſich 
aber, wegen ihrer ſehr langſamen Beweg— 
ung von einem Stock zum anderen, zur 
Kreuzungsvermittelung ganz und gar nicht: 
eignen. Die ausſchließlichen oder faſt aus— 
ſchließlichen Kreuzungsvermittler der Efel- 


| blumen find daher die Fäulnißſtoffe lieben⸗ 
den Dipteren. Da jedoch eine regelmäßige 


Kreuzungsvermittelung durch ſo ſcheue, leicht— 
flüchtige Gäſte ohne einen beſonderen, von 
der Blume ausgeübten Zwang kaum ein— 


treten kann, ſo iſt zu der von den genann— 


ten Inſekten bewirkten Züchtung von Ekel— 
blumen gewöhnlich noch eine von ihrer 
Wahl unabhängige Naturzüchtung hinzu— 
getreten und hat diejenigen Abänderungen 
der Ekelblumen erhalten und ausgeprägt, 
welche ihre unſteten Gäſte ſo lange feſt— 
hielten, bis ſie nicht nur den Dienſt der 
Kreuzungsvermittelung geleiſtet, ſondern ſich 
In den Aasfliegen anlockenden und 
durch ſie der Kreuzung theilhaftig werdenden 
Blüthen von Arum Dracunculus fand Pie— 
cioli bei Florenz ungefähr 200 Koth und 
Aas liebende Käfer aus den Gattungen Der- 
mestes, Hister, Saprinus, Nitidula, Silpha, 
Oxytelus u. a. (Delpino, Ulteriori osserva- 
zioni II. p. 226). 


* 


| 322 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


auch wieder mit neuem Pollen behaftet und prägt proterogyniſch waren, das heißt, 
dadurch zur ſofortigen Kreuzung der zu- bei denen die Narben in ihrer Entwidel- 


nächſt zu beſuchenden Blüthen vorbereitet 
hatten. Auf dieſe Weiſe konnten alſo und 
mußten, beim Eintreten geeigneter Abänder— 
ungen, aus einfachen offenen Ekelblumen 
jene die Fliegen fangenden und vorüber— 
gehend feſthaltenden Blumen hervorgehen, 
die ſich wohl am beſten unter dem Namen 
Fliegenfallenblumen zuſammenfaſſen 
laſſen. 

Eine Nöthigung der gefangenen Fliegen 
zur Kreuzungsvermittelung kann von den 
Fliegenfallenblumen auf zweierlei Weiſe be— 
wirkt werden, je nachdem die Falle einen 
geräumigen Behälter (Blüthenkeſſel) dar— 
ſtellt, in welchem mehrere Fliegen einge— 
fangen werden und ſich frei umhertummeln, 
oder eine Klemme, welche nur eine einzelne 
Fliege vorübergehend feſthält. In Blumen 
der erſteren Art, die wir als Keſſel— 
fallenblumen bezeichnen können, kann 
mit unausbleiblicher Sicherheit Kreuzung 
durch Vermittelung der in dem Gefängniſſe 
ganz regellos ſich umhertreibenden Gäſte 
offenbar nur dann erfolgen, wenn dieſelben, 
in das Gefängniß eintretend, nur die Nar— 


ben entwickelt finden, ſo daß ſich fremder | 
Blüthenſtaub, wenn fie ſolchen mitbringen, | 


bei ihrem Umhertreiben im Blüthenkeſſel 
an den Narben abſetzen muß, ohne erſt 
mit eigenem Blüthenſtaub untermiſcht oder 
durch denſelben verdrängt worden zu ſein, 
wenn ſodann, erſt nach dem Verſchrumpfen 
der Narben, die Staubgefäße ſich öffnen 
und ihren Pollen entlaſſen, und wenn end— 
lich die gefangenen Gäſte, erſt nachdem ſie 
ſich mit dieſem Pollen behaftet haben, wie— 
der entlaſſen werden. Keſſelfallenblumen 
konnten fi daher immer nur aus auf 
Dipteren beſchränkten Blumen entwickeln, 
welche bereits mehr oder weniger ausge— 


ung den Staubgefäßen mehr oder weniger 
vorauseilten. Die einzelnen Schritte dieſer 
Entwickelung laſſen ſich aber dann, wie wir 
an den einheimiſchen Beiſpielen ſehen wer— 
den, ſehr wohl als beim Eintreten geeig- 
neter Abänderungen unausbleibliche Pro— 
dukte der Naturzüchtung begreifen.“) 

Im letzteren Falle, bei Klemmfallen— 
blumen, muß die Fliege durch das Ein— 
geklemmtwerden ſelbſt gezwungen werden, 
mitgebrachten Pollen an der Narbe abzu— 
ſetzen und neuen mitzunehmen, wenn Kreuz— 
ung geſichert ſein ſoll. 

Von Keſſelfallenblumen finden 
ſich in der einheimiſchen Blumenwelt nur 
zwei Vertreter: Aristolochia Clematidis 
und Arum maculatum. 
allbekannt und bereits wiederholt ſo ein— 
gehend beſchrieben und erkärt worden, daß 
ihre Betrachtung für ſich hier kein Inter— 
eſſe mehr bieten kann. Um ſo wichtiger 
aber muß es für ein genetiſches Verſtänd— 
niß derſelben erſcheinen, ihr Verhältniß zu 
zwei anderen einheimiſchen Blumen, die ſich 
als Vorſtufen ihrer Keſſelfallen-Einrichtung 
darſtellen, näher ins Auge zu faſſen. An 
Asarum europaeum läßt ſich das Ver— 
ſtändniß für Aristolochia Clematidis, an 
Calla palustris das Verſtändniß für Arum 
maculatum gewinnen. 


) Es gehört daher jedenfalls eine ſtark 


teleologiſch gefärbte Brille dazu, um in den 


Keſſelfallenblumen mit Delpino „eine neue 
glänzende Beſtätigung jener großen Lehrſätze 


zu ſehen, daß im Bau der organiſchen Weſen 


1) der Typus und die Idee das beſtändige 
und unumſchränkt herrſchende Element iſt, 
und daß 2) die Form und der Stoff verän— 
derliche und untergeordnete Elemente ſind.“ 
(Ulteriori osservazioni, I. p. 127 flgd.) 


Beide ſind ſo 


Fig. 1. 


u 


Müller. Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 323 


Eine Ekelblume, Asarum europaeum, welche bereits deutlich die Anfänge 


des Ueberganges zur Keſſelfallenblume erkennen läßt. 


I. Junge Blüthe, die ſich eben erſt zu öffnen beginnt, nach Entfernung des halben Perigons. 


II. Aeltere Blüthe. 


at längere, a? kürzere Staubgefäße, fi Staubfäden, st Narbe. 


(Das vorderſte der kürzeren Staubgefäße beginnt ſoeben aufzuſpringen und ſich zu erheben.) 


Im erſten Frühjahre unter dem Laube | jüngere, bald in ältere Blüthen hineinzu— 


verſteckt blühend macht Asarum europaeum 
ſich mit ſeinen außen bräunlichen, innen 
ſchmutzig dunkelpurpurnen Blumenglöckchen 


den nach lebhaften Blumenfarben und ſüßem 


Honigdufte umherſpähenden Bienen, Schmet— 
terlingen, Schwebfliegen u. ſ. w. in keiner 
Weiſe bemerklich; und ſollten dieſe trotzdem 
zufällig auf eine der verſteckten, unſchein— 
baren Blüthen aufmerkſam werden, ſo wird 
der kampherartige Geruch derſelben fie ſicher 
zurückſchrecken. Winzige Fliegen und Mücken 
dagegen, die unter der Laubdecke des Wald- 
bodens überwintert haben, und die nun 
dieſelbe erſte Frühlingswärme, welche die 
Aſarumblüthen zur Entwickelung bringt, 
ebenfalls aus ihrer Winterruhe hervorlockt, 


werden vermuthlich gerade durch dieſen Ge 


ruch und dieſe Farbe angereizt, bald in Blaſenfüße und kleine Milben gefunden. 


8 . 


kriechen oder zu fliegen, wobei fie unver— 
meidlich den Blüthenſtaub der letzteren oft auf 
die Narben der erſteren übertragen müſſen.“) 

In den jüngeren Blüthen nämlich, die 
ſich ſoeben erſt geöffnet haben (Fig. D, find 


) Bei der Scheuheit und Flüchtigkeit 
dieſer Thiere und der Verſtecktheit der Aſa— 
rumblüthen gelang es mir, trotz wiederholt 
darauf verwandter Mühe, bis jetzt zwar nie, 
die Kreuzungsvermittler auf der That zu er— 
tappen. Wohl aber ſah ich bei vorſichtigem 
Abheben der die Blüthen überdeckenden dür— 
ren Blätter (bei Mühlberg in Thüringen) 
wiederholt kleine Dipteren wegfliegen und 
fand die Narben auch ſolcher Blüthen bereits 
mit Pollen behaftet, deren Staubgefäße noch 
geſchloſſen waren, wie in Fig. I. — In den 


Blüthen ſelbſt habe ich nur einige Male 


die Narben bereits entwickelt und am Rande der Blüthe hinausfliegen, jedoch nicht, ohne 
des ſechslappigen Stempels ſo um die 
Mitte der Blüthe herum vertheilt, daß ſich mit Pollen derſelben zu behaften. Sind 
hineinkriechende oder fliegende Dipteren ſehr die Kreuzungsvermittler ausgeblieben, ſo 


leicht mit denſelben in Berührung kommen 


und, wenn ſie bereits mit Pollen vorher 
beſuchter Blüthen behaftet ſind, Kreuzung 
bewirken können. Die zwölf Staubfäden 
dagegen, von denen immer ein längerer 
mit einem kürzeren abwechſelt, ſind noch 
flach auf dem Boden des Blumenkeſſels 
aus einander gebreitet, und die ungefähr 
in ihrer Mitte angehefteten Staubbeutel 
ſind noch geſchloſſen. Die einwärts gebo— 
genen Perigonzipfel geſtatten den kleinen 
Gäſten leicht den Eingang, erſchweren ihnen 
aber den Ausgang. Es mag daher ſehr 
wohl bisweilen vorkommen, daß einer oder 
der andere derſelben nicht eher aus der 
Blüthe herauszukommen weiß, bis die An— 


theren ſich geöffnet und die Perigonzipfel 


ſich weiter nach außen gebogen haben. 
Tritt dieſer Fall ein, ſo iſt damit der 
Anfang der Ausbildung einer Keſſelfallen— 
blume gegeben. Denn der kleine, unfrei— 


willig in der Blüthe feſtgehaltene Gaſt 


wird nun kaum aus derſelben entkommen 


haftet zu haben. Einige Zeit nach dem 
Aufblühen nämlich erheben ſich, einer nach 
dem anderen, die ſechs abwechſelnden län— 
geren Staubfäden (à1), legen ſich in die 
Zwiſchenräume zwiſchen die ſechs Narben 
und biegen ihre dieſe überragenden Spitzen (fi) 
etwas nach innen, während gleichzeitig ihre 


die geöffneten Staubbeutel zu paſſiren und 


kann in dieſem Entwickelungsſtadium, wäh⸗ 
rend Staubgefäße und Narben zugleich 
entwickelt ſind, Selbſtbefruchtung erfolgen, 
indem in den abwärts geneigten Blüthen 
die Narben leicht in die Fallrichtung des 
aus den Staubbeuteln fallenden Pollens 
zu ſtehen kommen (wie man ſich deutlich 
machen kann, wenn man die Blüthen— 
abbildung Fig. II ſo weit herumdreht, bis 
ſie ſchräg abwärts gerichtet iſt). Und dieſe 
Möglichkeit, im Nothfalle durch Selbſt— 
befruchtung ſich fortzuerhalten, wird in der 
That einer Ekelblume in der Regel erſt 
dann entbehrlich werden, wenn ſie durch 
Ausprägung einer Fliegenfalle Kreuzungs— 
vermittelung bei eintretendem Blüthen— 
beſuche völlig geſichert hat. Doch währt 
auch ſchon bei Asarum, welches eine An— 
näherung dazu darbietet, der die Selbſt— 
befruchtung ermöglichende Entwickelungs— 
zuſtand nicht lange. Die Narben beginnen 
nun alsbald zu verſchrumpfen, während 


gleichzeitig die ſechs inneren Staubfäden (a2), 
können, ohne ſich mit Pollen derſelben be 


nach außen gekehrten Staubbeutel aufſprin-⸗ 
gen und die Perigonzipfel weiter aus einan- 


der treten (Fig. II). 
die ſich bis dahin nicht herauszufinden 
wußte, kann alſo jetzt bequem an einem 


Eine kleine Fliege, 


einer nach dem anderen, ſich erheben und 
ihre Staubbeutel ſich öffnen. Die Blüthe, 
welche anfangs rein weiblich, darauf zwei— 
geſchlechtig und zur Selbſtbefruchtung be— 
fähigt war, iſt alſo zuletzt rein männlich. 
Wenn endlich auch die ſechs kürzeren Staub— 
gefäße ſich entleert haben, ſo krümmen ſich 
die Perigonzipfel wieder vollſtändig nach 
innen und geben dadurch den Kreuzungs— 
vermittlern zu erkennen, daß es mit dem 
Blühen der Blume nun vorbei iſt. Ob 


die kleinen Gäſte in der Aſarumblüthe nur 


der aufgerichteten Staubfäden in die Höhe 


laufen und von ſeiner Spitze ab und aus 


ein willkommenes Obdach finden oder auch 
den Pollen derſelben genießen, vermag ich 
nicht zu ſagen. 


— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


— 


Von dieſer einfachen offenen Ekelblume 
iſt es nun zwar noch ein bedeutender 
Sprung zu der viel bewunderten Keſſel— 
falle der anderen bei uns einheimiſchen 
Ariſtolochiacee, der häufig in Hecken 
als Unkraut wuchernden Aristolochia 
Clematidis. Aber da die erſten Anfänge 
der Ausbildung einer ſolchen Falle und die 
Vortheile derſelben für die Kreuzung der 
Pflanze ſich auch ſchon bei Asarum er— 
kennen ließen, ſo iſt es nicht ſchwer, auch 
die dazwiſchen liegenden Schritte, die Aus— 
bildung einer Fahne, einer Eingangsröhre, 
verſchrumpfender Reuſenhaare in derſelben, 
die vollſtändigere Durchführung der zeit— 
lichen Trennung beider Geſchlechter (pro— 
terogyne Dichogamie) und das Abwärts— 
neigen der anfangs aufgerichteten Blüthe, 
als Ergebniſſe ſtufenweiſe fortſchreitender 
Züchtung zu begreifen, die Fahne als 
Züchtungsprodukt der blumenauswählenden 
Dipteren, die Reuſenhaare und die ganze 
auf Sicherung der Kreuzung hinauslaufende 
Einrichtung als Produkt von der Wahl 
der Inſekten unabhängiger Naturzüchtung, 
den ſowohl für die Geſchlechtsorgane als 
für die feſtgehaltenen Gäſte eine warme 
geſchützte Stätte darbietenden Keſſel als 
Produkt der combinirten Wirkung beider. 

Eine Ekelblume kann Dipteren der ver— 
ſchiedenſten Größe zugänglich ſein und von 
ihnen gelegentlich befruchtet werden, eine 
Keſſelfallenblume dagegen nur von denjeni— 
gen Dipteren regelmäßige Kreuzungsver— 
mittelung erfahren, welchen ihre Körper— 
größe im erſten weiblichen Entwickelungs— 
zuſtande der Blüthe wohl den Eingang, 
aber nur im zweiten männlichen Entwidel- 
ungszuſtande derſelben den Ausgang ge— 
ſtattet. Demgemäß hat ſich die Gattung 
Aristolochia in eine große Anzahl ver— 
ſchiedener Arten geſpalten, welche Dipteren 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


325 


der verſchiedenſten Größe einfangen und 
zur Kreuzungsvermittelung zwingen. So 
erreichen z. B. von den kleinen Gäſten 
unſeres Oſterluzei (A. Clematidis) die 
größten kaum 2 Millimeter Körperlänge, 
die bei uns häufig zur Bekleidung von 
Lauben verwendete A. Sipho fängt in ihren 
tabakspfeifenförmigen, mißfarbigen und ekel— 
haft riechenden Blüthen ſchon Fliegen bis zu 
7 — 8 Millimeter Körperlänge ein, und 
die großen, trübrothen Blüthen der A. 
grandiflora in Jamaica, die, mit ihrer 
verlängerten Fahne einen Zweig umſchlin— 
gend, auch beim Beſuche ſchwererer Inſekten 
ſich in beſtimmter Lage halten, locken mit 
dem widrigen Aasgeruche, den ſie um ſich 
verbreiten, ohne Zweifel Aasfliegen von 
beträchtlicher Größe an ſich. 

Wie die Ariſtolochiaceen, ſo ſcheinen 
auch die ihnen nächſtverwandten, aber 
ſchmarotzenden Raffleſiaceen in allen ihren 
Familiengliedern ausſchließlich der Kreuz— 
ungsvermittelung durch Fäulnißſtoffe liebende 
Dipteren angepaßt zu ſein und mehrere von 
ihnen“) geben ſich durch Farbe und Ge— 
ruch ſofort als Aasfliegenblumen zu erkennen. 

Wahrſcheinlich ſind daher ſchon die ge— 
meinſamen Stammeltern aller Ariſtolochia— 
ceen und Raffleſiaceen Ekelblumen geweſen 
und haben dieſe Eigenthümlichkeit, mehr 
oder weniger ausgeprägt, auf alle ihre 
Abkömmlinge vererbt. 

Als Vorſtufe unſerer zweiten Keſſel— 
fallenblume, des Arum maculatum, iſt 
Calla palustris zu betrachten. Dieſe bietet 
noch kaum eine Andeutung eines Ueber— 
ganges zur Fliegenfalle dar. Dagegen iſt 
ſie als Uebergangsſtufe von einer indiffe— 
renten zu einer Ekelblume von beſonderem 
Bafflesia Horsfieldi, Arnoldi, Patma 


(Delpino, Ulteriori osservazioni. I. p. 35. 
II. p. 213). 


— 


FF abe 88 8 


326 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Intereſſe, und aus ihrem Vergleiche mit Den gemeinſamen Stammeltern der 
Arum maculatum laſſen ſich überdieß auch Aroideen am nächſten ſtehend iſt von den 
hier die auf einander folgenden Schritte einheimiſchen Arten ohne Zweifel Acorus 
ableiten, welche zur Ausbildung der Fliegen: Calamus mit ſeinem einfachen Blüthen— 
falle der letzteren Blume geführt haben. ſtandsdeckblatt und mit ſeinen völlig offenen, 


67% } 3 
. e 7 2 

e 
— 


Fig. 2. Eine noch unausgeprägte Ekelblume (Calla palustris). 
III. Der ganze Blüthenſtand in natürlicher Größe. IV. Einzelne Blüthe im erſten weiblichen 
Zuſtande. Die Staubgefäße find noch nicht aufgeſprungen. Der Fruchtknoten (ov) endet 
in einen abgeſtutzten Kegel, deſſen Abſtutzungsfläche als Narbe fungirt. Die Narbe (st) iſt 
jetzt friſch, von grünlicher Farbe, empfängnißfähig. V. Einzelne Blüthe im zweiten männ⸗ 
lichen Zuſtande. Die Narbe iſt braun geworden; die Staubgefäße ſind zum Theil noch 
geſchloſſen (at), zum Theil geöffnet und den blosgelegten Blüthenſtaub nach oben kehrend 
(a5); eines (a?) ift ſchon entleert. Der Fruchtknoten iſt bereits jo ſtark angeſchwollen, daß 
er bei bb mit den Fruchtknoten der benachbarten Blüthen zuſammenſtößt und ſich abplattet. 
(Fig. IV und V bei ſiebenfacher Vergrößerung.) 


ſchmuckloſen und geruchloſen Blüthen, welche ſtandsdeckblatt (Spatha) bildet eine breite, 
etwa anfliegenden Juſekten nichts als ihren auf der Innenſeite weißlich gefärbte, gerade 
Blüthenſtaub darbieten. Dieſen gegenüber aufgerichtete Fläche, welche den Blüthenſtand 
erſcheint Calla palustris bereits als weit ringsum weit überragt und ſo ſich auf der 
vorgeſchritten in einſeitiger Anpaſſung an einen Seite den Inſekten weithin ſichtbar 
einen beſtimmten Beſucherkreis; ſie charak- macht und beſonders gewiſſe Fliegen und 


teriſirt ſich bereits als unvollkommen aus— Mücken wirkſam anlockt, auf der andern 
geprägte Ekelblume. Denn ihr Blüthen- Seite den Blüthenſtand und die den an— 


r 


\ 


ſelben gelockten kleinen Gäſte gegen Wind 
und Wetter ſchützt, namentlich zu Anfang 
der Blüthezeit, während es ſich noch in 
halb zuſammengewickeltem Zuſtande befin— 
det. (Während der ganzen Blüthezeit, und 
weit ausgeprägter als unſere Calla palustris 
nur anfangs, zeigt die als Topfpflanze bei 
uns beliebte Calla aethiopica ihren Blüthen— 
ſtand von einem innen weiß gefärbten Deck— 
blatte tutenförmig umhüllt.) Durch den 
uns widrigen Geruch, welchen ſie um ſich 
verbreiten, verſtärken die Blüthen unſerer 
Calla nicht nur noch ſehr erheblich ihre 
anlockende Wirkung auf die Fäulnißſtoffe 
liebenden Dipteren, ſondern ſchrecken zu— 
gleich alle ausgeprägten Blumenbeſucher zu— 
rück. Weder Bienen, noch Schmetterlinge, 
noch Schwebfliegen habe ich jemals Calla 
aufſuchen ſehen. Doch iſt die Ausſchließ— 
ung der Nicht-Dipteren durch die Eigen— 
thümlichkeit der Farbe und des Geruches, 
die Ausprägung als Ekelblume, immerhin 
noch eine unvollſtändige. Denn obgleich 
mannigfache Arten kleiner Fliegen und Mücken 
die bei weitem häufigſten Beſucher der Calla— 
blüthen ſind (was ſelbſt die Spinnen ſehr 
wohl zu wiſſen ſcheinen, 
Spatha von Calla ausgeſpannten Netzen 
ich eine ziemliche Zahl kleiner Dipteren 
hängen fand), ſo 
weiße Farbe der Spatha angelockt und 
durch den widrigen Geruch der Blüthe 
nicht hinreichend zurückgeſchreckt, auch man— 
cherlei Käfer an die Blüthenſtände an, freilich 
nur in der vergeblichen Hoffnung, irgend 
e ihnen ee Ausbeute zu finden.“) 


0 Ich habe ein einziges Mal (18. Mai 
1873) bei ſonnigem Wetter, im Sumpfe ſtehend, 
zahlreiche Callablüthen etwa eine halbe Stunde 
lang überwacht, und während dieſer Zeit nicht 
nur allerlei kleine Dipteren (3. B. Chirono- 
mus mehrere Arten, Tachydromia Sp., Droso- 


in deren in der 
falls nur durch die combinirte Wirkung 


fliegen doch, durch die | 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Offenbar ſind die eben bezeichneten Eigen— 
thümlichkeiten, welche die Blüthenſtände der 
Calla von denen ihrer Acorus Ähnlichen 
Stammeltern auszeichnen, 
Theil durch die von den Dipteren ſelbſt 
ausgeübte Blumenwahl zur Ausprägung 
gelangt. Denn die geſteigerte Augenfällig— 
keit kommt unmittelbar nur den Beſuchern, 
erſt mittelbar, durch die von dieſen bewirkte 
Kreuzung, auch der Pflanze ſelbſt zu ſtatten. 
Auch der uns widrige Geruch wirkt un— 
mittelbar ſteigernd auf den Beſuch der 
kleinen Fäulnißſtoffe liebenden Gäſte ein; 
ohne Zweifel iſt er aber gleichzeitig, en 
Verein mit den giftigen Säften, als Schutz— 
mittel gegen weidende Thiere der Pflanze 
von unmittelbarem Nutzen und daher wohl 
als durch die combinirte Wirkung der In— 
ſekten- und Naturausleſe gezüchtet zu be— 
trachten. Daſſelbe gilt von der Verbrei— 
terung und dem anfangs Zuſammengewickelt— 
bleiben der Spatha, wodurch ſowohl den 
Blüthen, als ihren Gäſten Schutz gegen 
Witterung gewährt wird. Wenn ſich dann 
ferner Calla-ähnliche Stammeltern in die 
vollendete Keſſelfalle unſeres Arum macu— 
latum ungebildet haben, jo kann das eben— 


der von den Beſuchern ſelbſt ausgeübten 
Blumenwahl und der von den Beſuchern 
unabhängigen Naturzüchtung hervorgebracht 
ſein, welche letztere in dem Erhaltenbleiben 
der die größte Wahrſcheinlichkeit der Kreuz— 


phila graminum Fall., Hydrellia griseola Fall.) 
von Blüthenſtand zu Blüthenſtand fliegen 
und theils Pollen freſſen, theils in den von 
der Spatha dargebotenen Schlupfwinkel ſich 
bergen ſehen; auch ein Meligethes, ein Phy- 
tonomus polygoni, ein Sitones, einige Hal- 
tica coerulea und eine Cassida nobilis flogen 
an die Blüthenſtände an, aber nach kurzem 
Aufenthalte, ohne etwas genoſſen zu haben, 
enttäuſcht wieder von dannen. 


wenigſtens zum 


5 


„ ̃ ͤ —— ——.. ...... = 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


ung gewährenden und zugleich gegen wei- zugt haben, welche ihnen die wirkſamſte 
dende Thiere am beſten geſchützten Abän— | Anlockung, das geſchützteſte und angenehmſte 
derungen beſtand. Die Calla ähnliche Obdach und die ſicherſte und bequemfte 
Blumen beſuchenden Dipteren werden na- Einführung in daſſelbe gewährten. So 
türlich ſtets diejenigen Abänderungen bevor- laſſen ſich der ausgeprägtere urinöſe Geruch 


Eine Keſſelfallenblume (Arum maculatum) 


Fig. 3. 


im erſten Entwickelungszuſtande, während deſſen die Schmetterlingsmücken (Psychoda) hinein- 
gelockt werden, VI. von außen geſehen, VII. desgl. mit aufgeſchnittenem Blüthenkeſſel, in 
halber natürlicher Größe, VIII. Blüthenkeſſel, von der Seite aufgeſchnitten, natürliche 
Größe, IX. Durchſchnitt, dicht über dem Eingangsgitter des Blüthenkeſſels. 
a Fahne und Eingangszelt. b Schwarzpurpurne Anlockungs- und Leitſtange. e Eingangs 
gitter des Blüthenkeſſels (zu ſtarren Fäden umgebildete Staubgefäße). d Staubgefäße, noch 
geſchloſſen. e Umgebildete Ovarien, ohne erkennbaren Lebensdienſt (vielleicht blos durch 
Correlation des Wachsthums mit den oberen Antheren umgebildet). k Ovarien, 
jetzt empfängnißfähig. 
Die an der Leitſtange hinabgekrochenen, durch das Eingangsgitter in den Blüthenkeſſel ge— 
langten kleinen Schmetterlingsmücken (Psychoda phalaenoides) fliegen, wenn fie wieder 
heraus wollen, nach dem Hellen, ſtoßen dabei an die Gitterſtäbe und fallen ſo immer wieder 
in den Blüthenkeſſel zurück. Erſt wenn die Narben verblüht ſind und die Staubgefäße ihren 
Pollen entlaſſen haben, thun ſich die bis dahin eng zuſammenſchließenden Ränder der Düte 
ſo weit aus einander, daß die kleinen Mücken wieder herauskriechen können, aber nicht, ohne 
ſich mit Pollen reichlich behaftet zu haben, den ſie dann im nächſtbeſuchten Blüthenkeſſel 
an den Narben abſetzen. 


des Arum maculatum, das Sich- ſchwarzpurpurnen, aus der Düte hervor— 


Na. 


ausbreiten der obern Hälfte der Spatha 
zu einer weithin ſichtbaren Fahne und zu 
einem offenen Eingangszelte und die Ver— 
längerung der Blüthenſtandsachſe zu einer 


ragenden Leitſtange als Züchtungsprodukte 
der beſuchenden kleinen Pſychoden, die voll— 
ſtändige räumliche und zeitliche Trennung 
der Staubgefäße und Ovarien, die Um— 


bildung der oberſten Staubgefäße zu ſtarren, 
den Keſſeleingang verſchließenden Fäden, 
das feſte Zuſammenſchließen der Ränder 
der Düte zu Anfang und ihr Auseinander— 
gehen zu Ende der Blüthezeit als Wirk— 
ungen von der Wahl der Pſychoden unabhän— 
giger Naturzüchtung erklären, während das 
Zuſammengewickeltbleiben der untern Hälfte 
der Spatha zu einer Düte ſowohl den 
Geſchlechtsorganen als den die Blüthen 
aufſuchenden Pſychoden einen warmen, ge— 
ſchützten Aufenthaltsort bietet und daher 
die combinirte Wirkung der Naturzüchtung 
und der von den Pſpychoden ausgeübten 
Züchtung vorausſetzen läßt. Nur die Um— 
bildung der oberſten Ovarien läßt ſich, ſo 
lange kein Lebensdienſt derſelben erſichtlich 
iſt, aus keiner der beiden Züchtungsarten 
erklären. Da ihre Umbildung in auffallen- 
der Weiſe der durch Naturausleſe gezüchteten 
Umbildung der oberſten Staubgefäße analog 
iſt, ſo liegt es nahe, an eine Wechſelbezieh— 
ung des Wachsthums beider zu denken. 
Wie die Gattung Aristolochia, fo hat 
ſich auch Arum in verſchiedene Arten ge— 
ſpalten, welche für Dipteren verſchiedener 
Größe Keſſelfallen bilden. So wurde in 
der Keſſelfalle unſeres Arum maculatum 
in der Regel nur die 1 bis 1½ Millimeter 
große Psychoda phalaenoides, dieſe oft 
zu hunderten, von mir gefunden, während 
Arum italicum, außer dieſer und einigen 
anderen faſt ebenſo kleinen, auch ſchon größere 
Arten, z. B. die 4 Millimeter große Dro- 
sophila funebris, einfängt und Arum 
Dracunculus durch größere Aasfliegen 
befruchtet wird. Während aber bei den 
Ariſtolochiaceen die Anpaſſung an Flie— 
gen als Kreuzungsvermittler gemeinſamer 
Familiencharakter iſt, ſind dagegen bei den 
Aroideen aus Stammeltern mit einfachen 
indifferenten Blüthen einerſeits Ekelblumen 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


329 


hervorgegangen, die ſich weiterhin größten 
theils zu Fliegenfallenblumen entwickelt 
haben, andererſeits aber auch eine ganze 
Reihe von Schneckenblüthlern, wie z. B. 
nad) Delpino: Alocasia odora, Atheru- 
rus tripartitus und mehrere andere. Calla 
palustris iſt nun nicht blos als Vorſtufe 
verschiedener Fliegenfallenblumen von Ju— 
tereſſe; ſie kann uns auch die Entſtehung 
der Schneckenblüthler ſehr wohl veranſchau— 
lichen. Denn die Narben und die nach 
oben gekehrten pollen- bedeckten Seiten der 
Staubgefäße liegen, die Blüthenſtandsachſe 
umkleidend, ſo dichtgedrängt in einer Fläche, 
daß in der That eine über ſie hingleitende 
Schnecke nicht umhin könnte, in älteren 
Blüthen mit ihrer ſchleimigen Bauchfläche 
die pollenbedeckte Seite der Staubgefäße, 
in jüngeren die Narben zu ſtreifen und 
Pollen von den erſteren auf die letzteren 
zu ſchleppen.“) Es bedürfte daher in der 
That unter veränderten Lebensbedingungen, 
unter welchen Calla palustris von Dipteren 
nur höchſt ſpärlich, von Schnecken reichlich 
befruchtet würde, nur noch einer weiteren 
Ausprägung der Proterogynie, derart, daß 
die ganze Pflanze erſt rein weiblich, dann 
rein mäunlich wäre und der Entwickelung 
eines Schutzmittels gegen die verheerenden 
Wirkungen der Schnecken (wie es nach 
Delpino bei Rhodea japonica das dick— 
fleiſchig werdende Perigon, bei Alocasia 
odora ein die Schnecken nach Vollendung 
der Kreuzungsvermittelung tödtender ätzen— 
der Saft darbietet), um unſere Ekelblume 
zu einem Schneckenblüthler umzuprägen. 

In der That hat E. Warming oft 
Waſſerſchnecken an den Blüthenſtänden herum— 
kriechen und nagen ſehen. Er ſpricht jogar 
die Vermuthung aus, daß dieſelben bei der 
Befruchtung eine weſentliche Rolle ſpielen 


möchten. Botanisk tidsskrift, 3 raekke. 2 bind. 
1877. S. 117. 


330 


Nachdem wir die beiden einheimiſchen 
Keſſelfallenblumen als aus Ekelblumen her— 
vorgegangen kennen gelernt haben, drängt 
ſich uns die Frage auf, ob denn wohl alle 
Keſſelfallenblumen überhaupt einen derarti— 
gen Urſprung genommen haben mögen. 
Da nach allen bisherigen Erfahrungen 


nur Dipteren als Kreuzungsvermittler von 
die Kreuzungsvermittelung von Inſekten 


Keſſelfallenblumen auftreten, ſo ſcheint mir 
dieſe Frage durchaus bejaht werden zu 
müſſen. Denn wir kennen kein anderes 


Mittel, durch welches eine offene Blume 
den Ausſchluß aller Nicht-Dipteren und 
die Zulaſſung der Dipteren bewirken könnte, 


als ſolche Farben und Gerüche, durch die 


ſie eben zur Ekelblume wird, und ganz 
hat, die überreichlichen Inſektenbeſuch an 


allgemein mußten doch Dipteren bereits 
die ausſchließlichen oder doch entſchieden 
überwiegenden Kreuzungsvermittler einer 
Blume ſein, ehe ſich dieſelbe zu einer 
Keſſelfalle für dieſelben ausprägen konnte. 


Ganz anders verhält es ſich mit der 
zweiten Klaſſe von Mechanismen, durch 


welche Dipteren zu regelmäßiger Kreuz— 
ungsvermittelung gezwungen werden, mit 
den Klemmfallenblumen. Dieſe 
ſind weder ausſchließlich Dipteren angepaßt, 
noch in der Regel aus Ekelblumen hervor— 
gegangen, wie uns namentlich die höchſt 
mannigfaltige Familie der Asclepiadeen 
in unzweideutigſter Weiſe erkennen läßt. 
Alle Asclepiadeen ſind bekanntlich 
durch eigenthümliche Klemmkörper ausge— 
zeichnet, welche ſich an den Rüſſeln, Borſten 
oder Krallen der beſuchenden Inſekten feſt— 
klemmen und von dieſen, ſobald ſie ſich 
gefangen fühlen, gewaltſam losgeriſſen wer— 
den. Indem nun an jedem Klemmkörper 
zwei Pollenplatten befeſtigt ſind, werden 
mittelſt des Klemmkörpers auch dieſe dem 
Beſucher angeheftet und von demſelben in 
weiter beſuchten Blüthen unbewußt und 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


ungewollt in eine Narbenhöhle geſchoben, 
wo ſie nun ihrerſeits ſich feſtklemmen und 
von dem abermals gewaltſam ſich losreißen— 
den Inſekte wieder getrennt, auf der Narbe 
zurückbleiben und Befruchtung bewirken. 

Da dieſe ganz eigenartige Befruchtungs— 
einrichtung, welche die Möglichkeit der 
Selbſtbefruchtung vollſtändig ausſchließt und 


durchaus erheiſcht, der ganzen Familie der 
Asclepiadeen eigen iſt, ſo muß ſie ohne 
Zweifel ſchon von den gemeinſamen Stamm⸗ 
eltern derſelben erworben und von dieſen 
auf alle Abkömmlinge vererbt worden ſein. 
Und wie die Gattung Asclepias noch jetzt 
honigreiche, allgemein zugängliche Blüthen 


ſich locken und auf denen die mannigfachſten 
Bienen, Wespen, Grabwespen, Fliegen 
und Schmetterlinge ſich einfinden und mit 
ihren Krallen oder (die Schmetterlinge) mit 
den Borſten ihrer Beine die Kreuzungs— 
vermittelung bewirken (wenn auch auf der 
einen Art mehr dieſe, auf der anderen 


mehr jene Gäſte), ſo wird es höchſt wahr— 


ſcheinlich auch mit den gemeinſamen Stamm— 
eltern der Familie der Fall geweſen ſein. 
Die Nachkommen aber haben ſich zum 
großen Theile einſeitig ganz verſchiedenen 
Inſektenformen angepaßt: Die Arauja- 
Arten klemmen (nach Delpino) ihre Klemm— 
körper mit den ihnen angehefteten Pollen— 
platten an die Rüſſel großer Bienen, die 
Stephanotis-Arten an die Rüſſel lang— 
rüſſeliger Schwärmer, die Stapelia- Arten 
an die Rüſſelborſten großer Aasfliegen, die 
ſie durch Farbe und Aasgeruch in dem 
Grade täuſchen, daß die betrogenen Thiere 
ſogar ihre Eier dieſen Blumen anvertrauen 
und damit natürlich ſicherem Verderben 
preisgeben; den Vincetoxicum-Arten dienen 
die Rüſſel mittelgroßer Fliegen zur 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Kreuzungsvermittelung; die Ceropeja-⸗ 
Arten fangen in einen dem des Oſterluzei 
ähnlichen Blüthenkeſſel kleine Fliegen ein, die 
mit ihren Rüſſeln die Pollenübertragung 
ausführen müſſen, während bei Aselepias 
und mehreren anderen Gattungen die Krallen 
oder Fußborſten verſchiedener Aderflügler, 
Zweiflügler und Falter die Kreuzung ver— 
mitteln.“) 

Aus dieſen Thatſachen laſſen ſich nun 
in Bezug auf die unbewußte Blumenzüchtung 
der Inſekten folgende beiden Schlüſſe ziehen: 

1. Auch bei der Ausbildung der 
Klemmfallenblumen der Asclepiadeen müſſen 
ebenſowohl die durch die Auswahl der 
Inſekten bewirkte Blumenzüchtung im 
eigentlichen Sinne des Wortes, als die von 
der Auswahl derſelben unabhängige Natur- 
züchtung derſelben (im bildlichen Sinne) 
betheiligt geweſen ſein; aber dieſe beiden 
Züchtungen müſſen mehrfach mit einander 
abgewechſelt haben. 

2. Bei der Ausprägung beſtimmten 
Inſektenformen angepaßter Fallen muß hier 
eine entgegengeſetzte Aufeinanderfolge beider 
Züchtungsarten ſtattgefunden haben als bei 
Aristolochia und Arum. 

Die Richtigkeit des erſten dieſer beiden 
Sätze ergiebt ſich aus folgender Betracht— 
ung: Da, 
Stammeltern der Asclepiadeen-Familie 
die durch Klemmkörper ausgezeichnete Be— 
fruchtungsweiſe beſeſſen haben, welche Selbſt— 
befruchtung unmöglich macht, alſo hinreichen— 
den Beſuch die Klemmkörper herausziehender 
und die Pollenplatten in die Narbenhöhlen 
bringender Inſekten zur nothwendigen Vor— 


) Delpino, relazione sull’ appareechio 
della fecondazione nelle Asclepiadee etc. 
Torino 1865; Hildebrand, Bot. Zeitung 
1867. ©. 266—270. Delpino, ulteriori 


wie oben gezeigt, ſchon die 


331 


ausſetzung hat, ſo muß ſchon bei den Ur— 
ahnen dieſer Stammeltern die von den 
Inſekten überhaupt geübte Blu— 
menauswahl zur Ausprägung ſo augen— 
fälliger und honigreicher Blumenformen 
geführt haben, daß denſelben ſtets reichlicher 
Inſektenbeſuch zu Theil und die Möglich— 
keit der Selbſtbefruchtung vollſtändig ent⸗ 
behrlich wurde. Erſt nachdem dies erreicht 
war, konnte bei den Stammeltern der As- 
clepiadeen ſelbſt durch Naturzüchtung 
die Ausbildung der Klemmkörper und der 
die Pollenplatten abfangenden Narbenhöhlen 
bewirkt werden, deren einzelne Schritte wir 
nicht mehr verfolgen können. Darauf 
machte ſich bei den Abkömmlingen dieſer 
Stammeltern wieder die Blumenaus— 
wahl der Inſekten, jetzt aber der ver— 
ſchiedenen, mit beſonderen Geſchmacksricht— 
ungen, Liebhabereien und Bedürfniſſen 
ausgeſtatteten Inſektenabtheilungen geltend 
und züchtete die verſchiedenen Asclepiadeen— 
Blumen, welche theils Schwärmern, theils 
Aasfliegen, theils winzigen Dipteren u. ſ. w. 
am beſten paſſen. Endlich bewirkte wieder, 
gleichzeitig mit dieſer Blumenzüchtung der 
Inſekten oder ihr nachfolgend, Natur— 
züchtung die Ausprägung derjenigen Ab 
änderungen, welche durch die beſtimmte, ſie 
bevorzugende Inſektenabtheilung, ſobald ſie 
ſich auf den Blüthen einfand, am ſicherſten 
Kreuzung erfahren mußten, wie z. B. die 
mit Klemmfallen combinirte Fliegen-Keffel- 
falle von Ceropeja. 

Daß dabei die Ausprägung beſtimmten 
Inſektenformen angepaßter Fallen einer 
entgegengeſetzten Aufeinanderfolge beiderlei 
Züchtungsarten ihre Entſtehung verdankt 
als bei Arum und Aristolochia, tritt am 
deutlichſten hervor, wenn man demſelben 
engbegrenzten Beſucherkreiſe entſprechende 


| osservazioni I. p. 224 ff. Fallen zum Vergleiche heranzieht, z. B. 


Aasfliegenfallen, welche ſich ſowohl bei 
Arten der Gattungen Arum und Aristo- 
lochia, als bei Asclepiadeen (Stapelia) 
vorfinden. Da ſpringt denn ſofort in die 
Augen, daß bei Arum und Aristolochia, 
wie oben gezeigt, zuerſt die Blumenauswahl 
Fäulnißſtoffe liebender Inſekten ihre Wirk— 
ſamkeit entfaltet und Ekelblumen gezüchtet 
hat, welche dann erſt durch die von der 
Wahl der Inſekten unabhängige Naturzücht— 
ung zu Aasfliegenfallen ausgebildet worden 
ſind, daß dagegen bei den Asclepiadeen In— 
ſektenfallen die urſprüngliche, bereits den 
gemeinſamen Stammeltern durch Natur- 
züchtung zu Theil gewordene und von dieſen 
ererbte Blüthenausrüſtung bilden, welche ſich 
erſt nachträglich durch die unbewußte Blu- 
menzüchtung der verſchiedenen Inſektenab— 
theilungen in Bienen-, Schwärmer-, Aas— 
fliegen- und andere Fallenblumen differen— 
zirt haben. 

Während ſich bei den Asclepiadeen 
die mit den Staubkölbchen verbundenen 


Klemmkörper harten Hervorragungen des 


Inſektenleibes, Krallen, Borſten oder Rüſſeln, 
anklemmen, wird von anderen Klemmfallen— 
blumen, z. B. den Cypripedium - Arten, 


das ganze Inſekt feſtgeklemmt und kann 
nicht eher wieder loskommen, als bis es 
an der Narbe etwa mitgebrachten Pollen 
abgeſetzt und an den Staubgefäßen neuen 


mitgenommen hat. 

Nach der Geräumigkeit des vorüber— 
gehenden Gefängniſſes, in welches ſie ihre 
Kreuzungsvermittler einſchließen, könnte man 
die Cypripedium-Blumen den Keſſel— 
fallenblumen von Arum und Aristolochia 
anzureihen ſich verſucht fühlen. Sie ſind 


aber von denſelben in Bezug auf die Art 


der Kreuzungsvermittelung ganz durchgrei— 
fend verſchieden. Denn bei Arum und 
Aristolochia werden zahlreiche kleine Gäſte 


ung zwingt. 


2332 Müller, Die Inſekten als unbew ußte Blumenzüchter. 


in den Blüthenkeſſel gelockt, treiben ſich 
ganz regellos in demſelben umher und 
werden nur dadurch zu regelmäßigen Kreuz— 
ungsvermittlern, daß ſie bei ihrem Eintritte 
nur die Narben entwickelt finden und erſt 
dann wieder entlaſſen werden, wenn ſie ſich 
nach dem Verblühen der Narben und der 
Entleerung der Staubgefäße mit dem Pollen 
derſelben behaftet haben. Dagegen locken 
die Cypripedium-Blüthen in ihre einem 
weſtfäliſchen Holzſchuhe ähnliche Unterlippe“) 
jedesmal nur einen einzigen Kreuzungsver— 
mittler hinein und laſſen denſelben, da er 
von den glatten, nach oben zuſammenge— 
bogenen Wänden immer wieder abgleitet, 
nicht anders wieder heraus, als indem er 
ſich durch eine Klemme hindurchzwängt, 
die ihn zugleich zur Vermittelung der Kreuz— 
Die einzige Möglichkeit des 
Ausganges gewährt nemlich dem gefange— 
nen Gaſte eine der beiden kleinen Oeffnun— 
gen zu beiden Seiten der Baſis der Unter— 
lippe, und dieſe kann er nicht erreichen, 
ohne ſich unter der Narbe hindurchzudrän— 
gen; wenn er ſich nun in die kleine Aus— 
gangsöffnung hineingezwängt hat, kann er 
aus ſeiner eingeklemmten Lage nicht anders 
wieder herauskommen, als indem er ſich 
mit dem klebrigen Pollen eines Staubge— 
fäßes beſchmiert, welcher dann in der nächſt— 
beſuchten Blüthe die Kreuzung der Narbe 
bewirken muß. Die Cypripedium- Blüthen 
ſind alſo richtige Klemmfallen. 

Wie die Klemmfallen der Asclepiadeen, 
fo fangen auch diejenigen der Cypripedium- 
Arten theils Fliegen, theils andere Inſekten 
(unſere einheimiſche Art nemlich Bienen) 
ein. Der muthmaßliche Urſprung der 


) Die Blume wird daher in Weſtfalen, 


wenigſtens bei Stromberg und Oelde, ebenſo 
treffend als derb „Holſchkenblaume“ (Holz— 
ſchuhblume) genannt. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Bienenfalle unſeres Frauenſchuh (Cypripe- 
dium calceolus) iſt aber, was die Com— 
bination der Wirkung der Naturzüchtung und 
der von den Inſekten ausgeübten Zücht— 
ung betrifft, wiederum ein ganz eigenthüm— 
licher, nicht nur von dem der Asclepiadeen, 


ſondern ebenſo von dem der Aristolochia- 


und Arum-Inſektenfallen jo verſchieden, daß 
er wohl eine beſondere Beſprechung ver— 
dient. Alle (4 bis 5) bisher in Bezug auf 
ihre biologiſche Bedeutung ins Auge gefaßten 
exotiſchen Cypripedium-Arten haben ſich 
nemlich einem der ſcharfſinnigſten Biologen *) 
als Fliegenfallenblumen herausgeſtellt; bei 
einer derſelben beobachtete er, allerdings 
nur im Gewächshauſe, den Fliegenbeſuch 
direkt. Auch die nächſtverwandte Orchideen— 
gattung, Selenipedium, iſt nach demſelben 
Gewährsmann eine Fliegenfallenblume. Sie 
iſt von derſelben Einrichtung wie Cypri— 
pedium, nur mit dem Unterſchiede, daß 
ſich die beiden oberen ihrer drei Blumen— 
blätter in etwa ½ Meter lange herab— 
hängende Schwänze umgebildet haben, welche, 
wie auch ſonſt dergleichen Bildungen (z. B. bei 
Himantoglossum hireinum), beſuchenden 
Dipteren als Leitſeile zu dienen ſcheinen. 
Nur unſer einheimiſcher Frauenſchuh (Cy— 
pripedium calceolus) wirkt, nach meinen 
oft wiederholten direkten Beobachtungen, 
als Bienenfalle, indem unausgeprägtere, 
weniger intelligente Bienen (berſchiedene 
Arten der Gattung Andrena) von ihr ein— 
gefangen und in den Dienſt als Kreuzungs— 
vermittler gezogen werden. Aber auch bei 
ihm findet ſich eine Eigenthümlichkeit vor, 
welche auf urſprüngliche Anpaſſung an 
Dipteren hindeutet, nemlich die purpurnen 
Flecken auf der Oberſeite des zu einem 
lichtabſperrenden Schirme umgebildeten drit— 


DE. Delpino, Ulteriori osservazioni I. 
p. 175 ff., II. p. 227 ff. 


333 


ten Staubgefäßes. Es muß deshalb, nach 
den vorliegenden Thatſachen, als das Wahr- 
ſcheinlichſte erſcheinen, daß alle Frauenſchuh— 
arten, einſchließlich des Selenipedi um, von 
gemeinſamen Stammeltern abſtammen, welche 
durch die Blumenzüchtung der Fliegen be— 
reits dieſen allein entſprechend ſich ausge— 
bildet hatten und durch Naturzüchtung zu 
Klemmfallen derſelben geworden waren. 
In unſerem Cypripedium calceolus würde 
hiernach eine Blume vorliegen, welche aus 
einer bereits ausgeprägten Fliegenfalle unter 
veränderten Lebensbedingungen zu einer 
Bienenfalle umgeprägt worden iſt. Die 
Purpurflecken des Staminodiums wären 


als Zeugen urſprünglicher Fliegenfreund— 


ſchaft übrig geblieben; aber die lebhafteren 
Farben und der honigſüße Wohlgeruch wür— 
den bekunden, daß ſeitdem eine Geſellſchaft 
äſthetiſch ausgebildeterer Blumenzüchter die 
ihrer Geſchmacksrichtung entſprechenden Ab— 
änderungen bevorzugt hat. 

Eine von den Asclepiadeen und Oy- 
pripedium wieder ganz verſchiedene Flie— 
genklemmfalle beſitzt Pinguicula alpina, 
wie ich im Auguſt vorigen Jahres im 
Heuthale am Bernina wiederholt durch di— 
rekte Beobachtung conſtatiren konnte. Dieſer 
Fall iſt noch inſofern von beſonderem In— 
tereſſe, als er uns von allen bis jetzt be 
kannt gewordenen Klemmfallenblumen nicht 
blos in Bezug auf ihre Entdeckung, ſondern 
auch in Bezug auf ihre Entſtehung diejenige 
neueſten Datums darbietet und die Reihe ver— 
ſchiedener Altersſtufen derſelben um ein Glied 
erweitert. Denn während die Klemmfallen 
der Asclepiadeen ſchon bei den Stammeltern 
einer weit verzweigten Familie, diejenigen der 
Cypripedien bei den Stammeltern eines 
kleinen Familienzweiges zur Ausprägung 
gelangt find, iſt die Klemmfalle der Pin- 
guicula alpina auf dieſe eine Art beſchränkt. 


F 


334 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Die weißen, im Blütheneingange mit | ift aber auf der Unterfläche mit kleinen 
zwei gelben und gelb behaarten Ausſack- einzelligen geſtielten Knöpfchen (Fig. XVII.) 
ungen (a) verzierten Blüthen locken vor— beſetzt, die von zarter Haut umkleidet und 
zugsweiſe mittelgroße Fliegen (Musciden) mit Saft erfüllt ſind. Dieſe Knöpfchen 
an, die ganz in die Blüthe hinein kriechen, ſcheinen das Genußmittel zu ſein, welches 
bis ſie mit dem Kopfe in den hohlen die Fliegen zu wiederholten Beſuchen der 
Sporn (e) kommen. Der Sporn bietet Blüthen anlockt. Beim Hineinkriechen in 


ihnen keinen Honig dar; ſeine Innenwand dieſelben dienen ihnen ſowohl die gelben 


Fig. 4. Eine Klemmfallenblume (Pinguicula alpina). 


X. Blüthe von der Seite geſehen. XI. Dieſelbe im Längsdurchſchnitt (8½ : 1). XII. Ge⸗ 
ſchlechtstheile derſelben (7:1). XIII. Obere Hälfte einer Blüthe, deren Staubgefäße noch 
geſchloſſen find (3½ : 1). XIV. Geſchlechtstheile derſelben (7: 1). XV. Geſchlechtstheile einer 
Blüthe, deren Staubbeutel ſich geöffnet haben, nachdem der untere Narbenlappen von hinten 
her in die Höhe geklappt iſt, ſo daß man ſeine Unterfläche ſieht. XVI. Untere Hälfte der 
Blüthe (Fig. XIII). XVII. Zwei der geſtielten Knöpfchen, mit welchen die innere Spornwand 
ausgekleidet iſt (80: 1). ca Kelch, co Blumenkrone, fi Staubfäden, an Staubbeutel, 
po Pollen, ov Fruchtknoten, st Narbe. Die Erklärung von a, b, e im Text. 


Haare der beiden Ausſackungen im Blüthen— | Nähe betrachtet. Die ſchräg nach hinten 
eingange (a), als die farbloſen, ſtarren, gerichteten ſteifen Haare hindern ſie am 
ſchräg nach hinten gerichteten Haare hinter raſchen Rückzug. Sie kann nur ganz 


der Ausſackung (b) als bequeme Haltpunkte. 
Sobald aber die Fliege mit dem Kopfe 


im Sporne angelangt iſt, ſitzt ſie ziemlich 


feſt, ſo daß ſie z. B. nicht entwiſcht, wenn 
man die Blume abpflückt und aus nächſter 


langſam zurück, indem ſie ſich mit dem 
ſonſt gegen die Sperrhaare rennenden Leibe 
möglichſt nach oben drängt, wobei ſie mit 
dem Rücken die Antheren ſtreift und den 
unteren Lappen der (nicht reizbaren) Narbe 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


nach vorn und oben klappt. Da nun die 
Narbe ſich auch hier erheblich früher zur 
Reife entwickelt, als die Staubgefäße, fo 
bewirkt die Fliege, wenn ſie ſich einmal mit 
Pollen älterer Blüthen behaftet hat, Be— 
fruchtung, ſo oft ſie in neue Blüthen ein— 
dringt. Denn an dem unteren Narben— 
lappen derſelben bleibt dann ein Theil des 
Polens haften. (Ich fand mehrmals in 
der Klemme ſtecken gebliebene Fliegen [ Mus— 
ciden! todt. Jedenfalls waren fie zu 
ſchwach geweſen, in der beſchriebenen Weiſe 
wieder herauszukommen). 

Pinguieula vulgaris hat dieſe Klemm⸗ 
falleneinrichtung nicht. Die untere Fläche 
ihrer Blüthenhöhle iſt ſtatt der ſtarren 
Sperrhaare mit am Ende keulig verdickten, 
vielzelligen, weichen Haaren bekleidet, ihr 
Sporn enthält nur äußerſt ſpärliche, geſtielte 
Saftknöpfchen. Ihre Kreuzungsvermittler 
zu belauſchen, iſt mir noch nicht gelungen. 

Es bedarf keiner näheren Ausführung, 
daß auch bei Pinguicula alpina die un⸗ 
mittelbar nur den Fliegen zu gute kommen⸗ 
den Eigenthümlichkeiten der Blüthe, ihre 
weißliche Farbe, die gelbgefärbten und mit 
gelben, ſenkrecht abſtehenden Haaren be— 
kleideten Ausſackungen im Blütheneingange 
und die geſtielten Saftknöpfchen im Sporne, 
als das Züchtungsergebniß der von den 
Fliegen geübten Blumenauswahl, die un— 
mittelbar nur der Pflanze zu gute kom⸗ 
mende Eigenthümlichkeit der Sperrhaare 
dagegen als Produkt der von ihrer Aus— 
wahl unabhängigen Naturzüchtung zu be— 
trachten ſind. 

Außer den Ckelblumen und Fliegen— 


fallenblumen, von denen es feſtſteht, daß 


ſie der ausſchließlichen Kreuzungsvermittel— 
ung durch Dipteren angepaßt ſind, giebt 
es noch eine dritte Klaſſe von Blumen, 
von denen dies wenigſtens mit großer 


335 


Wahrſcheinlichkeit vermuthet werden kann. 
Es ſind dies ſolche Blumen, welche der 
Geſchmacksrichtung der Fliegen entſprechende 
Anlockungsmittel beſitzen, ihren Beſuchern 
aber weder Blüthenſtaub, noch Honig, noch 
Obdach, noch ſonſt etwas anderes als bloße 
Täuſchung gewähren und die daher gewiß 
nur ſo dumme Thiere wie die Fliegen zu 
wiederholten Beſuchen und zur Kreuzungs⸗ 
vermittelung veranlaſſen können. 

Das allbekannte Fliegenblümchen, Ophrys 
muscifera, kann am beſten als Beiſpiel 
dieſer Klaſſe von Blumen dienen. Seine 
purpurbraune, ſammetartige Unterlippe er— 
ſcheint mit ihrem fahlbläulichen nackten 
Flecke ganz wie dazu gemacht, durch ihre 
Farbe Fäulnißſtoffe liebende Fliegen an ſich 
zu locken. Wenn ſie dies wirklich thut, 
wofür die direkte Beobachtung bis jetzt 
noch fehlt, ſo werden die beiden ſchwarzen 
glänzenden Knöpfchen an der Baſis der 
Unterlippe, die wie zwei Flüſſigkeitströpf— 
chen ausſehen und deshalb ganz paſſend 
als Scheinnektarien bezeichnet werden, gewiß 
nicht verfehlen, die angeflogene Fliege zu 
einem Saugverſuche und damit zum erſten 
Akte der Kreuzungsvermittelung zu veran— 
laſſen. Denn indem ſie ſich nach einem 
der beiden Scheinnektarien niederbückt, ſtößt 
ſie mit dem Kopfe faſt unvermeidlich an 
das über demſelben hervorragende Klebſtoff— 
behältniß (rostellum) und kittet ſich ein 
Staubkölbchen an; und wenn ſie einige 
Minuten ſpäter auf einer anderen Blüthe 
derſelben Täuſchung unterliegt, ſo hat ſich 
inzwiſchen das dem Kopfe angekittete Staub- 
kölbchen ſoweit abwärts gebogen, daß es 
gegen die Narbe geſtoßen wird und da 
Kreuzung bewirkt. Mit der vermuthungs— 
weiſe hier ausgeſprochenen Deutung des 
Fliegenblümchens, welches man hiernach als 
eine Täuſchblume bezeichnen dürfte, 


336 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


ſteht es gewiß in vollem Einklange, daß 
man immer nur eine verhältnißmäßig ge— 
ringe Zahl ſeiner Blüthen eines oder beider 
Staubkölbchen beraubt und befruchtet findet.“) 

Die vorhergehenden Erörterungen hatte 
ich bereits ſeit mehreren Wochen völlig ab— 
geſchloſſen bei Seite gelegt, als mir geſtern, 
am 22. April, bei nochmaliger genauer 
Betrachtung der räthſelhaften Blüthe unſe— 
rer Einbeere, Paris quadrifolia, mit einem 
Male klar wurde, daß auch ſie in allen 
ihren Theilen verſtändlich wird, wenn man 
fie als Fliegentäuſchblume auffaßt. 
In ihrem widrigen Geruche und ihrer ziem— 
lich ausgeprägten Proterogynie ſtimmt ſie, 
— ſo ſagte ich mir — mit Asarum überein 
und charakteriſirt ſich als Ekelblume. Auch 
die grannenartige Verlängerung des Mittel— 
bandes ihrer Staubgefäße erinnert lebhaft 
an Asarum. In der Mitte der Paris- 
Blüthe glänzt, von vier purpurfarbenen, 
von Narbenpapillen rauhen Griffeläſten 
gekrönt, der ſchwarzpurpurne Fruchtknoten, 
als wäre er von Feuchtigkeit bedeckt. Er 
wird die Neugier Fäulnißſtoffe liebender 


) Nach vollendetem Satz vorliegender 
Arbeit, habe ich, am 2. Juni d. I., entdeckt, 
daß unter günſtigen Bedingungen ein breiter 
mittlerer Längsſtreifen der Unterlippe, welcher 
den fahlbläulichen Fleck in ſich ſchließt, ſich 
mit zahlreichen Tröpfchen bedeckt. Auch habe 
ich eine Fleiſchfliege, Sarcophaga, auf der 
Unterlippe ſitzend und mit dem Kopfe der 
Baſis derſelben zugekehrt, an dieſen Tröpfchen 
lecken ſehen. Bei meiner Annäherung flog 
ſie leider weg, ehe ſie noch bis zu den Schein— 
nektarien gelangt war. Die Definition der 
Täuſchblumen muß alſo dahin modificirt wer— 
den, daß ſie durch Scheinnektarien ihre Be— 
ſucher täuſchen, mögen ſie denſelben übrigens 
Ausbeute darbieten oder nicht. Die Ver— 
muthung, daß Ophrys muscifera Fäulnißſtoff 
liebende Dipteren anlockt, iſt durch die mit— 
getheilte Beobachtung zur Gewißheit geworden. 


Dipteren erregen und in ihnen die Vor— 
ſtellung erwecken, daß hier etwas ihnen 
Zuſagendes zu lecken ſei. Habe ich doch 
ſchon vor Jahren (vgl. meine Befruchtung 
der Blumen durch Inſekten S. 65) eine 
Fliege auf der Mitte der Blüthe, den 
Narben, ſitzen und bei meiner Annäherung 
wegfliegen ſehen! Die vier Blumenblätter 
biegen ſich als grünlichgelbe, linienförmige 
Zipfel aus der Blüthe heraus nach unten, 
oft bis faſt auf die vier Stengelblätter 
herab. Sie können kleinen Mücken als 
Leitſeile dienen, welche ſie bis in die Mitte 
der Blüthe, zu dem die Täuſchung bewir— 
kenden Fruchtknoten leiten. Die um die 
Blüthenmitte herum in die Höhe ragenden 
Staubgefäße bilden, gerade ſo wie die 
Staubgefäße von Asarum, Abfliegeſtangen, 
an welchen nach dem Aufſpringen der 
Staubbeutel, Dipteren nicht in die Höhe 
kriechen können, ohne ſich mit Pollen zu 
behaften. Es kommt alſo blos darauf an, 
ob allen dieſen Deutungen auch der that— 
ſächliche Inſektenbeſuch entſpricht, der ſich, 
bei der großen Scheuheit der kleinen Dip— 
teren, allerdings nur ſehr ſchwer wird feſt— 
ſtellen laſſen. 

Von dieſen Betrachtungen getrieben, be— 
nutzte ich, von herrlichem Wetter begünſtigt, 
heute, am 23 April, den Vormittag, um 
meine Vermuthung auf die entſcheidende 
Probe zu ſtellen und hatte in der That 
die Genugthuung, dieſelbe wenigſtens zum 
Theil durch direkte Beobachtung beſtätigt 
zu ſehen. In dem Rirbecker Buſche, an 
einer Stelle, wo zahlreiche Einbeeren jetzt 
gerade in ſchönſter Blüthe ſtehen, ſtreckte 
ich mich auf den Waldboden nieder und 
harrte, geräuſchlos und bewegungslos, nur 
die etwa 15—20 um mich ſtehenden Pa- 
ris-Blüthen ins Auge faſſend, ob nicht 
durch meine Annäherung vielleicht verſcheuchte 


kleine zweiflügelige Gäſte ſich wieder einfinden 
würden. Ich harrte über eine Stunde 
geduldig aus und ſah in der That wäh— 
rend dieſer Zeit mehrmals eine kleine Mücke 
(Ceratopogon?) und einige Musciden, 
darunter Scatophaga merdaria F., an 
die Blüthen fliegen und vorzugsweiſe am 
Fruchtknoten, bisweilen aber auch an den 
Staubgefäßen beſchäftigt. Die Thierchen 


obachtung aus einiger Entfernung begnügen 
mußte, und ich war nie ſo glücklich, den 
ganzen Verlauf ihrer Thätigkeiten, ſo wie 
ich ihn mir gedacht hatte, beobachten zu 
können. Doch dürfte wenigſtens die Haupt— 
ſache, daß der Fruchtknoten, obgleich er 
kein Genußmittel darbietet, anlockend auf 
gewiſſe Dipteren wirkt, daß alſo Paris eine 
Täuſchblume iſt, hiermit thatſächlich ent- 
ſchieden ſein, und auch die oben gegebene 
Deutung der Blütheneinrichtung von Ophrys 
museifera gewinnt dadurch jedenfalls ſehr 
an Wahrſcheinlichkeit. 


Außer Ekelblumen, Fallenblumen und 
Täuſchblumen ſind bis jetzt irgend welche 
andere Blumen, welche der ausſchließlichen 
Fremdbeſtäubung durch Vermittelung Fäul— 
nißſtoffe liebender Dipteren angepaßt wären, 
nicht bekannt. Es läßt ſich daher das 
Geſammtergebniß ihrer Thätigkeit als ſelbſt— 
ſtändiger Blumenzüchter in folgenden Sätzen 
zuſammenfaſſen: 

1. Wie alle Blumen überhaupt, ſo ſind 
auch die dieſen Dipteren ausſchließlich an- 
gepaßten das Ergebniß einer doppelten 
Züchtung, indem einerſeits diejenigen indi— 
viduellen Abänderungen ſich erhalten und 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


waren jo ſcheu, daß ich mich mit ihrer Be- | 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


| 


ſummirt haben, welche die Blumenauswahl 
der Fliegen und Mücken beſtimmen und 
den Blumen ſelbſt erſt mittelbar, durch 
wirkſamere Herbeilockung dieſer Kreuzungs— 
vermittler, vortheilhaft werden, andererſeits 
aber durch Naturausleſe auch ſolche Ab— 
änderungen ausgeprägt worden ſind, welche, 
von der Wahl der Beſucher unabhängig, 
der Pflanze unmittelbar nützen, ſei es durch 
Sicherung der Kreuzung bei eintretendem 
Dipteren-Beſuche, ſei es als Schutzmittel 
der Blumen gegen Wetterungunſt und Thiere. 

2. Durch die Blumenauswahl der 
Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren find Efel- 
farben und Ekelgerüche gezüchtet worden, 
welche für ſich allein genügen, alle ſonſtigen 
Blumengäſte auszuſchließen und überdies oft 
Blumenformen, welche einen geſchützten 
Schlupfwinkel darbieten. Iſt letzterer ſehr 
verſteckt, ſo kommt als ihr weiteres Zücht⸗ 
ungsprodukt ein offenes Eingangszelt, eine 
Leitſtange oder ein Leitſeil hinzu, welches 
den kleinen Blumenzüchtern ein bequemes 
Hineinkriechen in den Schlupfwinkel geſtattet. 

3. Von der Wahl der Dipteren unabhän- 
gige Naturausleſe hat die von dieſen ge— 
züchteten Ekelblumen theils zu Kreuzung 
ſichernden Keſſelfallen und Klemmfallen, 
theils zu Täuſchblumen gezüchtet. 

4. Da hierzu Dummdreiſtigkeit der 
Kreuzungsvermittler nothwendige Vorbe— 
dingung war, ſo haben ſich keine den blu— 
menſteten, einſichtigeren Dipteren, wie z. B. 
Syrphiden, Empiden, Conopiden und 
Bombyliden, ſondern nur dummen, Fäul— 
nißſtoffe liebenden und daher blumen-un⸗ 
ſteten Musciden und Mücken ausſchließlich 
angepaßte Blumen ausgebildet. 


— — — — — — 


43 


Die Herrschaft des Ceremoniells. 


Von 


Herbert Spencer. 


WII. 
(Schluß.) 


ſind in dieſer Hinſicht allen übrigen gleich. 
Ebenſo wie der Taubſtumme, welcher uns 
| eine von ihm zu bezeichnende Perſon da- 
er noch unentwickelte menſch- durch ins Gedächtniß ruft, daß er eine 
SS liche Verſtand zeigt keine Ini Eigenthümlichkeit derſelben nachahmt, keine 
SEN tiative. Indem er zähe an Idee davon hat, daß er damit ein Symbol 
Az dem feſthält, was feine Väter einführt, ebenſo wenig hat dies der Wilde, 
ihm gelehrt, geht der primi- wenn er eine beſtimmte Stelle als diejenige 
tive Menſch nur in unbeabſichtigten Ver- bezeichnet, wo das Känguruh getödtet wurde, 
änderungen zum Neuen über. Was, wie oder als diejenige, wo die Klippe herunter— 
gegenwärtig Jedermann weiß, von den fiel — ebenſo wenig hat er dies, wenn er 
Sprachen gilt, daß ſie nämlich nicht erdacht die Erinnerung an ein Individuum weckt, 
find, ſondern ſich entwickelt haben, gilt indem er ſich auf einen hervorſtechenden 
ebenſo von den Gebräuchen und auch von Zug in deſſen Erſcheinung oder auf eine 
den Titeln. Betrachtet man ſie in ihrer Thatſache aus ſeinem Leben bezieht; und 
jetzigen Form, jo erſcheinen fie als künſt- ebenſo wenig hat er dies, wenn er den 
liche Produkte; es drängt ſich von ſelbſt Perſonen jene buchſtäblich oder bildlich be— 
die Idee auf, ſie ſeien zu irgend einer Zeit ſchreibenden Namen beilegt, welche ſich dann 
mit Bewußtſein feſtgeſtellt worden. Dies | hier und da zu Titeln entwickelten. 
iſt aber ebenſo wenig richtig, als wenn man Schon die bloße Vorſtellung von einem 
behaupten wollte, unſere gewöhnlichen Wör— | Eigennamen iſt gleichſam unverſehens ent— 
ter ſeien einſtens abſichtlich erſonnen worden. ſtanden. Die Thatſache, daß bei vielen 
Namen von Dingen, Eigenſchaften und unciviliſirten Völkern ein Kind Jahre lang 
Handlungen find urſprünglich ſtets unmittel- als „Gewitter“ oder „Neumond“ oder 
bar oder mittelbar beſchreibend, und die „Vaters Rückkunft“ bezeichnet wird, zeigt 
Namen, welche wir als Titel bezeichnen, nus, daß urſprünglich nichts weiter vorlag 


Titel. 


als eine Bezugnahme auf einen Vorfall, 
welcher am Tage ſeiner Geburt ſtattfand, 
als das beſte Mittel, um den Gedanken 
an das einzelne Kind, was man gerade 
meint, hervorzurufen. Und wenn es ſpäter 
einen andern Namen bekommt, wie z. B. 
„Kürbiskopf“ oder „Schmutziger Sattel“ 
(Namen der Dakotahs), jo entſpringt dies 
aus dem willkürlichen Gebrauch eines zwei— 
ten und manchmal geeigneteren Mittels zur 
Identificirung. Offenbar iſt daſſelbe hin— 
ſichtlich ſolcher minder nothwendiger Namen 
der Fall geweſen, wie es die Titel ſind. 
Dieſelben müſſen ſich von gewöhnlichen 
Eigennamen einfach deshalb differencirt haben, 
weil ſie irgend eine Beſonderheit, eine That 
oder eine Funktion, die in Ehren gehalten 
wurde, klar bezeichneten. 

Viele wilde Raſſen pflegen einem Mann, 
nachdem er in der Schlacht eine große Helden— 
that vollführt, einen beſondern Ruhmes— 
namen beizulegen, welcher neben demjenigen, 
unter dem er bisher bekannt war, oder ſo— 
gar an Stelle deſſelben in Gebrauch kommt. 
Die Tupis bieten uns ein gutes Beiſpiel. 
„Der Gründer des (kannibaliſchen) Feſtes 
legte ſich zur ehrenvollen Erinnerung an 
das Geſchehene einen neuen Namen bei und 
ſofort liefen ſeine weiblichen Verwandten 
durch das Haus und riefen den neuen 
Titel aus.“ Und von demſelben Volke 
berichtet Hans Stade: „So viele Feinde 
einer von ihnen erſchlägt, ſo viele Namen 
legt er ſich bei, und der gilt als der edelſte 
unter ihnen, welcher die meiſten ſolchen 
Namen trägt.“ Und in Nordamerika, wenn 
ein junger Creek-Indianer feinen erſten Scalp 
heimbringt, empfängt er die Weihe als 
Mann und als Krieger und erhält einen 
„Kriegsnamen“. Bei dem weiter vorge— 
ſchrittenen Volke im alten Nicaragua hatte 
dieſer Brauch zur Anwendung eines allge— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


339 


meinen Namens für dieſes Verhältniß ge— 
führt: ſie nannten Jeden, der einen Andern 
in der Schlacht erſchlagen hatte, „Tapa— 
lique“, und „Cabra“ war der entſprechende 
Titel, der bei den Indianern des Iſthmus 
ertheilt wurde. 

Wie dann beſchreibende Ehrennamen, 
welche auf ſolche Weiſe während früherer 
kriegeriſcher Zeiten entſtanden, in einzelnen 
Fällen zu officiellen Namen werden, erſehen 
wir ſofort, wenn wir die betreffenden Bei— 


ſpiele vergleichen, welche uns blutdürſtige 


und kannibaliſche Geſellſchaften auf etwas 
verſchiedenen Stufen der Entwickelung dar— 
bieten. In Fidſchi „empfangen Krieger 
von Rang allerhand ſtolze Titel, wie z. B. 
„Der Zertheilerd eines Gaues, Der Ver— 
wüfter» einer Küſte, „Der Entvölferer » 
einer Inſel, wobei nämlich ſtets der Name 
des in Frage ſtehenden Ortes beigefügt 
wird.“ Im alten Mexico aber war der 
Name eines Amtes, welches die Brüder oder 
die nächſten Verwandten des Königs be— 
kleideten: „Menſchenfäller , und der eines 
andern «Blutvergießer». 

Wo die Vorſtellung von dem Unter— 
ſchiede zwiſchen Menſchen und Göttern ſehr 
unbeſtimmt iſt und die Bildung von Göt- 
tern durch Apotheoſe von Häuptlingen noch 
fortdauert, wie bei den Fidſchianern, da 
finden wir auch unter den Göttern ähnliche 
Namen, wie ſie dort den wildeſten Kriegern 
zu ihren Lebzeiten beigelegt werden. „Der 
Frauenräuber“, „Der Gehirnfreſſer“, „Der 
Meuchelmörder“, „Friſch-vom-Gemetzel“ 
erſcheinen als ganz naturgemäße göttliche 
Titel, da ſie aus beſchreibenden Namen bei 
ahnenverehrenden Kannibalen entſtehen. Daß 
aber auch manche Titel der von höheren 
Raſſen verehrten Götter ähnlichen Ur- 
ſprungs ſind, deuten ähnliche beſchrei— 
bende Namen an, wie z. B. derjenige des 


340 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


Mars: „Der Blutbeflecker“, und derjenige 
des hebräiſchen Gottes: „Der Gewalt— 
thätige“, — denn letzteres iſt nach Kuenen 
die buchſtäbliche Ueberſetzung von Schaddai. 

Ganz allgemein wird auch bei primi— 
tiven Menſchen ſtatt eines buchſtäblich be— 
ſchreibenden Ehrennamens ein bildlich be— 
ſchreibender gegeben. Von den eben er— 
wähnten Tupis leſen wir weiter, daß ſie 
„ihre Benennungen von ſichtbaren Gegen— 
ſtänden hernähmen, wobei Stolz oder Wild— 
heit ihre Wahl beeinflußte.“ Wie aber 
ſolche Namen, die zuerſt ohne beſtimmte 
Abſicht von den Beifall rufenden Gefähr— 
ten zuerkannt und ſpäter in etwas abſicht— 
licherer Weiſe angenommen werden, ſehr 
gern gerade bei den tapferſten Menſchen 
Anklang finden und ſo zu Namen von 
Herrſchern werden, ergiebt ſich aus dem, 
was Ximenes uns von den höher civi— 
liſirten Völkern von Guatemala erzählt. 
Die von ihm erwähnten Namen ihrer 
Könige ſind: „Lachender Tiger“, „Tiger 
des Waldes“, „Unterdrückender Adler“, 
„Adlerkopf“, „Starke Schlange“ u. ſ. w. 


Im ganzen wilden Afrika findet ſich eine 
ähnliche Entſtehung der königlichen Titel. 


Der König von Aſchanti führt unter ſeinen 
lobpreiſenden Namen auch die beiden: 
„Löwe“ und „Schlange“. In Dahome 
werden derartig abgeleitete Titel in den 
Superlativ erhoben: der König iſt „der 
Löwe der Löwen“. Und in ähnlichem 


Sinne wird der König von Uſambara 


„Löwe des Himmels“ genannt — ein 
Titel, aus welchem, ſofern dieſer König 
der Vergötterung theilhaftig wird, Mythen 
verſchiedener Art ganz natürlich entſtehen 
müſſen. Aus dem Zululande erhalten wir 
neben Zeugniſſen für denſelben Brauch auch 
ein Beiſpiel für die Art und Weiſe, in 


unbelebten gewaltigen Dingen abgeleitet 
werden, ſich mit Ehrennamen anderer Ab— 
ſtammung verbinden und ſo zu einigen 
jener Anredeformen überführen, die wir im 
Früheren beſprochen haben. Die Titel des 
Königs ſind: „Der edle Elephant“, „Du, 
der Du ewig biſt“, „Du, der Du ſo hoch 
biſt wie die Himmel“, „Du, der Du die 
Menſchen erzeugſt“, „Der Schwarze“, „Du, 
der Du ein Vogel biſt, welcher andere 
Vögel frißt“, „Du, der Du ſo hoch biſt 
wie die Berge“, „Du, der Du Frieden 
bringſt“ u. ſ. w. Shooter zeigt uns, 
wie dieſe Zulutitel verwendet werden, in— 
dem er einen Theil einer an den König 
gerichteten Anrede citirt: „Du Berg, Du 
Löwe, Du Tiger, Du, der Du ſchwarz biſt. 
Es giebt keinen, der Dir gleich wäre.“ 
Ferner finden ſich Beweiſe dafür, daß jo 
entſtandene Ehrennamen ſelbſt in Titel über— 
gehen, welche dann die entſprechende Stell— 


ung bezeichnen; denn Shooter erzählt, 


das Weib eines Kaffernhäuptlings werde 
„die Elephantin genannt, während ſein 
Lieblingsweib die Löwin heißt.“ 

Augeſichts folder Zeugniſſe können wir 
kaum dem Schluß entgehen, daß der Ge— 
brauch von Thiernamen als Ehrenbezeich— 
nungen, wie er ſich in den Urkunden unter— 
gegangener hiſtoriſcher Völker nachweiſen 
läßt, auf ähnliche Weiſe entſtanden ſei. 
Wenn wir finden, daß gegenwärtig in 
Madagascar einer von des Königs Titeln 
lautet: „Mächtiger Stier“, und wir hier— 
durch daran erinnert werden, daß der ſieg— 
reiche Ramſes von ſeinen geſchlagenen Fein— 


den ganz denſelben lobpreiſenden Namen 


den Königen beigelegten 


| 


erhielt, jo können wir uns ſchwerlich der 
Vermuthung entſchlagen, daß aus ſolchen 
Thiernamen jene 


Thiernamen ſich erklären, welche die Gott— 


welcher Ehrennamen, die von belebten und heiten zu ihrem Lobe empfingen; ſo daß 


. 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


alſo Apis in Aegypten ein Aequivalent 
für Oſiris und die Sonne und Stier 
ebenſo ein gleichwerthiger Name für den 
ſiegreichen Held und Sonnengott Indra wird. 

Nicht anders verhält es ſich mit den 
Titeln, welche von gewaltigen Naturgegen— 
ſtänden und Naturkräften hergenommen wer— 
den. Wir haben geſehen, wie bei den Zulus 
die hyperboliſche Anrede an den König: 
„Du biſt ſo hoch wie die Berge,“ von der 
Form des Gleichniſſes in die Form der 
Metapher übergeht, wenn er angeredet wird: 
„Du Berg“. Und daß der ſolchergeſtalt 
in Gebrauch gekommene metaphoriſche Name 
manchmal ſogar zum Eigennamen wird, 
dafür erhalten wir ein Zeugniß von Samoa, 
wo, „weil der Häuptling von Pango-Pango 
gegenwärtig Manunga» oder Bergs heißt, 
dieſer Name in ſeiner Gegenwart nie aus— 
geſprochen werden darf.“ Es liegen ferner 
Beweiſe vor, daß bei den roheren Ahnen— 
verehrern auch göttliche Titel auf ähnliche 
Weiſe abgeleitet werden. Die Chinooks, 
die Navajos und die Mexicaner in Nord— 
amerika und die Peruaner in Südamerika 


halten gewiſſe Berge für Götter, und da 


dieſe Götter verſchiedene Namen haben, ſo 
liegt die Folgerung nahe, daß in jedem 
einzelnen Falle ein vergötterter Menſch zu 
ſeiner Ehre entweder den allgemeinen Na— 
men „Berg“ empfangen habe oder aber 


den Namen eines beſonderen Berges, wie 


dies in Neuſeeland geſchehen iſt. Aus Höf— 
lichkeitsvergleichungen mit der Sonne ferner 
entſtehen nicht allein perſönliche Ehrennamen 


und göttliche Namen, ſondern auch officielle 
Titel. Wenn wir leſen, daß die Mexicaner 
Cortez mit dem Namen „der Abkömmling 


der Sonne“ auszeichneten, daß die Chib— 


chas die Spanier im Allgemeinen „Kinder 


der Sonne“ nannten, und daß in Tlas— 
cala Alvaredo vom Volke „Sonne“ geheißen 


341 


wurde; wenn wir ferner leſen, daß „Kind 
der Sonne“ eine Höflichkeitsbezeichnung war, 
die in Peru häufig irgend einem beſonders 
geſchickten Menſchen beigelegt ward, wo auch 
die Yncas, welche für Abkömmlinge der 
Sonne galten, nach einander mit einem 
hiervon abgeleiteten Titel ausgezeichnet wur— 
don, ſo wird uns nun auch verſtändlich, 
wie es kam, daß die auf einander folgen— 
den ägyptiſchen Könige „Sohn der Sonne“ 
als Titel trugen, womit ſich dann Eigen— 
namen zur individuellen Bezeichnung des 
Einzelnen verbanden. Und bedenken wir 
ferner, daß in Aegypten Hand in Hand 
mit der ausgedehnteſten Ahnenverehrung 
die Anbetung der lebenden Könige einher— 
ging, ſo iſt ohne Schwierigkeit einzuſehen, 
wie die Könige, abgeſehen von dem allen 
gemeinſamen Sonnentitel, aus derſelben 
Quelle mancherlei beſondere Titel empfingen, 
wie „die ſiegreich emporſteigende Sonne“, 
„die Sonne, die Ordnerin der Schöpfung“ 
u. ſ. w., und wie naturgemäß dann für 
ihre durch Apotheoſe entſtandenen Götter 
verſchiedene Sonnentitel mit ganz ähnlichen 
beſonderen Bezeichnungen entſtanden, wie 
z. B. „die Quelle der Wärme“, „der Ur— 
heber des Lichts“, „die Macht der Sonne“, 
„die belebende Urſache“, „die Sonne am 
Firmament“ und „die Sonne an ihrer 
Ruheſtätte“. 

St alſo einmal der metaphoriſch-be— 
ſchreibende Name gegeben, ſo haben wir 
damit auch den Keim, aus welchem dieſe 
primitiven Ehrentitel entſpringen, welche, 
urſprünglich individuelle Namen, in vielen 
Fällen zu Titeln werden, die ſich an das 
einzelne Amt heften. 

Wer die vorliegenden Zeugniſſe ohne 
Vorurtheil ſtudirt, der wird Beweiſe genug 
dafür finden, daß auch die allgemeine Bezeich— 
nung für die Gottheit urſprünglich einfach 


342 


ein Wort war, das Ueberordnung aus— 
drücken ſollte. Bei den Fidſchianern wird jener 
Name (Gott) auf jedes große oder wunder— 


auf Alles, was neu, nützlich oder außer— 
ordentlich iſt, bei den Todas auf alles Ge— 
heimnißvolle, fo daß es, wie Marſhall 
ſagt, „in der That ein Beiwort zur Be— 
zeichnung des Hervorragenden iſt.“ In— 
dem es gleichermaßen auf belebte und un— 
belebte Dinge Anwendung findet, einfach 
um irgend eine über das Gewöhnliche hin— 
ausgehende Eigenſchaft anzudeuten, wird 
das Wort in dieſem Sinne auch von 
menſchlichen Weſen, ſowohl lebenden als 
todten, gebraucht; da aber der Glaube 
herrſcht, die Todten hätten geheimnißvolle 
Kräfte erlangt, um den Lebenden Gutes 
und Böſes zuzufügen, ſo kommt es von 
ſelbſt dazu, daß jenes Wort ganz beſonders 
auf die Todten anwendbar wird. Wenn 
auch Geiſt und Gott für uns ſehr ver— 
ſchiedene Bedeutungen haben, ſo ſind ſie 
doch urſprünglich gleichwerthige Wörter, 
oder beſſer geſagt, es gab urſprünglich nur 
ein Wort für übernatürliche Weſen. Dies 
beſtätigen uns nicht allein viele Miſſionäre, 
welche bei den Eingebornen kein Wort für 
Gott finden konnten, das nicht zugleich 
Geiſt, Dämon oder Teufel bedeutete; das 
beweiſen nicht allein die Griechen und Rö— 
mer, welche für die Geiſter ihrer geſtor— 
benen Verwandten daſſelbe Wort brauchten, 
womit ihre großen Gottheiten bezeichnet 
wurden; und das beweiſen nicht allein die 
Aegypter, in deren hieroglyphiſchen In— 


ſchriften daſſelbe „Determinativum“, wie 


aus dem Texte hervorgeht, Gott, Vorfahre 
und heilige Perſon bedeutet, ſondern es be— 
weiſen uns dies auch die Hebräer, welche 
das Wort Elohim nicht blos auf ihr 
oberſtes übernatürliches Weſen, ſondern 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


auch auf die Geiſter anwenden; ja indem 
ſie denſelben Namen auch lebenden, mit 


Macht ausgeſtatteten Perſonen beilegten, 
bare Ding angewendet, bei den Malagaſſen 


zeigen ſie uns, daß bei ihnen, wie über— 
haupt bei primitiven Völkern, Ueberlegen— 
heit der einen oder andern Art das ein— 


zige Attribut iſt, was damit ausgedrückt 


werden ſoll. Und da nun nach dem ein— 
fachſten Glauben das andere Ich des todten 
Menſchen ebenſo ſichtbar und greifbar iſt 
wie der lebende, weshalb es auch ein zweites 
Mal erſchlagen, ertränkt oder ſonſtwie ge— 
tödtet werden kann — da die Aehnlichkeit 
zwiſchen beiden ſo weit geht, daß es ſogar 
ſchwierig iſt, zu erfahren, worin bei den 
Fidſchianern der Unterſchied zwiſchen einem 
Gott und einem Häuptling beſteht, und da 
auch die Beiſpiele von Göttererſcheinungen 
in der Iliade beweiſen, daß der griechiſche 
Gott, der durch die Waffen der Menſchen 
verwundet werden konnte, in jeder Hinſicht 
ſo ſehr einem Menſchen ähnlich war, daß 
es einer beſondern Offenbarung bedurfte, 
um ihn als ſolchen zu erkennen — ſo wird 
es uns nicht mehr befremdend ſein, zu 
finden, daß der Titel „Gott“, den man 
einem der Regel nach für unſichtbar gehal— 
tenen mächtigen Weſen beilegt, ſehr oft 
auch einem ſichtbaren mächtigen Weſen ge— 
geben wird, und daß dieſer Titel manch— 
mal ſogar in dem Glauben gegeben wird, 
der Betreffende möchte das andere Ich 
irgend eines gefürchteten und nun zurück— 
gekehrten Menſchen ſein, ſelbſt wenn er ihn 
um ſeiner natürlichen Ueberlegenheit willen 
nicht empfangen haben würde. Daraus 
erklärt ſich denn, daß Europäer von den 
Auſtraliern, Neucaledoniern, den Darnley— 
Inſulanern, den Kroomen, dem Volke von 
Calabar, den Mpongwe u. ſ. w. Geiſter 
genannt werden, da ſie dieſelben für die 
Doppelweſen ihrer eigenen verſtorbenen An— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


gehörigen halten. Daraus erklärt ſich, daß 
ſie den andern Namen für denſelben Be— 
griff, „Gott“, von den Buſchmännern, den 
Betſchuanen, den Oſtafrikanern, Fulahs, 
Khonds, Fidſchianern, Dajaks, den alten 
Mexicanern, Chibchas u. ſ. w. empfingen. 
Und daraus erklärt ſich auch, daß höher 
ſtehende Menſchen unter unciviliſirten Völ— 
kern, indem ſie das Wort in dem oben 
erläuterten Sinne anwenden, ſich ſelbſt ge— 
legentlich Götter nennen, wie dies die Pä- 
läals thun, eine Art von Prieſtern bei den 
Todas, oder wie manche Häuptlinge bei 
den Neuſeeländern und den Fidſchianern. 

Iſt uns hierdurch die urſprüngliche Be 
deutung und Anwendung des Wortes ver— 
ſtändlich geworden, ſo wird es nun auch 
nicht weiter überraſchen, „Gott“ als Ehren— 
titel gebraucht zu ſehen. Der König von 
Loango wird von ſeinen Unterthanen ſo 
genannt, wie uns Battel erzählt, und 
Krapf berichtet daſſelbe vom Könige von 
Mſambara. In der Gegenwart wird der 
Name „Gott“ unter den wandernden Ara- 
bern in keinem andern Sinne gebraucht 


denn als allgemeine Bezeichnung des mäd- 


tigſten lebenden Herrſchers, den ſie kennen. 
Dies läßt denn auch die Behauptung glaub- 
hafter erſcheinen, als es ſonſt wohl der 
Fall wäre, daß der Große Lama, den die 
Tartaren in Perſon verehren, von ihnen 
„Gott, der Vater“ genannt werde. Es 
ſteht dies ferner in Uebereinſtimmung mit 
manchen andern Thatſachen, wie z. B. daß 
Radama, der König von Madagascar, von 
den ſein Lob ſingenden Frauen mit „O 
mein Gott“ angerufen wird, und daß für 
den König von Dahome das andere gleich— 
werthige Wort „Geiſt“ in Gebrauch iſt, 
in der Weiſe nämlich, daß, wenn er Je— 
mand zu ſich rufen läßt, der Bote ſagt: 
„Der Geiſt läßt Dich fordern“, und wenn 


343 


er geſprochen hat, rufen Alle aus: „Der 
Geiſt ſpricht die Wahrheit“. Alle dieſe 
Zeugniſſe aber machen es auch begreiflich, 
wie die alten Könige im Orient den Na— 
men sog als Titel annehmen konnten, 
was für uns Moderne ſo ſonderbar klingt. 

Ein Herabſteigen dieſes Ehrennamens 
in den alltäglichen Verkehr iſt zwar nicht 
häufig, kommt aber doch zuweilen vor. 
Nach dem, was oben geſagt wurde, kann 
es nicht befremdend erſcheinen, daß derſelbe 
auf verſtorbene Perſonen Anwendung fin— 
det, wie dies nach Motolina bei den 
alten Mexicanern der Fall war, welche 
„jeden ihrer Todten Teotl fo und fo 
nannten, d. h. den oder jenen Gott, den 
oder jenen Heiligen.“ Und durch dieſes 
Beiſpiel vorbereitet, werden wir um ſo 
leichter den gelegentlichen Gebrauch des 


Wortes als Gruß zwiſchen den Lebenden 
verſtehen. 
Kaſias: „Die Begrüßung beim Begegnen 


Colonel Yule jagt von den 


iſt ſonderbar: Kublé! Gotts.“ 

Der Zuſammenhang zwiſchen „Gott“ 
als Titel und „Vater“ als Titel wird nur 
dann einleuchtend, wenn wir wieder auf 
jene älteſten Formen der Vorſtellung und 
der Sprache zurückgehen, in denen beide 
noch nicht von einander differencirt ſind. 
Der Umſtand, daß ſelbſt in einer ſo hoch 
entwickelten Sprache wie das Sanskrit 
Wörter, welche „machen“, „herſtellen“, 
„zeugen“ oder „ſchaffen“ bedeuten, unter— 
ſchiedslos für denſelben Zweck gebraucht 
werden, macht uns ſchon auf die ganz na= 
türliche Erſcheinung aufmerkſam, daß der 
lebende Vater als Erzeuger oder ſichtbare 
Urſache neuer Weſen, welcher dann im Tode 
ein nicht länger ſichtbarer Verurſacher neuer 
Weſen wird, für den primitiven Geiſt in 
Worten und Gedanken mit todten und un- 
ſichtbaren Verurſachern überhaupt ver— 


344 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


ſchmilzt, von denen dann einige ein beſon— 
deres Uebergewicht erlangen und dem ent— 
ſprechend als Verurſacher im Allgemeinen 
— als Macher oder Schöpfer betrachtet 
werden. Wenn Sir Rutherford Al- 
cock bemerkt, daß „eine unechte Miſchung 
von theokratiſchen und patriarchaliſchen Ele— 
menten die Grundlage der ganzen Regier— 
ung ſowohl im himmliſchen Reich als auch 
in Japan bilde, unter Kaiſern, welche den 
Anſpruch erheben, nicht allein Patriarch und 
Vater ihres Volkes, ſondern auch von gött— 
licher Abkunft zu ſein“ — ſo iſt dies nur ein 
Beiſpiel mehr von den zahlreichen falſchen 
Erklärungen, welche dadurch zu Stande kom— 
men, daß man von unſern hochentwickelten 
Vorſtellungen hinabſteigt, ſtatt von den 
niedrigen Vorſtellungen des primitiven 
Menſchen auszugehen. Denn was er für 
eine unechte Miſchung von Ideen hält, iſt 
in Wirklichkeit eine ganz normale Gedanken— 
verbindung, die ſich nur in den erwähnten 
Fällen länger forterhalten hat, als dies in aus— 
gebildeten Geſellſchaften gewöhnlich geſchieht. 

Die Zulus zeigen uns dieſe Verbind— 
ung noch ſehr deutlich. Sie haben Ueber— 
lieferungen von Unkulunkulu (buchſtäblich 
der Ur-uralte), „welcher der erſte Menſch 
war“, „welcher ins Daſein kam und Men— 
ſchen zeugte“, „welcher den Menſchen und 
allen übrigen Dingen den Urſprung gab“ 
(mit Einſchluß der Sonne, des Mondes 
und der Himmel), und von dem man an— 
nimmt, er ſei ein ſchwarzer Mann geweſen, 
weil alle ſeine Nachkommen ſchwarz ſind. 
Dieſer urſprüngliche Unkulunkulu wird aber 
von ihnen nicht angebetet, weil der Glaube 
herrſcht, er ſei ganz und gar todt; ſtatt 
ſeiner genießen vielmehr die Unkulunkulus 
der einzelnen Stämme, in welche ſeine 
Nachkommen zerfallen ſind, jeder ſeine be— 
ſondere Verehrung und werden alle „Vater“ 


genannt. Hier treten uns alſo die Ideen 
von einem Schöpfer und einem Vater in 
unmittelbarem Zuſammenhange entgegen. 
Ebenſo beſtimmt oder ſogar noch beſtimm— 
ter ſind die ähnlichen Ideen, die in den 
Antworten ſich ausſprechen, welche die alten 
Nicaraguaner auf die Frage gaben: „Wer 
hat Himmel und Erde gemacht?“ Nach— 
dem ſie zuerſt erwidert: „Tamagaſtad und 
Eipattoval“, „unſere großen Götter, welche 
wir Teotes nennen“, brachte man durch 
Kreuz- und Querfragen die Antworten aus 
ihnen heraus: „Unſere Väter ſind dieſe 
Teotes“; „alle Männer und Weiber 
ſtammen von ihnen ab“; „fie ſind von 
Fleiſch und ſind Mann und Frau“. „Sie 
wandelten bekleidet auf der Erde und aßen 
was die Indianer aßen.“ Wo Götter und 
erſte Aeltern in ſolcher Weiſe identificirt 
werden, da ſind natürlich Vaterſchaft und 
Gottheit nächſtverwandte Begriffe. Der 
entfernteſte Vorfahre, den man ſich in der 
andern Welt, wohin er hinüberging, noch 
fortlebend denkt, der Schöpfer ſeiner Nach— 
kommen, „der Ur- uralte“ oder „der Alte 
der Tage“ wird zur oberſten Gottheit, und 
ſo iſt denn „Vater“ keineswegs, wie wir 
anzunehmen geneigt find, ein bildliches, 
ſondern ein buchſtäbliches Aequivalent für 
„Gott“. 

So kommt es alſo, daß wir jenes 
Wort bei allen Nationen mit dieſem Titel 
vertauſchbar antreffen. In dem Gebet eines 
Neucaledoniers an den Geiſt ſeines Vor— 
fahren: „Barmherziger Vater, hier iſt etwas 
Speiſe für Dich; nimm ſie und ſei uns 
gnädig um ihretwillen“ — erkennen wir 
jene urſprüngliche Identificirung von Vater— 
ſchaft und Gottſchaft, auf welche alle My— 
thologien und Theologien zurückweiſen. Wir 
begreifen es als eine ganz natürliche Er— 
ſcheinung, daß die peruaniſchen Yncas ihren 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


345 


Vater, die Sonne, verehrten, daß Ptah, Fälle, wo die Titel „Herr Rajah“ und 


der erſte aus der Dynaſtie der Götter, 
welche Aegypten regierte, „der Vater des 
Vaters der Götter“ heißt und daß Zeus 
„Vater von Göttern und Menſchen“ iſt. 


Nachdem wir dieſe urſprünglichen Glau- 


bensanſichten betrachtet, in welchen das 


Göttliche und das Menſchliche noch ſo wenig gegenwärtig iſt es immer noch einer der 


von einander geſchieden ſind, oder nachdem 
wir den in China und Japan noch heute 
herrſchenden Glauben kennen gelernt, wo die 
Herrſcher als „Söhne des Himmels“ ihre 
Abſtammung von dieſen älteſten Vätern 
oder Göttern herleiten, wird es uns nicht 
ſchwierig ſein, einzuſehen, wie der Name 
Vater in ſeiner höhern Bedeutung allmälige 
Anwendung auch auf einen lebenden Po— 
tentaten findet. Mit dieſer Urſache verbin— 
det ſich noch eine andere. Wo die Feſt— 
ftellung der Erbfolge in der männlichen 


Linie zur Bildung der patriarchaliſchen Fa— 
milie geführt hat, da verknüpft ſich mit 
dem Namen Vater ſelbſt in ſeiner urſprüng— 
lichen Bedeutung der Gedanke an hüchſte 
Autorität und er gilt daher als Ehrenname. 

Daher die weite Verbreitung dieſes 


Wortes als königlicher Titel. Es wird 
ſowohl von amerikaniſchen Indianern wie 
von Neu-Seeländern bei der Anrede des 
Herrſchers civiliſirter Völker verwendet. 
Wir finden es auch in Afrika. Unter den 
verſchiedenen für den König bei den Zulus 
gebräuchlichen Namen bildet Vater den erſten 
auf der Liſte, und wenn in Dahome der 
König von ſeinem Throne nach dem Pa— 
laſte ging, „wurde auf jede Unebenheit des 
Bodens mit Schnappen der Finger hinge— 
wieſen, damit ſie den königlichen Fuß nicht 
ſtören möge, und fortwährend ertönte die 
Begleitung dazu: «Dadda! Dadda! (Groß— 
vater! Großvater!) und Dedde! Dedde l) 
(Sachte! Sachte !)“. In Aſien treffen wir 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


„Herr Vater“ vereinigt werden. In Europa 
gilt heutzutage noch Vater als Titel des 
Czaren; in früheren Zeiten war es unter 
der Form „Sir“ die gemeinſame Bezeich— 
nung für Machthaber der verſchiedenſten 
Grade, für Lehnsherren und Könige; und 


beim Anreden eines Monarchen gebräuch— 
lichen Namen.“) 

Dieſer Titel hat ſich, vielleicht um 
ſeiner doppelten Bedeutung willen, leichter 
verbreitet, als gewöhnlich geſchieht. Ueberall 
beobachten wir, wie er zum Namen irgend 
einer Art von Höhergeſtellten wird. Nicht 
nur dem König gegenüber wird bei den 
Zulus das Wort „Baba“, Vater ver— 
wendet, ſondern auch von den Niedrigeren 
jedes Ranges den über ihnen Stehenden 
gegenüber. In Dahome nennt ein Sclave 
ſeinen Herrn ſo, wie ſein Herr ſeinerſeits 
den König. Und Livingſtone erzählt, 
wie ſeine Diener von ihm als von „unſerem 


) Obgleich die Discuſſionen hinſichtlich des 
Urſprungs der Wörter „Sire“ und „Sieur“ 
damit zum Abſchluß gekommen ſind, daß ſie 
von einer und derſelben Wurzel abſtammen, 
welche urſprünglich älter bedeutet, ſo iſt doch 
zugleich klar geworden, daß „Sire“ eine zu— 
ſammengezogene Form iſt, welche früher in 
Gebrauch kam als „Sieur“ (die abgekürzte 
Form von Seigneur) und deshalb mehr eine 
allgemeine Bedeutung erhielt, nach welcher 
es in demſelben Sinne gebraucht wurde wie 
Vater. Seine Anwendbarkeit auf verſchiedene 
Perſonen von Rang neben „Seigneur“ ſpricht 
ſchon für ſeine frühzeitigere Entwickelung 
und Verbreitung, und daß es mit Vater von 
gleichwerthiger Bedeutung war, ergiebt ſich 
aus der Thatſache, daß im Altfranzöſiſchen 
„Grant-Sire“ als Aequivalent für grand-pere 
gebraucht wird, und ferner daraus, daß Sire 
auf einen unverheiratheten Mann nicht an— 
wendbar war. 


44 


346 


Vater“ ſprachen, und daſſelbe berichtet 
Burſchell von den Bachaſſins. Ebenſo 
kam es vor Alters im Orient vor, wie 
z. B. wenn „Naemans Knechte näher 
kamen und mit ihm ſprachen und ſagten: 
Mein Vater“, u. ſ. w. Und heutzutage 
noch finden wir es im fernen Oſten. Ein 
japaniſcher „Lehrling redet feinen Lehrherrn 
als «Vaters an“. In Siam „werden die 
Kinder des Edlen von ihren Untergebenen 
„Vater und Mutter» genannt“ und Huc 
erzählt davon, wie er chineſiſche Arbeiter 
vor einem Mandarinen ſich niederwerfen 
ſah, wobei ſie ausriefen: „Friede und Heil 
unſerem Vater und unſerer Mutter.“ Als 
eine weitere Stufe ſodann im Herabſteigen 
in den allgemeineren Gebrauch mag ſeine 
Ausdehnung auf ſolche erwähnt werden, 
welche, ganz abgeſehen von ihrem Rang, 
die dem Alter zuerkannte höhere Stellung 
erlangt haben: eine höhere Stellung, die 
ſogar manchmal dem Range vorangeht, wie 
in Siam und in gewiſſer Hinſicht auch in 
Japan und China. Eine ſolche Ausdehn— 
ung fand ſich auch im alten Rom, wo 
„pater“ zugleich ein obrigkeitlicher Titel 
und ein Ehrenname war, den der Jüngere 
einem wenn auch nicht mit ihm verwandten 
Aelteren beilegte; und in Rußland wird 
das entſprechende Wort heutzutage noch 
dem Czar, einem Prieſter und jedem be— 
jahrten Manne gegenüber gebraucht. Schließ— 
lich verbreitet es ſich auf Junge wie auf 
Alte. Unter der Form Sire, die ur— 
ſprünglich auf größere und kleinere Feudal— 
herrn Anwendung fand, entſtand aus dem 
Vatertitel ſchließlich das bekannte lengliſche) 
Sir, das einſt in der Rede allgemein 
gebräuchlich war und es in Briefen noch iſt. 

Hier ſei noch einer ſonderbaren Gruppe 
von abgeleiteten Formen Erwähnung ge— 
than, die bei unciviliſirten und halbcivili— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


ſirten Völkern in Gebrauch ſind. Der 
Wunſch zu gefallen, indem man Einem 
jene Würde zuſchreibt, die mit der Vater— 
ſchaft verbunden iſt, hat vielerorts zu der 
Sitte geführt, den Eigennamen eines Mannes 
durch ein Wort zu erſetzen, das einerſeits 
an dieſe ehrenvolle Vaterſchaft erinnert und 
andererſeits den Betreffenden durch den 
Namen ſeines Kindes unterſcheiden läßt. 
„Die Malayen“, ſagt St. John, „haben 
dieſelbe Sitte wie die Dajaks, den Namen 
ihres Erſtgeborenen anzunehmen, wie z. B. 
Pa Sipi, der Vater von Sipi.“ Mars- 
den nennt dies einen allgemein in Suma— 
tra herrſchenden Gebrauch und Ellis 
bringt Beiſpiele davon aus Madagascar. 
Gleiches findet ſich bei einigen indiſchen 
Bergvölkern: die Kaſias „reden einander 
mit den Namen ihrer Kinder an, wie 
Pabobon, Vater von Bobon!“ Auch Afrika 
bietet Belege hierfür. Wenn die Bet— 
ſchuanas Herrn Moffat anredeten, jo 
pflegten ſie zu ſagen: „Ich ſpreche mit 
dem Vater von Mary“. Und in den pa— 
cifiſchen Staaten von Nordamerika giebt 
es Völker, welche ſo ſehr dieſen primitiven 
Ehrennamen zu haben beſtrebt ſind, daß, 
ſo lange ein junger Mann noch keine 
Kinder hat, ſein Hund im Verhältniß eines 
Sohnes zu ihm ſteht und er als der Vater 
ſeines Hundes bezeichnet wird. 

Die höhere Stellung, welche ſich in 
patriarchaliſchen Gruppen und in durch 
Zuſammenſetzung aus patriachaliſchen Grup— 
pen entſtandenen Geſellſchaften mit dem 
Alter verknüpft, giebt noch einer verwandten, 
aber etwas verſchiedenen Gruppe von Titeln 
den Urſprung. Indem das Alter eine be— 
ſtimmte Würde erhält, werden Wörter, 
welche Bejahrtheit bezeichnen, zu Ehrennamen. 

Die Anfänge hiervon laſſen ſich bereits 
bei unciviliſirten Völkern erkennen: Schon 


dadurch, daß die Verſammlungen ſich aus 
den älteren Männern zuſammenſetzen, ent— 
ſteht eine Verbindung zwiſchen dem an 
jedem Orte gebräuchlichen Namen für einen 
älteren Mann und dem mit größerer Ge— 
walt und ſonach auch mit Ehre bekleideten 
Amte. Indem wir uns mit dieſer ein— 
fachen Bemerkung begnügen, wollen wir 
die allmählige Entſtehung der von dieſer 
Quelle entſpringenden Titel blos unter 
den europäiſchen Völkern etwas näher ver— 
folgen. Bei den Römern war Senator 
oder Mitglied des Senatus, Wörter von 
gleicher Abſtammung wie Senex, der 
Name für ein Mitglied der Aelteſtenver— 
ſammlung, und in den früheren Zeiten 
vertraten dieſe Senatoren oder Aelteſten, 
welche häufig auch patres genannt wur— 
den, die einzelnen Stämme des Volkes: 
Vater und Aelteſter galten ſomit als gleich— 
werthige Benennungen. Von dem anderen 
damit nächſt verwandten Worte senior 
finden wir in den Tochterſprachen die Um— 
biloungen Signor, Seigneur, Senhor, 
welche zuerſt auf Anführer, Herrſcher oder 
Lords Anwendung fanden, dann aber durch 
weitere Ausbreitung zu Ehrennamen auch 
Solcher von untergeordnetem Range wurden. 
Daſſelbe Schickſal hat auch ealdor oder 
aldor gehabt. „Dies Wort“, ſagt Max 
Müller, „ſtammt gleich vielen anderen 
Rangtiteln in den verſchiedenen teutoniſchen 
Sprachen von einem Adjectivum ab, das 
Alter bezeichnet;“ ſo daß alſo „Earl“ und 
„Alderman“ beide von dieſer Wurzel abge— 
leitete Bezeichnungen für eine Ehrenſtelle 
ſind, die in beiden Fällen aus jener ſocialen 
Ueberlegenheit entſprang, welche mit dem 
Alter verknüpft war. 


Ob der deutſche Titel Graf auch hier⸗ 


her gehört oder nicht, iſt noch ein ſtreitiger 
Punkt. Wenn Max Müller Recht hat, 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


347 


indem er die Einwürfe Grimm's gegen 
die gewöhnliche Erklärung des Wortes für 
ungerechtfertigt hält, ſo bedeutet daſſelbe 
urſprünglich grau, d. h. alſo grauköpfig. 

Auch der Name „König“ gehört zu 
denjenigen, hinſichtlich deren Bildung die 
Anſichten getheilt ſind. Nach allgemeiner 
Uebereinſtimmung jedoch iſt ſeine weiteſt 
zurückliegende Duelle. das Sanſfkritwort 
ganaka und „im Sanſkrit bedeutet ga— 
naka hervorbringen, Vater, dann König“. 
Wenn dies die richtige Ableitung iſt, fo 
haben wir alſo nur einen neuen Titel für 
das Haupt der Familiengruppe, der pa— 
triarchaliſchen Gruppe und des Haufens 
von patriarchaliſchen Gruppen. Bemerkens— 
werth iſt die Art und Weiſe, wie das 
Wort Zuſammenſetzungen eingeht, um einen 
höheren Titel zu bilden. Gerade wie im 
Hebräiſchen Abram (d. i. „hoher Vater“) 
ein zuſammengeſetztes Wort wurde, das 
zur Bezeichnung der Vaterſchaft und der 
Häuplingswürde über viele kleinere Gruppen 
diente, und ebenſo wie die griechiſchen und 
lateiniſchen Aequivalente für unſerer Wort 
„Patriarch“ ihrer eigentlichen Bedeutung 
nach, wenn auch nicht direkt, einen Vater 
der Väter bezeichneten, ſo iſt es auch hin— 
ſichtlich des Titels „König“ vielfach vor— 
gekommen, daß ein als Herrſcher über 
mehrere Potentaten anerkannter Gewalt— 
haber in beſchreibender Weiſe „König der 
Könige“ genannt worden iſt. In Abyifi- 
nien iſt dieſer zuſammengeſetzte königliche 
Name bis auf die Gegenwart herab in 
Gebrauch; die altägyptiſchen Monarchen 
legten ſich denſelben bei und auch in Aſſy— 
rien kam er als höchſter Titel vor. Und 
hier ſtoßen wir abermals auf einen Zu— 
ſammenhang zwiſchen irdiſchen und himm— 
| liſchen Titeln. Wie „Vater“ und „König“, 
ſo wird auch „König der Könige“ gleicher— 


„„ 


L 


348 


maßen auf den ſichtbaren und auf den un— 
ſichtbaren Herrſcher angewendet. 

Dieſes Streben nach Auszeichnung des 
Herrſchers, welcher zum Oberhaupt mehrerer 
Herrſcher geworden iſt, durch einen beſon— 
deren oder zum bisherigen hinzugefügten 
Namen veranlaßt die Einführung anderer 
Ehrentitel. In Frankreich z. B. wurde der 
König, ſo lange er nur der mächtigſte unter 
den Lehnsherren war, mit dem Titel „Sire“ 
angeredet, welchen die adligen Lehensherren 
im Allgemeinen trugen; nach der Mitte 
des ſechzehnten Jahrhunderts aber, als 
ſeine Uebermacht ſich vollſtändig befeſtigt 
hatte, kam das Wort „Majeſtät“ als 
ausſchließlich auf ihn anwendbarer Titel 
in Gebrauch. Aehnliches gilt von den 
Potentaten zweiten Ranges. Auf den frü— 
heren Stufen der Feudalzeit wurden die 
Titel „Baron“, „Marquis“, „Herzog“ und 
„Graf“ (count) oft mit einander verwech— 
ſelt; der einfache Grund dafür war der, 
daß ihre Attribute als Feudalherren, als 
Wächter über die Märſche, als Kriegs- 
führer und als Freunde des Königs ſo— 
weit ihnen allen gemeinſam zukamen, daß 
kein beſonderer Grund zur Unterſcheidung 
vorlag. Jemehr aber die Differenzirung 
der Funktionen fortſchritt, deſto mehr diffe— | 
rencirten ſich auch die Titel in ihren Be⸗ 
deutungen. 

„Der Name „Barons“, jagt Chéruel, 
„ſcheint der allgemeine Ausdruck für jede Art 
von großem Herrn, «Herzogs für jede Art 
von Kriegsanführern, «Graf» und „Mar— 
quis für jeden Beherrſcher eines Territo- | 
riums geweſen zu ſein. Dieſe Titel werden in | 
den Romanzen der Ritterzeit beinahe ohne | 
jeden Unterſchied für einander gebraucht. 
Als aber die feudale Hierarchie ſich aus 
gebildet hatte, bezeichnete der Name Baron 


| 


einen Herrn, der ſeinem Range nach niedri- belauſcht, jo kann man hören, wie Einer | 


braucht wurden, um den Mächtigſten, dann 


civiliſirte Völker der Vergangenheit und 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


ger ſtand als ein Graf und höher als ein 
einfacher Ritter.“ 

Wie ſich aus den oben angeführten 
Beiſpielen ergiebt, ſind die ſpeciellen Titel 
ſo gut wie die allgemeinen nicht erfunden 
worden, ſondern allmälig entſtanden — 
ſie ſind zuerſt beſchreibender Art. Um 
dieſen Urſprung näher zu erläutern und 
zugleich ein Beiſpiel für den noch nicht 
differencirten Gebrauch der Titel in frühes 
ren Zeiten zu geben, ſeien hier die ver— 
ſchiedenen Namen aufgeführt, mit denen in 
der Zeit der Merovinger die Marſchälle 
des königlichen Palaſtes belegt wurden. | 
Es find dies major domus regiae, senior 
domus, princeps domus und in anderen , 
Fällen praepositus, praefectus, rector, 
gubernator, moderator, dux, custos, 
Aus dieſer Lifte erſehen 
wir zugleich, wie ſo manche fernere Ehren— 
namen uns abermals auf Wörter zurück— 


subregulus. 


führen, deren urſprüngliche Formen die 


Bedeutung von Alter mit ſich verbinden, s 
und wie die an Stelle dieſer beſchreibenden { 
Wörter gebrauchten Bezeichnungen ſelbſt 
beſchreibende Namen von Funktionen ſind. 

Vielleicht beſſer als in irgend einem an— 
deren Falle läßt ſich bei Beſprechung der 
Titel die Ausbreitung von ceremoniellen 
Formen darthun, welche urſprünglich ge— 


den Mindermächtigen und ſchließlich alle 
Uebrigen zu verſöhnen. 
Unciviliſirte und halbciviliſirte Völker, 


der Gegenwart, alle liefern uns Beiſpiele 
hierfür. Bei den Samoanern „iſt es 
Brauch, wenn man die Höflichkeit der 
gewöhnlichen Converſation beobachten will, 
daß Alle einander Häuptlinge nennen. 
Wenn man das Geſpräch kleiner Knaben 


den Anderen mit Häuptling fo und fo 
anredet“. In Siam reden die Kinder 
eines Mannes, welche von einem ſeiner unter— 
geordneten Weiber ſtammen, ihren Vater 
mit „Mein Herr, der König“ an und 
das Wort Nai, welches der Name für 
Häuptling bei den Siameſen iſt, „hat die 
Bedeutung eines Höflichkeitsausdruckes be— 
kommen, den die Siameſen gegen einander 
gebrauchen“. Ein ähnliches Reſultat finden 
wir in China, wo die Söhne von ihrem 
Vater als „Majeſtät der Familie“, „Fürſt 
der Familie“ ſprechen; und China liefert 
außerdem ein ferneres Beiſpiel, welches um 
ſo bemerkenswerther iſt, weil es ſich auf 
ein ganz beſonderes Verhältniß bezieht. 
Hier nämlich, wo die Stellung der alten 
Lehrer ſo hoch war, wo die Titel „Tze“ 
oder „Futze,“ was großer Lehrer bedeutet, 
urſprünglich nur ihrem Namen, ſpäter aber 
dem jedes ausgezeichneten Schriftſtellers an— 
gehängt wurden und wo auf geiſtige Ueber— 
legenheit begründete Klaſſenunterſchiede die 
geſellſchaftliche Organiſation charakteriſiren, 
iſt es doch ſoweit gekommen, daß dieſer 
Ehrenname mit der Bedeutung „Lehrer“ 
heute einen ganz gewöhnlichen Höflich— 
keitstitel bildet. Andere Zeugniſſe bietet 
uns das alte Rom. Die Geiſtesrichtung, 
welche zu der Ausbreitung der Titel führte, 
hat Mommſen ſehr gut beleuchtet, wo 
er ſchildert, wie in der Zeit des Verderb— 
niſſes öffentliche Triumphe zuerkannt wur— 
den, welche man urſprünglich nur einem der 
höchſten Staatsmänner zu gewähren pflegte, 
der die Macht des Staates in offener 
Schlacht vergrößert hatte. 

„Um mit den friedlichen Triumphatoren 
ein Ende zu machen, wurde feſtgeſetzt, daß 
die Zuerkennung eines Triumphes vom 
Beibringen des Beweiſes einer regelmäßigen 
Schlacht abhängen ſollte, welche zum Min— 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


| 
| 


349 


deften fünf tauſend Feinden das Leben ge- 
koſtet hätte; allein dieſer Beweis wurde 


häufig durch falſche Siegesberichte um— 


| 
| 


gangen . . . Früher hatte der Dank des 


Gemeinweſens einfürallemal für einen dem 


Staate geleiſteten Dienſt genügt; jetzt ſchien 


| jede verdienſtliche Handlung eine dauernde 


Auszeichnung zu fordern ... Es kam 
allmälig die Sitte in Schwang, daß der 
Sieger und ſeine Nachkommen von den 
Siegen, welche ſie gewonnen hatten, einen 
ſtändigen Beinamen erhielten . Dieſes 
von den höheren Klaſſen gegebene Beiſpiel 
wurde dann von den unteren Klaſſen 
nachgeahmt.“ 

Und unter dem eben geſchilderten Ein— 
fluß wurden dann „dominus“ und „rex“ 
ſchließlich zu Titeln, welche für den gemeinen 
Mann galten. — Aber auch unter den 
modernen europäiſchen Völkern fehlt es nicht 
an Beiſpielen für dieſen Vorgang. 

Die franzöſiſche Geſchichte läßt uns 
vielleicht deutlicher als irgend eine andere 
die einzelnen Stufen der allmäligen Ver- 
breitung erkennen. Zunächſt ſei kurz da— 
rauf hingewieſen, daß in früheren Zeiten 
madame als Titel für eine adlige Frau, 
mademoiselle dagegen für die Frau eines 
Advocaten oder Arztes in Gebrauch war, 
daß ſodann im ſechszehnten Jahrhundert, 
als madame bis zu den verheiratheten 
Frauen dieſer Mittelklaſſen herabgeſtiegen 
war, mademoiselle von ihnen auf die 
unverheiratheten Frauen überging. Etwas 
eingehender wollen wir aber die männlichen 
Titel „sire“, „seigneur“, „sieur“ und 
„monsjeur“ betrachten. Indem wir von 
„sire“ als dem alten Titel für adlige 
Lehnsherrn ausgehen, finden wir in einer 
Bemerkung von Montaigne angegeben, 
daß das Wort im Jahre 1580, obwohl 
in höherem Sinne noch auf den König 


r...... 


350 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


anwendbar, doch in den alltäglichen Ge— 


brauch herabgeſtiegen war und für zwiſchen- 
liegende Grade nicht mehr verwendet wurde. 


„Seigneur“, was ſpäter als Lehnsherrn— 
titel in Uebung kam, als „Sire“ bereits 
ſeine Bedeutung durch allmälige Ausbreit— 
ung zu verlieren begann, und was eine 
Zeitlang neben dem letzteren Worte und 
ſtatt deſſelben gebraucht wurde, erfuhr im 
Laufe der Zeiten eine Zuſammenziehung 


welche die Folge eines Sieges über einen 
thieriſchen oder menſchlichen Feind iſt und 
den Betreffenden buchſtäblich oder bildlich 


durch ſeine That auszeichnet, entſpringt 
ohne Frage aus kriegeriſchen Verhältniſſen. 
Und wenn auch die allgemeineren Namen 


„Vater“, „König“, „Herr“, „Aelteſter“ und 
ihre Ableitungen, welche ſpäter entſtehen, 


nicht direkt auf kriegeriſche Zuſtände Bezug 


in „sieur“. Nach und nach fing aber auch 


„sieur“ an, ſich auf Solche von niedri— 
gerem Rang auszudehnen. Später kam 
dann, um einen beſtimmten Unterſchied 


durch eine verſtärkende Vorſilbe wiederher- | 
zuſtellen, „monsieur in Aufnahme, ein 


Wort, das in der Anwendung auf große 


Herren im Jahre 1321 noch neu war und 


dann auch als Titel der Söhne von Köni- 
Zu der Zeit 
aber, wo auch „monsjeur“ zum allgemeinen | 
Titel unter den oberen Klaſſen geworden 


gen und Herzögen galt. 


war, hatte „sieur“ ſich zu einem bürgerlichen 
Titel ausgebildet. Und ſeit dieſer Zeit 
ſind im weiteren Verlauf deſſelben Proceſſes 


das alte sire und das ſpätere sieur aus 
geſtorben, um dem ganz allgemein verbrei- 
Es er⸗ 


teten monsieur Platz zu machen. 
giebt ſich alſo, daß drei Diffuſionswellen 
auf einander gefolgt ſind: sire, sieur und 
monsieur haben ſich nach einander nach 
unten verbreitet. 

Wie in Folge dieſes Vorganges die 
höchſten Titel ſchließlich bis in die aller— 
unterſten Schichten vordringen können, erken— 
nen wir in überraſchendſter Weiſe in Spa— 
nien, wo „ſogar Bettler einander als Senor 


von einer neuen Seite her. 


und fügt dann hinzu: 


y Caballero, Herr und Ritter anreden“. 


Um der Gleichförmigkeit der Darſtell— 
ung willen, ſei noch darauf hingewieſen, daß ſich 
hier dieſelbe Folgerung ergiebt wie früher. 
Die Ertheilung von Titeln bei den Wilden, 


haben, ſo doch indirekt; denn es ſind die 
Namen von durch kriegeriſche Thätigkeit 
in den Beſitz ihrer Macht gelangten Herr— 
ſchern, welche der Regel nach zugleich krie— 
geriſche Funktionen ausüben: auf früheren 
Stufen ſind ſie ja ſtets die Anführer ihrer 
Unterthanen in der Schlacht. Aber auch 
bis zu unſeren allerbekannteſten Titeln 
herab erſtrecken ſich noch die Spuren dieſer 
Entſtehung. „Esquire“ und „Mister“ 
leiten ſich das eine vom Namen des Knappen 
eines Ritters, das andere von dem Namen 
magister ab, welcher urſprünglich einen 
Herrſcher oder Häuptling bezeichnete, der 
ſeiner Entſtehung nach ein kriegeriſches 
Oberhaupt und durch weitere Ausbildung 
ein bürgerliches Oberhaupt war. 

Wie in früheren Fällen enthüllt uns 
auch hier eine Vergleichung von Geſell— 
ſchaften verſchiedener Typen dies Verhältniß 
Burton 
macht die Bemerkung, daß man in dem 
blutdürſtigen und despotiſchen Dahome 
„kaum vom Vorhandenſein von Perſonen— 
namen ſprechen könne, indem dieſelben mit 
dem Range ihrer Träger beſtändig wechſeln“, 
„Die verſchiedenen 
Würden ſcheinen endlos an Zahl zu ſein; 
von den Sclaven und niederſten Volks— 
ſchichten abgeſehen find ſolche «Stiele» am 
Namen die Regel, nicht die Ausnahme, 
und die meiſten von ihnen ſind erblich.“ 
So verhält es ſich auch unter den orienta— 


9 


liſchen Despotien. „Der Name eines jeden 
Birmanen, ſagt Pule, verſchwindet, ſobald 
er einen Ranges-, oder Amtstitel erhält, 
und wird von da an nicht mehr gebraucht“, 
und in China „giebt es zwölf Stufen des 
Adels, welche ausſchließlich den Mitgliedern 
des kaiſerlichen Hauſes oder Clans zugäng— 
lich ſind“, abgeſehen von den „fünf alten 
Stufen des Adels“. Auch in Europa 
findet ſich Aehuliches. Reiſende in Rußland 
ſowohl wie in Deutſchland, beides Länder, 
deren geſellſchaftliche Organiſation den Zwecken 
des Krieges untergeordnet iſt, ſprechen von 
der „unſinnigen Sucht nach Titeln jeglicher 
Art“. Die Folge davon iſt dann auch, 
daß in Rußland „ein Schreiber eines 
Polizeibureaus zum achtzehnten Grade ge— 
hört und Anſpruch auf den Titel Euer 
Ehrwürden hat“, während in Deutſchland 
die Berückſichtigung der in ſo übermäßiger 
Anzahl verbreiteten Ranges- und Amts⸗ 
namen im mündlichen wie im ſchriftlichen 
Verkehr in der Regel erwartet und mit ängſt— 
licher Sorgfalt beobachtet wird. England 
dagegen, das im Typus ſeines geſellſchaft— 
lichen Aufbaues ſeit vielen Menſchenaltern 
weit weniger kriegeriſch war, hat dieſen 
Charakterzug ſtets in minder ausgeprägtem 
Grade gezeigt, und nachdem in neueſter 
Zeit der Induſtrialismus ſo bedeutend ge— 
wachſen iſt und in Zuſammenhang damit 
mancherlei Veränderungen der Organiſation 


eingetreten ſind, hat der Gebrauch von 


Titeln im geſellſchaftlichen Verkehr außer— 
ordentlich abgenommen. 


Mit gleicher Deutlichkeit iſt dieſes Wech- 
ſelverhältniß innerhalb jeder einzelnen Geſell- 


ſchaft nachzuweiſen. Ehrennamen kommen 
den Mitgliedern jener regulativen Organi— 
ſation zu, welche der kriegeriſche Zuſtand 
hervorgerufen hat. Die dreizehn Grade 


Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 


| 


351 


in unſerer Armee und die vierzehn Grade 
in unſerer Marine zeigen von ſelbſt, daß 
ſich die ausſchließlich militäriſchen Beſtand— 
theile der Geſellſchaft immer noch im höch— 
ſten Grade durch zahlreiche und ſpecielle 
Titularzeichen charakteriſiren. Den herr— 
ſchenden Klaſſen, den Abkömmlingen oder 
Repräſentanten Derjenigen, welche in frühe⸗ 
ren Zeiten die Anführer der Streitkräfte 
waren, kommen noch heute die höheren 
Rangesauszeichnungen faſt ausſchließlich zu, 
und was die noch übrigbleibenden höheren 
Titel betrifft, ſo ſtehen die auf Kirchen— 
und Rechtsverhältniſſe bezüglichen gleichfalls 
mit der regulativen Organiſation im Zu— 
ſammenhang. Die producirenden und aus— 
tauſchenden Theile der Geſellſchaft anderer— 
ſeits, welche induſtriellen Thätigkeiten ob— 
liegen, tragen nur in Ausnahmefällen noch 
irgend einen Titel außer denjenigen, welche, 
indem ſie immer weiter herabſtiegen und 
ſich verbreiteten, ihre Bedeutung faſt ganz 
verloren haben. 

Es iſt ſomit unleugbar, daß die Titel, 
urſprünglich nur dazu beſtimmt, den Triumph 
des Wilden über ſeine Feinde in Erinner— 
ung zu bringen, ſich fortwährend ausge— 
breitet, vermehrt und differencirt haben, je 
größere Geſellſchaften durch Beſiegung und 
einmalige oder mehrfach wiederholte Ver— 
ſchmelzung kleinerer Geſellſchaften entſtanden 
ſind, und daß ſie, eben weil ſie jenem Typus 
des geſellſchaftlichen Aufbaues angehören, 
welcher durch gewohnheitsmäßige Kriege 
erzeugt wird, auch das Beſtreben zeigen, 
in demſelben Maße an Bedeutung, an Ge— 
brauch und an Werth zu verlieren, als 
dieſe Form des Aufbaues durch eine andere 
für die Zwecke des Friedens beſſer geeig— 
nete mehr und mehr verdrängt wird. 


Aleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Das Wiederaufleuchten der Sterne. 


aum irgend eine Erſcheinung am 
J Firſternhimmel bringt auf den tiefer 
e Aſtronomen nachhaltigere 
Eindrücke hervor, als die Erſcheinung 
ſogenannter „neuer Sterne“. In früheren 
Zeiten hat man dabei wohl geglaubt, einem 
Schöpfungsakte beizuwohnen, indeſſen hat 
man ſich in jedem Falle bald überzeugen 
müſſen, daß es ſich dabei ſtets nur um ein 
kurzes Aufleuchten halb erloſchener Sterne 
handelt, daß ihr die Sterne erſter Größe 
zuweilen überſtrahlender Glanz ſchnell wieder 
abnimmt, ſo daß ſie nach Verlauf weniger 
Wochen oder Monate wieder ihre frühere 
matte Helligkeit erreicht haben und dem 
unbewaffneten. Auge vielleicht völlig ent— 
ſchwunden ſind. Dieſe kurze Dauer ihres 
Glanzes macht ſie indeſſen womöglich dem 
Naturforſcher noch merkwürdiger, und ſchon 
Newton glaubte an ihre Erſcheinung die 
Idee von Weltkataſtrophen knüpfen zu 
dürfen: Zuſammenprallen halberloſchener 
Weltkörper, die durch den Stoß für kurze 
Zeit von Neuem entflammt werden. Seit 
der Entdeckung der ſpectroſkopiſchen Methode, 
welche geeignet iſt, uns über die Natur 
ſolcher Erſcheinungen näheren Aufſchluß zu 


| 
| 
1 


gewähren, haben ſich bereits zweimal auf- 
leuchtende Sterne der Beobachtung dar— 
geboten, nämlich im Jahre 1866, als in 
der nördlichen Krone ein hellleuchtender 
Stern aufflammte, und im November 1876, 
wo im Schwan ein, wenn auch weniger 
heller Stern, aufflammte, deſſen Helligkeits— 
Rückgang durch einen großen Theil des 
vorigen Jahres verfolgt werden konnte. 
Das Spektrum der neuaufleuchtenden 
Sterne zeichnet ſich, wie Huggins und 
Miller ſchon 1866 fanden und wie es 
im vorigen Jahre wieder beſtätigt werden 
konnte, vor demjenigen der gleichmäßig 
leuchtenden Fixſterne, die ein continuirliches 
Spektrum mit dunklen Linien, wie die 
Sonnenſcheibe, darbieten, durch das Hervor— 
treten heller Linien aus, unter denen beide— 
male die Waſſerſtofflinien einen beſonderen 
Glanz entfalteten. Da etwas ähnliches in 
den Fackeln und Protuberanzen der Sonne 


ſtattfindet, jo gründete Zöllner auf dieſes, 


Verhalten die Hypotheſe, daß es ſich bei 
dem Aufleuchten wahrſcheinlich um eine Art 
vulkaniſcher Eruptionen oder allgemeiner 
um Durchbrüche einer dünnen Erſtarrungs— 
rinde handele. Die genauere Beobach— 
tung des zuerſt im November 1876 von 
Schmidt in Athen endeckten „neuen“ Sterns 
im Schwan hat O. Lohſe in Berlin zu 


22ͤĩ7k⁊ĩ˙èĩͤ ĩð - ̃ 1 


gänzlich verſchiedenen Vermuthungen Anlaß 


gegeben, die er in dem unlängſt erſchienenen 
Dezemberheft der Monatsſchriften der Ber— 
liner Akademie vom Jahre 1877 nieder- 
gelegt hat. Als der Stern im Dezember 
1876 noch ſeine größte Helligkeit beſaß, 
waren nicht nur die Farben des kontinuir— 
lichen Spectrums lebhaft, ſondern eine Reihe 
heller Streifen erſchienen neben 
Banden. Wie aber die Farbenintenſität 
des kontinuirlichen Spektrums langſam von 
Januar bis März 1877 dahinſchwand, jo 
zogen ſich die hellen Streifen zu Linien 
zuſammen; der vorher hellſte Streifen im 
Roth, der mit mehreren andern dem glühen— 
den Waſſerſtoff angehört, ging an Helligkeit 
am meiſten zurück, während eine Lichtlinie 
im blaugrünen Theile des Spektrums, 
welche ſich mit der Luftlinie identificiren 
ließ, am längſten hell blieb, ſo daß ſie 
ſogar noch im Spätherbſt 1877 hervortrat. 
Auf dieſe Beobachtungen fußend, hat O. 
Lohſe eine neue Hypotheſe über die Ur— 
ſachen der ſich plötzlich erneuernden Gluth 
in halberloſchenen Sternen aufgeſtellt, die 
vor der Kataſtrophen- und Eruptions-Theo⸗ 
rie unleugbare Vorzüge beſitzt. 

Die Gluth eines Sternes, folgert er 
ungefähr, wird ſich von dem Zeitpunkte an, 
in welchem ſie ihren Gipfelpunkt erreicht 
hat, ſchrittweiſe vermindern, und in dem— 
ſelben Verhältniſſe wird auch die Leuchtkraft 


nachlaſſen, ſo daß ſchließlich nach Verlauf 


einer genügend langen Zeit die Abkühlung 


auf einem Punkte ankommt, wo der Stern 


uns nur noch ſchwach ſichtbar oder gänz— 
lich verſchwunden iſt. Für ein ſolches Ver— 
ſchwinden (der ſpäter neu aufleuchtenden 
Sterne) dürfte es keineswegs nothwendig 
ſein, mit Zöllner u. A. anzunehmen, 
daß ſie bereits mit einer aus feſten chemi— 
ſchen Verbindungen gebildeten dichten Kruſte 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


verſehen ſeien, welche die glühende Maſſe 
unſern Blicken verhüllt, ſondern es dürfte 


in Anbetracht der ungeheueren Entfernungen 


hinreichen, ſich den Stern mit einer ſtark 
das Licht verſchluckenden, aus abgekühlteren 


Dämpfen beſtehenden Atmoſphäre umgeben, 


vorzuſtellen. 


Unter Vorausſetzung einer 


Abkühlung, die nur dieſe Stufe erreicht hat, 


dunklen 


erſcheint es weit eher möglich, ein noch— 
maliges Wiederaufleuchten zu erklären, ſofern 
es ſich dabei um Lichtintenſitäten handelt, 
die wegen ihrer weiten Sichtbarkeit mit 
denjenigen irgend einer vulkaniſchen Eruption 
nicht verglichen werden können. Solche von 
einer dichten Dampfhülle verſchleierte Erup— 
tionen würden nicht aus den in Betracht 
kommenden Entfernungen geſehen werden 
können, und in der That bietet ſich hier 
eine beſſere Erklärung. 

Die neueren Beobachtungen der Fix— 
ſterne, insbeſondere der Sonne, haben er— 


geben, daß die elementaren Stoffe auf dieſen 
Weltkörpern im Zuſtande der Diſſociation 
verharren und zwar in Folge der vor— 


handenen hohen Temperatur. Die Wärme 
trennt, wenn ſie einen beſtimmten Grad er— 
reicht, alle jene Aſſociationen von Stoffen, 
die wir als chemiſche Verbindungen bezeich— 
nen. Erſt wenn die Maſſe eines Fixſterns 
eine gewiſſe Abkühlungsſtufe erreicht hat, 
wird die Vereinigung der Stoffe zu 
chemiſchen Verbindungen eintreten können, 
und dieſe vermögen wir uns nur als einen 


Verbrennungsprozeß mit ſtarker Licht- und 


Wärme⸗Entbindung zu denken. Es wird 
ſtatthaft erſcheinen, ſolche auf dem Wege 
der kosmiſchen Entwicklung unausbleiblichen 
Reaktionen in erſter Reihe für die Urſachen 
der zeitweiligen Helligkeitszunahme faſt ent— 
ſchwundener Sterne anzuſehen. Auch er⸗ 
klären dieſelben ſehr gut manche Eigenthüm— 


lichkeiten dieſer Phänomene. So liegt es 


— — —. ͤ ———— 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


| 354 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


nun in der Natur ſolcher chemiſchen Vor- 


gänge, daß ſie plötzlich eintreten, faſt 
momentan ein Maximum der Wirkung er— 
reichen, worauf ein allmäliger Rückgang 
eintritt. Genau daſſelbe beobachten wir 
beim Aufleuchten eines Sternes. Derſelbe 
wird plötzlich fihtbar und das Maximum 
ſeines Glanzes liegt ſtets am Anfange der 
Erſcheinung, von wo ab eine allmälige 
Abnahme beginnt. 

Ohne Zweifel werden ſich ſolche Vor— 
gänge bei jedem Sterne mehrmals wieder— 
holen müſſen, da es bekanntlich chemiſche 
Verbindungen giebt, die bei ziemlich hohen 
Temparaturen beſtehen können, während 
andere, wie z. B. grade das Verbrennungs— 
produkt des Waſſerſtoffs, erſt bei niedri— 
geren Temperaturen, und nicht in Gegen— 
wart glühender Metalle beſtehen können. 
Die erſten derartigen Prozeſſe würden ſich 
uns, kleinere Bruchtheile der Geſtirnmaſſen 
betreffend, wahrſcheinlich nur in geringen 
Glanzerhöhungen kund thun, und die von 
ihnen gebildeten Dämpfe werden das end— 
liche Verblaſſen und Verſchwinden der be— 
treffenden Sterne beſchleunigen, indem ſie 
den Durchgang des Lichtes aufhalten, bis 
dann ſpäter, wenn die Temperatur ſoweit 
geſunken iſt, daß die Vereinigung derjenigen 
Stoffe erfolgen kann, die einen beträcht— 
lichen Bruchtheil des Weltkörpers ausmachen 
und eine bedeutende Verbrennungswärme 
entwickeln, ein plötzliches Auflodern des 
Sterns erfolgt. 

Was nun die einzelnen ſpektroſkopiſch 
ermittelten Erſcheinungen bei dem Aufleuch— 
ten der Sterne betrifft, ſo muß man zu— 
nächſt das Auftreten der hellen Waſſerſtoff— 
linien, nach Analogie ihrer Erſcheinung über 
den dunklen Kernen der Sonnenflecken, auf 
ein Erglühen bedeutender Waſſerſtoffmaſſen 
außerhalb jener dunkleren Dampfhülle, 


die das mehr oder weniger vollkommene 
Verſchwinden des Sternes bewirkte, deuten. 


Dieſe hellen Linien waren bei dem neuen 
Schmidt'ſchen Sterne ſowohl am Anfange 


des Erſcheinens als ſelbſt dann noch zu 
ſehen, als die Helligkeit bereits bis zur 
neunten Rangſtufe abgenommen hatte. Da— 
raus wäre zu folgern, daß, wenn die Licht— 
entwicklung von der Vereinigung von Waſſer— 
ſtoff mit Sauerſtoff herrührte, der Wafler- 
ſtoff im Ueberſchuß vorhanden ſein mußte, 
damit dieſer Ueberſchuß durch die Ver— 
brennungswärme in lebhafte Gluth verſetzt 
werden konnte, denn verbrennender 
Waſſerſtoff giebt an ſich nur ein konti— 
nuirliches Spektrum. Indeſſen kann die 
beobachtete Lichterſcheinung auch von der 
Verbrennung anderer elementarer Stoffe, 
namentlich der Metalle abgeleitet werden; 
in dieſem Falle würde die Vereinigung von 
Waſſerſtoff und Sauerſtoff unmöglich ſein, 
da glühende Metalldämpfe die Bildung von 
Waſſer verhindern. Der auf dieſe Weiſe 
iſolirte Waſſerſtoff würde bei hinreichender 
Erhitzung das Linienſpektrum geben., Die 
von ihm bei dem Schmidt'ſchen Sterne 
beobachtete auffallende Breite der Waſſer— 
ſtofflinien, die ſich ſehr bald verringerte, 
hält O. Lohſe für ein ziemlich ſicheres 
Anzeichen dafür, daß dem Aufleuchten eine 
Exploſion zu Grunde lag, welche durch die er— 
zeugte Hitze eine andauernde Verdünnung der 
vorhandenen Gasmaſſen bewirkte. Das würde 
ebenſo vollkommen mit den beobachteten Er— 
ſcheinungen als mit der erklärenden Hypo— 
theſe im Einklang ſtehen. Die bei neuen 
Sternen beobachteteten auffälligen Schwan— 
kungen in der Helligkeit könnten vielleicht 
durch ein allmäliges Umſichgreifen der 
chemiſchen Wirkung erklärt werden. Es 
wird bei einer derartigen Exploſion in großem 
Maßſtabe nicht die ganze verbindungsfähige 


\ 


FU 


Ar 


nr 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Maſſe mit einem Schlage ſich vereinigen, 
ſondern die Einwirkung wird an einer be— 
ſtimmten Stelle beginnen, ſich allerdings 
raſch ausbreiten, in Folge der erzeugten 


hohen Temperatur aber mächtige Bewegungen 


in der Atmoſphäre des Weltkörpers hervor— 
rufen, welche die Stoffe durch Wegſchleu— 
derung an einer ſofortigen allgemeinen Ver— 
einigung verhindern. Andererſeits werden 
auch durch die Erhitzung locale Diſſociations— 
Prozeſſe von Neuem hervorgerufen werden, 
wodurch die lodernde Gluthmaſſe ſtarke 
Helligkeitsſchwankungen erkennen laſſen muß, 
wie dies thatſächlich der Fall war. Gegen 
den Schluß ſeiner Abhandlung faßt der 
Verfaſſer ſeine Hypotheſe in folgende Sätze 
zuſammen: ö 

„Durch die fortſchreitende Abkühlung 
der aus glühenden Dämpfen und Gaſen 
beſtehenden Maſſe eines ſelbſtleuchtenden 
Weltkörpers (Fixſtern's) wird ſchließlich eine 
atmoſphäriſche Hülle erzeugt, die das Licht 
in ſo ſtarkem Grade abſorbirt, daß der 
Stern von der Erde aus nicht mehr oder 
doch nur ſchwach geſehen werden kann. 
Wenn dann durch weitere Wärmeausſtrahl⸗ 
ung der Grad der Abkühlung erreicht wird, 
welcher für Bildung derjenigen chemiſchen 
Verbindungen erforderlich iſt, die einen 
weſentlichen Theil des Ganzen bilden, jo 
wird bei Vereinigung der betreffenden Ele— 
mentarſtoffe eine bedeutende Wärme- und 
Lichtentwicklung ſtattfinden, welche den Stern 
plötzlich auf große Entfernungen hin für 
längere oder kürzere Zeit wieder ſichtbar macht.“ 


Die Parthenogeneſis im Pflanzen- 


reiche. 
Unter den niederen Thieren iſt die 


ſogenannte Jungferngeburt bekanntlich eine 


ziemlich häufige Erſcheinung, doch tritt fie, 
in der Regel nur alternirend mit geſchlecht— 
licher Erzeugung auf, wodurch ihr philoſo— 
phiſches Intereſſe komplicirt wird. Im 
Pflanzenreiche iſt dieſe alternirende Jungfern⸗ 
geburt eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung 
und nur das Auftreten einer ausſchließ⸗ 
lichen Fortpflanzung durch Parthenogeneſis 
konnte bei den Botanikern ein lebhafteres 
Intereſſe erwecken. Eine ganze Reihe 
diöciſcher Pflanzen, die nur in weiblichen 
Exemplaren verbreitet ſind, hat man ge— 
legentlich Früchte reifen ſehen. Als regel— 
mäßige Erſcheinung iſt die Parthenogeneſis 
insbeſondere bei einer neuholländiſchen Eu— 
phorbiacee, Caelebogyne ilieifolia Smith, 
die in ihrem Vaterlande einen Beſtandtheil 
des ſogenannten Scrub bildet, beobachtet 
und ſtudirt worden. Dieſe diöciſche Pflanze, 
welche im äußeren Anſehen unſerer Stech— 
palme (Ilex acuifolium seu aquifolium) nicht 
unähnlich iſt, wurde 1829 in einem weib- 
lichen Exemplare von Allan Cummingham 
nach Kew geſandt und hat ſeitdem in den 


meiſten botaniſchen Gärten Aufnahme 
gefunden. John Smith beobachtete 
bereits 1841 ihre Befähigung, in ihrem 
durch Trennung von den männlichen 


Exemplaren veranlaßten unfreiwilligen Witt- 
wenſtande ohne Begattung entwickelungs⸗ 
fähige Nachkommen zu erzeugen. 

Man erging ſich in den verſchiedenſten 
Vermuthungen, um dieſe abnorme Erſchein— 
ung zu erklären. Zuerſt argwöhnte man, 
die Pflanze möchte kleine unſcheinbare Pol- 
lenmaſſen, die ſehr leicht zu überſehen wären, 
erzeugen, oder ſich mit dem Pollen anderer 
Euphorbiaceen behelfen, ja es wurde ſogar 


die dem maſſenhaften Samenreifen der 
Pflanze gegenüber lächerliche Hypotheſe auf— 


geſtellt, der Wind könne aus Neuholland 
Pollenkörner nach Europa führen, um die 


356 


Befruchtung zu ermöglichen! Kleine Saft— 
drüſen der Blüthen machen es wahrſchein— 
lich, daß die Pflanze in ihrer Heimath 
auf Inſektenbefruchtung angewieſen iſt, aber 
es hat nicht an Hypotheſenſchmieden ge— 
fehlt, die dieſe Saftdrüſen verdächtigt haben, 
eine Art flüſſigen Spermas zu erzeugen, 
um die Blumen zu befruchten. Schon J. 
Smith wies darauf hin, daß eine Be— 
fruchtung durch fremden Pollen ſchon durch 
den Umſtand unwahrſcheinlich gemacht werde, 
daß die Narben mit ihren breiten Lappen 
noch während des Anſchwellens der reifen— 
den Frucht ſich friſch und ſaftig erhalten 
und nicht denjenigen Veränderungen unter— 
liegen, welche bei anderen Pflanzen gleich 
nach der Befruchtung eintreten. 

Profeſſor A. Braun in Berlin nahm 
in den Jahren 1856— 60 eine Reihe der 
ſorgfältigſten Unterſuchungen an den im 
Berliner Univerſitätsgarten befindlichen Exem— 
plaren der Pflanze vor und veröffentlichte 
die Ergebniſſe derſelben in den Denkſchriften 
der Berliner Akademie und in einem be— 
ſonderen Werke“). Er konnte die Smith'— 
ſchen Beobachtungen durchgängig beſtätigen 
und wies auch an anderen Pflanzen analoge 
Erſcheinungen nach, wie z. B. an der meiſt 
nur in weiblichen Exemplaren beobachteten 
Chara erinita, am weiblichen Hanf u. A., 
wobei er ebenfalls fand, daß an allen dieſen 
unbefruchtet Samen bringenden Pflanzen 
die Narben ſich auffallend lange friſch er— 
hielten. Dieſe Beobachtungen konnte man 


nicht länger anzweifeln, aber man neigte 


jetzt dazu, die in den europäiſchen Gärten 
erzeugten Keimlinge der Caelebogyne zu 
verdächtigen, daß ſie keine echten Keimlinge 


ſeien, ſondern nur Sproßknoſpen, die | 


) Parthenogeneſis, Keimung und Po— 
lyembryonie von Caelebogyne. Berlin, Dümm— 
ler 1860. 


Oualität, als die Eizelle fie an ſich hat, 
angekommen iſt. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | 


ausnahmsweiſe aus unbefruchteten Ovarien, 
wie ſonſt aus Sproßgebilden, erwüchſen. 

Dieſe Zweifel ſowohl, wie das große 
biologiſche Jutereſſe der Erſcheinung über— 
haupt, veranlaßte Profeſſor A. Braun, 
den jetzigen Profeſſor Joh. Hanſtein in 
Bonn zu erneueten ſorgfältigſten Beob— 
achtungen dieſer Pflanze in Gemeinſchaft 
mit ihm anzuregen, die denn auch über eine 
ganze Vegetationsperiode ausgedehnt wurden. 
Nach dem Tode des Altmeiſters der mor— 
phologiſchen Botanik, hat nun Profeſſor 
Hanſtein über dieſe Beobachtungen allein 
Bericht erſtattet,“) wobei er darauf hin— 
weiſt, daß ſich auch in Braun's Nachlaß 
noch werthvolle Aufzeichnungen über ver— 
wandte Fälle finden dürften. Da dieſe 
neue Verſuchsreihe wiederum nur die 
Thatſache feſtgeſtellt hat, daß Caelebogyne 
ohne eine wirkliche Intervention männlicher 
Elemente keimfähige Samen erzeugt, ſo 
übergehen wie das Detail der Unterſuchung 
und verweilen nur bei den am Schluſſe 
der Arbeit gezogenen allgemeinen Folger— 
ungen aus dieſen Thatſachen, die uns 
intereſſant genug erſcheinen, um wörtlich 
mitgetheilt zu werden. 

„Die Sache liegt einfach ſo, ſagt 
Hanſtein, daß freilich zwar die ganze 
höhere Pflanzen- und Thierwelt ſeit Taufen- 
den von Generationen die Sitte vererbt 
hat, ihre Eizell-Aulagen mit einem künſt— 
lichen Empfängnißapparat zu umgeben und 
darauf mit deren Ausbildung zum keim— 
fähigen Ei zu warten, bis eine Spende 
an Stoff und Kräfte-Zuthat von anderer 


Allein als Nothwen— 
digkeit erſcheint dieſe Zugabe nun nicht 


) Botanifche Abhandlungen aus dem 
Gebiete der Morphologie und Phyſiologie 
Heft III. 


Band III. Bonn 1877. 


Be 


| Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


mehr. Und läßt auch die Gewohnheit in 
der weitaus überwiegenden Mehrzahl der 
Fälle die Eianlagen, wenn ſie vergeblich 
warten, lieber umkommen, als zur 
Selbſthilfe ſchreiten, ſo iſt dies eben nicht 
nöthig, und folgt aus keinem obligato— 
riſchen Naturgeſetze. Das abgetrennte Blatt, 
das Wurzelſtückchen u. ſ. w. entſchließen 
ſich in der Noth und Verlaſſenheit in vielen 
ungünſtigen Fällen, durch energiſchen Auf— 
ſchwung ihrer Geſtaltſamkeit eine Stamm— 
knospe zu erzeugen — was doch keine ge— 
wohnte Arbeit für ſie iſt, — während 
dies in ſehr viel mehr Fällen unterbleibt. 
Ganz ebenſogut kann, während das Ab— 
warten des Zeugungsvollzuges und das 
Mißlingen der Eibildung bei deſſen Unter— 


bleiben in der Mehrzahl der Fälle gilt, 
in einer Minderzahl durch eigene Trieb 


kraft im Eierſtock allein aus dem immerhin 
beſchränkten Vorrath von ſtofflichem und 
dynamiſchem Beſitzthum, wenn die vervoll— 
ſtändigende Wirkung ausbleibt, die ſelbſt— 
kraftige Anlage und Ausbildung von Keimen 
neuer Weſen unternommen werden. Dieſes 
iſt durchaus nicht als eine höhere plaſtiſche 
Leiſtung anzuſehen, als jenes. Wenn bei 
den völlig parthenogenetiſchen Akten, durch 
welche die ſogenannte Ammen-Zeugung 
der Würmer u. ſ. w., die Brutſporen der 
Farne, die Schwärmſporen der Algen 
u. ſ. w. zu Stande kommen, das Zuſam— 
menfügen verſchiedener Zeugungsqualitäten 
unterlaſſen wird (nach jener Anſicht alſo 
das Auseinandertreten entgegengeſetzter Prin— 
cipien unterbleibt), ſo geſchieht dies hierbei 
von den betreffenden Pflanzen gewohn— 
heitsgemäß und nach der bei ihnen 
herrſchenden Wirthſchaftsregel. Hier 
in den Ausnahmefällen geſchieht es gegen 
die Regel, gegen die angeborene Gewohn— 
heit, aber es geſchieht auch nichts Anderes 


357 


und nichts Schlimmeres, mithin nichts 
plaſtiſch Schwierigeres oder principiell Un- 
erhörtes und Wunderbares. Nichts 


geſchieht vielmehr, als daß die Pflanze im 


Nothſtande ſich, ſo zu ſagen, auf die 
ihr angeſtammte Befähigung beſinnt und 
nach derſelben thatkräftig zurückgreift. Daß 
nun übrigens ihre parthenogenetiſchen Zeug— 
linge, ob fie gleich morphologiſch echte 
Keimlinge ſind, doch biologiſch den 
beidelterlich erzeugten Keimen nicht äqui— 
valent ſein können, liegt nach dem Vor— 
ſtehenden auf der Hand. Sie kopiren zu— 
nächſt die Eigenſchaften des Mutter-Indivi⸗ 
duums. So ſind alle bisher bei uns 
aufgewachſenen Caelebogyne-Stämme, ſo— 
viel deren erkennbar geworden, weibliche 
Exemplare. Bei Hanf und Hopfen wird 
indeſſen ſchon weniger ſtreng verfahren und 
die vermuthlich jungfräulich erzeugten Keim⸗ 
linge waren zum Theil Männchen. Im 
Ganzen iſt dem parthenogenetiſchen Neuweſen 
neben dem morphologiſchen Werth der 
Keimlinge nur der biologiſche von Brut— 
ſproſſen beizulegen. Daſſelbe gilt natürlich 
von den einzelligen Brut- und Schwärm— 
ſporen der Kryptogamen, welche gleichfalls 
morphologiſch Keime, biologiſch betrachtet 
aber nur den Brutknoſpen gleichwerthig ſind.“ 
Ref. will zum Schluſſe nur noch da— 
rauf hinweiſen, wie ſehr die erwähnte regel— 
mäßige Weiblichkeit aller Nachkommen der 
Caelebogyne feine früher in dieſen Blättern 
ausgeſprochene Meinung beſtätigt, daß der 
regelmäßige Hermaphroditismus der jungen 
Keimanlagen, und mancher erwachſenen Thiere, 
nur ein Produkt der geſchlechtlichen Vermiſch— 
ung iſt. K. 


358 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. * 


Die Kometenform der Seeſterne 
und der Generationswechſel der 
Echinodermen. 


Bei den Seeſternen findet eine eigen— 
thümliche Form der Reproduktion ſtatt, welche 
darin beſteht, daß ein abgelöſter Arm den 
geſammten Körper, d. h. die centrale Scheibe 
ſammt den übrigen Armen neu bildet, wo— 
raus dann die Form eines kleineren Sternes 
mit einem einzelnen längeren Strahl, alſo 
eines Schwanzſterns oder Kometen hervorgeht. 
Ueber dieſe Reproduktionsform, welche ſehr 
verſchieden iſt von den gewöhnlich vorkom— 
menden, bei denen ſich entweder nur einzelne 
abgebrochene Strahlen neu erzeugen oder 
der Seeſtern ſich in zwei Hälften theilt, die ſich 
zu zwei neuen Ganzen ergänzen, hat Prof. 
Haeckel neuerdings einige Mittheilungen 
gemacht,) die nach mehreren Richtungen 
ſehr lehrreich ſind. Denn es iſt offenbar, 
daß es ſich hierbei nicht um eine bloße 
Regeneration handelt, wie diejenige, 
durch welche die Eidechſe den verlornen 
Schwanz oder der Krebs eine Scheere nach— 
bildet, denn hier erzeugt ſcheinbar die Ex— 
tremität das ganze Thier, was in keinem 
andern Falle beobachtet worden und 
auch hier, wie wir ſehen werden, wahrſchein— 
lich ganz anders zu deuten iſt. 

Schon den Alten ſcheinen dieſe leben— 
digen abgelöſten Seeſtern-Arme aufgefallen 
zu ſein, denn auf ſie bezieht ſich augen— 
ſcheinlich die von Aelian und Oppian 
mitgetheilte Sage, daß die Stücke eines 
Seeigels, einzeln ins Meer geworfen, darin 
fortlebten, einander aufſuchten und neu zu— 
ſammenwüchſen; man hat hier die oft ſehr 
ſtachligen Seeſterne mit den Seeigeln zu— 
ſammengeworfen. Was nun die neueren 

f Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie. 
5 XXX. Suppl. 1878. S. 424— 445. Nebſt Tafel. 


Beobachtungen betrifft, ſo fand Prof. Mar— 
tens 1866, daß ein abgelöſter Arm von 
Ophidiaster multiforis eine Scheibe und 
neue Arme entwickelte und daſſelbe be— 
obachtete Kowalewsky bei einem andern 
Seeſtern des rothen Meeres (O. Ehren- 
bergii). Bald darauf überzeugte ſich Oſſian 
Sars durch direkte Verſuche, daß bei beiden 
Arten der merkwürdigen Brisinga (ſ. Kos— 
mos B. J. S. 365) die einzelnen von der 
Scheibe gelöſten Arme fortlebten und ihre 
gewöhnlichen Lebensfunktionen forterfüllten, 
ſogar lange nachdem die Miittelſcheibe 
ſelbſt zu leben aufgehört hatte. Da 
dies bei einem Tiefſee-Thier unter den ſtark 
verminderten Druckverhältniſſen der Ober— 
welt um ſo erſtaunlicher war, ſo vermuthete 
Sars mit gutem Grunde, daß unter 
normalen Verhältniſſen wahrſcheinlich eine 
freiwillige Ablöſung der Arme und Neu— 
ergänzung zu vollſtändigen Thieren, alſo 
eine Vermehrung durch divisio radialis 
vorkommen möchte. Schleiden, in ſei— 
nem bekannten Buche „das Meer“, giebt die 
Abbildung einer ſolchen Kometenform aus 
dem Aquarium von Concarneau, und er— 
zählt dabei: „John Dalyell fand am 10. 
Juni einen einzelnen, kürzlich von einem 
Seeſtern getrennten Strahl, ſchon am 15. 
Juni erſchienen am Grunde vier neue ru— 
dimentäre (d. h. kleine) Strahlen; am Ybend 
deſſelben Tages begann auch die Bildung 
eines neuen Mundes, nur blieben die vier 
neuen Strahlen ſehr klein. Einen Monat 
ſpäter warf das Thier freiwillig den alten 
Strahl ab, und an deſſen Stelle ſproßte 
ein neuer, ganz vollſtändiger Seeſtern hervor.“ 

Profeſſor Haeckel ſelbſt hat nicht 
weniger als 51 Kometenformen von vier 
verſchiedenen, theilweiſe in einander über— 
gehenden Ophidiaſter-Arten aus den Muſeen 
von Berlin, Jena, München, dem Godeffroy— 


Muſeum in Hamburg u. ſ. w. unterſucht 
und ſechs der intereſſanteſten Formen ge— 


nauer beſchrieben und abgebildet. 


„An den jüngſten Exemplaren ſieht 
man, daß eine eigentliche Scheibe 


bei ihnen noch gar nicht exiſtirt, 


ſondern daß die neugebildeten Arme un— 


mittelbar aus der Mundfläche des Arms 


hervorſproſſen. Die Mundöffnung wird 
zunächſt nur durch das offene centrale Ende 
des Specialdarms des regenerirenden Armes 


gebildet. Eine Madreporen-Platte“) | 


fehlt ganz. Die Zahl der neugebildeten 
Arme beträgt bald vier, bald fünf.. ... 
Erſt nachdem die neugebildeten vier oder 
fünf Arme eine gewiſſe Größe erreicht ha— 


ben, geſtaltet ſich ihre centrale Verbindung | 


zu einer ganz kleinen Mittelſcheibe; der 


Mund rückt in die Mitte und beiderſeits 
ein Theil des Armes als Stummel an der 


des Hauptarms tritt eine kleine Madre— 
poren-Platte auf, in dem Winkel zwiſchen 
letzterem und dem benachbarten neuen Arm, 
ſpäter erſt auf die dorſale Fläche hinaufrückend.“ 

Zur ferneren Begründung der von 

*) d. h. die den meiſt fünf Armen 
gemeinſame, ſeitlich auf dem Rücken der 
Mittelſcheibe liegende durchlöcherte Kalkplatte, 
durch welche der Steinkanal das zur Schwell— 
ung der Schlauchfüßchen dienende Waſſer 
aufnimmt. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Kometenform von Ophidiaster multiforis. Von der Bauchſeite (doppelte natürliche Größe). 


359 


diaster multiforis und Ehrenbergii), die ſich 
kaum trennen laſſen, noch der ebenfalls ähn— 
Es find liche O. diplax und der ſtärker abweichende 
außer den oben genannten beiden Arten (Ophi- O. ornithopus aus dem weſtindiſchen Meere. 


Sars, Kowalewsky, Studer und 
R. Jones ausgeſprochenen Anſicht, daß 
die Arme ſich freiwillig ablöſten, um 
neue Sterne aus ſich ſelber zu bilden, boten 
ſich für Profeſſor Haeckel mehrere Exem— 
plare von Ophidiaster diplax und O. orni- 
thopus, an denen ſich deutlich ſtudiren ließ, 
wie ſich die Arme freiwillig von der Scheibe 
abſchnüren. An einigen reifen Exemplaren 
nämlich, welche nicht Kometenformen an— 
gehörten, zeigten ſich 2 — 6 Mm. von 
der Scheibe entfernt, Einſchnürungen der 
Arme, als Anfang der beginnenden Ab— 
löſung. Dieſelben zeigen, daß nicht nur 
kein Theil der Scheibe an dem ſich ablöſenden 
Arm zurückbleibt, ſondern daß umgekehrt 


Scheibe verbleibt, aus welchem in manchen 
Fällen ein neuer Arm hervorwächſt. Alle 
dieſe Thatſachen führen zu dem ſichern 
Schluſſe, daß man es hier nicht mit einer 
gewöhnlichen Regeneration, ſondern mit einer 
beſondern Form der Reproduktion zu thun 
hat. Denn es iſt kein einziger Fall bekannt, 
daß bei irgend einem Thiere eine abgelöſte 
Extremität das Vermögen beſäße, den ganzen 
Körper zu reproduciren. Der nahe liegende 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Schluß iſt alſo, das es ſich hier um keine | ftellt, welches nur für gewöhnlich mit den 
(meiſt vier) andern Armen ein Geſellſchafts— 
leben führte. 


Extremität handelt, ſondern daß der ſich 
ablöſende Arm ein ſelbſtändiges Weſen dar— 


Rückenſeite der Mittelſcheibe (Astrodiscus) von Ophidiaster diplax, 

bei welcher ſich mehrere Arme abſchnüren, während an Stellen 

früher verlorener Arme auf den Stumpfen neue hervorſproſſen. 
m m die Madreporenplatten. 


Dieſe Auffaſſung des meiſt fünftheiligen 
Leibes der Seeſterne iſt bekanntlich aus 
andern Gründen ſchon vor zwölf Jahren 
von Prof. Haeckel aufgeſtellt worden. Ueber 
das eigentliche Weſen und die Verwandt— 
ſchaften dieſer Thiere herrſchen nämlich die 
einander widerſprechendſten Anſichten noch 
unter den heutigen Zoologen, und für die 
meiſten der Letzteren gilt das Wort Goethes: 
„Dies Pentagramma macht mir Pein!“ 
Die älteſte Anſicht zwar, die beſonders von 
Cuvier präciſirt wurde, nach welcher die 
Seeſterne und die ganze Abtheilung der 
Stachelhäuter mit den Polypen, Korallen 
und Quallen eine enge Gemeinſchaft von 
Strahlthieren bilden mußte, wird von 
den meiſten heutigen Zoologen nicht mehr 
getheilt, ſeit Leuckart 1848 die gründ— 
liche Verſchiedenheit der Stachelhäuter von 
den erſteren dargethan hat. Nur ganz 
vereinzelte Forſcher, wie Agaſſiz Vater 
und Sohn und ein ruſſiſcher Zoologe Namens 


125 


Metſchnikoff, traten und treten noch für 
die alte Anſicht ein, wobei von den letzteren 
angenommen wird, daß ſich die Stachelhäuter 
aus den ſogenannten Rippenquallen ent— 
wickelt haben ſollen. 

Mit dem Studium der Entwicklungs— 
geſchichte ließe ſich viel eher eine andre 
Anſicht vereinen, welche den morphologiſchen 
Anknüpfungspunkt bei den ſogenannten Stern— 
würmern (Gephyreen) ſucht, weil ſie einer 
Abtheilung der Stachelhäuter, den Seegurken 
oder Holothurien, äußerlich in ſo vielen 
Punkten nahe kommen, daß man ſie zeit— 
weiſe in dieſelbe Klaſſe geſtellt hat. Auch 
heute glauben noch zahlreiche Zoologen, daß 
die Holothurien die Stammeltern der Stachel— 
häuter ſeien und ihrerſeits von den Stern— 
würmern abſtammen möchten. 

Die Entwicklungsgeſchichte iſt einer ſolchen 
Auffaſſung nicht gradezu feindlich. Denn 
ſie zeigt allerdings, daß die ſternförmig 
gebauten Thiere aus Larven entſtehen, die 


nicht ſtrahlig, ſondern ſymmetriſch 
gebaut ſind und den Wurmlarven im 
Allgemeinen gleichen, während ſie keine 
Aehnlichkeit mit den von Anfang an ſtrahlig 
gebauten Larven der Korallen und Meduſen 
zeigen. Aber die genauere Verfolgung der 
Entwicklungsgeſchichte zeigt, daß die Stachel— 
häuter nicht durch eine einfache Metamor— 
phoſe aus jenen ſymmetriſch gebauten 
Larven hervorgehen, ſondern daß hierbei 
eine Art ungeſchlechtliche Geburt, ein ſo— 
genannter Generations wechſel eintritt, 
nach welchem aus dem vorher ſymmetriſchen 
Thiere plötzlich ein ſtrahlig gebautes ge— 
worden iſt. Die Würmer ſind wie die 
ihnen nahe verwandten Gliederthiere und 
Weichthiere und wie die entfernter verwandten 


meren) zuſammengeſetzt, und ebenſo iſt es 
die Sternthier-Larve oder beſſer Amme, 
aus deren Körper durch Generationswechſel 
Thiere hervorgehen, die aus gewöhnlich zehn, 
zuweilen auch mehr ſolcher Antimeren beſtehen. 

Ein derartiger Generationswechſel läßt 
ſich faſt nur durch einen Vergleich mit 
ähnlichen, aber einfacher liegenden Erſchein— 
ungen verſtehen. Bei einer ziemlichen An— 
zahl von Würmern unter den Ascidien und 
Salpen findet nämlich ein ähnlicher Wechſel 
in ſofern ſtatt, als die Jungen ebenfalls 
freilebende ſymmetriſche Einzelthiere (Ammen) 
ſind, die dann durch Parthenogeneſis oder 
Jungferngeburt eine Reihe von Jungen zur 
Welt bringen, die zu Sternen, Walzen 
oder Ketten miteinander vereinigt bleiben. 
Bei den ſtern- und walzenförmigen As— 
cidien-Stöcken geht dieſe Vereinigung fo 
weit, daß dieſe Thiere eine gemeinſame 
Kloake beſitzen, um welche ſie ſich ſtrahlig 
gruppiren wie die Zacken eines Sternes. 
Haeckel hat nun im Jahre 1866 zuerſt 
die Meinung aufgeſtellt, bei den Ahnen 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


361 


der Stachelhäuter, denen alsdann die See— 
ſterne und nicht die Holothurien am nächſten 
ſtehen würden, möge ein entſprechender 
Generationsvorgang zur Entſtehung zuſam— 
mengeſetzter Thiere geführt haben, die noch 
inniger mit einander verſchmelzen als die 
erwähnten Ascidien. Eben in Folge dieſer 
innigen Verſchmelzung der fünf oder mehr 
Einzelthiere zu einem Sternſtock (Astrocor— 
mus) habe der Generationswechſel die be— 
ſondre Form der Metagenesis suecessiva 
angenommen, bei welcher die Sternamme 
(Astrotithene) die ſternförmig vereinigte 
Brut nicht mehr wirklich gebiert, ſondern 
dieſe durch eine Art innerer Sproſſung in 
unmittelbarer Folge in ſich erzeugt. Wie 


nahe liegend die Annahme einer ſolchen 
Wirbelthiere aus zwei gleichen Hälften (Anti- 


Zuſammendrängung der Phaſen des Ge— 
nerationswechſels unter den vorausgeſetzten 
Verhältniſſen wird, erſieht man daraus, daß 
er bei den jüngern Sternthieren ſich immer 
mehr zuſammenſchiebt und dadurch ſcheinbar 
in eine Metamorphoſe übergeht. 

Nach dieſer geiſtvollen Hypotheſe ſind 
alſo die einzelnen, aus zwei Antimeren 


zuſammengeſetzten Parameren urſprünglich 


ſymmetriſche Einzelwürmer geweſen, die 
allmälig immer inniger mit einander ver— 
ſchmolzen, bis daraus Thiere hervorgingen, 
wie die Seeigel und Holothurien, in denen 
der zuſammengeſetzte Stock oder Cormus 
nur noch durch die Vergleichung mit den 
ältern Formen erkennbar bleibt. Ueber das 
Verhältniß dieſer zuſammengeſetzten Perſonen 
zu den Einzel-Perſonen hat kürzlich Prof. 
Haeckel genauere Definitionen gegeben in 
einer Arbeit „über die Individualität des 
Thierkörpers“ ?) auf die wir hier verweiſen 
müſſen, da die grundlegenden Beſtimmungen 
derſelben einen Auszug nicht geſtatten. 


» Jenaer Zeitſchriſt für Naturwiſſenſchaften 
1878. XII. S. 1. 


rr. ̃ ...... . . . ̃ . 


46 


362 


Die Hypotheſe von der Cormus-Natur 


der Stachelhäuter findet nun, außer in der 
Eutwicklungsgeſchichte und den Parallel- 
zu treiben. 


Vorgängen bei den Syn-Aseidien, eine offen— 
bar ſehr ſtarke Stütze in der hier betrachteten 
Fähigkeit der abgelöſten Arme des Seeſterns 


oder Aſtrolenen, von der Scheibe (Astrodis- | 
cus) geſondert, wie eine einfache Wurmperſon 


weiter zu leben und neue Individuen ſeiner 


Art zu erzeugen, um ſich mit ihnen zu 
von O. Sars mit Brisinga die freilich 


einer neuen Firma „Sternarm und Söhne“ 
zu vereinen. „Es handelt ſich hier offen— 
bar,“ ſagt Haeckel, „um einen wirklichen 
Generationswechſel der Seeſterne, um eine 
ungeſchlechtliche Vermehrung, welche alle 
Charaktere der echten Metageneſis trägt. 
Da wir nun auch die ſogenannte „Meta— 
morphoſe“ der Echinodermen . . . in ihrer 
älteſten urſprünglichen Geſtalt als wirkliche 
Metageneſis auffaſſen müſſen, ſo hätten wir 
im Stamme der Sternthiere zwei verſchie— 
dene Formen des Generationswechſels: 
Erſtens die gewöhnliche Form der Meta— 
geneſis, wo die ſogenannte „Larve“ (Pluteus, 
Brachiolaria etc.) als Amme fungirt und 
durch innere Knospung das ganze 
Echinoderm erzeugt (bei den meiſten Aſterien, 
Ophiuren, Echinen und vielen andern Echino— 
dermen) — und zweitens die ſeltenere Form 
der Metageneſis, wo der ſpontan abgelöſte 
Seeſtern-Arm als Amme fungirt, und 
durch äußere Sproſſung den Stern 
erzeugt (Ophidiaster, Labidiaster, Bri- 
singa und andre Aſterien).“ 

Zum Schluſſe möchte Referent ſich noch 
erlauben, auf einen beſondern Punkt hin— 
zuweiſen. Der Aſtrodiskus iſt nach dieſer 
Hypotheſe ein nachträglich entſtandener Theil 
und wird dementſprechend mit vieler Leich— 
tigkeit von den freilebenden Armen neu 
nacherzeugt. Es wäre nun doppelt inter— 
e ſſant, durch den Verſuch zu ermitteln, ob 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | 


auch umgekehrt die Scheibe, wenn man ihr 
alle Arme radical weggeſchnitten hat, im 
Stande iſt, weiter zu leben und neue Arme 
Es hat das offenbar alle 
Wahrſcheinlichkeit für ſich, da die Haupt— 
organe des Lebens in der Scheibe centraliſirt 
ſind, und wenn die ältere Betrachtung der 
Stachelhäuter als Einzelthiere richtig wäre, 
müßte das fraglos geſchehen. Gleichwohl 
ſtarb bei den oben erwähnten Verſuchen 


hier ſehr kleine Scheibe früher als die 
Arme. Bei Seeſternen, deren Scheibe 
ſich mehr entwickelt hat, dürfte ein ſolcher 
Verſuch keineswegs als experimentum 
erueis hingeſtellt werden, denn es iſt, na— 
mentlich bei dünnarmigen Schlangenſternen, 
bei denen die Wundflächen nicht groß aus— 
fallen würden, ſehr möglich, daß alle Arme 
neu nachwüchſen. Thäten ſie es indeſſen 
wider Erwarten nicht, ſo wäre das ein 
ferneres, wenn auch kleines Gewicht in die 
Wagſchale, die ſich, wie uns ſcheint, immer 
entſchiedner zu Gunſten der Haeckel'ſchen 
Cormus⸗Theorie neigt. 


Raub-Naupen. 


Prof. Carl Berg in Buenos Aires 
ſagt in einem, in einer ruſſiſchen Zeitſchrift 
abgedruckten Aufſatz über „Patagoniſche 
Lepidopteren“: 

„Es bleibt mir hier nur noch übrig, 
einer Eigenthümlichkeit der Raupen, ihrer 
höchſt carnivoren Eigenſchaft zu gedenken. 

Alle Raupen, welchen Familien und 
Gruppen ſie auch angehörten, zeigten den 
lebhafteſten Trieb ihren Stammesgenoſſen 
ans Leben zu gehen. In der Gefangen— 


ſchaft fraßen ſie nur ſolche, ſelten etwas 
von der Futterpflanze anrührend. Spinner— 


raupen vertilgten andere ihrer Gattung, was 
unglaublich klingt aber wahr iſt, mit Haut 
und Haar, ja, ſie riſſen ſogar die Cocons 
der Verpuppten auf und fraßen die Puppen 
aus, worauf ich meine Reiſegefährten be— 
ſonders aufmerkſam machte. Aehnlich be— 
nahmen ſich die Noktuen-Raupen unter 
Ihresgleichen und unter Spinnern und um— 
gekehrt; von erſteren war die von Heliothis 
armiger Hb. über alle Maßen gefräßig; 
in 24 Stunden vertilgte eine ſolche 6— 7 
andere. Auch die Raupe des Tagfalters 
Pyrameis Carye Hb. war carnivoriſch, 
dieſe aber ſehr mäßig und zog ſtets friſches 
Pflanzenfutter fleiſchlicher Nahrung vor, 
während die anderen, namentlich Eulen, 
einmal an Fleiſchkoſt gewöhnt, keine Pflanzen 
mehr freſſen wollten. 

Dieſe Eigenthümlichkeit patagoniſcher 
Raupen läßt ſich leicht erklären. Während 
des Hochſommers herrſcht in Patagonien 
große Dürre und Hitze; im Verein mit 
trockenen Winden bringen dieſe die ohnehin 
ärmliche Vegetation allzuleicht zum Ver- 
dorren. Da es den Raupen alsdann an 
Nahrung gebricht, hat der Kampf ums 
Daſein ſie gelehrt, eine andere Nahrungs— 
quelle zu finden. Sie zehren von Ihres— 
gleichen. Dieſe Eigenſchaft ererbend, thun 
ihre Nachkommen es oft auch ſpäter, wo 
kein Pflanzenmangel ſie dazu zwingt. — 
Die Natur macht erfinderiſch und die Natur 
iſt biegſam!“ 


Neuere vorgeſchichtliche Chier- 
zeichnungen. 
Der Bericht über die achte allgemeine 


Verſammlung der deutſchen Geſellſchaft für 
Anthropologie, Ethnologie und Urgeſchichte 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 363 


erſchien ſoeben bei R. Oldenbourg unter 
Redaktion von Profeſſor Dr. J. Ranke 
mit 2 Tafeln in Quart, einer Karte der 
prähiſtoriſchen Anſiedelungen am Bodenſee 
und einer Zeichnung. Der ca. 100 Seiten 
umfaſſende Bericht zeichnet ſich vor Allem 
durch eine große Sorgfalt und möglichſte 
Vollſtändigkeit aus, die natürlich nie vollfom- 
men bei ſolchen Gelegenheiten zu erreichen 
iſt. Beſonders hervorzuheben iſt die für 
die Entwickelung der Anthropologie bedeu— 
tende Debatte über die Echtheit der Funde 
von Thayingen, die S. 103 —122 ver- 
zeichnet ſteht (vgl. Kosmos, Bd. II. 
S. 439441). 

Einen neuen Beitrag zur Echtheit der 
Thierzeichnungen bringt in einem Anhang 
Dr. Mandach von Schaffhauſen. Dar— 
nach entdeckte eine wiſſenſchaftliche Com— 
miſſion k), darunter Namen wie Daw— 
kins, Lubbock, Burk und Andere in den 
Klippen von Cresnell an der engliſchen 
Südküſte eine Reihe von Höhlen, die durch 
ihre Funde eine zweifache Beſchlagnahme 
durch Menſchen bewieſen. In der jüngeren 
Schicht fand H. Mello auf einem zarten 
Knochenfragment die Zeichnung des Vor— 
dertheiles eines Pferdes. Daſſelbe ziert 
nach Dawkins' Beobachtung eine kurze, 
borſtige Mähne und trägt ganz denſelben 
Typus zur Schau, wie die Pferde— 
zeichnung von Thayingen. Die Aehnlich— 
keit des Typus manifeſtirt ſich in der 
vorgebeugten Stellung des Kopfes, die 
eine lauernde Intention verräth, in der 
Behaartheit und endlich in den Dimenſionen 
des Körpers. Die Zeichnung von Cresnell, 
oder beſſer von Robin-Hood, iſt gerade ſo 


) Solche Commiſſionen wären auf deut- 
ſchem Boden ſehr empfehlenswerth, um eine 
ſolche Turbation wie bei dem Falle Thayin— 


gen zu verhüten. 


364 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


naturaliſtiſch nach dem Leben gegeben, wie 
die von Perigord und Thayingen. Es 
ſind die Eingebungen der Natur, welche 
der Naturmenſch nach den wiederholten 
Eindrücken ſicher zum Ausdruck brachte. 
Dawkins zieht daraus den Schluß, daß 
die Jäger der älteren Steinzeit, der ſoge— 
nannten paläolithiſchen oder nach Ecker der 
unmetalliſchen Periode von Südengland, 
deſſelbden Stammes waren, wie die Ren— 
thierjäger von der Schweiz und der Dor— 
dogne. 

Ohne gerade dieſen Schluß deciſiv auf— 
recht erhalten zu wollen, muß man geſtehen, 
daß die Forderung Ecker's und Linden— 
ſchmit's nach bezeugten Parallelfunden 
für die Zeichnungen von Thayingen, ſowie 
die Vorausſage Meſſikomer's hiermit glän— 
zend erfüllt ſind. Die Fundumſtände ſind hier 
nicht anzuzweifeln und die Echtheit derer 
von Robin-Hood zeugt auch für die Be— 
weiskraft der früher gefundenen von Thayin— 
gen, Freudenthal, Perigord. Die Frage 
der Thayinger Zeichnungen, ſowie überhaupt 
der prähiſtoriſchen Kunſt iſt ſomit ihrer 
Spruchreifheit (vgl. Bericht S. 107 
Ecker) bedeutend näher geführt und auch 
die abſolute Zeit der Entſtehung dieſer 
Kunſtwerke dadurch näher fixirt. 

Iſt es überhaupt erlaubt, über die 
Ethnologie eines Volkes, das ſich nach 
Dawkins Unterſuchungen unter ganz ähn— 
lichen Culturverhältniſſen im weſtlichen 
Frankreich, dann bis an den Oberrhein 
und im ſüdlichen Britannien findet, wenig— 
ſtens eine auf hiſtoriſche Zeugniſſe ge— 
gründete Vermuthung zu wagen, ſo ſei für 
dieſen Zweck auf das Volk der Iberer 
hingewieſen. Dieſe bewohnten vor circa 
700-600 Jahren den ganzen Weſten 
Europas bis an den Rhein und wurden 


1 


zurückgedrängt durch die vom Oſten her 
einwandernden Kelten“). 

Einen uralten Völker- und Handels— 
verkehr Südbritanniens und Nordſpaniens 
bezeugten auch die Nachrichten des Avienus und 


Strabo, die von den Bewohnern der Zinninſeln 


und Nordſpaniens berichten, daß ſie mit an— 
deren Kühnen den weiten Ocean durchmeſſen. 
Und bereits vor Ankunft der Kelten in Frank— 
reich in der erſten Hälfte des erſten Jahr— 
tauſends v. Chr. hatten nach Strabo die 
Tyrier Verkehr und Niederlaſſungen in Ibe— 
rien. Nach der Unterwerfung Phoeniziens 
eröffnete ſich den Griechen ſchon im Laufe 
des 7. Jahrhunderts der Seeweg nach 
Tarteſſus, einer phönikiſchen Gründung 
an der Südweſtküſte Spaniens, bis die 
Karthager auch hier die Erbſchaft der Tyrier 
antraten und die Griechen überflügelten. 
Iſt es nun nöthig, für dieſe Kunſtfertig— 
keit der alten Bewohner des Weſtens einen 
vermittelnden Verkehr mit der Mittelmeer— 
kultur anzunehmen, ſo hindert uns weder 
die Steinzeit jene Jäger von der Dordogne, 


noch die Renthierperiode dieſe Berührung 


in den Zeitraum des Einfluſſes der Phoe— 
niker, Griechen und Karthager auf die 
Iberer zu verſetzen. Ebenſowenig ſind wir 
aber gehindert, dieſen Einfluß auf die Seite 
zu ſetzen, jene Artefakte aber durch dieſe 
Periode der Herrſchaft der Iberer im 
weſtlichen Europa zuzuſchreiben. Jedenfalls 
aber ſind ſolche Anhaltspunkte geeignet, eine 
Brücke zu ſchlagen zwiſchen den Ergebniſſen 
der anthropologiſchen und urgeſchichtlichen 
Forſchung und den Nachrichten und Schlüſſen 
aus den alten Autoren. 
Dr. C. Mehlis. 

) Müllenhoff, Deutſche Alterthums— 
kunde S. 108—112, Tiefenbach, Origines 
europaeae p. 113—114. 


2J2;— 0. >. 


r 


Titeratur und Kritik. 


Der Darwinismus und die Ethik. 


uf der letzten Naturforſcherverſamm— 

lung hat wiederum Häckel ener— 

giſch darauf hingewieſen, daß die 
moderne Richtung der Naturphilo- 
ſophie zwar noch keine Ethik geſchaffen 
habe, aber doch nicht blos die Noth— 
wendigkeit einer ſolchen, ſondern auch 
die Kraft in ſich fühle, eine ſolche zu 
ſchaffnn. Daß dies möglich fer, darauf 
hat ſchon Lange in ſeiner Geſchichte des 
Materialismus hingewieſen, wenn er auch 
den Begriff der „Idee“ in dualiſtiſchem 
Sinne faßte. Es iſt das Beſtreben unſerer 
Zeit, den theoretiſchen Realismus und 
Monismus*) mit dem praktiſchen Idealismus 
zu verbinden und es iſt dies ein charakte— 
riſtiſches Schlagwort unſerer Zeit geworden, 
welches auch Häckel im Anſchluß an 
Lange mit lauter Stimme verkündigt. 
Daß aber dies bis jetzt mehr Poſtulat als 
wiſſenſchaftlich ausgeführte Weltanſicht ge— 
) Der Terminus „Monismus“ iſt von 
verhältnißmäßig jungem Datum. Dieſes 
Schlagwort wurde, wie es ſcheint, zuerſt von 
einem Hegelianer, Göſchel, in Gang ge— 
bracht, und zwar bezeichnete er damit die 
Hegel'ſche Logik, den Monismus der Idee. 
Die Ausdehnung des Terminus auf Spi— 


noza geſchah erſt ſpäter. 


weſen iſt, kann nicht geleugnet werden. 
Indeſſen hat unter den Anhängern der 
natürlichen Weltanſchauung am früheſten 
Carneri den Verſuch gemacht, auch in 
dieſer Beziehung das bisher Verſäumte zu 
ergänzen. Mit einer warmen Begeiſterung 
iſt er beſtrebt, den ſittlichen Idealismus 
mit dem moniſtiſchen Realismus zu ver- 
binden, und die Ethik, über einen bloßen 
Utilitarianismus hinaus, zu einem idealen 
Gebiete zu machen, das aber auf realem 
Grunde ſich erhebt. Der „auf realer Baſis ſich 
aufbauende Idealismus“ iſt das Stichwort 
des Tages, das Carneri mit edlem En— 
thuſiasmus auf ſeine Fahne ſchreibt. Um 
dieſes Poſtulat zu einer Wirklichkeit zu 
machen, dazu hat er in ſeiner „Ethik“ 
ſchon einen ſchätzenswerthen Beitrag ge— 
liefert. In der uns vorliegenden Schrift: 
„Der Menſch als Selbſtzweck. Eine 
poſitive Kritik des Unbewußten 
von B. Carneri. Wien 1877,“ ſucht 
nun der Verfaſſer ſeinen ethiſchen Theorien 
einen theoretiſchen Untergrund zu geben, 
und die entgegengeſetzten Anſichten Hart— 
mann's in theoretiſcher und praktiſcher 
Hinſicht zu widerlegen. Wie eng dieſe 


beiden Gebiete zuſammenhängen, braucht 
denen nicht mehr geſagt zu werden, welche 
ſelbſt erfahren haben, wie faſt Neunzehn— 
theile des Widerſtandes gegen die natürliche 


Weltauffaſſung aus falſch verſtandenem 
ethiſchem Intereſſe abzuleiten ſind, und wie 
andererſeits eine verkehrte Weltanſchauung 
auch eine perverſe und verfälſchte Ethik 
hervorruft. Gerade bei Hartmann 
kommt das letztere ſtark zum Vorſchein, 
und ſeine ſterile und ſeltſame Ethik iſt ein 
Ableger ſeiner ſeltſamen und mythiſchen 
Metaphyſik. Carneri hat daher richtig 
operirt, indem er die Ethik ſeines Gegners 
nicht direkt angreift, ſondern zunächſt ihre 
falſchen Wurzeln in der Teleologie des 
Metaphyſikers nachweiſt. In der „Ein— 
leitung“ charakteriſirt Carneri im All— 
gemeinen ſeine eigene Stellung, wobei er 
mit Geſchick durchführt, daß „es keinen 
andern Weg zu den Ideen giebt, 
als den Weg der Wiſſenſchaft“. 
Damit tritt er ſcharf und entſchieden jenem 
verſchwommenen Treiben entgegen, das von 
einer „Objektivität der Ideen“ in einer 
unverſtändlichen, myſtiſchen Weiſe redet. 
Die Ideale, mögen ſie ſich beziehen, wor— 
auf ſie wollen, ſind empiriſch entſtandene 


| 


Vorſtellungsgebilde, und nur als 


ſolche, in der Thatſache ihres Vorgeſtellt— 
werdens, Realitäten; hier bilden ſie ſogar 
treibende Kräfte in der geſchichtlichen Ent— 
wickelung, aber eine andere Exiſtenz als 
im Kopfe der Menſchen kann ihnen nicht 


angedichtet werden, ohne in eine bodenloſe 


Myſtik zu verfallen. 
ung auch theoretiſch zu baſiren, unterzieht 
ſich der Verfaſſer der Mühe, vermittelſt 
einer poſitiven Kritik der Hartmann'- 


Um dieſe Anſchau⸗ 


ſchen Philoſophie feine eigene Anſchauung 


zu begründen. 


Wenn derſelbe auch hierbei 


eigentlich Neues nicht vorbringt, was nicht 
ſchon von den übrigen zahlloſen Kritikern 


geſagt worden wäre, ſo entwickelt er doch 
in den vier Abſchnitten, die er dieſem Gegen— 
Rn widmet (das Unbewußte, Individuum 


ſelbſt lägen. 


366 Literatur und Kritik. 


und Welt, Cauſalität, Selbſtzweck und 
Intelligenz), manchen beachtenswerthen Ge— 
danken, insbeſondere das letztgenannte Ca— 
pitel, in welchem der Verfaſſer den Ueber— 
gang zur Ethik macht, iſt von grundlegen— 
der Bedeutung für ſeine Anſchauung und 
muß demjenigen, der auf der Baſis der 
natürlichen Weltanſchauung ſich eine ideale 
Ethik erbauen will, unbedingt empfohlen 
werden. Die Einwände, welche Carneri 
gegen „das empfindende Atom“ macht, worin 
er ſpiritiſtiſche Anwandlungen ſieht, ſind 
nicht ohne Grund; nur deckt er mehr die 
Schwierigkeit auf, als daß er ſie zu löſen 
verſucht, und ſo lange wir das Auftreten 
der Empfindung auf höheren Stufen nicht 
anders erklären können — wozu keine Aus- 
ſicht iſt — muß jene Vorſtellung einer 
beſeelten Materie wohl oder übel vorläufig 
ein Princip werden. Als die eigentliche 
Wurzel der verkehrten Ethik betrachtet Car- 
neri die falſche Teleologie; indem er den 
Menſchen auffordert, ſich als Selbſt— 
zweck zu betrachten, will er die Ethik hier— 
auf begründen. Eine genauere Erörterung 
dieſes Begriffes des „Selbſtzweckes“ wäre 


jedenfalls zu wünſchen geweſen. Immer⸗ 


hin iſt damit aber ein entſchiedener Proteſt 
gegen alle Verſuche ausgeſprochen, das 


menſchliche Leben als Mittel für irgend 


einen heteronomen Zweck zu betrachten, wie 
dies bei Hartmann geſchieht, der auch 
hierin mit der Myſtik gemeinſame Sache 
macht. Wie die Welt als Ganzes causa 
sui iſt, Selbſturſache, d. h. eben nicht mehr 
verurſachend, nicht mehr Wirkung einer hetero- 
kosmiſchen Macht, ſo kann auch der Welt 
oder ihren Repräſentanten, den Menſchen, 
nicht zugemuthet werden, wiederum Mittel 
für andere Zwecke zu ſein, die außer ihnen 
Darum ſagt Carneri mit 
Recht: Unſer Idealismus iſt von 


dieſer Welt. 


nicht wieder um anderer Dinge willen da, 
wenigſtens ſoll der Menſch ſie ſo 


betrachten, wenn fie auch pſychologiſch 


aus egoiſtiſchen Gründen und Motiven ab- 
leitbar ſind. Carneri betont überall den 


realen Grund der Idee, und es iſt ein 
gutes Wort, daß der Materialismus mit 


jedem Tage mehr dafür ſorge, daß die 
Bäume des Idealismus nicht in den Him— 
mel wachſen (das Umgekehrte iſt zum Glück 
auch der Fall). Wenn auch eine eigent— 
liche wiſſenſchaftliche Begründung und Dar— 
ftellung des auf dem Realismus ſich er- 
hebenden ſittlichen Idealismus in dieſen 
aphoriſtiſchen Aeußerungen nicht gegeben iſt, 
wenn auch im letzten Abſchnitt, „Die 
Liebe“, allgemeine Menſchenliebe und Ge— 
ſchlechtsliebe durch einander geworfen wer— 
den, und wenn endlich die moderne eng— 
liſche Literatur über dieſe Gegenſtände auch 
keine Beachtung gefunden hat, ſo iſt doch 
dieſe Schrift des auch politiſch unermüdlich 
thätigen Carneri ein ſchätzenswerther 
Beitrag zu einem auf natürlicher Baſis 
ſich erhebenden ſittlichen Syſtem, nicht blos 
ein erhebendes Beiſpiel, daß klare und 
nüchterne Auffaſſung der Thatſachen mit 
edler und warmer Begeiſterung für die 
Ideale verbunden ſein kann. 
Str. i. E. H. V. 


Ein neues Werk von Hartmann 
in Sicht. 


Von einem abgefallenen Hartmannianer. 


In unſerer Zeit iſt man gewöhnt, aller— 
lei wunderliche, bizarre und extreme Be— 
hauptungen zu hören, und will man ſich 
nicht ſogleich in heftigen Streit einlaſſen, 


Literatur und Kritik. 


Die ſittlichen Ideen, die 
im Menſchen leben, die er ausbildet, ſind 


367 


um durch Aufgebrachtheit gegen den guten 
Ton zu verſtoßen, ſo muß man oft das krau— 
ſeſte Zeug von Anſichten ruhig hinnehmen, 
gegen die ſich Verſtand und Herz ſträuben, um 
der lieben Wahrheit willen. Das geht heute 
nicht nur ſo in der Literatur, ſondern auch 
in der Kunſt, namentlich in der Muſik und 
in der Malerei, und ebenſo geht es in der 
Philoſophie. So laſen wir einſt in einem 
Artikel der „Gegenwart“ unter dem Titel: 
„Schopenhauerianismus u. Hegelianismus“, 
verfaßt von Herrn v. Hartmann: daß die 
realiſtiſche Schule in der Philoſophie keine 
ſonderliche Berechtigung habe, ſich gegen— 
wärtig an dem geiſtigen Wettkampfe um 
die Löſung der Probleme zu bewerben, da 
ſie „auf Umwegen“ zum Ziele ſchreite, die 
geſteckten Hinterniſſe nicht auf geradem 
Wege aufſuche und ſomit eine gute Pferde— 
länge zu ſpät und hinter der rein ideolo— 
giſchen Richtung am geſteckten Ziele an— 
lange. Wer die Einleitung des betreffen— 
den Artikels lieſt, erhält ungefähr den Ein- 
druck, als hätten ſich Männer wie Herbart, 
Hermann Lotze in Göttingen, Robert 
Zimmermann in Wien, Drobiſch 
in Leipzig und Andere umſonſt bemüht, 
und als müßten ſich die geiſtigen Ström— 
ungen, die von dort ausgehen, gemächlich 
im Sande verlaufen; mindeſtens, ſo be— 
hauptet Herr von Hartmann, haben 
die Anhänger dieſer Richtungen kein Recht, 
ſich an den philoſophiſchen Aufgaben der 
Gegenwart zu betheiligen. Wir zweifeln 
nicht, daß die Anhänger eben jener von 
Hartmann verurtheilten Richtung fo 
ziemlich das Gegentheil behaupten wer— 
den, und ſo hört man denn ſehr häufig 
gegenwärtig mit Recht den Ausſpruch, daß 
die ſogenannten Ideologen, das ſind die 
Hegel, die Schopenhauer und Hart— 
mann, die Entwickelung der philoſophi— 


\ 


368 Literatur und Kritik. 


ſchen Wiſſenſchaft nicht nur von neuem 
gehemmt, ſondern bis auf die Zeit zurück— 
geworfen hätten, da die Träumer und Ro— 
mantiker das Scepter führten, um alles 
Licht des Geiſtes aufzulöſen in Myſticismus 
und irrlichterirende Gefühlsverſchwommen— 
heit. Damals nannte man dieſe Richtung, 
die uns durch übermäßige Träumereien der 
Wirklichkeit entrückte, die romantiſche. In— 
zwiſchen, wo ſich unſer politiſches Leben 
völlig verändert hat, ſind wir in unſeren 
Beſtrebungen praktiſcher geworden, aber 
ſonderbar, der Geiſt iſt in der größten 
Gefahr, unterzugehen in einer neuen Art 
von Romantik, die, weil ſie ſich mit dem 
Verſtande verbunden hat, einestheils her z— 
loſer in ihren Formen erſcheint, anderen— 


theils aber mit dem Geiſte Verrenkungen 
vornimmt, die zu pathologiſchen Verirrungen 


hinneigen, um uns insbeſondere in Kunſt 


und Philoſophie den weitgehendſten Hallu⸗ 


cinationen zuzutreiben. Unter dem Einfluſſe 
folder hallucinativen Richtung ſchilt man den 
berechtigten Realismus, und ſchafft heute 
myſtiſch-allegoriſche Formen in der Muſik 


(Wagner) und ebenſolche in der Philoſophie. | 
Wir haben es zunächſt hier mit der philo- 


ſophiſchen Ideologenrichtung zu thun, und 


nehmen Gelegenheit, einige Punkte derſelben 


hervorzuheben, um zu zeigen, wo die Be— 
rechtigung derſelben aufhört. 

Da, wie wir hören, Herr von Hart— 
mann ein neues Werk, und zwar eine 
Phänomenologie des ſittlichen 
Bewußtſeins edirt, ſo erſcheint es dop— 


zu überſehen. So entſtehen Irrthümer, die 
in der Wiſſenſchaft verhängnißvoll werden. 
Ein ſolcher doktrinärer Irrthum iſt der: 
die Formen unter welchen das All und 
die Natur ihre Exiſtenzen ſchafft, mit 
denen zu verwechſeln, in welchen der irdiſche 
Bewohner der Erde als winziger Menſch 
dieſelben auffaßt, um über die Verhältniſſe 
des Alls wiſſenſchaftlich nachzudenken. Mit 
dieſer Verwechſelung von Exiſtenzformen 
und menſchlichen Denkformen kann man 
leicht recht weitgehende Confuſionen an— 
richten. Der menſchliche Geiſt nämlich denkt 
in eigenthümlichen, ſich aus der ſpeciell 
menſchlichen Organiſation herleitenden Be— 
griffen, und faßt dieſelben abermals menſch— 
lich in beſtimmt geformte Worte und Zeichen 
(Symbole). Mit dieſer Bewegung des 
irdiſchen Menſchengeiſtes in Begriffen, Wor— 
ten und ſymboliſirenden Formen ſind ſelbſt— 
verſtändlich zugleich eigenthümliche Wen— 
dungen verknüpft, die rein formaliſtiſch und 
grammatikaliſch ſind, und als Bewegungen 
betrachtet, in dieſer Formart nicht im All 
und in der realen Natur und Welt vor— 
kommen. Trennt man dieſe rein menſch— 
lichen ſymboliſchen Formen indeſſen nicht 
von denen der wirklich realen Welt und 
dem Weltall, und konfundirt dieſelben, jo 


| kommt man ſchließlich zu der kurioſen Be— 


pelt geboten, die Leſer in unſerer Zeitſchrift 


durch folgende Erörterungen darauf vorzu— 


bereiten. Die modernen Träumer und Jdeo- | 
logen, die ſich gern ihren Einbildungen 
überlaſſen, kommen bekanntlich leicht dahin, 


der Verſchwommenheit zu verfallen und die 


feineren Unterſchiede unter den Formen 


hauptung, daß ſich das Weltall in den 


nämlichen Formen ausdrücke, und in ſeinen 
Formen genau dieſelben eigenthümlichen 
Wendungen nöthig habe wie der winzige, 
ſprachlich denkende Menſch, und dieſe Betrach— 
tung führt ſchließlich zu dem Dogma: daß 
das Weltall im Grunde ſeiner inneren Or— 
ganiſation nur einen denkenden All-Menſchen 
darſtelle. Dieſe falſche Vermenſchlichung des 
ganzen Weltalls hat aber alsbald weitere 
Confuſionen im Gefolge, von denen wir 
nur einige hier erwähnen wollen. 


JJͤ ̃ TTT 


Wir alle bedienen uns im menſchlichen 
Leben der Worte „Zweck“ und „Ziel“, und 
das mit Recht. Im begrenzten Leben der Ein— 


zelnen, deren Streben beſtändig einen Gegen- 


ſtand, eine Richtung hat, wird man zu 
ſolcher Bezeichnung dieſe Worte nicht ent— 
behren können. Allein ſelbſt bezüglich des 
Individuellen gilt der Begriff Ziel (Zweck) 
mit Einſchränkung. Verfolgt alles Einzelne 
eine Richtung, ſo iſt jedes Einzelne aller— 
dings, ſo ſcheint es, als ſolches zielſtrebig. 
Dies iſt richtig, ſobald man im Auge be: 
hält, daß jedes nach irgend einer Richtung 
ſich bewegende lebendige Weſen dieſem Ziele 
ideal, d. h. nur regulativ folgt, ohne aber 
daß ſelbſt dieſes Ziel oder Zweck eine an 
ſich reale, wie es Kant ausdrückt, conſti— 
tutive, phyſiſche Kraft iſt, die etwa nach 
Art der Schwere conſtant und beſtimmt zu 
befolgende objektive Wirkungen ausübt. Ziel 
und Zweck jedes Einzelnen als Regulativ 
können daher hundertfach gekreuzt, gehemmt, 
geändert werden, und zwar derart, daß 
viele Einzelne ſich davon abwenden, ſodaß 
ſie als Zerſtörer die objektiven Ziele der 
Uebrigen vernichten. Die Individuen theilen 


ſich ſomit genau beſehen in zielſtrebige Fort- 


ſchrittler und Rückſchrittler. Das ſittliche 
Streben von Individuen läßt daher kein 
allgemeines conſtitutives (unfehlbares) Ziel 
zu, ſondern dieſes exiſtirt nur als Poſtulat 
(ideale Aufgabe), d. h. als Regulativ. Die 
Regulative ſind ſcharf zu unterſcheiden 
von den conſtitutiven Mächten, das ſind 
im Kosmos die beſtehenden Natur— 
geſetze. Wäre das All ein durch und 
durch inconſtantes und abſolut variabeles 


Chaos, ſo wären auch die Geſetzesmächte, 


ſofern Naturgeſetze conſtante Formen dar— 
ſtellen, Ziele für ein ſolches Chaos (das 
eben eine Naturordnung erſt werden will). 
Da wir aber empiriſch eine beſtimmte Ord— 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


Literatur und Kritik. 


| 


369 


nung und Naturgeſetzlichkeit der Wirkungen 
ſchon als beſtehend wahrnehmen, und kraft 
derſelben im großen Ganzen dieſe Ziele 
beſtändig erreicht ſind, ſo könnte man die 


Naturgeſetze daher ganz richtig als das 


feſte Gerüſt erfüllter (erreichter) Natur- 


zwecke bezeichnen. Allein man wird leicht 


bemerken, daß erfüllte und erreichte Ziele 
einen begrifflichen Widerſpruch einſchließen. 
Denn die Begriffe Ziel und Zweck gehen 
beſtändig auf etwas in Zukunft und für 
die Zukunft erſt zu Erreichendes und noch 
zu Erſtrebendes. Betrachten wir den Kosmos 
als ſolchen und als Ganzes, ſo hat der— 
ſelbe in Form ſeiner Naturgeſetze, in denen 
er relativ verharrt und als conſtant erſcheint, 
ſeine Ziele erreicht, und er erfüllt ſie con— 
ftitutiv in jedem Momente. Blicken wir 
aber auf einzelne Theile deſſelben, ſo ſehen 
wir, wie ſich alles Einzelne in die Zukunft 
hinein relativ verändert. Alle dieſe Verände— 
rungen haben Richtungen, folglich Ziele und 
Zwecke, aber da dieſelben nicht wie die Natur- 
geſetze fertig erfüllt beſtehen, ſo werden die— 
ſelben ſehr oft gehemmt, durchkreuzt und ne— 
girt. Unter ſolchen Umſtänden kann man unter 
der Summe von theils erreichten, theils 
durchkreuzten oder aufgehobenen Zwecken 
von keinem allgemeinen Endzweck reden, 
dem alles Einzelne unfehlbar zuſtrebt, etwa 
wie ein geworfener Stein zur platten Erde. 
Wer daher dem All und Weltganzen zu— 
ſammt allem Einzelnen einen allgemeinen 
Endzweck, ein Endziel ſteckt, verwirrt die 


Naturanſchauung und das ſittliche Bewußt— 


ſein. Welcher Unterſchied zwiſchen dem Ein— 
zelnen und dem Ganzen! Das Weltall 
exiſtirt in Form des Ganzen ſeit Ewig— 
keit und muß daher ſeit unvordenklicher 
Zeit und in jedem Augenblick ſein Ziel 
erreicht haben. Das All iſt eben nichts 
Einzelnes, wie der individuelle Menſch, 


47 


370 


ſondern das ewige geſetzliche Ganze, ſein 
Ziel iſt daher nicht über ſich (das Ganze) 
hinausliegend, wie dies beim Einzelnen (als 
Theil des Ganzen) der Fall iſt. Ueber das 
Weſen des Ganzen liegt eben nichts Erreich— 
bares oder noch zukünftig zu Erreichendes 
hinaus, das als Ziel geſetzt werden kann. 
— Was thun nun die Ideologen à la 
Hartmann, die das Weltall zu einem 
All-Menſchen machen und jo dem völligen 
Anthropomorphismus verfallen? Sie be— 
haupten, das Weltall habe hinſicht— 
lich ſeiner Form und Bewegung 
ähnlich wie ein Menſch Anfang, Ziel 
und Ende. Sehr intereſſant iſt zu be— 


ſequenzen Materialismus und Ideologik 
begegnen. Die ſog. Materialiſten entſeelen 


ſammengeſetzt aus todten, knöchernen und 


zu einer todten All-Maſchine, während es 
jene zu einem zielſtrebigen lebendigen All— 
Menſchen emporheben. Jene entſeelen das 
All völlig, dieſe anthropomorphiſiren es zu 
ſehr, daher kommen beide ſchließlich zu den— 
ſelben irrigen Conſequenzen. Beide Rich— 
tungen nämlich werden, wie wir ſehen, dahin 
geführt, Ziel und Ende des Weltalls zu 
behaupten. Den Materialiſten geht allmählich 


körpern aus; Gravitation und Maſſen— 


ewiger Tod droht dem Ganzen. Nicht 
anders iſt es mit jenem ideologiſchen All— 
Menſchen, er wird geboren wie Minerva 
aus dem Haupte des Zeus, um ſchließlich 
am Ziele angekommen zu ſterben. 
Endziel des Schopenhauer'ſchen All— 
menſchen iſt das ſog. Nirwana, und bei 
Hartmann findet es ſich in dem Hin— 
weiſe auf die endlich völlige und abſolute 


Literatur und Kritik. 


merken, wie ſich in dieſen extremen Con- 


das Weltall, und denken ſich daſſelbe zu 
wort. Das von Hartmann vermenſchlichte 
lebloſen Atomen, jo machen dieſe das All 


die anfeuernde Bewegung in den Welt⸗ 


bewegung ſchwinden, und Stillſtand und 


Das 


Zurückſchleuderung des actuellen Wollens 
„in das Nichts, womit der Prozeß 
aufhört, und zwar ohne irgend welchen 
Reſt aufhört, an welchem ſich ein Prozeß 
weiterſpinnen könnte.““) Wir ſehen, die 
Conſequenzen leiten beide Richtungen zu der 
Annahme von Anfang und Ende aller Form 
und Bewegung. Wie aber kann und will 
man ſich einen erſten Anfang aller Ur— 
bewegung denken? Gehören Form und 
Bewegung nicht zum Weſen des ewigen 
Alls? Muß nicht Beides für immer 
und unaufhörlich ſein, ja iſt das All 
ſelbſt nicht im Weſen unaufhörliche 
Selbſterhaltung ſeiner in ſich 
form- und lebens vollen Bewe— 
gung? Auf dieſe wichtigen Fragen hat 
der Materialiſt und ebenſowenig der An— 
thropomorphiſt à la Hartmann keine Ant- 


Weltall muß wie ein Einzelmenſch 
Entſtehung, Lebensziel, Tod und Endzweck 
haben, und auch das materialiſtiſche entſeelte 
Weltall findet nur ſo lange Stoff zur Be— 
wegung, ſo lange der Heizer als deus ex 
machina die todte, blinde Maſchine im 
Gange hält. Man denke ſich, im Laufe der 
Ewigkeit ſei das Uhrwerk der in ſich todten 
Weltallmaſchine abgelaufen geweſen, ſo wäre 
es nun für alle Zeiten ſtehen geblieben, 
und es gäbe heute keine thatſächliche Be— 
wegung mehr. Nun giebt es aber trotzdem 
noch heute empiriſche Bewegung, folglich 
müßte, wäre das All eine in ſich aus 
todten knöchernen Atomen zuſammengeſetzte, 
blindwirkende Maſchine, das abgelaufene 
Werk von einem deus ex machina mehr- 
fach aufgezogen worden ſein. Ganz die näm— 
lichen Widerſprüche ſind es, die den ideo— 
logiſchen All-Menſchen treffen. Weshalb 


) Vergl. Hartmann: Philoſophie d. 
Unbewußten 2. Aufl. S. 681 u. S. 702. 


Literatur und Kritik. 


iſt nicht die Hartmann'ſche Welt 


ſchon längſt im Laufe der Ewig— 
keit geſtorben, weshalb hat fie ihr 
Nirwana nicht ſchon lange erreicht 
und wenn ſie es erreicht hatte, wes— 
halb trat dieſes All immer von 
neuem ins elende, zur Selbſtver— 
nichtung und zum Selbſtmord hin— 
führende Daſein? Wir ſehen, wer 
für Leben und Bewegung im All irgend— 
wie nach vor- und rückwärts die Unauf- 
hörlichkeit (Ewigkeit) leugnet, flüchtet 
ſich in das myſtiſche asylum ignorantiae 
irgend eines deus ex machina, möge er 
dieſem im rein materialiſtiſchen Sinne, wie 
neuerdings Spiller, den Namen Welt— 
äther geben, oder im ſpiritualiſtiſchen Sinne 
All⸗Willen oder Unbewußtes u. ſ. w. nennen. 
Der Name iſt hier für den Philoſophen 
gleichgültig, principiell von Bedeutung iſt 
nur dies, daß ein erſter Anſtoß (Anfang) 
und ein letztes Ende als nothwendiges End— 
ziel aller derjenigen Formen und Bewe— 
gungen angenommen wird, in denen das 
Leben des Alls ſich unaufhörlich zu ver— 
jüngen genöthigt iſt, will es ſich in ſich 
lebensvoll erhalten. 

Aber weshalb ſchreibt Hartmann denn 
ſeinem Univerſum als menſchenähnlichem All— 
Weſen einen Todtenſchein, weshalb prophe— 
zeit er nicht etwa nur unſerer Erde und 
dem Sonnenſyſtem, ſondern dem ganzen 
Kosmos und allem, was da lebt und iſt, 
überhaupt den endlichen Untergang? Dieſe 
Frage wird ſich der Laie leicht beantworten 
können, wenn er berückſichtigt, daß alles 
menſchliche und irdiſche Daſein voller Uebel, 
voller Diſſonanzen und ſomit voller Wider— 
ſprüche iſt, die das Daſein im großen ganzen 
zu einem werthloſen unaushaltbaren Jammer— 
thale machen. Hat ſich der Philoſoph ein— 
mal herbeigelaſſen, die Organiſation des 


371 


Kosmos nach Art eines Menſchen überhaupt 
vorzuſtellen, iſt ihm das Univerſum in der 
Verſchwommenheit ſeiner Betrachtungsweiſe 
im Grunde nur ein kosmiſcher All-Menſch, 
ſo wird ſich Leben und Daſein deſſelben 
auch nur in den nämlichen Formen abſpielen 
wie im menſchlichen Erdenleben, das wir ja 
oft genug als ein thatſächliches Jammerthal 
bezeichnen hören. Aber ſind denn die Diſſo— 
nanzen, die alles zerſtörenden Uebel, mit 
einem Worte die Widerſprüche, aus dem 
Kosmos nicht zu verdrängen, ſind ſie nicht 
bis auf ein praktiſches Minimum zu redu— 
ziren, durch welches fie — O0 werden? Wäre 
es nicht möglich, daß, während das Leben 
und die Grundformen der Bewegung im 
Univerſum unaufhörlich (ewig) ſind, dennoch 
alle diejenigen Mißformen, welche Uebel, 
Diſſonanzen und Widerſprüche nach ſich 
führten, erſt durch Urſachen und Gründe 
entſtanden find, welche man wiſſenſchaftlich 
genauer zu unterſuchen hat?) Auf dieſe 
Fragen werden die Ideologen nicht ant— 
worten können. In ihrer verſchwommenen 
Betrachtungsweiſe ziehen ſie die Frage nach 
der Natur und der Entſtehung und dem 
Vergehen der einzelnen Widerſprüche gar 
nicht in Erwägung. Das Daſein des 
Univerſums in allen ſeinen Formen, das 
Daſein des Allweſens mit ſeinen indivi— 
duellen Erſcheinungen überhaupt, iſt ihnen 
der große Widerſpruch ſelbſt. Daher ihr 
endloſer Ruf: Fort mit allem und 
jedem Leben und allem Daſein, fort 
mit dem daſeienden lebendigen Uni— 
verſum überhaupt. Wir ſehen hieraus, 
wie weit man mit falſchen Analogien Ver— 
wirrungen anſtiften kann. So aufklärend 
oft eine richtige und wiſſenſchaftlich begrün— 


) Hierzu vergleiche: Ueber Philoſophie 
der Darwin'ſchen Lehre von Caspari. Kos⸗ 
mos Bd. I. S. 479 flgde. 


dete Analogie zu wirken im Stande iſt, 
ſo verdunkelnd tritt uns die ſchiefe entgegen. 


Weil die kosmiſchen und organiſchen Ver 


hältniſſe unſeres Planeten für den zart or— 
ganiſirten Menſchen viel Elend, Uebel und 
allerlei Diſſonanzen, Unluſt und Wider— 


ſprüche mit ſich führen, muß nicht nur Erde 


und Sonnenſyſtem, ſondern ſogar das unend— 
liche Ganze und das Univerſum auch ein 
All-Jammerthal fein. So lange der anthro— 
pomorphiſirende Ideologe überhaupt die 
Natur des Widerſpruchs nicht unterſucht, 
wohl gar ſeine Exiſtenz für nothwendig 
oder für unauflösbar hinſtellt, wird in 
ſolchen ſubtilen Fragen auch nichts ent— 
ſchieden werden können. Wer ſagt uns 
denn, ob, allgemein geſprochen, auf anderen 
Welten, etwa auf dem Sirius oder anders— 
wo, die Licht- und Schattenvertheilung für die 
Atome und Weſen (ſofern es aus irgend 
welchen Gründen dort ſolche giebt) nicht 
äſthetiſch maßvoller, erträglicher, vielleicht 
ſogar ſehr wohlthuend zur Durchführung 
gebracht iſt, ſodaß ſie von allem Elend und 
all' jenen widerſpruchsvollen Uebeln, die ſich 
aus einer Mißform der Vertheilung her— 
leiten würden, praktiſch nichts gewahr werden, 
und ihr Leben ſich nicht zum Jammerthal, 
ſondern zu einem ſich immer wieder ver— 
jüngenden angenehmen Daſein geſtaltet? 
Mit einem Worte: Was dem nüchternen 
Realiſten ſtets ein Problem iſt, nämlich 
die Art und die Natur eines Widerſpruchs, 
eines Uebels u. ſ. w., das iſt dem Ideo— 
logen eine abgemachte Sache, ihm ſind die 
Uebel alle nothwendig und mit allem 
Daſein verknüpft; weil er falſche Analo— 
gieen verwendet, kann er daher über ihre 
Entſtehung nicht zu tieferem Nachdenken 
kommen. Nehmen wir den Satz: wo Licht 
iſt, da iſt auch Schatten, ſo behauptet der 
Ideologe, der zur myſtiſchen Verſchwommen— 


Literatur und Kritik. 


heit hin gravitirt, daß das Licht bereits 
den Widerſpruch des Schattens, 
das will ſagen, die Schmälerung des 
Lichteffektes involvire. Das aber iſt ein 
Fehler gegen die Thatſachen; denn ſanfte 
Schatten erhöhen vielmehr den 
Effekt des Lichts und bewirken einen 
Widerſpruch als Differenz nur erſt dann, 
wenn das Maß ihrer Vertheilung in der 
Form zur Mißform ſich geſtaltet. Ueber— 
tragen wir uns dieſes Beiſpiel ins pſycho— 
logiſche Gebiet, ſo muß mit Rückſicht auf 
die Thatſachen hin behauptet werden, daß 
ſanfte Wellen der Unluſt, die ſich unver— 
merkt in die Wogen blendender Luſt ein— 
miſchen, in dieſer Form völlig wider— 
ſpruchslos die Seele umfangen. Auch 
hier iſt es nur erſt die Uebertriebenheit, 
alſo die Mißform eines Grades von Em— 
pfindung, den die Seele nach dieſer oder 
jener Seite hin nicht zu ertragen im Stande 
iſt, welche den Widerſpruch des unerträg— 
lichen Schmerzes, das Leiden und ſomit 
das pſychologiſche Elend nach ſich zieht. 
Schon aus dieſen wenigen Beiſpielen erſieht 
der Leſer, daß der Widerſpruch und das 
Elend nicht allem Daſein und allen For— 
men des Daſeins überhaupt anklebt, ſodaß 
wir alles und jedes Daſein und alle und 
jede Form innerhalb deſſelben verwünſchen 
müßten. Der Ideologe a la Hartmann 
indeſſen verbittert fih alles Daſein, er 
kann ſich daſſelbe in keiner erträglichen, 
widerſpruchsloſen Form vorſtellen, und ſo 
zieht er das Formloſe und in dieſem Sinne 
das myſtiſche Nichtdaſein allem Daſein vor, 
das in beſtimmten, ausdrucksvollen und deut— 
lichen Formen gebaut iſt. Wir ſehen, dieſe 
Art von Ideologie ſtrebt hin zum Form— 
loſen, ſie gravitirt in's Verſchwommene, 
ſie vertieft ſich in jenen myſtiſchen Urbrei, 
in welchem die Daſein gebenden Formen 


r 


4 
4 
Pr 
x 

L 
N 
x 


Literatur und Kritik. 


des Alls untergegangen ſind. Aus 
dieſer Verſchwommenheit leiten ſich alle 
Fehler dieſer Art von Ideologie her, wie 
ſie durch die Hegel, Schopenhauer 
und Hartmann und Andere in's Leben 
gerufen wurde. Man läßt die Unter— 
ſchiede verſchwimmen, überſieht und 
verliert ſie, und beginnt nun hiermit in 
einer abſtrakten Weiſe alles Gegebene zu 
verallgemeinern. So geſtaltet ſich die Or— 
ganiſation (Form) des Univerſums zu der 
eines All-Menſchen, — der, wie alles Da— 
ſein überhaupt, dermaleinſt aus der Un— 
Form (Indifferenz), dem Ueberweltlichen (Un— 
bewußten) entſtanden, auch dereinſt dort wieder 
völlig endet. So geſtaltet ſich ferner 
dieſe Organiſation des Kosmos zu einem 
Al-Iammerthal, deſſen Elend nicht des 
Daſeins werth iſt; ja mehr noch, wir ſehen, 
daß uns dieſer Standpunkt, von dem man 


ſich in's Verſchwommene hinein verliert, 
die Behauptung erklärlich macht, daß alle 
Form, welche ſich an Unterſchiede und irgend 
welche Gegenſätze knüpft, überhaupt den 


Widerſpruch in ſich birgt. Jeden Unter— 
ſchied, jede Differencirung, jedes individuelle 


und ſomit alles Daſein ſieht der Ideo- 


loge A la Hartmann in der Phänomeno— 
logie ſeines ſittlichen Bewußtſeins als einen 
Widerſpruch an. In dieſem Sinne will 
ſich der Ideologe loslöſen von allen 
Unterſchieden und Widerſprüchen und 
ſo ſtrebt er hin zur reinen Idee, das iſt 
eine ſolche, welche alle Unterſchiede aus— 
ſchließt, innerhalb welcher dieſelben alſo 
verſchwimmen und bis zur Indifferenz völlig 
untergehen. — 

Unſere Richtung iſt eine andere. Wir 
wollen und können uns nicht bis zu 
jener Unanſchaulichkeit und unter— 
ſchiedsloſen Verſchwommenheit, 
mit der aller reale Boden unter den 


Füßen entweicht, erheben; uns erſcheinen 
alle jene ſchiefen Verallgemeinerungen, mit 
der das All zu einem rein menſchlichen 
All-Weſen gemacht wird, als übertriebene 
Hallucinationen, die keinen wahren Gehalt 
mehr bergen. Wir halten uns treu an das 
Gegebene, ſuchen uns über die Formen und 
Bedingungen des Alls zu orientiren, und 
verſäumen nicht, bei dem getreuen Spiegel— 
bilde, das wir von der Welt feſthalten wol— 
len, die natürlichen Unterſchiede, dort wo 
ſie gegeben ſind, auch zu verzeichnen. Alle 
Formen des gegebenen Alls ſuchen wir 
daher kritiſch zu prüfen, und wo wir Miß— 
formen (und dieſe allein nennen wir Wider— 
ſprüche) entdecken, ſuchen wir dieſelben zu er— 
klären und ihren Urſprung zu unterſuchen. 


Man wäre im Irrthum, wollte man dieſem 
in ſich berechtigten Kriticismus die Ideali— 


tät abſprechen; auch unter den kritiſchen 
Beſtrebungen wird das Ideal der Wahr— 
heit geſucht, und durch das Erklären der 
Entſtehung und der Aufhebung der Wider— 
ſprüche ſind wir beſtrebt, die Welt und ihre 
Probleme zu löſen, um die Denkharkeit 
einer widerſpruchsloſen Welt zu gewinnen. 
Die wiſſenſchaftliche Idealität behalten auch 
wir im Auge, aber im Hinblick auf dieſe 
wiſſenſchaftliche Aufgabe hüten wir uns vor 
irreführenden Hallucinationen und bleiben 
mit unſeren Orientirungen bei den Formen 
des wirklich Gegebenen. Behalten wir mit 
Rückſicht auf das Geſagte daher den Unter— 
ſchied im Auge zwiſchen wiſſenſchaftlicher 
Idealität und einer falſchen übertriebenen 
Ideologie, die uns der Wirklichkeit entrückt 
und unſer Streben dem Moloch einer krank— 
haften excentriſchen Phantaſie hinopfert. 
Mögen dieſe wenigen Andeutungen zunächſt 
wenigſtens genügen, die Uebertriebenheit 
aller jener Behauptungen zu kennzeichnen, 
durch welche wir heute Kritiker und Rezen— 


enten für Herrn von Hartmann Reklame 
machen ſehen. Herr von Hartmann iſt 
uns lieb und werth, wenn er ſich mit uns 
über Wahrheit und Falſchheit des Darwinis— 
mus vertiefen und feine pſychologiſchen und 
ethiſchen Schrullen, mit denen er nicht Aus— 
ſicht hat, die Mehrzahl der Menſchen zu 
überreden, ſondern höchſtens Kranke und 
Excentriſche in ſein philoſophiſches Netz zieht, 
vorurtheilsfrei aufgeben will. Wer ſich im 
Weiteren für die Mängel der Hart— 
man n'ſchen Lazarethphiloſophie intereſſiren 
will, ſei auf das Werk von H. Vaihinger 
hingewieſen, „Hartmann, Dühring 
und Lange. Zur Geſchichte der deutſchen 
Philoſophie im 19. Jahrhundert.“ C. 


Die Philoſophie ſeit Kant. Von 
Prof. Dr. Friedr. Harms. (Bibliothek 
fur Wiſſenſchaft und Literatur. Philoſ. 
Abth. II.) Berlin, Verlag v. Th. Grieben. 

Dieſes Werk iſt unſtreitbar einer der 


intereſſanteſten und werthvollſten Beiträge 


zur Geſchichte der Philoſophie in der Neuzeit. 


Literatur und Kritik. 


Gern bekennen wir uns mit dem Verfaſſer 
zu dem Ausſpruch des von ihm mit großem 


Scharfſinn kritiſirten Schelling, den er 


als Deviſe ſeinem Werk voranſchickt: „Das 
Urtheil der Geſchichte wird ſein, nie ſei 


ein größerer äußerer oder innerer Kampf 
um die höchſten Beſitzthümer des menſch- 
Jacob Böhme bis auf Leibniz, Wolf 


lichen Geiſtes gekämpft worden, in keiner 
Zeit habe der wiſſenſchaftliche Geiſt in 
ſeinem Beſtreben tiefere und an Reſultaten 
reichere Erfahrungen gemacht als ſeit Kant.“ 
Auch darf man ſich der Eintheilung der 
deutſchen Philoſophie in die vier von 
Harms bezeichneten Abtheilungen an— 


ſchließen, deren erſte die Anfänge der deutſchen 
Philoſophie durch Leſſing, Herder und 


Jacobi, die zweite die Grundlegung der 


. 


deutſchen Philoſophie durch Kant ſelbſt, die 
dritte die ſyſtematiſche Ausbildung derſelben 
durch Fichte, Schelling, Hegel, die 
vierte die Einſchränkung der Philoſophie 
durch Schleiermacher, Herbart und 
Schopenhauer behandelt. Nach Harms 
iſt „die Gründung und Ausbildung einer 
geſchichtlichen und einer ethiſchen Weltanſicht 
in Verbindung und zur Ergänzung der 
überlieferten phyſiſchen Weltanſicht, welche 
zum Naturalismus in der vorkantiſchen 
Philoſophie ausgeartet war, das Weſen der 
deutſchen Philoſophie ſeit Kant.“ Wenn 
es ſchon den Anſchein hat, als ob Herr 
Harms der empiriſchen Forſchung allzu 
geringe Bedeutung einräumte, iſt er doch 
andererſeits weit entfernt davon, den ſinn— 
verwirrenden Exceſſen und Gaullerſtücken der 
abſoluten Philoſophie unbedingt zu huldigen. 

Es iſt unläugbar, daß wir an der 
Kant'ſchen Philoſophie wie an der Philoſophie 
ſeit Kant ein „ganz anderes Intereſſe“ 
nehmen, als an der ganzen vorkant'ſchen 
Philoſophie, dennoch hat es Herr Harms 
nicht verſänmt, eine lang entbehrte und von 
Kant ſelbſt nur flüchtig angedeutete hiſto— 
riſche Ueberſicht der vorkant'ſchen Philoſophie 
zu geben. Ganz vortrefflich iſt in dieſer 


Beziehung die Darſtellung der deutſchen 


Philoſophie im eigentlichen Sinne, von den 
Myſtikern (St. Victor, Albert d. Gr.) 
und Nic. v. Cuſa, Theophraſtus, Paracelſus, 


und Kant ſelbſt, der die neue Aera der 
kritiſchen Philoſophie gegründet hat. Auch 
die Philoſophie des Leibniz iſt mit großem 
Scharfſinn dargeſtellt und kritiſirt. 

In vortrefflicher Weiſe ſind die Verdienſte 
der Philologie um die neuere Philoſophie 
gewürdigt; allerdings nicht der heutigen 
Philologie unſerer humaniſtiſchen Bildungs— 
anſtalten, die in den meiſten Fällen in 


1 


P 


K r 


Silbenſtecherei und Partikel-Philoſophie aus— 
geartet iſt. Treffend iſt auch der Harms'- 
ſche Ausſpruch: „Die moderne Wiſſenſchafts— 
bildung iſt fortgeſchritten von der Theologie 


zur Philologie und von der Philologie zur 
empiriſchen Naturwiſſenſchaft, welche zuerſt 
Bezweifeln möchten 


Neues gebracht hat.“ 
wir aber die Wahrheit des mit großer 
Sicherheit aufgeſtellten Satzes: „Die Frage 
der deutſchen Philoſophie heiße nicht Kant, 
ſondern Fichte und, wie man Fichtes Lehren 
auffaſſe, ſo denke und urtheile man über 
die Philoſophie ſeit Kant.“ 
ſeine bedingte Richtigkeit haben, indem ein 


Verſtändniß des philoſophiſchen Gedanken- 
prozeſſes allerdings nicht ohne die Kenntniß 


Fichte's möglich iſt, wenn ſich dieſes Ver— 


ſtändniß auf die zeitgenöſſiſche Philoſophie | 


erſtrecken ſoll. Wie es aber mit dem Aufruf 


„Auf Kant zurückgehen!“ nur unter ganz 


beſtimmten Vorausſetzungen, ſein Bewenden 


haben kann, ſo gewiß iſt es, daß Fichte nur 


wenig mit zu ſprechen haben, wo nicht gar 
abſeits liegen bleiben wird, wenn die Frage 
über die Normen und Bedingungen jedes 
künftigen, nicht hinter den empirischen Wiffen- 
ſchaften zurückbleibenden philoſophiſchen 
Forſchens erörtert wird. 

Wenn wir eine Geſchichte der deutſchen 


Philoſophie im weiteren Sinne ſchon von 


den Myſtikern an datiren können, ſo 
läßt Harms die deutſche Philoſophie im 
nengere Sinne in Leſſing, Herder und Jacobi 


ihre erſten Vertreter finden, indem von dieſen 


erſt die neue Disciplin einer Philoſophie 
der Geſchichte zu datiren iſt, die ſeither eine 
eigenthümliche, zur geſchichtlichen Weltanſicht 
führende Disciplin der deutſchen Philoſophie 
ausmacht. Die Verdienſte Leſſings auf 


dem Felde der ſpeculativen Theologie und 
Philoſophie der Geſchichte werden treffend 
charakteriſirt. In anerkennenswerther Weiſe 


Literatur und Kritik. 


Letzteres mag 


375 


hat Harms die großartigen Verdienſte 
Herders in ſeinen „Ideen“ hervorgehoben 
und gewürdigt, obwohl er ſeine Polemik 
gegen Kant verurtheilt. | 

In gleicher Weiſe, aber weit ausführ- 
licher, befaßt ſich Harms mit Jacobi, 
deſſen glänzende Eigenſchaften er laut rühmt, 
deſſen corrigirenden Einfluß auf die Philo— 
ſophie wir in mancher Hinſicht gerne aner— 
kennen, obwohl wir mit dem Verf. ſeine Be— 
urtheilung der Dinge weder für geſchichtlich, 
noch in der Sache ſelbſt hinweiſend halten. 

Wenn es ſich auch für Hrn. Harms 
ſchon um die Philoſophie ſeit Kant handelt 
und er daher dem Studium der abſoluten 
Philoſophie mit ganz beſonderer Liebe an— 
zuhängen ſcheint, ſo kann ich doch nicht umhin, 
zu behaupten, daß die Darſtellung und 
Kritik des Kant'ſchen Syſtems die werth— 
vollſte und unfehlbarſte Leiſtung des ganzen 
Werkes iſt. An eine kurze Darſtellung 
der Schriften und der Lebensſchickſale des 
Königsberger Weltweiſen ſchließt ſich eine 
gedrängte Zuſammenfaſſung und Kritik ſeiner 
Philoſophie, in deren Verlauf insbeſondere 
die transcendentale Aeſthetik ganz vortrefflich 
behandelt iſt. Herr Harms liefert in 
erſter Linie eine maßvolle Kritik des Kant’- 
ſchen Syſtems und unterſcheidet ſich dadurch 
vortheilhaft von den bisherigen Kant-Kritikern, 
Herder und Schopenhauer, von denen 
der erſtere an vielen Stellen Sarcasmus und 
Perſiflage an die Stelle objektiver Kritik treten 
ließ, während der zweite des Meiſters Worte 
thatſächlich an manchen Stellen verkennt 
oder mit Bewußtſein und zur höheren Ehre 
ſeines Syſtems mißdeutet, eine Sophiſterei, 
welche ſchon von vielen Pro- und Anti- 
Schopenhauerkritikern ſcharf gerügt wurde. 
Rechtlicher und würdiger des ehrfurchtgebie— 
tenden Gegenſtandes iſt die Kritik des Herrn 
Harms. Jedenfalls iſt derſelbe über die 


| 


Intentionen des Weiſen viel mehr im Klaren, 
als der größere Theil der philoſophirenden 


jüngern Generation, der mit mitleiderregender 


Oberflächlichkeit von der gänzlichen Nebenſäch— 


und der „Kritik der Urtheilskraft“ ſpricht, 
um die Bedeutung der „Kritik der reinen 
Vernunft“ zu erhöhen, 
Harms dieſe nur für die Propädeutik hält 
und bemerkt, Kant ſtehe ſchon in der „Kritik 
der reinen Vernunft“ auf dem Standpunkt 
der „Kritik der praktiſchen Vernunft“. 

Mit richtigem Blick verlegt der Verf. 
das Weſen der Kantiſchen Kritik der reinen 
Vernunft in die Unterſuchung über das Er— 
fenntnigvermögen des Menſchen: „Denn 
durch dieſe Unterſuchung hat Kant neue 
Gedanken über die Erkenntniß geltend ge— 
macht und angeregt, 
ung der deutſchen Philoſophie bewirkt haben, 
während das Endergebniß nur innerhalb 


der kritiſchen Philoſophie oft mit großer 
Halsſtarrigkeit feſtgehalten worden iſt.“ — 


Harms durch die Kritik der anderen 
Werke Kants erworben. Die ernſte 
Wiſſenſchaft wird ihm dafür Dank wiſſen, 
wenn auch nicht anzunehmen iſt, daß ſein 


Werk jemals ſelbſt im beſten Sinne po— 
pulär werden wird. 

Im weitern Verlauf deſſelben begegnen 
wir ihm bei der Darſtellung und Kritik 
der abſoluten Philoſophie von Fichte, 
Schelling und Hegel. Weit entfernt, 
das „überſchwängliche Ideal des Wiſſens“, 
nachdem die abſolute Philoſophie begehrt, zu 


durch den befruchtenden Regen der empi— 


während Herr 


welche eine Fortbild⸗ 
des Kantianismus als das wahre Weſen 
beugen. 


Nicht geringeres Verdienſt hat ſich Hr. 


an wiſſenſchaftlichem Material überreiches 


lichkeit der „Kritik der praktiſchen Vernunft“ 


Literatur und Kritik. 


loſophie mit ihrem verblüffenden Schwulſt, 
ihren ſophiſtiſchen Akrobatenkünſten und 
ihren myſtiſch-naturphiloſophiſchen Exceſſen 
bekennen. Wenn wir ſchon die übermäßige 
1 Fichte's und die Prophezei— 
ung, ſeine Philoſophie ſei die Philoſophie 
der Zukunft, mit Rückſicht auf die hohe phi— 
loſophiſche Begabung und manche hervor— 
ragende Einzelſtellung Fichte's hinnehmen 
und dieſen in mancher Hinſicht großartigen 
Leiſtungen zu Liebe zu einer Erhöhung 
Fichte's in den Augen der Nachgeborenen 
die Hand bieten wollten: ſo erſcheint es doch 
geradezu widerſinnig, vom Standpunkt der 
heutigen Wiſſenſchaft noch in das myſtiſche 
Chaos Schelling's, dieſes wankelmüthi— 
gen, Principien wechſelnden „Naturphiloſo— 
phen“ zu tauchen, oder gar vor dem „ab— 
ſoluten Geiſt“ Hegel's, dieſem Geßler— 
Hut eines pſeudo-philoſophiſchen Geſchlechtes 
und dem Inbegriff aller philoſophiſchen und 
politiſchen Afterweisheit, das Haupt zu 
Der „vulgäre Hegelianismus“ iſt 


eine nothwendige Folge dieſer nur durch 


unterſchätzen, können wir uns aber in unſern 


Schaden klug machenden Philoſophie. 
Allerdings hat Hr. Harms nicht er— 

mangelt, bedeutende Fehler des Schelling— 

ſchen und Hegel'ſchen Syſtems, wenn man 


von einem Syſtem im beſſern Sinne 
bei dieſen beiden ſprechen kann, hervor— 
zuheben, ja ſelbſt den von ihm ſo 


übermäßig hochgeſtellten, gleichſam zum 
philoſophiſchen Meſſias proclamirten Fichte 
eingehend und ſcharfſinnig zu kritiſiren, 
aber es ſcheint, als ob der hervorragende 
Kritiker Kant's allzu ſehr dem im Nebel— 


haine liegenden Ideal der abſoluten Philo— 


ſophie nachjagte und um dieſen Preis auch 
dieſe ſelbſt mit ihrer Superklugheit und 


Afterweisheit mit in den Kauf nehme. Man 


riſchen Erkenntniſſe geläuterten Atmoſphären | 
unmöglich zu Nachbetern der abſoluten Phi— | Hegelianismus“ nur eine „literarhiſtoriſche“ 


muß dagegen proteſtiren, daß der „vulgäre 


| 


„ 


Literatur und Kritik. 


Bedeutung habe. Der große Hegel ſelbſt 
mit ſeinem „noch nie dageweſenen“ philo— 
ſophiſchen Syſtem, mit ſeinem „abſoluten 
Geiſt“ und ſeiner philoſophiſchen Staats— 
klugheit hat das geringe Maß von Ver— 
nunft, das durch ſeine Philoſophie und ihre 
verderblichen Conſequenzen zahlreichen Uni— 
verſitäts- und Staats -Philoſophen ver— 
blieben iſt, auf dem Gewiſſen. Hegel 
und Schelling verdanken wir in direkte— 
ſter Linie die meiſten ungenießbaren Ge— 
richte aus der Küche der nachkantiſchen 
Philoſophie. Der alte Kant hat die Hand 
nicht im Spiele gehabt, es wäre denn durch 
die Vermittelung ſeines „Fortbildners“ 
Fichte, der, abgeſehen von ſeinen bedeuten— 
den Leiſtungen auf dem Gebiete der Ethik, 
angehenden Philoſophen als abſchreckendes 
Beiſpiel eines ſchwülſtigen Philoſophirens 


in den Maulwurfsgängen eines bis zum 


Ueberdruß geplagten Wortes (des zu Tode 


gehetzten „Ich“) angeführt werden darf. 
Gerne geſtehe ich Herrn Harms zu, daß 


die abſolute Philoſophie eine Fortbildung, 


ja eine nothwendige Folge der Kantiſchen | 
Philoſophie war. Aber eben fo ſehr halte 


ich mit vielen philoſophirenden Gelehrten 


von erſtem Range daran feſt, daß wir 
durch dieſe eigentlichen Sophiſten der deut- 
ſchen Philoſophie, im helleniſchen Sinne des 


Wortes, nichts haltbares, kein „frucht— 
bares Bathos“ für die Philoſophie ge— 
wonnen haben. Correktiv und regulativ 
mögen ſie, Fichte ganz beſonders, auch 
ſpäterhin noch wirken. 


vernunft nicht mehr zugeſtehen. Der Ruf 
zur Rückkehr auf Kant wird immer lauter, 
auf der andern Seite geht der Philoſoph 
ins Heerlager der empiriſchen Forſcher. 
Vortrefflich iſt im Großen und Ganzen 


Aber conſtitutiven 
Einfluß dürfen wir insbeſondere dem Pan- 
logiſten Hegel im Intereſſe der Menſchen-⸗ 


377 


die Darſtellung und Kritik der Philoſophie 
von Schleiermacher, Herbart und 
Schopenhauer. Während den beiden 
erſten vielleicht zu viel nachgeſehen wird, 
geht Hr. Harms mit letzterem wohl zu 
ſtrenge ins Gericht. Nur den „Unbewuß— 
ten“ hat Hr. Harms unſeres Erachtens 
zu glimpflich und mit einem philoſophiſchen 
Ernſt behandelt, der ihm gar nicht zukommt. 
Fr. v. Baeren bach. 


Der Farbenſinn. Mit beſonderer Be— 
rückſichtigung der Farbenkenntniß des 
Homer. Von W. E. Gladſtone, 
ehemaligem Premierminiſter von Groß— 


britannien und Lordrektor der Univerſität 


Glasgow. Autoriſirte deutſche Ueber— 
ſetzung. Breslau 1878. J. U. Kern 


(Max Müller). 

Gladſtone hat 1858 in ſeinen „Homer— 
iſchen Studien“ zuerſt die Behauptung auf- 
geſtellt, daß die alten Griechen nicht im 
Stande geweſen ſeien, die Farben zu unter— 
ſcheiden, und hat ſich durch die beiden in 
dieſer Zeitſchrift“) energiſch zurückgewieſenen 
Schriften von Magnus veranlaßt geſehen, 
dieſes philologiſche Mißverſtändniß noch 
weiter zu vertiefen, wobei er ſämmtliche 
Farbenbezeichnungen des Homer der Reihe 
nach unterſucht und ihren Sinn erläutert 
hat. Wie ſich früher Magnus auf 
Gladſtone geſtützt hat, ſo ſtützt ſich nun 
Gladſtone auf Magnus, wodurch die 
aufzuhellende Sache ſtatt klarer immer dunk— 
ler wird. Magnus hat, wie wir früher 
zeigten, das Mißverſtändniß begangen, die 
Farben nach der ſpektralen Reihenfolge zu 
ordnen und das Roth für die hellſte Farbe 
auszugeben, violett für die dunkelſte, während 


in Wahrheit Gelb die hellſte Farbe des 


) Bd. I. S. 264 u. flgde.; S. 428 u. flgde. 


Kosmos, Band III. Heft 4. 


Spektrum iſt und im praktiſchen Leben ſehr 
lichtreiche blaue und violette Farben 
neben ſehr dunklen rothen Tönen in Be— 
tracht kommen. Gladſtone, der von der 
phyſikaliſchen Seite der Frage nicht die 
leiſeſte Ahnung beſitzt, und noch immer in 
Sachen Goethe contra Newton in 
Zweifel iſt, wer Recht habe, findet nun ſehr 
ſonderbar, daß ſo viele Worte, die Homer 
zur Bezeichnung des Rothen (als der nach 
Magnus lichtreichſten Farbe) gebraucht, 
als phoinix, daphoinos, porphyreos, 
oinops u. |. w, eine im zweifachen Sinne 
jo „dunkle“ Bedeutung haben. Während 
Magnus dem Homer wenigſtens die klare 
Empfindung des Rothen zuſchreibt, iſt 
Gladſtone nun auch darüber in Zweifel 
gerathen, alles ſoll ſich dem Sänger der 
Ilias in unentſchiedene düſtere Farben ge— 
kleidet haben, ſelbſt „der Regenbogen war 
für Homer's Auge dunkel“. Dieſen ſonder— 
baren Schluß zieht Gladſtone aus Ilias 
XI. 23, wo Homer die drei als Verzierung 
auf dem Bruſtſchild des Agamemnon an— 
gebrachten Schlangen mit dem Regenbogen 
vergleicht und fie zugleich kyaneoi nennt. 
Nach der deutſchen Ausgabe der Glad— 
ſto ne 'ſchen Schrift wäre dieſes Wort am 
beſten mit „bronzefarbig“ wiederzugeben, 
was wohl aber nur ein Mißgriff des Ueber— 
ſetzers iſt, denn bronzefarbig wäre ja ein 
gelber Farbenton; Gladſtone hat an 
allen dieſen Stellen wohl brass-colour oder 
chalybeate in dem Sinne von erzfarbig 


378 Literatur und Kritik. 


oder ſtählern, ſtahlblau gebraucht? Herrn 


Gladſtone wird es aber nicht unbekannt 


ſein, daß die Alten es verſtanden, auch dem 
Kupfer und ſeinen Legirungen durch Be⸗ 
handlung mit Schwefel eine ſchöne blaue 
braunroth und kaſtanienbraun bei Homer 


Farbe mitzutheilen, und daß ſie dieſes zu 
eingelaſſenen und aufgenieteten Zierrathen be— 
nutzte Blauerz ſchlechthin Kyanos d. h. das 


blaue Metall nannten. Schliemann hat 
derartige blaue Metallzierrathen gefunden, 
und Landerer in Athen hat bei der Ana— 
lyſe Schwefelkupfer nachgewieſen. Es handelte 
ſich alſo in jenen mit goldenen und weißen 
Streifen abwechſelnden Schlangen auf dem 
Bruſtſchilde des Agamemnon um lebhaft 
blaue Streifen, die ſich um ſo eher dem 
Regenbogen vergleichen ließen, als die gelben 
vielleicht dicht daneben verliefen. Auch den 
übrigen Farbentifteleien Gladſtone's 
können wir keineswegs beiſtimmen. Was 
ſollen z. B. dieſe Quälereien um die Be— 
deutung von chloros, welches Wort Homer 
zehnmal zur Bezeichnung der blaſſen Furcht 
gebraucht. Ein erbleichender Menſch ge— 
winnt namentlich bei dem dunklen Teint der 
Südländer gar leicht einen grünlichen Ton, 
und ich wollte, Herr Gladſtone hätte das 
Gretchen oder die ſterbende Julia von Ga— 
briel Max geſehen, um zu wiſſen, wie weit 
ein Maler in der grünlichen Nüancirung 
eines bleichen Antlitzes gehen darf, ohne 
unnatürlich zu werden. Ganz richtig be— 
merkt Gladſtone, daß das Wort an 
einigen Stellen bei Homer die Bedeutung 
von „friſch“ habe, wie wir von grünem 
Holz und grünen Heringen reden. Chloreis, 
wo es Homer als Eigenſchaftswort der 
Nachtigall gebraucht, wird ganz prächtig mit 
grünliebend überſetzt, weil ſie faſt immer 
im grünen Unterholz lebt, gleich darauf 
kommt aber eine tiefſinnige Betrachtung, ob 
man nicht doch das Wort beſſer mit roſt— 
roth überſetzen müſſe, weil dies die vor— 
herrſchende Farbe der Nachtigall ſei! Durch 
ähnliche Kunſtſtücke wird denn auch heraus— 
gebracht, daß xanthos nicht, wie wir bis— 
her glaubten, hellgelb oder blond, ſondern 


bedeute. Zum Glück waren ſolche An— 
wendungen wie „blaues Blut“, „grüner 


Junge“, „rother Republikaner“ in den 
altgriechiſchen Zeiten noch nicht ſo gewöhn— 
lich wie z. B. in den byzantiniſchen, wo 
die politiſchen Parteien bereits lebhaft „ge— 
färbt“ erſchienen, ich ſage zum Glück, denn 
was hätte ſich nicht aus dem „blauen 
Blut“ und ähnlichen Ausdrücken alles be— 
weiſen laſſen! Die beſte Kritik, die man 
über die Gladſtone'ſche Schrift geben 
kann, hat Herr W. Robertſon Smith in 
einem Briefe an die engliſche Zeitſchrift 
Nature (Dezember 1877. Nr. 423) ge⸗ 
geben, indem er einfach eine Stelle des 
Athenäus (XIII. c. 81) mittheilt, nach 
welcher ein alter griechiſcher Schulmeiſter 
ſich beim Sophocles beklagt haben ſoll, 
daß die Poeten die Farbennamen ſo wenig 
ihrem Sinne und der Natur entſprechend 
verwendeten. Sophocles beweiſt ihm, daß 
die Dichter ihr gutes Recht gebrauchen, 
wenn ſie purpurne Wangen und goldenes 
Haar beſingen, obwohl beide im ſtrengen 
Wortſinne nicht eben ſchön ſein würden, 
und ſchließlich wird der pedantiſche Schul— 
meiſter von allen Zuhörern ausgelacht. Es 
ſei ferne von uns hier irgend eine Paral— 
lele ziehen zu wollen, aber jedenfalls müſſen 
wir den Verſuch als im Keime verfehlt 
betrachten, ſubtile phyſikaliſche und entwick— 
lungsgeſchichtliche Fragen gegen alle Wahr— 
ſcheinlichkeit aus dem freien und ſchwankenden 
Wortgebrauche der Dichter herleiten zu wollen. 
Da der Referent eine abweichende und an— 
ſcheinend vollkommen befriedigende Erklärung 
der auffallenden Unſicherheit alter Schrift— 
ſteller im Gebrauche der Farbwörter ge— 
gegeben hat, ſo müßte er dem Herrn Ueber— 
ſetzer allerdings einen Vorwurf daraus 


machen, wenn er Herrn Gladſtone, als 
er mit ihm in Verbindung trat, nicht auf 
dieſe Einwürfe ausdrücklich aufmerkſam ge— 
macht hätte. 


Es erſcheint dem Referenten 


Literatur und Kritik. 319 " 


durchaus wahrſcheinlich, daß Herr Glad— 
ſtone ſich ſeiner Auffaſſung angeſchloſſen 
haben würde, denn er kommt am Schluſſe 
ſeiner Arbeit zu faſt der gleichen Anſicht, 
nämlich, daß zu Homer's Zeiten der Ge— 
brauch beſonderer Farbworte mit vereinzelten 
Ausnahmen noch gar nicht fixirt gewe— 
ſen iſt. Gladſtone vergleicht nämlich 
die Ilias und Odyſſee nach ihrem relativen 
Reichthum an Licht und Farbenbezeichnungen, 
und findet, daß die gleiche Verszahl der 
Ilias im Durchſchnitte drei Farbenbezeich— 
nungen gegen zwei der Odyſſee enthalte. 
Er entnimmt daraus Wahrſcheinlichkeits— 
beweiſe für die Hypotheſe, „nach der die 
Ilias als das Erſtlingswerk einer feurigen 
und an Einbildungskraft reichen dichteriſchen 
Phantaſie, die Odyſſee dagegen als das 
Produkt eines gereiften und darum weniger 
empfänglichen Geiſtes anzuſehen ſei.“ Glad— 
ſtone benützt die Licht- und Farbworte 
ferner, um die nur durch genaueſte Einzel— 
betrachtung zu löſende Frage, ob die Ilias 
und Odyſſee von einem oder mehreren 
Verfaſſern herrühren, ihrer Entſcheidung 
näher zu bringen, und ſagt hierüber unter 
anderen: „Noch auffallender iſt die Ueber— 
einſtimmung des Materials oder des geiſtigen 
Stoffes, über den der Dichter bei dem 
Gebrauche der wirklichen Farben-Ausdrücke 
verfügte. Die 58 Farbenbezeichnungen der 
Ilias ſind aus der gleichen Quelle geſchöpft 
wie die 31 der Odyſſee. . . Dieſe Gleich— 
artigkeit in der Bezeichnung von Licht und 
Farbe berechtigt zu der Annahme, daß beide 
Dichtungen denſelben Verfaſſer haben. Doch 
nur aus dem Grunde, weil, was ich in der 
vorliegenden geſammten Abhandlung darzu— 
thun beſtrebt bin, Homer die Farben nicht 
als ſolche auffaßte, ſondern ſich zur Be— 
zeichnung derſelben der Bilder bediente; 


ſeine Farbenausdrücke ſind Gleichniſſe, welche 


—ůů 


en, 


380 


er ſeiner Umgebung entlehnt; er erklärt die 
Farben mehr durch Beiſpiele, als er ſie 
beſchreibt. Und deshalb iſt das Wort 
erythros, welches den abſtrakten Begriff 
einer Farbe enthält und nicht von einem 
der Sinnenwelt angehörigen Objekte ent— 
nommen iſt (2 Ref.), ſelten im Homer zu 
finden. Das Gleiche gilt von xanthos; 
am häufigſten pflegt eben Homer von Roſen-, 
Wein-, Feuer-„Blauerz- (nicht Bronze-) Farbe 
u. ſ. w. zu reden. Wie wäre es nun wohl 
denkbar, daß in einem Zeitalter, wo Farben 
lediglich auf dieſem Wege des Gleichniſſes 
geſchildert wurden, zwei verſchiedene Dichter 
ſich der nämlichen Bilder in ſo auffallender 
Uebereinſtimmung bedient haben ſollten? 
Zu jener Zeit gab es eben noch keine feſt— 
ſtehende Farben-Terminologie und darum 
war es die Aufgabe eines wahren Dichters 
ſich eine ſolche zu ſchaffen.“ 

Die letztere Bemerkung, die mit unſe— 
rer Anſicht völlig übereinſtimmt, iſt un— 
zweifelhaft richtig, aber die Schlüſſe, welche 
Gladſtone daraus zieht, — Unvollkom— 
menheit des Farbenſinns der alten Griechen, 
— ſind durchaus hinfällig und auch den 
Schluß, daß die Uebereinſtimmung der 
Farbengleichniſſe die Einheit der homeriſchen 
Lieder beweiſe, halten wir für ſehr gewagt. 
Die Gleichnißworte weinroth, roſenfarben, 
feuerfarben find noch heute als Nüance— 
Bezeichnungen in Gebrauch, und der Unter— 
ſchied iſt nur, daß ſie damals mit geringe— 
rer Beſtimmtheit für roth, rothgelb und 
rothbraun im Allgemeinen gebraucht wurden. 
Ueberhaupt verharre ich dabei, daß ſämmt— 
liche Farbennamen urſprünglich von den 
Bezeichnungen beſtimmter Dinge oder Thä— 
tigkeiten hergeleitet worden ſind, ſo auch 
das von Gladſtone für ein abſtraktes 
Farbwort ausgegebene erythros. Die 
Wurzel ryth, rut (rutilus) roth, verräth 


Literatur und Kritik. 


ſchon durch ihr Vorkommen in vielen indo— 
germaniſchen Sprachen ihren Urſprung aus 
dem Sanſcrit und da finden wir in der 
That, daß rudbira Blut bedeutet. Eben— 
jo ſtammt das Wort kyanos, wie in dieſen 
Unterſuchungen zum Ueberdruß behauptet 
worden iſt, nicht von einem Abſtraktum, 
welches die Dunkelheit oder Schwärze be— 
deutet, ſondern von dem Sanſcritworte 
cjanas, Rauch, und das Wort blau ſtammt 
nach der Ueberzeugung der beſten neuern 
Sprachforſcher (Graff, Lexer, Gebr. 
Grimm, Weigand u. Al.) nicht, wie 
Geiger meinte, von dem nordiſchen bla 
ſchwarz, ſondern von dem Zeitwort bleuen, 
althochdeutſch bliuwan (pliuwan), blivan, 
mittelhochdeutſch bliuwen, bliwen, welche 
wie das griechiſche Ace und das latei— 
niſche fligere ſchlagen, prügeln be— 
deuten. Das Farbwort wäre demnach von 
dem Ausſehen gebleueter Perſonen her— 
genommen, ein allerdings ſehr ſonderbarer 
Urſprung. Aber irgend woher mußten die 
Farbworte genommen werden und die ur— 
ſprüngliche Unſicherheit des Gebrauches iſt 
der beſte Beweis ihrer allmäligen Einbür— 
gerung. Auch die Luft hat, weit entfernt, 
in ihrer Bläue nicht erkannt worden zu 
ſein, wie man vorgiebt, vielmehr einer An— 
zahl von Namen für blau Urſprung ge— 
geben, fo den Worten aerinos (himmelblau) 
aerizusa, Türkis, aeroides, dem Namen 
einer Art Beryll und wahrſcheinlich auch 
aerugo, der oft himmelblaue Grünſpan, 
von deſſen grüner Varietät wieder ſpan— 
grün abſtammt. Statt alſo aus dem 
Umſtande, daß die Alten ihre Farbworte 
auf ſo viele ſehr verſchieden näancirte Gegen— 
ſtände ausdehnten, zu ſchließen, die Farben 
ſeien von ihnen nur unklar empfunden 
worden, müſſen wir vielmehr die Feinheit 
des Sinnes bewundern, die z. B. in der 


Literatur und Kritik. 


blaſſen Geſichtsfarbe noch den grünlichen Ein Anhang über Fang, Zucht und Prä— 
Ton, in der braunen Farbe der Pferde 


und Rinder das Rothe und in der Rauch- 
erkannte. 


farbe die blaue Beimiſchung 


Nichts iſt natürlicher, als daß dieſe Rauch- 
farbe mit dem Blau der Ferne und mit 


der Dunkelheit zuſammen geworfen wurde, 


aber nicht die Dunkelheit, ſondern der Bes | 


griff des Bläulichen war das Urſprüngliche 
in dem Worte kyanos und ſo tritt die 
ganze Bodenloſigkeit jener Hypotheſen mit 
jeder weiteren Verfolgung deutlicher ins Licht. 
K. 
Dr. Friedrich K. Knauer. Natur— 
geſchichte der Lurche (Amphibiologie). 
Eine umfaſſende Darlegung unſrer 
Kenntniſſe von dem anatomiſchen Bau, 
der Entwickelung und ſyſtematiſchen Ein— 
theilung der Amphibien, ſowie eine ein— 
gehende Schilderung des Lebens dieſer 
Thiere. Mit 120 Alluſtrationen, 4 
Holzſchnitten und 2 Tabellen. Wien, 
1878, A. Pichler's Witwe und Sohn. 
Die erſte und größere Hälfte dieſes 
Buches enthält eine fleißige Zuſammen— 
ſtellung der vergleichenden Anatomie und 
Entwickelungsgeſchichte der Lurche nach Ge— 
genbauer und Götte, dann eine ſyſte— 
matiſche Ueberſicht, die aber bei den aus— 
ländiſchen Gattungen und Arten nur auf 
eine namentliche Aufzählung der Arten und 
ganz knappe Charakteriſtik der Gattungen 
ausgedehnt wird, einen Abriß der Paläon— 
tologie und der Geographie (nach Wallace) 
und die Bibliographie der Lurche. In dem 
zweiten allgemein beſchreibenden und ſchil— 
dernden Theil, hat der Verfaſſer nach ſeinen 
eigenen Beobachtungen das Leben ungefähr 
derſelben europäiſchen und ausländiſchen 
Gattungen geſchildert, die auch in Brehm's 
Thierleben Berückſichtigung gefunden haben. 


parirung der Lurche macht den Beſchluß. 
Die Abbildungen ſind überwiegenden Theils 
den erwähnten Autoren entlehnt. Dem 
Buche fehlt unſerem Gefühle nach die Ein— 
heitlichkeit, denn während der erſte Theil 


nur Leſern verſtändlich ſein wird, die ver— 


gleichende Anatomie und Entwickelungsge— 
ſchichte ſtudirt haben, und die ſyſtematiſche 
Ueberſicht nicht einmal aus jeder Familie 
einen Vertreter genauer beſchreibt, wendet 
ſich der zweite in ziemlicher Breite an den 
Laien, ja dem Tone nach ſogar an mehr 
jugendliche Leſer, vielleicht in dem Sinne, 
daß der Lehrer dieſes Material unmittelbar 
verwerthen möge. Aus Rückſicht auf die 
Jugend iſt denn auch wohl jedes nähere 
Eingehen auf phylogenetiſche Betrachtungen, 
zu denen die Lurche faſt unwiderſtehlich 
auffordern, ängſtlich vermieden worden. 
Das Buch dürfte ſich beſonders für Lehrer 
an Mittelſchulen eignen und kann den— 
ſelben als eine im Uebrigen verdienſtliche 
Arbeit empfohlen werden. 


Deutſches Archiv für Geſchichte der 
Medicin und mediciniſche Geo— 
graphie. Unter Mitwirkung zahlreicher 
Forſcher und Gelehrten herausgegeben 
von Heinrich Rohlfs in Göttingen 
und Gerhard Rohlfs in Weimar. 
Leipzig, C. L. Hirſchfeld 1878. 

Mit warmer Sympathie begrüßen wir 
das Erſcheinen dieſer Zeitſchrift, welche das 
Prinzip der entwickelungsgeſchichtlichen Stu— 
dien auch auf die Wiſſenſchaft und Lehre, 
der Medicin und mediciniſchen Geographie, 
überträgt. Sehr wahr ſagen die Heraus— 
geber in den einleitenden Worten, daß ſich 
dieſe Richtung nicht nur in keinem Gegen— 
ſatze zu der rein empiriſchen, naturwiſſen⸗ 


382 Literatur und Kritik. 


ſchaftlichen Medicin befinde, ſondern als 
deren nothwendige Ergänzung betrachtet 
werden müſſe, ſofern erſt die hiſtoriſche Be— 
trachtung der Syſteme und Richtungen zu 
dem richtigen Standpunkte für das tiefere 
Verſtändniß und für die Kritik führt. Das 
erſte Heft bringt außer einigen einleitenden 
Artikeln ein Lebensbild Harvey's von 
Baas, Militärmediciniſches aus dem 
Morgenlande von Fröhlich, eine Studie 
über die hiſtoriſche Entwickelung des augen— 
ärztlichen Standes von Magnus und 
einen Artikel über das Wechſelverhältniß 
der National-Oekonomie zur Hygiene von 
Heinrich Rohlfs. Dazu zahlreiche 
Kritiken über einſchlägige neue Bücher und 
Miscellen. Das ſtattliche Namensverzeich— 
niß der Gelehrten, welche ihre Mitarbeit 
zugeſagt haben, bürgt neben denjenigen der 
Herausgeber für den reichen und gediegenen 
Inhalt der Zeitſchrift, welcher es hoffentlich 
nicht an der verdienten Theilnahme in 
mediciniſchen und culturhiſtoriſchen Kreiſen 
fehlen wird. 


Abnahme des Vienenſleißes in 
Auſtralien. 
Engliſche Zeitungen berichteten, ohne 
übrigens ihre Autoritäten namhaft zu 


machen, von eigenthümlichen Gewohnheiten, 
welche aus Europa in Auſtralien einge— 
führte Honigbienen daſelbſt angenommen 
haben ſollen, Gewohnheiten, die, ſo unan— 
genehm ſie den Bienenzüchtern ſein müßten, 
ein deſto größeres Intereſſe für den Natur- 
forſcher darbieten würden. Die europäiſchen 
Bienen ſollen nämlich ihren, wie man ſonſt 
annahm, angeborenen Fleiß und ihre Sorg— 
ſamkeit für den Winter dort nur in dem 
erſten und höchſtens noch in dem zweiten 
Jahre nach ihrer Einführung bethätigen, 
ſpäter aber ſollen ſie in den Gegenden, wo 
ſie es nicht nöthig haben, aufhören, Honig 
einzuſammeln und gänzlich anfangen „von 
der Hand in den Mund“ zu leben, wie 
andere Inſekten auch. Da es nun doch 
ſonſt in tropiſchen Gegenden genug Vorrath 
einſammelnde Bienen und Wespen giebt, 
ſo iſt nicht recht erſichtlich, warum ſie ge— 
rade in Auſtralien ihr Capua finden ſoll— 
ten; es müßte denn ſein, daß hier in ge— 
wiſſen Gegenden die Vegetationspauſen noch 
kleiner wären, als anderswo. Wir theilen 
die an ſich nicht beſonders wahrſcheinliche 
Angabe nur mit, um einen oder den an— 
deren unſerer auſtraliſchen Abonnenten zur 
Einziehung genauerer Nachrichten zu ver— 
anlaſſen. 


— 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


e 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


wir haben feine Bürgſchaft für die Vollend— 
ung des Anpaſſungsproceſſes, dem er unter— 
liegt. Schon aus der allmäligen, von 
ſehr einfachen Organen ausgehenden Ent— 
wickelung der Sinne folgt, daß auch der 
Verſtand, als Sammelpunkt der Eindrücke, 
erſt in allmäliger Entwickelung ſeine der— 
zeitige Beſchaffenheit erwerben konnte; und 
wie die Sinne als Orientirungsorgane ſich 
mehr und mehr der Außenwelt anpaſſen, 


ſo auch der Verſtand, der Ausleger der 


Sinneseindrücke, in der Weiſe, daß wir 
die Grundformen des Seins als Erkennt— 
nißformen erwerben. 

Kant, indem er in ſeiner tiefſinnigen 
Frage: „Wie find ſynthetiſche Urtheile a 
priori möglich?“ das Problem dieſer 
Parallelität des Naturverlaufes und unſerer 
Ideen, dieſer gleichſam präſtabilirten Har— 
monie zwiſchen Denken und Sein unter— 
ſuchte, beantwortete die Frage durch den 
transcendentalen Idealismus. Solche Ur— 


theile ſind nur möglich, wenn Zeit, Raum 


und Cauſalität ſubjektive Erkenntnißformen 
ſind, welche das Ding an ſich für unſer 


Erkennen ähnlich umwandeln, wie die Sinne 


die objektiven Vorgänge verwandeln. 
löſt ſich die Welt in Schein auf. 
Die Frage hat aber noch eine andere 
Seite. Wir müſſen nicht nur fragen, wie 
ſynthetiſche Funktionen des Intellekts a 
priori möglich ſeien ihrem logiſchen 


So 


Inhalte nach, ſondern auch, wie folde | 


Intellekte jelbft, als Thatſachen des 
biologiſchen Proceſſes, möglich ſeien? Dieſe 
letzte Frage aber, welche Kant nicht weiter 
in Betracht zog, führt nothwendig zum 
transcendentalen Realismus. Wie jedes 
Organ des menſchlichen Leibes im Ver— 
laufe des biologiſchen Proceſſes durch all— 
mälige Umwandlung entſtanden iſt, ſo kann 
ſich auch der menſchliche Intellekt nur all— 


Kosmos, Band II. Heft 5. 


391 


mälig im Sinne der Anpaſſung entwickelt 
haben, und ſeine Funktionen müſſen gleich 
den Funktionen aller Organe als erworbene 
und durch Vererbung befeſtigte Anlagen 


angeſehen werden. Da nun eine Anpaſſung 
nur geſchehen kann auf Grund einer ge— 


iſt. 


gebenen Realität, an welche ſie ſtattfindet, 
ſo ſtehen wir vor dem Realismus, aber 
vor dem transcendentalen Realismus, weil 
wir kein Recht haben, dieſen Anpaſſungs— 
proceß als vollendet anzuſehen, und — wie 
es der Materialiſt thut — die vorgeſtellte 
Welt für identiſch mit der Welt an ſich 
zu halten. 

Wie die Entwickelungsfähigkeit der 
Sinne muß auch die Entwickelungsfähigkeit 
des Intellekts bezüglich feiner aprioriſchen 
Erkenntnißformen zugeſtanden werden. Hin— 
ſichtlich der Cauſalität leuchtet dies von 
ſelbſt ein: jede neue Entdeckung vermehrt 
das Wiſſen, d. h. die Uebereinſtimmung 
zwiſchen der Verknüpfung realer Dinge und 
idealer Vorſtellungen. Aber auch qualitativ 
hat ſich die cauſale Anſchauung des Men⸗ 
ſchengeſchlechtes verändert, indem das Er— 
kennen von der Verknüpfung der Dinge 
durch ſpiritualiſtiſche Agentien zur natur— 
wiſſenſchaftlichen Cauſalität fortgeſchritten 
Auch hinſichtlich der Zeit unterliegt 
die Sache keiner großen Schwierigkeit; die 
Zeitanſchauung entſteht dadurch, daß unſere 
Empfindungen und Wahrnehmungen ſich in 
unſerem Bewußtſein folgen. Dieſe ſubjek— 
tive Veränderung projiciren wir nach außen 
als continuirliche Bewegung, die ſich von 
der Beharrlichkeit unſeres identiſchen Selbſt— 


bewußtſeins als Zeitform abhebt, was nicht 


der Fall ſein könnte, wenn unſer Selbſtbe— 
wußtſein nach jeder Empfindung ausſetzen 
oder etwa mit den Empfindungen gleich— 
mäßig ſich verändern würde, oder endlich 
wenn die Empfindungen in immer gleicher 


50 


392 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


Beſchaffenheit ununterbrochen aufeinander 
folgten. Durch Wahrnehmung alſo kommen 
wir zur Zeitanſchauung. Eine leere Zeit 
hat kein Tempo. Das Tempo der Zeit 
wird beſtimmt durch die Raſchheit, in 
welcher die Reaktion der Sinne auf Ein— 
wirkungen eintritt, weil dieſe Raſchheit die 
Summe der möglichen Eindrücke beſtimmt. 
Wie in unſerem Bewußtſein ſich die Ver— 
änderungen folgen, ſo meſſen wir auch das 
Tempo der Zeit ab, raſch oder langſam; 
hätten wir eine kürzere oder längere Zeit 
nöthig, uns eines Eindrucks bewußt zu 
werden, alſo ein anderes ſubjektives Grund— 
maß der Zeit, ſo würden wir auch eine 
Zeitanſchauung von verändertem Tempo 
conſtruiren. Weſen dieſer Art würden 
Vorgänge wahrnehmen, die uns entgehen, 
weil ſie zu raſch aufeinanderfolgen oder 
nicht genug andauern, um von unſerem 
Bewußtſein erfaßt zu werden; ſie würden 
vielleicht eine Blume unmittelbar wachſen 
ſehen, die uns beharrlich erſcheint, oder 
wo umgekehrt wir beſtändige Veränderung ge— 
wahr werden, würden ſie Beharrlichkeit finden. 

Die Veränderungen in unſerem Be— 
wußtſein folgen ſich aber nicht mit der 
Raſchheit der äußeren Veränderungen, von 
welchen uns viele entgehen; es iſt alſo hin— 
ſichtlich der Zeitanſchauung der menschliche 
Intellekt der Außenwelt nicht vollkommen 
angepaßt, und nur für die praktiſchen Zwecke 
unſerer derzeitigen Organiſation genügt der 
vorhandene Grad der Anpaſſung. 

Da wir nun wiſſen, daß ungleich mehr 
Veränderungen der Dinge eintreten, als 
wir wahrzunehmen vermögen, daß jede an— 
ſcheinende Beharrlichkeit nur auf einer Täuſch— 
ung der Sinne beruht, und das Weſen 
des Weltproceſſes eine continuirliche Ver— 
änderung iſt, andererſeits aber die Zeitan— 
ſchauung als entwickelungsfähig bezeichnet 


werden muß im Sinne der Anpaſſung, ſo 
wäre dieſe Anpaſſung erſt vollendet, wenn 
allen äußeren Veränderungen ſolche in un— 
ſerem Bewußtſein correſpondiren würden. 
Die Entwickelung der Zeitanſchauung muß 
alſo die allmälige Verkürzung der zeitlichen 
Maßeinheit nach ſich ziehen, die wir an die 
Natur heranbringen; das ſubjektive Leben 
im Kosmos muß ein immer raſcheres 
Tempo annehmen. Je mehr Veränder— 
ungen uns bewußt würden, deſto größer 
wäre auch die Uebereinſtimmung zwiſchen 
Denken und Sein; je unaufhaltſamer und 
eiliger uns der ewige Fluß der Dinge er— 
ſcheinen würde, deſto näher ſtünden wir 
auch der wahren Anſchauung der Dinge. 

Was endlich die Raumanſchauung be— 
trifft, ſo iſt auch dieſe ein ſubjektiver Akt. 
Wir unterſcheiden in unſeren Wahrnehmun— 
gen die Mehrheit der einzelnen Momente 
und verbinden ſie zu einer Ausdehnungs— 
größe. Wo in einer gleichen Wahrnehm— 
ung dieſe Mehrheit fehlt, wie bei den in 
ſich einfachen und keine Unterſcheidung ge— 
ſtattenden Empfindungen des Geſchmacks 
und Geruchs, fehlt auch das Vermögen 
der Localiſation.“) Wenn demnach irgend— 
wo Weſen auf ſolche in ſich einfache Em— 
pfindungen reducirt wären, würde ihnen 
auch die Raumanſchauung fehlen; freilich 
dürfen wir für ſolche Weſen die Entwickel— 
ungsfähigkeit dieſer Sinne beanſpruchen, 
die ja auch unter den irdiſchen Organismen 
verſchiedenartig ausgebildet ſind, und deren 
Weiterbildung bei uns wohl nur durch das Hin— 
zukommen höherer Sinne überflüſſig wurde. 

Subjektiv ſind wir aber auch bezüglich 
des Grundmaßes, deſſen wir zur Con— 
ſtruktion des Raumes bedürfen; unſere Be— 
griffe von Groß und Klein wären andere, 
y 5 Huber: die Forſchung nach der 


Materie. S. 37. 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


wenn wir ſelbſt von anderer Ausdehnung 
wären. Die Dimenſionen des Raumes, 
Höhe, Breite und Tiefe, ſind ebenfalls ſub— 
jektiv, und wenn wir ein bloßes kugelför— 
miges Auge ohne Leib wären, das im 
Raume ſchwebte, ſo würden, wie Liebmann 
bemerkte,?) die drei Dimenſionen des 
Schauens für uns zuſammenfallen, wir 
hätten nur mehr Eine Dimenſion. Ein 
leerer Raum endlich würde gar keine Aus— 
dehnung haben. 

Die Entwickelungsfähigkeit des menſch— 
lichen Intellekts bezüglich der Rauman— 
ſchauung würde eine Vermehrung der Di— 
menſionen im Verlaufe des biologiſchen 
Proceſſes beſagen, und ſo erſcheint unter dem 
Geſichtspunkte der Entwickelungslehre (? R.) 
auch die Annahme einer vierten Dimenſion 
des Raumes nicht mehr ſo paradox, als 
die rein mathematiſchen und philoſophiſchen 
Demonſtrationen ſie erſcheinen laſſen. Daß 
in der That im biologiſchen Proceſſe die 
Anſchauung der Tiefendimenſion erſt ſpäter 
entſtanden iſt, zeigt ſich an der relativen 
Unvollkommenheit dieſer Anſchauung gegen- 
über den beiden Flächendimenſionen, was 
auf einen kürzeren Vererbungsproceß (?) dieſer 
Anlage ſchließen läßt. Irrthümer in Be— 
zug auf das ſtereometriſche Schauen kommen 
nicht nur bei Kindern vor, wenn ſie etwa 


nach dem Monde oder den Sternen greifen, 
ſondern auch bei operirten Blindgeborenen, 


— ein Beweis dafür, daß die Erfahrungen 


innerhalb der individuellen Lebensdauer für 


die Entwickelung der tiefdimenſionalen An- 


ſchauung noch nicht entbehrlich geworden 
ſind, daß wir alſo dieſe Anſchauung nicht 
fertig mit auf die Welt bringen. Auch 
bei Erwachſenen iſt der Sinn für Per— 


phie II. 214. 


| ) Caspari, Urgeſchichte II. S. 163. 


| Anhaltspunkt gegeben hätte, die anſcheinende 
| unterſchätzten Tiefe abzuleiten; denn gerade 


tiſche Gebilde hielt, mußte man dazu ge— 


393 


ſogar innerhalb der hierin bevorzugten 
Künſtlerwelt, wie ſich leicht in Gemälde— 
gallerien erkennen läßt. Bewohner der 
Ebene, wenn ſie ins Gebirge kommen, 
zeigen ſich in dieſen neuen Verhältniſſen 
oft als ſehr ungeſchickte Schätzer der Ent— 
fernungen, die ſie faſt regelmäßig zu gering 
anſchlagen; ja es kann wohl geſchehen, daß 
ſie ſchmale Felſennadeln in großer Höhe 
für menſchliche Geſtalten anſehen, da doch 
ſolche, ſtünden ſie wirklich dort, kaum zu 
unterſcheiden wären. 

Als das Auge des prähiſtoriſchen Men— 
ſchen ſich vom Erdboden erhob, und die 
leuchtenden Erſcheinungen am Himmel nach 
Analogie der Opferfeuer ſeiner Prieſter— 
Zauberer beurtheilte, ſo ſprach ſchon aus 
ſolchem Mangel an makrokosmiſcher Er— 
habenheit die mangelhafte Entwickelung der 
Tiefendimenſion. Es finden ſich aber noch 
heute Stämme in Braſilien, bei welchen dieſe 
Anſchauung noch ſo wenig entwickelt iſt, 
daß ſie den Himmel lediglich für eine höher 
gelegene Gegend der Erde halten, die zu— 
gleich das Dach derſelben bildet; durch die 
Löcher dieſes Daches, das ſie Mumeſeke 
nennen, ſtrömt der Regen.“) Wie viele Jahr— 
tauſende mögen aber vergangen ſein, bis der 
Menſch überhaupt ſeine Aufmerkſamkeit den 
kosmiſchen Erſcheinungen zuwendete! Im 
Rigveda finden wir noch kein Bewußtſein 
des Unterſchieds der Fixſterne von den 
Planeten, deren ſichtbare Bewegung einen 


Unbeweglichkeit der Fixſterne aus ihrer 


wenn man Fixſterne und Planeten für iden— 
trieben werden, die Objektivität dieſer Be— 


wegungsunterſchiede zu bezweifeln und ſie 
vielmehr aus der Verſchiedenartigkeit der 


Bm 


394 du Prel, Die Planetenbewohner. 


Beziehungen zum Auge abzuleiten, was 
nur mit Hilfe der dritten Raumdimenſion 
möglich geweſen wäre. 

Dichteriſchen Ausſprüchen des Alter— 


thums dürfen wir zwar kein zu großes 


Gewicht beilegen; aber es ſpricht doch für 


einen mangelhaften Sinn der Tiefe, wenn 
Heſiod ſagt, daß der Himmel und die 
Unterwelt gleich weit von der Erde abſtehen, 
und, um eine Vorſtellung von dieſer Ent— 
fernung zu geben, beifügt, daß ein eiſerner 
Amboß 10 Tage lang vom Himmel zur 
Erde fallen würde und weitere 10 Tage 
von der Erde zur Unterwelt. Das gleiche 
gilt vielleicht von den Verſen des Ver— 
gilius (Aen. III. 131. 737.), wo er 
die Wellen des Oceans bis an die Sterne 
gepeitſcht werden läßt, worin zwar ein 
bloßer Redeſchmuck liegen mag, bei dem 
aber doch die Vorſtellung jenes Mumeſeke 
noch durchſcheint, wie ja bekanntlich noch in 
der ganzen Kosmologie des theologiſchen 
Mittelalters. Auch an den Ausſpruch des 
Ariſtarch mag hier erinnert werden, daß 
die Sonne ſo groß ſei, wie der Peloponnes. 

Die ganze moderne Aſtronomie bezüg— 
lich der Fixſterne beruht auf einer beſtän— 
digen Correktur unſerer tiefdimenſionalen 
Anſchauung, jo daß ſich die Aſtronomen 
bereits genöthigt ſahen, den früheren Maß— 
ſtab der Meilenentfernung aufzugeben und 
einen neuen, den der Lichtzeit, anzuwenden. 
„Die Entwickelung der Aſtronomie zeigt 
uns das allmälige Entſtehen der dritten 
Dimenſion am Himmel im bewußten Er— 
kenntnißproceſſe, während wir uns dieſes 
empiriſch phyſiologiſchen Urſprungs in den 
Orientirungsproceſſen des täglichen Lebens 
nicht mehr bewußt find.“ *) 

Zöllner, Principien einer elektro— 


dynamiſchen Theorie der Materie. Vorrede 
S. 73. 


1 


Die Geneſis der Anſchauung der Tiefen— 
dimenſion auf der Baſis einer zweidimen— 
ſionalen Anſchauung iſt in ſehr intereſſanter 
Weiſe von E. v. Hartmann behan— 
delt worden.“) Er ſagt: „Hätte in der— 
ſelben Weiſe, wie die Sinnesaffektionen 
in der Außenwelt ihre Deutung im 
Sinne einer dritten Dimenſion erheiſch— 
ten, ein praktiſches Bedürfniß ſich heraus— 
geſtellt, gewiſſe problematiſche Modifikationen 
der Geſichtswahrnehmungen im Sinne einer 
vierten Dimenſion des Raumes zu deuten, 
und hätten die hieraus gezogenen Conſe— 
quenzen und die auf ſie gebauten Hand— 
lungen und Experimente dieſelbe eklatante 
Beſtätigung gefunden, wie es bei den auf 
die dritte Dimenſion gebauten der Fall iſt, 
ſo würde ohne Zweifel mit den fraglichen 
Modifikationen der Geſichtswahrnehmungen 
ſich die Vorſtellung einer vierten Dimen— 
ſion in derſelben Weiſe aſſociirt haben, 
wie mit den oben angegebenen Modifika— 
tionen die Vorſtellung einer dritten Di— 
menſion .. Rückwärts können wir 
daraus ſchließen, daß die Ordnung der 
realen Dinge, in ſo weit ſie für das 
Afficiren unſerer Sinne von Einfluß iſt, 
ſich thatſächlich in drei Dimenſionen er— 
ſchöpft, weil noch nirgend in unſeren 
jetzt ſo genau und ſorgfältig durchforſchten 
Sinneswahrnehmungen ſich Modifikationen 
gefunden haben, welche nicht durch die An— 
nahme von drei Dimenſionen ausreichend 
erklärt würden.“ In dieſen Worten deutet 
Hartmann ſelbſt die Abhängigkeit der 
Dimenſionenzahl von den Sinnesaffektionen 
an; die Entwickelungsfähigkeit der Sinne, 
wodurch uns immer mehr Vorgänge im 
beſtändigen Fluſſe der Dinge offenbar 
würden, verräth daher auch die bedingte 


) Das Unbewußte vom Standpunkte 
der Phyſiologie S. 157. 


1 


9 


nenne ... 8 
— . . . . . ᷑—.:..:.:x.:. ? 1k y — .tðxtö rv—v¼ñ5ẽ6e —:- ðék—. ͤ— üä— . .̃Ü'ä. ... —.. ͤ—.— — — — — ———— . — v— 


Geltung des angezogenen rückwärtigen 
Schluſſes. Wenn für unſere gegebene Or— 
ganiſation das praktiſche Bedürfniß nach 
der Conſtruktion einer vierten Dimenſion 
des Raumes fehlt, ſo ſind doch auf ande— 
ren Weltkörpern Weſen denkbar, welche bei 
größerem Empfindungsmateriale dieſes Be— 
dürfniß haben, und welche darum nicht nur zur 
begrifflich-hypothetiſchen Annahme einer vier— 
ten Dimenſion genöthigt wären, ſondern wel— 
chen dieſe ſogar durch das Unbewußtwerden 
der genetiſchen Zwiſchenglieder allmälig zur 
anſchaulichen Vorſtellung geworden wäre. 
Daß es aber in der That auch für 
unſere Organiſation Erſcheinungen giebt, 


deren widerſpruchsfreie Erklärung aus drei 


Dimenſionen nicht möglich iſt, die uns alſo 
zur begrifflichen Annahme einer vierten 
Dimenſion nöthigen, hat ſchon Kant ent— 
deckt,) wie neuerdings Zöllner her— 
vorhebt, der dieſes Problem in der Vor— 
rede ſeiner „Principien einer elektrodynami— 
ſchen Theorie der Materie“ mit dem ihm 
eigenen Scharfſinne behandelt. Solche Er— 
ſcheinungen ſind: rechte und linke Hand, 
rechts und links gewundene Schnecke und 
ſymmetriſche Geſtalten, wie ein Objekt und 
ſein Spiegelbild. Wir haben hier con— 
gruente und ſymmetriſche räumliche Ge— 
ſtalten von vollkommen gleicher relativer 
Lage der Theile, von gleicher Form und 
Größe, die alſo begrifflich identiſch ſind 
und doch nicht zur Deckung gebracht, nicht 
eines an Stelle des anderen geſetzt werden 
können, die alſo anſchaulich verſchieden 
ſind. Da nun die Forderung, ſolche Ge— 
bilde in ein ſolches Verhältniß zu unſerem 
Auge zu bringen, daß ſie auf daſſelbe eine 
vollkommen identiſche Wirkung ausüben — 


) „Von dem erſten Grundunterſchiede der 
Gegenden im Raume“ V. S. 293. Ausg. v. 
Roſenkranz. 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


| 


| 


395 


worin das anſchauliche Kriterium ihrer 
Identität beftünde — einen Intellekt, der 
nur drei Dimenſionen vorſtellt, vor eine 
unauflösliche Antinomie ſtellt, ſo ſind wir 
zur begrifflichen Annahme einer vierten Raum- 
dimenſion genöthigt, die uns unter dem Ein- 
fluſſe einer veränderten Organiſation auch 
zur anſchaulichen Vorſtellung werden würde. 

Der empiriſche Urſprung unſerer Raum— 
vorſtellung läßt die Beſchränktheit unſerer 
Einbildungskraft, nur drei Dimenſionen 
des Raumes vorzuſtellen, als eine ſubjektive 
erkennen, die nicht für die Intelligenz aller 
Weltbewohner gültig ſein kann; die nach— 
weisbare Phänomenalität der Außenwelt 
aber, die Verſchiedenheit unſerer Netzhaut— 
bilder von den äußeren Dingen, kann uns 
nur geneigt machen, ein ähnliches Verhält— 
niß auch zwiſchen unſerem Intellekt, in Be— 
zug auf die Grundformen der Erkenntniß 
und der Außenwelt anzunehmen. Wenn 
aber gleich den Sinnen auch der Intellekt 
mit feiner Raumanſchauung ſich als entwickel— 
ungsfähig ergiebt, dann kann auch die von 
uns vorgeſtellte Welt nur ein durch die 
Beſchaffenheit des Intellekts bedingtes Pro— 
jektionsphänomen ſein, das uns nicht un— 
mittelbar offenbart, ſondern nur andeutet, 
was in der metaphyſiſchen, vierdimenſionalen 
Raumwelt geſchieht. In noch höherem 
Grade alſo, als es von der modernen 


Phyſiologie anerkannt wird, müſſen wir 


die Wahrheit der Worte des Protagoras 
anerkennen: „der Menſch iſt das Maß 
aller Dinge“. 

Die empiriſche Unterſuchung der Ver— 
ſchiedenartigkeit der planetariſchen Zuſtände 
führt uns zur Erkenntniß: Andere Wel— 
ten, andere Weſen. Die ergänzende er— 
kenntnißtheoretiſche Unterſuchung aber läßt uns 
die nicht minder zweifelloſe Wahrheit erkennen: 
Andere Weſen, andere Welten! 


D — 


Eine Studie 


bon 


M. Dreyer. 


rei Jahrhunderte ſind ſeit der 
Gert des großen Harvey 
dahingegangen, Jahrhunderte 
des Forſchens und Streitens. 
.Sie haben reichlich dazu bei— 

getragen, 5 Glanz ſeines Namens zu er— 
höhen, welchen auch die weitgehendſte Wür— 
digung der Verdienſte ſeiner Vorgänger und 
die zahlreichen gegen ihn gerichteten Angriffe 
nicht haben verdunkeln können. Keiner ſeiner 
Nachfolger auf der von ihm geebneten Bahn 
der Experimentalphyſiologie hat ihn erreicht. 
Die Entdeckung des Blutkreislaufs ge— 
hört zu denjenigen Entdeckungen, von denen 
man wohl ſagt, daß ſie nur einmal ge— 
macht werden. Und es iſt wahr: Seit 
dem Erſcheinen der Abhandlung über die 
Bewegung des Herzens und des Blutes 
iſt keine phyſiologiſche Arbeit gedruckt wor— 
den, welche ſo große theoretiſche und praktiſche 
Umwälzungen hervorgerufen hätte, wie ſie. 
Das andere Werk Harvey's, „De 
generatione animalium“ iſt, wahrſcheinlich 
weil es niemals in Deutſcher Ueberſetzung 


| edirt wurde, trotz feiner fundamentalen Be— 


Harvey, Ueber die Erzeugung der Thiere. 
| 


deutung als erſtes wiſſenſchaftliches embryo— 
logiſches Werk und trotz ſeines außerordent— 
lich reichen theoretiſchen Inhalts der Deut— 
ſchen Leſewelt weniger bekannt. Gerade die 
Entwickelungslehre, und zwar nicht etwa 
nur deren Geſchichte, hat das größte Intereſſe 
an dieſen zuerſt 1651 in London veröffent— 
lichten Unterſuchungen — Exereitationes 
nennt ſie Harvey — die man ſeit Jah— 
ren gemeiniglich mit der Behauptung ab— 
thut, es ſtehe der berühmte Satz darin Omne 
vivum ex ovo (Alles Lebende vom Ei!). 

Da ich keinen Anlaß hatte, zu zweifeln, 
daß dieſes von der Tradition ohne Wieder— 
ſpruch Harvey zugeſchriebene Apophthegma 
in ſeinen Werken ſich irgendwo finden werde, 
und zu erfahren wünſchte, woher, wenn 
jedes lebende Weſen aus einem Ei ſtammt, 
das Ei ſelbſt nach Harvey's Anſicht her— 
komme, ſo ſchlug ich ſein Buch nach. Aber 
zu meiner Verwunderung fand ich das ge— 
ſuchte Citat nicht. Und es iſt mir bis jetzt 
nicht bekannt, von wem und wann zum 
erſten Male jener Satz ausgeſprochen wurde. 
In den Opera omnia Harvey's, welche 


S. 


Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 


397 


im Jahre 1766 das Collegium der Lon-  (euneta pariter animalia ex ovo pro- 
9 P P 


doner Aerzte herausgab und welche außer 


den beiden genannten Werken noch einige 


Briefe enthalten, habe ich ihn nicht gefunden. 


Es iſt möglich, daß er in einer der bei der 


Plünderung des Harvey'ſchen Hauſes 
während des Bürgerkriegs verloren gegan— 
genen Schriften geſtanden hat; aber aus 
dem Wenigen, was man von dieſen weiß, 
läßt ſich kein Wahrſcheinlichkeitsgrund dafür 
entnehmen. Keine Angabe, daß Harvey 
in ſeinen Vorträgen jenes Schlagwort ge— 
braucht habe, ließ ſich aufſtöbern. 

Nun iſt aber die Behauptung ſelbſt ſo 
völlig im Einklang mit ſeinen Beobachtun— 
gen und Anſichten, daß er ſie ſehr wohl in 
der allgemein citirten Faſſung ausgeſprochen 
haben kann. Auch iſt ſchon der erſten Aus— 
gabe ein Titelkupfer beigegeben, welches 
Zeus darſtellt mit einem großen geöffneten 
Ei oder eiförmigen Gefäß in den Händen. 
Aus dieſem kommen hervor ein Kind und 
allerlei Thiere (ein Hirſch, ein Vogel, ein 
Krokodil, ein Fiſch, eine Heuſchrecke, eine 
Biene, eine Spinne), außerdem zwei Pflan— 
zen. Auf der Schale aber ſteht geſchrieben: 
Ex ovo omnia. 

In der That wiederholt Harvey oft 
und entſchieden, daß alle Thiere und alle 
Pflanzen aus Eiern hervorgehen, z. B. in 
der Exereitatio 1: Wir aber behaupten, 
daß überhaupt alle Thiere, auch die leben— 
diggebärenden und ſogar der Menſch ſelbſt, 
aus dem Ei hervorgehen; und daß ihre 
erſten Anlagen, aus welchen die Jungen 
werden, Eier ſind (ova quaedam), wie 
auch die Samen aller Pflanzen“. Dann: 


Ex. 49: „Die Unterſuchung der Zeug— 
ung wird durch dieſe unſere Beobachtungen 
ſehr erſchwert . . . am meiſten aber, wo wir 
dargethan haben werden, daß alle Thiere 
gleichmäßig 


aus dem Ei hervorgehen“ 


creari). Ferner: 

Ex. 63: „Wir aber haben im Ein- 
gang zu dieſen Unterſuchungen behauptet, 
daß alle Thiere in gewiſſer Weiſe aus dem 
Ei entſtehen“ (euneta animalia quodam mo- 
do ex ovo nasei affirmavimus). Endlich: 

Ex. 63: „Was aber die Entſtehung 
des Foetus betrifft, ſo entſtehen alle Thiere 
in derſelben Weiſe aus einer eiartigen An— 
fangsform (omnia animalia eodem modo 
ab oviformi primordio generantur); ich 
ſage eiartig, nicht weil dieſe Anfangsform 
die Geſtalt eines Eies hätte, ſondern weil 
ſie die Conſtitution und Beſchaffenheit des— 
ſelben beſitzt .. .. Und ſie iſt bei allen 
entweder ein Ei, oder etwas Eiartiges, was 


nämlich die Beſchaffenheit und die Beding- 


ungen des Eies aufweiſt, die auch den 
Pflanzenſamen mit den Thieren gemein— 
ſam zukommen.“ 

Aus dieſen und ähnlichen Aufſtellungen 
muß wohl das geflügelte Wort Omne vi- 
vum ex ovo entſtanden ſein. 

Wenn man nun ſagt, wie oft genug 
geſchieht, Harvey habe durch dieſe Lehre 
den zu ſeiner Zeit herrſchenden Glauben 
an die Urzeugung zerſtört, ſo iſt dies irrig. 
Vielmehr glaubt er an eine Generatio 
aequivoca, die er mit dieſem Namen gleich 
in der erſten Exereitatio nennt. Zunächſt 
einige Beweisſtellen. Ex. 27 heißt es: 

„Was ſollen wir ſagen von den Thier— 
chen, welche in unſerem Körper entſtehen 
und von denen Niemand zweifelt, daß ſie 
durch eine eigene Seele regiert und ernährt 
werden? Dieſer Art ſind die Spulwürmer, 
Ascariden, die Läufe, die Gnitten, die Mil- 
ben u. A. Oder was ſollen wir behaup— 
ten von den Würmchen, welche aus Pflan— 
zen und deren Früchten entſtehen, wie 
man ſie in den Galläpfeln, den Scharlach— 


398 


Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 


beeven, den Roſenäpfeln und ſehr vielen 
anderen findet? Es kann allerdings faſt | ſtehen. „Bei den Inſekten ſcheint der Zu— 
in allen feuchtwerdenden trockenen Stoffen 


oder trocknenden Feuchtigkeiten ein Thier 
erzeugt werden (ereari potest).“ 


ſchichte der Thiere, 5. Bd. 32. Cap. Ferner: 
Lx. 28: „Einige Thiere entſtehen von 
ſelbſt (sponte oriuntur), oder wie man ge— 
wöhnlich ſagt, aus der Fäulniß.“ 
Ex. 50: „Die Thiere und zwar nicht 
weniger diejenigen, welche von ſelbſt ent— 


ſtehen (sponte proveniunt), als diejenigen, 


welche als das gemeinſchaftliche Werk des 
männlichen und weiblichen Individuums er— 
zeugt werden.“ In derſelben Exereitatio 
wird von den Thieren geſagt: 

„Einige entſtehen von ſelbſt ohne irgend 
welches wirkſame Eindeutige (sponte nas— 
euntur sine aliquo efficiente univoco 
d. h. ohne einer beſtimmten zoologiſchen 
Species anzugehören); einige durch die 
vereinten Bemühungen des männlichen und 
weiblichen Individuums; einige nur aus 
einem der beiden Geſchlechter; einige ver— 
mittelſt anderer zwiſchen beiden ſtehender 
Mittel, bald mehrerer, bald weniger; einige 
durch eindeutige Mittel (instrumentis uni— 
voeis); einige werden durch zweideutige 
Mittel (aequivoeis) und zufällig erzeugt.“ 

Noch an vielen anderen Stellen iſt von 
den durch Urzeugung oder von ſelbſt ent— 
ſtandenen lebenden Weſen die Rede, z. B. 
ſind nach der Ex. 1 dieſelben nicht aus 
der Fäulniß herzuleiten, ſondern casu, 
naturae sponte et aequivoca, ut ajunt, 
generatione von ihnen unähnlichen Eltern 
erzeugt. In der 45. Ex. ſetzt Harvey 
auseinander, daß bei den Inſekten „der 
Wurm“ durch Metamorphoſe aus dem Ei 
entſteht oder die erſten Anfänge derſelben 
aus verweſender Materie, trocknender Feuch— 


tigkeit oder feuchtwerdendem Trocknen ent— 


fall oder das Ungefähr hauptſächlich die 
Zeugung zu fördern. Bei ihnen entſteht 


die Geſtalt durch ein Vermögen der prä— 
Dazu wird Ariſtoteles citirt: Ge 


exiſtirenden Materie und die erſte Urſache 
der Erzeugung iſt vielmehr die Materie, 
als ein äußeres wirkſames Agens“ . . . .. 
„Alſo gewiſſe Thiere entſtehen von ſelbſt 
aus Materie, die von ſelbſt oder durch Zu— 
fall verarbeitet iſt.“. . . „Von den Bienen, 
Wespen, Schmetterlingen und allem, was 
aus einer Raupe durch Metamorphoſe erzeugt 
wird, heißt es, daß ſie zufällig entſtanden 
ſind und daher die Gattung nicht erhalten. 
Der Löwe aber, oder der Hahn entſteht 
niemals durch Zufall oder von ſelbſt.“ 

Solche Stellen zeigen, daß Harvey 
nicht etwa nur eine einſtmalige, ſondern auch 
eine gegenwärtige Urzeugung ausdrücklich 
annimmt, bei der die Fäulniß ein begün— 
ſtigendes Moment abgebe. Nun behauptet 
er aber zugleich das Omne vivum ex ovo, 
welches damit im Widerſpruch zu ſtehen 
ſcheint. Wenigſtens hat man darin einen 
Widerſpruch gefunden, daß alle Thiere aus 
dem Ei und einige Thiere durch Urzeug— 
ung entſtehen ſollen. 

Cuneta animalia ex ovo und Quae- 
dam animalia sponte nascuntur, ſo ſteht 
es geſchrieben. Man könnte den Wider— 
ſpruch durch äußere Umſtände zu erklären 
verſucht ſein. Harvey war, als er das 
Manuſcript ablieferte, 73 Jahre alt; dieſes 
Manuſcript ſelbſt iſt unvollendet geblieben, 
da auf ſpätere Abſchnitte deſſelben ver— 
wieſen wird, welche ſich nicht vorfinden. 
Zu dem kommt, daß des Verfaſſers Freund 
Dr. Ent die Arbeit veröffentlichte, ohne ſie 
Harvey vor dem Druck noch einmal zur 
Reviſion zuzuſtellen; er erklärt in der De— 
dicatio alle Mühe der Herausgabe auf ſich 


Die Planetenbewohner, 


Von 


Carl du Prel. 


DS 2 ſuchung über die Bewohnbarkeit 
der Geſtirne n) find Vermuth- 

ungen über die Natur ihrer Be- 
wohner. Noch im Jahre 1834 
glaubte A. Comte, der doch vom Fort— 
ſchritte des menſchlichen Geiſtes nicht gering 
dachte, bezüglich der Geſtirne behaupten zu 
dürfen: „Nous concevons la possibilite 
de déterminer leurs formes, leurs dis- 
tances, leurs grandeurs et leurs mouve- 
ments, tandis que nous ne saurions jamais 
etudier par aueun moyen leur composition 
chimique, ou leur structure minéralo— 
gique, et, a plus forte raison, la nature 
des corps organisés qui vivent à leur 
surface“. (Phil. posit. II. 6). Aber das Be— 
ginnen Newton's, der die phyſiſche Aſtro— 
nomie begründete, indem er die irdiſche 
Schwerkraft als Attraktion auf den ganzen 
Kosmos übertrug, hat ſeine natürliche Fort— 
ſetzung gefunden in der Entdeckung der 
Spektralanalyſe. In der Gravitation hat 


Newton die gemeinſchaftliche Urſache der 
von Kepler entdeckten Geſetze planetariſcher 
9 Vergl. Kosmos, Band III. S. 1. 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


ngleich feſſelnder als die Unter⸗ 


Bewegung gefunden; in der Spektralana— 
lyſe aber find die Geſetze der irdiſchen Phy— 
ſik auch auf die übrigen Erſcheinungen an 
den Geſtirnen, außer ihren Bewegungen, 
ausgedehnt und der Beweis iſt geliefert wor— 
den, daß Materie von gleicher Natur, wie 
die irdiſche, und den gleichen Geſetzen un— 
terworfen, durch den ganzen Raum aus— 
gebreitet iſt. Somit iſt erreicht, was noch 
Comte für unerreichbar hielt: wir ſind über 
die chemiſchen Beſtandtheile der Geſtirne 
unterrichtet. Damit iſt aber zugleich eine 
ſolide Baſis gelegt für die weitere Unter— 
ſuchung nach der Natur der Planetenbe— 
wohner; denn nicht für die Geſtirne, ſondern 
durch dieſelben, d. h. durch die auf ihren 
reſpectiven Oberflächen vorhandenen Ver— 
hältniſſe iſt die Organiſation ihrer etwaigen 
Bewohner beſtimmt. Jedwede Organiſation 
kann nur die Reſultante der auf ihrem 
Planeten vorhandenen Kräfte ſein; die 
Natur der Organismen kann nirgend will— 
kürlich gedacht werden, ſondern nur als 
nothwendige Wirkung der vorhandenen 
Materie und der den biologiſchen Proceß 
regulirenden Faktoren, aus welchen noth— 


49 


1 


384 


wendig die Anpaſſung an die gegebenen 


äußeren Verhältniſſe folgt. Alle Organis- 


men ſtehen in Bezug auf Form, Größe, 
Gewicht, Lebensdauer, Stärke der Glied— 


maßen, Beſchaffenheit der Sinnesorgane 
und des Erkenntnißvermögens, wie hinſicht⸗ 


lich aller phyſiologiſchen Funktionen in Ueber— 


einſtimmung mit dem Weltkörper, auf dem 


ſie wohnen. Da nun die Geſtirne trotz 


der Gleichheit der kosmiſchen Stoffe doch | 


außerordentlich verſchieden fein können in 
Bezug auf die Miſchungsverhältniſſe der 
Elemente, die Dichtigkeit ihrer Materie, 
und die von ihrer Größe abhängige Schwer— 
kraft auf ihren Oberflächen, ſo müſſen wir 
auch eine außerordentliche Verſchiedenheit 
ihrer Organismen vorausſetzen, um ſo mehr 
als auch die vom Abkühlungsſtadium und 
der Inſolation abhängige Produktionskraft 
der Planeten verſchiedene Proportionen der 
Organismen nach ſich ziehen muß, gleichwie 
in früheren Perioden die Erde eine viel 
größere Triebkraft entfaltete, Reichthum 
und Größe der Organismen bedeutender 
war, und die heißen Zonen noch jetzt in 
dieſer Hinſicht ſich auszeichnen. Sehen wir 
aber ſchon auf der Erde durch die außer— 
ordentliche Mannigfaltigkeit der Anpaſſung 
einen unüberſehbaren Reichthum an Organi— 
ſationsformen herbeigeführt, ſo müſſen wir 
jeder Hoffnung entſagen, etwa eine inter— 
planetariſche vergleichende Anatomie und 
Phyſiologie überſehen zu können. 


Das Leben, wo es ſich auch regen 


mag, läßt ſich definiven als eine Aufeinander— 
folge ſolcher inneren Veränderungen der 


Organismen, durch welche das Gleichgewicht 


mit äußeren Verhältniſſen aufrecht erhalten 
wird. 
undenkbar, wenn die Organismen aus ho— 
mogenen Stoffen beſtänden, und immer 
den gleichen Einwirkungen ausgeſetzt wären. 


Das Phänomen des Lebens wäre 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


Die Stoffe, aus welchen lebende Weſen 
zuſammengeſetzt ſind, müſſen alſo durch 
große Beweglichkeit ihrer Moleküle und die 
Fähigkeit, verſchiedene Zuſtände anzunehmen, 
ſich auszeichnen. Dieſe Eigenſchaft kommt 
den ſogen. organiſchen Verbindungen, die aus 
Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und 
Stickſtoff beſtehen, in hohem Grade zu. 
Die Kohlenwaſſerſtoffe gehören zu den un— 
beſtändigſten Verbindungen, und Protein, 
der weſentlichſte Stoff, aus welchem Or— 
ganismen beſtehen, zeichnet ſich nicht nur 
durch große Mannigfaltigkeit ſeiner Meta— 
morphoſen, ſondern auch durch die Leichtig— 
keit aus, womit er ſie vollzieht; er vermag 
eine ungemein große Anzahl von Verbin— 
dungen einzugehen. 

Die Spektralanalyſe weiſt nun aber 
die genannten chemiſchen Elemente in allen 
Gegenden des Himmels nach, und auch die 
Beſtandtheile unſerer Oceane, in deren 
Tiefen das irdiſche Leben entſtand, Waſſer, 
Natrium, Magneſium u. ſ. w., ſind im ganzen 
Raume verbreitet. Aus denſelben ſogenann— 
ten Organogenen werden demnach wohl 
auch die Organismen aller jener Planeten 
zuſammengeſetzt ſein, welche ſich im gleichen 
Abkühlungsſtadium befinden; auch ihre Or— 
ganismen müſſen ſtofflich befähigt ſein, die 
einwirkenden äußeren Kräfte wahrzunehmen 
und auf dieſelben im Sinne der Erhaltung 
des Gleichgewichts zu reagiren; auf die 
dauernden Einflüſſe werden die Individuen 
direct durch ihre Funktionsweiſe reagiren, 
während von nicht conſtanten Einwirkungen 
die ganze Species als ſolche betroffen wird, 
indem eben die Individuen beſeitigt werden, 


welche ſich mit ſolchen Factoren nicht in's 


Gleichgewicht zu ſetzen vermögen. Die 
äußeren Bedingungen aber, unter welchen 


die Beweglichkeit organiſcher Stoffe auf 


Erden möglich iſt, müſſen auch für alle 


du Prel, Die Planetenbewohner. 385 


Planeten in dieſem Sinne beſtimmend ſein, 
nämlich Licht und Wärme der reſpectiven 
Centralkörper. 

Wie uns nun in den Reiſeberichten über 
unbekannte Länder beſonders die Frage 


nach der Kultur der Bewohner intereſſirt, 


ſo auch bezüglich der Bewohner anderer 
Welten, vor Allem die Frage nach ihrer 
intellektuellen Natur. Sind aber alle Völ— 
kerſchaften, von welchen das Zeitalter der 
Entdeckungen uns Kunde gebracht hat, trotz 
ihrer Verſchiedenheit doch in Bezug auf 
das Grundgerüſte des Denkens in Ueber— 
einſtimmung gefunden worden, ſo daß ſie 
als Objekte der Anthropologie ſich einſtel— 
len ließen, indem ſie nur verſchiedene Pha— 
ſen menſchlicher Entwicklung darſtellten, ſo 
kann dagegen auf vielen Planeten nicht nur 
wegen ihres Altersunterſchiedes, ſondern 
auch darum eine höhere Stufe des Be— 
wußtſeins angenommen werden, weil die 
Intenſität ihrer biologiſchen Entwickelung 
ſehr verſchieden ſein kann. Aber auch durch 
größere Energie des Individualwillens kön— 
nen andere Planetenbewohner zu höheren 
Leiſtungen befähigt ſein, wenn eine ſolche 


als Anpaſſung an die Exiſtenzverhältniſſe 


nöthig werden ſollte. Denn es heißt 
wohl die Urſache mit der Wirkung ver— 
wechſeln, wenn Vauvenargues jagt: 
„Le monde est ce qu'il doit &tre 
pour un ätre actif, c’est-a-dire fertil 
en obstaeles.“ 


Mangel an Wechſel aller Art eine 
Art Erſtarrung eingetreten, während in 
der alten Welt vermöge ihrer großen Aus— 
dehnung auch ein lebhafter, für Erzeugung 
von Arten günſtiger Migrationsproceß und 
energiſcher Kampf ums Daſein eintrat. 
(Peſchel, Völkerkunde, S. 346— 47.) Wäh⸗ 
rend alſo auf Inſeln eben wegen ihrer fried— 
licheren Verhältniſſe allmälig Erſtarrung 
und conſervative Anpaſſung erfolgen muß, 
wird auf großen Flächenräumen aus großen 
Wanderungen nicht nur biologiſch, ſondern 
auch geſchichtlich ein energiſcher Fortſchritt 
ſich ergeben. 

Wir werden auch vorausſetzen dürfen, 
daß das Leben im Kosmos nur als 
Stoffwechſel auftreten kann, indem Nahr— 
ungsſtoffe in organiſche Stoffe verwandelt 
werden, wenn wir auch nicht genöthigt 
ſind, dieſes Verhältniß, das unſere Erde 
zum beſtändigen Kampfplatze der Orga— 
nismen macht und — wie die paläonto— 
logiſchen Funde beweiſen — beſtändig ge— 
macht hat, nach Analogie irdiſcher Verhält— 
niſſe ſo zu denken, als ob überall die 
Aſſimilation der Nahrungsſtoffe durch Kau— 
thätigkeit, Verſchlingen und Umwandlung 
in Chymus ſtattfinde, deſſen nichtaſſimi— 
lirbare Beſtandtheile wieder abgeführt werden. 
Die Nothwendigkeit, aus den aufgenommenen 
Stoffen wieder unbrauchbare auszuſcheiden, 


kann als noch mangelhafte Anpaſſung un— 


Nach der Analogie der irdiſchen Ver- 


hältniſſe auf den verſchiedenen Continenten 


dürfen wir vorausſetzen, daß die Intenfität | 


der Entwickelung unter ſonſt gleichen Um- 
ſtänden im Verhältniß zur Oberflächen- 


ausdehnung der Planeten ſteht. So iſt 


in Auſtralien, das ſich vom Feſtlande los- 


löſte, als ſeine Entwickelung bis zu den 
Beutelthieren vorgeſchritten war, bei dem 


ſerer Organiſation an die äußeren Ver— 
hältniſſe angeſehen werden (2 R.) und andere 
Weſen können befähigt ſein, ausſchließlich 
aſſimilirbare Stoffe in irgend einer Weiſe 
in ſich aufzunehmen. Wir können uns 
Weſen vorſtellen, welche die zur Erſetzung 
der Gewebe nöthigen Stoffe durch Poren 
und ausſchließlich aus der Atmoſphäre be— 
ziehen. Würde dadurch der Kampf ums 
Daſein, aber auch wohl die Entwickelung, 


— — — ſ—ü—ü —ö—ẽ—— [ ů—̃p— 


386 


viel von der irdiſchen Intenſität verlieren, 
ſo kann er auf anderen Planeten wiederum 
energiſcher ſein, wenn die reſpektiven At— 
moſphären gar keine Erſatzſtoffe enthalten 
ſollten und der ganze Verbrauch durch 
eigentliche Ernährung zu decken wäre. 
Die Frage nach der Bewußtſeinsform 
und Bewußtſeinshöhe der Planetenbewohner 
führt uns aber weit hinaus über das Ge— 
biet der Biologie und Anthropologie in 
das Gebiet der Erkenntnißtheorie hinein. 
Nicht nur morphologiſch und phyſiolo— 
giſch, ſondern auch in Bezug auf die Sinne 
und das Erkenntnißorgan werden wir als 
das Weſen des biologiſchen Proceſſes die 
allmälige und geſteigerte Aupaſſung an die 
Realität bezeichnen können. Gleich jedem 
Organe müſſen auch die Wahrnehmungs- 
organe und der Intellekt ins Gleichgewicht 
mit der Außenwelt ſich ſetzen. Wir wiſſen, 
daß dieſe von Organanfängen ausgegangen 
find *) und haben durchaus keinen Grund 
anzunehmen, daß dieſer Anpaſſungsproceß 
in der Menſchheit ſeine höchſte Spitze er— 


reicht habe. Bei den Bewohnern günſtiger 


angelegter Planeten können Denken und 
Sein in viel größerer Uebereinſtimmung 
ſtehen, als auf Erden. 

Unſere Außenwelt iſt phänomenal, ſie 
iſt eine Wahrnehmung unſeres Geiſtes, 
und nicht die wirkliche Natur der Dinge, 
ſondern nur den Schein des Wirklichen 
verrathen uns unſere Sinne. Die Welt 
iſt unſere Vorſtellung. Wir nennen un— 
berechtigter Weiſe unſere Sinnesempfindun— 
gen Qualitäten der Dinge, und glauben 
unmittelbar eine Außenwelt zu erfaſſen, 
während wir doch in ihrer Wahrnehmung 
aus unſerer Subjektivität gar nicht heraus 
kommen, und nur den Reaktionsmodus 
unſerer Sinne auf äußere Eindrücke kennen 
Kosmos, I. S. 94, 201. 


s 26 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


lernen. Nur das läßt ſich mit Beſtimmt— 
heit vorausſetzen, daß, weil die Entwickel— 
ung der Sinne und des Verſtandes nur 
im Sinne der Anpaſſung an die Realität 


Rgeſchehen kann, die Verknüpfung der Wahr- 


nehmungen und Vorſtellungen den objektiven 
Geſetzen der Verknüpfung der Dinge mehr 
oder minder entſprechen muß. Bei aller 
Verſchiedenheit zwiſchen unſeren Empfind— 
ungen und den Vorgängen der Natur, 
durch welche ſie erzeugt werden, kann doch 
von einem Betruge, den die Natur uns 
ſpiele, nicht die Rede ſein, ſondern die 
Nöthigung der Organismen, ihr Daſein 
zu erhalten, muß ſolche Sinne und einen 
ſolchen Intellekt zur Ausbildung kommen 
laſſen, wodurch eine wirkliche Orientirung 
in Bezug auf die Außenwelt ſtattfindet. 
Das Wie dieſer Orientirung iſt aber 
fraglich und gleichgültig; es iſt durchaus 
nicht nöthig, daß die Dinge und ihre Bor- 
ſtellungen identiſch ſeien. Gehör und Ge— 
ſicht orientiren uns, trotzdem gar keine 
Aehnlichkeit beſteht zwiſchen den objektiven 
Schwingungszahlen der Luft und des Aethers 
und den daraus folgenden ſubjektiven Em— 
pfindungen, die wir Ton oder Farbe nennen. 
Der Taſtſinn würde uns andere Vorſtell— 
ungen liefern über Härte, ja ſelbſt über 
die Geſtalt der Dinge, wenn unſere Horn— 
haut anders beſchaffen wäre; gleichwohl iſt 
er uns nützlich. Indem alſo die Sinne 
uns zwar von äußeren Eindrücken benach— 
richtigen, aber dieſelben in ganz veränder— 
ter Geſtalt dem Bewußtſein überliefern, 
ſind es nicht die Eigenthümlichkeiten der 
Dinge, ſondern die unſerer Organe, wovon 
wir unterrichtet werden. Dies zeigt ſich 
ſehr auffallend, wenn mehrere Sinne von 
der gleichen Einwirkung betroffen werden, 
wenn das Auge den Sonnenſtrahl als 
Licht, die Haut als Wärme empfindet, 


a Si II Ts rr... ͤ —...—— ß 


du Prel, Die Planetenbewohner. 387 


Empfindung erfährt durch einen elektriſchen 
Strom, den der Geſchmack als Säure, das 
Auge als Licht wahrnimmt. 

Das dem Auge ſichtbare Spektrum der 
Sonne giebt die Regenbogenfarben: Roth, 
Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, 
Violet. Es iſt aber nachweisbar, daß der 
zerlegte Sonnenſtrahl noch mehr Strahlen 
enthält, als welche die Netzhaut reizen. 
Das Auge iſt nur für ein Intervall der 
wirklich vorhandenen Strahlen empfänglich. 
Jenſeits des rothen Endes finden ſich un— 
ſichtbare Strahlen, welche wärmen, jenſeits 
des violetten Endes ſolche, welche chemiſch 
wirken und nur dann ſichtbar werden, 
wenn man ſie etwa auf Uranglas auffängt. 
Der chemiſche Theil des Spektrums iſt ſo— 
gar länger, als der ſichtbare Theil. Wenn 
aber ſchon von den Strahlen, welche nach— 
weisbar find, nur etwa ½ uns ſichtbar 
wird, ſo iſt die Zahl derjenigen, welche 
nachzuweiſen wir keine Hilfsmittel beſitzen, 
uns ganz unbekannt. 

Weil nun die Sichtbarkeit der Strahlen 
nicht von ihnen ſelbſt, ſondern vom Auge ab— 
hängig iſt, ſo können wir uns auch recht wohl 
Weſen vorſtellen, welche ganz andere Be— 
ſtandtheile des Sonnenſpektrums ſehen, als 
wir, und da dieſe Weſen an den Dingen 
alle jene Eigenthümlichkeiten erkennen wür— 
den, welche auf dieſen Strahlen beruhen, 
ſo iſt gar nicht zu beſtimmen, welchen Um— 
fang ihr Wiſſen über dieſe Dinge hierdurch 
gewinnt; denn auch unſer Wiſſen würde 
viel umfangreicher ſein, wenn unſere Sinne 
uns orientiren würden über die ganze 
Länge des Spektrums ohne jede Lücke. 

Da die Unterſchiede der Schwingungen, 
in deren Wahrnehmung unſere verſchiedenen 
Sinne ſich theilen, nur quantitativer Na- 
tur ſind, ſo würde durch eine bloße Mo— 


| oder wenn der Hautnerv eine brennende 


difikation unſerer Sinne eine Verſchiebung 
der jedem einzelnen Sinne zugetheilten 
Intervalle denkbar ſein, der Art, daß wir 
als Wärme empfänden, was uns Ton iſt, 
daß wir hören würden, was wir als Licht 
und Farbe empfinden, oder umgekehrt, daß 
wir ſähen, was wir hören. 

Aber nicht nur Modifikationen unſerer 
Sinne, ſondern auch ganz andere Sinne 
ſind denkbar. Wenn wir keinen Sinn be— 
ſitzen für die Erſcheinungen des Magnetis— 
mus, der Elektricität und der chemiſchen 
Affinität, ſo kann doch der Anpaſſungs— 
proceß anderer Weſen vollkommener ſein, 
ſo, daß ſie auch dieſe Vorgänge wahrneh— 
men; oder er kann der Art ſein, daß ihnen 
vielleicht der Theil der Wirklichkeit, den 
wir empfinden, ganz verſchloſſen iſt, daß 
ſie dagegen befähigt ſind, nur die Vor— 
gänge zu erfaßen, die wir nicht zu em— 
pfinden vermögen. Solche Weſen, welche 
vielleicht nichts von dem wiſſen, was unſere 
Geſammtſinne offenbaren, würden eine 
durchaus andere Welt vorſtellen, die doch 
nur das Ergänzungsſtück zu der unſrigen 
wäre. So gut als es Bewegungsarten des 
Aethers geben mag, von welchen wir nichts 
wiſſen, und die Anzahl derſelben vielleicht 
von ſehr großer Mannigfaltigkeit ſein kann, 
ſo gut iſt auch eine Anpaſſung an dieſel— 
ben denkbar, kann es alſo Weſen geben, 
welche dieſelben wahrnehmen. Unendliche 
Möglichkeiten von Empfindungen können 
im Univerſum gegeben ſein, die uns ſo 
unbegreiflich erſcheinen würden, als dem 
Blindgebornen das Weſen des Lichts un— 
begreiflich ſein muß und die den damit 
begabten Weſen einen Zuwachs an Intelli— 
genz gewähren, der vielleicht größer iſt, 
als der Zuwachs, den unſere niederen Sinne 
durch die Fähigkeiten des Geſichts erhalten; 
denn wir dürfen weder die Menſchheit als 


* 


388 


die höchſte Stufe biologiſcher Entwickelung 
anſehen, noch die Erde als jenen Planeten, 
auf welchem die günſtigſten Bedingungen 
für den Lebensproceß vorhanden ſind, noch 
überhaupt die Welt, der wir angepaßt ſind, 
als die ganze Welt. Wenn es Kräfte 
giebt, die auf uns nicht einwirken, ſo kann 
es auch Weſen geben, unempfindlich für 
das, was wir empfinden, welche vielleicht 
in Medien leben, in welchen irdiſche Or— 
ganismen nicht exiſtenzfähig wären und 
deren Leben ſich beſchränkt auf Regionen, 
wo die uns unbekannten Schwingungen 
geſchehen — wodurch freilich unſere Träume 
von der Bewohnbarkeit der Welten eine 
namhafte Erweiterung erfahren würden. 
Die Wirklichkeit iſt alſo möglicherweiſe 
reicher, als die Vorſtellung. Die von uns 
vorgeſtellte Welt iſt nicht nur ein bloßer Bruch— 
theil der wirklichen Welt, ſondern es werden 
auch diejenigen Vorgänge, welche in der 


That auf uns einwirken, in der Reaktion 


unſerer Sinne in einer Weiſe verwandelt, 
daß ihnen gleichſam nur eine ſymboliſche 
Bedeutung zukommt. Aber dieſes genügt 
auch für die praktiſchen Zwecke des Da— 
ſeins; für den Zweck der Orientirung 
genügt die Conſtanz der Wirkungs— 
weiſe der Natur und die dieſer ent— 
ſprechende Conſtanz der Reaktions- 
weiſe der Sinne, während das Wie der 
Reaktion, die Anzahl der Sinne und ihre 
beſtimmte Beſchaffenheit gleichgültig iſt. 
Bei der Mannigfaltigkeit der uns viel— 
leicht zum größten Theile unbekannten Vor— 
gänge der Natur und wiederum bei den 
zahlreichen Möglichkeiten, dieſe Vorgänge 
in der einen oder anderen Art wahrzu— 
nehmen, kann freilich die Frage nach der 
geiſtigen Natur der Bewohner anderer 
Welten nur eine noch ungenügendere Ant— 
wort erhalten; und mag auch die Orien— 


du Prel, Die Planetenbewohner. 


tirungsweiſe, wie ſie für die irdiſchen Ge— 
ſchöpfe gültig iſt, auf anderen Geſtirnen 
ſich Häufig finden, ſo ſtellt fie doch vielleicht 
nur eine Phaſe in der Entwickelung des 
kosmiſchen Lebens dar, in welcher durch 
allmälige Ausbildung ganz neuer Sinne 
der Lebeweſen eine völlig anders geſtaltete 
Welt aufſteigen würde, während mit dem 
Verluſte ſolcher Sinne, wie wir ſie beſitzen, 
auch die Welt, die wir vorſtellen, allmählig 
verſinken würde. 

Aber nicht nur von der Beſchaffenheit 
unſerer Sinnesorgane hängt die Geſtalt— 
ung der Welt ab, die wir vorſtellen, ſon— 
dern auch von der Raſchheit unſerer Auf— 
faſſungsgabe, d. h. von der Fähigkeit, 
innerhalb einer gegebenen Zeit einer größeren 
oder geringeren Menge von Eindrücken 
uns bewußt zu werden. Unſere Natur 
geſtattet uns, 6—10 Wahrnehmungen in 
einer Sekunde zu erfaſſen. Dieſes uns 
angeborene ſubjektive Zeitmaß, welches die 
Anzahl der Reaktionen unſerer Sinne inner— 
halb einer gegebenen Zeit regelt, beſtimmt 
auch ganz und gar die ſubjektive Dauer 
unſeres Lebens, welche auf der Menge 
unſerer Empfindungen beruht. Wie ganz 
anders würde ſich aber die Welt ſolchen 
Weſen darſtellen, welche, ſelbſt wenn ſie im 
Uebrigen unſere Sinne hätten, ein anderes 
ſubjektives Zeitmaß in ſich trügen, welche 
einer längeren, oder kürzeren Zeit bedürf— 
ten, als wir, um ſich eines Sinneseindrucks 
bewußt zu werden, oder bei welchen auch 
nur die Zeit, während welcher ein Ein— 
druck beharrt, eine verſchiedene wäre! 

Eine Flintenkugel, die an uns vor— 
überfliegt, können wir im Laufe nicht ver— 
folgen, weil ſie an keiner Stelle lange 
genug verweilt, um den Eindruck auf unſer 
Auge zu vollziehen. Es entgehen uns 
alſo alle Veränderungen irdiſcher Dinge, 


in deren Aufeinanderfolge eine gewiſſe 
Langſamkeit nicht eingehalten wird. Je 
nachdem wir uns unſer ſubjektives Zeit— 
maß verändert denken, würden wir einen 
viel größeren Reichthum von Erſcheinungen, 
oder eine viel geringere Summe von Ver— 
änderungen in der Außenwelt wahrnehmen. 
Wir können uns Weſen träumen, welchen 
die kriechende Schnecke unſichtbar wäre, wie 
uns die fliegende Flintenkugel, oder welchen 
von den Geſtirnen nur ſolche von lang— 
ſamerer Bewegung ſichtbar wären, und 
andere Weſen, welche die Schnelligkeit des 
elektriſchen Stromes mit dem Auge wahr— 
nehmen würden; Weſen, welchen Dinge 
plötzlich ins Daſein treten, deren allmä— 
liges Wachsthum wir erkennen, und andere, 
in deren Bewußtſein keine Veränderung 
eines Dinges vor ſich gehen würde, das 


uns innerhalb der gleichen Beobachtungszeit 


in beſtändiger Wandlung begriffen erſcheint. 


Wo wir continuirliche Veränderung erken- 


nen, könnten andere Weſen ſprungweiſe 
Entwickelung ſehen, und wo für uns an— 
ſcheinende Starrheit vorhanden iſt, wie 
beim Anblick eines Obelisken, könnte ein 
anderes Bewußtſein an der Oberfläche des— 
ſelben die minimalen Veränderungen in 
jedem Zeittheilchen wahrnehmen. 

Eine glühende Sternſchnuppe, welche 
gegen die Erde fällt, ſehen wir nicht als 
leuchtende Maſſe, was ſie iſt, ſondern als 
Feuerlinie, weil der Eindruck, den ſie her— 
vorruft, wenn ſie beim Eintritt in die At— 
moſphäre erglüht, noch anhält, wenn ſie 
bereits das Endſtück der von uns geſehenen 
Feuerbahn erreicht hat; wir würden alſo 
eine ganz andere Welt auch dann ſehen, 
wenn die Zeit, während welcher unſere 
Sinneseindrücke beharren, verlängert oder 
verkürzt würde. 

Nehmen wir einen Stab mit glühendem 


du Prel, Die Blanetenbewohner. 389 


Ende zur Hand, den wir im Dunkel mit 
großer Raſchheit kreisförmig ſchwingen, ſo 
erſcheint uns aus dem gleichen Grunde 
ein glühender Ring. So würde aber auch, 
wie Bär bemerkt (Reden, I. S. 259), 
die Sonne ſolchen Weſen erſcheinen, deren 
ſubjektives Zeitmaß ſtatt /ů — J Secunde, 
wie bei uns, etwa 2 Tage wären. Dieſe 
würden nicht ein leuchtendes Geſtirn am 
Himmel ſehen, ſondern einen leuchtenden 
Bogen, der ſich nach den Jahreszeiten hebt 
und ſenkt und auch Nachts nicht verſchwin— 
den würde, weil der Eindruck des hellen 
Lichts viel länger andauert, als der Ein— 
druck der Dunkelheit. Höchſtens würden 
dieſe Weſen eine regelmäßig wiederkehrende 
momentane Abſchwächung dieſes Bogenlich— 
tes bemerken, eine Art continuirlichen Wetter- 
leuchtens mit zuckendem Lichte. Würden 
nun dieſe Weſen zur Schule der Materia— 
liſten gehören, auf dem Standpunkte des 
naiven Realismus ſtehen und demgemäß 
an die Objektivität dieſes Feuerbogens 
glauben, ſo würden ſie in der Erklärung 
dieſer Erſcheinung ſchließlich auf unlösliche. 
Antinomien ſtoßen, und nur wenn ſie dieſen 
Standpunkt aufgeben, könnte es ihnen bei 
entſprechendem Scharfſinne gelingen, den 
trügeriſchen Schein zu erkennen, der ſie 
umfängt, wie Kopernikus die Beweg— 
ung der Sonne als trügeriſchen Schein er— 
kannte, weil unter der Vorausſetzung der— 
ſelben immer neue Verwickelungen dem 
menſchlichen Denken ſich boten. 

Würde dagegen das Zeitmaß verkürzt 
werden, das wir brauchen, um uns eines 
Eindrucks bewußt zu werden, ſo würde 
z. B. ein Gehörorgan, wie wir es beſitzen, 
ſeinen Träger ganz anders orientiren: Was 
wir tiefe Töne nennen, wäre ihm unhörbar, 
unſere hohen Töne wären tiefe für ihn, 
ja bei ſehr ſtarker Verkürzung des Zeit— 


du Prel, Die Planetenbewohner. | 


daß jeder Wahrnehmung ein ſubjektiver 
Antheil zukommt, daß zwar das Objekt 


7 390 


maßes würde er hohe Töne hören, wenn 
wir von einer Wärmeempfindung reden, 


die höchſten Töne, wenn wir behaupten, 
einen farbigen Gegenſtand zu ſehen. 


So würde alſo die ganze Natur ein 


anderes Ausſehen gewinnen, je nachdem die 
Zeit, innerhalb deren wir ſinnlich wahr— 
zunehmen vermögen, verkürzt oder verlän— 
gert würde; Vorgänge, welche unſerer Or— 
ganiſation offenbar werden, würden nicht 
erfahren werden, und wiederum würden 
uns andere wahrnehmbar werden, die uns 
verſchloſſen ſind. 

Die ſo verſchiedenartigen Einwirkungen 
der äußeren Kräfte auf ein Weſen würden 
daſſelbe noch nicht zur Orientirung befähi— 
gen, wenn dieſelben nicht zuſammengehalten, 
nicht bezogen würden auf ein einheitliches 


Bewußtſein, als den Vereinigungspunkt 
aller jener Empfindungen, welche bei 


unſerer Organiſation, iſolirt vom Auge, 
Ohre und dem Gefühle, überliefert werden. 
Der Einheitlichkeit der Außenwelt muß für 
lebende Weſen eine einheitliche Subjektivität 
entſprechen. Demnach dürfen wir auch für 
die Bewohner anderer Welten ein Organ 
voraus ſetzen, welches entſprechend unſerem 
Intellekt, in dieſer combinatoriſchen Weiſe 
als Sammelpunkt der Empfindungen fun— 
girt, nur daß je nach den Empfindungen, 
für welche ſolche Weſen empfänglich ſind, 
dieſes Organ auch ganz anderer Art ſein 
kann, als unſer Intellekt. Gleich den Sinnen 
muß auch dieſer Intellekt einem Anpaſſungs— 
proceſſe an die Wirklichkeit unterliegen, und 
wenn ſelbſt auf anderen Planeten der bio— 
logiſche Proceß dem auf der Erde voll— 
ſtändig gleichen würde, ſo wären doch für 
ihre Bewohner ganz verſchiedene Stadien 
des Anpaſſungsproceſſes ihres Verſtandes 
an die Wirklichkeit anzunehmen. 

Die Erkenntnißtheorie weiſt alſo nach, 


reicher iſt, als die Vorſtellung deſſelben, 
und mehr enthält, als wahrgenommen wird, 
daß aber andererſeits jede Wahrnehmung 
Beſtandtheile enthält, welche dem Objekte 
nicht zukommen, alſo reicher iſt, als dieſes; 
denn die phyſiſchen Kräfte und Beweg— 
ungen in der Außenwelt, welche unſere 
peripheriſchen Sinne treffen und Empfind— 
ungen hervorrufen, haben gar keine Aehn— 
lichkeit mit der Weiſe, womit wir phyſiſch 
auf ſie reagiren. 

Wenn aber unſere Sinne nach Herak— 
lit's Ausdruck „Lügenſchmiede“ ſind, und 
andere Sinne ein ganz anderes Weltbild 
liefern würden, wenn ferner gleich den 
Sinnen auch unſer Intellekt nur in einem 
Stadium eines Anpaſſungsproceſſes an die 
Wirklichkeit ſich befindet, über welches die 
Bewohner unzähliger Welten längſt hinaus— 
gekommen ſein mögen; wenn alſo das 
menſchliche Bewußtſein nur eine Form des 
kosmiſchen Bewußtſeins iſt, dann kann die 
Frage nach der geiſtigen Natur der Plane— 
tenbewohner nicht ſo beantwortet werden, 
daß wir die innerhalb der irdiſchen Orga— 
nismenreife blos graduelle Verſchiedenheit 
der ſinnlichen Fähigkeiten und des Ver— 
ſtandes auch für andere Weltkörper nur 
graduell verſchieden, nur verringert oder ge— 
ſteigert uns denken, ſondern wir müſſen auch 
die Möglichkeit einer ganz anderen Erkennt— 
niß, der Qualität nach, anerkennen. Aber 
jeder intellektuelle Fortſchritt auf jedem 
Planeten kann nur dahin zielen, das Den— 
ken in immer größere Uebereinſtimmung 
mit den Dingen zu bringen. 

Mit dem gleichen Scepticismus, womit 
wir die Einflüſterungen unſerer Sinne auf- 
nehmen, dürfen wir auch den Ausſagen 
des Verſtandes gegenüber mißtrauiſch ſein; 


zu nehmen und nur die Rolle eines Ge— 
burtshelfers zu ſpielen, nachdem ihm Har— 
vey anheimgegeben habe, das Werk zu 
veröffentlichen oder nicht. Er durfte mit 
demſelben nach Belieben ſchalten und walten. 


Dieſe Thatſachen würden ſich allerdings 


zur Erklärung von Widerſprüchen verwer— 
then laſſen. 
nicht mehr ſo kritiſch wie der 50 jährige 
Entdecker des Kreislaufs, und ſein Freund 
nicht der gewiſſenhafte pietätvolle Ent ge— 
weſen, man könnte an Nachläſſigkeit und 
Textänderungen glauben. Nun verſichert 
aber Haller, das Buch ſei ſchon 1633 ge— 
ſchrieben worden und Harvey blieb be— 
kanntlich bis zu ſeinem Tode im achtzigſten 
Lebensjahre vollkommen geiſtesfriſch und 
immer dem Wahlſpruch getreu: Pauca sed 
matura. Unvollendet mag man ſeine Ar— 
beit, die Ent, ſein begeiſterter Verehrer, 


ihm entriß, wohl nennen, weil die Embryo 


logie der Inſekten u. A. ihr nicht den be— 
abſichtigten Abſchluß gab, aber unlogiſch 
iſt das Werk, wie es vorliegt, nicht. Viel— 
mehr ſteht es da als ein Denkmal eiſernen 
Fleißes und die reife Frucht vieljährigen 


Nachdenkens über ein ſcharf abgegrenztes 


Gebiet. Die Grabſchrift übertreibt nicht, 
wenn ſie ſagt: Ortum et generationem 
animalium solus omnium a pseudophilo— 
sophia liberavit. Seit Ariſtoteles war 
kein ähnlicher Forſcher aufgetreten. Er be— 


freite ſeine Zeitgenoſſen von dem geduldig 
ſondern er will damit ſagen, daß deren Eier 
Er be⸗ 


ertragenen Joche der Scholaſtik, er brachte 
Thatſachen, nicht bloße Annahmen. 
obachtete und experimentirte auf einem Ge— 
biete, auf dem noch niemals experimentirt 
worden war, nämlich mit ungeborenen Thie— 
ren. Er vertraute der Ueberlieferung in 
keinem Punkte und begründete die empiriſche 
experimentale phyſiologiſche Methodik, indem 
er die Nothwendigkeit eigener Wahrnehm— 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


Wäre der greiſe Harvey 


Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 399 


ung hervorhob. So betrachtete er z. B. 
von allen Menſchen zuerſt das eröffnete Ei 
mit dem Vergrößerungsglaſe und ſah na— 
türlich auch mehr als ſeine Vorgänger. 
Aber wenn er auch mit dem vollen Be— 
wußtſein des Gegenſatzes, in den er ſich 
dadurch zu allem Hergebrachten ſtellte, die 
empiriſche Methode vertrat, ſo beſchränkte 
er ſich doch nicht auf das Detail, vielmehr 
hat er kühn allgemeine Sätze aufgeſtellt, 
zu denen ſeine Beobachtungen ihn führten. 
Er als der erſte ſprach als ein Grundge— 
ſetz aus, daß alle Thiere in ihren erſten 
Entwickelungsſtadien ſich gleichen, ſo ver— 
ſchieden ſie auch ſpäter werden und ſo ver— 
ſchieden ſie auch innerlich ſeien. 

Und ein ſolcher Mann, deſſen Genius 
die Dunkelheit eines Jahrtauſends zerſtreute, 
ſollte wirklich einen ſolchen Widerſpruch ſich 
haben zu Schulden kommen laſſen, wie ſeine 
Kritiker behaupten? in ſeinem epochemachen— 
den Werk über die Erzeugung der Thiere 
zugleich die Entwicklung aller aus dem Eie 
und die Entwicklung einiger nicht aus dem 
Ei behauptet haben? 

Ich bin zu dem Ergebniß gelangt, daß 
der Widerſpruch nicht in Wahrheit exiſtirt. 
Er iſt nur durch das Mißverſtehen des 
Wortes ovum einerſeits und sponte anderer— 
ſeits entſtanden. Wenn Harvey ſagt cuncta 
animalia ex ovo und dann quaedam ani- 
malia sponte nascuntur, jo jagt er damit 
keineswegs, daß letztere nicht ex ovo ſtammen, 


oder eiartige Anfänge von ſelbſt, d. h. nicht 
durch geſchlechtliche Zeugung und nicht in 
allen Fällen von präexiſtirenden Organis- 
men hervorgebracht und nicht in der Weiſe 
befruchtet ſind, wie es bei Thieren der Fall 
iſt, die eine Art bilden (univocum prin- 
eipium). Folgende Stelle giebt hierüber 
unzweideutigen Aufſchluß: 


51 


| 
8 


Ex. 62: „Dieſen allen aber (mögen ſie 
von ſelbſt, oder aus anderen, oder in anderen, 
in deren verweſenden Theilen oder Excre— 
menten entſtehen) iſt gemeinſam, daß ſie 
aus einem dazu geeigneten Aufänglichen 
(principium) durch eine innere in ihm wirkende 
Urſache entwickelt werden, ſo daß allen 
lebenden Weſen ein Urſprüngliches 
zu Grunde liegt, aus welchem und 
von welchem ſie herſtammen. Es 
ſei uns geſtattet, dieſes das vegetale Ur— 
ſprüngliche zu nennen, nämlich eine gewiſſe 
körperliche Subſtanz, welche lebensfähig iſt, 
oder etwas für ſich Exiſtirendes, das ge— 
eignet iſt, in die vegetative Form durch die 
Thätigkeit des inneren Princips verwandelt 
zu werden. Was nämlich als Urſprung 
das Ei und der Samen der Pflanzen iſt, 
iſt auch das Empfängnißproduct der Leben— 
diggebärenden und der von Ariſtoteles ſo 
genannte Wurm der Inſekten. Denn die 
Anfänge der verſchiedenen lebenden Weſen 
find verſchieden (diversa seilicet diver- 
sorum viventium primordia), und ihrer 
mannigfaltigen Verſchiedenheit dienen bald 
dieſe, bald jene Arten der Erzeugung der 
Thiere. Aber in dem einen Punkt ſtimmen 
alle überein, daß ſie aus einem vegetalen 
Anfang entſpringen, als einer mit dem 
Vermögen der Entwicklung begabten Materie 
(tanquam e materia efficientis virtute 
dotata). Sie unterſcheiden ſich aber darin 
von einander, daß dieſe Anfangsform ent— 


weder von ſelbſt und zufällig auftritt oder 


von einem anderen Präexiſtirenden, wie eine 
Frucht, herſtammt. Daher jene von ſelbſt 
entſtanden, dieſe von Eltern erzeugt heißen. 
Und wiederum unterſcheiden ſie ſich durch 
die Geburt: die einen ſind ovipar, die anderen 
vivipar, denen Ariſtoteles die Vermiparen zu— 
geſellt. Wenn man aber danach, wie die 
Sache für die Beobachtung ſich verhält, 


400 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 


unterſcheiden ſoll, ſo giebt es nur zwei 
Arten der Geburt, weil alle Thiere ein 
neues Thier entweder aktuell oder potentiell 
gebären. Diejenigen, welche ein aktuelles 
Thier gebären, heißen lebendiggebärend, die 
ein potentielles Gebärenden eierlegend. Denn 
jedwede potentielhlebende Anfangs— 
form muß Ei genannt werden, ſo 
urtheilen wir mit Fabricius (ab Aqua- 
pendente). Und den Wurm im Sinne des 
Ariſtoteles trennen wir durchaus nicht vom 
Ei, erſtens weil er augenſcheinlich ſo ſich 
verhält, zweitens weil das mit der Ver— 
nunft im Einklang ſcheint. Denn die vegetale 
Anfangsform, mit potentiellem Leben (quod 
potentia vivit), iſt auch fähig, ein Thier 
zu werden (est etiam potentia animal). 
Auch iſt die von Ariſtoteles aufgeſtellte 
Unterſcheidung zwiſchen Ei und Wurm un— 
zuläſſig. . . Darin ſtimmen beide überein, 
daß ſie nicht lebende Gebärprodukte ſind, 
ſondern nur potentiell Thiere. Beide 
ſind alſo Eier.“ 

Hier iſt Harvey's Anſicht klar dargelegt. 
Das vegetale Primordium, die Anfangs— 
form, aus welcher alles Lebende letzter In— 
ſtanz hervorgeht, heißt heutzutage gewöhn— 
lich Protoplasma. Dieſes wird fähig 
ein Thier oder eine Pflanze zu werden, iſt 
potentiell Thier oder Pflanze. Es heißt 
dann Ei. Das lebensfähige Primordium, 
Ei genannt, entſteht nun, entweder indem 
die Materie ſich von ſelbſt und zufällig 
dazu verarbeitet (ova imperfecta), oder 
aus lebenden Weſen (ova perfecta et im- 
perfecta. Ex. 62). 

In beiden Fällen iſt das erſte Ent— 
wicklungsſtadium ein „Wurm“, ſo daß Har— 


vey nur conſequent iſt, wenn er Ex. 18 
ſagt: „Wir aber werden darthun, daß die 


erſte Entwicklung beliebiger Thiere in der— 
ſelben Weiſe beginnt, daß unzweifelhaft alle 


P ˙ A nn 


Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 


Thiere, auch die höchſten, in ähnlicher Weiſe 
aus einem Würmchen hervorgehen (e ver- 
miculo gigni).“ Den Unterſchied der Ent— 
wicklung des Wurmes (Keimes) und der 
„anderer“ Thiere ſieht Harvey darin, daß 
jener zuerſt wächſt und dann ſich geſtaltet 
oder in Theile gliedert, während dieſe 
ſchon gegliedert wachſen. In derſelben 18. 
Ex. heißt es: „Das iſt es, worüber wir 
uns wundern, daß die Anfangsformen (pri— 
mordia) aller Thiere, zumal der Blut— 
führenden (wie die des Hundes, Pferdes, 
Hirſches, Rindes, Huhnes, der Schlange, 
endlich des Menſchen ſelbſt) ſo deutlich die 
Geſtalt und Conſiſtenz eines Würmchens 
wiedergeben, das man ſie mit dem Auge 
nicht unterſcheiden kann.“ Aber in Wahr— 
heit find ihm in ihrem Inneren diversa 
diversorum animalium primordia, nur 
unerkennbar verſchieden. 

Die gegenwärtig immer wieder hervor— 
gehobene Uebereinſtimmung des Protoplasma 
der niederſten lebenden Weſen — zu ſeinen 
plantanimalia würde ſie Harvey ſtellen 
— der Pflanzenſamen und der Thiereier 
iſt in der 63. Ex. ausgeſprochen: „Was bei 
den von ſelbſt entftehenden Weſen das P ri— 
mordium heißt, heißt bei den Pflanzen 
der Samen, bei den eierlegenden Thieren 
das Ei, nämlich die körperliche Subſtanz, 
aus welcher durch ein bewegendes und wirken— 
des inneres Princip entweder ein Thier 
oder eine Pflanze erzeugt wird. Eben dieſes 
iſt bei der Erzeugung der Viviparen das 
erſte Empfängnißprodukt.“ 

Alſo alle lebenden Weſen entwickeln ſich 
aus dem Ei. Dieſes Ei wird entweder von 
vorhandenen lebenden Weſen erzeugt oder 
durch Urzeugung gebildet. 

Ex. 67: „Allen lebenden Weſen iſt ge— 
meinſam, daß ſie aus dem Samenkorn oder 
Ei entſpringen, ſei es, daß der Samen aus 


401 


Individuen derſelben Art ſtammt, ſei es, 
daß er durch Zufall anderswoher kommt.“ 
Vieles wird theils abſichtlich, theils zufällig 
erreicht, wie z. B. die Geſundheit, vieles 
nur abſichtlich, wie z. B. ein Haus, ſagt 
Die Zeugung gehöre 


Harvey (45. Ex.). 
zur erſteren Kategorie. 

Es kann hiernach keinem Zweifel mehr 
unterworfen ſein, daß ein Widerſpruch in 
dieſer Grundfrage nicht vorliegt. 

Aber damit iſt die Frage nicht beant— 
wortet, woher diejenigen Eier, Thiere und 
Pflanzen zuerſt hergekommen, welche nicht 
durch Urzeugung ſich bilden, ſondern nur 
von Organismen erzeugt werden ſollen? 

Was ſagt hierüber Harvey? 

Im vollen Gegenſatz zur modernen Ent— 
wicklungslehre behauptet er die Conſtanz 
der Species bei höheren Thieren. Während 
viele Organismen ihm zufolge keine Species 
bilden, nämlich die durch Urzeugung ent— 
ſtehenden, iſt der Wechſel von Huhn und 
Ei, von Ei und Huhn ohne Anfang und 
Ende, die Art unſterblich, das Ei eine Periode 
in dieſer Ewigkeit, Anfang und Frucht des 
individuellen Lebens der Artrepräſentanten. 
Er erörtert das alte Problem, ob das Huhn 
oder das Ei zuerſt war (EX. 28.) und 
kommt zu dem Schluß, daß ein höchſtes 
Princip — deſſen Name Gott, Natura 
naturans oder Weltgeiſt nichts zur Sache 
thue — den Zirkel in Bewegung erhalte, 
ebenſo wie den Lauf der Geſtirne. Dieſe 
Vis enthea oder dieſes göttliche Princip 
bleibt in alle Ewigkeit und iſt den Eltern 
wie den Eiern mit verſchiedenen Erſcheinungs— 
weiſen immanent, bald als Virtus plastica, 
bald als Virtus nutritiva, bald als Virtus 
auetiva; bald formt fie das Huhn, bald formt 
ſie das Ei, welche beide weder von der Natur, 
noch künſtlich in anderer Weiſe erzeugt werden 


können, als ſie jetzt erzeugt werden. In der 


402 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 


50. Ex. wird dieſes göttliche Princip als 
Schöpfer hingeſtellt, welcher die Urzeugung 
und Zeugung zu Stande kommen läßt. 
Aber es iſt nirgends geſagt, daß aus Nichts 
ein Thier geſchaffen wurde. Vielmehr hebt 
Harvey hervor (41. Ex.) daß viele Thiere, 
beſonders Inſekten, von unſichtbaren, in der 
Luft ſchwebenden, vom Winde da und dort— 
hin zerſtreuten Keimen abſtammen, welche 
man dennoch als von ſelbſt oder durch Fäul— 
niß entſtanden betrachte, weil ihre Keime 
nirgends ſich vorfinden. „Es iſt aber dieſe 
Speculation nicht unnütz für diejenige Philo— 
ſophie, welche lehrt, daß alles aus Nichts 
hervorgegangen ſei.“ 

Für Harvey iſt das lebensfähige 
Material gegeben und entwickelt ſich, wenn 
die dazu erforderlichen Bedingungen, die er 
z. Th. nennt, erfüllt ſind. Zur Kenn— 
zeichnung der Grundlinien ſeiner Anſicht 
über die Erzeugung der Thiere iſt noch er— 
forderlich, anzugeben, wie er über den Pro— 
ceß der erſten Entwicklung überhaupt dachte. 

Er ſpricht ſich (beſonders in der 72. 
Ex.) hierüber beſtimmt aus und behauptet 
namentlich gegen alles Hergebrachte mit Ent— 
ſchiedenheit, die Dinge ſeien nicht durch 
Syntheſe ihrer Elemente entſtanden, in die 
ſie vielmehr zerfallen, ſondern ſeien früher 
da, als ihre Elemente. Nachdem er die 
Entwicklung des Embryo als eine „Son— 
derung oder Gliederung von urſprünglich 
Homogenem“ charakteriſirt hat, nicht als Zu— 
ſammenſetzung von Homogenem und Hetero— 
genem und nicht als Sonderung von etwa 
urſprünglich Heterogenem, nachdem er ſein 
„ex similari dissimilare“ (aus dem Gleich 
artigen das Ungleichartige) begründet hat, 
ſagt Harvey: 

„Und ich glaube, daß daſſelbe geſchieht 
bei jeder Erzeugung; ſo daß die gleichartig 
gemiſchten Körper nicht ihre Elemente der 


Zeit nach früher haben, ſondern vielmehr ſelbſt 
früher als ihre Elemente exiſtiren (nämlich als 
des Empedokles und Ariſtoteles Feuer, Luft, 
Waſſer und Erde, oder als der Chemiker 
Salz, Schwefel und Queckſilber, oder als 
die Demokritiſchen Atome) wenn ſie auch 
ihrer Natur nach vollkommener ſind. Ich 
ſage das Gemiſchte und Zuſammengeſetzte 
iſt auch der Zeit nach früher, als irgend 
welche Elemente, in welche es zerſetzt wird 
und endigt; es wird nämlich in dieſelben 
aufgelöſt vielmehr im Gedanken, als der 
Sache nach und in Wirklichkeit. Daher 
ſind die ſogenannten Elemente nicht früher 
als diejenigen Dinge, welche erzeugt werden 
oder entſtehen, ſondern vielmehr ſpäter und 


eher Ueberbleibſel, als Anfänge. Selbſt Arifto- 


teles hat nicht und niemand anderes hat 
jemals bewieſen, daß die Elemente in der 
Natur getrennt exiſtiren oder die Anfänge 
der gleichartigen Körper ſeien.“ 

Ich geſtehe in hohem Grade überraſcht 
und befriedigt geweſen zu ſein, als ich bei 
einem Denker wie Harvey ſolches, fünf 
Jahre nachdem ſich mir ſelbſt ähnliche An— 
ſchauungen gebildet hatten, fand. Der Pro— 
teſt“) gegen Verſuche aus dem, was wir 
jetzt chemiſche Elemente nennen, durch Syn— 
theſe, ohne Vermittlung von Lebendem, etwas 
Lebensfähiges künſtlich herzuſtellen, wird 
noch geſtützt durch die andere Begriffsbe— 
ſtimmung Harvey's, welche ich gleichfalls, 
ohne damals ſeine Werke zu kennen, formu— 
firte**), daß nämlich non vivens, sed 
potentia vivens etwas weſentlich Anderes 
als non vivens iſt. Freilich findet bei 
Harvey dieſen Gedanken nur, wer ihn 
ſchon vorher hatte. 


) Kosmos I, S. 377. 
) Ueber die Erforſchung des Lebens. 
Jena 1873. S. 34. 


Br 


FE 


Die Infekten als unbewußte Blumenziüdter, 


Von 


Dr. Hermann Müller. 


S II. 


7 


0 

Fir haben bereits die Rolle ken- um ihrer prächtigen Farben und lieblichen 
| 7 nen gelernt, welche Fäulniß— | Wohlgerüche willen ſchätzen, haben ſicherlich 
ſtoffe liebende Dipteren als keine Veranlaſſung, dies ſonderlich zu be— 
ER | ſelbſtſtändige Blumenzüchter dauern. Weit umfaſſender iſt dagegen die 
ſpielen. Es empfiehlt ſich, ſogleich auch | mitwirkende Rolle, welche fie, im Ver— 
einen kurzen Hinblick auf ihre mitwirkende eine mit anderen kurzrüſſeligen Inſekten, 
Rolle daran anzuknüpfen, um ſodann, un- als unbewußte Kreuzungsvermittler ſpielen; 
behindert durch die Rückſicht auf dieſe un- aber natürlich können ſich ihre eigenthüm— 
ſauberen Gäſte, die Betrachtung der gemein- lichen Neigungen blumenzüchtend um ſo 
ſamen Blumenzüchtung der uns ſympathi- weniger geltend machen, je mehr ſich In— 
ſcheren kurzrüſſeligen Inſekten wieder auf- ſekten anderer Neigungen mit ihnen in den 
nehmen und weiterführen zu können. Beſuch der Blumen theilen. Zahlreiche 

Ekelblumen, Fallenblumen und Täuſch- Blumen einfachſter Form mit völlig offen 
blumen, nach dem jetzigen Stand unſerer liegendem, oder doch in der Nähe unmittel— 
Kenntniſſe die einzigen Züchtungsprodukte bar ſichtbarem Honig, wie z. B. die große 
der Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren für Mehrzahl der Umbelliferen, Alſineen, Cruci— 
ſich allein, finden ſich zwar in ſehr ver- feren u. A., werden daher, außer von 
ſchiedenen und weit aus einander ſtehenden mannigfachen kurzrüſſeligen Inſekten anderer 
Familien, aber im Ganzen doch in verhält- Ordnungen, auch ſehr häufig von Fliegen 
nißmäßig ſehr geringer Anzahl. Als beſucht und gelegentlich mit Pollen getrenn— 
ſelbſtſtändige Blumenzüchter haben alſo ter Stöcke befruchtet, ohne daß ſich unter 
dieſe in ihrer Geſchmacksrichtung fo ab- den Eigenſchaften dieſer Blumen irgend eine 
weichenden Inſekten eine nicht beſonders | fpeciell auf die Fliegen als Blumenzüchter 
erhebliche Bedeutung gehabt, und alle die- hinweiſende vorfände. Der offenliegende 
jenigen unter uns, welche die Blumen nur Honig ſolcher Blumen, ihre Farbe und ihr 


. n 148 a 


——. ... 


404 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Geruch ſind dann eben das Züchtungspro— 
dukt einer gemiſchten Geſellſchaft verſchieden— 
artiger kurzrüſſeliger Blumenzüchter. So— 
bald jedoch Fäulnißſtoffe liebende Dipteren 
als Beſucher und Kreuzungsvermittler offe— 
ner, allgemein zugänglicher Blumen eine 
entſchieden vorwiegende Rolle ſpielten, mußte 
beim Auftreten geeigneter Abänderungen 
auch die von ihnen geübte Blumenauswahl 
entſcheidend ſein und ihren Liebhabereien ent— 
ſprechende Farben und Gerüche oder beides 
züchten. Wurde beides, Ekelfarben und 
ausgeprägte Ekelgerüche gezüchtet, ſo blieben 
die übrigen Beſucher zurück, und aus den 
urſprünglich für alle Inſekten offenen Tiſch 
darbietenden Blumen entſtanden, wie wir 
bereits geſehen haben, Ekelblumen. Wurden 
dagegen, wenn geeignete Geruchsabänder— 
ungen eben niemals auftraten, nur dem 
Fliegengeſchmacke entſprechende Farben ge— 
züchtet, ohne Ekelgerüche oder mit nur 
ſchwacher Ausprägung derſelben und daher 
ohne oder mit nur theilweiſer Zurückſchreck— 
ung der anderen Gäſte, ſo entſtanden Blu— 
men, die zwar überwiegend von Fliegen, 


daneben jedoch von einem bunten Gemiſch 


mannigfacher anderer kurzrüſſeliger Inſekten 
beſucht und gelegentlich befruchtet werden, 
wie die ſchmutzig grüngelben Blumen von 
Ruta graveolens, Veratrum album, Rhus, 
Rhamnus, Acer, Hedera, Euphorbia 
und mancher Umbelliferen. 

Die Erfolge, welche die Fäulnißſtoffe 
liebenden Dipteren theils als ſelbſtſtändige, 
theils als mitwirkende Blumenzüchter er— 
reicht haben, ſind hiermit hinreichend ange 
deutet, und wir verabſchieden nun dieſe ebenſo 
zudringlichen als uns antipathiſchen Gäſte, um 
zu der uns ſympathiſchen Geſellſchaft der übri— 
gen Blumenbeſucher zurückzukehren, welche in 


Bezug auf Farben-„Geruchs-und Geſchmacks- 


ſinn im Ganzen uns gleich gerichtet ſind. 


Da ſich nun ein langer Rüſſel, wie 
ſein ausſchließlicher Gebrauch zur Gewinn— 
ung tief geborgenen Blumenhonigs und die 
noch jetzt vorhandene Stufenleiter verſchie— 
dener Längen beweiſt, bei allen blumenbe— 
ſuchenden Inſektenabtheilungen, welche heute 
langrüſſelige Arten aufzuweiſen haben (Flie— 
gen, Schmetterlinge, Bienen !)), erſt nach 
dem Uebergange zur Blumennahrung und 
als Anpaſſung an erfolgreichere Gewinnung 
derſelben ausgebildet haben kann, ſo haben 
wir uns im Anfange der Entwickelung der 
Blumenwelt lauter kurzrüſſelige Blumen— 
züchter vorzuſtellen. Wollen wir daher die 
ſtufenweiſe Ausbildung der Blumeneigen— 
thümlichkeiten ſo viel als möglich in gene— 
tiſcher Reihenfolge uns klar zu machen ſuchen, 
ſo müſſen wir zunächſt 

II. die bunte Geſellſchaft ur— 
ſprünglicher kurzrüſſeliger Blü— 
thenbeſucher als unbewußte Blu— 
menzüchter 
unſerer weiteren Betrachtung unterwerfen 
und zu ermitteln ſuchen, welche Blumen— 
eigenthümlichkeiten außer der bereits erörter— 
ten Augenfälligkeit und dem in manchen 
Fällen vielleicht ſchon früh ſie begleitenden 
Wohlgeruche der vereinten Thätigkeit der— 
ſelben ihre Ausprägung verdanken. 

Wir verſetzen uns alſo im Geiſte auf 
diejenige Stufe der Blumenentwickelung, 
auf welcher nicht nur durch Zwitterblüthig— 
keit und Klebrigkeit des Pollens Kreuzung 
durch beſuchende Inſekten ermöglicht und 
durch erſtere zugleich der Nothbehelf der 
Selbſtbefruchtung bei ausbleibendem Inſek— 
tenbeſuche gewonnen, ſondern auch eine ver— 


) Nur bei den Schnabelkerfen (Hemip- 
tera) iſt die Rüſſelausbildung offenbar unab— 
hängig vom Blumenbeſuche erfolgt; dieſe haben 
aber auch noch jetzt als Kreuzungsvermittler 
der Blumen faſt gar keine Bedeutung. 


größerte buntgefärbte, in manchen Fällen 
vielleicht auch ſchon wohlriechende Blüthen- 
hülle durch die urſprünglichſten Beſucher 
bereits gezüchtet, der entbehrlich gewordene 
koloſſale Pollenüberfluß der windblüthigen 
Stammeltern durch Naturausleſe bereits 
beſeitigt war und fragen uns: Unter welcher 
Form haben wir uns dieſe Urblumen vor— 
zuſtellen? Welche weiteren von den mannig— 
fachen ſonſtigen Eigenthümlichkeiten höher 
entwickelter Blumen konnten und mußten 
beim Auftreten geeigneter Abänderungen 
ſchon von der bunten Geſellſchaft urſprüng— 
lich kurzrüſſeliger Gäſte gezüchtet werden? 

Nächſt den als bereits gewonnen vor— 
ausgeſetzten Ausrüſtungen iſt Honigabſon— 
derung die am allgemeinſten verbreitete 
Blumeneigenthümlichkeit; ſie iſt es alſo, 
deren Ausprägung den oben genannten erſten 
Schritten der Blumenzüchtung in der Regel 
zunächſt gefolgt ſein wird. Bei der großen 
Vorliebe, mit welcher wir heute Inſekten 
aller Ordnungen dem Blumenhonige nach— 
gehen ſehen, während Blüthenſtaub einen 
weit beſchränkteren Kreis von Conſumenten 
an ſich zieht, iſt es ja auch unſchwer ein— 
zuſehen, daß Honig abſondernde Blumen— 
abänderungen, wo ſie auch auftraten, zum 
Siege über die honigloſen Stammformen 
gelangen mußten, wofern nicht etwa bejon- 
ders ungünſtige Umſtände, wie z. B. auf 
entlegenen oceaniſchen Inſeln, einen großen 
Mangel an Inſekten verurſachten. Denn 
nicht nur wurde durch Honigabſonderung 
ſchon bei den urſprünglichſten Blumen der 
Beſucherkreis erweitert, indem außer pollen— 
freſſenden ſich nun auch honigleckende Kä— 
fer und Fliegen, außerdem aber Phryga— 
niden, Blatt- und Schlupfweſpen *) als 


) Schmetterlinge und Bienen haben ſich 
augenſcheinlich erſt im weiteren Verlaufe der 
Blumenausbildung entwickelt, erſtere vermuth— 


— —ü— ö... 8 
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blum enzüchter. 405 


Beſucher einfanden, ſondern auch die alten 
Beſucher zogen jedenfalls, wenn ſie die Aus— 
wahl hatten, Blumen, die ihnen neben dem 
Blüthenſtaube auch noch Honig darboten, 
honiglofen vor. Die geſammte bunte Ge— 
ſellſchaft urſprünglicher kurzrüſſeliger Blu— 
menbeſucher war alſo an der Züchtung 
honighaltiger Abänderungen betheiligt. 

Es läßt ſich indeß bei einem Ueberblicke 
über die Blumenwelt leicht erkennen, daß 
Honigabſonderung nicht etwa blos von den 
älteſten Blumen, denen nur kurzrüſſelige 
Gäſte zu Theil wurden, erworben und auf 
die ſpäteren Geſchlechter nur durch Vererb— 
ung übertragen worden iſt. Vielmehr 
müſſen in den aller verſchiedenſten Zeit— 
epochen, von jener Jugendperiode der Blu— 
menwelt an, da der Metaſpermenſtamm noch 
eine geringe Zahl verſchiedener Zweige dar— 
bot, bis zur Gegenwart herab, honigabſon— 
dernde Abänderungen aufgetreten, von den 
Inſekten bevorzugt und weiter gezüchtet 
worden ſein. Denn während bei manchen 
ſehr umfaſſenden Familien, wie z. B. Um⸗ 
belliferen, Labiaten, Compoſiten, beſtimmte 
Formen der Honigabſonderung als Fami— 
liencharaktere auftreten, welche ſchon von 
den Stammeltern derſelben erworben ſein 
müſſen, bieten zahlreiche andere Familien, 
z. B. Ranunculaceen, Solaneen, Scrophu— 
lariaceen, Gentianeen, Primulaceen, neben 
einander honiglofe und honighaltige Gatt— 
ungen dar; von den honighaltigen Gatt— 
ungen haben wiederum die einen eine be— 
ſtimmte Form der Honigabſonderung als 
Gattungscharakter, alſo von den Gattungs— 
ſtammeltern, ererbt, wie z. B. Aconitum, 
Aquilegia, Primula, die anderen ſpalten 
ſich in Zweige mit eigenthümlicher, alſo 


lich aus Phryganiden, letztere aus der den 
Ichneumoniden entſtammenden Familie der 
Grabweſpen. 


2 


406 


entweder ſelbſtſtändig erworbener oder we— 
nigſtens ſelbſtſtändig ausgeprägter Form 
der Honigabſonderung, wie z. B. Gentiana 
(vergl. Kosmos, Bd. I. S. 162). 

Ganz beſonders lehrreich in Beziehung auf 
das verſchiedene Alter der Nektarien iſt die 
Familie der Ranunculaceen. Denn neben 
honigloſen Gattungen (Anemone, Tha- 
lietrum, Adonis) umſchließt fie andere, die 
aus den Kelchblättern (Paeonia), andere, 
die in den mannigfachſten Formen aus den 
Blumenblättern (Ranunculus, Myosurus, 


Müller, Die Inſekten als unbewußte ĩI, 


Trollius, Eranthis, Helleborus, Aconi- 
tum, Delphinium, Aquilegia, Nigella), 
A die aus umgebildeten Staubfäden 
(Clematis), andere, die aus umgebildeten 
Staubbeuteln (Pulsatilla), andere endlich, 
die aus den Fruchtblättern (Caltha), Honig 
abſondern, und liefert damit den Beweis, 
daß fie, von honigloſen Stammeltern ab- 
ſtammend, erſt nach der Zerſpaltung in 
zahlreiche Familienzweige auf den allerver— 
ſchiedenſten Wegen zur Honigabſonderung 
gelangt iſt. 


Fig. 5. 

Ranunculus 
Und da manche ihrer Gattungen in der 
Nektarienbildung in allen ihren Arten im 
Weſentlichen übereinſtimmen (3. B. Pulsa- 
tilla, Aquilegia, Aconitum, Nigella), 
andere dagegen honighaltige neben honigloſen 
Arten enthalten (3. B. Paeonia, Clematis), 
ſo zeigt ſie uns ferner, daß inmanchen Fällen 
die Honigabſonderung ſchon bei den Stamm— 
eltern der Gattungen, in anderen erſt bei 
den Stammeltern der Artenzur Ausprägung 
gelangt iſt. Endlich kommen, um die Alters— 
ſtufenleiter bis zur Gegenwart herab zu 
vervollſtändigen, in der Familie der Ranun— 


Variabilität der Nektarienbildung innerhalb derſelben Art, 


pyrenaeus. 


culaceen ſelbſt Arten vor, welche neben 
einander honigloſe und honighaltige In— 
viduen, letztere mit denauffallendſten Ver— 
ſchiedenheiten in der Ausbildung der Nek— 
tarien, darbieten. Eine Veranſchaulichung 
dieſer Thatſache geben die beifolgenden Nek— 
tarienformen von Ranunculus pyrenaeus, 
die ich gleichzeitig (5. Aug. 1877) neben 
einander an demſelben Standorte (im Heu— 
thale am Bernina) beobachtete.“) 


0 Eine andere Reihe derartiger Varia— 
tionen habe ich auf S. 117 meines Werkes 
„Ueber Befruchtung der Blumen“ dargeſtellt. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Die andere der beiden oben aufgeworfe— 
nen Fragen modificirt ſich nun dahin: Wie 
haben wir uns jene zwitterblüthigen!) 
Urblumen vorzuſtellen, an welchen zuerſt 
Honigabſonderung aufgetreten und durch eine 
gemiſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger Beſucher 
zur dauernden Eigenſchaft gezüchtet worden 


iſt? Eine einfache biologiſche Betrachtung 


ergiebt, daß es nur offene regelmäßige Blu— 
men einfachſter Form geweſen ſein können. 
Denn zu ſolchen werden wir mit Noth— 
wendigkeit geführt, wenn wir von irgend 
welchen unregelmäßigen und complicirter 
gebauten honighaltigen Blumen alle Röh— 
ren und Sporen, alle Bergungen und Ver— 
ſteckungen des Honigs, welche einen ſchon 


verlängerten Rüſſel und eine ſchon geſchärfte 


Blumeneinſicht der Beſucher vorausſetzen 
laſſen, ſowie alle einſeitigen Geſtaltungen, 


die ſich augenſcheinlich als Anpaſſungen an 
beſtimmte Beſucherkreiſe ausgebildet haben, 


hinwegdenken. Nachdem wir aber die ko— 
loſſale Altersverſchiedenheit der Nektarien 


kennen gelernt haben, ſchließt ſich an die | 


jo eben beantwortete unmittelbar die weitere 
Frage an: Sind die in ſpäteren Perioden 
bis zur Gegenwart herab neu aufgetretenen 
Nektarien an immer höher und höher ent— 
wickelten Blumenformen zum Vorſchein ge— 
kommen oder an Blumenformen, welche 
noch eben ſo einfach, offen und regelmäßig 
waren, als jene zuerſt honighaltig geworde— 
nen Urblumen? Wenn wir die in ſehr 
verſchiedenen Zweigen des Metaſpermen— 
ſtammbaumes ſich darbietenden Abſtufungen 
von gleichförmigen einfacheren zu nach ver— 
ſchiedenen Richtungen hin differencirten com— 


) Ausdrücklich ausgeſchloſſen von den 
folgenden Schlußfolgerungen bleiben diejeni— 
gen Blumen, welche, wie Salix, mit Beibehalt- 
ung der Getrenntgeſchlechtigkeit direkt zur In— 
ſektenblüthigkeit übergegangen ſind. 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


407 


plicirteren Blumenformen vergleichend über— 
blicken, ſo können wir über die richtige 
Antwort auf dieſe Frage kaum zweifelhaft 
bleiben; denn in allen Fällen, in denen 
uns eine hinreichende Stufenfolge ſteigender 
Complicirtheit und Differencirung vorliegt, 
gelangen wir, indem wir dieſelbe in ab— 
ſteigender Richtung verfolgen, ſchließlich zu 
ſehr einfachen, regelmäßigen, offenen Blu— 
menformen, als denjenigen, bei denen die 
Honigabſonderung begonnen haben muß. 
Um nur einzelne größere und kleinere Me— 
taſpermenabtheilungen beiſpielsweiſe heraus— 
zugreifen, ſo ſteigen wir in der Ordnung 
Rhoeades, von den unregelmäßigen honig- 
haltigen Fumariaceen Corydalis und Fu— 
maria durch Dielytra und Adlumia zu 
Hypecoum und von da zu regelmäßigen, 
einfachen, offenen und noch honigloſen Papa— 
veraceen hinab; in der Familie der Ra— 
nunculaceen gelangen wir von den com— 
plicirten und unregelmäßigen, in verſchiedener 
Weiſe einſeitig den Hummeln angepaßten 
Gattungen Delphinium, Aconitum, Aqui- 
legia zu regelmäßigen, einfachen, offenen, 
theils honighaltigen, theils honigloſen For— 
men (Ranunculus, Anemone), in der Gatt— 
ung Gentiana von den durch Gitter oder 
erweiterte Narben verſchloſſenen Blumen- 
röhren der Untergattungen Endotricha und 
Cyelostigma und den Blumenglocken der 
Untergattung Coelanthe zu der zwar be— 
reits honighaltigen, aber noch höchſt einfachen 
und völlig offenen Blumenform der G. 
Iutea.*) Selbſt die Nektarien jüngſten 
Datums, die an einzelnen Arten ſonſt honig— 
loſer Gattungen auftreten, wie z. B. (nach 
Delpino) an gewiſſen Paeonia-Arten, an 
Clematis balearica, integrifolia u. A., 


) Siehe Kosmos, Bd. I. S. 162. (wo 
aus Verſehen Cyelanthera ſtatt Cyelostigma 
gedruckt iſt). 


A 


408 


finden ſich in Blumenformen, die an Ein— 
fachheit, Offenheit und Regelmäßigkeit der 
Vorſtellung, die wir uns von den zuerſt 
honighaltig gewordenen Urblumen bilden 
mußten, gleichkommen. 

Nehmen wir nun vorausgreifend noch 
hinzu, daß an der Ausbeutung ſo offener, 
flacher, wenig ausgiebiger Honigquellen, wie 
die Nektarien in ihrer urſprünglichen Form 
immer ſind, auch heutzutage faſt ausſchließ— 
lich kurzrüſſelige Beſucher ſich betheiligen, 
während die langrüſſeligeren eben durch 
ihre längeren Rüſſel die körperliche und 
durch die mit der Rüſſellänge zugleich ge— 
ſteigerte Blumeneinſicht die geiſtige Fähig— 
keit erlangt haben, die ergiebigeren tieferen 
und verſteckteren Nektarien aufzuſuchen und 
auszubeuten, ſo ergeben ſich aus unſerer Um— 
ſchau als ſehr wahrſcheinlich folgende Sätze: 

1. Alle honighaltigen Blumen ſind zur 
Zeit, als ſich zuerſt Honigabſonderung bei 
ihnen einſtellte, einfach, offen und regel— 
mäßig geweſen. 

2. Die zuerſt als individuelle Abänder- 
ung aufgetretene Honigabſonderung iſt — 
abgeſehen von Ekelblumen — ſtets durch 
eine gemiſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger In— 
ſekten zur bleibenden Eigenthümlichkeit ge— 
züchtet worden. 

3. Aus einfachen offenen, honighaltigen 
Blumen, die einer gemiſchten Geſellſchaft 
der verſchiedenſten Inſekten zugänglich und 
gelegentlicher Kreuzung durch dieſelben aus— 
geſetzt waren, ſind im Laufe der weiteren 
Entwickelung vielfach kürzer und länger röh— 
rige, bilateral ſymmetriſche und ſelbſt un— 
ſymmetriſche“) Blumenformen hervorgegan 
gen, die nur noch beſchränkteren Beſucher— 
kreiſen oder ſogar nur noch ganz beſtimmten 
Inſektenformen zugänglich ſind. (Welche 


tung S. 257) Pedicularis (daſelbſt S. 300). 


*) 3. B. Phaseolus (H. Müller, Befruch- 
Anhalt dazu bietet der als einfache Conſe— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Rolle bei dieſer Umbildung Naturzüchtung 
und Blumenauswahl der Inſekten geſpielt 
haben, bleibt näher feſtzuſtellen.) 

4. Der Uebergang einfacher, offener, 
regelmäßiger Blüthen aus dem honigloſen 
in den honighaltigen Zuſtand und ihre 
Umbildung in röhrige und einſeitige Blu— 
menformen iſt in den verſchiedenſten Zeit— 
epochen erfolgt. Neben den honighaltigen 
find aber bis in die Gegenwart herab honig— 
loſe, neben den röhrig oder bilateral ſym— 
metriſch gewordenen bis in die Gegenwart 
herab einfache, offene, regelmäßige Blumen— 
formen erhalten geblieben. 


Nachdem wir nun über das erſte Ent— 
ſtehen der Honigabſonderung, ſo weit es die 
vorliegenden Thatſachen geſtatten, uns eine 
beſtimmte Vorſtellung gebildet haben, tritt 
die Frage an uns heran: Wie ſind aus 
den urſprünglichen offenliegenden Nektarien 
die, eben weil es ihnen an Vertiefung fehlte, 
nur eine flache, wenig ausgiebige Honig- 
ſchicht darbieten konnten, jene tieferliegenden, 
honigreicheren Nektarien geworden, welche 
von allen langrüſſeligeren Beſuchern vor— 
zugsweiſe aufgeſucht und ausgebeutet werden? 
Welche Rolle hat die Blumenzüchtung der 
Inſekten, welche Rolle hat Naturzüchtung 
dabei geſpielt? Haben ſich zuerſt die Rüſſel 
der blumenbeſuchenden Inſekten verlängert 
und als Anpaſſung an dieſelben dann erſt 
tieferliegende Nektarien ausgebildet oder um— 
gekehrt? 

Offenbar iſt es unmöglich, durch Ver— 
gleich der Röhrenlängen und Rüſſellängen 
der heutigen Blumenbeſucher der Löſung dieſer 
Frage näher zu kommen, da eben beide alle 
Abſtufungen von ihrem Maximum bis zu 
Null hinab darbieten. Den einzigen feſten 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


quenz der Selektionstheorie ſich ergebende 
Satz, daß nur dem Juhaber ſelbſt nützliche 
Abänderungen zur Ausprägung gelangen 
konnten. Nun iſt es augenſcheinlich, daß, 
ſo lange es nur offen liegenden Honig gab, 
eine Rüſſelverlängerung den dieſen Honig 
aufſuchenden Inſekten keinerlei Vortheil ge— 
währen konnte. Wohl aber konnte umge— 
kehrt, auch ſo lange es nur kurzrüſſelige 
Blumenbeſucher gab, eine tiefere Lage des 
Nektariums den Pflanzen von weſentlichſtem 
Nutzen ſein, ſofern ſie eine reichlichere An— 
ſammlung des Honigs ermöglichte und einen 
Schutz dieſes koſtbaren Anlockungsmittels 
gegen Regen mit ſich brachte. Es kann 
daher kaum einem Zweifel unterliegen, daß 
die erſten und einfachſten Bergungen des 
Honigs unter einem Schutzdache von Här— 
chen, wie bei Geranium und Malva, oder 
in den Grund eines durch Verwachſung der 
Blumenblätter gebildeten kurzen Röhrchens, 
wie bei Veronica hederaefolia u. a., oder 
in die tiefſten Winkel einer bei trübem Wetter 
ſich weiter zuſammenſchließenden offenen 
Schale von Blumen und Kelchblättern, wie 
bei vielen Alſineen, der erſten Steigerung der 
Rüſſellänge der Blumenbeſucher vorausge— 
gangen ſein muß.) Und zwar muß es, 
da Blumenhonig den Pflanzen nur mittel— 


) Ebenſo unabweisbar wie dieſe Schluß— 
folgerung, ebenſo unhaltbar iſt die Anſicht 
derjenigen Botaniker, welche die „Saftdecken“ 
ausſchließlich als Schutzmittel des Honigs 
gegen kurzrüſſelige Beſucher gelten laſſen wollen, 
wie Delpin o (Ulteriori osservazioni II. p. 
109) und Kerner (Schußmittel der Blüthen 
gegen unberufene Gäſte S. 38, Anm. 2). 
Beide haben eben nur weit höher ausge— 
bildete Blumen im Sinne, deren Honig ſchon 
auf andere Art gegen Regen geſchützt iſt, und 
bei denen dann in der That die Saftdecke 
nur als Schutzmittel des Honigs gegen furz- 
rüſſelige Beſucher dient. 


% 


bar durch Anlockung der Kreuzungsvermittler 
nützlich iſt, die von den urſprünglichen kurz— 
rüſſeligen Beſuchern ſelbſt geübte Blumen— 
auswahl geweſen ſein, welche die angedeu— 
teten Bergungen des Honigs, wo ſie als 
individuelle Abänderungen auftraten, als 
bleibende Eigenſchaft gezüchtet hat. In 
regneriſchen Witterungsperioden mußte ſich 
ja ganz natürlich die Auswahl der honig— 
ſuchenden Inſekten von den dem Regen ſchutz— 
los preisgegebenen Honigblumen ab und den— 
jenigen zuwenden, deren Honig durch Regen 
unberührt blieb. Und in jeder Witterung 
mußten wenigſtens die bereits blu menſtet 
gewordenen d. h. mit ihrem Nahrungsbe— 
darf auf die Blumen beſchränkten Beſucher 
in Vertiefungen zurückgezogene, honigreichere 
Nektarien den offen liegenden, nur eine flache 
adhärirende Honigſchicht darbietenden vor— 
ziehen — vorausgeſetzt natürlich, 
daß fie dieſelben leicht genug auf— 
zufinden vermochten! Wurde dieſe 
Vorausſetzung nicht erfüllt, traten vielleicht 
ſogar individuelle Abänderungen mit ſolcher 
Bergung des Honigs auf, daß derſelbe der Auf— 
findung ganz entging, ſo war natürlich aller 
Schutz gegen Regen, alle reichlichere An— 
häufung des ſüßen Naß ganz vergeblich, 
und die bezeichneten Abänderungen hatten 
ebenſo wenig Ausſicht, von honigeifrigen 
Inſekten ausgewählt und durch Kreuzung 
vermehrt zu werden, als etwaige völlig 
honigloſe Concurrenten. Nur in dem Falle 
konnte daher, mußte dann aber auch, völlig 
geborgener Honig die bevorzugte Auswahl 
gerade der honigbefliſſenſten Inſekten an ſich 
feſſeln und dadurch den Blumen noch weit 
nützlicher werden, als der urſprüngliche all- 
gemein zugängliche, offene Honig, wenn 
gleichzeitig mit der Bergung ein den einſich— 
tigeren Blumengäſten auf den erſten Blick ver— 
ſtändliches Kennzeichen des Nektariums auftrat. 


ä 


Fig. 6. Eine einfache, offene, regelmäßige Blüthe, welche außer einem 
Nektarium auch bereits Safthalter, Saftdecke und Saftmal in einfachſter 
Ausbildung erlangt hat (Potentilla minima). 

A Blüthe gerade von oben geſehen (7 : 1). B Längsſchnitt durch dieſelbe. C Oberer Theil 
eines Staubgefäßes, Staubbeutel ſeitlich aufgeſprungen (35 : 1). a Aeußerer, b innerer 
Kelchzipfel, e Blumenblatt, d Staubgefäß, e gelb gefärbter, fleiſchiger Ring, welchem die, 
Staubgefäße aufſitzen und welcher zugleich den Honig abſondert (Saftdrüſe Sprengel's 
Nektarium), k nach innen abfallende, orangefarbene Fläche des fleiſchigen Ringes, welche ſich 
mit einer Honigſchicht bedeckt (Safthalter Sprengel's), g Ring von Haaren, welche den 
Honig ſchützend überdecken (Saftdecke Sprengel's), h orangefarbener Fleck an der Baſis 
jedes (goldgelben) Blumenblattes, welcher auf den verſteckten orangefarbenen Safthalter hin— 
weiſt (Saftmal Sprengel's), i Stempel. 

Beim Auftreten geeigneter Abänderungen anzubahnen. Denn wie ſich von ſelbſt ver— 
konnte es alſo nicht ausbleiben, daß die ge- | fteht, gehört ein gewiſſer Grad von Einficht 
miſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger Inſekten, dazu, um aus lebhaft gefärbten Flecken oder 
nachdem ſie ſich ſelbſt in den Blumen regel- Linien, welche nach beſtimmten Stellen zu— 
mäßig fließende Honigquellen (Nektarien oder ſammenlaufen, auf dort geborgen liegenden 
Saftdrüſen) gezüchtet hatten, ſich auch tiefere Honig zu ſchließen, ein Grad von Einſicht, 
Behälter des Honigs (Safthalter), Schutz- zu deſſen Gewinnung außer einer ganz auf 
mittel derſelben gegen den Regen (Saftdecken) die Blumen concentrirten Aufmerkſamkeit die 
und gleichzeitig leicht ſichtbare Kennzeichen des oft wiederholte gleichzeitige Erregung zweier 
geborgenen Honigs (Saftmale) züchteten — Vorſtellungen, nämlich derjenigen lebhaft 
aber freilich nicht mehr mit gleichmäßiger gefärbter Zeichnung und derjenigen geborgenen 
Betheiligung an der Blumenzüchtung, und Honigvorraths, nothwendige Vorbedingung 
nicht, ohne damit eine Sonderung der iſt. Und wie ſich ebenfalls von ſelbſt ver— 
Blumenbeſucher in kurzrüſſelige und lang- ſteht und durch die Beobachtung blumen— 
rüſſelige, der Blumen in allgemein zugängliche beſuchender Inſekten tauſendfach beſtätigt wird, 
und beſchränkteren Beſucherkreiſen angepaßte haben die unſteten, mehr zufälligen Blumen— 


ff 
Müller, Die Inſekten als 


beſucher dieſen Grad von Einſicht nicht er— 
langt, ſondern ausſchließlich blumenſtete, 
honigeifrige, wenn auch dabei kurzrüſſelige 
Inſekten. Aus der bunten Geſellſchaft aller 
möglichen kurzrüſſeligen Inſekten ſind alſo 
durch ihre Bevorzugung geborgener, honig- 
reicherer Nektarien die zwar ebenfalls noch 
kurzrüſſeligen, aber bereits blumenſtet ge— 
wordenen als eine beſondere Blumenzüchter— 
geſellſchaft herausgetreten und haben ſich, 
zunächſt in einfachen, offenen, regelmäßigen 
Blumen, reichlicher fließende, gegen den Regen 
geſchützte Honigquellen zu ihrer alleinigen 
Ausnutzung gezüchtet. Obgleich ſie nun 
dieſelben auch mit ihren urſprünglichen kurzen 


vergleiche die vorangehende Abbildung), ſo 
verurſachte ihnen doch das Hinabzwängen 
des ganzen Kopfes zwiſchen eng an einander— 
liegenden Theilen hindurch nach dem ge— 


borgenen Honige hin unvermeidlich ſoviel 


Unbequemlichkeit und Zeitverluſt, daß alle 
etwa auftretenden, etwas langrüſſeligeren Ab— 
änderungen im Wettkampfe um das Daſein 
in bedeutendem Vortheile waren und über 
ihre kurzrüſſeligeren Concurrenten den Sieg 
erringen mußten. 

Durch ihre Züchtung geborgenen Blumen— 
honigs eröffneten alſo die blumenſteten In— 
ſekten zugleich der Naturzüchtung die Bahn, 
ihre eigenen Rüſſel zu verlängern, und es 
iſt leicht einzuſehen, daß derſelbe urſächliche 
Zuſammenhang, welcher die erſten Schritte 
von Honigbergung und Rüſſelverlängerung 
leitete, auch weitere Schritte in derſelben 
Richtung herbeiführen mußte. 

Denn ebenſo wie ſich zuerſt durch die 
verſchiedenen Neigungen und Lebensgewohn— 
heiten der verſchiedenen Inſekten ein Unter— 
ſchied zwiſchen zufälligen und ſteten Blumen⸗ 
beſuchern ausgebildet hatte, ebenſo mußte 
ſpäter aus demſelben Grunde eine immer 


unbewußte Blumenzüchter. 


reicher gegliederte Differenzirung der blumen— 
ſteten Inſekten in trägere und fleißigere, 
in langſamer und ſchneller arbeitende, in 
weniger oder mehr der Blumennahrung 
bedürftige erfolgen; und da die letzteren offen— 
bar beſtändig in der lebhafteſten Concurrenz 
um die tiefſten und ergiebigſten Nektarien 
ſich befanden, ſo mußte gerade bei ihnen jede 
Abänderung mit etwas geſteigerter Rüſſellänge 
am meiſten Ausſicht haben, durch Natur— 
ausleſe erhalten und in gleicher Richtung 
weiter ausgeprägt zu werden. 

Ebenſo ferner, wie es anfangs den Blumen 
vortheilhafter war, ausſchließlich, aber um 


ſo eifriger, von blumenſteten, als frei, aber 
Rüſſeln noch zu entleeren vermochten (man 


weniger eifrig, von allen möglichen Gäſten 
beſucht zu werden, ebenſo mußte es auf 


jeder weiteren Stufe der Blumenentwickelung 


die Wahrſcheinlichkeit der Kreuzungsvermittel— 
ung erhöhen, wenn fleißigere, ſchneller ar— 
beitende, der Blumennahrung in höherem 
Grade bedürftige und unter dem Einfluſſe 
dieſer Eigenſchaften durch Naturzüchtung lang— 
rüſſeliger gewordene Inſekten die ausſchließ— 
lichen aber um ſo eifrigeren Beſucher einer 
Blume wurden. So mußte denn in ſtufen— 
weiſer Steigerung Naturzüchtung die blumen- 
eifrigſten Inſekten immer langrüſſeliger, und 
die von den langrüſſeligſten Inſekten aus— 
geübte Blumenzüchtung die von ihnen bevor— 
zugten Blumen immer langröhriger machen 
und damit auf einen immer engeren Kreis 
von Kreuzungsvermittlern und Blumen— 
züchtern beſchränken. 

Verſchiedene Blumenfamilien bieten uns 
noch heute eine Stufenfolge verſchiedener 


Röhrenlängen und dem entſprechend ſtufen— 


weiſe mehr eingeengter Beſucherkreiſe dar, 
welche uns die auf einander gefolgten Schritte 
der Honigbergung und Rüſſelverlängerung, 
die wir ſo eben im Allgemeinen uns klar 
zu machen verſucht haben, im Einzelnen 


veranſchaulichen. Wir beſchränken uns hier 
darauf, auf die Familie der Caryophylleen 
hinzuweiſen. In dieſer folgen auf die 
offenen Blüthen der Alſineen, deren Honig 
vorzugsweiſe von kurzrüſſeligeren Gäſten 
(Käfern, Blattwespen, unausgeprägteſten 
Bienen, beſonders aber Fliegen), weit ſeltener 
von Faltern und der Honigbiene ausgebeutet 
wird, die Sileneen mit ſtufenweiſe geſteigerter 
Länge der Kelchröhren und ſtufenweiſe be— 
ſchränkterem Beſucherkreiſe. Z. B. zeigen 
die 2½ Millimeter tiefen und am Eingange 
ebenſo weiten Blumenglöckchen von Gypso— 
phila paniculata noch dieſelbe Mannigfaltig— 
keit verſchiedenartiger Beſucher, noch daſſelbe 
Uebergewicht der kurzrüſſeligen, aber in Folge 
des geſteigerten Honigvorraths, der erſt 
durch ſeine tiefere Bergung ermöglicht worden 
iſt, einen im Ganzen viel reichlicheren Beſuch. 
Lyehnis flos eueuli dagegen mit ihrer 6—7 
Millimeter langen Kelchröhre geſtattet den 
Genuß ihres reichen Honigvorraths außer 
unſerer langrüſſeligſten Schwebfliege (Rhingia 
rostrata) nur noch ausgeprägten Bienen 
und Schmetterlingen, die aber eben deshalb 
um ſo häufiger ſich einfinden. 

Wie bei Lychnis flos eueuli, fo wird 
nun allgemein durch jede Steigerung der 
Röhrenlänge einer Blume ihr Beſucherkreis 
mehr eingeengt und den übrigbleibenden 
langrüſſeligſten Beſuchern der Alleinbeſitz 
des Honigs um ſo unbeſtrittener geſichert. 
Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, 
daß dieſe, wenn ſie die Wahl haben, die 
tieferen den weniger tiefen Blumenröhren 
vorziehen und von jeher vorgezogen haben. 
Die geſteigerten Röhrenlängen ſind alſo die 
Züchtungsprodukte einer immer engeren Ge— 
ſellſchaft immer langrüſſeligerer Inſekten zu 
ihrem eigenen und dadurch erſt mittelbar 
auch zu der Pflanze Vortheil. 

Die Kelchröhre von Lychnis flos cuculi 


Müller, Die Iuſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


brauchte nun ſich nur noch einige Millimeter 
mehr zu verlängern, um auch Rhingia als 
die letzte der Fliegen, und ſie brauchte nur 
ihren Eingang zu verengen, um auch die 
Bienen vom Honiggenuſſe auszuſchließen und 
denſelben ausſchließlich noch den Schmetter— 
lingen zu überlaſſen, wie es bei Lyehnis 
flos Jovis, vielen Silene- Saponaria- und 
Dianthus-Arten in der That der Fall iſt. 

So läßt ſich in dieſer wie in mehreren 
anderen Familien (3. B. Groſſulariaceen, 
Rubiaceen, Primulaceen u. a.) der allmälige 
Uebergang einfacher regelmäßiger Blumen 
von offenem zu immer tiefer im Grunde 
einer Röhre geborgenem Honig und von 
einem weiten Kreiſe mannigfachſter kurzrüſſe— 
liger zu einem immer engeren, ſchließlich 
auf eine beſtimmte Inſektenform beſchränkten 
Kreiſe immer langrüſſeligerer Beſucher ſelbſt 
an den heute noch lebenden Arten faſt Schritt 
für Schritt verfolgen, und von der bunten 
Geſellſchaft urſprünglicher kurzrüſſeliger Be— 
ſucher werden wir unvermerkt zur Blumen— 
züchtung beſtimmter Inſektenformen, zunächſt 
der Schmetterlinge, geführt. 

III. Die Schmetterlinge als un— 
bewußte Blumenzüchter. 

Da die einzige Sorge und Arbeit der 
Schmetterlinge für die Ernährung und Sicher— 
ung ihrer Nachkommen in dem verſteckten, 
oft durch eine Haar- oder Schleimdecke ge— 
ſchützten Ablegen der Eier an die gewohnte 
Pflanze beſteht, ſo können und konnten ſie 
von jeher die ganze Zeit, die ihnen im 
fertigen Zuſtande umherzuflattern vergönnt 
iſt, dem Honiggenuſſe und der Liebe widmen 
und ſich in einſeitigſter Weiſe der Gewinn— 
ung des Blumenhonigs und des Gatten 
anpaſſen. In der That ſind ihre Mund— 
theile viel einſeitiger als diejenigen der Bienen, 
welche dieſelben außer zur Honiggewinnung 
auch zur Herſtellung der Brutzellen ge— 


brauchen, und als diejenigen der Schweb— 
fliegen, die mit denſelben ſowohl Honig ſaugen 
als Pollen freſſen, der Gewinnung tief 
geborgenen Honigs angepaßt. Denn das 
dünne, aus zwei Halbrinnen zuſammengefügte 
Saugrohr, zu welchem ſich ihre Kieferladen 
umgebildet haben, wird mit Leichtigkeit in 


weitere oder engere, gerade oder gekrümmte 


Blumenröhren hinabgeſenkt, mittelſt ſpitzer 
Hervorragungen an ſeinem Ende ſelbſt zur 
Erbohrung und Gewinnung im Zellgewebe 
eingeſchloſſenen Saftes benutzt, und beim 
Nichtgebrauche zu einer zierlichen Rolle zu— 
ſammengewickelt zwiſchen den emporſtehenden 
Lippentaſtern geborgen. Nur Empiden, 
Conopiden und Bombyliden, die als Dip— 
teren eben ſo wenig Brutverſorgungsarbeit zu 


| 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


der Gewinnung des Blumenhonigs begün— 
ſtigtſten Abänderungen; und ihr geſteigerter 


Farben- und Geruchsſinn hat nicht verfehlen 


verrichten haben und als Nicht-Pollenfreſſer 


eben ſo einſeitigen Gebrauch von ihren Mund— 
theilen machen, können, allein von allen 
blumenbeſuchenden Inſekten, auch an Ein— 
ſeitigkeit der Anpaſſung derſelben mit den 
Schmetterlingen verglichen werden. Aber 
da ſich bei ihnen die ſämmtlichen Mundtheile, 
die Unterlippe als Rinne, die übrigen als 
Borſten, geſtreckt haben, ſo haben ſie weder 
in ſo einfacher Weiſe eine Verlängerung, 
noch überhaupt eine ſo geſchützte Bergung 
in der Ruhelage erlangen können, und ſind 
in der im Wettkampfe um die Entleerung 
der tiefſten Honigbehälter entſcheidenden 
Rüſſelverlängerung nicht nur hinter den 
Schmetterlingen, ſondern ſelbſt hinter den 
Bienen weit zurückgeblieben. Höchſt wahr— 
ſcheinlich hat ſich gleichzeitig mit der Rüſſellänge 
der Schmetterlinge, in Folge ihrer einſeitigen 
Vorliebe für Blumenhonig, auch ihr Geruchs— 
ſinn und überdies, wenigſtens bei den Tag— 
faltern, auch der Farbenſinn außerordentlich 
geſteigert, ſei es einfach durch die Wirkung 
des Gebrauchs, ſei es durch Naturausleſe 
der unterſcheidungsfähigſten und dadurch in 


können, wiederum ihre Gatten- und Blumen— 
auswahl zu beeinflußen. Indem die Weibchen 
immer denjenigen Männchen den Vorzug 
gaben, die ihrem entwickelten Geruchsſinn 
den angenehmſten Eindruck machten, ver— 
anlaßten ſie die Ausbildung der mannig— 
faltigen Duftvorrichtungen, welche die Männ— 
chen in den entſcheidendſten Momenten ihrer 
Liebeswerbung entfalten; “) ebenſo veran— 
laßte bei den Tagfaltern die gegenſeitige 
geſchlechtliche Wahl die Ausbildung eines 
oft nach den Geſchlechtern verſchiedenen, oft 
aber auch durch Vererbung von einem Ge— 
ſchlechte auf das andere bei beiden gleichen 
farbenprächtigen Schuppenkleides, welches 
dann nicht ſelten aus einem Putzkleide 
durch Naturzüchtung nachträglich zu einem 
Schutz- oder Trutzkleide“ “) umgebildet wurde. 
Und indem Männchen und Weibchen der 
Tagfalter bei ihrer Blumenauswahl die 
ihnen angenehmſten Farben und Gerüche 
bevorzugten, züchteten ſie Blumen, die ſich 
durch prächtige Farben, oft mit zierlichen 
Zeichnungen, oder durch würzige Wohlgerüche 
oder durch beide Eigenſchaften zugleich aus— 
zeichnen. Aber natürlich konnten ſie als 
ſelbſtſtändige Blumenzüchter überall erſt dann 
auftreten, wenn die übrigen langrüſſeligen 
Inſekten (Bienen und Fliegen) vom Mitge— 
nuſſe des Honigs und weſentlicher Mitbe— 
theiligung an der Kreuzungsvermittlung 
ausgeſchloſſen waren. Bei der im Weſentlichen 
übereinſtimmenden Geſchmacksrichtung aller 
langrüſſeligen Blumenbeſucher war natürlich 
eine Ausſchließung durch den Einen ſympa— 


) Vgl. Kosmos. Bd. II. S. 38 flgde. 
0 Ich gebrauche dieſe Ausdrücke im Sinne 
Jaeger's. Vgl. Kosmos I. S. 486 flgde. 


Müller, Die Inſekten als 


414 


thiſche, den Anderen antipathiſche Farben und 


Gerüche, wie wir ſie bei den Ekelblumen 
kennen gelernt haben, nicht möglich; nur 
ein mechaniſches Hinderniß konnte die übrigen 
langrüſſeligen Gäſte vom Genuſſe des Honigs 
abhalten und die Schmetterlinge in den 
Alleinbeſitz deſſelben ſetzen. Ein Vergleich 
der Mundtheile der Schmetterlinge mit den— 
jenigen der langrüſſeligen Bienen und Fliegen 
ergiebt nun ſofort, daß urſprünglich nur 
die Dünnheit der Schmetterlingsrüſſel, dieſe 
aber ſehr leicht und durchgreifend, die 
Möglichkeit des Ausſchließens aller Nicht— 
Schmetterlinge von Honigquellen, welche 
Schmetterlingen bequem zugänglich ſind, 
gewähren konnte. Und in der That ſehen 
wir die tiefgeborgenen Honigſchätze mancher 
Blumen durch hinreichend enge Zugänge 
in den Alleinbeſitz der Falter übergegangen, 
und dieſe allein mit dem Liebesdienſt der 
Kreuzungsvermittlung betraut, die betreffen— 
den Blumen alſo zu ächten „Falterblumen“ 
geworden. Ebenſo aber wie ſich aus dem 
großen Heere der Falter als langrüſſeligſte 
und blumeneifrigſte Gruppe diejenige der 
Schwärmer hervorgehoben hat, ebenſo haben 
ſich von den Falterblumen gewiſſe Arten durch 
Verlängerung ihrer Honigbehälter den alle 
andern Inſekten an Rüſſellänge übertreffen— 
den Schwärmern ausſchließlich angepaßt und 
ſich zu „Schwärmerblumen“ ausgebildet. 

Alle Falterblumen ſind natürlich auch 
den Schwärmern zugänglich, ſofern nicht 
etwa ihre zu große Engigkeit dieſe am 
Zutritt hindert oder gar wie bei dem im 
Kosmos (Jahrg. II. Hft. 2. S. 178) 
von meinem Bruder Fritz Müller be— 
ſprochenen Hedychium, in eine verhängniß— 
volle Falle lockt; aber die Schwärmerblumen 
ſind den übrigen, kurzrüſſeligeren Faltern 
unzugänglich und bilden ſomit eine beſondere 
Klaſſe von Blumen, die ſich vor allen 


unbewußte Blumenzüchter. | 


übrigen ebenſo durch die Länge, wie die 
Falterblumen durch die Engigkeit ihrer 
Zugänge zum Honige auszeichnen. Wir 
faſſen als die urſprünglicheren zunächſt die 
Falterblumen ins Auge und ſuchen uns 
ihre Entſtehung an beſtimmten Beiſpielen 
klar zu machen. 

Wenn eine Lychnisart von der Röhren— 
länge und Weite, überhaupt von der ganzen 
Blütheneinrichtung unſerer Lyehnis flos 
cuculi, die, wie wir ſahen, von Schmetter— 
lingen, Bienen und unſerer langrüſſelig— 
ſten Schwebfliege (Rhingia rostrata) recht 
häufig beſucht wird, ihren Verbreitungsbe— 
zirk in Gegenden ausdehnte, in denen, wie 
z. B. in der alpinen Region, die Schmetter- 
linge an Häufigkeit in Vergleich zu den 
übrigen Blumenbeſuchern ſehr bedeutend zu— 
nähmen, ſo müßte es offenbar von erheb— 
lichem Vortheile für ſie ſein, ein bevorzugter 
Liebling der Schmetterlinge zu werden. Dieſen 
aber würden, unter übrigens gleichen Um— 
ſtänden, natürlich diejenigen Blumen am lieb— 
ſten ſein, die ihnen den Honig zum alleinigen 
Genuße verwahrten. Träten alſo Abänder— 
ungen mit engeren, dieſes bewirkenden Röhren 
auf, ſo würden dieſelben von den Schmetter— 
lingen vorzugsweiſe ausgewählt und als blei— 
bende Form gezüchtet werden. Die vorher 
noch einem gemiſchten, wenn auch bereits engen 
Beſucherkreiſe zugängliche Lychnis würde da— 
durch zur Falterblume werden. 

Genau daſſelbe, was wir hier als mög— 
lich annahmen, ſcheint ſich an den Stamm— 
eltern von Lyehnis flos Jovis thatſächlich 
vollzogen zu haben. Denn ſo gewiß in der 
ganzen Familie der Caryopyhlleen die Ent— 
wicklung von offnen zu röhrigen Blumen- 
formen fortgeſchritten iſt, jo gewiß find die 
Blumen der näheren oder entfernteren Stamm— 
eltern auch von Lychnis flos Jovis einem 
gemiſchten Beſucherkreiſe zugänglich geweſen. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Sie ſelbſt aber treffen wir in den ſchmetter— 
lingsreichen Thälern der Hochalpen mit ſo 
verengtem Bütheneingange, daß nur noch 
Schmetterlinge bequem zu ihrem Honige ge— 
langen können (Hummeln höchſtens durch 
mühſames und unbequemes Hineinzwängen 
des Rüſſels). Und in der That fand ich 


415 


ſie im Suldenthale am Fuße des Ortler 
(bei St. Gertrud, 22. Juli 1875), abge- 
ſehen von einer pollenfreſſenden Fliege (Eri— 
stalis tenax), nur von Tagfaltern (Colias 
Phicomone, Argynnis Aglaja, Polyomma- 
tus hippotho@ var. eurybia), von dieſen 
aber in Mehrzahl beſucht. 


Fig. 7. 


Uebergang von einem gemiſchten Beſucherkreiſe zugänglichen 


Blumen zu Tagfalterblumen. 
A Lychnis flos cuculi, deren Honig außer von Schmetterlingen auch von Bienen und den 


langrüſſeligſten Schwebfliegen ausgebeutet wird. 


noch von Schmetterlingen ausgebeutet wird. 
Bienen und Fliegen beſucht. 


B Lychnis flos Jovis, deren Honig nur 


C D Daphne Mezereum. von Schmetterlingen, 


E F Daphne striata, nur noch von Schmetterlingen bejucht. 


n Nektarium. 


Ebenſo mag aus einer Daphneform der 
Ebene oder niederen Berggegend, welche, wie 
unſer D. Mezereum, von Schmetterlingen, 
Bienen und Fliegen beſucht wurde, in der 
alpinen Region von den Schmetterlingen 


die durch weit längere und engere Blumen— 
röhren und ungemein würzigen Wohlgeruch 
ausgezeichnete D. striata gezüchtet worden 
ſein, deren Honig in Folge des engen Blüthen— 


einganges (Fig. 7) nur noch Schmetter- 


lingen zugänglich iſt, und die ich in der 


| That ausſchließlich von Schmetterlingen be- 


ſucht fand. 
Wie in dieſen, jo haben ſich die Schmetter- 
linge in allen Fällen, wo ſie die entſcheidende 


Rolle ſpielten, ihre Lieblingsblumen beim 


Eintreten geeigneter Abänderungen ſo eng— 
röhrig gezüchtet, daß ſich andere Beſucher vom 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


53 


416 Müller, Die Inſekten als 


Mitgenuſſe des Honigs ausgeſchloſſen ſehen. 
Den Blüthenſtaub dagegen haben ſie, da ſie 
für ſich ſelbſt ja keinen Gebrauch von dem— 
ſelben machen, natürlich auch bei ihrer Blumen— 
auswahl nicht berückſichtigt, und auch Natur— 
züchtung hat ſeine offene Lage bei Falter— 
blumen wohl kaum je beſeitigen können, da 
der Schaden, welchen Pollen ſuchende Inſekten 


durch nutzloſen Pollenraub wohl anſtiften, 


durch gelegentlich dabei auch von ihnen ver— 
mittelte Kreuzung gewiß mehr als aufge— 


wogen wird, Schutz des Pollens gegen Regen 


aber ſicherlich Falterblumen nicht nöthiger iſt, 
als er den allgemeiner zugänglichen Blumen 
nöthig war, aus denen ſie hervorgegangen ſind. 
Daher findet ſich, wie wir uns an den vor— 
ſtehenden Abbildungen veranſchaulichen können, 
der Blüthenſtaub wahrſcheinlich nur bei ſolchen 


Falterblumen ebenfalls im Innern der Blu- 
menröhre geborgen und dadurch der Ein- 


wirkung pollenfreſſender Inſekten entzogen, 
deren Stammeltern bereits, als ſie noch 


einen gemiſchten Beſucherkreis an ſich lockten, 


dieſelbe Art von Pollenbergung beſaßen. 


Gezüchtet haben ſich die Schmetterlinge (von 


den Schwärmern zunächſt abgeſehen) un— 
mittelbar zu ihrem Nutzen nur die für 
alle Falterblumen charakteriſtiſchen engen Zu— 
gänge zum Honige, zu ihrem Vergnügen 
aber und erſt mittelbar, als Erkennungs— 
zeichen ihrer auserwählten Lieblinge, auch 


zu ihrem Nutzen, die ihnen am meiſten zu- 


ſagenden Farben und Gerüche. 
Ueberall mußte ſich natürlich ihre ſelbſt— 


ſtändige Blumenzüchtung an die Züchtungs⸗ 


produkte des gemiſchten Beſucherkreiſes an— 
knüpfen, aus welchem ſie hervortraten. Die 
engen Honigzugänge kamen daher in ver— 


ſchiedenen Familien von verſchiedenen Aus- 


gangspunkten aus in ſehr verſchiedener Weiſe 
zu Stande. Bei den Cruciferen z. B. 


mußten ſich die getrenntblätterigen, urſprüng 


unbewußte Blumenzüchter. 


lich offenen Blüthen durch Aufrichten und 
Aneinanderſchließen der Kelchblätter erſt zu 
einer röhrigen Form umgebildet und auf 
einen engeren Beſucherkreis beſchränkt haben 
(wie es z. B. bei Cardamine pratensis 
und in erhöhtem Grade bei Hesperis 
matronalis der Fall ift*)), ehe beim Auf— 
treten weiterer Abänderungen die Schmetter— 
linge ſich als ſelbſtſtändige Blumenzüchter 
bethätigen und eine Falterblume (wie Hes- 
peris tristis) erzielen konnten. Welche Um— 
bildungen die urſprünglich getrenntblättrigen, 
völlig offenen und allgemein zugänglichen 
Blüthen der Caryophylleen erlitten haben, 
ehe aus dem immer enger gewordenen Be— 
| ſucherkreiſe die Schmetterlinge ſelbſtſtändig 
hervortreten und durch Auswahl mit noch 
engeren Kelchröhren verſehener Abänderungen 
Falterblumen, wie ſo manche Lychnis-, Silene-, 
Saponaria-, Dianthusarten, züchten konnten, 
iſt bereits weiter oben kurz angedeutet 
worden. Am leichteſten mußte ſich natür— 
lich eine geeignete Ausgangsform für erfolg— 
reiche Weiterzüchtung durch Schmetterlinge 
allein ergeben, wenn ſchon zur Zeit der ge— 
miſchten Beſuchergeſellſchaft eine einfache offene 
Blumenröhre vorhanden war, wie z. B. 
bei Daphne und Primula, oder eine honig— 
haltige Ausſackung, ein ſogenannter Sporn, 
wie bei manchen Orchideen; denn es be— 
durfte dann nur noch einer Verengerung 
dieſer Behälter oder auch nur ihres Ein— 
ganges. Aber ſelbſt völlig offene Honig- 
abſonderung auf weit auseinander gebreitet 
bleibenden Blumenblättern hat der Züchtung 
enger, nur den Schmetterlingen zugänglicher 
Honigröhren keine unüberwindlichen Schwie— 


) An Cardamine pratensis fand ich 4 
Schmetterlinge, 5 langrüſſelige Fliegen und 6 
Bienen honigſaugend, an Hesperis matronalis 
außer Schmetterlingen nur noch unſere lang— 
rüſſeligſte Schwebfliege Rhingia rostrata. 


tu 


—— 


— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


rigkeiten entgegengeſetzt, wie uns z. B. Lilium 
Martagon und bulbiferum beweiſen. 
Das auf der Mittellinie der Baſis der 
Perigonblätter urſprünglich, wie z. B. bei 
Lloydia, völlig offen gelegene Nektarium 
hat ſich bei dieſen Lilienarten zu einer langen 
honigabſondernden Rinne geſtaltet, die durch 
das Zuſammenneigen ihrer Ränder und 
einen dichten Beſatz von Härchen völlig ge— 
deckt und zu einer in der That nur Schmetter— 
lingen zugänglichen Honigröhre geworden iſt. 
Im Beſitze einer für die übrigen Blumen— 
beſucher zu engen, honighaltigen Röhre oder 
eines für dieſelben zu engen Zuganges zum 
Honig ſtimmen ſämmtliche Falterblumen über- 
ein, in Bezug auf die Tageszeit aber, in 
welcher ſie aufblühen, duften und in die 
Augen fallen, ſind ſie, je nach der Lebens— 
gewohnheit ihrer Züchter, eben ſo verſchieden 
wie dieſe, ſo daß ſie ſich im Allgemeinen 
in Tagfalterblumen und Nachtfalter— 
blumen unterſcheiden laſſen. Die erſteren 
ſind von den letzteren durch bunte Farben 
ausgezeichnet, welche natürlich, da ſie nur 
bei Tage wirken und gezüchtet werden können, 
den Nachtfalterblumen fehlen oder höchſtens 
als Erbſtücke von tagblüthigen Stammeltern 
her zukommen. Von anderen Tagblumen 
zeichnen ſich die von den Tagfaltern ge— 
züchteten bisweilen durch zierlich vertheilte, 
beſonders gefärbte Punkte aus (z. B. Dian- 
thus-Arten Gymnadenia conopsea, Orchis 
globosa und ustulata), die auf den aus— 
gebildeteren Farbenſinn ihrer Züchter hin— 
weiſen. Im Uebrigen laſſen ſich die Tag— 
falterblumen nach ihrer Farbe, wie nach ihrer 
Entſtehung in zwei ſcharfgeſonderte Gruppen 
unterſcheiden, je nachdem ſie von den Tag— 
faltern von unten herauf gezüchtet oder erſt 
nachträglich aus bereits ausgeprägten Bienen— 
oder Hummelblumen zu Tagfalterblumen 
umgeprägt worden ſind. Alle diejenigen 


417 


Blumen nemlich, welche ſchon von dem Stadium 
an, als ſie noch einem gemiſchten Beſucher— 
kreiſe zugänglich waren, von Tagfaltern allein 
weiter gezüchtet worden ſind, zeichnen ſich, 
ſoweit ſie der Deutſchen und Schweizer Flora 
angehören, durch ſanfter oder lebhafter rothe 
Farbe aus. Es gilt dies von Lychnis 
diurna, flos Jovis u. a., Dianthus-Arten, 
Silene acaulis, Saponaria ocymoides, 
Primula farinosa, longiflora, integrifolia, 
villosa, minima, Anacamptis pyramidalis, 
Orchis globosa, ustulata, Nigritella angu- 
stifolia und Lilium bulbiferum. Alle 
dieſe ſind von roſenrother oder lebhaft purpur— 
rother, nur Lilium bulbiferum, die Feuer— 
lilie, iſt von feuerrother Farbe. Die meiſten 
dieſer Beiſpiele (etwa 5/0) gehören der Alpen— 
flora an, in welcher die Tagfalter relativ 
viel häufiger ſind und daher auch als Blumen— 
züchter eine viel bedeutendere Rolle ſpielen, 
als in der niederen Berggegend und noch 
mehr als in der norddeutſchen Tiefebene, 
die in der That wohl nur einige Sileneen 
und, an der Nordgrenze ſporadiſch auf— 
tretend, die in den Alpen verbreitetere 
Primula farinosa als Tagfalterblumen auf— 
zuweiſen hat. Es iſt nun gewiß nicht bloß 
zufällig, daß von den Tagfaltern, welche 
auf den Alpen als die häufigſten Blumen— 
beſucher auftreten, die meiſten ſelbſt lebhaft 


roth gefärbt ſind (zahlreiche Argynnis- un 


Melitaea-, mehrere Polyommatus- und Va- 
nessa-Arten,“) und daß gerade lebhaft roth ge— 
gefärbte Blumen mit ganz entſchiedener 
Vorliebe von dieſen ſelbſt lebhaft roth ge— 
färbten Faltern beſucht werden. So ſah 
Hh ueber die Blumen züchtenden Tagfalter 
der Ebene habe ich mir, bei der außerordent— 
lichen Schmetterlings-Armuth der weſtfäliſchen 
Ebene, ein beſtimmtes Urtheil nicht bilden 
können, doch ſcheinen mir auch da neben den 
Weißlingen Arten der genannten Gattungen 
zu den blumeneifrigſten zu gehören. 


2 


ich z. B. Lilium bulbiferum (im Sulden— 
thale am Fuße des Ortler, im Juli 1875) 
ausſchließlich von den feuerrothen Arten 
Argynnis Aglaja, Polyommatus Virgau— 


Müller, Die Inſekten als 


rene und P. hippothos var. eurybia, 
von dieſen aber ſo häufig beſucht, daß oft 
mehrere zugleich in derſelben Blüthe ſaßen; 
deren Gleichfarbigkeit ihnen zugleich den 
Schutz der Unſichtbarkeit gewährte. Die 
orangefarbenen Compoſiten Crepis aurea, 
Hieracium aurantiacum, Senecio abro- 
tanifolius, find bei ſonnigem Wetter ein 
wahrer Tummelplatz der feuerrothen Tag— 
falter. Selbſt an lebhaftrothen Rumex— 
früchten ſah ich (im Suldenthale) die beiden 
genannten Feuerfalter (Polyommatus) und 
Argynnis pales ſehr wiederholt anfliegen, 
an den zahlloſen blauen Blumenköpfen der 
alpinen Phyteuma-Arten dagegen die Bläu— 
linge (Lyeaena) mit unverkennbarer Vor— 
liebe ſich herumtreiben. Nach dieſen und 
manchen ähnlichen Beobachtungen bin ich 
ſehr geneigt zu glauben, daß dieſelbe Vor— 
liebe der Tagfalter für gewiſſe Farben, 
welche ſich in dem von ihnen durch geſchlechtliche 
Ausleſe gezüchteten eigenen Putzkleide aus— 
ſpricht, auch ihre Blumenauswahl und da— 
durch mittelbar die Farbe der Tagfalter— 
blumen beſtimmt hat, wie ja auch zwiſchen 
den Gerüchen der Schmetterlinge und der 
von ihnen gezüchteten Blumen überraſchende 
Aehnlichkeiten vorkommen (Vgl. Kosmos, 
Bd. III. S. 187. „Blumen der Luft“). 
Daß es in anderen Ländern auch anders 
gefärbte Tagfalterblumen gibt (als blaue 
Tagfalterblume iſt mir z. B. Asperula 
azurea bekannt geworden), ſteht mit meiner 
Vermuthung in keinem Widerſpruch. Denn 
nach derſelben könnten ja z. B. in einer 
Gegend Bläulinge die entſcheidende Rolle 
geſpielt und ſich blaue Tagfalterblumen ge— 
züchtet haben. 


. 


unbewußte Blumenzüchter. 


Was die zweite oben angeführte Klaſſe 
von Tagfalterblumen betrifft, ſo bietet in 
der That die Alpenflora zwei, wie mir 
ſcheint, ganz unzweideutige Beiſpiele von 
Blumen dar, welche aus ausgeprägten Bienen— 
oder Hummelblumen erſt nachträglich zu 
Tagfalterblumen umgeprägt worden ſind, 
nämlich Rhinanthus alpinus und Viola 
calearata.*) Eine mit unſerem Hahnen— 
kamm (Rh. erista galli) im Weſentlichen 
übereinſtimmende, wie dieſe von Hummeln 
gezüchtete und ausſchließlich von Hummeln 
beſuchte und befruchtete Rhinanthusform, wie 
ſie die Stammeltern des Rh. alpinus ohne 
Zweifel beſeſſen haben werden, mußte beim 
Vorrücken in die ſchmetterlingsreichere ſubal— 
pine und alpine Region auch den an allen 
möglichen Blumen herumprobirenden Tag— 
faltern den Zutritt zu ihrem Honige ge 
ſtatten; aber nur diejenigen Tagfalter konnten 
ihr auch als Kreuzungsvermittler dienen, 
welche Narbe und Pollen mit ihrem Rüſſel 
berührten, die alſo denſelben in den oberſten 
Theil des Blütheneinganges, dicht unter der 
Narbe her und zwiſchen den Staubbeuteln 
hindurch, in die Blüthe ſenkten.“ ) Die 

) Da die Blütheneinrichtungen beider be— 
reits in früheren Aufſätzen (Nature vol. XI. 
p. 110 flgde. u. vol. XIII p. 289 flgde.) von mir 
eingehend beſchrieben und abgebildet ſind, ſo 
beſchränke ich mich hier auf eine kurze An— 
deutung ihrer muthmaßlichen Entſtehung. 

) Was ich hier für die Stammeltern 
von Rhinanthus alpinus als beim Emporrücken 
auf die Alpen unausbleiblich vorausſetze, habe 
ich bei unſerem Rh. erista galli var. minor 
in Meereshöhen von 1800—2400 Meter that- 
ſächlich beobachtet. Ein Bläuling, Lycaena 


argus, flog wiederholt auf Blüthen von Rh. 


minor an und ſtreckte von oben kommend den 
Rüſſel durch die obere kleine Oeffnung dicht 
unter der Narbe in die Blüthe, Erebia melampus 
ſaugte durch dieſelbe Oeffnung. Plusia Hochen- 
wartii dagegen, die ſehr behend und andauernd 


Bi 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


in dieſer Weiſe verfahrenden Tagfalter konnten 
als alleinige Kreuzungsvermittler auch allein 
eine züchtende Wirkung ausüben, und ſie 
übten dieſe Wirkung aus, indem ſie ſolche 
Abänderungen der RKhinanthus-Blumen be— 
vorzugten, welche ihnen im oberſten Theile 
des offenen Spaltes der Oberlippe den be— 
quemſten Eingang für ihre Rüſſel darboten. 
So züchteten ſie ſich über der zunächſt noch 
offen bleibenden Hummelthüre eine hervor— 
ſtehende, durch zwei divergirende blaue Seiten— 
läppchen leicht fihtbare *) und bequem zu— 
gängliche beſondere Thüre für ihren langen 
dünnen Rüſſel. Der ſubalpine Rhinanthus 
aleetorolophus iſt auf dieſer merkwürdigen 
Stufe gleichzeitiger Anpaſſung an zwei fo 
verſchiedene Beſucherkreiſe wie Hummeln und 
Tagfalter ſtehen geblieben, entſprechend der 
in dieſer Region ungefähr gleichen Häufig— 
keit beider. Wo aber die Tagfalter an Häu— 
figkeit der Kreuzungsvermittlung und damit 
an Einfluß auf die Züchtung das entſchiedene 


Uebergewicht erlangten, da hatten natürlich 
diejenigen Abänderungen, welche den Tag- 


faltern allein den Honig aufbewahrten, die 
an Rhinanthus minor ſaugte, führte den Rüſſel 
regelmäßig durch die Hummelthüre in die 
Blüthen ein. Wäre dieſe geſchloſſen und die 
obere kleine Oeffnung, wie bei Rh. alpinus, 
weiter vorgeſtreckt und durch ausgebreitete 
Seitenflügel bequem zugänglich, ſo würde Plusia 
Hochenwartii im Heuthale am Bernina wahr— 
ſcheinlich der wirkſamſte Kreuzungsvermittler 
von Rh. minor ſein, während ſie ohne dieſe 
Anpaſſungen ihr nur ein nutzloſer oder vielmehr 
durch Honigraub direkt ſchädlicher Gaſt bleibt. 

) Man könnte in der blauen Farbe dieſer 
von den alpinen Tagfaltern gezüchteten Seiten— 


läppchen einen Einwand gegen ihre ſo eben 


behauptete Vorliebe für Roth erblicken. Dieſer 
Einwand wird aber hinfällig, wenn man be— 
denkt, daß in dieſem Falle die Tagfalter völlig 
ausgeprägte gelbe Blumen vorfanden und 
daß von ſolchen gerade blaue Läppchen ſich 
am ſchärfſten abheben. 


vn 
419 


meiſte Ausſicht, zur Kreuzungsvermittlung 
ausgewählt und dadurch als dauernde Form 
ausgeprägt zu werden. Hier konnte alſo — 
und mußte, beim Auftreten geeigneter Ab— 
änderungen — eine Rhinanthusform mit 
geſchloſſener Hummelthür und allein geöff— 
neter Falterthür gezüchtet werden, wie ſie 
uns Rhinanthus alpinus darſtellt. 

In ähnlicher, aber weit einfacherer Weiſe, 
nämlich durch einfache Spornverlängerung, 
iſt vermuthlich aus Viola tricolor oder 
einer im Weſentlichen der Blütheneinrichtung 
mit ihr übereinſtimmenden Art beim Vor— 
rücken in die alpine Region Viola calcarata 
gezüchtet worden. 

Natürlich hatte die züchtende Thätigkeit 
der Inſekten da, wo es ſich um ſchon feſt 
ausgeprägte und beſtimmte, ganz abweichen— 
den Inſektenklaſſen eng angepaßte Blumen- 
formen handelte, einen nur ſehr engen Spiel— 
raum, und es iſt kaum auffallend, daß eine 
beſtimmte Farbenliebhaberei der Tagfalter in 
den genannten beiden Fällen von Umzüchtung 
nicht zur Geltung gelangt iſt. 

Außer durch enge Honigröhren und 
lebhafte Farben ſind manche Tagfalterblu— 
men durch einen ſtarken, gewürzhaften Wohl— 
geruch ausgezeichnet, wie z. B. in der Ebene 
manche Nelken, in den Alpen das Choko— 
ladenblümchen, Nigritella 
welches ſeine ungemeine Anziehungskraft für 
Schmetterlinge wohl zum großen Theile 
ſeinem vanilleähnlichen“) Dufte verdankt. 
Aber viele Tagfalterblumen ſind faſt geruch— 
los, und mehreren derſelben, z. B. Silene 

) Auch unter den durch geſchlechtliche Aus— 
wahl von den Tagfaltern gezüchteten Düften 
ſpielt Vanillegeruch eine wichtige Rolle. Unter 


angustifolia, 


andern wird z. B. der Duft, welchen das 


Männchen der prächtigen Morpho Adonis ent- 


wickelt, von meinem Bruder Fritz Müller 


in einem Briefe an mich als vanilleartig be— 
zeichnet. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Bl 


420 


umenzüchter. 


acaulis und Saponaria oeymoides, gelingt | im Halbdunkel weithin ſichtbare Farbenab— 


es trotzdem, durch lebhaft rothe Farben und 
dichtes Zuſammendrängen zu größeren im 
Sonnenſchein weithin leuchtenden Flächen 
einen kaum minder reichlichen Beſuch von 
Tagfaltern an ſich zu locken. 

Eine ganz andere Wirkung haben Farben 
und Wohlgerüche im Halbdunkel des Abends 
und der Nacht. Nur helle Farben können 
da von weitem in die Augen fallen, nur 
fie können daher von Nachtfaltern gezüchtet 
werden. Sie können zwar, wenn ſie in 
hinreichend großen Flächen auftreten, für ſich 
allein genügen, den Blumen die Aufmerkſam— 
leit ihrer nächtlichen Kreuzungsvermittler zu— 
zuwenden; ſie vermögen aber wahrſcheinlich 


nicht, denſelben einen eben ſo angenehmen 


Sinnesreiz zu gewähren, wie ihn die Tag— 
falter beim Anblick ihrer Lieblingsfarben 
offenbar genießen. Daher gibt es auch nur 
wenige Nachtblumen, welche ausſchließlich 
durch große weiße Blüthenhüllen ſich bemerk— 
bar machen, wie z. B. unſere Zaunwinde, 
Convolvulus sepium.*) In der Regel 
geſellt ſich zur weißen oder blaſſen Farbe 
ein Wohlgeruch, der ſich erſt des Abends 
kräftig entwickelt. Auch das Aufblühen er— 
folgt bei vielen Nachtblumen ausſchließlich 
oder vorwiegend des Abends, und es bedarf 
keiner beſonderen Ausführung, wie die Nacht— 
falter ſelbſt durch Auswahl der ihnen am 
meiſten in die Sinne fallenden und den 
Honig zu ihrem ausſchließlichen Genuſſe am 
beſten verwahrenden Abänderungen ſich blaſſe, 
erſt des Abends kräftig zu duften begin— 
nende, oder des Abends überhaupt erſt auf 
blühende Blumen gezüchtet haben. Wo keine 


) Convolvulus sepium wird zwar auch 
von Taginſekten, namentlich von Bienen, ge— 
legentlich aufgeſucht, ſeine hauptſächlichſten 
Kreuzungsvermittler ſind aber Nachtſchmetter— 
linge, vor allem Sphinx Convolvuli. 


änderungen auftraten, welche von den nächt— 
lichen Gäſten hätten gezüchtet werden können, 
und ſtarker Duft allein das Anlockungs— 
mittel derſelben bildete, da entzog ſich wenig— 
ſtens eine etwa ererbte lebhafte Farbe der 
weiterbildenden oder auch nur erhaltenden 
Wirkung der von den Kreuzungsvermittlern 
geübten Auswahl, und es konnten dann 
Blumenblätter, deren weſentlichſter Lebens— 
dienſt urſprünglich die Augenfälligmachung 
der Blumen geweſen war, zu einer Unſchein— 
barkeit und Mißfarbigkeit herabſinken, wie 
ſie uns mit dem Begriffe der Blumen bei 
der erſten Betrachtung faſt im Widerſpruche 
zu ſtehen ſcheint und z. B. bei Hesperis 
tristis“) jo unangenehm auffällt. 

Wenn ſich nun auch im Allgemeinen 
Tag- und Nachtfalterblumen durch die be— 
ſprochenen Eigenthümlichkeiten leicht und ſicher 
unterſcheiden laſſen, ſo fehlt es doch zwiſchen 
denſelben eben jo wenig an Zwiſchenſtufen, 
als die Sonderung der Schmetterlinge nach 
ihrer Lebensgewohnheit, bei Tage oder bei 
Nacht zu fliegen, irgend wie eine ſcharfe iſt. 
Während z. B. Saponaria officinalis, Lych- 
nis alba, Silene nutans und inflata, 
Platanthera bifolia (solstitialis Boenning- 
haus) und chlorantha als ausgeprägte Nacht— 
falterblumen der deutſchen Flora genannt zu 
werden verdienen, haben wir Daphne striata, 
Gymnadenia conopsea, odoratissima, Cro— 
cus vernus und Lilium Martagon als 
Zwiſchenſtufen zwischen Tag- und Nachtfalter— 
blumen zu betrachten. 

Die beiden erſten der zuletzt genannten 
Arten ſchwanken völlig unentſchieden zwiſchen 
dem Charakter der Tag- und der Nacht— 
falterblumen. striata nämlich 
kommt ziemlich gleich häufig und oft neben 
einander an demſelben Standorte (z. B. im 
Nature Vol. XII. p. 190 flgde. 


Daphne 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


i Fig. 8. Eine ausgeprägte Nachtfalterblume 
Platanthera bifolia (solstitialis Boenninghaus) vom Weißenſtein im Albulathale. 
A Blüthe von der Seite geſehen (faſt 2: 1). B Dieſelbe gerade von vorn geſehen (4: 1). 
0 Geſchlechtsorgane nebſt Sporneingang, gerade von vorn geſehen (faſt 16: 1). DE Staub- 
kölbchen, nach vollendeter Drehung, nebſt ihren Klebſcheibchen (faſt 16 : 1). br Blüthendeck— 
blatt, ov Fruchtknoten, sss äußerer Kreis der Blüthenhüllblätter, p p p’ innerer Kreis 
der Blüthenhüllblätter, n hohler Sporn, bis x mit Honig gefüllt, o enge Eingangsöffnung 
deſſelben, a Anthere, a a Antherenrudimente, ar rechte, al linke Antherentaſche, po Staub- 
lölbchen, e Stiel deſſelben, d Klebſcheibchen von der Seite geſehen, d daſſelbe auf der 
Innenfläche, d? daſſelbe auf der Außenfläche. Die Spornlänge variirte an dem angegebenen 
Standort von 13 — 21 Millimeter. Die weißen Blumen entwickeln des Abends kräftigen 
Duft. Der Sporn iſt dann oft bis / feiner Länge mit Honig gefüllt. 
ſchmetterlinge ihren Rüſſel in den hohlen Sporn ſtecken, um deſſen Honig zu gewinnen, ſo 
kitten fie dabei unvermeidlich die beiden auf der Innenfläche klebrigen Scheibchen (C, d d') 
an die Baſis ihres Rüſſels, nehmen beim Wegfliegen die dieſen Klebſcheibchen angehefteten 
Staubkölbchen (Fig. D E) mit ſich und ſtoßen dieſelben, nachdem fie die in Fig. E darge— 
ſtellte Abwärtsdrehung gemacht haben, gerade gegen die Narben (st Fig. C) der nächſt— 
beſuchten Blüthen, wo dann ein Theil des Pollens haften bleibt. 


Wenn nun Nacht⸗ 


oberen Theile des Heuthales am Bernina) 
in allen Farbenabſtufungen zwiſchen Roſen— 


roth und Weiß vor, und wird nach meinen 


wiederholten Beobachtungen ziemlich gleich 
häufig von einigen Tagfaltern (Colias 
Phicomone, Hesperia comma, Argynnis 
pales und euphrosyne) bei Tage fliegenden 
Widderchen (Zygaena exulans) und von 
einigen Eulen (Plusia gamma und Hochen- 
wartii) beſucht und befruchtet. Obgleich 
nun meine Beobachtungen nur bei Tage gemacht 


wurden, ſo unterliegt es doch wohl kaum 
einem Zweifel, daß die auch des Nachts 
fliegenden beiden Eulen die bei Tag und 
Nacht geöffneten und durch kräftigen gewürz— 
haften Wohlgeruch ſich bemerkbar machenden 
Blumen der Daphne striata auch des Nachts 
beſuchen werden, wahrſcheinlich im Vereine 
mit manchen andern nur Nachts fliegenden 
Arten, und daß die bisweilen ſchneeweiße 
Farbe dieſer Blume das Züchtungsproduct 
ihrer nächtlichen Gäſte iſt. 


JH FT —— — ͤ——— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. | 


422 


Eine ähnliche Ausdauer des Blühens 
und Duftens bei Tag und Nacht, ähnliche 


Abſtufungen der Farben von Roſenroth bis 


Weiß und des Beſucherkreiſes von nur bei 
Tage fliegenden bis zu nur bei Nacht flie— 
genden Faltern bietet Gymnadenia con- 
opsea dar, die ich bei Tage in den Alpen 
von etwa zwanzig verſchiedenen Tagfalterarten 
und mehreren Dämmerungs- und Nacht— 
faltern, darunter Plusia gamma, beſucht 
fand, während George Darwindes Nachts 
an derſelben Blume außer der nämlichen 
Plusia gamma noch drei andere, nur des 
Nachts fliegende Eulenarten fing. 

Während ſo die beiden genannten Blu— 
menarten zwiſchen den Eigenſchaften der 
Tag- und denjenigen der Nachtfalterblumen 
noch völlig unentſchieden hin- und herſchwan— 
ken, neigen dagegen Gymnadenia odora- 
tissima und Crocus vernus ) unverkenn— 
bar ſchon ſehr ſtark nach der Seite der 
Nachtblumen hin. Denn ſowohl die äußerſt 
ſtark gewürzhaft duftende erſtere, als der 
faſt geruchloſe letztere ſchwanken in der Farbe 
nur noch zwiſchen blaſſem Roſenroth und 
reinem Weiß, und dem ſcheint ihr Beſucher— 
kreis völlig zu entſprechen. Denn G. odo— 
ratissima fand ich, auch wo ſie maſſenhaft 
ſtand, bei Tage doch nur ſehr ſpärlich von 
einigen Nachtfaltern (Mythimna imbeeilla, 
Odezin chaerophyllata, Crambus coulo- 
nellus) beſucht, und die blaſſen Blumen von 
Crocus vernus, welche im tief eingeſchnittenen 
Grunde des Heuthals am Berning erſt im 
Monat Auguſt am Rande des hier noch 
maſſenhaft liegenden Schnees zu blühen be— 
ginnen, faßte ich vom 4. bis 12. Auguſt 


) Das gilt in Bezug auf Crocus vernus 
wenigſtens für das Heuthal am Bernina, den 
einzigen Standort, wo ich dieſe Art im Natur— 
zuſtande zu beobachten bisher Gelegenheit 


hatte. 


1877 alltäglich längere Zeit ins Auge, 
ohne einen einzigen Beſucher zu beobachten. 
Gleichwohl fand ich beim Zergliedern ein— 
zelner Blumen Pollenkörner bis tief in die 
enge Röhre hinein befördert, wohin ſie nur 
durch Schmetterlinge gelangt ſein konnten, 
ſo daß wohl Nachtfalter hier thätig geweſen 


Fig. 9. Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen 
Tag- und Nachtfalterblumen, 
Crocus vernus. 

A Blüthe in natürlicher Größe, nach Ent- 
fernung der vordern Hälfte der Blumenkrone. 
B Die drei Narbenäſte (7: 1). C Ein Stüd- 
chen der Saftdecke (7 : 1), ſowie ein Staub- 
faden, an der Stelle, wo er ſich von der 
Blumenkrone trennt, durchſchnitten. Man 
ſieht, wie ſich die Behaarung zwiſchen zwei 
Staubfäden und in dem Winkel zwiſchen 
Staubfäden und Blumenkrone ausbreitet. 


ſein mußten. Nicca,*) welcher die Blüthen 
des Crocus vernus häufig und eifrig von 
Tagſchmetterlingen beſucht fand, hat ver— 
muthlich lebhafter gefärbte Abänderungen 
dieſer Blume vor ſich gehabt. Da übrigens 
Ricca, der bis jetzt allein über die Be— 
9 Atti della Soc. It. di Scienze nat. Vol. 
XIII, fasc. III p. 254. 255. 


fruchtungseinrichtung von Crocus vernus 
etwas veröffentlicht hat, die Blüthen irr— 
thümlicher Weiſe als honiglos und trotzdem 
von Schmetterlingen häufig und eifrig be— 
ſucht ſchildert, ſo will ich nicht unterlaſſen, 
ſogleich an dieſer Stelle ſeinen Irrthum zu 
berichtigen. 

Die lange Blumenkronenröhre des Cro- 
cus vernus enthält in der That Honig, 
der vom Fruchtknoten ſelbſt abgeſondert zu 
werden ſcheint und, da die enge Röhre vom 
Griffel ſelbſt ausgefüllt wird, bis in das 
oben erweiterte Ende derſelben emporſteigt. 
Die nur als Saftdecke zu deutenden Härchen 
machten mich zuerſt auf die Anweſenheit 
des Honigs aufmerkſam, den ich ebenſo wie 
Ricca Anfangs überſehen hatte; darauf ge— 
lang es mir bald, ihn auf der Innenwand 
der der Länge nach offen geſpaltenen Blumen— 
kronenröhre als farbloſen Saft zu erkennen 
und ſogar ſeine Süßigkeit zu ſchmecken. 

Die Narben ſind anfangs zwiſchen den 
Staubfäden eingeſchloſſen, ſo daß nur die 
Staubbeutel ihre pollenbedeckte Außenſeite 
der Berührung der eindringenden Falter— 
rüſſel darbieten; erſt ſpäter, wenn bei reich— 
lichem Falterbeſuche der Blüthenſtaub bereits 
entfernt iſt, treten die becherförmigen zer— 
ſchlitzten Narben zwiſchen den Staubfäden 
nach außen hervor, ſo daß, wenn es an 
honigſuchenden Schmetterlingen nicht mangelt, 
ſtets ältere Blüthen mit dem Pollen jüngerer 
gekreuzt werden. Ebenſo ſicher erfolgt bei 
ausbleibendem Schmetterlingsbeſuche Selbſt— 
beſtäubung, da in dieſem Falle die mit 
Pollen behaftet gebliebenen Staubbeutel die 
zwiſchen ihnen hervortretenden Narbenäſte 
mit Pollen behaften. 


Für die Abſtammungslehre ſind die jo 
eben beſprochenen Fälle von beſonderem In— 
tereſſe. Denn da uns als Vorſtufen der 


— iu ne a nn 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


m——__— m 


423 


Falterblumen überhaupt nur Tagblumen be— 
kannt ſind, jo haben wir uns alle Nacht 
falterblumen als aus Tagfalterblumen her— 
vorgegangen vorzuſtellen und Uebergänge 
von den letzteren zu den erſteren als noth— 
wendige Durchgangspunkte vorauszuſetzen. 
Dieſe Vorausſetzung findet nun durch die 
beſprochenen Fälle ihre thatſächliche Begründ— 
ung. Die Mannigfaltigkeit der in der 
jetzigen Blumenwelt noch fortlebenden Zeugen 
des vorausgeſetzten Urſprunges aller Nachtfal— 
terblumen iſt aber damit keineswegs erſchöpft. 

Während nämlich die beſprochenen Zwi— 
ſchenſtufen durch ihre Variabilität in dem— 
ſelben Merkmale, der Farbe, theils zwiſchen 
Tag- und Nachtfalterblumen völlig unent— 
ſchieden hin- und herſchwanken, theils mehr 
nach der Seite der Nachtblumen hin neigen, 
giebt es andererſeits Verbindungsglieder 
zwiſchen beiden Klaſſen von Falterblumen, 
die in beſtimmter, nicht ſchwankender Aus- 
prägung ſich durch ihre Farbe als Tagblumen, 
durch ihr abendliches Aufblühen und erſt 
am Abend kräftig hervortretenden Duft als 
Nachtblumen kennzeichnen und in der That 
ſowohl bei Tage als bei Abend und Nacht 
von Faltern beſucht und befruchtet werden. 
Außer Orchis (Anacamptis) pyramidalis, 
auf deren Doppelnatur bereits Darwin 
in ſeinem Orchideenwerke hingewieſen hat, 
verdient in dieſer Beziehung noch der Türken⸗ 
bund, Lilium Martagon, hervorgehoben 
zu werden. Obgleich derſelbe ſeinen kräf— 
tigſten Duft erſt des Abends entwickelt und 
erſt dann durch denſelben ſeine wirkſamſten 
Kreuzungsvermittler, die Schwärmer, an ſich 
lockt,“) fo iſt er doch noch hinreichend 
augenfällig gefärbt, um auch bei Tage die 
Aufmerkſamkeit verſchiedener Falter zu er— 
regen und manche derſelben zu andauernden 
Beſuchen zu veranlaſſen. So ſah ich ſeine 

*) Nature Vol. XII. p. 50 flgde. 


54 


424 


Blüthen in den Alpen bei Tage von Agrotis 
ocellina, Mythimna imbeeilla, Zygaena 
transalpina, filipendulae, exulans, Ino 
statices, Colias Phicomone und Poly- 
ommatus hippothos var. eurybia, zum 
Theil ziemlich häufig, beſucht und gelegent- 
lich auch befruchtet, aber eine einzige Macro- 
glossa stellatarum, die ich gegen Abend 
(in Metzerall in den Vogeſen, 5. Juli 1874) 
wenige Minuten hindurch am Türkenbunde 
in Thätigkeit ſah, befruchtete während dieſer 
kurzen Zeit wahrſcheinlich mehr Blüthen, 
als alle obigen Beſucher zuſammen ge— 
nommen, ſo oft ich ſie auch ins Auge ge— 
faßt habe. 

Mit ihrer ſchmutzig hellpurpurnen, dunk— 
ler gefleckten Blüthenhülle macht dieſe Lilien— 
art durchaus den Eindruck, der Abkömm— 
ling einer wie Lilium bulbiferum feurig 
gefärbten Tagfalterblume zu ſein, welche 
ſich nachträglich der viel wirkſameren Kreuz— 
ungsvermittlung der Schwärmer angepaßt 
und, dem züchtenden Einfluſſe der Falter 
entzogen, ihre lebhafte Farbe eingebüßt hat. 
Sie iſt aber auf halbem Wege ſtehen ge— 
blieben. Es iſt den zuletzt als Blumen— 
züchter in Thätigkeit getretenen Schwärmern 
wohl gelungen, am Türkenbund ſich in der 
Regel nach unten gekehrte Blumenformen 
zu züchten, deren Honigrinnen nur ihnen 
als freiſchwebend ſaugenden Schmetterlingen 
bequem zugänglich ſind und die nur ihren 
nächtlichen Beſuchern kräftigen Wohlgeruch 
ſpenden; aber ſie ſind, in Ermangelung 
geeigneter Abänderungen, weder im Stande 
geweſen, die früher von Tagfaltern gezüch— 
tete lebhafte Farbe hinlänglich zu beſeitigen, 
noch dieſe urſprünglich alleinigen Beſucher 
vom Genuſſe des Honigs auszuſchließen. 
Sie müſſen es ſich daher gefallen laſſen, 
die Honigbehälter oft von dieſen entleert zu 
finden, was ihnen dann natürlich das eif— 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


rige Weiterarbeiten an derſelben Blumenart 
verleidet und dieſe zum Nothbehelfe der 
Selbſtbefruchtung zwingt. 

Dieſe nur halbgelungene Blumenzüchtung 
der Schwärmer führt uns nun zur Betrach— 
tung ihrer ganz gelungenen Züchtungsprodukte, 
d. h. der Schwärmerblumen, die zugleich 
mit der Beſchränkung auf den engſten Be— 
ſucherkreis die vollkommenſte Sicherung der 
Kreuzungsvermittlung gewonnen haben. Wo— 
durch gerade die Schwärmer beſonders ge— 
eignet ſind, ihren auserwählten Lieblingen, 
die ihnen allein ihren Honig aufbewahren, 
den entſcheidenden Vortheil regelmäßiger 
Kreuzung zuzuwenden, wird uns am deut— 
lichſten in die Augen ſpringen, wenn wir 
die Blumenarbeit der Tagfalter mit der— 
jenigen der Schwärmer vergleichen. 

Die Tagfalter betreiben ihre Blumen— 
beſuche in leichter, tändelnder Weiſe, nicht 
als eine ernſte Arbeit um den nöthigen 
Lebensunterhalt, ſondern als die nächſt der 
Liebeswerbung angenehmſte Unterhaltung in 
den warmen Strahlen der Sonne. Die 
Blumen ſind ihnen öffentliche Vergnügungs— 
orte, die ihnen neben ſüßem Honiggenuſſe 
die beſte Gelegenheit darbieten, ihre Pracht— 
kleider zur Schau zu ſtellen und Liebesver⸗ 
hältniſſe anzuknüpfen, die ſie aber jeden 
Augenblick bereit ſind, im Stiche zu laſſen, 
ſei es, um mit dem erſten beſten Kameraden, 
der ſich blicken läßt, ſich jagend durch die 
Luft zu wirbeln, ſei es, um einem in Sicht 
gekommenen Weibchen nachzuflattern oder 
einer eingebildeten Gefahr zu entfliehen. Ganz 
auf ſo unſichere, leichtfertige Gäſte ſich ein— 
zurichten, kann ſelbſtverſtändlich nur für eine 
verhältnißmäßig geringe Zahl von Vergnüg— 
ungslokalen, die für dieſelben eine ganz beſon— 
dere Anziehungskraft haben, und zu denen die— 
ſelben daher doch immer wieder zurückkehren, 
ein lohnendes Geſchäft ſein. Daher iſt die 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Zahl der Tagfalterblumen im Vergleich zu 
der der Tagfalter vielmal kleiner, als z. B. 
die Zahl der Hummelblumen im Vergleich 
zu derjenigen der Hummeln, aber auch als 
die Zahl der Schwärmerblumen im Ver— 
gleich zu derjenigen der Schwärmer. 

Denn wie an Rüſſellänge, ſo ſind an 
Schnelligkeit des Flugs und der Blumen— 
befruchtung die Schwärmer allen übrigen 
Inſekten weit überlegen. Den vollen Ein— 
druck von ihrer Leiſtungsfähigkeit kann man 
jedoch wohl nur auf den blumenreichen Alpen— 
höhen bekommen, wo einige Schwärmerarten 
am hellen Tage, ſelbſt in der brennenden 
Mittagsſonne, umherſchwärmen, und, von 
dem Licht und der Wärme vielleicht noch 
zu erhöhter Lebensenergie angeregt, an dem 
die kahlen Flächen überkleidenden Blumen— 
teppich dicht von unſeren Augen ihre er— 
ſtaunlichen Leiſtungen ausführen. 

Unter dieſen günſtigſten Umſtänden hatte 
ich in den Mittagsſtunden des 22. Juli 
1877 auf dem Albulapaſſe und den ihn 
umgebenden Höhen wiederholt das Glück, 
dem Schauſpiele ihrer vollen Kraftentfal- 
tung in nächſter Nähe beizuwohnen. Ich 
ſah da eine einzige Macroglossa stellatarum 
in wenigen Minuten an mehreren hundert 
Blüthen von Primula integrifolia und 
dazwiſchen an einzelnen von Viola calcarata 
freiſchwebend ſaugen. Eine zweite beſuchte 
in ebenſo kurzer Zeit hunderte von Gentiana 
bavarica und verna und Viola calcarata, 
dazwiſchen einzelne Gentiana exeisa. Eine 
dritte und vierte hielten ſich an Primula inte- 
grifolia und verweilten in der Regel noch nicht 
einmal ganz eine Secunde an einer einzelnen 
Blüthe, wahrſcheinlich weil die meiſten Blüthen 
ihres Honigs bereits entleert waren; denn 
an manchen verweilten ſie freiſchwebend und 
ſaugend mehrere Secunden. Außer mehreren 
hundert Primula integrifolia ſaugten ſie da— 


zwiſchen einzelne Pr. farinosa und Viola 
calcarata. Eine fünfte verfolgte ich mit 
der Secundenuhr in der Hand; ſie beſuchte 
in nicht ganz 4 Minuten 108 Blüthen von 
Viola calcarata, die Spitze des Rüſſels 
war ſo dicht mit dem weißlichen Pollen 
derſelben umkleidet, daß man ſie auf einige 
Schritte Entfernung deutlich erkennen konnte. 
Nach dem Beſuche der 108 Blüthen verlor 
ich das Thier aus den Augen. Als ich 
eben die Beobachtung notirt hatte und wieder 
aufblickte, ſah ich abermals eine Macroglossa 
stellatarum an Viola calcarata beſchäftigt 
(ob daſſelbe Exemplar oder ein neues, weiß 


ich nicht). Ich verfolgte fie wieder mit der 
Uhr in der Hand. Sie beſuchte in 6°), 
Minuten 194 Blüthen; durchſchnittlich 


brauchte ſie alſo zum Beſuche einer Blüthe 
und dem Fluge zur folgenden nur zwei Se— 
cunden. An manchen Blüthen verweilte ſie 
nur äußerſt flüchtig, an anderen mehrere 
Secunden; an allen aber ſchob ſie freiſchwe— 
bend das Ende des (22— 28 mm. langen) 
Rüſſels unter den Narbenkopf und bewirkte 
daher ſicher Befruchtung mit Pollen getrenn— 
ter Stöcke. 

Wenn dieſe Beobachtungen nicht nur die 
enorme Behendigkeit und Ausdauer der 
Schwärmer im Ausſaugen des Blumen- 
honigs, ſondern zugleich ihr im ganzen treues 
Feſthalten an derſelben einmal erwählten 
Blumenart uns klar vor Augen ſtellen, wer 
möchte dann bezweifeln, daß ſie viel erfolg— 
reichere Blumenzüchter ſein müſſen, als die 
leichtlebige Geſellſchaft der Tagfalter und 
ſelbſt als die zwar den Tagfaltern in Raſch— 
heit und Ausdauer in ihrer Blumenarbeit 
weit überlegenen, aber doch den Schwärmern 
noch lange nicht gleichkommenden Eulen? 
Trotz ihrer geringen Zahl, trotz ihrer im 
Ganzen ſo beſchränkten Flugzeit, und trotz 
der in unſeren Breiten ihnen ſo ungünſtigen 


426 


Müller, Die Inſekten als 


Witterung, die oft vielleicht Wochen lang 
ihre Ausflüge gänzlich verhindert, iſt es in 
der That den Schwärmern gelungen, ſelbſt 
bei uns ſich mehrere ihrer auserwählten 
Lieblinge ſo langröhrig und leicht bemerkbar 
zu züchten, daß alle übrigen Beſucher vom 
Genuſſe des Honigs derſelben ausgeſchloſſen 
bleiben und ſie ſelbſt jedes Zeitverluſtes 
durch Umherſuchen nach dem ihnen ausſchließ— 
lich zugänglichen Honig überhoben ſind. 
Nur auf den Alpen, wo, wie wir ſo— 
eben geſehen haben, einige Schwärmer mit 
Vorliebe im Sonnenſcheine ihre Ausflüge 
machen, iſt es ihnen möglich geweſen, ſich 
Tagblumen zu ihrem ausſchließlichen Ge— 
brauche zu züchten. Gentiana bavarica 
und verna (und vielleicht noch einige andere 
Gentiana-Arten der Untergattung Oyelo- 
stigma) ſind in der That unzweideutige 
Züchtungsprodukte der im Sonnenſcheine 


ſchwärmenden Sphingiden; ſie find unzwei- 


felhaft Tagſchwärmerblumen. 


Aus 


unbewußte Blumenzüchter. 


Blumenröhren, wie diejenigen von C. ba- 
varica und verna, über 20 Millimeter 
lang ſind, da von allen Schmetterlingen 
der Alpen nur Schwärmer hinlänglich lang— 
rüſſelig genug ſind, um den Honig der— 
ſelben auszubeuten. 

In der Ebene und niedern Berggegend, 
wo die Schwärmer in der Regel erſt des 
Abends zu fliegen beginnen, haben ſie na— 
türlich in der Regel auch nur Nacht— 
ſchwärmerblumen ſich zu züchten ver— 
mocht, wie einerſeits unſere Heckenwinde 
(Convolvulus sepium), die blos durch ihre 
ſchneeweiße Farbe Schwärmer in ihre großen 
Blüthentrichter lockt, und die ebenfalls weiße, 
aber faſt geruchloſe Lychnis alba, anderer- 
ſeits Lonicera, Perielymenum, Caprifolium 
und Saponaria officinalis, welche außer 
der bleichen Farbe einen kräftigen Wohl— 
geruch als Anlockungsmittel beſitzen. 

Auch zwiſchen Tag- und Nachtſchwärmer— 
blumen fehlt es nicht an Verbindungsglie— 


der von den Hummeln gezüchteten Unter— | 


gattung Coelanthe hervorgegangen, haben fie | 


von dieſer die blaue Farbe und die röhrige 
Blumenkrone ererbt, Schmetterlinge aber 
haben daraus Blumenröhren gezüchtet, deren 
Eingang durch die zu einer Scheibe ver— 
breiterte Narbe allen Nicht-Schmetterlingen 
verſchloſſen iſt, und die ſich durch Zuſam— 
mendrehen ſchließen, ſobald die Sonne hinter 
den Wolken oder hinter den Bergen ver— 
ſchwunden iſt und die plötzlich eingetretene 
Kühle die Falter vom Schauplatze ihrer 


dern, und nicht ſelten weiſen Erbſtücke der 
letzteren mit Beſtimmtheit auf ihren Ur— 
ſprung aus Tagblumen hin. So bekun— 
det Saponaria officinalis, Oenothera bien- 
nis und Mirabilis Jalapa durch ihre Farbe, 
Posoqueria fragrans durch gelegentliches 
Aufblühen bei Tage ihre Abſtammung von 
Tagblumen. 

Bei dem großen Dunkel, welches über 


den Verwandtſchaftsverhältniſſen der höheren 


Thätigkeit verſcheucht hat. Die erſten Stu- 


fen der Untergattung Cyelostigma, welche 
durch dieſe Eigenſchaften ſich auszeichnet, 
mögen durch Tagſchmetterlinge überhaupt 
gezüchtet worden ſein. 


Unzweifelhaft aber 


find Tagſchwärmer die Züchter aller der- 
jenigen Cyelostigma-Arten geweſen, deren 


Pflanzen noch herrſcht, muß uns jeder 
Fingerzeig, der uns auf die Abſtammung 
gewiſſer Arten hinweiſt, willkommen ſein. 
Und ſo viel wenigſtens dürfte aus den 
vorſtehenden Auseinanderſetzungen mit Si— 
cherheit hervorgehen, daß uns in den Falter— 
blumen überhaupt und in den Nachtfalter- 
blumen insbeſondere ſehr beſtimmte der— 
artige Fingerzeige vorliegen. 


Der Spradienkampf im Wallifer 


Von 


Alexander Maurer. 


eben Graubündten dürfte Wal— 


3 Sittenforſcher wohl die inter— 
W eſſanteſte Alpenlandſchaft der 

ganzen Schweiz ſein. In immer 
engern und engern Kreiſen umtoſen ita— 
lieniſches, deutſches und franzöſiſches Leben 
ſeine altersgrauen Bergrieſen. Von der 
Spitze des Monte Roſa ſchweift der Blick 
weit über die lombardiſche Ebene, die Al— 
pen Savoyens, der Dauphiné und der 
deutſchen Schweiz hin. An ſeinen Fels— 
und Eispyramiden erproben alljährlich Hun— 
derte kühner Berg- und Gletſcherfahrer ihre 


lis für den Sprach- und 


| 


Hochgebirge. 


ches Denkwürdige dem Staube der Ver— 
geſſenheit entriſſen; es ſcheinen ihr aber die 


ſogenannten hiſtoriſchen Perſönlichkeiten mehr 


zu imponiren als die Strömungen des 
Volksgeiſtes. 

Schon iſt im Unterwallis das meiſte 
Eigenthümliche geſchwunden. Das hölzerne 
Haus, welches auf eingerammten Pfählen 


mit rohen, einfach darüber hingelegten Fels— 


platten ruht, weicht dort dem ſteinernen 


Kulturgebäude, der zinnerne Krug dem 


Kraft, Ausdauer und Schwindelloſigkeit. 


Aber um das Volk, welches in dieſen Thä— 
lern hauſt, bekümmert ſich ſelten einer. 


Gegenſtande etwas mehr Aufmerkſamkeit zu 
widmen, als bis heute geſchehen; zumal in 
der Jetztzeit, wo Eiſenbahnen- und Table 
d' höte-Demokratie mit ihrem kosmopolitiſch 
nivellirenden Hauche ſo gewaltig im her— 
gebrachten Stillleben dieſer Gebirgsſtämme 
aufräumen. 


Glaſe, die hölzerne „Gebſe“ den individua— 
liſtiſchen Beſtrebungen des Thongeſchirrs. 
Die Landestracht, mit Ausnahme des kurz— 
krämpigen, flachen Hutes der Weiber, iſt 


dort ſowie im ganzen übrigen Wallis be— 
reits abgethane Sache. Die Volksſage hat 
Und doch wie dringend wäre es, dieſem 
ſchaft der römiſchen Kirche entſchieden chriſt— 


unter der mehr als tauſendjährigen Herr— 


lich-katholiſche Färbung angenommen. Doch 


bietet die patriarchaliſch-communiſtiſche Le— 


bensweiſe, namentlich aber die Sprache der 


wiſſenſchaftlichen Ausbeute noch vieles; von 


| 
| 
| 
| 


ihnen geleitet, dürfte es dem ſinnenden For— 
ſcher bisweilen gelingen, auch über ſolche 


| Wohl hat die verbriefte Geſchichte man- | Zeiten Aufſchluß zu erlangen, mit denen | 


).. 
428 Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 


ſonſt die blos auf ſchriftlichen Dokumenten 
fußende Geſchichte nichts anzufangen weiß. 

Wenn man vom italieniſchen Anzasca— 
Thale aus über den Monte Moro ins 


| 


zu viele giebt, um die Sarazenen für alle 


als Taufpathen verantwortlich zu machen. 


deutſch redende Saasthal vordringt, jo bee 


gegnen einem eine Anzahl ſeltſamer Ortsna— 
men, welche der grübelnden Phantaſie 
vaterländiſcher Geſchichtsfreunde zum Aus— 
gangspunkte einer abenteuerlichen Hypotheſe 
dienten. 

Die Namen der Allalinhörner, der 
Miſchabel, des Fleckens Almagell und des 
Saasthals ſelber, heißt es, könnten von 
keiner abendländiſchen Sprache aus erklärt 
werden, es hafte ihnen vielmehr morgen— 
ländiſches und zwar arabiſches Gepräge an. 
Nun erzählen aber alte, theils verbriefte 
Ueberlieferungen, daß im X. und XI. Jahr- 
hundert Sarazenen die Kantone Waadt, 
Graubündten und Wallis heimgeſucht haben. 
Warum, ſagt man, hätten dieſe nicht 
einen Abſtecher ins Saasthal machen, ſich 
dort niederlaſſen und in den Namen der 


erwähnten Oertlichkeiten Denkmäler ihres 


Daſeins hinterlaſſen können? Unter der 


Herrſchaft arabiſirender Vorurtheile bezeich— | 


nete man ſogar den Weg, den die hypo— 
thetiſchen Sarazenen einſchlugen, um in die 
Einſamkeit des Saasthales zu dringen. 
Der Monte Moro, behauptete man, ſei 
nichts anderes als der Mohrenberg und ver— 
danke dieſe Benennung offenbar den ſonnen— 
verbrannten Söhnen der arabiſchen Wüſte, 
welche während der angezogenen Jahrhun— 
derte die Länder ums Mittelmeer herum 
unſicher machten. 

Die Erzählung klingt plaufibel und hat 


ſich deswegen in die Walliſer Geſchichte von 
Furrer und die Mittheilungen der Zür- 
cher archäologischen Geſellſchaft eingeſchlichen. 
Schade nur, daß es der Monti mori, der 


Bedauerlich iſt ebenfalls der Umſtand, daß 
die arabiſchen Namen, auf welche die in 
Rede ſtehenden Ortsbezeichnungen zurück— 
gehen ſollen, noch nicht angegeben worden 
ſind. So lange dies nicht auf motivirte 
Weiſe geſchieht, möchte es gerathener ſein, 
die Sarazenen in Ruhe zu laſſen und ſich 
mit einer Löſung zu begnügen, auf welcher 


ſchon Gatſchet im Jahrbuche des Schwei— 


Schwarzberge oder Schwarzhörner, doch gar 


zer Alpenclubs hingedeutet hat: Die Na— 
men Allalin, Almagell, Saas, Miſchabel 


find mit arabiſchen, ſondern romaniſchen 


Urſprunges. 

Allalin bedeutet vermuthlich „bei der 
Haſelſtaude“, im italieniſchen Alpenpatois 
all' alagna, und möchte ſich zunächſt auf 
eine Weide beziehen, deren Name, wie dies 
gewöhnlich geſchehen iſt, auf die darüber 
emporragenden Bergſpitzen überging. Alagna 
heißt auch ein ſüdlich vom Monte Roſa 
im oberen Seſiathale gelegenes Dorf, in 
welchem ein ſehr verdorbenes Walliſerdeutſch 
geſprochen wird. 

Almagell — „bei den Maien“ — iſt 
offenbar das italieniſche allo majello 
(majo = Maienbaum). 

Saas entſtammt dem mittellateiniſchen 
saucea ( Weidengrund) und iſt dem ita— 
lieniſchen Sesia gleichbedeutend. 

Die drei mächtigen Zacken der Miſcha— 
bel endlich, welche ſich zwiſchen dem Saas— 
und Zermatterthale erheben, heißen in ver— 
deutſchter Geſtalt die Mittenhörner, falls 
die italieniſirende Etymologie „menze alle 
valli“ die richtige iſt. Daß die deutſchen 
Saaſer der ihnen fremd klingenden Benenn— 
ung des dreizackigen Gebirges den ihr An— 
ſchauungsvermögen mehr anſprechenden Na— 
men „Miſchtgabel“ zu unterſchieben ſuchten, 
mag ebenfalls in Betracht gezogen werden 


— 


Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 


wenn es gilt, die Taufzeugen der Miſchabel 
zu vernehmen. 

Dieſe italieniſchen Ortsnamen ſtammen 
vermuthlich aus der Zeit Gottfrieds III., 
Grafen von Blandrata, welchem anno 1250 
ſein Lehensherr, der Biſchof von Novara, 
erlaubte, eine Anzahl italieniſcher Landleute 
aus dem Anzascathale nach der dem Grafen 
Gottfried zugehörigen Meierei im Viſp— 
thale zu verſetzen und dagegen den Aus— 
wanderern aus dem Saasthale Niederlaſſun— 
gen im Anzasca- und Seſiathale anwies. 

Wie man ſieht, iſt es möglich, für die 
in Rede ſtehende Gegend auch ohne Sara- 
zenen auszukommen. 

In dem benachbarten Einfiſchthale kann 
ſich die zunftmäßige Geſchichte die ſeltſame, 
unverſtändliche Sprache der dortigen Ein— 
wohner nicht ohne die Dazwiſchenkunft einer 
hunniſchen Anſiedelung zurechtlegen. Das 


oberflächlichſte Studium dieſer Sprache zeigt 
aber, daß wir es einfach mit einer nicht 


eben außergewöhnlichen Abart des im Wallis 
geſprochenen romaniſchen Dialekts zu thun 
haben. 
nomadiſirender Charakterzug des Einfiſch— 
thälers oder Anniviard, wie er auf Roma— 
niſch heißt, mag dem Glauben an ſeine 
hunniſche Abkunft Vorſchub geleiſtet haben. 
Sommers und anfangs Winter wohnt der 
Anniviarde nämlich in ſeinem Alpenthale, 


im Frühjahr und Herbſt hauſt er dagegen 
oft 8—10 Stunden weit von feinen Som 
liſerſtammes der Ardyer. 


meraufenthalt, auf der nördlichen Seite des 
Rhonethales, während er Januar und Fe— 
bruar in Siders verbringt. Dieſe Wan— 
derungen entquellen aber nicht etwa einem 
unſteten Nomadencharakter, ſie werden viel— 
mehr von den Beſitzverhältniſſen der Anni— 
viarden mit ſich gebracht. Im Frühling 
bearbeitet er an der ſonnigen Halde des 
Wildſtrubels ſeine Weinberge, den Sommer 


Ein auf den erſten Anblick hin 
dem celtifchen arg — Wald. Das Olden— 


429 


über treibt er Alpwirthſchaft, im Herbſt 
erntet er ſeinen Wein, welchen er nach der 
Kelterung ins Gebirge führt, um durch 
Lagerung auf der Höhe den ſogenannten 
Gletſcherwein zu erzielen. In Siders end— 
lich verwerthet er ſeine Produkte. 

Steht das Hunnenmärchen auf ſehr 
lockerem Boden, ſo dürfte Aehnliches nicht 
von den Ueberlieferungen gelten, welche vor 
der römiſchen Herrſchaft im Wallis celtiſche 
Sprache und Sitte hauſen läßt. 

Soweit griechiſche und römiſche Quellen 
fließen, war die weſtliche Schweiz und mit 
ihr das Walliſerland von celtiſchen Stäm— 
men bewohnt. Celtiſche Ortsbezeichnungen, 
die dem Sturme der Jahrhunderte ſiegreich 
getrotzt, haben ſich bis auf den heutigen 
Tag erhalten. Der von den älteſten Zeiten 
her unter dem Namen Leuk, lateiniſch Leuca, 
franzöſiſch Louèche, bekannte Flecken, der 
ſich auf nacktem Felſen am ſüdlichen Ab— 
hang der Gemmi erhebt, erinnert an das 
celtiſche Wort leie, leugh = Fels. Die 
am Eingang des Turtmannthals ſtehende 
Ortſchaft Ergiſch verdankt ihren Namen 


horn, auf romaniſch Becca d' Andon, birgt 
in feinen Old oder And das celtiſche Wort 
art — Fels, jo daß dieſer Berg eigentlich 
Felſenhorn oder Felſenſchnabel heißt. Dieſes 
celtiſche art ſteckt auch im Namen des ſüd— 
lich vom Oldenhorn gelegenen Dorfes Ar— 
don und des von Polyb genannten Wal— 


Seit Julius Cäſar geriethen die Wal⸗ 
liſer unter den Einfluß Roms. Die Kul- 


turpioniere der Weltherrſcherin, ob kaiſerliche 


Soldaten oder päpſtliche Apoſtel, brachten 
das celtiſche Wort zum Schweigen und roma— 


niſirten dieſe Gebirgsſtämme, denen die 


Natur die wichtigſten Päſſe nach Italien 
anvertraut hatte, mit ebenſoviel Erfolg als 


430 


Eifer. Die römiſche Sprachflut ergoß ſich 
allmälig vom Lemanſee bis zur Furca. 
Zwar ſprechen die Oberwalliſer, ſoweit die 
Geſchichte reicht, deutſch. Doch laſſen mich 
mehrere, gleich zu erwähnende Indicien ver— 
muthen, daß die heutigen Oberwalliſer meiſt 
keine Deutſchen, ſondern verkappte Roma— 
nen ſind. 


Wer an die rauhen, tiefen Kehllaute 


der allemanniſchen Schweizer gewöhnt iſt, 
fühlt ſich von den zarten ch-Lauten des 
ebenfalls allemanniſch redenden Oberwalli— 
ſers ſeltſam angemuthet. Hier werden Chäs 
(Käſe), Chalb (Kalb), Chnächt (Knecht) mit 
einem ſo fein geliſpelten ch ausgeſprochen, 


daß ſelbſt das ch, wie es die meiſten Deut- 


ſchen im Worte ich auszuſprechen pflegen, 
an Weichheit daneben zurückſteht. 


Eine andere Eigenthümlichkeit der Ober- 
walliſer iſt es, daß ſie in vielen Wörtern, 


wo die übrigen Allemannen f ſetzen, ſch 
ſprechen. Für Gemſe ſagt er Gemſch, für 
ſie ſchi, für daß daſch, für ſich ſchich, für 
dieſe diſche, für ſeine ſchini u. ſ. w. 


Dieſes Ziſchen und Lispeln iſt durch- 
aus unallemanniſch, erhält aber aufklärendes 
Licht, wenn man damit die Lautgebung der 
romaniſch redenden Walliſer zuſammenhält. 


Die Ziſcher und die feinen Hauchlaute, welche 
uns im Munde des Oberwalliſers mit Recht 
auffallen, machen ſich da, wie überhaupt in 
allen romaniſchen Mundarten der ſüdweſt— 
lichen Schweiz, in wuchernder Fülle geltend. 


Man urtheile nach folgendem Müfter- | 


chen, wobei ich mich behufs der Lautgebung 
an die allgemein übliche franzöſiſche Ortho— 
graphie halte. In beſonderer Geltung treten 
auf: das mit einem Punkte verſehene e, der 
Buchſtabe h, das Zeichen und das 
Apoſtroph '. 6 = Vocal zwiſchen & und j, 
h = ch im deutſchen Worte ich, —= 
Naſaliſation des unter dieſem Zeichen ſtehen— 


Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 


den Vocals, — ſtummes e, inſofern dieſes 
die vollſtändige Ausſprache eines vorher— 
| gehenden Conſonanten bedingt. 
Patois der Gemeinde St. Luc im Ein— 
fiſchthale: 
é ch'enalla & chè mettouk au chervicio 
(il s'en alla et se mit au service) 
co dij' avitein’ de hlik pai-le 
(d'un des habitants de ce pays-la) 
ke ba einvouya ein cha pochèchion 
(qui l'a envoyé en sa possession) 
po vouarda le poner. 
(pour garder les pourceaux.) 

Wenn ich dem mitgetheilten Pröbchen 
noch die Bemerkung beifüge, daß der ange— 
führte Dialekt ſeines lispelnden und ziſchen— 
den Charakterzuges wegen nicht vereinzelt 
daſteht, daß vielmehr ſämmtliche Patois des 
mittleren Wallis denſelben in gleichem Maße 
theilen, ſo wird man es mir hoffentlich nicht 
verargen, wenn ich behaupte, der lispelnde 
und ziſchende Oberwalliſer ſpreche ſeinen 
allemanniſchen Dialekt mit romaniſcher Zunge. 

Dieſer Umſtand und die Menge roma— 
niſcher Ortsbenennungen im Oberwallis, 
(man denke Beiſpiels halber nur an Furca, 
Geſtelen [ Eaftel], Termen [terminus |, 
Vieſch vicus], Mund [monft]s] ete.) müſſen 
auf den Gedanken bringen, die Oberwalliſer 
ſeien germaniſirte Romanen. 

In dieſer Anſicht beſtärkt auch die Er— 
fahrung, daß an andern Orten der Schweiz, 
wo allemanniſche und romaniſche Mundarten 
ebenſo nahe neben einander hauſen, wohl 
Wörter und Wendungen, doch niemals Aus— 
ſprachsweiſen entlehnt werden. 
| Aber woher kamen die germaniſchen 
Zuchtmeiſter ins Oberwallis? Die auf ge— 
ſchriebenen Urkunden fußende Geſchichte weiß 
hierauf keinen Beſcheid; dagegen weiſen die 
Eigenthümlichkeiten des deutſchen walliſer 
Dialekts nachdrücklich auf das benachbarte 


Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 431 


Berneroberland. Hier ſtoßen wir gleich- Wie nun dem auch geweſen ſein mag, 
falls auf das fein gehauchte ch, auf Orts- in der Nähe von Siders, allwo das roma— 
namen lateiniſcher Herkunft und die ſich an niſche Wallis anfängt, ſtaute ſich die alle— 
ſolche Thatſachen knüpfende Hypotheſe einer | mannifche Wanderfluth, ob von ſelbſt oder 
Germaniſirung der urſprünglich romaniſchen gezwungen, iſt nicht auszumachen. 
Aelpler. Ueberdies umſchlingt beide Gegen— Mit der Zeit wurde den deutſchen Colo— 
den das Band eines gemeinſamen Vocalis- | niften die neue walliſiſche oder „wälſche“ 
mus, welcher auch mit demjenigen der Landes- Heimath zum heißgeliebten Vaterlande, deſſen 
ſprachen von Uri und Unterwalden ſtimmt. Unabhängigkeit ſie mannhaft gegen die länder— 
Es iſt deshalb zu vermuthen, daß die ſüchtigen Herrſcher aus dem Haufe Zährin— 
allemanniſche Wanderwelle, welche ſich einſt | gen vertheidigten. Noch jetzt ſieht der Ober— 
über das Berneroberland ergoß, nicht das walliſer ſtolz zum Kreuz bei Ulrichen empor, 
| Aarthal hinaufſtieg, ſondern über den Brünig welches jeine Vorfahren zum Andenken an 
kam. Zwar ſchnarren gegenwärtig an den den Sieg errichteten, den fie hier anno 1211 
| Ufern des Brienzer und Thuner Sees die über Berthold's V. ftolzes Bernerheer erfochten. 
rauhen Kehllaute des Stadtbernerdeutſchen. Während der kriegeriſche Sinn der ober— 
Daß dem von jeher fo geweſen, iſt nicht walliſer Hirten deutſche Art und Sprache 
glaublich, zumal im Simmen- und Saane- aufrecht hielt, verfiel der ackerbauende Unter— 
thal die ch-Laute noch jetzt mit romani- walliſer der Herrſchaft Savoyens und damit 
ſcher Zunge gelispelt werden. auch dem Einfluſſe franzöſiſcher Sprache 
Im Haslithale treten uns wieder und Sitte, welche um ſo leichter Fuß faßten, 
ſchnarrende Kehllaute entgegen, was mich als ihnen hier ein eng verwandter Volks— 
zu der Annahme führt, dieſes wilde Berg- charakter halbwegs entgegenkam. 


thal ſei zur Zeit der allemanniſchen Ein— Umſonſt vertrieben Ende des 15. Jahr— 
fälle gar nicht oder äußerſt dünn bevölkert hunderts die mit den Eidgenoſſen verbün— 
geweſen. deten Oberwalliſer die mit Karl dem Kühnen 


Daſſelbe möchte ich von den Seitenthälern von Burgund befreundeten Savoyarden aus 
des deutſchen Wallis behaupten. In dieſen dem untern Rhonethale, umſonſt beherrſchten 
werden nämlich die ch-Laute auf ächt ſie letzteres als Unterthanenland bis zur 
allemanniſche Weiſe gekreiſcht, während im franzöſiſchen Revolution, umſonſt pflogen fie 
Hauptthale die zarten Hauchlaute der roma- ihre geſetzlichen Verhandlungen ausſchließlich 
niſchen Zunge gelten. Die Bevölkerung, in deutſcher Sprache und ſchufen aus der 
deren romaniſcher Lautapparat im Munde Regierungsſtadt Sitten eine deutſche Inſel 
des ſiegreichen Allemannenthums bis auf den mitten im „wälſchen“ Sprachſee. 
heutigen Tag fortlebt, ſcheint alſo urſprüng— Durch gewaltige Gebirgsketten von den 
lich nur das Hauptthal der obern Rhone deutſchen Kulturherden abgeſchnitten, ver— 
bewohnt zu haben. Auch ſind die Alle- mochte ihr allemanniſcher, nur wenig mit 
mannen vermuthlich nicht auf einmal ins Schriftdeutſch in Berührung kommender Dia— 
Wallis eingerückt, ſondern nur nach und lekt nicht gegen die franzöſiſche Schriftſprache 
nach, weil fie ſonſt ſchwerlich das angenehmere anzufämpfen, während ihm dies doch mit 
Hauptthal im Beſitz der früheren Inhaber den romaniſchen Patois ausgezeichnet gelun— 
gelaſſen hätten. gen war. Ja, die glorreiche Waffenthat, 


Kosmos, Band III. Heft 5. 5 


S 


die fie zu Herrſchern geſtempelt, ſollte 


ſich gegen die Sprache der Sieger ſelber 
kehren. 

Denn während die Oberwalliſer im Bunde 
mit den Eidgenoſſen ihr Möglichſtes thaten, 
um den klugen Ludwig XI. ſeines burgun— 
diſchen Nebenbuhlers zu entledigen, halfen 
ſie den Einheitsſtaat gründen, deſſen Sprache 
die verwandten particulariſtiſchen Dialekte 
aus dem Felde ſchlagen und ſelbſt in manchem 
deutſch gezüchteten Hirne romaniſche Wort— 
bahnen ziehen ſollte. 

Die franzöſiſche Revolution löſte das 
Unterthanenverhältniß der Unterwalliſer zu 
ihren deutſchen Herren. Schon in der Staats— 
verfaſſung von 1802 heißt es Artikel 35: 
Kein Bürger, der ſeit 1780 geboren iſt, 
kann auf den Landrath deputirt werden, 
wenn er nicht die franzöſiſche und deutſche 
Sprache verſteht. 

Heutzutage werden die großräthlichen 
Debatten nur noch franzöſiſch gepflogen, 
obgleich die deutſche Sprache noch zuläſſig 
iſt, und weitaus die größere Anzahl der 
Deputirten verſteht kein Deutſch mehr. Auf 
den Straßen und in den Wirthshäuſern der 
Regierungsſtadt Sitten klingt nur noch ſelten 
ein deutſches Wort an unſer Ohr. Siders 
iſt ſchon halb franzöſirt, und ſelbſt der 
ſchlecht geſchulte Oberwalliſer kauderwelſcht 
meiſt noch franzöſiſch neben ſeinem alle— 
manniſchen Dialekte. Binnen einem Jahr— 
hundert dürfte das Deutſche völlig aus dem 
Rhonethal verdrängt fein. Die Richtung 
des Thals, welches die Walliſerberge an 
Frankreich kettet, ſcheint dies ſo mit ſich 
zu bringen. 

Anders geſtalten ſich dieſe Sachen in 
Graubündten, einem früher ebenfalls durch— 
aus romaniſchen Alpenlande. Seine Flüſſe 
ergießen ſich in deutſche Gegenden und be— 
dingen eine rückläufige Richtung der deutſchen 


Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 


Verkehrs- und Sprachadern nach den bündt— 
neriſchen Bergen. Wohl hauſt das Ro— 
maniſche noch an den Quellen des Rheins 
und des Inns, wohl hat es daſelbſt ver— 
ſucht, die geiſtbezaubernde Buchdruckerkunſt 
in ſeine Dienſte zu ziehen. Vergeblich! Das 
Deutſche rückt unaufhaltſam den Rhein 
hinauf. Im Prättigau, woſelbſt es hiſto— 
riſchen Zeugniſſen zufolge im 15. Jahr— 
hundert noch romaniſch ſprechende Ortſchaften 
gab, erklingt jetzt nur noch die deutſche 
Zunge, und das Gleiche gilt von Davos, 
deſſen ganz auf „wälſche“ Weiſe ziſchender 
Dialekt ein dahingeſchwundenes Romanen— 
thum verräth. Im obern Innthale käm— 
pfen Deutſch und Italieniſch zugleich um 
den Nachlaß des ſterbenden Ladiner-Idioms, 
und vorausſichtlich wird dieſes der deutſchen 
Sprache zur Beute fallen, wenn das Ita— 
lieniſche nicht mit überwiegenden, commer— 
ciellen Intereſſen ins Feld zieht. 

Die Eigenart des teſſiner romaniſchen Dia— 
lekts ſcheint früh den Einfluß des mailänder 
Dialekts verſpürt zu haben, und beide 
zuſammen treten gegenwärtig den Rückzug 
vor dem Schriftitalieniſchen an, deſſen ſieg— 
hafter Schritt auch den deutſchen Gemeinden 
im Formazza- und Greſſonaythale auf den 
Leib rückt. 

Der deutſche Schweizer möchte ſeinen 
angeſtammten allemanniſchen Dialekt, der 
ihm ans Herz gewachſen, vor der bedroh— 
lichen Concurrenz des Schriftdeutſchen ſchützen, 
kann dies aber nicht, die Bodenverhält— 
niſſe ſind gegen ihn. 

So ſehen wir denn überall in der viel— 
ſprachigen Schweiz ein feſtes Geſetz den 
Vor- oder Rückſchritt der einzelnen Sprachen 
bedingen: Die natürlichen Mundarten 
weichen überall den Kulturſprachen, und 
zwar richtet ſich der Verbreitungskreis der 
letztern vom Bildungsherde thalaufwärts, 


) 


Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 


ohne daß hierzu Eroberung oder Neuan— 
ſiedelung erforderlich wäre. 

Roher betragen ſich die Naturſprachen 
gegeneinander. Hier ſiegt die eine und 
unterliegt die andere nicht ohne Wander— 
ungen und Beſitzſtörungen. Den am Beſten 
zum Streit ausgerüſteten fällt die Palme zu. 
Daß aber der viehzüchtende Aelpler, wenn 
es gilt, ſeine Unabhängigkeit und Eigenart 
zu wahren, dem an der Scholle klebenden 
Bauern überlegen iſt, zeigen die Oberwalliſer 
und die Bewohner der ſogenannten Urkantone. 

Erſtere brachten die vorzüglich Ackerbau 
treibenden romaniſchen Walliſer unter ihre 
Botmäßigkeit, verhalfen in der Hauptſtadt 
Sitten ihrer Sprache zur Herrſchaft und 
hätten wahrſcheinlich die „wälſchen“ Patois 
vollſtändig verdrängt, wäre ihnen die fran— 
zöſiſche Schriftſprache nicht zuvorgekommen. 

„Für die Urſchweiz beweiſen genaue 
Daten chronologiſcher wie geographiſcher Art, 
daß Viehzucht und Alpwirthſchaft daſelbſt 
von den älteſten Zeiten her betrieben wurde, 
daß aber der Ackerbau vom 9. Jahrhundert 
bis 1400 höher ſtand als die Alpwirth— 
ſchaft, dagegen von 1400-1600, ſtets 
mehr vernachläſſigt, raſch hinter der Alpwirth— 
ſchaft zurücktrat, jo daß er im 18. Jahr- 
hundert ſchon beinahe verſchwunden iſt.“ 
(Meyer v. Knonau.) 

Die Entfaltung der Alpwirthſchaft auf 
Koſten der Bodenkultur fällt aber gerade in 
die Zeit, wo die junge Eidgenoſſenſchaft 
den härteſten Kampf ums Daſein gegen die 
ſie umgebenden Machthaber zu fechten hatte; 
und dieſer Fähigkeit, ſich einem frühern 


Kulturſtadium anzupaſſen, welches ſich beſſer 
mit dem Kriege verträgt, als der Ackerbau, 
mit einem Worte, dem Emporblühen des 
Kuh-Adels, verdankten wohl die Eidgenoſſen 
ihren ſchließlichen Sieg. 

So erfolgreich nun auch die ſchweize— 
riſchen Allemannen ihre angeſtammten Rede— 
weiſen gegen andere Naturdialekte vertheidigt 
haben, dem Andrange der Kulturſprachen 
vermögen ſie nicht zu ſteuern. Wie ſchon 
geſagt, ziehen die Verkehrsverhältniſſe das 
allemanniſche Oberwallis in den franzöſiſchen 
Sprachkreis, und eben daſſelbe geſchieht auch 
an manchen Orten des Aarthals, woſelbſt 
die vom franzöſiſch ſprechenden Jura ein— 
gewanderte Uhreninduſtrie binnen der letzten 
30 Jahre die Städte Biel und Murten 
völlig franzöſirt hat. Hier, wie auch noch 
anderswo, zeigt der Mitbewerb der Kultur— 
ſprachen, daß die Verbreitung der letztern 
zwar von einem geographiſchen, noch mehr 
aber von einem wirthſchaftlichen Factor ab— 
hängt. Diejenige Schriftſprache, welche zur 
Beſchaffung des täglichen Brotes die größten 
Dienſte leiſtet, greift auch am meiſten um ſich. 

Dies dürfte ſich vielleicht nicht nur im 
engen Rahmen der Walliſer und Schweizer— 
berge, ſondern auch auf unſerer Erde über— 
haupt bewähren. Die Zahl der engliſch 
Sprechenden ſoll ſich alljährlich um eine 
Million vermehren, was wahrſcheinlich keine 
andere Kulturſprache von ſich rühmen kann. 
Freilich giebt es auch keine andere, welche 


demjenigen, der ſie kann, ſolche materielle 


Vortheile zuſichert, wie gerade die engliſche 
Sprache. — 


— eee 0 —— 


Kleinere Mittheilungen und Journallchau. 


Ein neuer Mondkrater. 


Jehnten Julius Schmidt in 
Athen und andere Naturfoſcher zu 
wiederholten Malen Veränderungen 
im Relief der Oberfläche unſeres Trabanten 
wahrzunehmen geglaubt, freilich nicht ohne 
ihren eigenen Augen zu mißtrauen. Denn 
eine Anzahl von Beobachtungsthatſachen hat 
uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß 
der Mond ſowohl ohne Waſſer als ohne Atmo- 
ſphäre ſein müſſe, und es iſt ohne Voraus— 
ſetzung dieſer beiden Agentien gleich ſchwer, 
eine Fortdauer der vulkaniſchen Thätigkeit, 
wie eine nachträgliche Verwitterung anzu— 
nehmen, welche ein Einſtürzen von Fels— 
wänden und dergleichen weit ſichtbare Ver— 
änderungen herbeiführen könnte. Dazu 
kommt der Verdacht, daß man vielleicht 
mit den verbeſſerten neuen Teleſkopen Ober- 
flächenbildungen wahrnehmen könnte, die 
man früher überſehen hatte, und die ſich nur 
deshalb in den älteren Mondkarten nicht 
eingetragen finden.“) Alles dies erklärt 


) Wir benutzen dieſe Gelegenheit, um 
auf die kürzliche Vollendung der ausgezeich- 
neten Mond karte von Lohrmann hinzu— 
weiſen, welche für derartige Feſtſtellungen vom 


hinlänglich die Vorſicht, mit welcher die 
Aſtronomen die erwähnten früheren Beob— 
achtungen über Veränderungen und ebenſo 
eine neue aufgenommen haben, welche Dr. 
Hermann J. Klein zu Köln im vorigen 
Jahre mit einem ausgezeichneten Plöſſl'ſchen 
Inſtrument gemacht hat. Derſelbe bemerkte 
nämlich am 27. Mai vorigen Jahres zu 
ſeinem größten Erſtaunen, im Mare vapo- 
rum, etwas nordweſtlich vom Hyginus, einen 
großen ſchwarzen Krater, den er nie an 
dieſer Stelle wahrgenommen hatte. Er 
beſchrieb denſelben als nahezu ſo groß wie 
Hyginus, alſo ungefähr drei Meilen im 
Durchmeſſer, tief und daher meiſt voller 
Schatten, jo daß er ein auffallendes Beob— 
achtungs-Objekt auf dem dunkelgrauen 
Mare vaporum bildet. Da Dr. Klein 
dieſe Partie während der letzten zwölf 
Jahre häufig gemuſtert hatte, ſo glaubte 
höchſten Werthe iſt. Das im Jahre 1824 
(alſo vor mehr als 50 Jahren) von Lohr— 
mann in Dresden begonnene, ſpäter von den 
beiden Opelt (Vater und Sohn) fortgeſetzte 
und nunmehr von Julius Schmidt in 
Athen abgeſchloſſene Werk, beſtehend aus 27 


wahrhaft künſtleriſch geſtochenen Kupfertafeln, 


15 Bogen Text und einem Portrait Lohr— 
mann's in Stahlſtich, iſt ſoeben im Verlage 
von Joh. Ambr. Barth in Leipzig erſchienen, 
zum Preiſe von 50 Mark. 


— 


er ſicher zu ſein, daß vorher ein ſolcher 
Krater in dieſer Region nicht zu ſehen 
geweſen und theilte daher dem Dr. J. 
Schmidt in Athen, als der beſten Auto— 
rität, ſeine Wahrnehmung mit. Der Letz— 
tere konnte ihm in der That beſtätigen, 
daß der in Rede ſtehende Krater wirklich 
auf allen ſeinen zahlreichen Zeichnungen 
dieſes Theiles der Mondoberfläche fehle, 
und daß er weder von Schröder oder 
Lohrmann, noch von Mädler, der 
dieſe Region mit dem trefflichen Refraktor 
von Dorpat durchforſcht hat, verzeichnet ſei. 
Bei einigen ſpäteren Gelegenheiten ſtellte 
Dr. Klein feſt, daß derſelbe nur einen 
niedrigen oder gar keinen Wall beſitze, aber 


eine tiefe trichterförmige Einſenkung des 
Kurz nach Sonnenauf- 
einem Briefe an die engliſche Zeitſchrift 


Bodens darſtelle. 
gang nahm der Krater das Ausſehen eines 
dunkelgrauen Fleckes mit ſchlecht ausgepräg— 
tem Rande an. Im April 1878 theilte 
Dr. Klein ſeine Beobachtungen dem Her— 
ausgeber des „Selenographiſchen Journals“ 
mit, welcher mehrere engliſche Mondforſcher, 


nämlich J. Ward in Belfaſt, ferner 
Knott, Backhouſe, Neiſon und 
Sadler zu Beobachtungen veranlaßte, 


von denen trotz des im Mai ungünſtigen 
Wetters bei mehreren Gelegenheiten der 
neue Klein'ſche Krater deutlich als dunk— 
ler elliptiſcher Fleck erkannt wurde. Unter 
ihnen hatte ſich Mr. Neiſon in den 
Jahren 1871 — 75 ebenfalls eingehend mit 
der in Rede ſtehenden Region beſchäftigt und 
dort eine Anzahl ſehr winziger Oberflächen— 
Details entdeckt. Er glaubt daher mit 
abſoluter Gewißheit beſtätigen zu können, 
daß bis zum Jahre 1876 an der betref— 
fenden Stelle kein tiefer und drei Meilen 
breiter Krater vorhanden geweſen iſt, ob— 
wohl dort ſtets eine größere Anzahl kleiner 
Krater von weniger als einer Meile 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


435 


Durchmeſſer bemerkt und verzeichnet worden 
ſind. Wenn alſo die Exiſtenz des neuen 
Klein'ſchen Kraters außer Zweifel geſtellt 
wird, ſo iſt damit nach Neiſon's Anſicht 
der ſtrengſte Beweis einer wirklichen Ver— 
änderung der Mondoberfläche geliefert. Es 
iſt ein beſonderer Glückszufall, daß die 
Wahrnehmung gerade eine von Lohrmann, 
Mädler, Schmidt und Neiſon genau 
und wiederholt durchforſchte Gegend betrifft, 
denn in einer weniger bekannten Region 
würde man niemals über wohlberechtigte 
Zweifel hinausgekommen ſein. Auch iſt 
das Ausſehen dieſes Theiles, weil nahe dem 
Centrum der ſichtbaren Mondſcheibe belegen, 
nur unbedeutend durch die Schwankungen 
(Librationen) des Mondes beeinflußt. Mit 
Recht bemerkt aber E. Greenhow in 


„Nature“, daß, die Richtigkeit dieſer Beob— 
achtungen vorausgeſetzt, dadurch keineswegs 
die Nothwendigkeit gegeben ſei, die Bild— 
ung dieſes neuen Kraters einer derzei— 
tigen vulkaniſchen Thätigkeit zuzuſchreiben. 
Er meint, daß die Bildung des neuen 
Kraters ſehr wohl ebenfalls der vulkaniſchen 
Thätigkeit längſt vergangener Zeiten zuge— 
ſchrieben werden könnte, ſofern durch die— 
ſelbe weite Höhlungen unter der Ober— 
fläche unſeres Trabanten entſtanden ſein 
möchten. In Folge des ſtarken Tempera- 
turwechſels, dem die Oberfläche des Mon— 
des beſtändig ausgeſetzt iſt, und der zwiſchen 
Tag und Nacht mehrere Hundert Grad 
betragen dürfte, könnten deren Wölbungen 
gelegentlich einſtürzen. Eine kraterähnliche 
Aushöhlung würde dann durch das Ein— 
ſinken der Oberfläche erzeugt werden, ebenſo 
wie man ſolche Senkungen nicht ſelten in 
Bergwerksgegenden findet, wo alte Stollen 
einſtürzen. In der That wird dem neuen 
Krater ein elliptiſcher und nicht kreisförmi— 


| 


| 436 


ger Umriß 
vulkaniſche 


zugeſchrieben, während die durch 


ſind. Auch der Mangel eines eigentlichen 
Kraterwalles unterſtützt dieſe Vermuthungen. 
(Nature 451 and 452, June 1878.) 


Metamorphismus der Geſteine aus 
mechaniſchen Urſachen. 


Die Entſtehung einer Reihe von me— 
tamorphiſchen Geſteinen, wie z. B. des 
Marmors, aus neptuniſchen Kalklagern 
ſchreibt man gewöhnlich plutoniſchen Ein— 
flüſſen zu. Man nimmt an, daß die Hitze 
eines in der Nähe ſtattgefundenen vulkani— 
ſchen Vorganges, z. B. das Empordringen 
oder Ueberlagern eruptiver und geſchmolze— 
ner Geſteinsmaſſen, die dazu erforderliche 
Temperaturerhöhung bewirkt habe. In der 
That hat Hall nachgewieſen, daß man 
kohlenſauren Kalk ſogar ſchmelzen kann, 
ohne daß er ſeine Kohlenſäure verliert, 
wenn der Proceß bei erhöhtem Dampfdruck 
vorgenommen wird, und weitere Verſuche 
haben ergeben, daß dieſe Wirkung ſich ſehr 
weit in der Nachbarſchaft erſtrecken könnte, 
da auch eine mäßige Wärme bei länger 
ausgedehnter Wirkung hinreicht, um loſe 
Maſſen zuſammenſintern und kryſtalliniſches 
Gefüge annehmen zu laſſen. Indeſſen fin— 
den ſich in der Nähe anſcheinend plutoniſch 
metamorphoſirter Felsſchichten keineswegs 
überall die Spuren vulkaniſcher Einwirk 
ung, und in der That hat der um die 
Aufhellung der Räthſel des Metamorphis 
mus ſo verdiente franzöſiſche Geolog A. 
Daubrée jüngſt durch eine Reihe von 


Thätigkeit entſtandenen Krater 
faſt immer völlig oder nahezu kreisförmig 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Male erblickt, überraſcht. 


Innern in den zerbrochenen 


Verſuchen gezeigt, daß in vielen Fällen in | 
den Geſteinen auf mechaniſchem Wege er- ſcheint noch heute für gewiſſe Länder der 


zeugte Wärme völlig ausreichen könnte, die 
beobachteten Umwandlungen zu erklären. 
„Eine der merkwürdigſten Eigenthümlich— 
keiten der Felſen, welche die unter dem 
Namen Metamorphismus zuſammengefaßten 
mineralogiſchen Umwandlungen erlitten ha— 
ben, iſt, daß verſchiedene umgewandelte 
Felſen häufig mit einander vergeſellſchaftet 
vorkommen und dann zuſammen bedeutende 


Gebiete einnehmen, während andere noch 
ausgedehntere Regionen keine ähnlichen Um— 


wandlungen zeigen. So nehmen z. B. in 
den Alpen Felſen jeden Alters daran Theil, 
Steinkohlen-, triaſiſche, juraſſiſche, Kreide— 
und eocäne Felſen zeigen ein Altersgepräge, 
welches den Beobachter, der ſie zum erſten 
Die Ardennen, 
der Taunus, das Wallis u. A. zeigen 
ganze Gebirgsmaſſen, die umgewandelt wor— 
den ſind. Dagegen ſcheinen in Rußland 
die ſiluriſchen und devoniſchen Bildungen 
ihren urſprünglichen Charakter bewahrt zu 
haben. Zahlreiche Beiſpiele haben gelehrt, 
daß der ſtrichweiſe Metamorphismus ſich 
in Gebieten entwickelt hat, deren Felsſchichten 
Verwerfungen erlitten haben, während 
Schichten, die ihre urſprüngliche Horizon— 
talität bewahrt haben, wie in einem Theile 
Oſteuropas oder den Vereinigten Staaten, 
keine Umwandlungen erlitten haben. Die 
Umwandlungen, um die es ſich hier han— 
delt, ſind aller Wahrſcheinlichkeit nach unter 
dem Einfluſſe einer Temperaturerhöhung 
vor ſich gegangen, und im Allgemeinen hat 
man wirklich die betreffenden Veränderungen 
dem Umſtande zugeſchrieben, daß die Erd— 
rinde bedeutendere Wärmemengen aus dem 
Theilen zuge— 
führt erhalten haben möchte, als in den 
unveränderten, ſelbſt wenn kein Eindringen 
eruptiver Maſſen beobachtet wird. Dies 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Fall zu fein, wie z. B. in Toscana, wo- | 
ſelbſt dem Boden heiße Dämpfe entſtrömen. 
Abgeſehen von den Wärme-Ausſtrahlungen 
und chemiſchen Wirkungen, welche aus den 
Tiefen der Erde herauskommen und in 
eine 
Rolle ſpielen könnten, giebt es aber eine 
unmittelbarere und allgemeinere Urſache, 


dem ſtrichweiſen Metamorphismus 


welche die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen 
verdient, nämlich die Wärme, welche 
mechaniſche Wirkungen erzeugen, 
deren Spuren in dieſen Bergen in den 
zahlreichen Falten und Verbiegungen der 
Schichten zurückgeblieben ſind. Bei der 
Energie der Druckkräfte, welche die viel— 
fachen Verſchiebungen der Erdkruſte und die 
inneren Bewegungen der Felsmaſſen erzeugt 
haben, ſteht man überwältigt von dem un— 
geheuren Maße der ins Spiel gekommenen 
Arbeit. Man kommt auf den Gedanken, 
daß dieſe Arbeit nicht in rein mechaniſche 
Wirkung umgewandelt worden und daß die 
Schichten, welche dieſen Kräften ausgeſetzt 
waren, einer bedeutenden Erwärmung aus— 
geſetzt worden ſein müſſen. Es iſt eine 
Eigenheit der mechaniſchen Wirkungen, ſich 
in den meiſten Fällen in zwei Theile zu 
theilen, die einen, welche die Umgeſtaltun— 
gen, die anderen, welche die Aenderungen 
der Temperatur bewirken.“ 

Um nun irgend einen Anhalt für die 
Größe der Wärmemengen zu gewinnen, 
welche durch die Reibung der Theile ge— 
quetſchter Maſſen entſtehen, hat Daubree 
Verſuche mit Thonen angeſtellt, die gerade 
nur ſo viel Waſſer enthielten, daß ſie ſich 
bearbeiten ließen. Ein Thon von der Con— 
ſiſtenz des zur Ziegelfabrikation dienenden 
Lehmes, wurde in einer Dampfknetemaſchine 
von vier Pferdekraft zwei Stunden hindurch 
derart bearbeitet, daß die unten heraus— 
n Maſſe immer wieder oben neu 


. 


437 


aufgegeben wurde; ſie zeigte dabei eine 
regelmäßige Wärmezunahme, die zuletzt 21,5“ 
betrug; der Thon hatte ſich von 8,5“ auf 
290 erwärmt. Bei einer anderen, mit 
ſechs Pferdekräften betriebenen Knetmaſchine 
zeigte der anfangs 18 warme Thon nach 
25 Minuten 36,3“, nach 35 Minuten 
38,8 und nach 45 Minuten 40,1. Ein 


anderer Verſuch mit 140 Kilogramm Thon 


von 149, ergab nach einſtündiger Bearbeit- 
ung eine Wärmezunahme von über 30°, 
Die Curve, welche den Gang der Wärme— 
zunahme bei dieſer Behandlung des Thones 
darſtellt, zeigt anfangs ein ſchnelleres, ſpäter 
ein langſameres Anſteigen, zweifellos in 
Folge der ſich ſpäter in erhöhtem Maße 
geltend machenden Abkühlung. Weichere 
Lehme zeigten unter den gleichen Beding— 
ungen eine geringere Wärmezunahme, und 
bei ganz trockenen und harten Maſſen iſt 
ſie, wie man aus der ſtarken Erhitzung 
beim Schleifen derſelben weiß, noch bedeu— 
tend größer. Daub re führt am Schluſſe 
eine Reihe von Beiſpielen an, bei denen 
eine mäßige Erwärmung hinreichte, um 
langſam ähnliche chemiſche Veränderungen 
herbeizuführen, wie ſie ſich in metamorpho— 
ſirten Geſteinsſchichten finden. (Comptes 
rendus T. LXXXVI p. 1047 u. 1104.) 


Juterfamiliäre Variation. 


Mit dieſem oder einem ähnlichen Namen 
kann man vielleicht eine Art der Variation 
unterſcheiden, auf welche Herr Dr. Paul 
Magnus in Berlin in einer Sitzung des 
botaniſchen Vereins der Provinz Branden— 
burg hingewieſen hat. Derſelbe ging dabei 
aus von den Anomalieen einiger Exemplare 
von Fragaria elatior Ehrh., die im Garten 


438 


des Sommerfeldt'ſchen Gaſthofes zu Oder— 
berg i. M. gewachſen waren, und auf die 
ihn Herr Fr. Paeske freundlichſt auf— 
merkſam gemacht hatte. Viele Roſetten zeig— 
ten dort je ein oder zwei Blätter mit vier 
oder fünf fingerförmig an der Spitze des 
Blattſtieles geſtellten Blättchen, von denen 
manchmal ein äußeres von dem nächſt inne— 


ren noch nicht vollſtändig abgetrennt iſt. 


Außerdem zeigen je ein oder zwei Blätter 
derſelben Roſetten ein oder zwei kurz ge— 
ſtielte Oehrchen mitten am Blattſtiel; die 
Bildung der Blattſtielöhrchen und der über 
zähligen Blättchen findet keineswegs immer 
an denſelben Blättern ſtatt. Häufig tragen 
gedreite Blätter Oehrchen am Blattſtiele 
und entbehren mehrzählige derſelben. Die 
mehrzähligen Blätter ſind meiſtens das 2. 
und 3. bis 4. und 5. diesjährige Blatt 
der Roſette und gehen ihnen normale drei— 
zählige Blätter voraus, ſowie ihnen eben— 
ſolche nachfolgen; die am Blattſtiele Oehr— 
chen führenden Blätter hingegen ſind die 
erſten bis zweiten und dritten diesjährigen 
der Roſette, oder können auch ganz fehlen. 

Alle Roſetten mit anomalen Blättern 
ſtammen höchſt wahrſcheinlich von den Aus— 
läufern einer variirenden Samenpflanze her, 
ſind wahrſcheinlich Sproſſen eines Stockes. 

Eine ähnliche Anomalie hatte Vortr. im 
Juni 1872 im Walde bei Finkenkrug bei 
Berlin an zahlreichen Roſetten von Fraga- 
ria vesca L. gefunden, bei denen das zweite 
bis vierte Blatt der Roſette fünfzählig, ſehr 
ſelten nur vierzählig war, während die vor— 
ausgehenden, ſowie ein vor der abſchließen— 
den Inflorescenz noch folgendes baſales Laub— 
blatt normal dreizählig ſind. In dieſem Falle 
trat die Vermehrung der Blättchen ohne die 
Bildung geſtielter Oehrchen am Blattſtiele, 
welche niemals beobachtet wurden, auf. Auch 
dieſe Roſetten ſtammten wahrſcheinlich von 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


den Ausläufern eines Stockes, da ihr Vor— 
kommen auf eine kleine Stelle im Walde be— 
ſchränkt war. 

Vermehrung der Blättchen hat Vortr. 
öfter an einzelnen Blättern der in den Gär— 
ten jo häufig cultivirten Fragaria virgini- 
ana Mill. beobachtet. 

Nach entgegengeſetzter Richtung variiren 
die Blätter der als Fragaria vesca var. 
monophylla in unſerem botaniſchen Garten 
cultivirten Pflanze. Bei dieſer bleiben die 
meiſten Laubblätter einfach, wie es die erſten 
auf die Kotyledonen folgenden Laubblätter 
der Keimpflanze ſtets ſind, denen ſie über— 
haupt, mit Ausnahme der weit beträchtliche— 
ren Größe, ſehr ähnlich bleiben. Es ſind 
dieſe Variationen wieder ein intereſſantes 
Beiſpiel dafür, daß die Variationen deſſelben 
Organs in Bezug auf denſelben Punkt nach 
entgegengeſetzten Richtungen auftreten kann, 
mithin ein in beſtimmter Richtung fortſchrei— 
ten ſollendes Variiren, wie es viele Autoren 
neuerdings ſupponiren, nicht wohl anzuneh— 
men iſt. 

Das Auftreten geſtielter Oehrchen am 
Blattſtiele ſcheint öfter bei Fragaria auch 
ohne Vermehrung der Blättchen ſtatt zu ha— 
ben; ſo ſah es Vortr. an einzelnen drei— 
zähligen Blättern von Fragaria virginiana 
aus Gärten Berlins, Frag. elatior aus 
Wien, Frag. collina Ehrh. aus dem Frei— 
burger Botaniſchen Garten und aus Heidel— 
berg, ſowie von den Rüdersdorfer Kalk— 
bergen. Dieſe Variation beanſprucht inſofern 
unſer ganz beſonderes Intereſſe, als dieſe ge— 
ſtielten Oehrchen oder acceſſoriſchen Fieder— 
chen an vielen Fragaria verwandten Gat— 
tungen ganz normal auftreten, wie z. B. bei 
Geum, Agrimonia, Potentilla anserina L. 
u. A. unter den Rosaceae, an Ulmaria 
unter den Spiraeaceae. Wir haben es hier 
alſo mit einer Variation zu thun, in der ein 


Charakter der Verwandtſchaft zum Ausdruck 
kommt, d. h. deren Auftreten in der realen 
Verwandtſchaft begründet iſt. Hingegen 
möchte Vortr. die Variation nicht als eine 
ataviſtiſche auffaſſen, da es durchaus nicht 
erwieſen oder nur wahrſcheinlich iſt, daß etwa 
die Arten, aus denen ſich unſere heutige 
Gattung Fragaria entwickelt hat, geſtielte 
Oehrchen oder acceſſoriſche Fiederchen am 
Blattſtiele führten. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Ganz dieſelbe Variation wie an den ges | 
nannten Fragaria-Arten traf Vortr. an den 


im Berliner Botaniſchen Garten cultivirten 
Stöcken der Potentilla thuringiaca Bernh. 
Auch bei dieſen treten an den Blattſtielen des 
gefingerten Blattes häufig ein bis zwei ge— 
ſtielte kleine Oehrchen auf. 

Solche aus der realen Verwandtſchaft zu 
erklärenden Variationen treten häufig auf. 
Ein beſonderes inſtructives Beiſpiel bietet 
ebenfalls an den Laubblättern die ſeit einigen 
Jahren von unſeren Gärtnern gezogene Pri— 
mula sinensis filieifolia dar, bei der die 
Spreite des Laubblattes nicht, wie bei der 
Normalform, herzförmig vom Blattſtiel ab— 
geſetzt iſt, ſondern mit ihren Seitenrändern 
allmälig in denſelben verläuft. Wenn es auch 
wegen der großen Häufigkeit dieſer Blatt— 
bildung bei den Arten der Gattung Pri— 
mula nicht unwahrſcheinlich iſt, daß Pri— 
mula sinensis Lindl. in der That von 
einer Art mit Laubblättern mit herablaufen— 
den Rändern der Spreite abſtammen möchte, 
ſo möchte Vortr. dennoch dieſe Variation 
nicht ſtricte als Atavismus bezeichnet wiſſen, 
da es unwahrſcheinlich iſt, daß die Blätter 
der Mutterart grade ſo wie die der var. 
filicilolia geweſen fein möchten, wogegen 
ſchon die Thatſache ſpricht, daß die var. 
filicifolia mit ſehr verſchieden ſtark einge— 
ſchnittenen und gezähnten Blättern auftritt. 

Ebenſo iſt die Variation des ſog. Balg— 


439 


Mais (Zea Mays tunicata) aufzufaſſen. Wie 
ſchon früher ausgeführt wurde, iſt keine Form 
des bebalgten Maiſes als Atavismus, d. h. 
Rückſchlag in eine Urform, aufzufaſſen. Das 
folgt ſchon daraus, daß, worauf Vortr. früher 
bereits hinwies, dieſe Ausbildung der Hüll— 
ſpelzen der einzelnen Körner an ſehr ver— 
ſchiedenen Varietäten, z. B. großkörnigen und 
kleinkörnigen, auftreten kann. Demnach ge— 
hört die Ausbildung der Hüllſpelzen zu den 
aus der realen Verwandtſchaft herzuleitenden 
Variationen. 

Wie ſchon erwähnt, laſſen ſich viele Va— 
riationen aus dieſer Urſache herleiten. Vortr. 
möchte nur noch ein beſonders ſchlagendes 
Beiſpiel anführen, das er ſchon vor Jahren 
erörtert hat, es iſt dies das Auftreten von 
Stachelzähnen an der Hülle der weiblichen 
Blüthe der Najas Wrightiana A. Br. aus 
Cuba (ſ. Beiträge zur Kenntniß der Gat— 
tung Najas L. von P. Magnus, S. 58). 
Hier tritt die Beziehung der Variation zur 
Verwandtſchaft beſonders deutlich hervor. 
(Sitzungsber. des botanischen Vereins der 
Provinz Brandenburg 1877, Nr. XIX.) 


Das Leibpferd Julius Cäſars 
und die Ontogenie der Pferde. 


Das älteſte Denkmal, welches einem 
Zeugen der Darwin'ſchen Theorie errichtet 
worden iſt, war wohl das eherne Pferd, 
welches Cäſar nach den Berichten des 
Plinius“) und Sueton !“) vor dem 
Tempel der Venus Genitrix aufſtellen ließ. 
Seine Abſicht war, die vermeintliche göttliche 
Ahnfrau ſeines Stammes damit zu ehren, 
aber genauer betrachtet, kam die Ehre, in 


) Histor. natur. VIII. 42. (64.) 
) Caesar. Cap. 61. 4 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


56 


Erz nachgeformt zu werden, vielmehr den 


dieſen glich das durch Künſtlerhand ver— 
ewigte Thier. Es hatte mehrzehige Füße 
und ſtellte alſo einen der älteſten unter den 
bekannt gewordenen Fällen von Atavismus 
bei Pferden vor. Wie uns Sueton er— 
zählt, war das Roß mit den faſt menſchlich 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


geſpaltenen Füßen in Cäſar's eigenem Mar- 


ſtalle geboren und von ihm mit großer 
Sorgfalt aufgezogen worden. Niemand 
außer ihm durfte es beſteigen und es litt 
keinen andern Reiter, denn Cäſar hatte 
es ſelbſt zugeritten. Die Wahrſager, die 


auf jede wunderbare Geburt des Viehhofes 
nen Seitenzehen in einer gewiſſen embry— 


ihr Augenmerk hatten, ſollen ihm — wahr- 
ſcheinlich, als er ſchon nahe genug daran 
war — aus dieſem Ereigniß die Welt— 
herrſchaft verkündet haben, und das gab 


wohl den Grund, daß er dieſes Thier, als 


ein verkündendes Geſchenk der Ahnmutter 
betrachtete und es ihr in Erz weihete. Sonder— 
barer Wechſel der Zeiten, daß daſſelbe 
Vorkommen, was ehemals dazu gemißbraucht 
wurde, die Zukunft zu ergründen, uns dazu 
dienen muß, in die Vergangenheit zu ſchauen, 
und in der Mißgeburt ſogar die Ordnung 
der Natur zu erkennen und zu bewundern! 

Aehnliche den vorweltlichen Pferden in 
der Fußbildung gleichende Nachkömmlinge 
ſind ſehr oft beſchrieben und abgebildet 
worden. Schon Aldrovandi in ſeiner 
Historia Monstrorum bildete ein ſolches 
Pferd ab, welches an allen vier Füßen eine 
innere Zehe wie das Hipparion beſaß und 
vermuthlich war dies daſſelbe Thier, welches 
der Papſt Leo X. in feinen Beſitz brachte.“) 


Geoffroy Saint-Hilaire hat in feiner 
Geſchichte der thieriſchen Mißbildungen ein 


) Charles Bell, the Hand, its mechanism 


etc. Ch. III. 


Vol. IV. 1862. 


von ihm unterſuchtes Pferd beſchrieben, welches 


Ahnen ſeines Leibroſſes und des Pferde— wie die amerikaniſchen Pferde der Eocän— 


geſchlechtes im Allgemeinen zu Gute, denn 


Zeit (Eohippus nnd Orohippus) vier Zehen 
beſaß. Andere hierher gehörige Beiſpiele ſind 
von Goubeaux ?), Henſel, Strobel 
und neuerdings von Gaudry beſchrieben 
und abgebildet worden, darunter ſolche, in 
denen die Fußbildung außerordentlich der- 
jenigen des ausgeſtorbenen Hippaxion glich. 

Die Häufigkeit dieſes Vorkommens deutet 
ſchon darauf hin, daß die gelegentliche Mehr— 
zehigkeit des „Einhufers“ nicht ſchlechthin 
auf ein Auftauchen vager Erinnerungen an 
die Mehrzehigkeit ſeiner Ahnen bezogen 


werden darf, ſondern daß das häufige 


Wiederauftreten der in der Zeit verſchwunde— 


onalen Mehranlage von Theilen, die ſich 
gewöhnlich nicht mehr voll ausbilden, geſucht 
werden muß. Das biogenetiſche Grund— 
geſetz, nach welchem die perſönliche Ent— 


wicklung (Ontogenie) eines Lebeweſens die 


abgekürzte Wiederholung ſeiner Ahnengeſchichte 
(Phylogenie) ſein ſoll, ſcheint ſogar eine ſolche 
Mehranlage von Zehen bei dem Einhufer 
zu fordern, und wenn irgend eine Ge— 
legenheit günſtig iſt, als Prüfſtein dieſes 
Geſetzes zu dienen, ſo ſcheint es die Embryo— 
logie des Pferdes zu ſein. Denn die Phylo— 
genie, die Abſtammungs-Geſchichte 
des Pferdes kennen wir genauer, als die— 
jenige irgend eines andern Thieres der höhern 
Klaſſen unter den Wirbelthieren. Von keiner 
andern Thierart iſt eine ſo reiche und voll— 
ſtändige Ahnengallerie ausgegraben worden, 
als von den Pferden, die ſeit der Eocän-Zeit, 
in welcher ſich dieſer Zweig zuerſt von den 
übrigen Hufthieren abſonderte, ſtets in un— 
geheurer Zahl vorhanden geweſen ſein müſſen, 


) De la Pentadactylie chez le Cheval. 
Comptes rendus de la Société de Biologie. 


8 | 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


um ſo zahlreiche Reſte zurückzulaſſen, wie wir 
ſie von allen ihren Vorgängern beinahe beſitzen. 
„Zu Pikermi (Griechenland)“, ſo erzählt 
Profeſſor Albert Gaudry in einem foeben 
erſchienenen, ausgezeichneten Werke), auf 
welches wir demnächſt genauer zurückkommen 
werden, „habe ich neunzehnhundert Knochen, 
die zu vierundzwanzig Individuen (des 
Hipparion) gehört haben, geſammelt, zu 
Eppelsheim in Deutſchland, zu Baltavar 
in Ungarn, auf dem Leberon in der Provence, 
zu Concuv in Spanien, in Nordamerika 
und in Indien, überall hat der Ueberfluß 
an foſſilen Pferdereſten die Naturforſcher 
überraſcht, ſie müſſen auf einem anſehnlichen 
Theile der Erde in großen Heerden ver— 
breitet geweſen ſein.“ Gaudry malt dann 
aus, wie ſich die Schnelligkeit dieſer Thiere 
ſteigern mußte, um den an Intelligenz zu— 
nehmenden Raubthieren zu entrinnen und 
wie Bein und Fuß endlich bei jenem Ideal 
eines ausſchließlichen Renn-Organs anlangten, 
das kaum noch eine Aehnlichkeit darbietet 
mit der urſprünglichen Form. Schritt für 
Schritt verfolgt Gaudry die Umbildung 
der Zähne und der Füße und erläutert ſie 
durch treffliche Abbildungen. Es war natür- 
lich, daß der deutſche Paläontologe H. von 
Meyer grade bei den Pferden zuerſt darauf 
kommen mußte, von einem foſſilen Zwiſchen— 
Thier (Anchitherium) zu reden, d. h. einem 
Thier, welches zwiſchen den Unpaarhufern 
und Pferden mitten inne ſteht. Aber wie 


viele Zwiſchenformen ſind ſeitdem zwiſchen 
dieſem Zwiſchenthiere und dem Pferde einer— | 
ſeits, dem Paläotherium oder Coryphodon | 
andrerſeits aufgefunden worden! Wir haben 
Außerdem ſtelle ich feſt, daß die mittleren 


da eine Reihe, von der anfangs nur drei 
Glieder bekannt waren, und von welcher 


) Les Enchainements du Monde animal 
dans les temps géologiques 
tertiaires) Paris 1878. 


(Mammiferes 


wir heutzutage mehr als ein halbes Hundert 
mit beſonderen Namen benannt haben. 
Sogar namenloſe Varietäten, wie wir 
ſie bei unſern Hausthieren in ſo großer 
Zahl unterſcheiden, laſſen fi bei den Vor— 
fahren des Pferdes nachweiſen, und man 
kann da gleichſam die mit leichten Varietäten 
beginnende Artenbildung durch natürliche 
Ausleſe in die Vorzeit zurückverfolgen. So hat 
Gaudryz. B. bei dem dreizehigen Hipparion 
graeile der obern Miocänſchicht von Pikermi 
zwei Racen unterſcheiden können, die ſich etwa 
verhalten, wie ein ſchlankes Araberpferd zum 
Percheron. Doch hören wir ihn ſelbſt: 
„Dank der Maſſenhaftigkeit ihrer Ueber— 
reſte“, ſagt Gaudry, „haben mir die foſſilen 
Einhufer eine Gelegenheit dargeboten, zu 
ſehen, wie weit Variationen bei Thieren ein 
und derſelben Art gehen können. Unter den 
Knochen des Hipparion von Pikermi finden 
ſich ſolche, deren Proportionsunterſchiede derart 
ſind, daß es beim erſten Anblicke ſchwer 
wird, ſie ein und derſelben Art zuzutheilen. 
Man wird darüber urtheilen können, wenn 
man die Abbildungen zweier Mittelfußknochen 
vergleicht (deren einer bei gleicher Länge 
beinahe doppelt ſo ſtark iſt, wie der andere). 
Wenn man indeſſen eine große Anzahl ſolcher 
Knochen zuſammenbringt, ſo wird es unmög— 
lich, Grenzlinien zu ziehen, und man muß 
annehmen, daß man einfach zwei Racen 
vor ſich hat, eine plumpe und eine ſchlanke. 
Wenn ich nun Pikermi verlaſſe, um mich 
nach Eppelsheim zu begeben, finde ich hier 
die plumpe Race vorwiegen und wenn ich, 
anſtatt nach Eppelsheim zu gehen, den Leberon 
beſuche, ſehe ich die ſchlanke Race vorherrſchen. 


Loben der oberen Backenzähne zu Eppelsheim 
und Pikermi mehr gefaltet ſind, als auf 


dem Leberon-Gebirge. Natürlich ſchließe ich 


daraus, daß Nachkommen einer und derſelben 


ä 


442 


Thierart, nach der Zeit und dem Lande 
wo ſie gelebt haben, dazu gelangt ſeien, 
verſchiedene Charaktere anzunehmen. .... 
In meinem Werke über das Leberon-Gebirge 
habe ich darauf hingewieſen, daß die Unter— 
ſuchung der Mittelhand- und Mittelfußknochen 
vom Hipparion antelopinum aus Indien 
das Fehlen der beiden Seitenzehen wahr— 
ſcheinlich machte. Wenn dieſe Annahme ſich 
bewahrheitet, ſagte ich, ſo würden manche 
Perſonen vermuthlich geneigt ſein, einen 
neuen Gattungsnamen für ein Thier vor— 
zuſchlagen, welches mit der Bezahnung des 
Hipparion die Füße eines Pferdes verbände. 
Es ſcheint mir indeſſen beſſer, für die Thiere, 
welche auf dem Wege ſind, die Geſtalt des 
Pferdes zu erreichen, den Namen Hipparion 
bis zu dem Augenblicke beizubehalten, in 
welchem ſie den Typus des Pferdes voll— 
ſtändig verwirklichten. . . .. Seit ich dieſe 
Zeilen geſchrieben, hat O. Marſh aus 
Niobrara Thiere bekannt gemacht, welche 
die Vermuthung verwirklichen, die ich bezüglich 
des indiſchen Hipparion ausgeſprochen hatte, 
ſie haben Pferdefüße und Hipparion-Gebiß; 
Marſh hat ihnen den Namen Pliohippus 
(d. h. Mehr-Pferd) beigelegt. So hat man 
Hipparions gefunden, die ſich in der Fuß— 
bildung den älteſten Pferden mehr annähern, 
man hat auch ſolche angetroffen, welche in 
der Zahnbildung zu den Pferden hinüber— 
leiten. So hat z. B. Leidy Hipparion- 
Zähne beſchrieben, welche ſich denen der echten 
Pferde dadurch nähern, daß der innere Höcker 
mehr in den mittleren übergeht (H. perditus 
et placidus = Protohippus Leidy) oder 
durch die geringere Faltung ihrer Email— 
leiſten (H. gratum) oder durch die Zu— 
ſammendrückung und Verlängerung ihres 
innern Höckers (H. oceidentale et affine)...“ 


Mit Recht find unſeres Erachtens die- 


jenigen „Arten“, welche die Hauptſchritte 


zwiſchen Anchitherium, Hipparion und 
Equus bezeichnen, zu Gattungen erhoben 
worden, wie wir in dem zweiten Artikel 
über die ausgeſtorbenen Wirbelthiere Nord— 
amerika's des Näheren geſehen haben.“) Mit 
dieſen ſchrittweiſen Aenderungen im Bau der 
Füße und im Gebiß gingen natürlich ſolche 
im geſammten Körperbau Hand in Hand. 
So ſind z. B. wie bei vielen anderen Thieren, 
die ihre Beine nur zum Laufen gebrauchen, 
Ulna und Fibula als geſonderte Knochen 
auch den Pferden in ihrer hiſtoriſchen Ent— 
wickelung theils durch Verſchmelzung, theils 
durch Rückbildung abhanden gekommen, 
während ſie bei dem älteſten Pferde (dem 
Eohippus) deutlich getrennt und vollſtändig 
vorhanden waren. Die hauptſächlichſten 
hiſtoriſchen Veränderungen müßten ſich nun 
andeutungsweiſe in der embryonalen Ent— 
wickelung des Pferdes nachweiſen laſſen, 
wenn das biogenetiſche Grundgeſetz wirklich 
eine allgemeine Giltigkeit beſitzt. Leider ſind 
wir über die Ontogenie des Pferdes nid} 
ſo genau unterrichtet, als man bei einem 
ſo verbreiteten Hausthiere vermuthen ſollte. 
Allein das Pferd ift ein zu koſtbares Verſuchs— 
thier, als daß man bei demſelben die Embryo- 
logie ſo genau ſtudirt haben und von Tag 
zu Tag verfolgt haben könnte, wie etwa 
bei Hühnern oder Kaninchen. Indeſſen ſtimmt 
das Wenige, was man bei gelegentlich zur 
Unterſuchung gelangten Pferde-Embryonen 
feſtſtellen konnte, auf das Beſte mit dem 
überein, was man nach den Thatſachen der 
genauer bekannten Phylogenie erwarten mußte. 
Profeſſor Gegenbauer ſagt über dieſen 
wichtigen Punkt bei Gelegenheit einer 
Beſprechung der Marſh'ſchen Unterſuch— 
ungen“): 

) Kosmos. Bd. II. S. 429 fgde. 

) Morphologiſches Jahrbuch. Band IV. 
(1878). Erſtes Heft. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | 


„Es iſt zweckdienlich, daran zu erinnern, 
wie das Wenige, welches uns bisher über 
die Ontogenie der Gliedmaßen der Einhufer 
bekannt ward, den Parallelismus mit der 
Phylogenie erkennen läßt. (Vergl. A. Roſen— 
berg in der Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche 
Zoologie. Bd. XXIII.) In dem erſten zur 
Unterſuchung gekommenen Stadium beſitzt 
Ulna mit Radius gleiche Länge, ebenſo 
erſcheint die Fibula noch in vollſtändiger 
Anlage und damit ſind Zuſtände angedeutet, 
die nur den älteſten Formen (Eohippus) 
jener paläontologiſchen Reihe zukamen. Ebenſo 
läßt die Anlage von drei vollſtändigen 


einſtimmung mit den Vorläufern der ſpätern 
Equiden auf das Deutlichſte erkennen und 
in der gleichfalls zu beobachtenden Rück— 
bildung der Diaphyſe von Ulna und Fibula 
nimmt man denſelben Vorgang wahr, wie 
er in den ſpäteren Formen gleichfalls in 
einzelnen Stadien repräſentirt wird. So 
decken ſich hier, ſo weit man dies erwarten 
darf, Ontogenie und Phylogenie.“ 

Es hat ſich ſomit bei derjenigen Säuge— 
thierklaſſe, deren hiſtoriſche Entwicklung man 
am genaueſten kennt, das biogenetiſche Grund— 
geſetz vorzüglich bewährt, obwohl es wünſchens— 
werth bleibt, die Ontogenie dieſer Thiere 
immer noch genauer kennen zu lernen. Man 
erkennt nun leicht, weshalb bei den Pferden 
ſo häufig ein Rückſchlag zu der Fußbildung 
des Hipparion vorkommt, denn die drei 
Zehen deſſelben erſcheinen beim Embryo 
regelmäßig in der Anlage der drei Mittelhand— 
und Mittelfuß-Knochen, obwohl ſich nur der 
mittelſte derſelben weiter entwickelt, während 
die beiden andern gewöhnlich Rudimente 
bleiben. Zuweilen aber iſt nicht nur der 
erwähnte Knochen, ſondern auch die dazu— 
gehörige Zehe voll entwickelt, ja in einem 
2 Gaudry abgebildeten Falle ſogar in 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


laſſen: Poeſie und Wiſſenſchaft unter dem— 
Metacarpalien und Metatarſalien die Ueber- 
dazu geeignet ſein, um den langathmigen 


| Huxley, 


43 


einem höheren Grade als bei den meiſten 
Hipparion-Arten, bei denen dieſe Seitenzehen 
ſchon ſehr verkleinert waren, ſo daß man 
an einen noch älteren Zuſtand erinnert wird. 
(Vergl. d. Abbild. im Kosmos, Bd. II. S. 431.) 

So bietet denn Paläontologie, Ent— 
wickelungsgeſchichte und Teratologie des 
Pferdes in gegenſeitiger Stützung und Er— 
gänzung eine feſte Grundlage für das Ge— 
bäude der Evolutionstheorie, und wie der 
Pegaſus einſt zum Wappenthier der Poeten 
erkieſt wurde, ſo können ihn nunmehr die 
Evolutioniſten auf ihren Kampfſchild malen 


ſelben Zeichen! Nichts aber würde mehr 


Streit über Wahrheit und Dichtung in der 
Weltanſchauung zu einem ſchnellen Ende 
zu bringen, als wenn ein Kowalewsky, 
Rütimeyer, Gaudry, 
Marſhͤ oder ſonſt ein gründlicher Kenner 
der Ur- und Naturgeſchichte des Pferdes 
uns eine Monographie deſſelben beſcheeren 
wollte, die auch dem blödeſten Auge die 
Natur offenbaren würde als das, was 
ſie iſt, ein ewiges Werden. 
| 
| 


Ueber das Vorkommen und die 
Bedeutung überzähliger Brüſte und 
Bruſtwarzen beim Menſchen 


veröffentlicht Prof. Dr. Leichtenſtern in 
Tübingen auf Grund von dreizehn ſelbſt unter— 
ſuchten und zweiundneunzig in der Literatur 
beſchriebenen Fällen eine ausführliche Arbeit“), 
der wir das Folgende entnehmen. Fälle 
von Ueberzahl der Brüſte (Polymaſtie, Pleto- 
mazie) oder der Bruſtwarzen (Pleiothelie) 

— Virchow's Archiv. Band 73 Heft 2 
(Juni 1878). 


find im Allgemeinen beim Meuſchen häufig, 
aber lange Zeit nur als ein Opus mira— 


pile naturae ludentis, als eine Art Ca- 


price oder Bizarrerie der bildenden Natur, 
ja als Verirrungen vom Organiſations-Plane 
aufgefaßt worden. Prof. Dr. Leichten— 


ſtern kommt durch ſeine ſorgſame Durch- 


forſchung des geſammten Materials zu ganz 
andern, für die Darwin'ſche Theorie ſehr 
wichtigen Schlüſſen. Entgegen der Angabe, 
daß dieſe Bildungen bei Männern ſeltener 
ſeien als bei Frauen, findet er, daß Fälle 
von rudimentärer Polythelie (mit oder ohne 
Polymaſtie) im Allgemeinen ziemlich häufig 
(c. einmal unter 500 Perſonen) vorkommen, 
und zum Mindeſten ebenſo häufig bei Männern 
als bei Frauen. 
faſſer ſelbſt beobachteten Fällen betrafen ſo— 
gar neun das männliche, vier das weibliche 
Geſchlecht, indeſſen werden ſie aus leicht be— 


greiflichen Urſachen bei dem Letzteren leichter 
ſelben gelagert. 


wahrgenommen. Sie wurden auch zuweilen 
erſt als ſolche erkannt, wenn ſie während 
und nach der Schwangerſchaft begannen, 
Milch abzuſondern. Die Angaben, daß ſich 
derartige überzählige Organe an beliebige 
Körperſtellen „verirren“, wurden durch die 
genauere Vergleichung völlig widerlegt, viel— 
mehr fand ſich, daß überzählige Bruſtwarzen 
und Brüſte weitaus am häufigſten (bei 91 


Prozent aller Fälle) an der Vorderſeite 


des Thorax vorkommen. Die Fälle, wo 
acceſſoriſche Brüſte in der Achſelhöhle, am 
Rücken, auf dem Akromion, an der Außen— 
ſeite des Oberſchenkels angetroffen wurden, 
bilden äußerſt ſeltene, häufig nur durch Unica 
vertretene Ausnahmen. Die acceſſoriſchen 


Von den durch den Ver 
treffend. 


Achſelhöhlen genähert. 


444 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Sie kommen ein— 
ſeitig und bilateralſymmetriſch oder unſymme— 
triſch angeordnet vor, höchſt ſelten aber neben 
den normalen. Die Angaben Geoffroy's de 
Saint-Hilaire, Förſter's und Anderer Be— 
obachter über ein regelloſes Auftreten dieſer 
Organe, die auch Preyer und Darwin 
irreführten ), find alſo falſch: die acceſſoriſchen 


Mamillen und die normalen Warzen jeder 


Seite bilden faſt immer zwei nach abwärts 
convergirende Linien, ganz ähnlich der Stell— 
ung, welche die Mamillen vieler mehrbrüſtiger 
Säugethiere einnehmen. Sehr gut illuſtrirt 
wird dieſe Normalſtellung der ſupernumerären 
Warzen durch den intereſſanten Fall Fitz— 
gibbon's *), einen Mann mit vier acceſ— 
ſoriſchen und rudimentären Mamillen be— 
Zwei derſelben hatten oberhalb, 
zwei unterhalb der normalen ihren Sitz, 
erſtere waren nach auswärts von der Ma— 
millarlinie, letztere medianwärts von der— 
Bei einſeitiger Entwicklung 
finden ſie ſich häufiger auf der linken als 
auf der rechten Seite (7 : 2), wie auch die 


normale Bruſt auf der linken Seite nach 


Cruveilhier faſt konſtant größer und 
voller entwickelt zu ſein pflegt. Außer an 
der Vorderſeite der Thorax hat man acceſ— 
ſoriſche Brüſte und Mamillen in höchſt ſeltenen 
Ausnahmefällen auch angetroffen in der Achſel— 
höhle (5 Fälle), am Rücken (2 F.), auf der 
Schulterhöhe (1 F.) und an der Außenſeite 
des Oberſchenkels (1 F.), dagegen beruhen 
die allenthalben curſirenden Angaben über 
acceſſoriſche Brüſte am Bauche und in der 
Inguinalgegend auf einem Irrthum. In 


mehreren Fällen war die Anomalie ebenſo 


Mamillen an der Vorderſeite des Thorax 


haben in der Mehrzahl (94 Prozent der 
Fälle) ihren Sitz unterhalb der nor— 


erblich, wie ſonſt Polydactylie; in den von 


) J. Darwin, die Abſtammung des 


; „„ Menſchen (8, Aufl.) I. S. 47. 
malen Mamillen, meiſtens etwas einwärts, 


ſelten oberhalb und dann nach außen den 


) The Dublin Quarterly Journal of 
Med. Science Febr. 1860. Vol. XXIX. 


Prof. Leichtenſtern ſelbſt beobachteten 


Fällen konnte keine Erblichkeit nachgewieſen 
werden. 
iſt es zweckmäßig, die obwaltenden Verhält— 
niſſe bei den Säugethieren zu betrachten. 


Die Anzahl der Brüſte bei den Säugethieren 


iſt eine verſchiedene und zwar ſowohl bei 
den verſchiedenen Ordnungen als auch bei 
den einzelnen Arten einer und derſelben 


Ordnung. Sie ſchwankt zwiſchen 2 und 14. 


Der früher aufgeſtellte, aus naturphiloſo— 
phiſcher Betrachtungsweiſe hervorgegangene 
Satz: „Je höher entwickelt eine Säuge— 


thier-Art iſt, um jo weniger Brüſte beſitzt 


dieſelbe, und um ſo mehr nähern ſich die 
Brüſte dem Thorax“ hat nur eine ſehr be— 
dingte Richtigkeit. Dieſes „Geſetz“ wie man 


es auch genannt hat, findet ſich wohl beim 


Vergleiche des Menſchen, der Affen, Halb— 
affen, Chiropteren und Dermopteren mit 
den andern Säugethieren beſtätigt, nicht aber 
beim Vergleiche der verſchiedenen Säugethier— 
arten untereinander. Die Zahl iſt viel— 
mehr ſo wenig geſetzmäßig, daß ſie bei Thieren 
mit vielen Brüſten, wie ſchon Cuvier be— 
merkte, unter den Individuen wechſelnd iſt; 
ſie ſchwankt z. B. bei Hunden in der Regel 
zwiſchen 7 und 12. Dagegen beſteht an— 
erkanntermaßen bei den verſchiedenen Säuge— 
thierarten ein bemerkenswerther Zuſammen— 
hang zwiſchen der Zahl der Brüſte einer— 
ſeits und der Zahl der Jungen eines Wurfes 
andererſeits. So gebären die zweibrüſtigen 
Primaten in der Regel nur ein Junges, 
von den tiefer ſtehenden Halbaffen dagegen 
wirft der Lori mit vier Brüſten zwei Junge. 
Die zahlreichen Arten der Chiropteren, Ein— 
hufer, Cetaceen, Edentaten beſitzen alle nur 
zwei Brüſte und werfen ein Junges. Von 
den Pachydermen werfen jene, die zwei Brüſte 
beſitzen, (als Elephant, Nilpferd, Nashorn 
und Tapir) nur ein Junges, das Schwein 


Um dieſe Erſcheinung zu verſtehen, 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


445 


dagegen mit 10 Brüſten 8—10 Junge. 
Die meiſten Raubthiere und die Nagethiere 
beſitzen eine größere Anzahl von Brüſten 
(2 — 5 Paare), ſie werfen mindeſtens zwei, 
viele aber 4— 6 Junge. Dem entſprechend 
war in früheren Zeiten nicht allein unter 
den Laien, ſondern auch bei Aerzten die 


| Meinung viel verbreitet, Frauen mit Poly— 


maſtie ſeien geneigt, Zwillinge zu gebären. 
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde 
Profeſſor Socin in Baſel und nachträg— 
lich noch die mediciniſche Facultät in Tübin⸗ 
gen von einer Dame zu Baſel, welche vier 
Brüſte beſaß, um ein Gutachten angegangen, 
ob ſie ſich verheirathen dürfe, ohne Gefahr 
zu laufen, ſtets Zwillinge zu gebären. Die 


befragten Autoritäten entſchieden dahin, daß 


Polymaſtie nicht zu Zwillingsgeburten dispo— 
nire, und der Erfolg beſtätigte dieſes Ur— 
theil.“) Auch hat die Unterſuchung gezeigt, 
daß unter den 70 Frauen, die hier in Be— 
tracht kommen, nur drei Zwillinge geboren 
haben. In einigen ſeltenen Fällen konnten 
die acceſſoriſchen Brüſte mit zur Stillung der 
Kinder verwendet werden. 

Was nun die naturphiloſophiſche Deut- 
ung betrifft, ſo ſind die überzähligen Brüſte 
ſchon früh mit der normalen Polymaſtie 
der Säugethiere in Parallele geſtellt worden. 
Ihr gewöhnliches Vorkommen und ihre Ver— 
theilung an Bruſt und Bauch erinnert an 
die gewöhnliche Vertheilung derſelben bei den 
Säugethieren, beſonders an das Verhalten 
beim Lori, bei Lemur tardigrada, und gra- 
eilis, bei Castor Fiber, Mus caffer und 
andern Thieren, bei denen überall vier Pec- 
toralmamillen vorhanden find, Die acceſ— 
ſoriſchen Axillar-Mamillen (von denen der Ver— 
faſſer ein Beiſpiel abbildet) erinnern an die 


) Percy, Mem. sur les femmes multi 
mammes. Journ de med. chir. pharm. p. Corvi- 
sart, Leroux etc. Tome. IX. p. 381. 


„en 


a 


Achſelbrüſte gewiſſer Flatterthiere und einer 
Affengattung, der ſogenannten Tarſier, die 
acceſſoriſchen Dorſal-und Acromial-Mamillen 
an die erſt ſpät entdeckten Dorſalbrüſte des 
Stachelſchweins. Sogar der von Dr. Bar— 
tels erwähnte Fall) in welchem ein Mann 
fünf Milchdrüſen, eine in der Mittellinie ober— 
halb des Nabels beſaß, findet nach Meckel 
von Helmsbach ein Seitenſtück in dem Vor— 
kommen einer medianen Mamma bei gewiſſen 
Fledermäuſen. Auch inguinale Mamillen 
kommen bei einzelnen Säugethieren vor, beim 
Menſchen find fie nach Leichtenſtern nie— 
mals beobachtet worden, und es liegt in den 
betreffenden Angaben nur ein Mißverſtehen 
des von Preyer *) erwähnten Falles vor, 
bei welchem eine am äußern Schenkel befind— 
liche Mamma Milch abſonderte. Zur Er— 
klärung dieſer Erſcheinung ſind früher ver— 
ſchiedene Theorien aufgeſtellt worden. Die 
eine derſelben, welche von einem „Verirren“ 
der Milchdrüſen ausgeht, iſt aus entwick— 
lungsgeſchichtlichen Gründen unhaltbar. Eine 
andre von Meckel aufgeſtellte Theorie be— 
hauptet, daß jeder Menſch die Anlage zur 
Entwicklung von fünf Brüſten beſitzen ſoll, 
nämlich zwei in den Achſelhöhlen und eine 
über dem Nabel, außer den beiden regel— 
mäßig entwickelten. Dieſelbe iſt augenſchein— 
lich nur auf Grund des obenerwähnten Ein— 
zelfalles, bei welchem es noch ſehr zweifel— 
haft iſt, ob die fünfte Warze wirklich genau 
in der Median-Linie lag, entworfen. Eine 
richtigere Erklärung wurde bereits von Iſi— 
dor Geoffroy de Saint-Hilaire, 
dem Vorkämpfer der Evolutions-Theorie, 
angebahnt, welcher ausſprach, daß die Ver— 
vielfältigung der Brüſte beim Menſchen auf 
den „allgemeinen Organiſationsplan“ der 

) Reichert's und Dubois -Rey— 
mond's Archiv 1872. S. 304. 


* Der Kampf um's Daſein 1869. S. 45. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Säugethiere zurückzuführen ſei. Darwin 
gab zuerſt die richtige Erklärung dieſer Bil— 
dung, indem er ſie als einen Rückſchlag auf 
die Organiſation der älteren Urzeuger des 
Menſchen betrachtete, und obwohl er dieſe 
Auſicht ſpäter an der obenangeführten Stelle 
zu Gunſten einiger von andern Beobachtern 
mißverſtandenen oder falſchgedeuteten Fälle 
einſchränken zu ſollen glaubte, fügte er doch 
die Bemerkung hinzu: „Im Ganzen dürfen 
wir wohl bezweifeln, ob ſich in beiden Ge— 
ſchlechtern beim Menſchen jemals überzählige 
Bruſtdrüſen überhaupt hätten entwickeln 
können, wenn nicht ſeine früheren Urerzeuger 
mit mehr als einem einzigen Paare verſehen 
geweſen wären“. Auf Grund ſeiner ein— 
gehenden Studien mit Ausdehnung auf 
das geſammte vorliegende Beobachtungs— 
material erklärt Prof. Leichtenſtern: 
„Ich glaube den Einwänden gegen Dar- 
win's Anſicht die Spitze abgebrochen zu 
haben, indem es mir gelang, zu zeigen, 
daß die acceſſoriſchen Brüſte und Mam— 
millen nicht, wie man bisher annahm, mit 
launenhafter Wandelbarkeit bald da, bald 
dort ihren Sitz haben, daß ſie vielmehr 
Bildungen ſind, die in außerordentlich regel— 
mäßiger Weiſe (bei 91 pCt.) unterhalb 
und nach innen, ſelten oberhalb und nach 
auswärts von den normalen Papillen an 
der Vorderſeite des Thorax gelegen ſind.“ 
Nachdem der Verfaſſer ſo die Belangloſigkeit 
der gegen die Darwin'ſche Auffaſſung 
vorgebrachten Gründe dargethan hat, ſchließt 
er den allgemeinen Theil ſeiner Arbeit, 
dem ein ausführlicher literariſcher Nach— 
weis folgt, mit den Worten: „Wir er— 
klären mit Darwin die acceſſoriſchen Brüſte 
und Mamillen als Beiſpiele von „Rück— 
ſchlag“ auf unſere enorm entfernten, niedrig 
organiſirten, mehrbrüſtigen Urahnen, und 
ſprechen jedem Menſchen die latente Fähig— 


— ̃ — — 


keit oder Neigung zu, mehr als zwei Brüſte 
zu produciren. Zwar iſt dieſe auf Vererb— 
ung von unſern Vorahnen beruhende Neigung 
oder Fähigkeit im Laufe der Millionen von 
Jahren bis zur Latenz herabgemindert worden, 
immerhin aber nicht in dem Grade, als man 
bisher anzunehmen geneigt war, indem wir 
nachzuweiſen vermochten, daß acceſſoriſche rudi— 
mentäre Mamillen und Brüſte viel häufiger 
(und bei den verſchiedenſten Völkern und Racen) 
vorkommen, als man bisher vermuthet hatte.“ 
Hinſichlich der am Schluſſe von Prof. 
Leichtenſtern unterſtützten Vermuthung 
Darwin's, daß unter den Vorfahren 
des Menſchen auch die Männchen milchab— 
ſondernde Drüſen beſeſſen haben müßten, 
glaubt Referent auf ſeine um Vieles wahr- 
ſcheinlichere Hypotheſe verweiſen zu ſollen “), 
daß die männlichen Brüſte mit allen ähn— 
lichen geſchlechtlichen Merkmalen nichts als 
Charaktere ſind, welche die beiden Geſchlech— 
ter gegenſeitig aufeinander vererbt haben. 


Die Furcht der Affen vor den 
Schlangen. 


Mr. A. E. Brown hat kürzlich in 
dem zoologiſchen Garten von Philadelphia 
über dieſen Gegenſtand einige Verſuche an— 
geſtellt und dabei dieſelben Reſultate wie 
früher Darwin!) erhalten. Er wickelte 
eine todte Schlange loſe in eine Zeitung und 
legte fie auf den Boden eines von ſehr ver- 
ſchiedenen Affenarten bewohnten Käfigs. Das 
Packet wurde augenblicklich von einem An⸗ 


0 Vergl. Kosmos I. ©. 504 u. flgde. 
) Die Abſtammung des Menſchen (3. 
Aufl.) S. 93. 


— — 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 447 


führer der Geſellſchaft weggenommen, aber 
nach wenigen Secunden ging das Papier 
auseinander und die Schlange wurde ſicht— 
bar. Der Affe warf es ſofort weg und 
eilte davon, indem er beſtändig rückwärts 
blickte. Als die andern Affen die Schlange 
erblickten, näherten ſie ſich Schritt vor Schritt 
und bildeten einen Kreis von ſechs bis acht 
Fuß Durchmeſſer um dieſelbe. Von allen 
näherte ſich nur ein Macacus, welcher vor— 
ſichtig einige ſchnelle Griffe nach dem Papier 
ausführte. In dieſem Augenblicke wurde 
eine Schnur, die um den Schwanz der Schlange 
gebunden war, leicht angezogen, die Schlange 
bewegte ſich in Folge deſſen, und die Affen 
flohen mit großem Lärmen und Geſchrei in 
Ueberſtürzung davon. Einige Zeit nachher 
kehrten ſie ſchrittweiſe in ihre frühere Stellung 
zurück, und ſetzten dies mehrere Stunden 
hindurch fort, einerſeits unendliche Furcht, 
andererſeits ſonderbare Neugierde zeigend. 
Die nämlichen Affen zeigten keine Furcht 
vor einer Schildkröte oder einem kleinen todten 
Alligator. Dieſelbe Schlange wurde ſodann 
verſchiedenen Säugethieren anderer Ordnun⸗ 
gen gezeigt, aber keines von ihnen zeigte ir— 
gend ein beſonderes Intereſſe. Es iſt bekannt, 
daß dieſelbe inſtinktive Schlangenfurcht beim 
Menſchen, beſonders bei Frauen vorhanden 
iſt. Mr. Brown war in der Lage, in 
den Bewegungen einer taubſtummen Frau 
ein ſehr ähnliches Gemiſch von Furcht, Neu⸗ 
gierde und Abſcheu, wie es die Affen zeigten, 
wahrzunehmen. Iſt das ein Ueberbleibſel 
von uralten Daſeinskämpfen mit einem 
Feinde, deſſen Biß ſehr von demjenigen an- 
derer Thiere verſchiedene Wirkungen her⸗ 
vorbringt und den Menſchen einem lang- 
ſamen, aber ſchrecklichen Tode überliefert? 
(Nature Nr. 452 June 1878.) 


un u —— = = — 


Titeratur und Kritik. 


Sonne und Mond als Bildner der 
Erdſchale. Von Profeſſor Dr. J. H. 
Schmid. Leipzig, Georgi. 1878. 143 S. 
mit 3 Tafeln. 


ie 

8 ine weitere in der Reihe der Broſchüren, 

‚mit denen der Verfaſſer den Beweis 
x ſeiner Theorie der „ſäkularen Umſetz— 

685 ung der Meere“ zu liefern verſucht. 
Wie die anderen Arbeiten Schmick's 
zeichnet ſich auch dieſe durch Anführung und 
Zuſammenſtellung einer Fülle von Thatſachen 
aus, die an ſich für das Verſtändniß der Frage 
des periodiſchen Klimawechſels in beiden po— 
laren Halbkugeln der Erde äußerſt werthvoll 
ſind, ſelbſt wenn ſie noch nicht als genügend 
angeſehen werden ſollten, um, wie Schmick 
beanſprucht, ein „klares Zeugniß der Natur“ 
zu Gunſten der von ihm vertheidigten 
Theorie abzulegen. 

Während Croll (Climate and Time) 
in ſeiner Ausarbeitung und Modification der 
Adhemar'ſchen Theorie an der Anficht 
feſthält, daß die polare Anſammlung von 
Eis bald auf dieſer, bald auf jener Erdhälfte 
im Laufe einer 10500 jährigen Halbperiode 
des Vorrückens der Nachtgleichen und in 
Folge der Excentrieität der Erdbahn eine 


Verſchiebung des Schwerpunktes der Erde 
und damit eine Verſetzung der oceaniſchen 


Waſſermaſſen bedinge, behauptet Schmick 


vielmehr, daß, abgeſehen von dieſer Eis— 
anſammlung, ſchon die ſtärkere Anziehungs— 
kraft, welche die Sonne direkt nach der Rich— 
tung des betreffenden Poles hin auf die 
oceaniſchen Waſſermaſſen ausübe, auf der 
betreffenden Halbkugel das Niveau der Meere 
während der 10500 jährigen Periode dau— 
ernd erhöhe, auf der entgegengeſetzten Halb— 
kugel alſo entſprechend erniedrige. Dieſe 
Verſchiebung der oceaniſchen Waſſermaſſen 
allein falle ſchon mit einer Verſchiebung des 
Schwerpunktes der Erde zuſammen. 

Dieſe Theorie ergänzt Prof. Schmick 
in vorliegendem und in einem früheren 
Werke („Die Gezeiten“) nun noch dahin, daß 
nicht nur die Flüſſigkeiten der Erdoberfläche, 
ſondern in ganz gleicher Weiſe auch die heiß— 
flüſſigen Maſſen des Erdinnern dieſe Ver— 
ſetzung „polwärts“ erleiden. 

In dem „Polwärts“ liegt, unſeres Er— 
achtens, die Schwäche oder das für uns 
Unverſtändliche der Theorie. Denn die An— 
ziehungskraft zwiſchen Erde und Sonne 
(reſp. zwiſchen Erde und Mond, die, weil 
in den kürzeren Perioden des Perigäums 
wirkend und demnach der Beobachtung leich— 
ter zugänglich, von Schmick zum Beweiſe 
ſeiner Theorie herangezogen wird) wirkt doch 
in der graden Verbindungslinie zwiſchen dem 
Schwerpunkt der Erde und dem der Sonne, 


— | — 


und kann demnach nur das Reſultat haben, 
an den beiden Durchſchnittspunkten dieſer 
Linie mit der Oberfläche leichtbeweglicher, 
d. h. flüſſiger Erdſtoffe Erhöhungen reſp. 


| 
| 


Anſammlungen dieſer flüſſigen Maſſen zu | 


bewirken, von denen die auf der der Sonne 


zugewendeten Seite um ein Gewiſſes mehr 


betragen muß, als die auf der der Sonne 
abgewendeten Seite erzeugte. Von dieſen 
Gipfelpunkten der Erhöhungen, die ſich im 
Laufe der täglichen Rotation des Erdkörpers 
in einem Parallelkreiſe um die Erde, und 
im Laufe der jährlichen Rotation der Erde 
um die Sonne vom nördlichen bis zum ſüd— 
lichen Wendekreiſe verſchieben, müßte ſich die 
erzeugte Fluthwelle, wenn ihrer Bildung 
und Bewegung keine anderweitigen Hinder— 
niſſe im Wege ſtänden, nach allen Seiten 
hin regelmäßig abdachen. Die Gipfelpunkte 


der Fluthwellen irdiſcher Flüſſigkeitsmaſſen 


liegen alſo immer innerhalb der Wendekreiſe, 
d. h. innerhalb 23½ Graden vom Aequator 
(oder bei der Mondanziehung innerhalb des 
Cxtrems von 28½ Grad vom Aequator) 
find alfo im Minimum immer 66 ½ Grad 
von den Polen entfernt. Sie liegen alſo 
dem Aequator fortwährend viel näher, als 
den Polen, und wir vermögen deshalb von 
vornherein nicht einzuſehen, aus welchem 
Grunde ſie, wie Schmick ſeiner Theorie 
vorausſchickt (S. 4), „Waſſer polwärts ver— 
ſetzen“ ſollen. Im Gegentheil wäre es der 
richtige Schluß, daß dieſe Attraktionswellen 
Waſſer aus den polaren in die tropiſchen 
Regionen verſetzen, während die Hauptmaſſe 
der Flüſſigkeitsanhäufung allerdings im Laufe 
eines Halbjahres von einem Wendekreiſe zum 
anderen verſchoben wird. Es ſcheint uns 


auch, als ob die Beobachtungen des Meeres- 
niveaus zu Sidney (im 35° ſüdlicher Breite) 
und zu San Francisco (im 370 nördlicher 
Breite), die Schmick als eclatanten Be— 


449 | 


Literatur und Kritik. 


weis ſeiner Theorie anführt, eher auf dieſe 
intertropiſche Waſſerverſetzung bezogen wer— 
den können, von deren extremen Gipfel— 


punkten die genannten Orte nur 12 bis 14 


Grad entfernt ſind, als auf eine polare 
Waſſeranhäufung, von deren etwaigem Gipfel— 
punkte die Beobachtungsorte ſo viel weiter 
entfernt liegen. Selbſt die Beobachtungs- 
reihen des Oſtſeeſpiegels, deſſen Verbindungs— 
ſtelle mit dem Weltmeere den Wendekreiſen 
der Mondbahn immer noch eben ſo nahe 
liegt, als dem Pole, unterliegen demſelben 
Einwand. Sie könnten als Beweis ange— 
ſehen werden, daß der Mond in ſeinen 
4½ jährigen Perigäumsperioden den Gipfel 
einer das allgemeine Meeresniveau beein— 
fluſſenden Fluthwelle von ſeinem nördlichen 
Wendekreiſe (im Extrem 28 ½ Grad Breite) 
bis zu ſeinem ſüdlichen verſetze. Es wird 
alſo durch keine der von Schmick ange— 
führten Beobachtungen eine Waſſerverſetzung 
nach den Polen hin auf Grund der At— 
traktion von Sonne oder Mond erwieſen. 

Daraus folgt nun allerdings nicht, daß 


eine polare Waſſerverſetzung in Folge der 


Bewegung der Attraktionsfluthwellen nicht 
indirekt ſtattfinden könne. Nämlich deshalb, 
weil in Folge des Dazwiſchenliegens der 
Continente die durch die Attraktion erzeugte 
Fluthwelle bei ihrer täglichen Bewegung um 
die Erde nothwendig an die ihr im Wege 
liegenden Oſtküſten anprallen, ſich dort ſtauen, 
und dann — ſeitwärts oder rückläufig — 
in Geſtalt einer Meeresſtrömung wieder 
verlaufen muß. Dieſe rückläufigen Meeres- 
ſtrömungen werden nun allerdings, haupt— 
ſächlich weil ſie aus erwärmtem Meereswaſſer 
beſtehen, das aus den unteren Tiefen ſelbſt 
der Tropenmeere durch das von höheren 
Breitengraden zufließende kältere und ſchwe— 
rere Waſſer emporgedrängt wird, vorwiegend 
in der Richtung nach den Polen hin ab— 


2 


450 


Literatur und Kritik. 


fließen. Die Richtung des Abfluſſes wird 
aber weſentlich durch die vorhandene Ver— 
theilung von Land und Waſſer beſtimmt. 
Es wäre dabei vielleicht die Möglichkeit 
oder ſogar Wahrſcheinlichkeit in Betracht zu 
ziehen, daß die jeweilig größten Attraktions— 
fluthwellen auch größere Waſſermengen in 
der einmal beſtimmten Richtung der Meeres- 
ſtrömungen polwärts entſenden. In Folge 
der Präceſſion der Nachtgleichen und der 
Excentricität der Erdbahn macht ſich aber im 
ganzen Durchſchnitte je einer 10500 jährigen 
Periode ein Uebergewicht der Sonnen— 
attraktion auf je einer Erdhälfte (d. h. ent- 
weder nach der ſüdlichen oder nördlichen 
Tropen region hin) geltend, muß alſo auch 
dort eine in ihrem Geſammtbetrage mäch— 
tigere Fluthwelle erzeugen, die ihrerſeits wie— 
der vorwiegend ihre Waſſermengen nach der 
polaren Region ihrer Erdhälfte abfließen 
laſſen wird. Auf dieſe indirekte Weiſe wäre 
alſo eine Beſtätigung der Schmick'ſchen 
Theorie wohl zu erwarten, die übrigens 
ohne eine ſehr umfangreiche Reihe von Be— 
obachtungen in höheren Breitegraden kaum 
feſtgeſtellt werden dürfte. 

Dieſe unſere Auffaſſung ſcheint uns auch 
mit den von Schmick ſelbſt angeführten 


Beobachtungen der Challenger-Expedition zu 


harmoniren, nach welchen (S. 120) das 
warme Oberflächenwaſſer am ſtärkſten unter 
beiden Wendekreiſen angehäuft iſt und dort 
die Tendenz hat, ein den normalen Meeres— 
ſpiegel des Aequators um mehr als zwei Fuß 
überſteigendes Niveau zu bilden, das ſich 
fortwährend durch Abfluß ausgleicht. Gerade 
ſo gut erklärt ſie die außerordentliche Stau— 
ung des kalten Meerwaſſers an der Oſtküſte 
Südamerika's, die Schmick auf Tafel II. 
darſtellt, und ebenſo die auf Seite 115 und 
Tafel III. erwähnten Variationen der Ge— 
ſchwindigkeiten der Aequatorialſtrömungen. 


Selbſt wenn nun eine ſäculare Verſetz— 
ung der Waſſermengen, wie ſie Schmick 
beanſprucht, ſtattfände, ſo kann dieſelbe doch 
nur ſehr unbedeutend ſein. Die Beweiſe 
eines neuzeitigen Zurücktretens des Meeres- 
ſpiegels, die Schmick auf Seite 72 ge— 
ſammelt, beweiſen eben mit Sicherheit, daß 
dieſes Zurücktreten im Laufe der geſchicht— 
lichen Zeit ein ſehr unbedeutendes geweſen 
iſt, und ſeit 2000 Jahren höchſtens 5—10 
Fuß betragen haben könnte. Er giebt dem— 
nach auch ſeine frühere Annahme, daß die 
„rein ſolare Verſetzungswirkung“ in der 
10500 jährigen Halbperiode eine Senkung 
des Meeresniveau's auf einer Halbkugel von 
437½ Fuß hervorbringen könne, auf und 
begnügt ſich jetzt mit einer Senkung von 
203 Millimetern (7¾ Zoll) im Jahrhun⸗ 
dert (S. 22), alſo in 10500 Jahren mit 
mit 21,3 Metern. Da die geologiſchen Evi— 
denzen aber eben eine viel größere Senk— 
ung, der zuerſt angenommenen entſprechend, 
zu erfordern ſcheinen, ſo ſind wir um ſo 
mehr gezwungen, auf die Croll'ſche The— 
orie der allmäligen Eisanhäufung zurück⸗ 


greifen zu müſſen, als dieſelbe ſich mit der 


Schmick'ſchen Theorie, ſoweit dieſe richtig 
iſt, ganz gut vereinigen läßt. 

Einige Einwendungen Schmick's gegen 
die Aufſtellungen Croll's ſcheinen uns übri— 
gens wohlbegründet. Namentlich gilt dies 
von dem auf Seite 130 ff. und 141 aus⸗ 
geführten Proteſte gegen die keineswegs ein— 
leuchtende Theorie, nach welcher die Meeres— 
ſtrömungen durch die vorherrſchenden Winde 
erzeugt werden ſollen. In einem anderen 
Punkte ſcheinen uns Schmick und Croll 
gleicherweiſe Recht und Unrecht zu haben, 
und die Wahrheit vielmehr als Compromiß 
in der Mitte der beiderfeitigen Theorien zu 
liegen: „Croll behauptet, von dem Zeit— 


punkte an, in welchem das Perihel das 


Winterſolſtitium der einen Halbkugel, das 
Aphel das Sommerſolſtitium der anderen 
paſſirt, oder in welchem das Umgekehrte 
ſtattgefunden habe, ſei immer eine totale 
Umkehr der Klimata und ihrer Folgen auf 
Erden eingetreten, und auf dieſe Behaup— 
tung gründet er ſeine Schilderung der Um— 
wandlung.“ (S. 141). 

Schmick dagegen behauptet, daß „Maxi— 
mal- und Minimalſummen einer ſich addiren⸗ 
den Leiſtung immer erſt da liegen, wo die 
wirkenden Urſächlichkeiten durch Null in ihr 
Gegentheil übergehen.“ (ibid.) 

Die Frage iſt von praktiſchem Intereſſe, 
inſofern als nach Croll die Nordhälfte 
der Erde den diesmaligen Höhepunkt ihrer 
Wärmeperiode ſchon im Jahre 1256 er— 
reicht hätte, während nach Schmick der 
Höhepunkt des Wärmeeffektes erſt 5250 
Jahre ſpäter, alſo im Jahre 6500 unſerer 
Zeitrechnung eintreten würde. 
das gewöhnliche Jahr bezogen: Nach Croll 
befinden wir uns am 21. Juni im höchſten 
Sommer, nach Schmick dagegen ſteigert 
ſich die Wärme bis zum 21. September, 
weil erſt an dieſem Tage der Mehreffekt 


der Sonnenwirkung auf der Nordhälfte im 


Vergleich zur Südhälfte = Null wird. 
Unſeres Erachtens läßt Croll außer Acht, 
daß Effekte ſich ſummiren und nach dem 
Tage der Maximumleiſtung und Umkehr 
der wirkenden Urſache allerdings erſt aus— 
geglichen werden müſſen, während Schmick 
überſieht, daß dieſer Ausgleich eben zur Zeit 
der Maximumleiſtung mit erhöhter Energie 
vor ſich geht, und in Folge deſſen eine Ver— 
ringerung des fühlbaren Effektes ſchon ein— 
trifft, ehe die einſeitige Mehrleiſtung ſich in 
eine Minderleiſtung verwandelt. In der 
Regel ſind nicht Juni oder September, ſon— 
dern Juli und Auguſt die effektivſten Som— 
mermonate. 


Literatur und Kritik. 


Oder auf 


451 


Sehr intereſſant iſt das Schmick' ſche 
Werk in den ſieben Kapiteln ſeiner zweiten 
Abtheilung (S. 46 — 100), in denen der 
Verfaſſer, mit Zugrundelegung der Arbeiten 
von Lyell, Dawkins, Le Hon, Du— 
pont, Croll u. a. m. die Lagerung des 
ſogenannten Diluviums kritiſch unterſucht 
und aus ihm, ſowie aus den in ihm ent— 
haltenen Reſten in, wie uns dünkt, über— 
zeugender Weiſe die Aufeinanderfolge von 
Wärme- und Kälteperioden nachweiſt, deren 
Effekte und Intenſität mit der wechſelnden 
Excentricität der Erdbahn, wie ſie durch 
aſtronomiſche Berechnung nachgewieſen, zu— 
und abnahm. Raummangel verhindert uns, 
auf dieſe Ausführungen näher einzugehen, 
und können wir nur unſere Leſer auf das 
Buch ſelbſt verweiſen. Sie ſind namentlich 
für eine richtige Auffaſſung der Urgeſchichte 
des Menſchen ſelbſt von Intereſſe, und ge— 
nügen z. B. vollſtändig zur Widerlegung 
der in neuerer Zeit von mehreren philologiſch 
gebildeten Geſchichtsforſchern geäußerten An— 
ſicht, daß die Heimath der ariſchen Raſſe im 
oſteuropäiſchen Tieflande zu ſuchen ſei. Denn 
die Annahme, daß ſich der Arier im Laufe 
von 10000 Jahren aus einem Waſſer— 
bewohner entwickelt habe, ſcheint uns denn 
doch ein wenig zu ſtark! 

E. B. 


Die Arier. Ein Beitrag zur hiſtoriſchen 
Anthropologie von Theodor Poeſche. 
Jena, bei Coſtenoble, 1878. 238 S. 

Um ſolche Kleinigkeiten, wie die am 


Schluſſe des vorigen Referats erwähnte, 


kümmert ſich der Verfaſſer dieſes Werkes 
nun nicht. 


Er iſt vielmehr der Anſicht, 
daß die Arier aus — den Rokitno⸗ 
ſümpfen ſtammen, wo es vor 2000 
Jahren ziemlich bodenlos geweſen ſein mag. 


452 


In dieſen Sümpfen feien ſie iſolirt ge— 
weſen und hätten ſich als beſondere, ſcharf 
charakteriſirte Raſſe entwickelt. Das Ver— 
dienſt des Werkes beſteht darin, daß es 
nicht zögert, 


während 


nach Weisbach der deutſche 


Schädel im Durchſchnitt 1521 C. -C. faßt 


. Unfere altpommerelliſchen Schädel finden 


zwiſchen Neger und Eskimo ihren Platz .. 


dieſen beſonderen Raſſen- 


Charakter ohne Umſchweife als den der 


blauäugigen und, in 
blonden Raſſe em— 


kräftigen, 
und Hautfarbe, 


großen, 
Haar- 


phatiſch darzulegen, und daß es damit die 


kleinen, ſchwarzhaarigen Arier endlich dahin 
weiſt, wohin ſie gehören, nämlich in die 
Reihen der durch ariſche Eroberung zur 
ariſchen Sprache gelangten Baſtardvölker. 


Körperlänge war höchſtens 61 Zoll.“ 
„Aber ſchon auf Grund der altpom— 
merelliſchen Schädel — die wahrſcheinlich 
nicht über die Anfänge unſerer Zeitrechnung 
zurückdatiren — wird es erlaubt ſein, ſich 
die älteſten uns bekannt gewordenen Arier 
als den Eskimos in der Verwandtſchafts— 


reihe ganz nahe ſtehend zu denken. Was 
verſchlägt es?“ ſo fragt Herr Poeſche. 
N. . a N 


Seine Localiſation der ariſchen Heimath ſtützt 


der Verf. übrigens auf die Ausſage eines 
Herrn Main ow, eines Ruſſen, der nach 
Herrn von Hellwald (Archiv für An— 
thropologie VIII. 3. S. 330) Folgendes ge— 
ſagt habe: „Bemerkenswerth in dieſer Sumpf— 


gegend von Pinsk, Minsk u. ſ. w. iſt die 
dort allgemein vorkommende Erſcheinung 
der Entfärbung (Depigmentation); die Fälle | 
von Albinismus find ſehr häufig, die Pferde 
ſind faſt alle grau oder iſabellfarbig, die 


Blätter der Bäume blaß, die ganze Natur 


trüb und farblos.“ 

Poeſche nennt dieſe Angaben mit 
Recht wunderbar. Noch wunderbarer 
iſt es, daß nicht dort, ſondern in Holſtein 
die zur Zeit blondeſte Raſſe der Welt lebt. 
Noch andere Vorfahren der Arier als die 
Menſchen (oder Fröſche?) der Rokitnoſümpfe 
glaubt er in den ehemaligen Beſitzern von 
Schädeln und Gebeinen zu entdecken, die 
Dr. Liſſauer aus Danzig in Pomerel— 
len gefunden habe (S. 75). 

„Unſer altpommerelliſcher Schädel“ ſagt 
derſelbe, „ zeigt einen Geſichtswinkel 
von 71 247, am Zahnrande des Ober— 
kiefers 69“ 12“, Größen, die ihn in 
der Rangordnung der Schädeltypen ſehr 
niedrig ſtellen . . . Inhalt 1310 C. C., 


— 


Welt 


Schliemann, Mykenä. Bericht über 
meine Forſchungen und Entdeckungen in 
Mykenä und Tiryns. Mit einer Vor— 
rede von W. E. e Leipzig 
1878, Brockhaus. 

Zu jeder Zeit hat es Autodidakten ge— 
geben, welche ohne Contakt mit der Zunft— 
gelehrſamkeit ihre eigenen Wege wandelten, 
denen aber die beleidigten Zunftgenoſſen 
Steine zwiſchen die Füße zu werfen keine 
Mühe ſcheuten. Denn warum? Erringt 
der Selbſtlerner ohne den Wegweiſer der 
dazu ſich allein berechtigt dünkenden Schule 
Erfolge, welche gerechter Weiſe Aufſehen 
erregen, ja ſogar der Schule ſelbſt in ihrer 
Entwickelung gefährlich werden können, fo 
fragt man ſich nach der Nothwendigkeit der 
Zunft, nach der Berechtigung der Emanzipa— 
tion vom Schulzwange u. dgl., und dieſe 
Frage wird in den Augen der unparteiiſchen 
auch die Stimme der Kritik 
beherrſcht ja das Geſetz der Maſſe und der 
Schwere — gewöhnlich zum Schaden der 
Schulgenoſſen und zum Triumphe des in— 
geniöſen Autodidakten ausſchlagen. 

Iſt im Allgemeinen dieſer Gang der 


| . 


Literatur und Kritik. 


Literatur und Kritik. 


453 


Ereigniſſe oder dieſes Kampfes zwiſchen Schliemann's Verdienſte um die klaſ— 


Schule und Autodidaktismus da- 
mit bezeichnet, ſo werden ſeine Formen noch 
verſchärft bei einer Klaſſe, die ſich zer’ 
S Soũ y für den Vertreter alles Wiſſens 
und aller Bildung hält — dem klaſſiſchen 
Philologen. 

Schon der Name, den er auf der 
Stirne trägt, giebt ihm einen gewiſſen 
Glorienſchein und ſcheint ihm das Recht 
zu verleihen, nur Denen den officiellen Ein— 
tritt in den Olymp und zu den klaſſiſchen 
Stätten zu geſtatten, die rite fo und fo 
viel Examina abſolvirt und das jurare in 
verba magistri aus dem Fundament ge— 
lernt haben. Wehe dem, der es wagt, 
ihre Cirkel zu perturbiren, er wird — 
wiſſenſchaftlich gelyncht! 

Eine ſolche Lynchjuſtiz ſucht nun dieſer 
„klaſſiſche Philologenſtand“ bis jetzt an 
einem Manne zu vollſtrecken, der ein bis 
dato allgemein für utopiſch gehaltenes Unter— 
nehmen zu realiſiren gedachte, nämlich die 
Auffindung des alten heiligen Ilions, die 
Entdeckung der Leichen des Agamemnon 
und ſeiner Todesgefährten ꝛc., überhaupt 
die Verbindung des klaſſiſchen Sagnſtoffes 
Altgriechenlands mit den Funden der Ar— 
chäologie. Erſt die neueſte Zeit, die An— 
erkennung des Auslandes gegenüber den 
Erfolgen des Autodidakten, der Beifall 
eines Lindenſchmit !), die Ernennung 
Schliemann's zum Ehrenmitgliede der 
deutſchen anthropologiſchen Geſellſchaft“ ) 
und einige wenige unparteiiſche Kritiken 
über ſein letztes Werk haben es vermocht, 
das Eis des Zweifels in Deutſchland über 


) Beilage zur Augsb. Allgem. Zeitung 
1878 Nr. 22. 

) Bericht über die VIII. Verſammlung 
der deutſchen Anthropologen zu Conſtanz von 
J. Ranke S. 76. 


ſiſche Archäologie zu brechen. Daß jedoch ein 
großer Theil ſeiner reichen Funde, ſo beſon— 
ders die von Hiſſarlik, im Auslande herum- 
wandern, und nicht einmal eine Abbildung 
davon unſere Muſeen ziert, die ja ſonſt in 
Erwerbung von Kleinigkeiten um hohe 
Geldſummen ſich gar nicht zieren, daran 
trägt der übel angebrachte Neid und die 
ausgeſprochene Verleumdungsſucht der oben 
erwähnten Kreiſe Schuld.?) Im Ganzen 
iſt der Kampf um Schliemann, der 
erſt im Jahre 1856 in einem Alter von 
34 Jahren die griechiſche Sprache erlernte, 
der nicht rite die Kenntniß gewonnen hat 
ſein mensa, mensae, ſein amo und ſein 
copie zu flektiren, jo ziemlich zu feinem 
Vortheil beendet. Der Mann, den ſchon 
in den Kinderſchuhen die homeriſchen Hel— 
den begeiſterten, den die Homerverſe, die 
ihm ein betrunkener Müllergeſelle vordekla— 
mirte, hinter dem Ladentiſche die Thränen 
abrangen, der nach dem Schiffbruche des 
Lebens als Bureaudiener zu Amſterdam 
eintrat, der als ſolcher die Hälfte ſeines 
Gehaltes von 800 Franken auf das Stu— 
dium der neueren Sprachen verwandte, der 
durch eigenes Genie die meiſten Cultur— 
ſprachen ſich aneignete und endlich durch 
glückliche Speculationen in Häringen ꝛc. 
ſich Unabhängigkeit und Muße erwarb, 
dieſer Autodidakt, den Homer's Schatten 
im „heiligen Lande“ umhertreibt, bis er 
findet, was er ſucht — ſteht nach vierzehn— 
jähriger Beſchäftigung mit Archäologie und 
Kunſt als einer der größten Entdecker auf 
dieſem Gebiete da. Er hat es für ſich 
und die Wiſſenſchaft weiter gebracht als 
mancher Meyer, Müller, Schmidt, 
der summa cum laude das examen rigo- 
rosum beſtand und jetzt, an einem alten 
) Ausland 1877 Nr. 32. 


454 


Schmöker kauend, mit ſouveräner Veracht— 
ung auf Alle herabſchaut, die nicht zum 
Parnaß ſeine emendirenden und com— 
mendirenden Wege wandeln. 

Schliemann's Schickſal an und für 
ſich war deshalb ein würdiges Objekt der 
Betrachtung und des Beweiſes dafür, mit 
welcher Naturnothwendigkeit ſich ein Genie 
per tot diserimina rerum die Bahn zum 
Ruhm brechen wird — ſelbſt noch bei Leb— 
zeiten — ohne daß man nöthig hätte, ihn 
erſt nach den Exſequien mit einem frommen 
exegit monumentum anzuräuchern. So 
hart der Kampf ums Daſein und den 
Erfolg dieſem Manne gemacht wurde, ſo 
hat er ihn Dank ſeiner fabelhaften Energie 
beſtanden, und andere mögen auf Hellas' 
heiligem Boden den Spruch beherzigen: 
hie Rhodus, hie salta! Intereſſenten 
für Schliemann's Schickſale verweilen 
wir auf die Vorrede zu ſeinem Erſtlings— 
werk: „Ithaka, der Peloponnes und Troja“, 
worin er bereits 1869 ein Programm für 
ſeine Unternehmungen herausgegeben hat. 
Heute iſt unſere Aufgabe, die Perſpektive, 
welche Schliemann mit ſeinen Aus— 
grabungen auf der Agora von Mykenä 
eröffnet hat, in ihrer Bedeutung für die 
Culturgeſchichte kurz zu würdigen. 

Das Werk, worin er ſeine Entdeckun— 
gen beſchreibt, erſchien ſoeben in reicher 
Ausſtattung bei Brockhaus in Leipzig in 
deutſcher Ausgabe. Beigegeben ſind vor— 
treffliche Abbildungen in reicher Auswahl, 
ſowie eine Reihe landſchaftlicher Darſtell— 
ungen und eine genügende Anzahl von 
Plänen und Detailprojektionen. So erhält 
auch der Laie eine deutliche Vorſtellung 
von der Akropolis von Tiryns, dem Löwen— 
thor von Mykenä, der Agora mit den auf— 
gedeckten fünf Gräbern (woran ſich neueſtens 
ein ſechſtes anſchloß), den farbigen Idolen von 


Literatur und Kritik. 


Terracotta, ſowie der Art des Terrains in 
und um Mykenä. Das eben iſt der Vor— 
zug der Darſtellung eines Laien, daß er 
auch auf ein Laienpublikum Rückſicht nimmt 
und nicht vom hohen Roß herab an wenige 
Erwählte ſeine Weisheitsſprüche richtet. 
Allerdings auch auf manche Mängel der 
Laienſprache mag hingedeutet fein: Die all- 
zugroße Weitſchweifigkeit an manchen Stellen, 
eine hier und da vermißte Ueberſicht und 
Rubrification ꝛc. Jedoch im Großen und 
Ganzen übetrifft das jüngſte Opus von 
Schliemann die früheren an Deutlich— 
keit und Umſicht, wie in Rückſichtnahme 
auf die einſchlagende Literatur, ſo daß ſelbſt 
Fachmänner die Runzeln auf der Stirne 
glätten können und geglättet haben. 

Im Allgemeinen find die Fundlocali— 
täten an der Oſtküſte des Peloponnes, im 
Innern des Meerbuſens von Argolis, dem 
Publikum aus der Tageslektüre und aus 
periodiſchen Blättern wie „Ausland“, „Un— 
ſere Zeit“ u. ſ. w. bekannt. 

Einige Kilometer nördlich der See— 
ſtadt Nauplia liegt die uralte Citadelle 
von Tiryns, jetzt Palaeocaſtron genannt. 
Im Innern dieſer nach dem Mythus von 
Cyklopen gebauten Ringmauer mit 7 Fuß 
langen und 3 Fuß dicken Steinen, die 
einſt eine Höhe von ca. 60 Fuß hatte, 
ergaben von Schliemann vorgenommene 
Ausſchachtungen mehrere Schichten. Die 
jüngſte gehörte der fränkiſchen Periode an, 
die älteſte zeigte Reſte cyklopiſcher Häuſer, 
ungedrehte Topfreſte und Idole von Terra- 
cotten, die ähnlich wie zu Hiſſarlik und My⸗ 
kenä gehörnte Thiere (Kühe) und weibliche 


Figuren darſtellen, welche wahrſcheinlich in 


Verbindung ſtehen mit dem Gottesdienſte 
einer alten Mondgöttin Jo (Hera). Von 
ſonſtigen Artefakten fanden ſich hier nur 
kleine Meſſer von Obſidian und zwar in 


u. 


der unterſten Schicht; in der zweiten prä— 
hiſtoriſchen auch Spinnwirtel von Stein, 
nur wenige aus Thon. Im Ganzen zeigen 
Mauer und Scherbe hinlänglich Aehnlich— 
keit mit den tiefſten Schichten von Hiſſarlik 
und Mykenä, um dieſe Urcultur in eine 
und dieſelbe Periode zu ſetzen. Auffallend 
iſt zu Tiryns der Mangel ſonſtiger Arte— 
fakte, was ſich aber zum Theil aus der 
prononcirten Lage dieſer den Seeräubern 
exponirten Stelle erklärt. 

Mehr im Innern von Argolis, auf der 
alten Straße von Argos nach Korinth, liegt 
im Winkel?) zwiſchen bis 2000 Fuß hohen 
Bergen Stadt und Akropolis der Pelopiden. 
Schon ſeit Alters bekannt waren die The— 
ſauroi, die Schatzhäuſer daſelbſt, mit ihrer 
bienenkorbförmigen Conſtruktion, ſowie das 
ſogenannte Löwenthor am weſtlichen Ein— 
gang zu der ſüdöſtlich von der Stadt ge— 
legenen Akropolis. Geſchützt ſind deren 
Seiten, wovon die beiden längſten 300 Meter 
einnehmen, gleichfalls durch cyklopiſche 
Mauern, welche den Rand des Abhanges, 
ſowie auch Abſchnitte im Innern umziehen. 
Die Mauern, noch 16 — 38 Fuß hoch und 
durchſchnittlich 16 Fuß dick, beſtehen theils 


aus in parallelen Reihen liegenden Blöcken 


mit bindenden kleineren Steinen, theils aus 


Löwenthores. Die polygone Mauer findet 
ſich bekanntlich häufig in Unteritalien und 
Griechenland. 

Es ähneln die roheſten Formen dieſer 
Mauerbildung den auf mitteleuropäiſchem 
Boden bekannten Ringmauern, welche man 


*) Daher der Name Mvxrvn von der 
Wurzel , und dem Grundwort cana, wie 
in Tooı-Invn, Arta-cana, Aba-cena, Thara- 
cana, vergl. Beilage zur Allgem, Ztg. 1878, 
Nr. 22 ©. 318. 


Literatur und Kritik. 


regelmäßiger geführt. 
wohlgefügten Polygonen, wie an der Weſt⸗ 
ſeite der Akropolis, in der Umgebung des 


455 


auf die älteſte keltiſche und germaniſche Ein— 
wanderung in Frankreich und Deutſchland 
zurückführen kann. Wir hätten ſomit in 
dieſer Bauart, die ſich, auf identiſcher 
Grundlage beruhend, nur im Süden mit 
entwickelter Form vorfindet, die Reſte einer 
allen Weſtariern gemeinſamen Befeſtigung, 
denn überall, wo Kelten, Germanen, Graeko— 
Italer eingewandert ſind, haben wir auch, 
an ihre Spur gebunden, dieſe cyklopiſchen 
Ringwälle, deren Mauern immer aus un— 
verbundenen Steinen oder Blöcken beſtehen. 
Das Gemeinſame iſt an allen die Lage 
auf iſolirten, durch die natura loci ge— 
ſchützten Bergkegeln oder Felſenmaſſen; dann 
der Zug der Linie im Kreiſe, endlich die 
Art des Baues und ſchließlich der Zweck, 
der einer aktiven Vertheidigung. Alle dieſe 
Ringwälle in Altgriechenland und Italien, 
in Deutſchland und Frankreich, in England 
und Oeſterreich zeichnet dieſelbe Charakteri— 
ſtik aus, und alle wahrnehmbaren und un— 
terſuchten Momente ſprechen dafür, ſie für 


die primitiven und gemeinſamen Schutz 
und Städtebauten der Weſtarier zu halten. 
Im Nordweſten find dieſe Ringwälle theil— 


weiſe gebrannt, die ſogenannten Schlacken— 
wälle, im Süden erſcheinen die Mauern 
Die uralte Cultur 
der Mittelmeerländer äußerte ihren Ein— 
fluß auch auf die Form der Ringmauern 


bei dem ſüdlichen Zweige der Arier. Auch 


die kimmeriſchen Mauern des Herodot in 


Kleinaſien ſcheinen hierher zu gehören.“) 


| 


Innerhalb folder Bauten der Vorzeit 
machte nun Schliemann zu Hiſſarlik und 
Tiryns ſeine Hauptentdeckungen, und auch 
zu Mykenä war es das Innere eines ſol— 
chen Raumes, welches den vielbeſchriebenen 
Reichthum an Gold- und Silbergefäßen, 
an Intaglivarbeiten und anderen faſt unzähli⸗ 


*) Ausland 1878 Nr. 7 S. 122. 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


58 


. 


456 


gen Koſtbarkeiten ergab, deren Metallwerth 
allein auf ungefähr 100000 Reichsmark 
geſchätzt wird. 

Außer mehreren Fundſtellen innerhalb 
einiger in der unteren Stadt gelegenen 
Schatzhäuſer iſt weitaus der wichtigſte 
Fundort ſüdlich des Löwenthores gelegen. 


Dort findet ſich ein 30 Meter im Durch- 


meſſer haltender Kreis, der mit bedeckten 
Doppelplatten umgeben iſt. Dieſe Enceinte 
hielten Schliemann, Prof. Paley in 
London u. A. für die Agora, den Platz 
der Volksverſammlung der Mykener, in 
deren Mitte ſich die P, die Redner— 
bühne, ein großer Felſenblock, erhob. An— 
dere, wie Adler, halten dieſen Ring für 
eine Befeſtigung, eine ebenſo unnöthige als 
unmotivirte Annahme. Im Innern dieſes 
Umkreiſes, in welchem nach Pindar und 
Pauſanias hochangeſehene Perſonen be— 
graben zu werden pflegten, entdeckte Schlie— 
mann fünf regelmäßig in den Felſen ge— 
hauene Vertiefungen, die in einer Tiefe von 
27 — 33 Fuß mit Koſtbarkeiten überladene 
Leichen bargen. Eine ſechſte Höhlung mit 
zwei Leichen grub daneben am Weſtende der 
Enceinte zuerſt Statamaki auf.“) 

Die Lage der Gräber an der impoſan— 
teſten Stelle der Akropolis, die Fund— 
umſtände der Leichen, die überreichen Bei— 
gaben beweiſen die hohe Stellung der hier 
begrabenen Perſonen und ihre Bedeutung für 
die zu ihren Füßen liegende Stadt. Schlie— 
mann zieht daraus und aus einer Stelle 
bei Pauſanias, dem Bädecker des 
2. Jahrh. n. Chr., der ein Reiſehandbuch 
von Griechenland herausgab, den Schluß, daß 
er hier die Gräber gefunden habe, welche 
nach der Tradition des Alterthums dem 
Atreus, dem Agamemnon, ſeinem Wagen— 

X) Vergl. eine Nachricht der „Poſt“ vom 
Februar 1878. 


Literatur und Kritik. 


lenker Eurymedon, der Caſſandra und ihren 
Gefährten angehören. Aber damals, als 
Pauſanias jene Stelle beſuchte, welche 
die Alten mit Argion, Reſidenz der Pelo— 
piden, himmliſche Mauern benannten, wa— 
ren die Grabmonumente durch die Laſt der 
Jahrhunderte und durch zwei ſpätere Nie— 
derlaſſungen mit einer Schuttſchicht von 
11 — 13 Fuß Dicke unſichtbar gemacht. 
Erſt der Energie Schliemann's gelang 
es, die Schuttdecke, welche ſeit 468 v. Chr. 
die Pelopidengräber der Sage deckte, wie— 
der zu lüften. 

Die kammerartigen, in den Fels ge— 
hauenen Gräber enthalten eine große An— 
zahl von Skeletten, die theilweiſe künſtlich 
petrificirt erſcheinen. Die meiſten ſind be— 
deckt im Geſicht von eigenartigen, goldenen 
Masken; ein ſicher der ganzen Hellenenzeit 
unbekannter Uſus bei Beerdigungen, doch 
hat ſich dieſe Sitte zum Schutze gegen die 
Sonne bei den Frauen auf den Inſeln des 
ägäiſchen Meeres erhalten. Ueber den 
Leichen ſelbſt erhob ſich bei der Beſtattung 
ein Scheiterhaufen, der jedoch nur zum 
Scheine angezündet geweſen zu ſein ſcheint, 
da ſich die Beigaben im Ganzen unver— 
ſehrt daneben finden. 

Was zuerſt das Material der Arte- 
fafte anbelangt, jo erſcheinen die gewöhn— 
lichen Metalle: Gold, Silber, Bronze, 
Kupfer in Anwendung; Gegenſtände aus 
Eiſen und Blei find apoeryph.“) 

Gold findet ſich erſtlich als einfaches 
Metall zu Gefäßen, Ornamenten, Ringen, 
Kopfbändern, Knöpfen, Haften und ande— 
ren Verzierungen verwandt und zwar mit 


) S. 80 und 87, wo wenigſtens eiſerne 
Gegenſtände als beſtimmt ſpäterer Periode 
angehörig angegeben ſind, ebenſo ein großes 
Quantum Blei; der Mangel an Eiſen iſt 
ſehr bemerkenswerth. 


Literatur und Kritik. 


89,35 pCt. Gold, 8,55 pCt. Silber nach 
Richard Smith's Unterſuchungen. 

Dann findet ſich häufig eine Miſchung 
von Gold und Silber, ähnlich dem ſoge— 
nannten Elektron, mit deutlicher Goldfarbe 
angewandt und zwar mit 73,11 pCt. Gold, 
23,37 pCt. Silber, 2,22 pCt. Kupfer. 

Vorzugsweiſe zu Waffen verwandt 
treffen wir die Bronce an; aus ihr be— 
ſtehen lange Schwerter, Lanzen, Dolche. 

Die Unterſuchung eines Schwertes ergab: 
86,36 pCt. Kupfer, 13,06 pCt. Zinn; 
die eines Vaſenhenkels: 89,69 pCt. Kupfer, 
10,08 pCt. Zinn, d. h. die gewöhnliche 
Miſchung der alten Bronze. 


Die Streitäxte aus Bronze von Troja 


ergaben einen Zinnzuſatz von nur 4—9 pCt. 


Aus Kupfer beſtanden meiſt die 


Hausgeſchirre, wie Keſſel, Dreifuß ꝛc.; fie ent- 
halten: 98,47 pCt. Kupfer, 0,09 pCt. Zinn. 
Von Zinkzuſatz fanden Percy und 
Smith keine Spur. 
Daß die metallenen Artefakte zum Theil 
in loco gefertigt wurden, bezeugen mehrere 


aus Granit, Baſalt und Diorit beſtehende, 
macht des Südens, mit Aegypten, hindeuten. 


innerhalb der Akropolis ausgegrabene Guß— 
formen. 

Von Steinartefakten grub Schlie— 
mann neben den Gruben polirte Beile 
aus Serpentin von 6 Centimeter Länge 


und einer Form aus, wie ſie vielfach in 
wegt ſich ebenfalls in ziemlich reichen For— 


Mitteleuropa vorkommt. Außerdem meh— 
rere Pfeilſpitzen ohne Widerhaken aus Ob— 


ſidian, die an hölzernen Pfeilen befeſtigt 
Von Steininſtrumenten entdeckte 


waren. 


| 
| 


man auch hier die halbmondförmigen Mahl- 


ſteine zum Schroten des Getreides, und 
zwar von derſelben Form und demſelben 


Material, nämlich Trachyt, nur kleiner, 


Napoleonshüte genannten Mahlſteine vom 
Mittelrhein. “) 


i 
i 457 

Die zahlreichſten Denkmale der Vor— 
zeit ſind von Mykenä in Thon erhalten. 
Es finden ſich ganz rohe Scherbenreſte ohne 
Anwendung der Drehſcheibe; dann hübſch 
gedrehte Vaſen und Krüge, Schüſſeln und 
Becher. Die Verzierungen beſtehen zum 
Theil in rohen Eindrücken, dann in man— 
nigfachen Bändern und Streifen, Mäan- 
dern, Spiralen, Netzen, Thiergeſtalten ꝛc., 
deren beſte Exemplare ſich den ſogenannten 
älteſten attiſchen Vaſen anſchließen. In 
dieſen Ornamenten liegen die werthvollſten 
Kriterien für den Urſprung und den Zu— 
ſammenhang dieſer Cultur. 

An Edelgeſtein ward zu Material 
verwandt: Achat, Alabaſter, Amethyſt, 
Bergkryſtall, Jaspis, Lapis ollaris, Onyx, 
Opal, und zwar in Form von Schmuck— 
gegenſtänden, Ringen, Amuletten, Gewich— 
ten ꝛc. Außerdem noch Bernſteinperlen. 

Von ſonſtigen Stoffen ſind noch Glas 
als Kugeln und Cylinder, ſowie Porzellan 
als Vaſe und Schleife erwähnenswerth, 
beſonders deshalb, weil beide Materialien 
auf einen Handelsverkehr mit der Land— 


Was die Technik und den Styl 
der Artefakte betrifft, ſo iſt erſtere im 
Ganzen eine ziemlich hohe. Man verſtand 
ſich auf Schmieden und Gießen, auf In— 
taglio- und Repouſſéarbeit. Der Styl be— 


men, was die Ornamentik anbelangt. Ver— 
treten unter deren Gattungen ſind beſonders 
Mäander und Spirale. Die ßplaſtiſchen 
Verzierungen ziehen vorzüglich das Thier— 


) Vergl. des Verf. „Studien“, II. Thl. 
IV. Tafel; Lindenſchmit: Alterthümer 


g 5 - | rer idniſchen Vorzeit. II. Bd. VIII. 
wie die den Archäologen bekannten und ide 1 


Heft. I. Tafel Nr. 16; Bericht über den Con- 


greß der Anthropologen zu Conſtanz: Schaaff- 


hauſen S. 139. 


RS 


458 


Literatur und Kritik. 


reich zu ihren Objekten an, und zwar er— 
ſcheinen Thiergeſtalten von den Inſekten 
und Mollusken bis zu den Vierfüßlern; 
beſonders zahlreich ſind die Geſtalten des 
Löwen, des Greifen, des Hirſches, der ge— 
flügelten Sphinx vertreten. 

Wir erhalten demnach durchaus nicht 
das Bild einer primitiven, unentwickelten 
Cultur für dieſen Zeitraum der Geſchichte, 
der hoch in das zweite Jahrtauſend v. Chr. 
hinaufreicht, ſondern einer in allen mög— 
lichen Stoffen und aller Art der plaſtiſchen 
und linearen Ornamentik kunſtgerechten 
Culturſtufe. 

Vei dem Mangel an Vergleichungs— 
material für dieſe Epoche ſind wir vor 
Allem auf den Prüfſtein der Keramik 
hingewieſen. Und gerade dieſe, und zwar 
Vaſen mit drei Henkeln und eigenthümlichen 
Linearornamenten, weiſen uns nach dem 
Oſten vom Peleponnes. Zu Jalyſos auf 
Rhodos fanden ſich in Grabkammern die— 
ſelben Vaſen und außerdem ähnliche Gold— 
artefaklte. Dazu macht Prof. Köhler 
zu Athen mit Recht darauf aufmerkſam, 
daß die vielen zu Ornamenten angewand— 
ten Seethiere: Polypen, Fiſche, dann 
Ruder (2), Meereswellen, auf den Einfluß 
eines die Seeküſten bewohnenden Volkes 
hinweiſen. Köhlers) betrachtet als dieſes 
Seevolk die Karer, welche nachweislich zwi— 
ſchen dem 12. und 10. Jahrhundert v. Chr. 
die Küſten von Hellas coloniſirten und 
unter dem ſagenberühmten Minos von 
Kreta ( Kareta?) eine Thallaſſokratie 
im Archipelagos ausübten, welche erſt das 
Erſtarken des joniſchen Stammes brach. 

Auf eine Coloniſationsverbindung mit 
dem Oſten zeigt auch eine Reihe von 
Ortsnamen. So haben Mykene und 
Troecene ihre Pendants, wie ſchon erwähnt, 
7 Allgem. Ztg. 1878 Nr. 14 S. 198. 


in den kleinaſiatiſchen Städtenamen Arta— 
cana, Tharacana ꝛc. Die oſtgriechiſchen 
Ortsnamen Hymettos, Lykabettos ſchließen 
ſich an die öſtlichen Amamaſſos, Tamaſſos, 
Jalyſos, Pedaſos, Tetmeſſos, Halicarnaſſos, 
Mylaſſa, Sagalaſſos, Andraſos, ja ſelbſt 
Epheſus, Edeſſa, Emeſa an, denen nach 
Fligier „Beiträge zur Ethnographie Klein— 
aſiens“ als Grundwort die Endung äsos, 
ſanskr. aca (vergl. & %s — althd. fasti, 
altn. kastr — Feſte) zu ſubſtituiren iſt. 
Die Ausbreitung dieſer Ortsnamen in Lycien, 
Karien, Attika, auf den Inſeln Cypern, 
ſchodos, dann in Meſſenien ꝛc. beweiſt die 
Einwanderung eines ariſchen Stammes aus 
Kleinaſien und zwar von der Weſtküſte deſſel— 
ben nach dem gegenüberliegenden Griechen— 
land. Fligier in der erwähnten Schrift 
zählt dieſe Stämme zu den Thrako-Phry— 
giern. Ihnen ſchreibt er die vielen mäch— 
tigen Grabhügel an der Weſtküſte von 
Kleinaſien zu, die ſogenannten Gräber des 
Tantalos, Alyattos, Gyges, Midas u. A. 
Sie lieferten den Grundſtock zu den Pe— 
lasgern, und einzelne griechiſche Sagen be— 
zeugten deutlich auch ihre Einwanderung 
aus dem Oſten. Bei den Thrako-Phry— 
giern und den damit geographiſch zuſam— 
menhängenden, dem Peloponnes gegenüber- 
gelagerten Lyciern, Karern, Lydern war 
die Hauptgöttin das Gorgobild des thra— 
kiſchen Dionyſos, die Göttermutter Ma— 
Kybele-Demeter. Dieſe Göttermutter De— 
meter erſcheint in ſpäterer Geſtalt als Hera.*) 

Da nun in unmittelbarer Nähe von 
Mykenä das hochheilige Heraion, der Tempel 
der Hera, lag, ſo wird es keine Schwie— 
rigkeiten haben, die vielen Idole von Kuh— 
köpfen, Frauen ꝛc. mit dem Culte der 

E. Curtius: Die griechiſche Götter- 
lehre vom hiſtoriſchen Standpunkt: Preuß. 
Jahrbücher 1875 S. 1— 15. 


De) 


VV 


Literatur und Kritik. 


Hoc Powrcıs in Verbindung zu ſetzen, zu⸗ 
mal da ſich ganz ähnliche „Opferfiguren“ 
am Heraion zu Olympia in der unterſten 
Fundſchicht aufgefunden haben.“) 

Wir hätten hiermit beſtimmte Kriterien 
dafür, daß der orgiaſtiſche Cult der phry— 
giſchen Göttermutter von Kleinaſiens Höhen 
durch Einwanderer nach der Oſtküſte des 
Peloponnes übertragen wurde. 

Für eine ſolche Coloniſation aus dem 
Oſten ſprechen auch noch manche andere 
Indicien, fo, wie ſchon erwähnt, die Mas— 
ken, die ſich noch heute auf den Inſeln 
zwiſchen Hellas und Karien finden. Ohne 
Zweifel zeigt auch die ganze Kunſt und 
Styliſirung der Artefakte viel mehr An— 
klang an kleinaſiatiſch-ſemitiſche Typen, als 
an die Culturprodukte Aegyptens, an die 
nur Weniges, wie ein Straußenei und 
Porzellan, erinnert. 

Zudem beweiſt die wenn auch ſpätere 
Sage von der Einwanderung der Pelo— 
piden aus Kleinaſien, daß man auch 
ſpäter ſich des hiſtoriſchen Zuſammenhanges 
mit Karien noch bewußt war, wenn auch 
Homer von des Pelops Abſtammung von 
Tantalos nichts weiß.“ “) 

Ein Hauptmotiv aber für eine Ein— 
wanderung aus dem kariſchen Kleinaſien 
muß die geographiſche Lage des Peloponnes 
ſein. Unmittelbar gegenüber von ihm dehnt 
ſich vom Vorgebirge Mykale bis zu dem von 
Artemiſion das Land der Karer aus, die 
zur prähiſtoriſchen Zeit und vor der joniſch— 
doriſchen Einwanderung ſicher im Beſitz 
der Küſten von Epheſos, Milet, Halikar— 
naſſos waren. Die Inſeln Rhodos, Sa— 
mos, Naxos, Paros, Melos, Cythnos (auf 
dieſer noch die Masken gebräuchlich) bilden 

XXI. Ausgrabungsbericht von Olym— 


pia vom 21. Febr. 1878 im „Reichsanzeiger“. 
*) Odyſſee XI. 581; Ilias II. 104. 


459 


außerdem die natürliche Brücke von Klein— 
aſien zu dem nach Oſten geöffneten 
Strande von Tiryns und Argos. Nichts 
natürlicher, als die Niederlaſſung der 
meerbeherrſchenden Karer an den frucht— 
baren Küſten der Argolis. Dieſen Schluß 
aus der Topographie beſtätigen auch die 
Nachrichten der Autoren. 

Nach Thucydides J. 4 und 8 be— 
wohnten die Karer die meiſten Inſeln des 
ägäiſchen Meeres, und zwar nennt ſie dieſer 
gewiſſenhafte Autor in Gemeinſchaft mit 
den Phöniciern als Inſelbewohner und 
Seeräuber. Den eclatanteſten Beweis für 
die kariſch-phöniciſche Abkunft der Leichen, 
die in der Agora zu Mykenä beerdigt ſind, 
giebt die Stelle des Thucydides J. 8. 
Hier ſpricht er davon, daß man nach der 
Einnahme von Delos durch die Athener die 
Gräber der Karer an der Mitgabe der 
Waffen und der Art des Begräb— 
niſſes, die fie jetzt noch haben, erkannt 
habe. Die Mitgabe der Waffen bildete 
alſo einen Unterſchied vom griechiſchen Be— 
gräbniß, und ebenſo die Art der Humation. 

Nun wiſſen wir aus Homer, daß 
die Todten der heroiſchen Periode verbrannt 
und in Grabhügeln die Aſche ohne Waffen— 
beigabe beigeſetzt wurde. Dies leitet zum 
Schluſſe, daß die Karer nach ſemitiſcher 
Art ihre Todten in Kammern beerdigten 
unter Beigabe der Waffen ꝛc. Vergleichen 


wir damit die Humation von Mykenä, 


ſo finden wir ziemliche Uebereinſtimmung: 
in den Boden eingehauene Grabkammern, 
Beerdigung (nicht Verbrennung; der Schei— 
terhaufen war nur nominell, denn Leichen 
und Beigaben ſind erhalten); Mitgabe von 
Waffen, Schmuck. 

Und in Karien und Lycien ſelbſt fin— 
den wir gleichfalls den Gebrauch, die Todten 
in mächtigen Kammern zu beſtatten, welche 


460 


wie bei der Necropole von Myra den An— 
blick einer gewaltigen Todtenſtadt bieten 
und die deshalb Reber „Blockhausgräber“ 
nennt. 

Doch wie ſich dort in Lycien in der 
tempelartigen Façadenbildung ꝛc. helleniſcher 
Einfluß geltend macht, ſo auch in der Argolis 
in den Gräbern von Mykenä. Wir ſehen 
hier auf den mit Reichthümern überladenen 
Leichen einen Scheiterhaufen gethürmt, deſſen 
Gluth den Einfluß helleniſcher Cultusſitte 
andeutet. Die Gräber zu Mykenä deuten 
alſo auf eine kariſch-phöniciſche Grundlage, 
verbunden mit helleniſcher Einwirkung. 

Wenn deshalb Reber mit Recht die 
Südküſte Kleinaſiens als eine bedeutſame 
Mittelſtation der Culturſchiebung von Me— 
ſopotamien (Aſſyrien) an das ägäiſche Meer 
bezeichnet hat, ſo bezeugen uns die Funde 
von Mykenä das Ende, die Reſultante 
dieſer Culturbewegung. 

Als den offenſiven Faktor hierbei 
betrachten wir ein kariſch-ſemitiſches Element, 
das von Cypern, Rhodos, Karien, Lycien, 
ſowie der Brücke der Cycladen aus nach 
dem Feſtlande von Griechenland ſich bewegte. 
Anſiedelungen zu Tiryns, Mykenä, Spata 
bei Athen ſind die Produkte dieſer Coloni— 
ſationsthätigkeit. Dieſe brachten das Gold 
Kleinaſiens (vergl. die Sage von Midas), 
ſowie die Bronce der Phönicier mit in ihre 
Colonien, dann eine hoch entwickelte Technik 
in der Metallurgie und der Keramik. Der 
Styl ſchließt ſich an aſſyriſche Leiſtungen 
an; der Höhepunkt ägyptiſcher Macht mag 
ſchon vorüber geweſen fein, und die Cheta 
Ramſes' II. mögen im Oſten an der 
ſyriſchen Küſte den Einfluß Aegyptens pa 
ralyſirt und abgewehrt haben. 

Die geringe Anpaſſung an ägyptiſche 
Verhältniſſe, ſowie der vorherrſchende Ein— 
fluß der Karer giebt uns zugleich einen 


Literatur und Kritik. 


| 


Limitationspunkt für die Mykenäiſche Pe— 
riode. Dieſelbe muß demnach in die Zeit 
nach dem Höhepunkt ägyptiſcher Macht 
unter Ramſes II., d. h. nach dem Jahre 
1300 v. Chr. fallen.“) 

Nicht zu leugnen iſt, daß ſich aller— 
dings auch Reſte beſonders in der Keramik 
erhalten haben, welche anzuknüpfen ſind 
an die Erſcheinungen der Ornamentik 
auf den ſogenannten attiſchen Vaſen, deren 
Charakteriſtikum in geometriſchen Zeich— 
nungen beſteht. 

Dieſe Elemente anderer Styliſtik dürfte 
man geneigt ſein, einer andersartigen Be— 
völkerung zuzuſchreiben, der thrafo-phrygi- 
ſchen, die vom Norden und Nordweſten aus 
Griechenland bevölkerte, und welche den 
Grundſtock zu den Pelasgern gebildet hat. 
Aus ihr beſtand das defenſive oder paſſive 
Element, die rohe und unterdrückte ariſche 
Urbevölkerung, zu der ſich die Karer und 
Phönicier als Eroberer und Eindringlinge 
verhielten. Aber darin, in dieſer cultu— 
rellen Kreuzung zwiſchen Ariern und 
Semiten, liegt zugleich die Bedeutung der 
beiden Raſſenelemente und damit indirekt der 
Werth der Entdeckungen Schliemann's. 

Daß die griechiſche Cultur autochthonen 
Urſprunges und gleichſam durch „Partheno— 
geneſis“ entſtanden ſei, daß die Kunſt eines 
Praxiteles und Apelles, eines Polygnot 
und Parhaſios rein helleniſchen Urſprungs 
ſei, galt lange Zeit für ein Dogma der 
Unfehlbarkeit klaſſiſcher Philologen auf 
deutſchem Boden. Sie ſelbſt ſcheinen da— 
durch olympiſchen Urſprungs und kaſtaliſcher 
Quelle näher gerückt zu werden. Dieſer 
Grundanſchauung, die aller hiſtoriſch nach— 
weisbaren Culturentwickelung ins Geſicht 


) W. E. Gladſtone Homer S. 175 — 
222 und Lenormant, Anfänge der Cultur 
l. Bd. a. m. O. 


Literatur und Kritik. 


ſchlägt, huldigt in neuerer Zeit insbeſondere 
Ernſt Curtius und ſeine Schule.“) 
Allein ſo gut die Hügelgräbermenſchen 
Mitteleuropas ohne den Cultureinfluß von 
Maſſilia und Etrurien bei ihren ſchlecht— 
gebrannten Gefäßen, ihren rohen Stein— 
artefakten, ihren ſimpeln Gottesvorſtellungen 
geblieben wären, ſo gut die Sabiner und 
Oscer der italiſchen Halbinſel bei ihren 
primitiven ſtaatlichen und ſocialen Einricht— 
ungen, bei ihrer kunſtloſen Keramik und 
autochthonen Metallurgie verharrt hätten 
ohne Einwirkung etruriſch-griechiſcher Cultur— 
elemente, ſo gut wären auch die Weſtarier 
in Griechenland, die erſten Ankömmlinge 
von Nordoſten, bei der simplieitas rudis 
ſtehen geblieben, bei den eyklopiſchen Mauern 
und dem Höhendienſte des „Vater Zeus“, 
bei den Mahlſteinen aus Trachyt und den 
Pfeilſpitzen aus Obſidian, bei den Umhängern 


der eingehandelten Glas- und Bernſtein— 
perlen ꝛc., wenn nicht die intenſive und 


offenſive Berührung mit einem höher 


ung, die den Menſchen zum Menſchen ge— 
ſellt, producirt hätte. Vortrefflich hat dieſen 
durch Culturkreuzung erfolgten Proceß 
des Dichters Phantaſie dargeſtellt in der 
Paramythie: „Das eleuſiſche Feſt.“ 

Und ein Kreuzungsprodukt nicht der 
ſchlechteſten Art repräſentirt ſich uns in der 
Periode, an der Schliemann durch ſeine 
archäologiſche Operation den Kaiſer— 
ſchnitt vornahm. 

Nicht einem Wunder gleich, wie ein 
Phönix aus mythiſcher Selbſterzeugung, 


erhebt ſich künftig die griechiſche Cultur 


vor unſeren Augen. Nein, naturge— 


) E. Curtius: Jonien S. 21 und Grie- 
chiſche Geſchichte 3. Aufl. J. Bd. S. 33—57 


und Fligier's Kritik dazu in: Prähiſtoriſche 


Ethnologie der Balkanhalbinſel S. 51—59, 


461 


mäß durch allmälige Zeugung, 
durch Mitwirkung verſchiedener 
cultureller Faktoren, durch Kampf 
und Zuchtwahl unter kariſchem 
und ſemitiſchem Geſchlecht, unter 
Thrako-Phrygiern (Pelasgern) 
und Achäern, Dorern, Joniern 
(Griechen) entſtand das helleniſche 
Volk und die griechiſche Cultur. 

In dem Spruche: Graecia capta ferum 
vietorem cepit ſteckt eine tiefe cultur— 
geſchichtliche Wahrheit, und einen muſter— 
gültigen Beweis dafür von rückwärts wir- 
kender Kraft durch Energie und Ausdauer 
beigebracht zu haben, wird das feſtſtehende 
Verdienſt Schliemann's und feiner Ent- 
deckungen ſein. 

In dieſem Sinne: eingewurzelten Bor- 
urtheilen eine ſchwere Wunde beigefügt, den 
Blick auf culturelle Vorgänge in prähiſto— 
riſcher Zeit gelenkt zu haben, welche ohne 
dieſe peracti labores ſtets der Zielpunkt 


| phantaſtiſcher Träumereien und hohler Hirn— 
ſtehenden Culturvolke Keime höherer Bild- 
für erhalten zu haben, daß keine Entwidel- 


geſpinnſte geweſen wären, einen Beweis da— 


ung unanalog, disparat, phänome— 
nal — kurz unorganiſch vor ſich gehe, 
muß die Culturgeſchichte, die frei von aller Bor- 


eingenommenheit Höhen und Tiefen, Aufang 


und Ende, Völker und Fürſten mißt und 


beurtheilt, Schliemann's Entdeckungen 
als einen ſtrikten Beweis für die Geſetz— 


mäßigkeit ihrer Evolution begrüßen. 

Mögen andere Ausgrabungen, die hoch— 
trabend und auf Staatskoſten unternommen, 
ein leichtes Spiel mit der Regiſtrirung ihrer 
Schätze — und dem plaudite amiei haben, 
die Höheepochen der helleniſchen Kunſt im— 
merhin mit einzelnen neuen Bildern 
und Schauſtücken illuſtriren, mögen ſolche 
der Kunſt vortreffliche Dienſte leiſten — man 
muß vom rein wiſſenſchaftlichen Stand— 


— U— 


ä ——ů —ů 


462 


punkte aus billig bezweifeln, daß deren 
Werth ein ſo hoher ſei, als die Lärm— 
trompete intonirt. Immerhin aber werden 
die „barbariſchen“ Funde von Mykenä und 
Hiſſarlik, Tiryns und Spata ein neues, 
energiſches Licht auf dunkle Epochen der 
Culturgeneſis werfen, das zwar nicht ſo 
viel Schimmer und Jubel erweckt, aber 
nichts deſto weniger in der Cultur— 
geſchichte der Menſchheit keinen 
niederen Platz einnimmt, als Hunderte 
marmorner Nixen und Flußgötter. 
Dr. C. Mehlis. 


Die nordiſche Bronzezeit und 
deren Perioden-Theilung von 
Sophus Müller. Autoriſirte Aus— 
gabe für Deutſchland. Aus dem Däni— 
ſchen von J. Meſtorf. Mit 47 in 
den Text eindruckten Holzſchnitten. Jena. 
Hermann Coſtenoble 1878. 

Wenn wir uns der Heftigkeit erinnern, 
mit welcher die Herren Hoſtmann, Linden— 
ſchmit u. A. der „Bronzezeit“ in den letz— 
ten Jahren zu Leibe gegangen ſind, um ſie 
für ein blaſſes Hirngeſpinſt der Archäologen 
zu erklären, ſo müſſen wir in ein gewiſſes 
Erſtaunen gerathen, wenn wir in dieſem 
Buche der vermeintlich abgethanen Bronze— 
zeit wieder begegnen, unbefangen, ohne eine 
Silbe der Entſchuldigung oder Rechtfertig— 
ung ihrer Exiſtenz. Vielleicht aber hat Herr 
Sophus Müller Recht gethan, jene Ein— 
würfe vollkommen zu ignoriren, denn wenn 
man ihre Gründe genauer betrachtet, ſo ſind 
ſie ſehr fadenſcheinig und können einer ge— 
rechten Beurtheilung durchaus nicht Stand 
halten. Weder in der alten, noch in der 
neuen Welt, weder in Griechenland, noch in 
Skandinavien, noch irgendwo ſonſt ſoll eine 
Bronzezeit exiſtirt haben, weil erſtens, ſoweit 


Literatur und Kritik. 


wir zurückforſchen in der Metallzeit, auch das 
Eiſen bereits bekannt geweſen, und weil zwei— 
tens Schmiedeeiſen viel leichter herzuſtellen 
wäre, als Bronzeguß. So ſagt uns wenig— 
ſtens der Metallurge Percy, und die an— 
dern Pereys, die mit ebenſo leichtem Herzen 
wohlbegründete Errungenſchaften aufgeben, 
als neue Hypotheſen annehmen, ſprechen 
ſchleunigſt ihr Amen darüber. In der That 
giebt es in der Jetztzeit kaum ein Volk, 
welches das Eiſen nicht kennt; ſelbſt in halber 
Steinzeit lebende Völker hat man im Beſitze 
einzelner Eiſenwaffen und Werkzeuge ge— 
funden, die ſie ſich aus Meteoreiſen gefertigt 
hatten. Daß die alten Aegypter das Eiſen 
zuerſt als Meteoreiſen kennen gelernt haben, 
beweiſt der Name, den ſie dieſem Metalle 
beilegten, nämlich ba en pe d. h. vom, 
Himmel gefallener Stoff, welches ſich im 
koptiſchen benipe (Eiſen) erhalten hat. Die 
griechiſche Benennung des Eiſens oidnoos 
iſt offenbar, wie Pott nachgewieſen hat, eng 
mit dem lateiniſchen sidus, sideris, Geſtirn, 
verwandt, es bezeichnet ſomit auch dieſer 
Name ein Metall, dem man urſprünglich 
einen ſideriſchen Urſprung zuſchrieb. Ver— 
gleicht man damit die Mythen der Finnen 
und anderer Völker von dem eiſernen auf 
einem Amboß getriebenen Himmelsgewölbe, 
von welchem ſich zuweilen Stücke ablöſen 
und niederfallen, ſo begreift man, daß das 
Meteoreiſen ein den Naturvölkern wohlbe— 
kannter Stoff geweſen ſein muß, und daß 
Eiſenwaffen, die man in Bronzegräbern findet, 
auch bei Völkern vorkommen können, die ohne 
jede Kenntniß von der Gewinnung des Eiſens 
waren. In Ländern, wo ſich leicht reducir— 
bare Eiſenerze in genügender Menge finden, 
wird man, wenn einmal der Gewinnungs— 
prozeß erkannt iſt, ſicher nach keinem andern 
Material für Waffen- und Werkzeugs-Fabri⸗ 
kation ſuchen, und die Hoſtmann'ſche An— 


Literatur und Kritik. 


ſicht, daß man trotzdem die Gewinnung 
des Eiſen's überall früher erkannt haben 
müſſe und demgemäß erkannt habe, als die 
des Bronzeguſſes, ſcheint mir einfach ver— 
nunftwidrig. Einmal im Beſitze des Eiſens 
verfertigt man keine Bronzewaffen und noch 
weniger kupferne Schneidewerkzeuge, wie man 
an ſehr alten griechiſchen Fundſtellen (auf 
Santorin) und in Ungarn angetroffen hat, 
und dem entſprechend verdrängte das Eiſen 
die frühere Bronze überall, wo es eingeführt 
wurde. Mit dieſer einfach dem geſunden 
Menſchenverſtande entſprechenden Auffaſſung 
ſteht denn auch die Archäologie im ſchönſten 
Einklange und zwar ebenſowohl die hiſtoriſche 
als die prähiſtoriſche. Man kann ſich leicht 
überführen, daß in den älteſten Schriftwerken, 
wie in der Bibel oder in den homeriſchen 
Gedichten, die Bronze eine ganz andere Rolle 
ſpielte als das Eiſen, und daß von Rechts— 
wegen ſogar das klaſſiſche Alterthum noch zur 
Bronzezeit gerechnet werden müßte, während 
die Blütheperiode der Eiſenzeit erſt in's neun— 
zehnte Jahrhundert fällt. Den alten Forſchern, 
welche der Einführung des Eiſens noch näher 
ſtanden, war dies auch eine zweifelloſe That— 
ſache, und Lukrez wird im Großen und 
Ganzen Recht behalten mit ſeinen Worten: 
„Aber des Erzes Gebrauch ward früher er— 
kannt als des Eiſens.“ Auch halten wir es 
für vollkommen gerechtfertigt, eine Periode, 
in welcher vielleicht 99 Prozent aller me— 
tallenen Gebrauchsgegenſtände aus Bronze 
und 1 Prozent aus Eiſen gefertigt wurden, 
„Bronzezeit“ und nicht Eiſen- oder Metallzeit 
zu nennen; von dem erſten Bekanntwerden des 
Eiſens oder von einzelnen Stücken deſſelben, 
die aus den Wolken gefallen ſein können, 
nun gleich eine Eiſenzeit zu datiren, das iſt 
einfach abgeſchmackt. 

Außerdem muß die ſehr verführeriſch 
klingende Bemerkung beſtritten werden, daß 


463 


Bronze ſchwerer zu gewinnen ſei, als Schmiede— 
eiſen. Die Gegner gehen davon aus, daß 
man zur Gewinnung der Bronze erſt Kupfer 
und Zinn rein dargeſtellt haben müſſe; dies 
iſt vollkommen unrichtig. Urſprünglich hat 
man jedenfalls einfach die Roherze des 
Kupfers, Zinn's und anderer Metalle ge— 
miſcht und ein unreines Erz hervorgebracht. 
Der franzöſiſche Chemiker E. J. Mau- 
mene hat vor Jahren verſchiedene Proben 
alter Bronzebilder, die bei der letzten Re— 
volution in Japan zerſtört wurden, unter- 
ſucht, und durch Vergleichung ihrer Zus 
ſammenſetzung mit den älteſten griechiſchen 
und etruskiſchen Bronzegüſſen die ſchon früher 
ausgeſprochene Vermuthung beſtätigt, daß 
alle dieſe älteſten Güſſe nicht wie die ſpäteren 
aus den annähernd reinen Metallen und in 
einem gleichmäßigeren Verhältniß (meiſt 10 
Th. Kupfer auf 1 Th. Zinn) ſondern aus 
Roherzen unmittelbar gewonnen worden ſind, 
weshalb ſie viele fremde Metalle als Ber- 
unreinigung enthielten. Ebenſo haben die 
kürzlich auf Virchow's Veranlaſſung von 
E. Salkowsky analyſirten Bronzeproben 
die von ſehr verſchiedenen Fundorten in 
Brandenburg und Poſen herrührten, zwar 
eine große Mannigfaltigkeit in der Zu— 
ſammenſetzung ergeben, aber keine derſelben 
zeigte die Zuſammenſetzung der römiſchen 
oder ſpäterer Bronzen“). Die Entziffer- 
ungen der Ziegelſteintafeln von Ninive machen 
es höchſt wahrſcheinlich, daß wir in den 
Turaniern die Entdecker des Bronzeguſſes 
zu ſuchen haben. Wie dieſe zweitauſend 
Jahre vor unſre Zeitrechnung zurückweiſen— 
den Keilſchriften beweiſen, beſaßen die tura— 
niſchen Stämme, welche lange vor den Semiten 
Babylon koloniſirt hatten, eine Art Berg— 
manns⸗Religion, fie richteten Hymnen an 
die Schätze ſpendende Herrin der Unterwelt, 


) Allgem. Chemikerzeitung 1877. S. 366. 


Kosmos, Band III. Heft 5. 


59 


464 


fie verehrten einen beſonderen Kupfergott 
und prieſen den Feuergott als denjenigen, der 
„Kupfer und Zinn miſcht“, die Metalle 
reinigt; ſie nennen auch den Feuergott einen 
Gott des Kupfers und preiſen ihn als den, 
der den Segen der Himmliſchen auf die 
Gläubigen herniederträufeln läßt, wie „ge— 
ſchmolzenes Erz“. Von dieſem Volke be— 
kamen die umwohnenden Stämme und wahr— 
ſcheinlich auch die Arier die Kenntniß von 
Kupfer und Bronze. Es iſt ſehr wahr— 
ſcheinlich, daß das Sanskrit-Wort ayas nicht, 
wie man öfter angiebt, Eiſen, ſondern viel— 


mehr Bronze bedeutet hat, wie ihm denn 
zunächſt die Formen aes, aeris, Erz, ent- | 
eines Schwertes und anderer Waffen findet.) 
alle Metalle mit dieſem Namen bezeichnet | 
worden find, fo daß das Wort, wie noch heute 


ſprechen, wenn nicht am Ende urſprünglich 


Erz, Metall u. ſ. w., Gattungs- und nicht 
Artwort war. Aehnlicher Weiſe iſt erſt 
aus dem turaniſchen Worte für Kupfer (urud) 
der Name des Eiſens (ruta, rude, rauta) 
bei den Finnen, Lappen und Letten entſtanden. 
Während die ſporadiſche, und ſozuſagen un— 
vermeidliche Kenntniß des Eiſens einen 
merklichen Einfluß auf die Cultur nicht eher 
ausgeübt hat, als bis man daſſelbe in 
größerem Maßſtabe gewinnen lernte, brachte 
die Bronze eine wirkliche Bronze kultur 
mit ſich, ſie wurde im beſten Sinne des 
Wortes epochemachend, und daher ſpricht man 
meines Erachtens mit Recht von einer 
Bronzezeit und Bronzekultur. Die 
etwa vorhandene Kenntniß des Eiſens hat 
ebenſo wenig als die des Goldes und Sil— 
bers in Europa oder in Aſien und Amerika 
die Zeit der ſteinernen Werkzeuge beendet; 
dieſer Ruhm gebührt der Bronze und darum 
kann es nichts Verkehrteres geben als die 
plötzlich epidemiſch aufgetretene Negirung der 
Bronzezeit. 

Nachdem wir ſo die Berechtigung einer 


Literatur und Kritik. 


fältige Sichtung der Bronzefunde nach Ort, 
Zeit und Gelegenheit an dieſer Arbeit hervor— 


ſich nicht um vereinzelte Sachen oder ver— 


vollkommnen Ignorirung jener Angriffe 
durch den Verfaſſer und ſeine Ueberſetzerin 
nachgewieſen zu haben glauben, müſſen wir 
uns heute freilich darauf beſchränken, die ſorg— 


zuheben. Der Verfaſſer unterſcheidet eine 
öſtliche und eine weſtliche Gruppe, ſucht ihr 
Zeitverhältniß zu beſtimmen, erörtert den 
Wechſel der Beſtattungsarten, lehrt Männer— 
und Frauengräber unterſcheiden. (Er führt 
für letztere neben den reicheren Schmuckſachen 
einen kleinen Dolch als charakteriſtiſch an, 
ſofern ein ſolcher ſich zwar auch in Männer— 
gräbern, aber dann meiſtens in Begleitung 


Zu beſonders intereſſanten Bemerkungen geben 
die im ſechſten Abſchnitt behandelten Moor— 
und Erdfunde Anlaß, welche, wenn es 


lorene Stücke handelt, meiſtens die geſammte 
Ausſtattung einer Perſon an Waffen, Werk— 
zeug, Geräth und Schmuck umfaßt, die in 
einer ſorgfältigen Umhüllung verſenkt oder 
vergraben worden ſind. Man hat dieſe 
Funde zuweilen Gußfunde genannt, weil 
die meiſten derſelben eine kleine Sammlung 
von Gußzapfen, Bruchſtücke verſchiedener 
Gegenſtände und einige untaugliche Geräthe 
enthalten, als ob Alles zum Einſchmelzen 
beſtimmt geweſen wäre oder aus dem Nachlaß 
eines Gießers ſtamme. Sophus Müller 
glaubt, daß dieſe Sammlung von Bruch— 
ſtücken oder untauglichen Gegenſtänden viel— 
leicht eher als Metallwerth, d. i. als 
Zahlungsmittel betrachtet werden dürfe, 
denen in dieſer Sammlung von Putzgegen— 
ſtänden, Waffen und Geräthen ein beſonderer 
Platz eingeräumt wurde. Ref. vermuthet, 
daß dieſe Abfall-Sammlungen eher auf eine 
allgemeine Gewohnheit deuten möchten, die 


Metallbrocken als Werthſtücke ſorgfältig auf- | 


Literatur und Kritik. 


zuheben, um ſie den herumreiſenden Bronze— 
gießern als Material in den Handel zu 
geben. Ja die Gußzapfen ſcheinen ſogar 
darauf hinzudeuten, daß man vielleicht dem 
Gießer ein gewogenes Material zur Um— 
formung übergab und ſich jeglichen Ueberſchuß, 
alſo auch die Gußzapfen, zurückgeben ließ. 
Dieſe Deutung der Bruchſtücke als Werth— 
ſtücke erhält einen höhern Grad von Wahr— 
ſcheinlichkeit, wenn die Motive der Bergung 
dieſer Metallſchätze in Erwägung gezogen 
werden. Es iſt nämlich von Worſaae 
und Anderen geltend gemacht worden, daß 
auch gleich den größeren Garnituren kleinere 
Zuſammenſtellungen von ſeltenen und koſt— 
baren Gegenſtänden oftmals als Opfergabe 
für die Götter zu deuten ſeien, die man den 
ihnen geheiligten Seen und Flüſſen, Wäldern 
und Opferſteinen anvertraute. „Da indeſſen 
dieſe Funde“, fährt der Verfaſſer fort, „von 
Menſchen benutzte und getragene Geräthe 


und Schmuckſachen enthalten, die perſönliche 


Ausſtattung gleichſam, Sammlungen von 


Gegenſtänden, wozu die Grabfunde Parallelen 


darbieten, ſo ſcheint eine etwas abweichende 
Auffaſſung näher zu liegen. Es herrſchte 


möglicherweiſe in damaliger Zeit die Vor⸗ 
ſtellung, daß nicht nur, was dem Todten 


in's Grab gelegt wurde, ſondern auch das— 
jenige, was man in der Erde verbarg, in 
dem Erdboden vergrub, dem Menſchen in 
jenem Leben zum Nutzen und Genuß ge— 
reichen würde.“ Engelhardt hat bereits 
1868 eine ähnliche Vermuthung ausgeſprochen 
und im 8. Capitel der Ynglingaſage wird 
dieſer Gebrauch angedeutet. Darauf deutet 
auch die Art der Bergung. „Die Gegenſtände 
liegen nämlich bei einander und gewöhnlich 
in geringer Tiefe unter der Oberfläche des 
Moores. Die Gefäße ſtehen aufrecht im 
Torf, und die übrigen Sachen liegen geordnet 
daneben. Bisweilen ſind auch umgebende 


—— DE —kk ſ—¶—— 


465 


Steine beobachtet worden. Daß, wie oft 
conſtatirt, ein Moor oder Sumpf zum 
Verſteck gewählt worden, mag ſeinen Grund 
darin haben, daß der Ort ſchwer zugänglich 
und jedenfalls vor Störung ſicher war. 
Derſelbe Gedanke dürfte bei der Niederlage 
von Werthſachen unter einem größern Steine 
maßgebend geweſen ſein. Man darf hiernach 
vielleicht annehmen, daß dieſe von kleinen 
Häufchen Metall begleiteten Sammlungen 
von Schmuck, Geräth, Waffen u. ſ. w. — 
zum Gebrauch in jenem Leben — von der 
Perſon, der ſie zu Gute kommen ſollten, 
ſelbſt verſenkt worden ſeien. Dieſe Erklärung 
kann ſelbſtverſtändlich nicht auf alle Moor— 
und Erdfunde angewendet werden. Einiges 
kann zufällig verloren, Anderes den Er— 
ſcheinungen in hiſtoriſcher Zeit analog als 
Kriegsbeute verſteckt worden ſein.“ Letzterer 
Erklärung könnte der Umſtand günſtig er— 
ſcheinen, welcher in dem ganzen nordeuropäiſchen 
Bronzezeitalter hervortritt, daß nämlich die 
fremden, nicht im Inlande angefertigten 
Objekte am häufigſten in Mooren und Ge— 
wäſſern oder unter einem Steine niedergelegt 
ſind und verhältnißmäßig ſelten in Gräbern 
gefunden werden. Doch läßt ſich auch dies 
im Sinne des Verfaſſers dahin deuten, daß 
eben „die beſten und koſtbarſten Stücke für 
das künftige Leben geſpart wurden, und 
da werden die ſeltneren und zugleich beſſeren 
importirten Sachen den inländiſchen oftmals 
vorgezogen worden ſein.“ 

Man erſieht, wie anziehend der Verf. der— 
artige Fragen zu behandeln weiß und wir können 
dem ganzen Werke die ſorgfältigſte Prüfung 
und Sichtung der Funde nachrühmen. Wir 
erhalten den Eindruck, daß den Anſichten 
des Verfaſſers in allen hier behandelten 
Fragen ein bedeutendes Gewicht beigelegt 
werden muß. Ueberſetzung und Ausſtattung 
ſind vortrefflich. R 


5 


Offene Briefe und Antworten. 


Frankfurt a M., Juli 11/78. 


Hochgeehrter Herr! 
n dem letzten Hefte des „Kosmos“ 
befindet ſich eine Notiz über die Ab— 
nahme des Bienenfleißes in Auſtra— 
lien. Das Mißtrauen, mit welchem 
die Redaktion dieſe Zeitungsnotiz mittheilt, 
iſt vollſtändig berechtigt. 

1) Die einheimiſche Biene ſammelt 
ſo lange draußen etwas zu finden und 
Raum für die Honigablagerung vorhanden 
iſt. Dieſe Eigenthümlichkeit bewahrt ſie 
in allen bisher bekannten Gegenden mit 
länger anhaltender Tracht, welchen verän— 
derten Lebensbedingungen ſie ſich ſofort an— 
paßt. So z. B. ſchränkte unſere deutſche 
Biene, nach Braſilien verſetzt, ihren Brut— 
anſatz zur gewohnten Zeit nicht ein, tödtete 
die Drohnen nicht, ſondern gründete neue 
Colonien weiter. Geſetzt wir hätten einen 
nicht normalen Sommer, feuchten Juli und 
Auguſt mit reicher Tracht, ſo würden die 
Bienen mit dem Einſammeln fortfahren, die 
Königin zur Eierablage reizen, Schwärme 
erfolgen u. ſ. w. 

2) Die Biene ſammelt überhaupt nicht 
aus Inſtinkt, ererbter Gewohnheit, für den 
Winter, denn ſie hält gar keine eigentliche 
Winterruhe. Iſt das Wetter warm, ſo 
fliegt ſie mitten im Winter aus, ſetzt Brut 
an, verfährt, als ob es Frühling wäre. 


In ein milderes Klima gebracht, beginnt 
fie dieſem Klima gemäß mit dem Brut- 


nn an — 


anſatz; und dies ſofort, nicht erſt nach 
Generationen durch Anpaſſung. Die Biene 
hält bei uns „Winterruhe“, weil ſie nur 
bei ca. 10% R. ausfliegen kann. Im folder 
Ruhe treffen wie ſie zeitweilig im März, 
April, ja mitunter noch im Mai. 

3) Die Biene ſammelt, ſo lange Platz 
vorhanden iſt. Die Brut wird immer 
mehr eingeſchränkt, das Volk nimmt ab, 
wird träge, unaufmerkſam, und der Bau 
eine Beute der Wachsmotte. Für den Fort— 
beſtand der Gattung hat der Mutterſtock 
durch Ausſendung von Colonien geſorgt. 

4) Träge werden die Bienen, wenn 
die Hitze ſie beläſtigt, was bei ſehr hoher 
Temperatur allerdings der Fall zu ſein 
ſcheint. Im Uebrigen lebt die deutſche 
Biene in Braſilien nicht von der Hand in 
den Mund; ſie ſchleppt in Deutſchland ſo 
viel Honig zuſammen, daß in beſonders 
honigreichen Jahren die Exiſtenz des Stockes 
dabei auf dem Spiele ſteht, falls der Bienen— 
vater nicht Raum ſchafft. So lange alſo 
der auſtraliſche Bienenvater für neue Wohn— 
ungen ſorgt, wird auch er bei günſtiger 
Tracht neue Colonien (Schwärme) bekom— 
men. Und ſo lange er für geräumige 


Wohnungen ſorgt, reſp. durch Entnahme 

von Honig Platz ſchafft, werden die Bienen 

im Einſammeln von Honig nicht erlahmen. 
Genehmigen Sie die Verſicherung meiner 

vorzüglichen Hochachtung. 

Dr. Otto Buſch. 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


ind, in der That, Deſcen— 
denzlehre und Darwinis— 
mus unvereinbar mit aller 
ze Teleologie, oder giebt es 
nicht vielmehr eine Zielſtrebigkeit, welche 
aus der Teleologie den Widerſpruch entfernt, 
in den ſie, als Zweckmäßigkeitstheorie 
aufgefaßt, mit den modernen Entwickelungs— 
grundſätzen geräth? 

Bald mit dieſen, bald mit andern Worten, 
aber faſt immer gleich falſch geſtellt, drängt 
in neueſter Zeit ſich dieſe Frage in ganz 
charakteriſtiſcher Weiſe in den Vordergrund. 
Es iſt ein alter Kunſtgriff, ſchon den grie— 
chiſchen Sophiſten bekannt, durch die Art 
der Frageſtellung nicht nur einen Gegen— 
ſtand zu verwirren, ſondern auch einer er— 
wünſchten Antwort die Wege zu ebnen. 
Meiſtentheils geſchieht es unabſichtlich; liegt 
aber auch der Grund davon in einer zur 
Gewohnheit gewordenen Ungenauigkeit im 

Wählen der Ausdrücke, was in vielen Fällen 
auf Eigenthümlichkeiten des Gehirns zurück— 
zuführen fein mag: der Erfolg bleibt alle- 
mal derſelbe. Und die Sache iſt darum 


von Bedeutung, weil es oft gar nicht leicht 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


Ziel und Jweck. 


Von 


B. Carneri. 


iſt, die logischen Gebrechen einer Frageſtellung 
auf den erſten Blick aufzudecken, und weil 
dies, je vertrauter man mit ihr im weiteren 
Verlauf einer Abhandlung geworden iſt, 
ſchwieriger und ſchwieriger wird. Ich glaube 
wenigſtens, in obiger Frage ein paſſendes 
Beiſpiel deſſen, was mir vorſchwebt, gegeben 
und gezeigt zu haben, daß die Mängel im Ver— 
hältniß zu deren Größe nicht auffallend ſind. 
Die Frage iſt grundfalſch geſtellt, weil 
ſie einen Widerſpruch herbeiführt, wo er 
nicht iſt, und verſchiedenartige Begriffe als 
gänzlich übereinſtimmend, identiſche dagegen 
als nicht identiſch behandelt. 
Deſcendenzlehre und Darwi— 
nismus ſind nichts weniger als unvereinbar 
mit einer teleologiſchen Weltanſchau— 
ung. Sie können ganz gut den Plan bilden, 
nach welchem ein allmächtiger Schöpfer ſeine 
Werke zweckmäßig ſich entwickeln läßt und 
einem letzten Endzweck entgegenführt. Mag 
man dieſes Letzte Zweck oder Ziel nennen, 
darauf kommt's gar nicht an, ſobald es ſich 
um Teleologie handelt, denn das griechiſche 
Wort wird beiden Ausdrücken gerecht. Das 


Entſcheidende iſt der Schöpfer oder das Weſen 


60 


468 Carneri, Ziel und Zweck. 


überhaupt, das den Zweck ſich ſetzt, das Ziel 
anſtrebt. Ob ich ſage: der Jäger hatte den 
Zweck das Wild zu erlegen, oder: das Wild 
war des Schützen Ziel: die Kugel, die dieſen 
Zweck erreicht oder dieſes Ziel trifft, ſetzt Einen 
voraus, der ihr die Richtung giebt. Während 
ſo gerade in der hier wichtigſten Beſtimmung 
Ziel und Zweck in Eins zuſammenfallen, 
und keinerlei Zielſtrebigkeit — man 
müßte denn der Kugel ſelbſt Zielſtrebigkeit 
andichten — den Sinn ändert, der vom 
Standpunkt der Zweckmäßigkeit der Teleo— 
logie zukommt, bedeuten Deſcendenztheorie 
und Darwinismus durchaus nicht daſſelbe und 
iſt es ganz ungerechtfertigt, ſie als identiſche 
Begriffe der Teleologie gegenüberzuſtellen. 

Die Deſcendenzlehre iſt um ein 
Jahrhundert älter, als der Darwinismus. 
Dieſer begreift jene in ſich, erweitert ſie, 
ſucht ſie zu erklären und eröffnet uns damit 
gleichzeitig einen Ausblick in die Möglichkeit, 
die Schöpfungsgeſchichte zu erklären, ohne 
zur Teleologie unſere Zuflucht zu nehmen. 
Und dieſes iſt der entſcheidende Punkt. 


Ueber dieſen Punkt herrſcht Unklarheit, 
und was ſie vermehrt, iſt nicht jo ſehr 


die falſche Frageſtellung, als das unter— 
ſcheidungsloſe Acceptiren einer ſolchen. Nichts 


iſt einfacher, als entrüſtet auszurufen: Wie 


kann man behaupten, es ſeien Darwinis— 
mus und Teleologie unvereinbare Gegen— 
ſätze! — um dann ſonnenhell nachzuweiſen, 


daß zwiſchen beiden kein Widerſpruch beſtehe. 
Er beſteht in der That nicht. Im Gegen- 


theil, die Entwickelungstheorie wird nur 


gemeinfaßlicher durch die Vorausſetzung eines 
Ziele oder Zwecke ſich ſetzenden und den Ent- 
wickelungsproceß darnach lenkenden Weſens. 


Nur darf dieſes Weſen bei der Teleologie 
nicht weggedacht werden, denn in dieſem 
Falle iſt der gefürchtete Widerſpruch da: 
aber er liegt nicht zwiſchen den Begriffen 


Darwinismus und Teleologie, ſondern 


Allerdings muß das zielſtrebige Weſen 
nicht Gott heißen. Aber heißt es auch nur 
organiſirendes Princip: ſobald es 
mehr als ein bloßes Geſetz iſt, und, in 
welcher Weiſe immer, beſtimmte Ziele verfolgt, 
iſt es Subjekt, und inſofern ſeine Weſenheit 
unſere Erfahrung überſteigt, ein transſcen— 
dentes Subjekt, mithin ein mehr oder weniger 
naher, aber jedenfalls irgend ein Verwandter 
des alten Gottes. Dies iſt ſo unbeſtreitbar, 
daß es ganz unbegreiflich iſt, warum jene 


zu ihm zurückkehren. 

Der Darwinismus nimmt Nieman— 
dem ſeinen Gott; aber dem, der keinen Gott 
findet, bietet er ein Entwickelungs— 
geſetz, durch das mit Umgehung der 
einen Gott vorausſetzenden Teleologie eine 
Erklärung des Lebens und Webens der 
Natur angebahnt wird. Ich wenigſtens werde 
mich nie, und mit mir wird kein ächter 
Darwinianer je der Täuſchung ſich hingeben, 
daß die epochemachende Hypotheſe des Weiſen 
von Down bereits vollſtändig erwieſen ſei. 
Dahin iſt es noch ſehr weit. Allein ebenſo 
unzweifelhaft iſt es mir, daß noch keine 
Schöpfungserklärung rein wiſſenſchaftlicher 
Art ſo viel geleiſtet, zu ſo begründeten Hoff— 
nungen Anlaß gegeben und ſo viele Erwart— 
ungen gerechtfertigt hat. Gerade der Eruſt, 
mit dem in neueſter Zeit, und der Kraft— 
aufwand, mit dem von namhaften Männern 
der Kampf gegen den Darwinismus geführt 
wird, und der, je namhafter dieſe Männer 
ſind, deſto regelmäßiger mit einer, wenn 


theſe von Seite der Gegner abſchließt, beweiſt, 
wie durchſchlagend und verbreitet jetzt ſchon 

der Erfolg ſein muß. Und wenn ich ſage: 
Der Darwinismus nimmt Niemandem ſeinen 


in der Auffaſſung des Begriffs Teleologie. 


ihren Gott verleugnen, die immer wieder 


auch nur principiellen Anerkennung der Hypo. — 


— re er 


ee ein 


Gott, — ſo ſage ich damit, daß ein Unter— 
ſchied iſt zwiſchen dem, der behauptet, es 


jet kein Gott — was kein ächter Philoſoph 
je behaupten wird, — und dem, der einfach 


ſagt: Mein Erkennen reicht nicht aus, um 
mich vom Daſein eines Gottes zu über— 
zeugen. Gott kann eben nur geglaubt und 
nicht gewußt werden; und da ſtehen nur zwei 
Wege offen: entweder glauben zu können 
oder mit dem, was man wiſſen kann, 
ſich zu beſcheiden. Und darüber ſollte noch 
Streit ſein, daß der, deſſen Weltanſchauung 
Umgang nimmt von einer nur dem Glauben 
zugänglichen Annahme, den wiſſenſchaft— 
lichen Weg geht? 

Dieſe Darſtellung würde eine große 
Lücke aufweiſen, wenn ich hier Herbert 
Spencer's nicht erwähnen wollte, von 
dem viele meinen, er breche dem Glauben 
eine Bahn in das Gebiet der Wiſſenſchaft. 
Allerdings geleitet er uns zu einem Punkt, 


auf welchem Religion und Wiſſenſchaft als 


identiſch ſich erweiſen. Es iſt dies der Punkt, 


auf welchem die Religion vor einem un- 


enthüllbaren Myſterium, die Wiſſenſchaft vor 
einem unfaßbaren „Ding an ſich“ zu ſtehen 
bekennt. Allein auf dieſem Punkte letzter 


Analyſe ſtellen Wiſſenſchaft und Religion 
ihre praktiſche Thätigkeit ein. Es iſt dies 
die Verſöhnung zweier Feinde nach dem 


Tode; wiederbelebt, würden ſie ihre Gegner— 


ſchaft ſogleich wieder bethätigen. Was 
Spencer nachweiſt und glänzend nach- 
weiſt, iſt die ſchließliche Identität aller 
pſychiſchen Thätigkeit. Nichts wäre verkehrter, 
als aus ſeiner Verſöhnung der zwei größten 


Gegner dieſer Erde auf ein Streben nach 
der deiſtiſchen Löſung des Welträthſels 
ſchließen zu wollen. Nur ſeine Aufſtellung 
der Kraft neben dem Stoffe iſt dualiſtiſch 


angehaucht; jedoch dieſe Kraft läßt er weder! 


nach bewußten, noch nach unbewußten Vor- 


1 


Carneri, Ziel und Zweck. 469 


ſtellungen denken oder wollen oder auch nur 
ſtreben: ſie wirkt einfach nach Ge— 
ſetzen, die er uns aufdeckt, und zwar in 
den kosmiſchen Evolutionen, in den geo— 
logiſchen Umwälzungen, im Leben der 
Pflanzen und Thiere, wie in den pſpychiſchen 
und moraliſchen Erſcheinungen beim menſch— 
lichen Individuum, und bei der menſch— 
lichen Geſellſchaft als dieſelben Ge— 
ſetze aufdeckt. Daß er durchaus nicht unter 
jene gezählt werden darf, die bei der Ent— 
wickelungsgeſchichte über die bloße Geſetz— 
mäßigkeit hinaus gehen zu müſſen meinen, 
beweiſen zur Genüge die wenigen Worte, 
mit welchen er in einer ſpäteren Note zu 
etwas ſchon im Jahre 1857 Veröffentlichtem 
ſeinem Verhältniß zu Darwin Ausdruck 
giebt. Sie lauten: „Es ſei noch beigefügt, 
daß, obwohl die obigen Sätze in der „Ent— 
ſtehung der Arten“ nicht ausgeſprochen werden, 
doch ein uns gemeinſamer Freund die An— 
nahme für begründet hält, daß Darwin 
mit denſelben übereinſtimmen, wenn nicht 


etwa gar dieſelben als bereits ſtillſchweigend 
in ſeinem Werke ausgeſprochen anerkennen 
würde.“ (Grundlagen der Philoſophie, deutſch 
von B. Vetter, Stuttgart 1875, S. 453.) 

Ich habe hier die Teleologen im Auge, 
die, mag es immerhin aus Selbſttäuſchung 
geſchehen, über die Gottesfrage hinweggleiten 
und aus der Zdweckmäßigkeitslehre einen 
Faktor, ohne den ſie keinen Sinn mehr 
hätte, anſtandslos ausmerzen zu können 
glauben. Karl Ernſt von Baer's Ver- 
halten zu dieſer Frage iſt bereits in dieſer 
Zeitſchrift (Band III., S. 71 ff.) ein⸗ 
gehend beſprochen worden. Darum ſei er 
hier nur ganz allgemein berührt, wie es 
ſich hier überhaupt um keine Polemik handelt, 
ſondern um Klarſtellung eines Begriffs, dem 
| eine arge Trübung droht. Auch war der 
Verfaſſer der „Studien aus dem Gebiete 


m 


| 


Carneri, Ziel und Zweck. 


der Naturwiſſenſchaften“ ein viel zu großer 
Gelehrter, als daß je bei ihm ein rein 
ſubjektives Bedürfniß, wie es eben im Charakter 
mancher Gemüther und darum unvertilgbar 
in ihnen liegt, zu einer Fälſchung der Wiſſen— 
ſchaft hätte führen können. Ein Punkt ſeiner 
Weltanſchaung kam aus einem leiſen Schwan— 
ken nicht heraus; das war alles. Jedoch 
zu welchen Schwingungen bringt es ein 
ſolcher Punkt, wenn Denker ſich daran 
klammern, die, anſtatt unbekümmert um 
die logiſchen Conſequenzen den Gedanken 
frei walten zu laſſen, eigens nach Gedanken 
ſuchen, die einer vorgefaßten Meinung zur 
Stütze dienen können? 

Ich gehe gleich zu einem Beiſpiel über, 
das den Freunden wie den Gegnern der 
an die Stelle der Teleologie tretenden Geſetz— 
mäßigkeit geläufig iſt, und an dem ich meine 
Anſicht vollſtändig darlegen kann. Ob ich 
mit Abſicht nach einem beſtimmten Ziele 
einen Stein werfe, oder ob der Huffſchlag 
eines Pferdes in dieſes Ziel einen Stein 
ſchleudert: in beiden Fällen kann der Stein 
das Ziel nur treffen, wenn dem Wurf die 
nöthige Richtung gegeben wird. Im erſtern 
Falle iſt das Treffen viel wahrſcheinlicher, 
als im letzteren, ſicher iſt es auch im erſtern 
Falle nicht; denn habe ich wenig Uebung, 
ſo werde ich ſehr oft nach dem Ziele werfen 
müſſen, um es einmal zu treffen. Und ſprengen 
an der betreffenden Stelle einige tauſend 


von einem Hufſchlage ein Stein auf das 
Ziel geſchleudert werde. Allerdings ſteht 
mit dem Hufſchlag in Bezug auf das 
Schleudern eines Steines keinerlei Willensakt 
in Verbindung, wie dabei überhaupt alle 
das Treffen des Zieles erleichternden, durch 
die beſtimmte Abſicht herbeigeführten Be— 


dingungen nicht mit ins Spiel kommen, als 


welche ſind: das auf das Ziel geheftete 
Auge, die der Richtung des Auges folgende 
Hand u. ſ. w., durch die dem Steine, wie 
durch das Feuerrohr der Kugel, der Flug 
vorgeſchrieben wird. 

Denken wir uns aber an der Straße, 
auf der die Reiter dahinſprengen, eine ſeit— 
wärts ablaufende, durch fortgeſetzten Regen 
ausgehöhlte Rinne, und an deren anderm 
Ende das Ziel, nach welchem ich frei werfe: 
nicht jeder Stein, den ein Hufſchlag in die 
Rinne ſchleudert, wird das Ziel treffen; 
aber es werden viel weniger Reiter an jener 
Stelle vorüber zu ſprengen brauchen, damit 
es geſchehe. Eine ſolche Rinne wäre gerade 
ſo nothwendiger Weiſe durch das Fallen 
des Regens und die Beſchaffenheit des 
Bodens entſtanden, als zu einem ſcharfen 
Auge die ſichere Hand ſich gefunden hat. 
Entweder iſt alles, oder es iſt nichts 
bloßer Zufall. Auch mein Wille und 
das Bewußtſein, mit dem ich mir einen 
Zweck oder ein Ziel ſetze, iſt nur für mich 
etwas Beſonderes: von einem allgemeinern 
Standpunkt aus fällt mein Thun unter 
daſſelbe Cauſalgeſetz, dem alles übrige Ge— 
ſchehen unterworfen iſt. Ein Zweck bei 
dieſem Wurf, eine Abſicht mit dieſem Ziel 
iſt nichts anderes, als die Reſultirende einer 
ganzen Reihe von Empfindungen, Erregungen, 
und ihnen entſprechenden Auslöſungen von 


Vorſtellungen, die ſchließlich zu einer beſtimm— 
Reiter vorbei, ſo wird es nicht mehr ſo 
außerordentlich ſelten oder ſchwierig ſein, daß 


ten Willensinnervation führen mußten. 
Betrachte ich die beiden Fälle ganz unbe— 
fangen, ſo muß ich mir geſtehen, daß ſie, 
bis auf das Bewußtſein, das in dem Einen 
nebenherläuft, nur graduell von einander 
ſich unterſcheiden. Bei dem Einen iſt nämlich 
durch das günſtigere Zuſammentreffen der 
erforderlichen Bedingungen das Treffen des 
Zieles wahrſcheinlicher, als bei dem andern. 
Es kann aber auch umgekehrt der Fall ſein, 


er 


wenn mein Auge unverläßlich, meine Hand 
ohne alle Uebung iſt. Dann wird eben 
die größere Zahl der Würfe ent— 
ſcheiden, und mit dem Worte Zweckmäßig— 
keit genau ſo wenig und ſo viel geſagt ſein, 
als mit dem Worte Zielſtrebigkeit. 

Dieſe Thatſache auf die organiſche Natur 


anwendend, ſchauen wir das Gelingen ihrer 


Bildungen in einem ganz anderen Lichte. 
Die Unzahl, in der gewiſſe Keime auftreten, 


Carneri, Ziel und Zweck. 


wird uns zu einer Erklärung ihrer Ent⸗ 
wickelung, und Karl Ernſt von Baer 


iſt es, dem die Wiſſenſchaft den unſterblichen, 
aber auch rein Darwin'ſchen Ausſpruch 


verdankt: „Der Erfolg der Natur 


iſt durch die Allgemeinheit geſichert.“ 

Zwecke und Ziele hat und verfolgt der 
Menſch als ein denkendes Weſen. Ziel 
und Zweck bedeuten daſſelbe und haben beide 


keine Bedeutung, wenn nicht ein bewußter 
Wille abſichtlich die zu ihrer Erreichung | 
erforderlichen Mittel am rechten Ort und 
zu rechter Zeit zu wählen und richtig zu 
verwenden weiß. Der Schein, als würde 


mit Zielſtrebigkeit etwas der unbe— 
wußten Natur Verwandteres geſagt, rührt 


daher, daß man, wenngleich nur in trans 
latem Sinn, einer aus dem Feuerrohr ge- 
triebenen Kugel leichter Zielſtrebigkeit, denn 
einen beabſichtigten Zweck zuſchreiben kann. 
Der Vortheil einer ſolchen Bezeichnung liegt 
darin, daß einem näherliegenden Begriff 


ein fernerliegender ſubſtituirt, richtiger ge— 
ſprochen, der Begriff, der keiner allzugenauen 
Prüfung ausgeſetzt ſein darf, etwas in die 
Ferne gerückt wird. Nimmt aber auch, 


gegenüber dem Ausdruck Ziel, das Denken 
einen verſchwimmenderen Charakter an, als 
gegenüber dem Ausdruck Zweck, ſo iſt 
darum doch noch nicht das Denken aus dem 
in Rede ſtehenden Falle ganz herausge— 
ſchafft. 


Das Nächſtgeforderte iſt es daher, 


471 


auch für das allzunahe liegende Denken ein 
ferner liegendes Wort zu finden. Da das 
Denken durch Vorſtellungen bedingt iſt, die 
Natur aber, wo fie kein Gehirn aufweiſt, 
auch über keine Vorſtellungen verfügt, fo 


fragt man ſich, was im Stande wäre, ohne 


Vorſtellung, daher eigentlich unbewußt, ein 
Ziel ſich zu ſetzen und zu erreichen? Die 
Genialität! — lautet die jubelnde Ant— 
wort, und die Zielſtrebigkeit der Natur 
iſt gerettet. 

Eine gewiſſe Genialität iſt dieſer Rettung 
nicht abzuſprechen. Die Bezeichnung klappt 
in ganz überraſchender Weiſe. Mit genialen 
Thaten und Werken verhält ſich's oft, in 
der That, wie mit den ſogenannten intuitiven 
Handlungen. Das Subjekt iſt ſich dabei 


ſeines Zieles nicht recht bewußt, es hat davon 


gar keine klare Vorſtellung, und hat es dieſe, 
ſo hat ſie es nicht im Blickpunkt des Bewußt— 
ſeins. Gewiß find dunkle Vorſtellungen noch 
immer nicht keine Vorſtellungen; aber ſo ge— 
nau nimmt man die Sache nicht, geblendet wie 
man iſt von der ganzklar vorliegenden That— 
ſache, daß die Genialität es iſt, die das Größte, 
ja nahezu Wunderbares vollbringt. Und bei 
den Werken der Natur hat man es mit 
Wunderartigem zu thun. Daß Genialität 
wie Intuition ausſchließlich nur bei Weſen 
mit Gehirn vorkommt, daß daher die 
Befähigung zu Vorſtellungen deren Grund— 
bedingung ſein dürfte, während, wenigſtens 
für Momente, das klare Bewußtwerden dieſer 
Vorſtellungen dabei in den Hintergrund 
treten kann, iſt eine Kleinigkeit, oder wird 
zur Kleinigkeit und jedenfalls weniger augen— 
fällig, je mehr man durch Anwendung ferner— 
liegender Begriffe vom klaren Denken ſich 
entfernt hat. 

Ich ſpreche damit keinen Vorwurf aus. 
Die Sehnſucht nach der Löſung des Welt— 
räthſels iſt Eins mit dem menſchlichen Be— 


e 222er RT 


6 


472 


wußtſein: ſie iſt mit ihm erwacht, und kann 
nur mit ihm entſchlummern. Die Welt— 
geſchichte iſt überreich an Beiſpielen von 


Naturen, die dieſer Sehnſucht alles, ſelbſt 
das Leben zum Opfer gebracht haben. Mit 


welcher Macht wir es da zu thun haben, 


beweiſt am ſprechendſten der Umſtand, daß 


ſelbſt die exakte Wiſſenſchaft ihrer Verführ— 
ung erliegen kann. Die neueſte Riemann— 
Helmholtz'ſche Raumtheorie iſt in 
dieſer Hinſicht beſonders lehrreich. Durch 
Helmholtz' zweidimenſionale Weſen wei— 
tern Kreiſen zugänglich gemacht, wurde ſie, 
meines Wiſſens, zuerſt von Schmitz-Du— 


mont entſchieden bekämpft, dann vornehmlich 
durch Wundt und Erdmann in ihrer 


ganzen Unhaltbarkeit blosgelegt. Damit ſie 
aber bis in die Wurzeln erſchüttert werde, 
mußte ein Anhänger von Bedeutung ſie 
in's praktiſche Gebiet verfolgen, und dadurch 
ihren ſeltſamen Werth handgreiflich darthun. 
Der vierdimenſionale Raum führte 
zur Annahme vierdimenſionaler Weſen, 
und da galt es vor allem, irgend einer 
beſtimmten Aktion eines ſolchen Weſens auf 


die Spur zu kommen. Vom exakten Stand⸗ 


punkte aus ſind die in dieſen Beſtrebungen 
liegenden Widerſprüche nicht ſo klar erſichtlich, 
als vom philoſophiſchen. Es liegt daher 
in der Natur der Sache, daß in einem 
ſolchen Falle ein Mann der exakten Wiſſen— 
ſchaft vor allem nach einem Faktum, nach 
einem Experiment verlangt. Aber leider ſind 
derartige Experimente ganz beſonders 
bedenklich. 

Daß, was bei einer ſolchen Gelegen— 


heit einem Gelehrten erſten Ranges, J. C. 


F. Zöllner, arrivirt iſt, nur auf einer 


Täuſchung beruhen könne, iſt für mich 


wenigſtens unzweifelhaft. 
nämlich erklärt, den letzten Zweifel aufzugeben, 
wenn Einer im Stande wäre, vor ſeinen 


Carneri, Ziel und Zweck. 


Augen die beiden Enden eines Fadens an 
einander zu ſiegeln, und dann in dieſen 
Faden einen Knoten zu ſchürzen, wie er 
gewöhnlichen Menſchenkindern nur bei freien 
Enden des Fadens möglich iſt. Ein Mensch 
von ſeltener Geſchicklichkeit — Slade iſt 
ſein Name, und ob er mit vierdimenſionalen 
Weſen verkehre oder ſeine eigene Seele vier— 
dimenſional ſei, kommt dabei nicht in Be— 
tracht — hat dieſer Aufgabe ſich unterzogen, 
und an dem verſiegelten Faden vor den 
achtbarſten Zeugen, und während Zöllner 
beide Daumen auf dem Siegel hatte, nicht 
nur einen, ſondern gleich vier von den ge— 
wünſchten Knoten zu Wege gebracht. Zöllner 
hat den Faden, und iſt bereit, ihn allen 


Univerſitäten zur Prüfung vorzulegen, wie 


er ſelbſt ſagt. Aber was beweiſt der Faden? 
Der Gläubige braucht nicht erſt ihn zu ſehen, 
und der Ungläubige wird beim Anblick des 
Fadens ohne Zaudern ſich überzeugen, daß 
hier die bekannte Force der Taſchenſpieler, 
im entſcheidenden Moment die Aufmerkſam— 
keit von der Hauptſache auf eine Nebenſache 
abzulenken, einen beſonders glänzenden Sieg 
gefeiert hat, und daher, als es zur Verſiegelung 
kam, Zöllner, anſtatt des Fadens ohne 
Knoten, bereits einen andern mit den er— 
wähnten Knoten in Händen hatte. Daß 
Zöllner gar nichts davon gemerkt zu haben 
braucht, beweiſt bei ſeiner Mittheilung des 
Faktums (Wiſſenſchaftliche Abhandlungen, 
Leipzig 1878, J. Theil, Seite 276) die 
Beſtimmtheit, mit der er ſagt: „Es iſt klar, 
daß bei den oben angedeuteten Operationen 
vorübergehend die Theile des Fadens 
aus dem dreidimenſionalen Raum für Weſen 
von gleicher Dimenſionalität verſchwinden 
müſſen.“ — Die Täuſchung war eine voll- 


Zöllner hatte ſtändige, und im genannten Buche finden 


ſich auch zur lebhaftern Veranſchaulichung 
Abbildungen des ominöſen Fadens, der in 


Carneri, Ziel und Zweck. 


der That theilweiſe aufgehört haben müßte, 
ein irdiſcher Faden zu ſein. 

Ich hätte dies übrigens nicht berührt, 
wenn Zöllner nicht auf Kant ſich be— 
riefe, und ihn als denjenigen hinſtellte, 
der zu dieſer Art Forſchung ermuthigt, 
und deſſen prophetiſche Andeutung nun 
ſich bewahrheitet habe. Es iſt allerdings 
richtig, daß Kant, weit entfernt die Mög— 
lichkeit eines vierdimenſionalen Raumes und 
ihm eutſprechender Weſen zu leugnen, ſogar 
hinzu gefügt hat, daß wenn dies möglich, es 
auch wahrſcheinlich ſei, daß Gott irgendwo 
dergleichen erſchaffen habe. Aber damit hat er 
nur geſagt, was jeder vernünftige Kriticis— 
mus jederzeit ſagen wird: daß es im All 
Manches geben mag, worüber wir hiernieden 
zu keinerlei Gewißheit kommen können; damit 
aber auch: daß alles Derartige für uns 
einfach nicht exiſtirt. Daß vierdimen— 
ſionale Weſen in vierdimenſionale Fäden 
die für uns unbegreiflichſten Knoten zu 
machen im Stande wären, hätte er nicht 
in Abrede geſtellt. Und würde ein Slade 
über einen zweidimenſionalen Faden verfügen, 


ſo würde ein Kant dabei gewiß nicht die 


Möglichkeit der für uns unmöglichſten Knoten 


beſtreiten. Aber ebenſo gewiß würde er nie 


zugegeben haben, daß ein zwei-, vier- oder | 


noch ſo viel-dimenſionales Weſen an einem 
dreidimenſionalen Faden Operationen vorneh— 
men könne, die mit der dreidimenſionalen 
Natur unvereinbar ſind. 
jenem Zugeſtändniſſe nur eine Kleinigkeit 
gefordert: das Vorhandenſeindernöthigen 


Kant hat bei 


Bedingungen. Wo das iſt, iſt alles mög— | 


lich; wo das nicht iſt, beginnt das Wunder. 
Es iſt dies das Reich des Transſcen— 
denten, und in dieſes gelangt man nicht 
an der Hand des Königsbergers. 


Um 


die Möglichkeit der angeführten Operation 


an einem dreidimenſionalen Faden zuzugeben, 


hätte er ſeine geſammte Philoſophie verleugnen 
müſſen. Es iſt daher die Anlehnung an 
ihn durchaus nicht gerechtfertigt. 

Mit Zöllner's „unendlich dünnem 
Faden“ hat es dieſelbe Bewandtniß, wie 
mit dem „begrenzten unendlichen Raum“. 
Die Hegel'ſche Philoſophie hat auch 
über's Ziel geſchoſſen; hätte man aber, von 
ihr zurückkehrend, das Kind nicht mit dem 
Bade verſchüttet, man würde nicht ſo nahe 
daran ſein, in den Abgrund der falſchen 
Unendlichkeit die einfachſten Grundlagen 
der Logik verſinken zu ſehen. 

Für alle myſtiſchen Erkenntnißtheorien, 
die mittelſt eines unbewußten Willens, 
einer vorſtellungsloſen Genialität oder 
eines undefinirbaren organiſirenden Prin— 
cips, wobei an die Stelle des Zweckes ein 
Ziel treten würde, der Teleolgie neuer— 
dings Eingang in die Naturwiſſenſchaft bald 
zu erzwingen, bald zu erſchmeicheln ſtreben, 
wären vierdimenſionale Weſen, ja wäre 
ſchon ein vierdimenſionaler Raum von hohem 
Werth. Mit ihm wäre die Transſeendenz 
gegeben, und mit dieſer der Weg zum Factor, 
der das Ziel ſetzt, dem Streben die Rich— 
tung giebt, und ohne den alle Teleologie 


ein leeres Wort iſt. Wird man ſich darüber 


klar, klar über die Quellen, aus welchen 
da geſchöpft wird, und klar über das Wohin, 
dem man zuſteuern würde; ſo ſtellt allmälig 
von ſelbſt die Ueberzeugung von der Noth— 
wendigkeit ſich ein, aus den erkenntnißtheo— 
retiſchen Momenten der Weltanſchauung alles 
auszuſcheiden, was die Grenzen der Erfah— 
rung überſteigt. Streng wiſſenſchaftlich iſt 
keine Hypotheſe ſtatthaft, die in letzter Analyſe 
in ein transſcendentes Princip ſich 
auflöſen müßte. 

Der Monismus zeichnet ſich dadurch 
vor allen andern Weltanſchauungen aus, daß 
er nach keiner andern Welt ſucht, als nach 


474 


der wahrnehmbaren, und daß er den Geift 
anerkennt, aber nur inſoweit er ihn wahr— 
zunehmen vermag, und zwar als höchſte Blüthe 
eines centraliſirten Nervenſyſtems. 
die bloße Annahme eines empfindenden Atoms, 


das mit logiſcher Nothwendigkeit zur An- 
nahme eines bewußten Atoms führen würde, 
pfindungen des Individuums werden, gelan— 


wäre die ſchiefe Ebene ſchon betreten, über 
die man unaufhaltſam in das Gebiet des 
Transſcendenten hinüberrollt. Der Monis— 
mus kennt keine ſpecifiſche Energien und 
keine Vermögen, wie er auch keine einfache 
Weſen kennt: der Monismus kennt nur 
Functionen, die aus einer Wechſelwirkung 
zwiſchen Körpern oder Organen hervorgehen. 
Beim Atom giebt es nur das anorganiſche 


Durch 


Neagiren; Empfindung und Bewußtſein könn- 


ten da nur von einer Beſeelung im engern 
Sinn herrühren. Das Atom iſt nichts als 
das kleinſtdenkbare Quantum zur Körper— 
lichkeit condenſirten Stoffes; es iſt nur der 


unterſte Repräſentant der Materie, weshalb 
wir über die Grenzen unſerer Erfahrung 
hinausgehen müßten, um ihm etwas zuzu- 
ſchreiben, das wir an der Materie als folder | 


nicht wahrnehmen. 


Carneri, Ziel und Zweck. 


| 


Auch was wir Kraft 


unumſtößliche Gewißheit. 


Das Reagiren 
der ſogenannten todten Materien entwickelt 
ſich bei den lebenden?) Gebilden zur Em— 


pfindung. Dadurch, daß unſere Empfindun— 
gen, in das Centrum unſeres Nervenſyſtems 
geleitet, dem Individuum als Ganzem ſich 
mittheilen, d. h. zu Vorſtellungen, zu Em- 


gen wir zum Gefühl unſere Empfindungen, 
werden wir uns ihrer bewußt. Das an— 


| fänglich nur in ſolchen Vorſtellungen ſich 


bewegende Denken erhebt ſich allmälig durch 
die Sprache, welche uns die zu Begriffen 
ſich klärenden Vorſtellungen feſtzuhalten und 


zu ordnen geſtattet, zum ächten Denken. 


Damit werden wir uns unſeres Wiſſens 
klar bewußt, und die in den Willenscentren 
ſich auslöſenden Empfindungen uns zu be— 
wußten Willensacten. Wir wollen und 
ſtreben, wir ſetzen uns Zwecke und 
haben Ziele. 

Wie mangelhaft auch dieſe flüchtige Dar- 
ſtellung iſt, ſo dürfte doch aus ihr in ge— 
nügender Weiſe hervorgehen, wie zahlreich 
und verwickelt die Bedingungen ſind, von 
deren Erfüllung es abhängt, ob ernſtlich von 


und Kräfte nennen, darf nicht aufgefaßt | Zielſtrebigkeit und Zweckmäßigkeit 


werden als etwas an und für ſich Exiſti— | die Rede ſein kann. 
Sie ſind nur die Reſultirende der 


rendes. 


Wechſelwirkungen zwiſchen Stoff und Stoff, 
giebt, ein Bewußtſein hinzu, das dem Streben 


mit deſſen Theilbarkeit die Bewegung ge— 
geben iſt, die als Kraft zur Erſcheinung 
kommt. Liegt aber auch der Stoff als 
ſolcher außerhalb des Bereichs unſerer mög— 
lichen Erfahrung, ſo iſt darum doch die 
Welt der Erſcheinungen nicht ein leerer 
Schein. Sie iſt die Geſammtheit der Em— 
pfindungen, welche durch die allgemeine 
Wechſelwirkung uns zum Bewußtſein gebracht 


wird, und das daraus ſich ergebende Ver 


hältniß des Subjects zum Object bildet 
unſere einzige volle, aber für uns auch 


| 


Erſt bei den Thieren 
mit Gehirn tritt zum Selbſterhaltungstrieb, 
der in den einzelnen Willensacten ſich kund 


den Stempel der Abſichtlichkeit aufdrückt und 
die Zielſtrebigkeit zur Wahrheit macht. Was 
wir Selbſterhaltungstrieb nennen, iſt bis 
hinab zu den untergeordnetſten Bildungen 
Allem gemein, das auf irgend einer Stufe 


der Entwickelung zu einem Ganzen ſich 


abgrenzt und damit allem Uebrigen ſich 
entgegenſetzt. Von der Cohäſion beim An— 
organiſchen iſt nur graduell verſchieden das 


9 Siehe „Kosmos“ II. Bd. S. 485 flgde. 
über Urzeugung und Leben. 


Carneri, Ziel und Zweck. 


Zuſammenhalten des Lebeweſens, das als 
Individualität die ganze übrige Welt 


gegen ſich hat, und im „Kampf um's Daſein“ 


ſiegt oder erliegt d. h. ſich fortentwickelt 
oder verkümmert, je nachdem die Verhält— 
niſſe, in die es geräth, das Eine oder das 
Andere befördern. Den „Kampf um's Daſein“ 


Organe hervorgehen, und alles Wachsthum 
iſt, wie Herbert Spencer an ſo vielen 


Streben nach einer vorgeſetzten Richtung, 
ſondern ein naturgemäßes Streben 
nach Integration in der Richtung 
des geringern Widerſtandes. Darum 


findet das Wachsthum dort ſeine Grenze, 


wo die im jugendlichen Organismus auf— 
gehäufte Arbeit ſich derart abgegeben hat, 
daß über das Aſſimiliren der Außenwelt 
das Aſſimilirtwerden durch die Außen— 
welt die Oberhand gewinnt. 


Vor der winzigſten Schöpfung der Natur 
ſtehen wir als vor etwas Unbegreiflichem, 
wenn wir ſie als fertiges Ganzes erklären 
Am auffallendſten iſt dies der Fall 
beim Menſchen, bei allen ſeinen Fähigkeiten, 


wollen. 


zumal bei den geiſtigen. Jede Bildung iſt 
in ihren früheſten Stadien zu unterſuchen, 
durch ihre Entwickelung hindurch zu verfol— 


gen und nach ihrem Verhältniß zu den ſie 
umgebenden Bildungen zu beurtheilen. Dabei 
Zielſtrebigkeit auffaßt? Es wird ihm 


werden wir allerdings nur auf Geſetze 
ſehr allgemeiner Natur ſtoßen, die aber eben 
darum allgemeine Geltung haben. 


nur ein verſchwindender Bruchtheil deſſen, 
was zu erklären vorliegt. Aber die Summe 
des Erklärten ſteigt fortwährend, und mehr 
und mehr gewinnt die Ueberzeugung an Ver— 
breitung, daß jede Erklärung, die von einer lo— 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


wendigkeit ſich 
kämpfen ſchon die Zellen, aus welchen die 


Sicher⸗ 
lich iſt das, was wir uns zu erklären vermögen, 


475 


giſchen Unmöglichkeit ausgeht und auf jenſeits 
der Erfahrung liegende Annahmen ſich ſtützt, 
nur eine ſolche iſt, die auf das eigentliche 
Erklären verzichtet. Daß alles Geſchehende 
nothwendiger Weiſe geſchieht, wiſſen wir 
erfahrungsmäßig; ebenſo, daß dieſe Noth- 
auf unverbrüchliche Geſetze 
zurückführen läßt. Nicht weniger erfahrungs— 
mäßig wiſſen wir, daß aus der Steigerungs— 


fähigkeit des Einzelnen eine Steigerungs— 
Beiſpielen nachweiſt, kein übernatürliches 


fähigkeit des Ganzen ſich ergiebt. Daß, da 
die Steigerungsfähigkeit des Einzelnen eine 
begrenzte iſt, die Steigerungsfähigkeit der 
Geſammtheit auch ihre Grenze haben wird, 
iſt eine unabweisbare Folgerung. Aber dieſe 
Grenze liegt in ſo weiter Ferne, und, was 
das größte Herz völlig auszufüllen vermag, 
liegt ſo nahe, daß dieſer Gedanke keinen klar 
Denkenden ernſtlich beunruhigen wird. Der 
Menſch kann ſich ſo hohe Ziele ſetzen, ſo 


edlen Zwecken leben, daß er die ihm zu 


Gebote ſtehenden Mittel nur richtig zu 
wählen und ſeinen Beſtrebungen anzupaſſen 
braucht, um ſeinem Leben einen hohen Werth 
zu erringen. Meint aber Einer trotz alle— 
dem, das große Ganze ſei ohne Werth und 
die Natur ſinnlos, wenn ſie nicht teleo— 


logiſch aufgefaßt wird; dann möge er 


einmal bei kaltem Blute zuſehen, wie die 
Natur ſelbſt, ſein Princip rein auf den 
Kopf ſtellend, die Zweckmäßigkeit und 


auffallen, und ſchwerlich ohne Wirkung bleiben 
auf das Gewicht, welches er der Teleo— 
logie beilegt, daß ſeltſamer Weiſe in der 
Natur — wie ich ſchon anderswo hervor— 
gehoben habe — anſtatt daß die Mittel 


nach den Zwecken und Zielen ſich richteten, 
Zwecke und Ziele ſich nach den 


Mitteln richten. 


61 


Die Infehten als unbewußte Dlumenzüchter. 
Von 


Dr. Hermann Müller. 


DE 
(Schluß.) 


4. Die wespenartigen Inſekten 


(Hymenoptera). 


nen, dieſe einzige Familie 
wespenartiger Inſekten, ſpielen 
8 als unbewußte Kreuzungsver— 
A mittler und Züchter von Blu- 
men für ſich allein eine viel bedeutendere 
Rolle als alle übrigen Inſekten zuſammen— 
genommen; denn ſie ſind gleichzeitig die der 
Blumennahrung bedürftigſten, die arbeit 
ſamſten und die geſchickteſten aller blumen— 
ſteten Inſekten. Schon zu ihrem eigenen 
Lebensunterhalte bedürfen ſie eine weit größere 
Menge von Blumennahrung als Schmetter— 
linge und Fliegen, da ſie nicht, wie dieſe, 
nur der Liebe und dem Vergnügen leben, 
ſondern zur Sicherung und Beköſtigung ihrer 
Nachkommenſchaft eine Reihe anſtrengender 
Arbeiten ausführen, welche natürlich einen 
dem Kräfteverbrauch entſprechenden Stoff— 
erſatz erfordern; überdies aber beſteht das 
Futter, welches ſie für ihre Nachkommen 


im Voraus in einer bis zur Vollendung 


ihrer Entwickelung ausreichenden Menge 


anhäufen, ebenfalls aus Honig und Blüthen— 
ſtaub. Die Arbeitſamkeit, zu welcher ſie 
ſchon durch dieſe maſſenhafte Beſchaffung 
von Blumennahrung veranlaßt ſind, wird 
aber noch bedeutend geſteigert durch ihre 
Lebensgewohnheit, ihren erſt lange nach 
ihrem eigenen Ableben das Licht der Welt 
erblickenden Kindern außer dem vollen Nahr— 
ungsbedarf auch eine gegen Ungunſt des 
Wetters und gegen Feinde ſorgfältig geſchützte 
Entwickelungsſtätte im Voraus zu bereiten. 

Aller Fleiß, alle Umſicht, alle Arbeits— 
kraft nun, die ſie im Lauf unzähliger Gene— 
rationen in ſtetem Bemühen um die Ver— 
ſorgung ihrer Brut allmälig gewonnen haben, 
kommt ihnen natürlich auch bei ihrer Blumen— 
arbeit zu Gute, und da es auch den Pflanzen 
ſelbſt am vortheilhafteſten ſein muß, den 
nahrungsbedürftigſten, fleißigſten und ge— 
wandteſten Blumenbeſuchern die Vermittel— 
ung ihrer Kreuzung zu überlaſſen, ſo ſpielen 
in der That nicht nur bei der Befruchtung 
der einem gemiſchten Beſucherkreiſe ange— 
paßten Blumen, wie z. B. Compoſiten, 


Cruciferen, Roſaceen ꝛc. die Bienen meift 
die wichtigſte Rolle, ſondern es ſind auch 
aus den verſchiedenſten Zweigen des Meta— 
ſpermenſtammes überwiegend zahlreiche Blu— 
men ausſchließlich ihrer Kreuzungsvermittel— 
ung angepaßt. Aber wie die Bienen ſelbſt erſt 
in einer langen Stufenleiter allmäliger Ver— 
vollkommnungen der Brutverſorgung ihre 
ſo eben gerühmten Eigenſchaften gewonnen 
haben, ſo können auch die Bienenblumen 
nicht oder wenigſtens nicht alle als unmittel— 
bar aus einfachen, offnen, regelmäßigen Blu— 
men durch die züchtende Wirkung der Bienen 
in ihre jetzige Form übergeführt betrachtet 
werden. Vielmehr müſſen die bereits blumen— 
ſtet gewordenen Urahnen der Bienenfamilie 
in dem Grade, als ihre ſtufenweiſe ſich 
ſteigernde Brutverſorgung fie zur Ausführ- 
ung immer complicirterer Lebensthätigkeiten 
führte und ihre geſammte geiſtige Befähig— 
ung und körperliche Geſchicklichkeit ſteigerte, 
auch als Blumenzüchter ſtufenweiſe immer 
erfolgreicher und ſelbſtſtändiger geworden 
ſein. Und ehe wir dazu übergehen, die 
Blumenzüchtung der Bienen ins Auge zu 
faſſen, müſſen wir über die Blumenthätig— 


keit der niederen Zweige des Hymenopteren- 


ſtammes wenigſtens einen allgemeinen Ueber— 
blick zu gewinnen ſuchen und uns danach 
umſehen, ob ſich nicht von ihrer blumen— 
züchtenden Thätigkeit in der heutigen Blumen— 
welt noch Spuren auffinden laſſen. 

Auf der tiefſten Stufe der Brutver— 
ſorgung wie der Blumenthätigkeit ſtehen 
unſtreitig die Pflanzen anbohrenden Wespen, 
die Holz-, Blatt⸗ und Gallwespen. Denn 
ihre Brutverſorgung beſchränkt ſich darauf, 
mittelſt des Legeſtachels das Ei an eine 
Stelle zu befördern, an welcher die aus— 
ſchlüpfende Larve ſich ſogleich von ihrem 
Futter umgeben findet. Und ihre Blumen— 
thätigkeit iſt eben ſo einfach. Holzwespen 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


477 


wurden auf Blumen überhaupt bis jetzt 
noch gar nicht beobachtet. Von den Blatt— 
wespen gehen zwar zahlreiche Arten dem 
Honige der Blumen nach, aber die Erlang— 
ung deſſelben gelingt ihnen in der Regel 
nur dann, wenn er völlig offen liegt, wie 
bei den Umbelliferen, oder doch unmittel— 
bar ſichtbar iſt, wie bei Salix, Ranuncu⸗ 
laceen, Cruciferen und Roſifloren. Das 
Höchſte, was einige Blattwespen im Honig— 
auffinden zu leiſten vermögen, iſt die Aus— 
beutung ſolcher regelmäßiger, nach oben ge— 
öffneter Blumenformen, welche zwar nicht 
unmittelbar ſichtbaren, aber doch durch ein— 
faches Auffliegen und Abwärtsbewegen des 
Mundes erreichbaren Honig enthalten, wie 
z. B. die Compoſiten. Dagegen vermögen 
nach allen bisherigen Beobachtungen die 
Blattwespen keine Blumen auszubeuten, die 
nicht auch einer großen Zahl kurzrüſſeliger 
Inſekten anderer Ordnungen zugänglich ſind 
und thatſächlich von denſelben beſucht werden. 
Als ſelbſtſtändige Blumenzüchter haben alſo 
die Blattwespen niemals auftreten können; 
ſie ſind niemals im Stande geweſen, ſich 
beſondere Blattwespenblumen zu züchten. 
Die Gallwespen, die dritte Familie 
pflanzenanbohrender Hymenopteren, werden 
überhaupt nur ſelten auf Blumen ange— 
troffen, und immer nur auf ſolchen mit 
völlig offenliegendem Honig; ſie ſind daher 
unmittelbar als Blumenzüchter wahrſchein— 
lich ohne alle Bedeutung *). Aber durch 


) Ueber die Befruchtung der Feigen 
durch Gallwespen irgend welche Vermuthungen 
oder Schlüſſe aufzuſtellen, darf ich nicht wagen, 
da ſie mir aus eigener Beobachtung nicht be— 
kannt iſt und Delpino's Beſchreibung (Ulte- 
riori osservazioni II. p. 239 — 241) keine An⸗ 
deutung darüber erhält, was denn eigentlich 
die aus den angeſtochenen Ovarien geſchlüpf— 


ten Gallwespen, nachdem ſie die männlichen 
Blüthenſtände mit Pollen behaftet verlaſſen 


den Uebergang vom Pflanzenanbohren zum 
Inſektenanbohren find fie, wie ich bereits 


Wespenſtammes und dadurch mittelbar für 
die Weiterzüchtung der Blumen im höchſten 
Grade bedeutungsvoll geworden. Sie haben 
ſich durch Annahme dieſer neuen Brutver— 


neues Ernährungsgebiet — die geſammte 
Inſektenwelt — eröffnet und damit nicht 
nur dem unabſehbaren Formenreichthume 
der Schlupfwespenfamilie den Urſprung ge— 
geben, ſondern auch die geiſtige Befähigung 
des Wespenſtammes auf eine bedeutend 
höhere Stufe gehoben. Wer den kurzen 
ſteifen Flug, das plumpe Anfliegen und 
die träge Ruhe einer Blattwespe mit dem 
unermüdlichen, gewandten und unſichtigen, 
ſchwebenden Umherſuchen, dem vorſichtigen 
Auffliegen und der ſelbſt in der Ruhe ſich 
unabläſſig äußernden Beweglichkeit einer 
Schlupfwespe vergleicht, überſchaut mit einem 
Blicke dieſen gewaltigen Fortſchritt. 

Es kann nun von vorn herein kaum 
einem Zweifel unterliegen und wird durch 
die direkte Beobachtung ſofort beſtätigt, daß 
die geſteigerte Unterſcheidungsfähigkeit und 
Ausdauer im Umherſuchen den Schlupf— 
wespen auch beim Aufſuchen des Blumen— 
honigs zu ſtatten kommt. Denn obwohl 
ſie größtentheils nur Blumen ausbeuten, 
die auch den Blattwespen zugänglich ſind 
— theils ſolche mit unmittelbar ſichtbarem 
haben, zum Hineinkriechen in die weiblichen 
Blüthenſtände veranlaßt. Das müßte man 
aber vor Allem wiſſen, um beurtheilen zu 
können, ob die Feigen-Blumenform (tipo si- 
eioide Delp.) mit oder ohne Mitwirkung einer 
von den Gallwespen geübten Blumenauswahl 
durch Naturzüchtung ausgeprägt worden iſt. 

) Bienenzeitung 1875. Nr. 12. 13. 14. 
1876. 2. 10. 11. 14. 


an einer anderen Stelle“) eingehender er- 
örtert habe, für die Weiterentwickelung des 


ſorgungsgewohnheit ein höchſt umfaſſendes 


von den Schlupfwespen als bevorzugteſte 


478 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Honig, wie z. B. Umbelliferen, Ruta, Par- 
nassia, Spiraea und Cruciferen, theils ſolche, 
deren Honig zwar verſteckt liegt, aber doch 
durch einfaches Auffliegen und Abwärtsbe— 
wegen des Mundes erlangt werden kann, 
wie z. B. Gypsophila, Malva, Geranium 
und Compoſiten — und nur in ganz ver— 
einzelten Fällen durch einſeitige Anpaſſung 
unregelmäßig gewordene, wie z. B. Mentha, 
ſo benehmen ſie ſich doch durchgängig auch 
bei ihren Blumenbeſuchen weit behender 
und fleißiger, zugleich aber auch weit unter- 
ſcheidungsfähiger, als die Blattwespen. Ihre 
größere Unterſcheidungsfähigkeit ſpricht ſich 
am deutlichſten darin aus, daß ſie auch die 
unſcheinbarſten, in ihrer Farbe von der Um— 
gebung wenig oder gar nicht abſtechenden 
Blumen mit Leichtigkeit aufzufinden wiſſen, 
wenn dieſelben nur offenen Honig darbieten, 
wie z. B. Adoxa Moschatellina, Sibbal- 
dia procumbens, Alchemilla pentaphyllea 
und Listera ovata. Da es nun den Blumen 
ſelbſt offenbar vortheilhafter iſt, von dieſen 
umſichtigeren und fleißigeren Gäſten mit be— 
ſonderer Vorliebe beſucht zu werdeu, als der 
geſammten Schaar unausgeprägterer Blumen— 
beſucher zwar offen zu ſtehen, aber auf keinen 
derſelben eine beſondere Anziehung auszu— 
üben, fo konnte es, nachdem die Entwickel— 
ung des Wespenſtammes bis zur Ausbild— 
ung der Schlupfwespenfamilie fortgeſchritten 
war, kaum ausbleiben, daß auch beſondere 
Schlupfwespenblumen zur Auspräg- 
ung gelangten. Denn ſobald nun von einer 
Blume, welche offenen Honig darbot, un— 
ſcheinbare Abänderungen auftraten, welche 
von allen oder den meiſten anderen Blumen— 
beſuchern überſehen wurden und daher den 
Schlupfwespen ausſchließlich oder faſt aus— 
ſchließlich ihren Honig aufbewahrten, ſo 
hatten dieſelben die begründetſte Ausſicht, 


—: . u a 


| Müller, Die Inſekten als 


Lieblinge ausgewählt und in gleicher Richt— 
ung weiter gezüchtet zu werden. 

Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß in 
jener Zeitepoche, als die Schlupfwespen— 
familie noch den Gipfel der Wespenentwickel— 
ung bildete, durch den ſo eben erörterten ur— 
ſächlichen Zuſammenhang zahlreiche Schlupf— 
wespenblumen entſtanden ſein mögen. Aber 
ganz gewiß iſt es, daß die meiſten derſelben 
aufhören mußten, ausſchließliche Schlupf— 
wespenblumen zu bleiben, ſobald die Schlupf— 
wespen von den aus ihnen hervorgegange— 
nen Grabwespen und Bienen an körperlicher 
und geiſtiger Befähigung überholt wurden. 
Denn ebenſo wie dieſe ſpäteren Entwickel— 
ungsſtufen des Wespenſtammes von ihren 
Urahnen, den Schlupfwespen, die Brutver- 
ſorgung und die im engſten Zuſammen— 
hange mit derſelben erworbene körperliche und 
geiſtige Befähigung ererbten und ſtufenweiſe 
weiter vervollkommneten, ebenſo ererbten ſie 
von denſelben auch die Fähigkeit, die Schlupf- 
wespenblumen auszubeuten, und züchteten 
dieſelben, ihren abgeänderten Lebensgewohn— 
heiten und ihrem geſteigerten Nahrungsbe— 
dürfniſſe entſprechend, weiter. Nur an den, 
Grabwespen und Bienen beſonders un— 
günſtigen Schlupfwespenwohnſtätten konnten 


dann Schlupfwespenblumen von der über- 


wiegenden Mitwirkung jener beiden höher 


ſolchen Orten konnten auch zur Zeit der 
Grabwespen und Bienen noch neue Schlupf— 
wespenblumen gezüchtet werden. 

Erſt an einer einzigen Pflanze ſind bis 


jetzt durch direkte Beobachtung Schlupfwes⸗ 


befähigten Wespenfamilien noch unberührt 
bleiben und ſich als ſolche erhalten, nur an 


unbewußte Blumenzüchter. 479 | 


I 


aber paßt die jo eben gegebene Erklärung 
vollſtändig. Obgleich ſie nämlich aus einer 
Längsfurche auf der Mitte der gelblich— 
grünen herabhängenden Unterlippe völlig 
offenliegenden Honig abſondert, ſo bleibt 
ſie doch von anderen Inſekten als Schlupf— 
wespen, die fie in großer Häufigkeit auf- 
ſuchen, faſt unberührt. Denn Grabwespen 
und Bienen, welche vorzugsweiſe ſonnige 
Orte aufſuchen, vermeiden überhaupt, ab— 
geſehen von einzelnen Hummeln, die feuch— 
ten Gebüſche und Laubwälder, wo Listera 
ovata gedeiht, faſt vollſtändig; und daß 
auch kurzrüſſelige Inſekten anderer Ordnun— 
gen, abgeſehen von einem einzigen blumen— 
ſteten Bockkäfer, Grammoptera laevis, ſich 
des völlig offen liegenden Honigs dieſer 
ſchmuckloſen Blumen nicht bedienen, kann 
doch wohl blos darin ſeinen Grund haben, 
daß ſie dazu zu wenig unterſcheidungs— 
fähig und zu wenig ausdauernd im Um— 
herſuchen find. Iſt aber dieſe Voraus- 
ſetzung richtig, ſo läßt ſich die Ausprägung 
der auffallenden Unſcheinbarkeit der Blüthe 
von Listera ovata nur als von den Schlupf— 
wespen, denen allein ſie ja nützlich iſt, ge— 
züchtet betrachten. 

Die im Schatten ſubalpiner Wälder 
wachſende Listera cordata hat noch kleinere 

) Die überraſchend zierliche und ſicher 
wirkende Befruchtungseinrichtung der Listera 
ovata, welche bei eintretendem Schlupfwespen— 
beſuche Kreuzung unausbleiblich macht, iſt 
bereits ſo wiederholt beſchrieben und abge— 


bildet worden, daß es hier genügen wird, 


auf Sprengel's entdecktes Geheimniß, auf 


| 7 72 7 6 f 7 
Darwin's Orchideenwerk und auf mein eige— 


pen als die überwiegenden, ja faſt aus- 


ſchließlichen Kreuzungsvermittler nachgewieſen 
worden, nämlich an der mit grünen Hüll— 
blättern ausgeſtatteten und daher äußerſt 


unſcheinbaren Listera ovata *); auf dieſe 


nomeno inesplicabile bezeichnet, glaube ich 


nes Buch über Befruchtung der Blumen durch 
Inſekten zu verweiſen. Die Aupaſſung von 
Blumen an Ichneumoniden, welche Delpino 
(Ulteriori osservazioni II. p. 320) als un fe- 


durch obige Auseinanderſetzung ihres Räthel— 
haften hinreichend entkleidet zu haben. 


450 


und daher womöglich noch unſcheinbarere 
Blüthen mil übrigens vollkommen gleicher 
Einrichtung. Ihre natürlichen Kreuzungs— 
vermittler ſind noch nicht beobachtet. Es 
kann aber, nach dem Geſagten, wohl kaum 
zweifelhaft ſein, daß es ebenfalls vorwiegend 
Schlupfwespen ſein werden. 

Außerdem glaube ich als Schlupf— 
wespenblume mit einiger Wahrſcheinlichkeit 
die verwandte Chamaeorchis alpina an— 
ſprechen zu dürfen, die mich an den kahlen 
Abhängen der Alpenkämme (bei Weißen— 
ſtein am Albulapaſſe) durch die regelmäßige 
Kreuzung, welche ihr trotz äußerſter Un— 
ſcheinbarkeit zu Theil wird, zuerſt in nicht 
geringe Verwunderung verſetzte. Die kleinen 
geruchloſen Blümchen werden von den nie— 
drigen Grasbüſchen, zwiſchen welchen ſie 
wachſen, und denen ſie ziemlich gleichfarbig 
ſind, noch überragt und ſind dadurch in 
der That in dem Grade verſteckt, daß ich 
mich an ihren Standorten platt auf den 
Raſen werfen und die kärglich bewachſene 
Raſenfläche auf das ſchärfſte durchſpähen 
mußte, um keines derſelben zu überſehen. 
Unter ſolchen Umſtänden iſt es mir begreif— 
licher Weiſe nicht gelungen, ihre Kreuzungs— 
vermittler auf der That zu ertappen, aber 
von der ausreichenden Wirkſamkeit derſelben 
konnte ich mich auf andere Weiſe leicht ge— 
nug überzeugen. Von über 50 Exemplaren, 
die ich mit der Lupe unterſuchte, als die 
Blüthezeit ſich ſchon zu Ende neigte (Ende 


Juli 1877), hatten über zwei Drittel lauter 
entleerte Pollentaſchen und befruchtete Nar-⸗ 


ben; von den übrigen hatten nur ein paar 
einzelne die beiden oberſten Blüthen noch 
im jungfräulichen Zuſtande, die übrigen 
nur die oberſte. 

Honig wird hier von einer grünen 
Anſchwellung abgeſondert, die ſich von der 
Mitte der Unterlippe bis zu ihrer Wurzel 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


erſtreckt und da in eine umwallte Fläche 
am rundlichem Umriſſe verbreitert. Kleine 
Beſucher, die am untern Ende der Unter— 
lippe auffliegen und ſich der Anſchwell— 
ung entlang bis zur umwallten Baſis hin- 
auflecken, befinden ſich dann mit ihrem 
Kopfe unmittelbar unter einem der Kleb— 
ſtoffbeutelchen (r Fig. G) und müſſen, ſo— 
bald fie nach Beendigung des Honigleckens 
den Kopf erheben, gegen daſſelbe ſtoßen 
und ſich den dem Klebſtoffbeutelchen auf— 
ſitzenden Stiel des Staubkölbchens auf ihren 
Kopf kitten k). Sobald fie nun wegfliegen, 
ziehen ſie das Staubkölbchen (po Fig. 6) 
aus ſeiner Taſche (al) und nehmen es, 
dem Kopfe aufgekittet, mit ſich. Nachdem 
daſſelbe ſodann, wie bei vielen anderen Orchi— 
deen, eine Abwärtsdrehung erlitten hat, wird 
es in der nächſten Blüthe, die das Inſekt be— 
ſucht, gegen die Narbe (st) geſtoßen, deren kleb— 
rige Fläche zahlreiche Pollenpäckchen feſthält. 
Aus dieſer Befruchtungseinrichtung er— 
giebt ſich, daß Schmetterlinge als Kreuz— 
ungsvermittler der Chamaeorchis alpina. 
gewiß nicht in Betracht kommen, daß viel— 
mehr nur winzige Fliegen, Käfer oder 
Hymenopteren die beſchriebene Arbeit leiſten 
können. Von dieſen aber haben, nach ihren 
ſonſtigen Lebensgewohnheiten und der Aehn— 
lichkeit des vorliegenden Falles mit dem von 
Listera, die Schlupfwespen gewiß die meiſte 
Wahrſcheinlichkeit für ſich. 


) Die den Klebſtoffballen umkleidende 
Haut iſt äußerſt zart und zerreißt bei ſchwa— 
chem Anſtoß. Sie wird aber nicht, wie 
bei Orchis in eine taſchenförmige Unterlippe 
und zwei an den Stielen der Staubkölbchen 
haften bleibende Läppchen zerſpalten, ſondern 
der ſtoßende Gegenſtand nimmt beim Zurück— 
ziehen ſowohl den ganzen Klebſtoff, als das 
zarte Häutchen, welches ihn umſchloß, mit 
hinweg. 


Müller, Die Juſekten als unbewußte Blumenzüchter. 481 


ni b 
N 0 ll W N _ 
N ee — 


\ 
U 


Fig. 10. Eine höchſt unſcheinbare Blume, die trotzdem regelmäßig durch 
Inſektenvermittelung gekreuzt wird, Chamaeorchis alpina. 
A Seitenanſicht einer (längſt verblühten) Blume. B Eine junge Blüthe, nach Entfernung 
aller Blüthenhüllblätter mit Ausnahme der Unterlippe, gerade von vorn geſehen. (Die 
Unterlippe iſt noch ſchräg nach vorn gerichtet und erſcheint daher in dieſer Anſicht bedeutend 
verkürzt.) C Etwas ältere Blüthe, der Pollinien bereits beraubt. (Die Unterlippe hat ſich 
nach unten gebogen und erſcheint in voller Ausdehnung.) D Noch weiter vorgerückte Blüthe 
von der Seite geſehen. (A—D, Vergr. 7: 1.) 6 Die Mitte einer jungen Blüthe von vorn 
geſehen. E Einzelnes Staubkölbchen von der Seite, F daſſelbe von vorn geſehen. (EG 
Vergr. 35: 1.) h Honigtröpfchen, rr n Bedeutung der übrigen Buchſtaben 
wie in Fig. 8. 


Wie durch den Uebergang vom Pflanzen- 
anbohren zum Inſektenanbohren aus den 
Gallwespen die Schlupfwespen, ſo ſcheinen 
aus dieſen durch die Annahme der Gewohn— 
heit, die zur Nahrung für die Nachkommen 
eingefangenen Inſekten durch einen Stich 


zu lähmen und in einer ſelbſtgefertigten 
Bruthöhle zu bergen, als neue Familie die 


Grabwespen hervorgegangen zu fein). Zum 
Auffinden und Ueberraſchen des erwählten 
Beutethieres müſſen ſie dieſelbe Unterſcheid— 
ungsfähigkeit, Umſicht, Ausdauer im Umher— 
ſuchen und Gewandtheit in ihren Beweg— 
ungen bethätigen, wie ihre Stammfamilie. 
Aber durch die Umwandlung des Legeſtachels 
in eine Angriffs- und Vertheidigungswaffe 
ſind ſie weit wehrhafter und kühner geworden 
und durch die Annahme der Gewohnheit, 
eine Höhle anzufertigen, in dieſelbe, oft aus 
weiter Entfernung, das gelähmte Beutethier 
zu ſchleppen, alsdann erſt ein Ei an das— 
ſelbe zu legen und nun die Höhle zu ſchließen 
und jede Spur ihres Einganges ſorgfältig 
zu verwiſchen, haben ſich ihre Lebensthätig— 
keiten noch viel complicirter geſtaltet, hat 
ſich ihre Energie, ihre körperliche und geiſtige 
Befähigung wieder über diejenige der Schlupf— 
wespen ein bedeutendes Stück erhoben. Wenn 
wir uns daher in Gedanken in jene Zeit— 
epoche zurückverſetzen, als die Familie der 
Grabwespen ſich zuerſt auszubreiten und in 
eine Mannigfaltigkeit verſchiedener Lebens— 
formen zu differenziren begann und noch 
die höchſte Entwickelungsſtufe des Wespen— 
ſtammes bildete, ſo unterliegt es wohl keinem 
Zweifel, daß damals die Schlupfwespen 
auf allen Blumen, auf denen ſich auch die 
ihnen in jeder Beziehung überlegenen Grab— 
wespen einfanden, dieſen den Vorrang ein— 
räumen, daß ſie mithin an allen Orten, 


) Siehe Bienenzeitung, die angeführ— 
ten Nummern. 


— 


| 


| 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


wo auch Grabwespen ihren Wohnſitz auf— 
ſchlugen, ihren blumenzüchtenden Einfluß 
ganz oder größtentheils an dieſe abtreten 
mußten. Und wenn auch weder die Ge— 
ſchmacksrichtung der Grabwespen eine eigen— 
artige, anderen Blumenbeſuchern antipathi— 
ſche geworden war (wie bei vielen Dipteren), 
noch ihre Mundtheile ſich derart einſeitig aus— 
gebildet hatten, daß ſie dadurch ſich in den 
Alleinbeſitz des Honigs gewiſſer Blumen 
hätten ſetzen können (wie die Schmetterlinge), 
ſo hatten ſie doch mit der Gewohnheit, 
Bruthöhlen zu graben und häufig in ſolche 
hinein zu kriechen, die Befähigung und Neig- 
ung zu Bewegungen gewonnen, deren andere 
Blumenbeſucher nicht fähig waren, und dieſe 
Bewegungen ſetzten ſie in den Stand, ſich 
Blumen zu ihrem alleinigen Genuſſe zu 
züchten. Ungemein zahlreiche Blumenformen 
der Jetztzeit erfordern zur Gewinnung des 
Honigs ein Hineinzwängen des Kopfes 
zwiſchen eng aneinderſchließende Theile, wie 
es die Grabwespen und Bienen beim Graben 
ihrer Bruthöhlen oder beim Eindringen in 
dieſelben, wenn ſie theilweiſe verſchüttet ſind, 
fortwährend ausüben müſſen, z. B. die 
Papilionaceen, viele Scrophulariaceen (Pedi- 
cularis, Linaria etc.), Boragineen (Borago, 
Symphytum, Anchusa ete.), Reseda, 
Polygala, Viola und viele andere. Andere 
Blumen machen ein mehr oder weniger 
vollſtändiges Hineinkriechen in wagerechte 
oder ſchräg abwärts gehende Röhren noth— 
wendig, wie es allen Bruthöhlen grabenden 
Hymenopteren geläufig iſt, z. B. die Labia⸗ 
ten, Coelanthe (Gentiana), Digitalis, An- 
tirrhinum u. A. Wieder andere erheiſchen 
das Hineinſtecken des Kopfes oder Rüſſels 
in einen engen Eingang von unten her, 
alſo dieſelbe Bewegung, welche die in dürren 
Brombeerſtengeln niſtenden Grabwespen und 
Bienen machen müſſen, wenn die Enden 


dieſer Stengel nach unten hangen, fo z. B. 
Vaccinium, Erica u. A. Alle ſolche Blu- 
men werden überwiegend, in normaler Weiſe 
ſogar faſt ausſchließlich, von höhlengraben— 
den Hymenopteren ausgebeutet und befruchtet, 
offenbar, weil andere Blumenbeſucher die 
dazu erforderlichen Bewegungen nicht zu 
leiſten vermögen. Sie können alſo auch 
erſt zur Ausprägung gelangt ſein, nachdem 
die Entwickelung des Wespenſtammes bis 
zur Ausbildung der Grabwespen fortge— 
ſchritten war. Und wenn auch heute alle 
dieſe Blumen vorwiegend von Bienen be— 
ſucht und befruchtet werden und nicht wenige 
derſelben (z. B. Iris Pseudacorus, Lami- 
um album 
Pedicularis ꝛc.) der Körperform der Hum— 
meln aufs Engſte angepaßt ſind, ſo müſſen 
wir es doch als in hohem Grade wahr— 
ſcheinlich betrachten, daß der Anfang ihrer 
Züchtung bereits von Grabwespen gemacht 
worden iſt, ehe noch eine einzige Biene als 
Mitarbeiterin in der Blumenwerkſtatt er— 


ſchienen war. Denn fo gewiß die Grab 
wespen an Eifer und Tüchtigkeit im Auf⸗ 


ſuchen des Blumenhonigs alle vorhergehen— 
den Wespenfamilien — auch diejenigen der 
Schlupfwespen — und ebenſo alle übrigen 
kurzrüſſeligen Blumenbeſucher weit hinter 


ſich laſſen, ſo gewiß mußte es damals, als 


die Grabwespen an der Spitze der Wespen— 
ausbildung ſtanden, Blumen von entſchei— 
dendem Vortheile ſein, gerade auf ſie eine 


beſondere Anziehungskraft auszuüben. Solche 


Blumenabänderungen, welche zur Gewinn— 
ung ihres Honigs die eine oder andere der 
ſo eben angeführten Bewegungen erforderten 
und dadurch anderen Blumenbeſuchern un— 


bequem oder unzugänglich wurden, hatten 


alſo, da ſie den Grabwespen vorzugsweiſe 
oder allein ihren Honig verwahrten, alle 


Kos mos, Band III. Heft 6. 


Müller, Die Inſekten als 


und viele andere Labiaten, 


Ausſicht, von diefen mit Vorliebe ausgewählt, 


unbewußte Blumenzüchter. 


483 


erfolgreich fortgepflanzt und in ihrer eigen- 
artigen Geſtaltung weiter gezüchtet zu werden. 

In welcher Ausdehnung ſich die Grab— 
wespen beſondere Grabwespenblumen ge— 
züchtet haben, nachdem ſie die Schlupfwespen 
an ihren meiſten Wohnſitzen als Blumen- 
züchter aus dem Felde geſchlagen hatten, 
das läßt ſich heute nicht mehr ermeſſen. 
Bis zu welchem Grade der Unvegelmäßig- 
keit und einſeitigen Anpaſſung aber bereits 
in jener Grabwespenzeit die Blumenzücht— 
ung gelangt ſein mag, davon können wir 
vielleicht eine annähernd richtige Vorſtellung 
gewinnen, wenn wir diejenigen ihren Honig 
verſchließenden oder in einer zum Hinein- 
kriechen einladenden Röhre bergenden Blu— 
menformen ins Auge faſſen, welche noch 
heute von Grabwespen mit Vorliebe be- 
ſucht werden, und welche, wenn es keine 
Bienen gäbe, uns auch ſchon als Anpaſſ— 
ungen an Grabwespen durchaus verſtänd— 
lich ſein würden, wie z. B. Bryonia, Rese- 
da, Melilotus, Thymus, Salvia silvestris, 
Veronica spieata u. dgl. Ob eine oder 
die andere dieſer Blumenformen wirklich ſo 
wie ſie uns heute vorliegt, urſprünglich 
von Grabwespen gezüchtet und ſpäter un- 
verändert in den Mitbeſitz der Bienen über— 
gegangen iſt, dürfte ſich ſchwerlich entſchei— 
den laſſen; aber als wahrſcheinlich muß 
jedenfalls zugeſtanden werden, daß die Zücht— 
ung der Papilionaceen und Labiaten, welche 
durch ihre reiche Verzweigung ein hohes 
Alter bekunden und in ihren einfachſten 
Formen noch jetzt von Grabwespen ſo gut 
wie von Bienen beſucht und befruchtet wer— 
den und beiden gleich gut entſprechen, ſchon 
von den Grabwespen begonnen worden iſt, 
daß alſo die erſten Labiaten und Papilio⸗ 
naceen Grabwespenblumen geweſen 
ſind. Heute giebt es, ſoweit uns bekannt 
iſt, keine einzige Blume mehr, die ausſchließ— 


484 


lich oder auch nur vorwiegend von Grab— 
wespen befruchtet würde. Denn ebenſo wie 
die Grabwespen ihre Stammeltern, die 
Schlupfwespen, an Leiſtungsfähigkeit über— 
holt und aus ihrem entſcheidenden Einfluſſe 
in der Blumenwerkſtatt verdrängt haben, 
ebenſo, nur weit gründlicher, ſind ſie ſelbſt 
von der aus ihnen hervorgegangenen Familie 
der Bienen wenigſtens in Bezug auf Blumen— 
tüchtigkeit überholt und als Blumenzüchter 
faſt unmöglich gemacht worden. Die An— 
nahme der Gewohnheit, als Larvenfutter 
anſtatt lebender Beute Blüthenſtaub und 


wespen zu Stammeltern der Bienenfamilie 
geworden ſind ), hat dieſen Umſchwung mit 
innerer Nothwendigkeit herbeigeführt. Denn 


er vervielfältigte ihr Bedürfniß au Blumen- 


nahrung und lenkte den ganzen Fleiß und 


Honig einzutragen, durch welche gewiſſe Grab 


die ganze Ausdauer, welche von den Stamm 


eltern auf die Auffindung und Ueberwäl— 


tigung lebender Inſekten verwendet worden 
längerung der Zunge gekommen iſt (bei 
folgreiche Ausbeutung des Blüthenſtaubes 


war, auf die Aufſuchung und möglichſt er— 


und Honigs. Daß ſchon der bloße Ueber— 
gang zu der den Bienen eigenthümlichen 
Brutverſorgung dieſe Wirkung gehabt hat, 
verräth ſich in unzweideutigſter Weiſe, wenn 
man Bienen, die noch durchaus auf der 
Organiſationshöhe der Grabwespen ſtehen 
mit Grabwespen in ihrer Thätigkeit auf 
denſelben Blumen vergleicht, z. B. Proso- 
pis und Cerceris-Arten auf Reseda. Es 
zeigt ſich dann deutlich, daß die erſteren 


lich durch die Steigerung des Fleißes und 


) Vergl. H. Müller, Anwendung der 
Darwin'ſchen Lehre auf Bienen. Verhand— 
lung des naturhiſtoriſchen Vereins für die 


| 


mit denſelben Werkzeugen vielmal mehr | 
leiſten als die letzteren — offenbar ledig- 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


der Ausdauer, durch die Concentration ihrer 
ganzen Energie auf das Einſammeln und 
ſorgfältige Unterbringen der Blumennahrung. 
Natürlich aber hat ſich mit jeder Vervollkomm— 
nung ihrer der Gewinnung von Blüthen— 
ſtaub und Honig dienenden Werkzeuge auch 
ihre Leiſtungsfähigkeit noch geſteigert, und 
es mußte ja jede Abänderung, welche eine 
ſolche Vervollkommnung bewirkte, unaus— 
bleiblich durch Naturausleſe erhalten und aus— 
geprägt werden, ſobald einmal die Sicher— 
ſtellung der Nachkommenſchaft einzig und 
allein von der Beſchaffung und ſicheren Berg— 
ung des Blüthenſtaubes und Honigs ab— 
hängig geworden war. Während daher 
bei den Grabwespen, da ſie nur zu ihrer 
eigenen Beköſtigung Blumennahrung und 
zwar meiſt nur Honig benutzen, auch nur 
die Honiggewinnung erleichternde Abänder— 
ungen der Mundtheile einige Ausſicht hatten, 
durch Naturausleſe gezüchtet zu werden, und 
es in der That nur zu einer mäßigen Ver— 


Ammophila sabulosa bis zu 4, bei Bem— 
bex rostrata bis zu 7 Millimeter), mußte 
dagegen bei den Bienen jede Vervollkomm— 
nung ſowohl der Pollen- als der Honiggewinn⸗ 
ung in dem durch die lebhafteſte Concurrenz 
geſteigerten Wettkampfe um das Daſein in 
erſter Linie entſcheidend werden; und ein 
Heer mannigfachſter Abſtufungen, von der 
kurzen ſtumpfen Grabwespenzunge der Pro— 
sopis bis zu dem enorm verlängerten com— 
plicirten Saugrohre der ſchwebend ſaugen— 
den Eugloſſen und von der nackten Chitin— 
haut vieler Grabwespen bis zu dem dichten 
Federhaar-Kleide, den ausgeprägten Schienen— 
bürſten und Sammelkörbchen der Hummeln, 
legt noch heute Zeugniß ab von dem außer— 


ordentlich fruchtbaren Felde, das ſich in der 


preußiſchen Rheinlande und Weſtphalen 1872 
Wirkung der Naturzüchtung dargeboten hat. 


S. 1—96. 


3 


Familie der Bienen der vervollkommnenden 


485 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Dieſe außerordentliche Steigerung der von Bienen nach Blumennahrung abgeſtreift 
Blumentüchtigkeit ward nicht nur den Bienen, würden, während ja Schlupfwespen ſchattige 
die fie erlangten, von entſcheidendem Vortheil, Wälder und Gebüſche vor ihren ſonnnelie— 
ſie konnte nicht verfehlen, dieſelben alsbald benden Epigonen voraus haben. 
auch zu den den Pflanzen nützlichſten Blumen— Nur eine einzige Eigenthümlichkeit der 
beſuchern und damit zu den wirkſamſten Grabwespen würde überhaupt, ſoweit wir 
Blumenzüchtern zu machen. Schon ihre viel die Sachlage überblicken können, im Stande 
größere Emſigkeit und Ausdauer mußte da- ſein, ihnen den Alleinbeſitz gewiſſer Blumen 
hin wirken. Ueberdies aber wurde auch der zu ſichern, die Gefürchtetheit ihres 
den ganzen Bienenleib umkleidende Wald von Stachels, und es empfiehlt ſich, auch die 
gefiederten Haaren, der ſich zunächſt zu ihrem möglichen Wirkungen dieſer Eigenthümlich— 
eigenen Vortheile, eine müheloſe Steigerung keit erſt noch in Betracht zu ziehen, ehe wir 
der Pollenernte bewirkend, ausgebildet hatte, | uns zu den höchſten Blumenleiſtungen des 
auch für die Kreuzung der Pflanzen von Wespenſtammes, den Züchtungsprodukten der 
hervorragender Bedeutung, da er viel leich- Bienen, wenden. Delpino ſah Asclepias 
ter, als die nackte oder ſpärlich mit einfachen syriaca, welche auch bei uns häufig in Gärten 
Haaren bekleidete Körperoberfläche der Grab- cultivirt und da von Bienen, Wespen und 
wespen Pollen in ſich aufnimmt und an die Fliegen beſucht wird, bei Florenz beſonders 
Narben anderer Blüthen abſetzt. Selbſt das häufig von den großen, gewaltig ſtechenden 
gefliſſentliche und maſſenhafte Polleneinfam- Grabwespen Scolia hortorum und bicincta, 
meln der Bienen hört auf, eine Schädigung daneben nur von der Honigbiene und der 
der Pflanze zu ſein, ſobald die Kreuzung italieniſchen Hummel beſucht. Es unterliegt 
derſelben durch regelmäßiges Berührtwerden wohl kaum einem Zweifel, daß eine Stei— 
ihrer Narben von dem pollenbehafteten Haar— | gerung des Scolia-Bejuchs auch die beiden ein— 
kleide der beſuchenden Bienen geſichert ift, und zigen ſonſtigen Beſucher noch verſcheuchen 
der Akt des Pollenplünderns ſelbſt dient oft und Asel. syriaca an gewiſſen Localitäten 
gleichzeitig der Pflanze als wirkſamſte Kreuz- zur reinen Grabwespenblume machen könnte, 
ungsvermittlung, wie z. B. wenn Megachile | während fie in anderen, an gefürchteten Grab— 
lagopoda mit ihrer Bauchbürſte von den wespen ärmeren Gegenden einem gemiſchten 
Blüthenkörbchen von Cirsium eriophorum Beſucherkreiſe ausgeſetzt bleiben würde. 
oder Onopordon Acanthium den Pollen zu- Ein ganz ähnlicher Fall wie dieſer in 
ſammenfegt, oder wenn Hummeln an Königs- Bezug auf die Grabwespen als möglich hin— 
kerzen (Verbascum) von Blüthe zu Blüthe lie- geſtellte hat ſich in Bezug auf die eigent- 
gen und von den Staubgefäßen den Pollen indie lichen Wespen (Vespa) mehrfach verwirklicht. 
Sammelkörbchen ihrer Hinterſchienen ftreifen. | Serophularia und Symphoricarpus näm— 
Es iſt daher leicht begreiflich, daß von lich beſitzen beide ſo weitmündige Blumen— 
den Bienen die Grabwespen als Blumen- glöckchen, daß ein Wespenkopf ſehr bequem 
züchter vollſtändig aus dem Felde geſchlagen in dieſelben geſtreckt werden kann, und dabei 
worden ſind, noch vollſtändiger als von dieſen ſo reichliche Honigabſonderung, daß ſich die 
ihrer Zeit die Schlupfwespen, und zwar ſtürmiſchen, zum emſigen Sammeln kleiner 
deshalb noch vollſtändiger, weil es keine Honigtröpfchen durchaus nicht geneigten Wes— 
Grabwespenwohnplätze giebt, die nicht auch | pen zu dieſer lohnenden Ausbeute ganz be- 


486 Müller, Die Inſekten als 


ſonders hingezogen fühlen und durch ihren 
häufigen Beſuch nicht ſelten die übrigen In— 
ſekten (Bienen und Grabwespen), denen der 
Honig ebenfalls zugänglich wäre, zurück— 
ſcheuchen. In wespenreichen Gegenden (3. B. 
bei Mühlberg in Thüringen) werden daher 
beide fo überwiegend von Vespa- und Po- 
listes-Arten beſucht, daß fie durchaus den 
Namen Wespenblumen verdienen. In 
wespenärmeren Gegenden (z. B. bei Lipp— 
ſtadt) herrſchen an Symphoricarpus als 
Blumengäſte und Kreuzungsvermittler ganz 
entſchieden die Bienen vor, während Sexo— 
phularia ſelbſt hier ganz überwiegend von 
Wespen beſucht wird. Es liegt daher die 
Vermuthung nahe, daß die von allen Bienen— 
blumen abweichende ſchmutzigbraune Farbe, 
kuglige Form, weite Eingangsöffnung und 
vielleicht auch die reichliche Honigſpende der 
Serophularia-Blüthen von den Wespen ſelbſt, 
denen ſie ſo ſehr gefallen, gezüchtet worden ſind. 


Dieſe Vermuthung gewinnt noch ſehr bedeu- 


tend an Wahrſcheinlichkeit, wenn wir ſehen, daß 
auch Epipactis latifolia, die bis jetzt ganz 
ausſchließlich von Wespen beſucht gefunden 
wurde ), dieſelben Liebhabereien ihrer Züchter 
bekundet, indem ſie in der ebenfalls dunkel— 


gefärbten, ebenfalls weit geöffneten halb- 


kugeligen Schale der Unterlippe ebenfalls reich— 
lichen Honig abſondert. 

Wenn es hiernach den ächten Wespen 
wirklich gelungen iſt, durch die Gefürchtetheit 
ihres Stachels (denn nur ſaus dieſer Urſache 


läßt ſich das Zurückbleiben der übrigen Gäfte | 
erklären) ſich in den Alleinbeſitz gewiſſer 


Blumen zu ſetzen und dieſelben, ihren be— 
ſonderen Neigungen entſprechend, in eigen— 


7 Siehe Darwin ss Orchideenwerk. 


3 


unbewußte Blumenzüchter. 


nur in wärmeren, an gefürchteten Grab— 
wespen reicheren Gegenden wird nach den— 
ſelben zu ſuchen ſein. 

Alle bisher betrachteten Hymenopteren— 
familien zuſammen genommen haben der 
heutigen Blumenwelt, wie ſich uns gezeigt 
hat, nur ſehr vereinzelte Proben ihrer blumen— 
züchtenden Thätigkeit hinterlaſſen, obwohl 
zwei derſelben, die Schlupfwespen und die 
Grabwespen, wahrſcheinlich ihrer Zeit in um— 
faſſender Weiſe als Blumenzüchter gewirkt 
haben. So vollſtändig ſind die Bienen erſt 
in den Mitbeſitz ihrer Züchtungsprodukte 
getreten und haben dieſelben ſodann, in dem 
Grade als die ſtufenweiſe Vervollkommnung 
ihrer Organiſation und Blumeneinſicht ſie 
dazu befähigte, ihren eigenen Neigungen 
und Bedürfniſſen entſprechend weiter ge— 
züchtet! In Folge der großen Verſchie— 
denheit ſowohl der Ausgangspunkte der Zücht— 
ung als der Züchter ſelbſt ſind die Züchtungs— 
produkte der Bienen, die Bienenblumen, 
ſo außerordentlich mannigfaltig, daß wir uns 
hier darauf beſchränken müſſen, an allbe— 
kannten Beiſpielen der heimiſchen Flora einige 
derjenigen Blumengebilde anzudeuten, durch 
deren Züchtung es den Bienen überhaupt, 
oder den langrüſſeligeren oder langrüſſeligſten 
Arten derſelben insbeſondere, gelungen iſt, 
die übrigen Blumenbeſucher vom Genuſſe 
des Honigs, bisweilen auch des Blüthen— 
ſtaubes, abzuhalten und dennoch für ſich ſelbſt 
jede Verzögerung, welche die ſorfältige Berg— 
ung dieſer Genußmittel ihnen verurſachen 
könnte, nach Möglichkeit zu erſparen. 

Bei Schneeglöckchen, Spargel, Maiblüm— 


chen iſt es einfach die nach unten gekehrte 
thümlicher Weiſe weiter zu züchten, ſo dürfen 
wir gewiß die Möglichkeit nicht bezweifeln, 
daß auch heute noch gewiſſe Blumen als 
Grabwespenblumen beſtehen können. Aber 


Stellung der Blumenglocken, welche alle In— 
ſekten außer den höhlengrabenden Hymenop— 
teren vom Beſuche der Blumen zurückhält. 


Thatſächlich wurden nur Bienen an ihnen be— 
obachtet. Bei Convallaria multiflora hat ſich 


“Änjn U¹âL;:ũʃñ Ü — Y ˙—Ü nn nn 2 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenz üchter. 


durch bloße Verlängerung der Blumenröhre 
der Beſucherkreis auf die langrüſſeligſten 
Hummeln beſchränkt. 

In der Familie der Ranunculaceen 
haben ſich bei Eranthis und Helleborus die 
Bienen aus der Mannigfaltigkeit von Nek— 
tarienformen, die uns bei Ranunculus pyre- 
naeus (Fig 5.) entgegentrat, die ihnen am 
beſten paſſende Täſchchen- und Schlauchform 
als conſtante Eigenthümlichkeit gezüchtet; bei 
Nigella ſind ſogar mit Deckel verſchloſſene 
Honigbehälter erzielt worden, zu deren Oeff— 
nung und Entleerung alle Nicht-Bienen zu 
dumm ſind. Endlich liefern uns die allbe— 
kannten Blumen von Aklei (Aquilegia), Rit⸗ 
terſporn (Delphinium) und Eiſenhut (Aco- 
nitum) bewundernswerthe Belege dafür, was 
ſo eifrige und einſichtige Blumenzüchter wie 
die Hummeln ſelbſt aus Ranunculus-Blüthen 
zu machen wiſſen. Und wie ſehr die Pflan— 
zen ſelbſt dabei gewonnen haben, daß ihre 
Blumen die begünſtigten Lieblinge der lang— 
rüſſeligſten Hummeln geworden, und von 
dieſen, wenigſtens was den Honig anbetrifft, 


daß die meiſten derſelben ſelbſt die Mög— 


lichkeit der Selbſtbefruchtung verloren haben,?) 


während alle einem weiteren Beſucherkreiſe 
zugänglichen Ranunculaceen dieſelbe als Noth— 


entbehren können. 
Bei den Papilionaceen iſt es das 
enge Zuſammenſchließen und zum Theil Ver— 


die nur den höhlengrabenden Wespen eigenen 


) Durch ausgeprägte Proterandrie, welche 
natürlich unabhängig von der Blumenauswahl 
der Hummeln, durch Naturzüchtung, zu den 
von den Hummeln gezüchteten Merkmalen hin— 


zugetreten iſt. 


487 


Bewegungen erheiſcht, wenn es auch den 
dünnen Schmetterlingsrüſſeln nicht ſelten ge— 
lingt, in den ſo ſorglich verwahrten Blüthen— 
grund einzudringen und von dem dort auf— 
geſpeicherten Honig zu naſchen. Auf den 
ſeitlichen Blumenblättern (Flügeln) mit den 
Beinen ſich feſthaltend, müſſen nämlich die 
Grabwespen oder Bienen ihren Kopf unter 
die Fahne zwängen (gerade ſo wie ſie es 
beim Eindringen in eine enge Oeffnung zu 
thun gewohnt ſind, die ſie zur geräumigeren 
Höhle erweitern wollen), um mit der Rüſſel— 
oder Zungenſpitze eines der beiden Honig— 
löcher zu erreichen. Und da dieſe Blumen— 
eigenthümlichkeit unmittelbar nur ihnen ſelbſt 
zu gute kommt, ſo unterliegt es keinem Zweifel, 
daß ſie ſich dieſelbe auch ſelbſt gezüchtet haben 
— durch Bevorzugung derjenigen Blumen— 
abänderungen, die ihnen allein den Honig 
verwahrten. Gleichzeitig aber mit dieſer durch 
die Grabwespen oder Bienen gezüchteten 


Eigenthümlichkeit müſſen ſich durch von ihrer 


Wahl unabhängige Naturausleſe jene weiteren 


Eigenthümlichkeiten der Schmetterlingsblüthen 
zu ihrem ausſchließlichen Gebrauche ge⸗ 
züchtet worden ſind, beweiſt die Thatſache, 


ausgeprägt haben, welche die in der beſchrie— 
benen Weiſe arbeitenden Gäſte erſt zu regel— 
mäßigen Kreuzungsvermittlern machen: die 
Verwachſung der beiden unteren Blumen- 


| blätter zu einem Staubgefäße und Stempel 
umſchließenden Schiffchen, das Hervorragen 
behelf bei ausbleibendem Inſektenbeſuche nicht 


der Narbe über die Staubgefäße und die 
Vereinigung der Flügel mit dem Schiffchen 
zu gemeinſamer Bewegung. Denn ohne dieſe 


würden auch jene erſteren Bildungen der 
wachſen der Blüthentheile, welches, wenig- 
ſtens zu voller Ausbeutung der Genußmittel, 


Pflanze nutzlos, würde es alſo den bethei— 
ligten Juſekten unmöglich geweſen ſein, ſich 
dieſelben zu züchten. 

Wenn unſere Vermuthung richtig iſt, daß 
die erſten und einfachſten Papilionaceen, 
etwa bis zur Organiſationshöhe von Meli- 
lotus, Grabwespenblumen waren, ſo unter— 
liegt es keinem Zweifel, daß ebenſo wie ihre 


488 


ſorgfältige, eine Grabwespenarbeit nöthig 
machende Bergung des Honigs ausſchließlich 
der Blumenauswahl der Grabwespen, ihr 
Beſtäubungsmechanismus ausſchließlich der 
von der Wahl derſelben unabhängigen Natur- 
züchtung ſeine Ausprägung verdankt, da ja 
Grabwespen von dem Blüthenſtaub, der 
etwa an ihnen haften bleibt, keinen Gebrauch 
machen. Im ſpäteren Verlaufe der Blumen— 
entwickelung aber, nachdem die Bienen in 
den Mitbeſitz der Papilionaceen-Blumen ein— 
getreten waren und von den meiſten derſel— 
ben, durch die von ihnen gezüchtete Ver— 
längerung der zuſammenſchließenden Theile, 
ſogar die Grabwespen ausgeſchloſſen hatten, 
iſt bei der Ausprägung der complicirten Be— 
ſtäubungsmechanismen (der Nudelpumpen— 
einrichtung wie ſie Lotus, der Pollen her— 
ausfegenden Bürſten, wie ſie Lathyrus, 
Vicia, Phaseolus, der losſchnellenden Me— 
chanismen, wie fie Genista und Sarotham- 
nus darbieten) die Blumenauswahl der Pollen 
ſammelnden Bienen eben ſo ſehr als die von 
ihrer Wahl unabhängige Naturzüchtung be— 
theiligt geweſen. 

Wie bei den Papilionaceen das enge An— 
einanderſchließen den Honig verdeckender Blü— 
thentheile, ſo iſt bei den Labiaten das 
Verſchmelzen der Blumenblätter zu einer 
wagerechten oder (vom Eingange aus betrach— 
tet) ſchräg abwärts gehenden Höhle von den 


höhlengrabenden Hymenopteren (Grabwespen 
und Bienen) zur Züchtung ihnen allein zu- 
gänglicher Blumenformen benutzt worden. 
Auch hier ſind die einfachſten Formen (3. B. 


Mentha) nicht nur allen Bienen ohne Aus— 


nahme, ſondern auch noch den Grabwespen 
paßt nicht nur als Wetterdach für die unter 


zugänglich. Von dieſen aus führen aber 
verſchiedene Stufenreihen immer höher, bis 
endlich zu den ausgeprägteſten Hummelblu— 


men, die ihren reichen Honigvorrath ebenſo 


allen Nicht-Hummeln unzugänglich, als allen 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter— 


oder auch nur den langrüſſeligeren Hummeln 
(einſchließlich natürlich Anthophora) leicht 
und ohne Zeitverluſt gewinnbar bergen. Was 
für mannigfache Ausrüſtungen zuſammen— 
kommen müſſen, ehe dieſes Reſultat und 
zugleich unausbleibliche Kreuzung bei ein— 
tretendem Hummelbeſuch erreicht iſt, werden 
wir uns am zweckmäßigſten an dem den 
ganzen Sommer hindurch der Beobachtung 
eines Jeden leicht zugänglichen Lamium 
album deutlich zu machen ſuchen, deſſen 
natürliche Befruchtung ich bereits vor einigen 
Jahren in der Bienenzeitung (1875 Nr. 8 u. 
9) mit folgenden Worten geſchildert habe: 

„Durch die weiße Farbe von weitem 
nach den Taubeneſſelblüthen hingelenkt, flie— 
gen die Hummeln ohne Verzug nach dem 
dunkler erſcheinenden Eingange einer Blüthe 
hin, und zwar ſofort in der zur Honigge— 
winnung paſſendſten Stellung, da ihnen die— 
ſelbe durch die als bequeme Anflugfläche ſich 
darbietende Unterlippe vorgezeichnet wird; 
fie ſtecken ſogleich im Anfluge den Kopf 


zwiſchen den beiden breiten Seitenlappen des 


in Form und Weite ihnen gerade entſprechenden 
Blütheneinganges hinein, indem zugleich die 
Vorderbeine auf der Baſis der Unterlippe 
vorrücken und Mittel- und Hinterbeine ſich 
an den beiden Lappen der Unterlippe feſt— 
halten, und gelangen fo. mit ihrem Rüſſel 


unmittelbar in den honigführenden Grund 


der etwa 10—11 mm langen Blumenröhre. 
Während ſie nun ſaugen, füllt ihre Bruſt, 
bei kleineren Arbeitern auch noch der 
Bauch, den Zwiſchenraum zwiſchen Oberlippe 
und Unterlippe gerade aus, und die rings— 
um abwärts gewölbte Form der erſteren 


ihr liegenden Geſchlechtstheile, ſondern auch 
zum Umſchließen des Hummelleibes ſo vor— 
trefflich, daß die Oberſeite deſſelben gegen 
die Narbe und gegen die geöffnete Seite der 


Staubbeutel gedrückt bleibt. Durch die be— 
queme Anflugsfläche, durch die dem Hummel— 
kopfe entſprechende Form und Weite des 
Blumeneinganges und durch die der Hummel— 
rüſſellänge entſprechende Länge der honig— 
führenden Blumenröhre wird alſo den Hum— 
meln ein raſches und erfolgreiches Honigge— 
winnen ermöglicht; dies iſt aber den Pflanzen 
ſelbſt von größtem Vortheile, da es zugleich 
ein eben ſo raſches und erfolgreiches Fremd— 
beſtäuben der Blüthen mit ſich bringt. Unter 
dem gewölbten Wetterdache der Oberlippe 
liegen nämlich, mit der pollenbedeckten Seite 
nach unten gekehrt, die vier Staubgefäße, 
und zwiſchen ihnen ragt der eine Aſt des 
am Ende zweitheiligen Griffels nach unten 
hervor. Die Spitze dieſes hervorragenden 
Griffelaſtes iſt es, welche Blüthenſtaubkörner 
empfangen muß, wenn die Befruchtung ein— 
geleitet werden ſoll; ſie iſt es aber auch zu— 
gleich, welche von dem Rücken anfliegender 
Hummeln regelmäßig zuerſt berührt, und 
daher mit dem Pollen früher beſuchter Blumen 
behaftet wird. Denn da der Hummelleib 
den Zwiſchenraum zwiſchen Ober- und Unter— 


lippe gerade ausfüllt, wird ſein Rücken in 
jeder Blüthe gegen die pollenbehaftete Unter- 


ſeite der Staubgefäße gedrückt, und zahlreiche 
Pollenkörner bleiben daher in dem dichten 


Haarwalde des Nückens haften; da aber bei 


jedem Hummelbeſuche die hervorragende Spitze 
des abwärts gebogenen Griffelaſtes früher 
mit dem Hummelrücken in Berührung kommt 
als die Staubgefäße, ſo wird dieſe als Narbe 


dienende Spitze in jeder Blüthe (natürlich 


mit Ausnahme der zuerſt beſuchten) ſtets 
mit Blüthenſtaub vorherbeſuchter Blüthen 
befruchtet; es wird alſo durch die Hummeln 
regelmäßig die für die Erzeugung zahl— 
reicher und entwicklungsfähiger Samenkörner 
weſentliche Fremdbeſtäubung bewirkt. 
Hiermit ſind indeß die merkwürdigen 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


489 


Anpaſſungen der Taubeneſſelblüthe an die 
Hummeln noch nicht erſchöpft. Es würde 
nämlich ja zur Sicherung regelmäßigen Hum⸗ 
melbeſuches und regelmäßiger Fremdbeſtäub— 
ung durch denſelben durchaus nicht genügen, 
daß die Hummeln den honigreichen Blüthen— 
grund raſch und bequem erreichen können, 
ſie müſſen vielmehr auch wirklich Honig in 
demſelben finden, wenn ſie ſich zu wiederhol— 
ten Beſuchen veranlaßt fühlen ſollen. Alle bis— 
her erörterten ſchönen Anpaſſungen der Taube— 
neſſelblüthen an die Hummeln würden daher 
der Pflanze wenig nützen, wenn auch die zahl— 
loſe Schaar kleinerer blumenbeſuchender Inſek— 
ten, deren Körper den Zwiſchenraum zwiſchen 
Ober- und Unterlippe bei weitem nicht ausfüllt, 
und welche daher zur Bewirkung regelmäßiger 
Fremdbeſtäubung der Taubeneſſel ungeeignet 
ſind, den Honig derſelben erlangen könnten; 
denn dann würden die Hummeln die Taube— 
neſſelblüthen faſt ſtets ſchon ihres Honigs 
entleert finden und ſehr bald die ihnen nutz— 
loſe Arbeit aufgeben. Der Ausſchluß der 
ungebetenen Gäſte wird nun durch zweierlei 
Einrichtungen thatſächlich bewirkt, nämlich 
1) werden die größeren derſelben, welche 
zwar zu klein ſind, um als Befruchter der 
Taubeneſſeln dienen zu können, aber doch zu 
groß, um ganz in ihre Blumenröhre hinein— 
zukriechen, wie z. B. die Honigbiene und 
zahlreiche Fliegen, durch die (etwa 7 mm 
betragende) Länge des ſenkrecht aufſteigenden 
Theils der Blumenröhre verhindert, mit 
ihrem Rüſſel bis zum Honige zu gelangen. 
Die Honigbiene z. B. hat einen nur 6 mm 
langen Rüſſel; ſie würde alſo, ſelbſt wenn 
ſie den Kopf noch ein Stück in den ſenk— 
rechten Theil der Blumenröhre hineinſteckte, 
den Honig nicht erreichen können, da derſelbe 
nur in dem unterſten, vom Stengel ſchräg 
abſtehenden 3—3'/; mm langen, engeren 
Stücke der Röhre enthalten iſt; 2) aber 


+ 


490 


werden alle noch kleineren ungebetenen Gäſte, 
welche mit Leichtigkeit ganz und gar in die 
Blumenröhre hineinkriechen können, wie z. B. 
die Ameiſen, durch einen dichten Ring nach 
oben zuſammenneigender Haare, welcher den 
unterſten honigführenden Theil der Röhre 
überdeckt, verhindert, bis zum Honige zu 
gelangen.“ Nach ſo ausführlicher Darlegung 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


der Bedeutung aller einzelnen Stücke bedarf 


es keines beſonderen Hinweiſes mehr, welche 
derſelben durch die Blumenauswahl der 
Hummeln, welche durch die von ihrer Wahl 
unabhängige Naturzüchtung und welche durch 
die combinirte Wirkung beider Züchtungen 
zur Ausprägung gelangt ſind. 


Fig. 11— 13. Ausbildung regelmäßiger Bienenblumen in der Familie der 
Ericaceen. 


Fig. 11. 


Azalea procumbens. 


A Blüthe von oben geſehen. Vergr. 7: 1. B, C Die Staub- 


gefäße, mit 4 der Blüthenmitte zugekehrten Längsriſſen aufſpringend, etwas ſtärker vergrößert. 


Fig. 12. 


Vaccinium Vitis idaea. A Blüthe im Längsdurchſchitte. Vergr. 5: 1. B Staub⸗ 
gefäß, von innen geſehen. Vergr. 7: 1. 


C Daſſelbe von der Außenſeite. 


Fig. 13. Arctostaphylos uva ursi. 
B Dieſelbe, gerade von unten geſehen. 
Berar. 7 El. 


A Blüthe von der Seite geſehen. 
( Diejelbe, kurz vor dem Aufblühen, im Aufriß. 
D Staubgefäß von der Seite geſehen. 
bedeutet: s Kelchblätter, p Blumenblätter, a Staubgefäße, ov Fruchtknoten, st Narbe, 
n Nektarium. 


Vergr. 3: 1. 


Vergr. 15: 1. — In allen Figuren 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


Während bei Papilionaceen und Labiaten 
die Anpaſſungen an höhlengrabende Hyme— 
nopteren von den gemeinſamen Stammeltern 
ererbt und nur der ſtufenweiſen Vervollkomm— 
nung derſelben entſprechend weiter gezüchtet 
worden find, laſſen uns dagegen andere Fa— 
milien in ihren jetzt lebenden Gliedern noch 
den ganzen Abſtand der Organiſationshöhe 
zwiſchen urſprünglichen, allgemein zugäng- 
lichen und neueren, der ausſchließlichen Aus— 
nutzung und Kreuzungsvermittlung durch 
Bienen angepaßten Blumenformen erkennen. 
So ſtellt uns z. B. in der Familie der 
Ericaceen Azalea procumbens eine ur- 
ſprüngliche, allgemein zugängliche, Vacci— 
nium Vitis idaea (Preißelbeere) eine von den 
Bienen bereits erfolgreich in Züchtung ge— 
nommene, aber auch manchen anderen Blumen— 
gäſten noch zugängliche, Aretostaphylos uva 
ursi (Bärentraube) endlich eine vollendete 
Bienenblume dar. 


In der That find die roſenfarbigen Blüth- | 
chen, mit denen die auf den kahlen Hoch- 


jochen der Alpen in zuſammenhängenden 
Flächen dem Boden dicht angedrückte Azalea 
procumbens ſich ſchmückt, ſo einfach, offen 
und regelmäßig (Fig. 11. A) ihre Staub⸗ 


gefäße (8 C) noch jo wenig differenzirt, 


ſelbſt die Zahl ihrer Blüthentheile ſo wenig 


conſtant (ſtatt 5 nicht ſelten 6 in jedem Kreiſe), 
daß ſie in jeder Beziehung den Eindruck 


einer urſprünglichen Blumenform macht, die 
ſich über die gemeinſamen Stammeltern der 
Ericaceenfamilie nur wenig erhoben haben 
kann. 
liegenden Honigs, der von einem die Baſis 
des Fruchtknotens umſchließenden Ringe (n 
Fig. A) abgeſondert wird, fand ich — in 


Meereshöhen von 22— 2800 Meter — bald 


Fliegen (Musciden und Syrphiden, z. B. 
Cheilosia), bald Schmetterlinge (z. B. Lycae- 
na orbitulus Esp., Melitaea dietynna 


—— ̃ —— ean sn 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


Mit dem Genuſſe ihres völlig offen 


491 


Esp. und asteria Frr., Erebia tyndarus 
Esp., Argynnis pales S. V.), bald Hummeln 
(Bombus terrestris L. und lapponicus F.) 
beſchäftigt. 

Wie weit fortgeſchritten erſcheint dagegen 
Vaccinium Vitis idaea (Fig 12). Ihre 
Blumenblätter haben ſich zu einer ſchräg 
abwärts geneigten, wenn auch noch weit ge— 
öffneten Glocke zuſammengeſchloſſen, offenbar 
gezüchtet durch die Blumenausleſe der Bienen 
die dadurch in den vorwiegenden Beſitz des 
Preißelbeeren-Honigs gelangt ſind. Ihre 
Staubbeutel haben ſich dicht um den die 
Achſe der Glocke bildenden Griffel herum 
zuſammengelegt und in Röhren verlängert, 
aus denen bei jedem Anſtoße ein Theil der 
loſen glatten Vierlingsſporen herausfällt, 
offenbar in Folge einer von der Wahl der 
Inſekten unabhängigen Naturzüchtung, da 
durch dieſe Bildungen nur bewirkt wird, daß 
die mit ihrem Rüſſel zum Honige vordrin⸗ 
genden Bienen ſich Blüthenſtaub auf den 
Kopf ſtreuen und ihn in der nächſtbeſuchten 
Blüthe auf der Narbe abſetzen, alſo vegel- 
müßig Kreuzung vermitteln. 

Und doch iſt auch Vaccinium Vitis 
idaea noch auf halbem Wege ſtehen geblieben. 
Denn ihre nicht ſenkrecht, ſondern nur ſchräg 
abwärts ſtehenden, weit geöffneten Glocken 
ſind noch manchen nutzloſen Gäſten zugäng— 
lich, wie z. B. gewiſſen Schwebfliegen (Eri- 
stalis, Rhingia) die, wenn ſie auch nicht 
zum Honige gelangen, doch ſchon durch das 
Hinweglecken der Narbenfeuchtigkeit und durch 
das Betupfen und Verſchieben der Antheren 
die Befruchtungsarbeit der Bienen ſtören. 
Vollendete Bienenblumen bietet dagegen die 
Bärentraube (Arbutus uva ursi L.) dar. 
Ihre weite, ſenkrecht abwärts gerichtete Blu— 
menglocke (Fig. 13.) ſchnürt ſich nach unten 
hin mehr und mehr zuſammen und geſtattet 
bloß denjenigen Inſekten den Zutritt zu 


63 


492 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


ihrem reichen Honigvorrath, die ſich von 
unten an die kleinen, wagerecht ausgebreiteten 
Perigonzipfel feſtzuklammern und einen langen 
Rüſſel in die kreisrunde Oeffnung (Fig. 13 
B) hineinzuſchieben vermögen. Nur aus— 
geprägte Bienen ſind dazu im Stande, nur 
ſie können alſo auch dieſe ihnen den Allein— 
beſitz des Bärentraubenhonigs ſichernden 
Eigenthümlichkeiten ſich gezüchtet haben. In 
der That fand ich (im Heuthale am Ber— 
nina, Auguſt 1877) die Blüthen der Bären— 
traube ganz ausſchließlich von Hummeln (B. 
alticola Kr. und B. lapponicus F.) be— 
ſucht. Aber auch hier hat, von der Aus— 
wahl der beſeelten Blumenzüchter unabhängig, 
Naturzüchtung Eigenſchaften hinzugefügt, 
welche die erfolgreiche eigennützige Thätig— 
keit derſelben zu einer durch regelmäßige 
Kreuzungsvermittlung für die Pflanze ſelbſt 
entſcheidend vortheilhaften machen. Die 
Narbe (st, Fig. 13. C) bleibt nämlich in der 
Blumenglocke eingeſchloſſen, rückt aber doch 
ſo nahe der kleinen Oeffnung derſelben, daß 
ſie von dem eindringenden Hummelrüſſel un— 
fehlbar geſtreift und, wenn derſelbe mit Pollen 
beſtreut iſt, mit dieſem behaftet werden 
muß. Aber auch das Behaften des zum 
Honige vordringenden Hummelrüſſels mit 
Pollen iſt noch mehr als bei der zuletzt be— 
trachteten Art unausbleiblich geworden. Denn 
die Staubbeutel ſind zwar, ebenſo wie bei 
der Preißelbeere, mit nach unten gerichteten 
Oeffnungen um den Griffel herum zuſammen— 
gedrängt, aber die ſie tragenden Staubfäden 


haben durch Dünnbleiben der Baſis und Spitze 
und Verdickung ihres mittleren Theils (ſiehe 


Fig. 13. D) ſo an Elaſticität gewonnen, 
daß ſie zwar leicht aus ihrer Lage gebracht 
werden können, aber auch ſicher, unter Aus— 
ſtreuung eines Theils ihres Pollens, in die— 
ſelbe zurückſchnellen. Und da an jedem Staub— 


gefäße, ſtatt der beiden Röhren bei der 


Preißelbeere, zwei lange, umgebogene, mit 
rauhen Vorſprüngen beſetzte Schwänze durch 
den Bauch der Glocke gegen deren Wandung 
hin ſich erſtrecken, ſo iſt es dem Hummel— 
rüſſel unmöglich, von der kleinen Oeffnung 
aus durch die Glocke hindurch zum Nektarium 
vorzudringen, ohne wenigſtens an einen der 
20 Schwanzanhänge anzuſtoßen und ſich mit 
Pollen zu beſtreuen, der dann in der nächſt— 
beſuchten Blüthe an die Narbe gelangt. Auch 
dieſer anſcheinend ſo unfehlbar ſicher wirkende 
Beſtäubungsmechanismus iſt indeß weit ent— 
fernt, vollkommen zu ſein. Denn ich fand 
zahlreiche Blumenglocken der Bärentraube 
von zwei Oeffnungen durchbrochen, die offen— 
bar von dem Biſſe einer Hummel herrührten. 
Vermuthlich iſt Bombus mastrucatus Gerst. 
der Uebelthäter, welche Art ich in den Alpen, 
noch weit häufiger als in der Ebene B. terres- 
tris, Honig durch Einbruch gewinnen ſah. 

In dem ſoeben beſprochenen Falle, 
ebenſo wie bei Vaccinium Myrtilus, Erica 
tetralix, Symphoricarpus und überhaupt 
bei allen Grabwespen-, Wespen- und Bie— 
nenblumen mit nach unten gerichteten Blu— 
menglocken, aber auch faſt nur bei dieſen, 
hat ſich die Ausſchließung der übrigen Gäſte 
und die immer engere Anpaſſung an die 
höhlengrabenden Kreuzungsvermittler mit 
voller Beibehaltung der Regelmäßigkeit der 
Blumenform vollzogen. In allen Fällen 
dagegen, in welchen von den Grabwespen 
oder Bienen eng aneinander ſchließende Blü— 
thentheile oder ein Hineinkriechen erfordernde 
Höhlen zur Züchtung ihnen allein gehöriger 
Blumen benutzt worden ſind, haben dieſe 
die Regelmäßigkeit eingebüßt und find bi- 
lateral ſymmetriſch geworden, wie z. B. Pa— 
pilionaceen und Labiaten, oder ſelbſt völlig 
unregelmäßig, wie z. B. in der Familie der 
Scrophulariaceen einige Pedicularis-Arten. 
Es iſt überhaupt in der geſammten ein— 


— u 


u 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


heimiſchen Flora wohl kaum eine andere 
Pflanzenfamilie geeigneter, die Leiſtungen 
der Bienen als Blumenzüchter in ein helles 
Licht zu ſtellen, als diejenige der Scro— 
phulariaceen. Denn während uns einerſeits 
die Verbascum- und Veronica - Arten 
(ſiehe Fig. 14.) auf die einfache, offene, 
regelmäßige Blumenform der Stammeltern 


Fig. 14. Veronica urticaefolia. 


Vergr. 7: 1. 


493 


hinweiſen, von welcher ſie ſelbſt noch ſo 
wenig ſich entfernt haben, bieten uns ander— 
ſeits die Gattungen Digitalis, Antirrhinum, 
Linaria, Euphrasia, Melampyrum, Bartsia, 
Rhinanthus, und Pedicularis eine Man- 
nigfaltigkeit von eigenartigen Züchtungs— 
produkten der Bienen dar, die zum Theil 
zu erſtaunlicher Einſeitigkeit der Anpaſſung 


A Blüthe gerade von vorn geſehen. Der 


Griffel erſcheint ſehr verkürzt. B Dieſelbe nach Hinwegſchneidung der vorderen Hälfte des 
Kelches und der Blumenkrone von der Seite, um den Griffel in ſeiner ganzen Länge und 
natürlichen Stellung zu zeigen. b 


Fig. 15. Pedicularis asplenifolia. A Blüthe von der linken Seite geſehen. Vergr. 3 1. 
Der Pfeil bezeichnet die Richtung, in welcher der Hummelrüſſel eindringt. B Dieſelbe Blüthe, 
nach Entfernung des Kelches, der Unterlippe und der linken Hälfte der Oberlippe, von; der 
linken Seite geſehen. 0 Fruchtknoten, Nektarium und Griffelwurzel derſelben. D Griffel⸗ 
ſpitze mit Narbe. Vergr. 7: 1, E Zwei einander zugekehrte Staubgefäße. 
Bedeutung der Buchſtaben wie in Fig. 11, 12, 13. 


494 Müller, Die Inſekten als 


und vollkommner Sicherung der Kreuz— 
ungsvermittlung gelangt ſind. An Ein— 
ſeitigkeit der Anpaſſung aber, im urſprüng— 
lichſten Sinne des Wortes, geht keine mir 
bekannte Bienenblume über Pedicularis 
asplenifolia (Fig. 15.) hinaus, welche ich 
im Sommer 1877 auf der Alp Falo und 
im Heuthale am Bernina zu beobachten Ge— 
legenheit hatte. 

Die durch dichtzottige Behaarung des 
Kelchs gegen aufkriechende kleine, flügelloſe 
Inſekten geſchützten Blüthen ſtehen in merk— 
würdiger Weiſe gebogen und gedreht am 
Stengel, ſo daß jede Blüthe ihre rechte Seite 
dem Stengel zukehrt und faſt anlegt, ihre 
linke nach außen wendet. Die Unterlippe 
fällt von rechts nach links ſo ſtark ab, daß 
ihre Fläche faſt ſenkrecht ſteht. (Fig. 15 A) 
Hummeln?) können daher nicht von vorn, 
ſondern nur von der linken Seite in die 
Blüthe eindringen. Der Pfeil in (Fig. 15 A) 
bezeichnet die Richtung, in welcher ſie Rüſſel 
und Kopf hineinſchieben. Die Röhre der 
Blumenkrone iſt bis zur Einfügung der 
Unterlippe 7mm lang, die Unterlippe aber 
von dieſer Stelle an mit ihrem ſchmalen 
baſalen Theile (auf der linken Seite) noch 


weitere 3—4 mm aufrecht angedrückt, wo⸗ 


durch fie den größten Theil des Blüthen— 
einganges verdeckt. 

Dadurch iſt zahlreichen nutzloſen Gäſten 
der Zutritt zum Honige abgeſchnitten. Jede 
Hummel dagegen vermag mit Leichtigkeit 
den aufrecht angedrückten Theil der Unter— 
lippe herabzudrücken und überdieß durch 
Ausweitung ihrer beiden Einfaltungen den 
Blütheneingang ſo zu erweitern, daß ihr 
Kopf, mindeſtens mit ſeinem vorderen Theile, 


) Ich beobachtete als regelmäßigen Be— 
ſucher ſehr wiederholt Bombus terrestris L. 8 
ſaugend und Pollen ſammelnd, B. alticola Kr. 
8 ſaugend und einmal Plusia gamma L. ſaugend. 


unbewußte Blumenzüchter. 


in demſelben Platz findet. Selbſt Bombus 
terrestris L. mit dem nur 9 mm klangen 
Rüſſel vermag daher raſch auf normalem 
Wege zum Honige zu gelangen. Die Staub— 
beutel liegen, ohne an den Rändern mit 
Schließhaaren verſehen zu ſein, mit den ge— 
öffneten Seiten ſo loſe gegen einander, daß 
ſie bei jeder kräftigen Erſchütterung Pollen 
herausfallen laſſen. Haare zur Verhinder— 
ung ſeitlichen Verſtreuens herausfallenden 
Pollens ſind in den Staubfäden nicht vor— 
handen. Sie ſind hier auch überflüſſig; 
denn gegen den Stengel hin bildet die faſt 
bis in ſenkrechte Lage links abwärts ge— 
dachte Unterlippe eine Schutzfläche, welche 
das Verſtreuen verhindert, und von der an— 
deren Seite kommt der zu beſtreuende Hum— 
melkopf. Der lange, ſchnabelförmige Fortſatz 
der Oberlippe hält den Griffel in ſolcher 
Lage, daß der Kopf der eindringenden Hummel 
die an ſeinem Ende ſitzende Narbe ſtreifen, 
alſo, wenn ſie vorher Blüthen getrennter 
Stöcke beſuchte, fremdbeſtäuben muß, ehe 
er von neuem mit Pollen beſtreut wird. 
Auch hier erhellt ohne Weiteres, welche der 
genannten Eigenthümlichkeiten den Hummeln 
den Alleinbeſitz des Honigs ſichern und als 
von ihnen gezüchtet zu betrachten ſind. 
Während in allen bisher betrachteten 


Fällen die Bienen neben ihrem überlegenen 


Blumenverſtande auch ihre körperliche Ge— 
ſchicklichkeit benutzt haben, ſich den andern 
Beſuchern mehr oder weniger unzugängliche 
Blumen zu züchten, ſo beweiſt eine Beo— 
bachtung meines Bruders Fritz Müller 
in Südbraſilien, daß ihnen, ebenſo wie ihrer 
Zeit und an concurrenzfreien Standorten 
noch jetzt den Schlupfwespen, auch ihre 
bloße Ueberlegenheit im Auffinden in un— 
ſcheinbaren Blumen verſteckten Honigs zum 
Alleinbeſitz gewiſſer Blumen verhelfen kann. 
Mein Bruder ſchreibt mir nämlich, am 14. 


März 1873: „Es blüht jetzt hier eine 
Cucurbitacee (Trianosperma), deren zahl— 
loſe Blüthen geruchlos, grünlich und ganz 
unanſehnlich und noch dazu zum größten 
Theil unter dem Laube der Pflanze ver— 
ſteckt ſind, aber doch eine ganz beſondere 
Anziehungskraft auf Bienen zu haben ſcheinen. 
Es ſummt und brummt an dieſen Pflanzen 
den ganzen Tag; beſonders iſt es Apis 
mellifica, die ſich hier einfindet und neben 
ihr zwei Meliponen.“ 

Schon dieſe wenigen aus der unabſeh— 
baren Mannigfaltigkeit der Bienenblumen 
herausgegriffenen Beiſpiele laſſen erkennen, 
daß die Bienen ebenſo als Blumenzüchter 
wie als Honig- und Pollenſammler allen 
übrigen Inſekten weit überlegen ſind. 


Wir find nun zu Ende mit der Auf- 
zählung und Betrachtung derjenigen In— 
ſektenabtheilungen, welchen es in der ein— 
heimiſchen Flora“) gelungen iſt, ſich mehr 


oder weniger vollſtändig in den Alleinbeſitz 


gewiſſer Blumen zu ſetzen und dieſelben, 
ihren Bedürfniſſen und Liebhabereieu ent— 


ſchätzung dieſes Alleinbeſitzes vorzubeugen, 
wird es gut ſein, auf die thatſächlichen Be— 
ſchränkungen derſelben nochmals ausdrücklich 
und eingehender, als es bereits geſchehen iſt, 
hinzuweiſen. Dadurch dürfte zugleich die 
von teleologiſcher Seite mit Vorliebe auf— 
geſtellte Behauptung gegenſeitiger Prä— 


) In wärmeren Ländern ſollen außer 
den hier beſprochenen Inſektenabtheilungen 
nach Delpino auch Käfer ſich beſondere Blu— 
menformen gezüchtet haben; doch ſcheinen mir 
die bis jetzt vorliegenden Beobachtungen des 
Inſektenbeſuchs der betreffenden Blumen zur 
Abgabe eines endgültigen Urtheils kaum aus— 
reichend. Die blumenzüchtenden Vögel, Ko— 
libris (Trochilus) und Honigvögel (Nectarinia), 
liegen außerhalb unſeres Themas. 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blu menzüchter. 


495 


deſtination gewiſſer Blumen und gewiſſer In⸗ 
ſekten für einander, noch vollſtändiger als 
durch die übrigen Auseinanderſetzungen allein, 
in ihr rechtes Licht geſetzt werden. 

An dem Genuſſe der Ekelblumen und 
Fliegenfallenblumen, welche der Kreuzung 
durch Koth- und Aasfliegen angepaßt ſind, 
nehmen, ohne Nutzen für die Pflanzen, auch 
Fäulnißſtoffe liebende Käfer Theil. — Falter⸗ 
blumen mit offenliegenden Antheren, wie 
z. B. Nelken und Geisblatt, werden nicht 
ſelten von pollenfreſſenden Schwebfliegen und 
pollenſammelnden Bienen ihres Blüthen⸗ 
ſtaubes beraubt. — Obgleich Silene inflata 
als ausgeprägte Nachtfalterblume ſich kenn— 
zeichnet, und in der That auch, nach meiner 
direkten Beobachtung, des Abends häufig 
von Eulen beſucht wird (z. B. von Hadena 
Maillardi Hb., im Suldenthale, von Plusia 
gamma L. bei Weißenſtein im Albulathale), 
ſo ſah ich doch in den Alpen auch Hummeln 
ſehr häufig an derſelben beſchäftigt und in 
ſehr verſchiedener Weiſe ſich ihrer Nahrungs- 
ſtoffe bemächtigen. Bald ſammelten ſie den 


Pollen dieſer Nachtfalterblume (ſo Bombus 
ſprechend weiter zu züchten. Um einer Ueber- 


alticola, pratorum und terrestris), bald 
ſteckten ſie in vielen Blüthen nach einander 
den Rüſſel und Kopf zwiſchen die Blumen⸗ 
blätter, offenbar um Honig zu ſaugen (ſo 
B. alticola, mendax, lapidarius); bis⸗ 
weilen ſteckten ſie auch den Kopf neben den 


Blumenblättern in den Kelch, wohl um ein 


Stück der mit dem Rüſſel zu durchmeſſenden 
Strecke zu erſparen (B. lapidarius), oder 
biſſen die Blüthe, mitten durch den Kelch 
durch, von außen an und ſtreckten dann durch 


eines der beiden ſo erzeugten Löcher den 


Rüſſel, um den Honig zu ſtehlen (B. mas- 
trucatus), oder durchbohrten mit den zu— 
ſammengelegten Kieferladen den Kelch, um 
jo zum Honig zu gelangen (B. terrestris), 
und zwar ſah ich dieſelbe Hummel an der— 


1 496 


ſelben Blüthe ringsum an drei verſchiedenen 
Stellen in gleicher Höhe dieſe Durchbohrung 
und Anſaugung vornehmen. Auch einzelne 
Tagfalter (Lyeaena icarus und Corydon) 
ſtreckten ihre Rüſſel in die Blüthen, obgleich 
ſie offenbar außer Stande waren, den Honig 
derſelben zu erreichen. 

Selbſt unſere ausgeprägteſte einheimiſche 
Schwärmerblume, Lonicera Perielyme- 
num, muß es ſich gefallen laſſen, daß un— 
ſere langrüſſeligſte Hummel, B. hortorum, 
ihr aus einigen Blüthen, wenn auch mit 
großer Unbequemlichkeit und deshalb ohne 
Ausdauer, den Honig entwendet. — An der 
Schlupfwespenblume, Listera ovata, iſt 
auch ein Käfer (Grammoptera laevis) eifrig 
beſchäftigt, und einmal ſah ich ſogar eine 
Hummel (B. agrorum F.), nutzlos für die 
Pflanze, einige ihrer flachen Honigrinnen 
auslecken. — Die Wespenblumen werden 
gelegentlich auch von Bienen und Grabwespen 
heimgeſucht und die Blumenglöckchen der 
Schneebeere (Symphoricarpus) von einem 


Odynerus von außen angebiſſen und durch 


ungen, nur in den ſeltenſten Fällen, ſich 


aller „unberufenen“ Eindringlinge vollſtän- 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


dig zu erwehren. In beſonders ſchmetterlings-⸗ 
reichen Gegenden, wie in den Alpen, ſieht 
man Falter auch in die Blüthen der Pa- 


pilionaceen, Labiaten und aller möglichen 


Bienenblumen, bald ohne, bald mit Erfolg, 
ihre Rüſſel ſtecken, und in einigen Fällen, 


wie bet Rhinanthus erista galli und Viola 
tricolor, iſt es ihnen ſogar, wie wir 
geſehen haben, gelungen, bereits völlig aus 
geprägte Bienenblumen zu Falterblumen 
(Rhinanthus alpinus, Viola calcarata) 
umzuprägen. 

Unausgeprägtere Bienenblumen, wie z. 


N 
B. 


Thymus und andere kurzröhrigere Labiaten, 
müſſen ſich überdieß auch die Concurrenz 
zahlreicher Fliegen gefallen laſſen. Die 
ausgeprägteſten Bienenblumen aber, welche 
ausſchließlich den langrüſſeligſten Hummeln 
ihren Honig aufſparen, ſind dadurch um ſo 
mehr der Gefahr ausgeſetzt, durch den 
gewaltſamen Einbruch einiger kurzrüſſeligen 
Hummeln ohne Kreuzungsvermittlung ihres 
Honigs beraubt zu werden. So werden in 
der Ebene Aquilegia, Dielytra, Corydalis, 
Trifolium pratense, Symphytum, Lamium 
album und zahlreiche andere Hummel— 
blumen von Bombus terrestris, in den 
Alpen Aconitum Napellus und Lycoc- 
tonum, Rhinanthus, Prunella grandiflora 
und andre von Bombus mastrucatus theils 
angebiſſen, theils angebohrt und durch Dieb— 
ſtahl mit Einbruch ihres Honigs beraubt. 
Wie dieſe Beiſpiele, deren Zahl ich leicht 
vervielfältigen könnte, ſchon hinlänglich deut— 
lich zeigen, verfolgen die Blumengäſte völlig 
rückſichtslos nureigenen Vortheil und kümmern 


ſich nicht im allermindeſten um ihre an— 
Einbruch des Honigs beraubt. — Selbſt 
den ausgeprägteſten Bienenblumen gelingt 
es, trotz der mannigfachſten Schußvorridt- | 
lingen oder Bienen gelungen, ſich durch 


gebliche Prädeſtination für gewiſſe Blumen 
oder gewiſſer Blumen für ſie. Nur verhält— 
nißmäßig ſelten iſt es daher Fliegen, Schmetter— 


Züchtung ihrer Lieblingsblumen in den völlig 
ausſchließlichen Alleinbeſitz derſelben zu ſetzen; 
in der Regel ſind vielmehr einzelne für die 
Kreuzungsvermittlung nutzloſe oder weniger 
wichtige Inſekten anderer Abtheilungen an 
dem Mitgenuſſe der dargebotenen Genuß— 
mittel betheiligt geblieben, oder haben ſich, 
nachdem die ſorgfältigſte Verwahrung der— 
ſelben gegen unberufene Gäſte bereits erreicht 
war, räuberiſcher Weiſe nachträglich durch 
gewaltſamen Einbruch wieder in den Mit— 
genuß derſelben geſetzt. Für erfolgreiche 


Züchtung von Blumen aber iſt es, wie wir 


ebenfalls aus dieſen Beiſpielen erkennen 


Müller, Die Inſekten als 


unbewußte Blumenzüchter. 


können, ſchon hinreichend, wenn gewiſſe In- 


ſekten, die ſich beſonders zu ihrer Ausnutz- 
ung hingezogen fühlen, durch irgend welche 


Eigenſchaften in den Stand geſetzt ſind, 
ſich in vorwiegenden Beſitz oder annähernden 
Alleinbeſitz derſelben zu ſetzen. 

Dies freilich war bei allen bisher be— 
trachteten ſpeciellen Züchtungsprodukten be— 
ſtimmter Inſektenabtheilungen der Fall und 
würde bei denſelben überhaupt wohl immer 
der Fall ſein müſſen, wenn es nicht unter 
den Inſekten eine gewiſſe Geſellſchaft eifriger 
Blumenbeſucher gäbe, die, mit geringem 
Nahrungsbedürfniß und ausgeprägtem Schön— 
heitsſinn ausgeſtattet, ſich in gewiſſe farben— 
prächtige Blumen förmlich verliebten und 
dieſelben, unbeirrt durch die Concurrenz zu— 
fälliger Gäſte, regelmäßig beſuchten. Manche 
Schwebfliegen, wie z. B. Syrphus baltea- 
tus), Syritta pipiens, Ascia podagrica, 
befinden ſich unſtreitig in dieſem Falle, und 
mehrere ihrer Lieblingsblumen (einige Cir— 
caea- und Veronica-Arten) find in jo zier— 
licher Weiſe ihrer eigenthümlichen Beweg— 


ungsweiſe angepaßt, daß ſie wohl den Namen 
Schwebfliegenblumen verdienen, ob- 


wohl ihr nur ſehr flach geborgener Honig 
und ihr völlig offen dargebotener Blüthen— 
ſtaub auch von mancherlei anderen Inſekten 
gelegentlich ausgebeutet wird, die aber dabei 
gar nicht oder nur zufällig fremdbeſtäubend 
wirken. Zur Veranſchaulichung kann uns 
die in den Alpen häufige Veronica ur- 
ticaefolia (Fig. 14) dienen, deren blaßroſa— 
farbene Blumen mit einem die Mitte um— 


ſchließenden ausgezackten weißen Ringe und 
von dieſem ausſtrahlenden dunkelrothen Linien 


497 


fliege im Sonnenſchein vor der Blume ſchweben 
und an ihrer Farbenpracht ſich weiden, dann 
mit plötzlichem Ruck auf ihr unterſtes Blumen— 
blatt auffliegen, einige Schritte vorwärts 
thun, bis ſie die ſo ſcharf ſich abhebende 
honighaltige Mitte erreicht hat und, um den 
Honig zu lecken, dicht neben derſelben Halt 
ſuchen, ſodann nach dem Honiggenuſſe von 
Neuem im Sonnenſcheine ſchweben, ſtoßweiſe 
an eine andere Stelle rücken, an anderen 
Blüthen derſelben Art in gleicher Weiſe ſich 
ergötzen und ſo fort, ſo hat man ein rich— 
tiges Bild der Blumenthätigkeit dieſer ſelbſt 
prächtig gefärbten Fliegen, als deren Zücht— 
ungsprodukt wir die ſo ſchön ausgeprägte 
Färbung ihrer Lieblingsblumen zu betrachten 
haben. Naturzüchtung hat nun in eben ſo 
einfacher als ſicher wirkender Weiſe Staub— 
gefäße und Griffel ihren Bewegungen an— 
gepaßt. Denn ſobald die Schwebfliege mit 
den Vorderbeinen an der Blüthenmitte Halt 
ſuchte, bieten ſich ihr als einzige Haltpunkte 


die verdünnten Wurzeln der beiden Staub— 


fäden und wenn ſie an dieſen ſich feſt— 
haltend den Mund zum Honige hinab 
bewegt, dreht ſie dieſelben im Nu, ohne es 
zu wollen, ſo, daß ihr die Staubbeutel an 
die Bauchſeite ſchlagen und dieſe mit Pollen 
behaften, und ſobald ſie dann ebenſo auf 
eine andere Blüthe auffliegt, ſetzt fie un— 


vermeidlich einen Theil dieſes Pollens auf 


der Narbe derſelben ab.“) 


) An Veronica Chamaedrys habe ich 
verſchiedene Schwebfliegen, namentlich Ascia 


podagrica, Baccha elongata und Melanostoma 


I} 


geziert find. Man denke ſich nun eine Shweb- \ 
Blütheneinrichtung nur durch etwas kürzeren 


) Ich verweiſe auf die Schilderung, welche 
ich von ihrem Verhalten an Verbascum 
nigrum gegeben habe. Befruchtung der Blumen 
S. 278. Anm. 


| 


mellina ſehr wiederholt in dieſer Weiſe ver— 
fahren ſehen, an V. urticaefolia noch nicht. 
Die letztere iſt aber von der erſteren in ihrer 


und aufrechteren Griffel, den Mangel der 
Saftdecke und feſter ſitzende Blumenkrone unter— 
ſchieden und bietet ganz denſelben Beſtäub— 
ungsmechanismus dar. 


498 


Zum Schluſſe drängen wir die allge— 
meinen Ergebniſſe der vorſtehenden Aus— 
einanderſetzungen in folgende Sätze zuſammen: 

1) Alle unſere Blumen ſind Produkte 
der combinirten Wirkung zweier verſchie— 
denen Züchtungsarten. Die unmittelbar nur 
den beſuchenden Inſekten nützlichen Eigen— 
ſchaften der Blumen (bunte Farben, Gerüche, 
Obdach, Genußmittel, Schutzmittel derſelben 
gegen unberufene Gäſte und Wetterungunſt, 
Erleichterungsmittel für ihre Ausbeutung 
durch die berufenen Gäſte) ſind hauptſächlich 
durch die Blumenauswahl der Inſekten, alle 
unmittelbar nur der Pflanze nützlichen Ei— 
genſchaften der Blumen (Sicherung der 
Kreuzung bei eintretendem, der Selbſtbe— 
fruchtung bei ausbleibendem Inſektenbeſuche, 
Schutzmittel der Befrüchtungsorgane gegen 
Wetterungunſt und Feinde) ſind durch eine 
von der Wahl der Inſekten unabhängige 
Naturausleſe gezüchtet worden: die beiden 
zugleich nützlichen ſind das Produkt der 
combinirten Wirkung beider Züchtungsarten. 

2) Die urſprünglichſten Blumen ſind 
größtentheils (Ausnahme z. B. Salix) ein⸗ 
fach, offen, regelmäßig geſtaltet und einer 
gemiſchten Geſellſchaft verſchiedenartigſter Be— 
ſucher ausgeſetzt geweſen. Dieſe haben ſich 
nur auffallende Farben, Gerüche und Nektar 
zu züchten vermocht. 

3) Aus der urſprünglichen gemiſchten 
Blumenzüchtergeſellſchaft ſind durch beſondere, 
den übrigen Blumengäſten antipathiſche Ge— 
ſchmacksrichtung die Fäulnißſtoffe liebenden 
Dipteren, durch beſondere Befähigung zur 
Bearbeitung gewiſſer Blumenabänderungen 
Schmetterlinge, Schlupfwespen, Grabwespen, 
ächte Wespen, Bienen und Schwebfliegen 
als ſpecielle Blumenzüchter hervorgetreten. 

4) Die Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren 
haben ſich von andern Gäſten verabſcheute 
Ekelblumen gezüchtet. Der Naturzüchtung 


Müller, Die Inſekten als 


unbewußte Blumenzüchter. 


iſt hauptſächlich die Dummdreiſtigkeit der 
Dißpteren zu ſtatten gekommen; dieſe hat 
zur Ausbildung von die Kreuzung durch 
Dipteren ſichernden Keſſelfallen-, Klemm— 
fallen- und Täuſch-Blumen geführt. 

5) Aus dem gemiſchten Beſucherkreiſe 
der übrigen, in ihrer Geſchmacksrichtung an— 
nähernd übereinſtimmenden Blumengäſte ſind 
allmälig langrüſſeligere, einſichtigere und 
geſchicktere hervorgegangen und haben ſich 
dümmeren, kurzrüſſelig gebliebenen Gäſten 
unauffindbaren oder unerreichbaren Honig, 
Safthalter, Saftdecken und Saftmale gezüchtet. 

6) Aus dieſem gewählteren Kreiſe als 
ſelbſtſtändige Blumenzüchter hervorzutreten 
waren die Schmetterlinge durch die Dünn- 
heit, einige derſelben, die Schwärmer, durch 
die Länge ihres Rüſſels befähigt. Sie 
züchteten die durch Engheit der Honigzugänge 
charakteriſirten Falterblumen und die lang— 
röhrigen Schwärmerblumen, die ſich durch 
Farbe- und Blüthezeit, entſprechend ihren 
Züchtern, in Tag- und Nachtfalterblumen, 
Tag⸗ und Nachtſchwärmerblumen und Zwi- 
ſchenſtufen zwiſchen beiden unterſcheiden laſſen. 
Der ausgeprägte Geruchsſinn der Schmetter— 
linge ſpricht ſich in würzigem Wohlgeruche, 
der ausgeprägte Farbenſinn der Tagfalter 
in der lieblichen Farbe ihrer Züchtungs— 
produkte aus. 

7) Die Schlupfwespen waren ihrer Zeit 
allen übrigen Blumenbeſuchern durch ihre 
Fähigkeit im Umherſuchen und Auffinden 
überlegen und dadurch in den Stand geſetzt, 

ſich unſcheinbare Blumen zu züchten, die der 
Nachforſchung anderer Inſekten entgingen. 
Nach dem Auftreten der Grabwespen und 
Bienen aber waren Schlupfwespenblumen 
nur noch an von dieſer Concurrenz wenig 
| betroffenen Standorten möglich. 

8) Die Grabwespen haben wahrſchein— 
lich die Schlupfwespen als Blumenzüchter 


Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 


größtentheils abgelöſt und verdrängt und Blumenzüchter haben (wenigſtens in der ein— 


ſich ſelbſt Blumen gezüchtet, welche ein Aus— 
einanderzwängen eng zuſammenſchließender 
Theile oder ein Hineinkriechen in Höhlen, 
oder andere nur Höhlengräbern eigne Be— 
wegungen erfordern und dadurch den meiſten 
anderen Blumenbeſuchern unzugänglich waren. 
Später ſind aber die Bienen in den vollen 
Mitbeſitz der Grabwespenblumen eingetreten 
und haben die meiſten derſelben zu Bienen— 
blumen weitergezüchtet. 

9) Die ächten Wespen vermochten ſich 
durch die Gefürchtetheit ihres Stachels (und 
ihrer Kiefer) in den Alleinbeſitz gewiſſer 
honigreicher und mit weiter Oeffnung ver— 


ſehener Blumen zu ſetzen und dieſelben ihrer 


Fähigkeit und Neigung entſprechend weiter 
zu züchten; ihre Züchtungsprodukte werden 


aber an wespenärmeren Orten auch von | 
mechanismus durch Naturzüchtung zu ver 
10) Die hervorragendſte Rolle als 


andern Inſekten ausgebeutet. 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


heimiſchen Blumenwelt) als die der Blu— 
mennahrung bedürftigſten, arbeitſamſten und 
geſchickteſten blumenſteten Inſekten die Bie— 
nen gejpielt, Sie haben uns die zahlreichſten, 
mannichfaltigſten und am ſpeciellſten aus— 
gearbeiteten Blumenformen geliefert, deren 
kunſtgerechte (naturgemäße) Behandlung zum 
großen Theile die Ausführung derſelben 
Bewegungen erfordert, welche die Bienen 
bei ihrem Brutverſorgungsgeſchäfte auszu— 
üben ererbt und erlernt haben. 

11) Endlich iſt es auch einigen, lebhafte 
Farben liebenden und ſelbſt mit ſolchen ge— 
ſchmückten, nicht beſonders nahrungsbedürf— 
tigen Schwebfliegen gelungen, einige Blümchen 
ihrer Geſchmacksrichtung entſprechend zu 
züchten und die Ausprägung eines zier— 
lichen, ihnen ſpeciell angepaßten Beſtäubungs⸗ 


anlaſſen. 


— — — > — — 0 
64 


Der Daltonismus.“) 


Ein Bericht über eigene Erfahrungen und Theorien, ſowie über Experimente, 
die in Gemeinſchaft mit Prof. W. Spring angeſtellt wurden, 


von 


Dr. J. Delboeuf, 


Profeſſor an der Univerſität Lüttich. 


1. Beſchreibung und Problem- 
Stellung. 


J 
NN, 
mus ift nach meiner Mein— 


ung in gewiſſer Beziehung 
eines der intereſſanteſten, wel— 


begierde darbieten können. Es berührt die 
Phyſiologie ebenſo wie die Phyſik, die Aeſthetik 


einmal der Philologie und Geſchichte fremd. 
Es reicht hin, zu ſagen, daß man, um es 


). Problem des Daltonis⸗ 


I 
| 


mit Erfolg nach allen dieſen Richtungen 


anzugreifen, eine gute Zahl ſehr ſchwieriger, 


zum Theil noch in den Kinderſchuhen ſtecken— 


der Wiſſenſchaften beherrſchen müßte. 


Es iſt nicht ſeit geſtern, daß ich mich 
mit dieſem Problem beſchäftige. Ich erinnere 


mich einer Scene aus meiner Jugend, die 
für mit ſeitdem der Gegenſtand vieles Nach— 


denkens geweſen iſt. Ich mochte acht bis 


neun Jahre alt ſein und beſuchte die Pri— 


märſchule. Mit meinen kleinen Kameraden 


in der Klaſſe vereint, ſprachen wir eines 
ſo gut wie die Pſychologie, und bleibt nicht 


Tages, bevor die Unterrichtsſtunde geſchlagen 
hatte, dieſes und jenes. Ich weiß nicht mehr, 


durch welche Veranlaſſung ich dazu kam, 


) Anm. d. Red. Die Farbenblindheit 


iſt in der Neuzeit ſo oft für darwiniſtiſche 
Speculationen verwerthet worden (Vgl. Kos- 
mos I. S. 274) daß wir die uns gebotene 


Gelegenheit nicht vorüber gehen laſſen dürfen, 


die beſte und gehaltvollſte Arbeit, die über 
dieſen Gegenſtand überhaupt erſchienen iſt, 
unſeren Leſern darzubieten. Mit freundlicher 
Erlaubniß des Herrn Verfaſſers haben wir 
den beſchreibenden und geſchichtlichen Theil 


zu ſagen: die Zunge iſt blau. Dieſer 
ſeiner Arbeit, ſowie auch die Schlußbemerk— 
ungen, wörtlich wiedergegeben; die Experi— 
mente und unmittelbar daran geknüpften 
Schlüſſe dagegen, in Form eines Referates, 
ſo daß wir für die Einzelheiten und die mathe— 
matiſche Begründung der Theorie auf die aus— 


führlichere und mit zahlreichen Abbildungen 


erläuterte Original-Abhandlung (Revue scien- 
tifique T. VII. Nr. 38. 1878.) verweiſen müſſen. 


n 


Ausſpruch rief allerſeits einen Ausbruch un- 


ſtillbaren Gelächters hervor. Man glaubte 
ohne Zweifel, daß ich Witze machen wollte. 
Ich war im Gegentheil ſehr ernſt geſtimmt, 
und begriff nichts von den heftigen Ver— 
neinungen, die man mir entgegenwarf. 
„Wie! die Lippen ſind nicht blau?!“ rief 
ich mit Erregung, „dieſe Wangen da“ — 


und ich zeigte auf die lebhafte Röthe, welche 


das Antlitz eines meiner Mitſchüler zierte, 
— „dieſe Wangen ſind nicht blau?!“ 
„„Roth!!““ ſchrie man mir von allen Seiten 
entgegen. Dieſe einſtimmigen Rufe brach— 
ten mich außer mir. Ich kannte doch, oder 
ich glaubte vielmehr rothe Dinge zu kennen, 
z. B. die Klatſchroſen, und ich ärgerte mich 
umſomehr, als ich nicht die geringſte Aehn— 
lichkeit zwiſchen der Farbe der Lippen und 
derjenigen dieſer prächtigen Blume der Fel— 
der finden konnte, während man dabei blieb, 
die Wangen jenes roſigen und friſchen Jun— 
gen beſäßen die nämliche glänzende Farbe. 
Schließlich kam ich zu der Ueberzeugung, 
daß ſie ein Complot gemacht hätten, um 
ſich über mich luſtig zu machen, und erſuchte 
ſie, freilich ohne Erfolg, mit dem Scherze 
ein Ende zu machen. Darauf erſchien der 
Lehrer und der Gegenſtand des Streites 
war vergeſſen. 

Nach Hauſe gekommen, frug ich meine 
Mutter, welche mir genau dieſelben Ant- 
worten gab, wie meine Schulkameraden. 
Ich begriff damals oder glaubte vielmehr 
zu begreifen, daß ich die Farbenbezeichnun— 
gen ſchlecht anwende. Ich ließ mich be— 
lehren und verſuchte genau die verſchiedenen 
Farbentöne eines karrirten Tuches und die— 
jenigen gemuſterten Stoffe, welche ſich in 
großer Menge im Hauſe befanden, zu be— 
zeichnen. Ich erwarb ſchnell genug eine 
gewiſſe Geſchicklichkeit darin und bildete mir 
ein, daß ich mit einiger Uebung und großer 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


Aufmerkſamkeit dahin gelangen würde, mei— 
nen Freunden keine fernere Gelegenheit zu 
geben, auf meine Koften zu lachen. In⸗ 
deſſen fuhr das Roth fort, mir abſcheuliche 
Streiche zu ſpielen. Es gab gewiſſe Arten 
von Roth, denen ich ziemlich richtig ihren zu— 
kommenden Namen beilegte, aber es gab 
andere, die ich fortfuhr, blau zu ſehen, 
andere, die mir braun erſchienen und end— 
lich tief gelbe und grüne. Grün und Violet 
ſelbſt unterließen nicht, mich häufig genug 
in Verwirrung zu bringen und von dem 
Augenblicke, wo man auf die Vergleichung 
von blaßblauen und Lila-Tönen einging, war 
ich nicht mehr zu Hauſe. 

Dieſe Sonderbarkeiten hatten an ſich 
nichts Schlimmes, unangenehmer waren ſchon 
gewiſſe Folgen derſelben. Wenn ich in den 
erſten Tagen des Sommers mit meinen 
jungen Freunden die Gehölze der Umgegend 


Lüttich's durchſtreifte, war ich ebenſo geſchickt 


wie ſie, Heidelbeeren zu ſammeln, aber die 
Erdbeeren entſchlüpften meinem Blicke immer, 
oder wurden erſt entdeckt, wenn ich dicht 
mit der Naſe daran war. Zuweilen mad- 
ten Jene mich ſchon aus einiger Entfern— 
ung auf ſchöne, mit appetitlichen Kirſchen 
prangende Bäume aufmerkſam, und ich — 
ich war nicht im Stande, ſie zu unterſcheiden. 
Dann im Herbſte ſah ich oft ihre Augen 
beim Anblicke gewiſſer, unter der Laſt ihrer 
purpurnen Früchte gebeugten Apfelbäume 
vor Begierde erglänzen, während allein die 
gelben Aepfel den Vorzug beſaßen, meine 
Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. 
Inzwiſchen verharrte ich dabei, meine 
anſcheinende Schwäche einem Gedächtniß— 
fehler hinſichtlich der Farben-Eigenthümlich⸗ 
keiten zuzuſchreiben. Im Jahre 1846 klärte 
mich ein Journal-Artikel, der vom Dalto— 
nismus handelte, über die Beſonderheit 


501 | 


meines Sehorganes auf. Ich legte mich 


| 


502 


feit damals darauf, unter meinen Kamera— 
den diejenigen zu entdecken, welche ſie mit 
mir theilten, und begegnete in der That 
einer gewiſſen Zahl derſelben unter ihnen. 

Man erzählt, daß Dalton, weit ent— 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


mit Unrecht an und dadurch paſſirt es ihnen, 
daß, wenn ſie den Anderen ausſchließlich 


von ihren eigenen Empfindungen Rechen— 


fernt, ſich über die Unvollkommenheit ſeines 


Geſichtsſinnes zu beunruhigen, vielmehr ein 
gewiſſes Vergnügen daran gefunden, das 
Erſtaunen oder die Freude zu bemerken, 
welche ſeine Mißgriffe andern verurſachten. 
Ich meinestheils empfand ein gewiſſes Ver— 
gnügen, der Gegenſtand — im Allgemeinen 
natürlicher — Fragen zu ſein, auf die ich eine 
Antwort ſchuldig bleiben mußte. 

„Wie!“ ſagt man mir noch alle Tage, 
„Sie erblicken die Röthe der Lippen und 
das Inkarnat der Wangen blau? die Leute 
müſſen Ihnen grauenhaft erſcheinen! — 
Was ſehen Sie nun eigentlich, wenn man 
Ihnen Roth zeigt? — Welcher Farbe gleicht 
das Grün in Ihren Augen? — Iſt es 
nun das Rothe, welches Sie für Grün 
halten, oder das Grüne, welches Sie für 
Roth anſehen?“ Ich ſetze mich ſogar wenig 
gegründeten Vorwürfen aus, wenn ich ein— 
mal das Unglück habe, richtig zu rathen, 
und einem Gegenſtande ſeine wahre rothe 
oder grüne Farbe beizulegen. Alsdann arg— 
wöhnt man ſogleich, daß ich die Welt myſti— 
ficiren wolle. „Sehen Sie wohl“ ruft 
man dann, „daß Sie die Farben unter— 
ſcheiden können und daß Sie ſich nur täu— 
ſchen, wenn es Ihre Abſicht iſt!“ — Das 
iſt die Sprache, welche ich ſelbſt von den 
unterrichtetſten Perſonen hören muß, und 
gewöhnlich gelange ich nur mit großer Mühe 
dahin, ihnen zu zeigen, wie ſehr ſchwer es 
iſt, ihrer Neugierde zu genügen. 

Die Daltonianer, gezwungen, ſich eines 
Wörterbuches zu bedienen, welches nicht für 
ſie gemacht iſt, wenden gewiſſe Worte dem 
gewöhnlichen Sinne gegenüber verkehrt und 


ſchaft abzulegen glauben, ſie doch bei ihren 
Zuhörern ganz verſchiedene Ideen erwecken. 
Es iſt nicht einmal gewiß, ob die Bezeich— 


nungen Gelb und Blau, von denen ſie 


manchmal einen anſcheinend correcten Ge— 
brauch machen, in ihnen denſelben Empfind— 
ungen entſprechen, wie in anderen Menſchen. 
Es würde ſehr wohl geſchehen können, daß 
wenn durch ein Wunder die Seele eines 
Daltonianers ſich in den Körper einer Per— 
ſon mit normalem Auge verſetzt fände, 
dann derſelbe gelbe oder blaue Gegenſtand 
auf ſie einen ganz anderen Eindruck machen 
würde. 

Wir dürfen dieſe Bemerkung kühn ver— 
allgemeinern. Die Gleichförmigkeit in der 
Anwendung der Ausdrücke des Wörterbuchs 
der Empfindungen, beweiſt keineswegs die 
Gleichheit der Eindrücke, welche ſie bezeich— 
nen; man darf daraus einzig ſchließen, daß 
dieſe Eindrücke bei einer und derſelben Per— 
ſon gleichbleibende Eigenſchaften beſitzen. 
Wenn zum Beiſpiel Peter und Paul immer 
die größte Uebereinſtimmung in der An— 
wendung der Farbennamen bewähren, fo 
iſt damit keineswegs bewieſen, daß ſie immer 
das Gleiche ſehen. Es iſt möglich, daß 
das, was der Eine Gelb nennt, für den 
Anderen Roth wäre, wenn man ihre See— 
len die Körper tauſchen laſſen könnte. Aber 
das hindert in keiner Weiſe, daß daſſelbe 
Wort beiderſeits ſtets zur Bezeichnung des— 
ſelben äußern Gegenſtandes gebraucht wer— 
den kann. 

Sollte es uns jedoch für immer ver— 
ſagt ſein, die von ein und derſelben phyſi— 
ſchen Erſcheinung in zwei empfindenden 
Weſen erregten pſychiſchen Wirkungen mit 


einander zu vergleichen? Iſt die Seele eines | 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


jeden von uns abſolut abgeſchloſſen und 
ſind wir darauf beſchränkt, blos zu errathen, 
niemals zu durchdringen, was bei unſeres 


Gleichen innerlich vorgeht? Sind die Em 


pfindungen gänzlich unmittheilbar? Muß 
man für immer aufgeben, jemals eine Breſche 
in dieſe Mauer gelegt zu ſehen, die den 
inneren Schauplatz abſchließt? Dieſe beim 


| 


erſten Blick fo verwegenen Fragen find im 


Grunde nur die Ueberſetzung oder vielmehr 


der verallgemeinerte Ausdruck der naiven 
Fragen, die man ſo oft an die Daltonianer 
richtet. Wenn es ſich nur darum handelte, 
a priori aus der Univerſalität und Ein— 
fachheit der Naturgeſetze gefolgerte Antworten 
zu geben, ſo würde es nicht ſehr ſchwierig 
ſein, ſie zu finden, aber die Thatſache des 
Daltonismus ſelbſt ſtraft alle Erklärungen 
Lügen, welche von der Einheit des Planes 


der Menſchen ausgehen wollten. Das, was 


ung des Problems; wir wollen, daß jede 
Behauptung von leicht discutablen Proben 
begleitet ſei; wir wünſchen mit einem Worte, 
unſere Ueberzeugung auf etwas anderes zu 
bauen, als auf den beweglichen Sand me— 
taphyſiſcher Speculationen. 


2. Geſchichte. 

Es iſt nicht ſeit gar lange, daß die 
Aufmerkſamkeit der Gelehrten auf die Un— 
regelmäßigkeiten des Farbenſinnes gerichtet 
worden iſt. 
bis zum Jahre 1777 hinauf. Sie betraf 
die Gebrüder Harris und war ſehr ſum— 
mariſch in einem Briefe von Joſeph Huddart 
an Joſ. Prieſtley mitgetheilt. Der erſte 
wiſſenſchaftlich beſchriebene Fall iſt derjenige 


des berühmten engliſchen Phyſikers und | 1810 


„Im Laufe des Jahres 1790“ erzählt 
Dalton, „beſchäftigte ich mich mit Botanik 
und dieſes Studium lenkte im Beſonderen 
meine Aufmerkſamkeit auf die Farben. Wenn 
ich Weiß, Gelb oder Grün vor mir 
hatte, nannte ich dieſe Farben ohne Weiteres 
bei ihrem Namen, während ich beinahe keinen 
Unterſchied zwiſchen röthlich Blau, Vio— 
let und Karm in machte. Indeſſen wurde 
mir die Eigenthümlichkeit meines Auges 
erſt im Herbſte 1792 genau bekannt. Ich 


unterſuchte eines Tages eine Blume von 


Geranium (Pelargonium) zonale bei Ker— 
zenlicht. Dieſe Blume, welche mir am 
Tage blau erſchien, und welche in Wirk— 
lichkeit violet iſt, erſchien mir jetzt von 
einer rothen, der blauen völlig entgegenge— 
ſetzten Farbe. Andern Perſonen war ein 


| folder Farbenwechſel nicht bemerkbar.“ 
aller empfindenden Weſen, oder ſelbſt nur 


„Da mir dieſe Beobachtung gezeigt hatte, 


daß meine Farben-Empfindung von der— 
wir hier ſuchen, iſt eine experimentale Löſ⸗ 


eine und dieſelbe Farbe ſehe. 


Die erſte Erwähnung ſteigt 


jenigen anderer Perſonen verſchieden war, 
unterſuchte ich das Sonnenſpektrum und 
überzeugte mich bald, daß ich anſtatt der 
ſieben Spektralfarben nur drei ſah: Gelb, 
Blau und Purpur. Mein Gelb enthielt 
Roth, Orange, Gelb und Grün der ande— 
ren Leute. Mein Blau verſchmilzt ſo mit 
dem Purpur, daß ich da beinahe nur 
Der Theil 
des Spektrum's, welchen man als roth be— 
zeichnet, erſcheint mir kaum anders als ein 
Schatten oder Lichtmangel. Das Gelb, 
Orange und Grün gelten für mich als die— 
ſelbe Farbe in verſchiedenen Graden der 
Sättigung. Der Punkt des Spektrums, 
in welchem Grün und Blau ſich berühren, 
bietet mir einen äußerſt ſchlagenden Contraſt 


) Extraordinary Facts relating to the 
ns of colours; with observations by Mr. 


Chemikers Dalton, der ihn mit der ihm | John Dalton, Mem. of the Liter, and Philos, 


eigenen Sorgfalt unterſucht hat.“) 


| 


Societ. of Manchester V. p. I (1798) p. 28. 


504 


und eine höchſt grelle Verschiedenheit. Am 
Tage gleicht das Karmin einem Blau, dem 
man ein wenig dunkles Braun beigemiſcht 
hat. Ein Dintenfleck auf weißem Papier 
zeigt mir dieſelbe Färbung wie das Antlitz 
einer von Geſundheit ſtrotzenden Perſon. 
Das Blut gleicht dem geſättigten Grün 
der Flaſchen. Beim Kerzenlichte werden 
Noth und Scharlach glänzender und leb— 
hafter. Das Grün erſcheint mir am Tage 
wenig von dem Rothen verſchieden. Orange 
und Hellgrün gleichen fi ebenfalls ſehr. 
Ein ſtark geſättigtes Grün iſt für mich das 
angenehmſte Grün und ich unterſcheide es 


Empfindung genau die nämliche, wie die— 
jenige von Jedermann.“ 
Alle dieſe Züge charakteriſiren bis auf 


menheiten meiner eigenen Farbenempfindung. 


ins Gras gefallenene Stange Siegellack er— 
kennen, und er würde aller Wahrſcheinlich— 
keit nach, wie ich, die zinnoberrothen Früchte 
des Ebereſchenbaums für braune und ſchwarze 
Beeren genommen haben und die Blumen 
der japaniſchen Quitte kaum von der Rinde, 
oder die Beeren der Stechpalme von dem 
dunklen Grün ihres Laubes unterſchieden 
haben. Auch er würde, wie ich, die Farbe 
eines neuen Ziegelhauſes von derjenigen 
einer friſch gemäheten Wieſe ſchwer unter— 
ſchieden haben. Die Thatſache iſt charakte— 
riſtiſch genug, um mir zu geſtatten, auf 
einige Einzelheiten einzugehen. Es war gegen 
Ende des Monat Juni. Ich betrachtete in 
der Ferne auf dem Abhange eines bewal— 
deten Hügels einen baumloſen grünen Fleck 
— die Wieſe, von der ich ſoeben ſprach — 
und dennoch gelangte ich höchſtens, nachdem 


| man mir das Haus gezeigt, welches ein 


ſehr geringe Abweichungen die Unvollkom⸗ 
neuen Werke des Profeſſor Holmgren !) 
Ich würde nicht beſſer als Dalton eine 


um ſo beſſer, je mehr es ins Gelbe zieht. 
Was Gelb und Orange anbetrifft, ſo iſt meine 


Delbveuf, Der Daltonismus. 


rothes Viereck aus dem Grunde ſchnitt, 
dazu, die Umriſſe deſſelben zu erkennen. 
Peter Prévoſt von Genf war der 
Erſte, welcher dieſem Geſichtsmangel den 
Namen Daltonismus beilegte. Die Deut— 
ſchen und Engländer nennen ihn Farben— 
blindheit (oder genauer Rothblind— 
heit)... Der Daltonismus kommt häufiger 
vor, als man gewöhnlich annimmt. Unter 
neunzehn Zuhörern, die ich in Gent hatte, 
befanden ſich zwei Daltonianer, der Eine 
war es ſogar im äußerſten Grade. Viele 
Perſonen ſind es, ohne es zu wiſſen, und 
ich habe Gelegenheit gehabt, mehrere erſt 
auf den unvollkommenen Zuſtand ihres 
Sehvermögens aufmerkſam zu machen. Die 
größte Mehrzahl bemerkt wohl, daß ihrem 
Auge ein Mangel anhaftet, ohne ſich aber 
über die Natur deſſelben klar zu werden. 
Es giebt über dieſen Punkt in dem 


ein durch die Klarheit der Auffaſſung und 
die Feinheit der Analyſen ſo ausgezeichnetes 
Kapitel, daß ich nichts beſſeres thun kann, 
als den Inhalt deſſelben hier wiederzugeben. 

Die Farbenblindheit, jagt Holmgren, 
iſt keine Krankheit, es iſt ein wirklicher 
Farbenſinn, nur einfacher als der gewöhn— 
liche. Daher geſchieht es, daß der damit 
Behaftete unter die nämliche Rubrik Farben 
ſtellt, welche für die Andern verſchieden 
ſind . . . Es ſcheint, daß die Farbenblinden 
leicht zu erkennen ſein müßten, aber die Er— 
fahrung beweiſt das Gegentheil. Der Ver— 
faſſer hat das geſammte Perſonal einer 
Eiſenbahnlinie der Unterſuchung unterworfen, 
und es iſt ihm dabei offenbar geworden, 
daß eine Menge von Beamten, trotzdem 
ihre Stellung ſie nöthigt, Tag und Nacht 


) Ueber die Farbenblindheit in ihren 
Beziehungen zum Eiſenbahn- und Seeweſen. 
Stockholm 1877. 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


auf die Farbenſignale zu achten, einen man— 
gelhaften Farbenſinn beſaßen, ohne daß ſie 
ſelbſt oder andere es geargwöhnt hätten. 
Die Erklärung dieſer ſonderbaren Thatſache 
liegt in Folgendem: 

Unſere Sinne werden zu gänzlich prak— 
tiſchen Zwecken auf die Kenntniß der Außen— 
welt gerichtet. Daher kommt es, daß die 
Geegenſtände durch uns ſelbſt und in be— 
ſtändiger Weiſe mit Eigenſchaften, welche im 
Grunde nur unſre eigenen Empfindungen 
darſtellen, behaftet und umkleidet werden. 
Das geht ſoweit, daß ein rother Teppich 


ſelbſt in der Dunkelheit und wenn wir ihn 
gar nicht anſehen. Wenn man alſo einem 
Kinde ſagt, dieſer Teppich iſt roth, ſo be— 
hält es die Bezeichnung und wird ſie mit 
Teppich ſehen wird. Thatſächlich indeſſen, 
es ihn wieder erkennt, ſondern eine Vielheit 
von Eigenthümlichkeiten, bei welcher die 
Farbenwirkung im Grunde nur eine ſekun— 


dieſe Weiſe lernen, daß der Himmel blau, 
das Gras grün, und der Ziegelſtein roth 
iſt, und ungeachtet deſſen, daß nach ſeinen 
Augen der Ziegelſtein möglicherweiſe beinahe 
dieſelbe Farbe beſitzt, wie das Gras, wird 
es niemals darauf verfallen, die Dinge zu 
vertauſchen, und dem einen derſelben eine 
Eigenſchaft beizulegen, die ihm nicht zukommt. 
Auf dieſe Weiſe — wenn mir die Paren— 
theſe erlaubt iſt — glaubte ich die rothe 
Farbe zu kennen, weil ich den wilden Mohn 
in einem Getreidefelde zu unterſcheiden im 
Stande war. 

Ohne Zweifel empfinden die Farben— 
blinden einige Schwierigkeiten, um ſich zu— 
rechtzufinden, und verſtehen gewiſſe Unter— 


für uns immerdar als rother Teppich gilt, 


Genauigkeit wieder anwenden, ſo oft es dieſen 


iſt es nicht einzig die rothe Farbe, an welcher 


däre Rolle ſpielt. Sei es nun normal em⸗ 
pfindend oder nicht, das Kind wird auf 


I 


505 


ſcheidungen nicht, welche die Andern aufjtellen; 
indeſſen ſagt ſich die Mehrzahl derſelben 
nach einigen fruchtloſen Anſtrengungen, daß 
die Farben wohl gewiſſe kleine Probleme 
darbieten, welche ſie zu löſen nicht beſtimmt 
ſeien, und denken nicht weiter daran. Aber 
andere Perſonen gehen weiter; ſie legen ſich 
hartnäckig darauf, den unterſcheidenden Cha— 
rakter der von ihnen verwechſelten Farben 
zu ergründen; ſie ſuchen ihn in einer Eigen— 
heit der Nüancirung oder Helligkeitsſtufe, 
erlangen eine große Geſchicklichkeit, ſie dar— 
nach zu unterſcheiden, und endigen damit, — 
ſich über ſich ſelbſt zu täuſchen. 

Es giebt indeſſen Umſtände, bei denen 
anſcheinend der Farbenblinde ſeinen Mangel 
nothwendigerweiſe entdecken muß, nämlich 
wenn er genöthigt iſt, ſeine Handlungen nach 
den Farben der Dinge zu richten, wie die 
Maler, Kleidermacher, Seeleute und Eiſen— 
bahnbeamten. Und ſelbſt da tragen eine 
Menge von Urſachen dazu bei, ihnen ihren 
Mangel zu verbergen. Auf dem Lande 
und bei den untern Klaſſen achtet man wenig 
auf die Farben der Gegenſtände. Iſt ein 
Gefäß, ein Möbel und dergl. zu bemalen, 
io verlangt man vor Allem, daß ſie eben 
angeſtrichen werden und daß die Farbe 
glänze, gleichviel ob ſie roth, grün oder 
braun ſei. Handelt es ſich darum, ein 
Kleidungsſtück auszubeſſern, ſo bleibt die 
Hauptſache, daß man das Loch ſtopft, und 
betrachtet es als nebenſächlich, ob der Flicken 
dieſelbe Farbe wie das Uebrige habe. Der 
Zugführer, welcher ſeine Lokomotive leitet 
iſt dabei anfänglich niemals allein; dann, 
da er ſich die Orte bald merkt, an denen 
gewöhnlich Signale gegeben werden, lernt 
er ſie an der beſondern Helligkeit der Farbe 
unterſcheiden, und hat nachher keinen Grund, 
einen Mangel an ſeinem Auge zu vermuthen. 
Alle mit Fehlern Behafteten der Linie, welche 


| 


u 


506 Delboeuf, Der Daltonismus. 


Holmgren zu unterſuchen Gelegenheit 
hatte, ſtimmten ſämmtlich darin überein, „daß 


ſie ein ausgezeichnetes Geſicht beſäßen, daß 
ſie nicht die geringſte Schwierigkeit empfän— 


den, die Farbenſignale zu unterſcheiden, und | 
zu ſichten. Aber es kommt auch, wie wir 
ſchon ſahen, ein praktiſches Intereſſe in's 


daß ſie niemals ein Verſehen begangen hätten.“ 
Ich habe dieſen Beobachtungen, die von 


einem jo hohen pſpychologiſchen Intereſſe 
man ſich im Eiſenbahn- und Seedienſt be— 
dient, gründen ſich auf die Unterſcheidung 


ſind, nichts hinzuzufügen, und werde mich 
darauf beſchränken, einen Fall zu erwähnen, 
der zu zeigen geeignet iſt, wie weit einer— 
ſeits dieſer Mangel an Erkenntniß ſeines 
Selbſt und ſeiner Fähigkeiten gehen kann, 
und wie man auf der andern Seite den 
Farbenſinn durch einen Nüancenſinn erſetzt. 
Einer der erſten Zeichner Belgiens, Herr Flo— 
rimond Van Loo, iſt Daltonianer. Er 
hatte ſich urſprünglich der Malerei gewidmet, 
und es iſt ihm in ſeinen Landſchafts Skizzen 
paſſirt, das Laub der Bäume in einem 
ſchönen Roth wiederzugeben. Nach einer 
großen Anzahl gleich unglücklicher Probe— 
ſtücke und fruchtloſer Bemühungen ſich zu 
verbeſſern, entſagte er dieſer Kunſt, für die 
er gleichwohl eine ausgeſprochene Vorliebe 
beſaß, und hat ſeine Talente der Lithographie 
gewidmet, einer Kunſt-Richtung, in welcher 
er ſich einen wohlverdienten Ruf zu ſchaffen 
gewußt hat. Als er mir eines Tages das 
auseinanderſetzte, was er eine Bizarrerie 
ſeines Geſichtsſinnes nennt, ſagte er mir, 
daß er ohne Zweifel die Bäume roth er— 
blicke. Indeſſen hindert ihn dieſer Mangel 
keineswegs, ein ausgezeichneter Kenner von 
Gemälden zu ſein, und ſich namentlich auf 
die Feinheit des Tones zu verſtehen. Und, 
ſoll ich es ausſprechen? ich vermuthe, daß 
er grade ſeinem Daltonismus es verdankt, daß 
er in alle ſeine Arbeiten ſoviel Farbe bringt. 
Es giebt Werke von ihm, welche in An— 
betracht des Reichthums der Tinten mit 
den beſten Mouillerons wetteifern. 


Ich beende ſchnell die Geſchichte des 
Daltonismus. Seebeck, Purkinje, 
Wartmann und A. haben ſich aus vor— 


zugsweiſe wiſſenſchaftlichem Intereſſe damit 


beſchäftigt, die Thatſachen zu ſammeln und 
Spiel. Die Mehrzahl der Signale, deren 


zwiſchen Roth, Grün und Gelb und das 
Leben Tauſender kann durch die falſche Auf— 
faſſung eines Signals gefährdet werden. Es 
war Georg Wilſon, welcher zuerſt (1855) 
die Aufmerkſamkeit der Specialiſten auf die 
Gefahren richtete, welche darin liegen, Dal— 
tonianern Aemter anzuvertrauen, die einen 
normalen Farbenſinn beanſpruchen. Seit 
damals hat dieſe Idee ſich allgemeiner ver— 
breitet. In Schweden hat es der gelehrte 
Profeſſor der Phyſiologie an der Univer— 
ſität Upſala, Holmgren, nach mancherlei 
Studien und Schriften darüber durchgeſetzt, 
daß die ſkandinaviſche Regierung jede Be— 
ſetzung derartiger Poſten durch Farbenblinde 
unterſagt hat. In England iſt dieſelbe Maß— 
regel von der Nordbahn-Geſellſchaft einge— 
führt worden, in Deutſchland beginnt man 
mit derſelben Frage ſich zu beſchäftigen und 
in Frankreich hat der Arzt der Linie Paris— 
Lyon-Mittelmeer, Dr. Favre, in derſelben 
Richtung gewirkt. Dies Wenige genügt, um 
die praktiſche Wichtigkeit des Studiums der 
Farbenblindheit darzuthun. Gehen wir nun- 
mehr zur Theorie über. 


3. Referat über die angeſtellten Ver- 
ſuche. 


Wenn man einigen Forſchern Glauben 
ſchenken darf, giebt es nicht nur verſchiedene 
Grade, ſondern auch verſchiedene Arten der 
Farbenblindheit. Man ſpricht von Roth— 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


blindheit, Grünblindheit, Blau- und Biolet- 
blindheit, aber die hier gegebenen Daten be- 
ziehen ſich nur auf die häufigſte Form, die 
Rothblindheit. Das ſicherſte Mittel die 
vorhandene Unregelmäßigkeit feſtzuſtellen, 
wird immer die Beſchreibung eines Farben— 
ſpektrums durch das anormale Auge, im 
Vergleiche zu dem Eindrucke des normalen 
ergeben, da die natürlichen Pigmente oft 
einen ſehr zuſammengeſetzten Charakter be— 
ſitzen, wie z. B. der Umſtand ergiebt, daß 
die grünen Blätter der Pflanzen eine be— 
trächtliche Menge rothen Lichtes ausftrahlen- 


Prof. Delboeuf benutzte bei ſeinen in 


20 40 60 80 


507 


Gemeinſchaft mit Prof. Spring ange 
ſtellten Verſuchen das dem Sonnenſpektrum 
ziemlich ähnliche Spektrum eines im Bun⸗ 
ſenbrenner zur Weißgluth gebrachten Pla— 
tindrahts, wobei fie zur leichteren Drien- 
tirung über das Spektrum eine erleuchtete 
Skala warfen, die ſo gerückt wurde, daß 
die Zahl 180 ſtets mit der gelben Natron— 
linie zuſammenfiel. Die Vertheilung der 
Farben, wie fie Herr Spring und die mei- 
ſten Menſchen mit normalen Augen wahr- 
nehmen, iſt annähernd durch die mittlere 
Skala angedeutet, wobei die Zwiſchenfächer 
die Uebergangsfärbungen bezeichnen. Dieſe 


0 100 120 140 160 180 200 220 240 2 60 
D 
| | Violet n Grün [Orange Roth 
. Blau | 7775 Gelb — 
Uebergangsregionen von unentſchiedener dem Spektrum ſehe ich, ſagt er, nur zwei 


Nüance verſchieben ſich übrigens ein wenig, 
je nachdem man das Spektrum von der 
violetten oder von der rothen Seite zu 
prüfen und zu beſchreiben beginnt; die Far⸗ 
ben, gegen die man ſich hinwendet, ſcheinen 
nämlich dem Auge entgegen zu kommen, fo 
daß das reine Blau bei 80 zu beginnen 
ſcheint, wenn man von der violetten Seite 
ausgeht, und bei 90 aufzuhören ſcheint, 
wenn man von ihm nach der violetten Seite 
ſchreitet. Wie man ſieht, war das reine Gelb 
nicht ſehr ausgeprägt, es beſchränkte ſich für 
Herrn Spring auf die Natronlinie (180). 

In dem untern Theile iſt dagegen die 
Vertheilung der Farben dargeſtellt, wie ſie 
ſich bei demſelben Spektrum Herrn Delboeuf 
darbot. Wie man erkennt, erſchien ihm 
das Spektrum nach beiden Seiten etwas 
verkürzt, und wurde gegen das violette 
Ende äußerſt lichtſchwach, ſo daß die Grenze 
kaum ſicher beſtimmt werden konnte. „In 


— Wr. 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


ſpecifiſch verſchiedene Farben, die ich Blau 
und Gelb nennen will, ſie theilen ſich zu 


| beinahe gleichen Theilen in das Spektrum 


und verlieren ſich unmerklich in die Dunkel⸗ 
heit. Der Uebergang von der einen zur 


andern geſchieht zwiſchen 120 bis 130. 


Dieſe Region iſt äußerſt veränderlich“, ſie 
erſchien bald blau, bald gelb, und je nach 
dem Uebergange von der einen oder andern 
Seite ſchien ſich die Grenze wohl um zwanzig 
Theilſtriche zu verrücken, wobei das Auge 
einem eigenthümlich erregenden und ermü— 
denden Reize unterlag. Es zeigte ſich außer- 
dem, daß die Begrenzungen des Spektrums 
auch für die einzelnen Daltonianer ſich verſchie— 
den bemaßen, und für einen der Schüler des 
Herrn Delboeuf war es an der violetten 
Seite noch bedeutend mehr abgekürzt. 

Alle dieſe Umſtände ſchienen wenig mit 
den theoretiſchen Folgerungen zu paſſen, die 
man bisher über die Urſachen der Koth- 


65 


508 Delbveuf, Der Daltonismus. 


blindheit aufgeſtellt hat. Die verbreitetſte 


Im Jahre 1864 lernte Herr Del— 


der vorhandenen Erklärungen iſt diejenige, boeuf, damals Profeſſor der Philoſophie 


welche ſich auf die Houng-Helmholtz'ſche 
Hypotheſe über die Farbenwahrnehmung 
ſtützt, und welche annimmt, daß von 


drei, die Farben unterſcheidenden nervöſen 


Elementen der Netzhaut bei dieſen Perſonen 


die eine Art, und zwar gewöhnlich die 


Roth empfindende, atrophiſch, gelähmt, oder 
gar nicht vorhanden ſei. Die Folge davon 


würde ſein, daß das Roth nur als Grau, 


das Violet als Blau, das Orange als 
Gelb wahrgenommen werden könnte, indem 


überall der rothe Autheil der Miſchfarben | 
indem ſie einen Theil der grünen und violetten 


ausfiele. Ganz ähnliche Hypotheſen haben 
Maxwell und J. Herſchell aufgeſtellt, 


die alle darauf hinauslaufen, daß die Farben- 
keiten zu füllen, um durch die verſchieden dicke 


blinden ihre Empfindungen, ſtatt wie die 
andern Menſchen aus drei Grundfarben, 
nur aus zweien zuſammenſetzen ſollen. 


Aber die einzelnen Vorausſetzungen, die man 
den Daltonianern unterſchiebt, fand Prof. 


Delbo euf für ſich durchaus nicht zutreffend, 
ſo z. B. dasjenige, was man über die Ver— 


wechſelung von Grün und Rotherzählt. „Was 


mich betrifft,“ ſagt er, „ſo mache ich aller— 


dings wenig Unterſchied zwiſchen der Farbe 
haltendem Waſſer aufgelöſt enthält. Die 
erſtaunliche Wirkung laſſen wir uns von 


des Blattes und der Blüthen des rothen 
Gauchheil (Anagallis arvensis), aber das 


Roth des wilden Mohus, der Erdbeere 
und Kirſche find für mich vom Grün ſehr 
allein die Farben, die ich gewöhnlich zuſam— 


verſchieden. Die Eigenthümlichkeit, die dieſen 
Färbungen in meinen Augen zukommt, iſt, 


daß ſie matt, ſtumpf, düſter erſcheinen und 


nicht den Blick auf ſich ziehen. Es ſind 
ruhige Färbungen, in der Art des Braunen, 
Dunkelgrauen, der Bronce u. ſ. w. 
auf der andern Seite giebt es rothe Fär— 
bungen, die für mich gar nichts unterein— 
ander gemein haben, ſo das Siegellack-Roth 
welches ich zum Gelb ziehe und der Karmin, 
der mir blau erſcheint.“ ... 


in Gent, zuerſt die Doung-Helmholtz'ſche 
Hypotheſe kennen und dachte gleich anfangs 
daran, daß die Lähmung der rothempfinden— 


den Elemente der Netzhaut vielleicht auch 
nur relativ ſein könnte, in dem Sinne, daß 
ihre Empfindung am Ende nur durch die 
vorwiegende Empfindung der beiden andern 
Nervenelemente verdeckt ſein würde. Wenn 
dieſe Annahme zutreffend war, ſo mußte 
eine zwiſchen das Auge und die Gegenſtände 
gebrachte rothe und durchſichtige Subſtanz, 
das fehlende Gleichgewicht herſtellen können, 


Strahlen auslöſchte. Er begann damit, ein 
keilförmiges Glasgefäß mit rothen Flüſſig— 


Schicht derſelben die Veränderung der Farben 
zu prüfen. Der Zufall ließ ihn gleich an— 
fangs in einer Fuchſinlöſung ein Mittel 
entdecken, welches außerordentliche Veränder— 
ungen in dem Anblick der Farben hervor— 
brachte, und deren Wirkung durch keine ſpäter 
probirte Flüſſigkeit übertroffen worden iſt. 
Gewöhnlich wurde eine Auflöſung angewendet, 
welche /1000 0 Gewicht Fuchſin, in Alkohol 


dem Entdecker ſelbſt beſchreiben: 
„Der Effekt war zauberhaft. Nicht 
menwerfe, Blau, Karmin und Violet auf 
der einen Seite, Scharlach und Braun auf 
der andern erſchienen mir mit einem Male 


merkwürdig verſchieden, ſondern auch das 
Aber 
der mir gänzlich unbekannt war; ſonſt ſchien 
es mir matt, plötzlich wurde es flammend 


Scharlachroth an ſich gewann einen Glanz, 


und blendend. Es war das ein außerordent— 


liches Ergebniß, und ganz gewiß, ich war 


nicht darauf gefaßt.“ Schon damals und 


B SL ne u Dh 


ſpäter in Gemeinschaft mit Prof. Spring 
prüfte der Entdecker die Wirkung der Fuchſin— 
löſung auf andre Daltonianer und ſtets mit 
demſelben Erfolge. „Unter ſeinem Eiufluſſe 
bekleidet ſich die Natur plötzlich vor ihren 
Augen mit einer ſtaunenswerthen Mannig— 
faltigkeit; es heben ſich im Frühling die 
Pyramidenſträuße der rothen Kaſtanie klar 
von dem düſtern Grün ihrer Blätter; die 
Blumen des Rhododendron und des perſiſchen 
Flieders hören auf, ihnen blau zu erſcheinen; 
die Früchte der Ebereſche, welche ihnen im 
Herbſte wie dunkle Flecke im Laubwerk er— 
ſchienen, gewinnen den Anblick glühender 
Büſchel; noch immer beſſer: Violet und 
Roth, welche in ihren Empfindungen nichts 
Gemeinſames haben, nähern ſich einander 
und zeigen unter gewiſſen Umſtänden Neigung, 
einander ähnlich zu werden. . ..“ 

Dieſe Verſuche, und beſonders die Ver— 
änderung, welche vorher gleichfarbig erſchein en— 
de rothe, violette, blaue und braune Por- 
zellane und namentlich Seidenbänder unter 
dein Einfluſſe des Fuchſins annahmen, führten 
zur Verwerfung der Houng-Helmholtz'- 
ſchen Hypotheſe, da die Urſache nun nicht mehr 
in einer Lähmung der rothen Elemente, 
ſondern gegentheils in einer beſondern Em— 
pfindlichkeit für die grünen und violetten, 
oder genauer die dem Fuchſinroth comple— 
mentären Strahlen geſucht werden mußte. 
Schon damals bot ſich der Schluß, daß das 
Fuchſin wie die Aufhebung eines Hinder- 
niſſes wirke, deſſen Wirkungsmittelpunkt in 
einer ihm complementären Färbung liegen 
müßte, doch iſt das eben nur ein Bild. 


Merkwürdigerweiſe haben ſpätere Verſuche 


keinen Farbſtoff finden laſſen, der noch gün- 
ſtigere Wirkungen hervorbrächte oder ſich nur 
mit dem Fuchſin vergleichen ließe; Anilinviolet, 
und das mehr orangefarbene Eoſin brachten 
zwar auch eine gewiſſe Verbeſſerung hervor, 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


509 


aber das zufällig zuerſt angewendete Fuchſin 
übertraf ſie alle. Sehr unvollkommen wirkte 
z. B. ein mit Kupfer roth gefärbtes Glas, 
welches außer der rothen alle andern Farben 
verdunkelte. Die Spektralanalyſe ließ die 
Wirkungsweiſe des Fuchſins genauer feſt— 
ſtellen. Eine dünne Schicht Fuchſin, im 
Spektroſcope unterſucht, wirft auf die grüne 
Region einen Schatten, der anfangs, durch— 
ſichtig genug, um die Färbung noch er— 
kennen zu laſſen, ſich verdunkelt und ver— 
breitert in dem Maße, in welchem man die 
Dicke oder den Gehalt der Auflöſung ver— 
mehrt. Man kann aus den Eigenthümlich—⸗ 
keiten ihres Abſorbtionsſpektrums leicht er- 
kennen, warum Anilin-Violet, Eoſin und 
Kupferglas nicht gleich gut wirken; die 
Abſorbtionsſtreifen der erſteren haben eine 
andere Lage und Ausdehnung, und das 
Kupferglas löſcht faſt alle nicht rothen 
Strahlen aus. Es läßt ſich daraus ſchließen, 
daß es die Gegenwart der Geſammtheit 
oder jenes Theiles der grünen Strahlen iſt, 
die von dem Fuchſin ausgelöſcht werden, welche 
gewiſſe Augen für die entgegengeſetzten Farben 
weniger empfindlich macht. 

Schon früher, angeſichts der Wahrſchein— 
lichkeit, daß das Fuchſin ſein Auge dem 
der andern Menſchen nähere, hatte Prof. 
Delboeuf dieſe Vermuthung zu beweiſen 
gehofft, indem er künſtliche Rothblindheit 
hervorzurufen ſtrebte, und zwar vermittelſt 
durchſichtiger grüner Gläſer oder Auflöſungen, 
die auf das normale Auge in einem dem 
Fuchſin entgegengeſetzten Sinne wirken könnten. 
Er ſagte ſich nämlich, daß wenn dieſes 
Ziel erreicht würde, man alsdann zu ber 
ſuchen vermöchte, ob das Fuchſin auch die 
künſtliche Rothblindheit wieder aufheben 


und die natürlichen Sinnesempfindungen 
wiederherſtellen würde. Dadurch wäre dann 
ein Mittel gefunden, die Empfindungen 


510 Delboeuf, Der Daltonismus. 


zweier Individuen miteinander zu vergleichen, 
und ſich zu vergewiſſern, ob die Menſchen 
auch in dieſer Beziehung nahezu nach dem— 
ſelben Modell zugeſchnitten ſind. Es gelang 
ihm aber nicht, eine ſolche Subſtanz auf— 
zufinden, bis er mit Prof. W. Spring 
in Verbindung trat, deſſen phyſikaliſche und 
chemiſche Kenntniſſe die Weiterführung dieſer 
Unterſuchungen begünſtigten. 

Es wurden nun mit Zuhilfenahme der 
Spektralanalyſe verſchiedene grüne Flüſſig— 
keiten verſucht, und es zeigten ſich z. B. Chrom— 
grün, ſowie eine Miſchung aus Anilinblau 
und Picrinſäure ungeeignet. Auch hier führte 
aber der Zufall im Nickelchlorür bald ge— 


nug zur Auffindung einer Subſtanz, welche 


dem normalen Auge beim Hindurchblicken 
die Welt wahrſcheinlich ebenſo zeigt, wie ſie 
dem Rothblinden ſich darſtellt. Bei An— 
wendung einer vierprocentigen Auflöſung 
und einer Schicht von einem Centimeter 


Durchmeſſer, ſah nun Prof. Spring in 


der That ein violettes Seidenband ebenſo 
blau wie Prof. Delboeuf mit bloßem 
Auge, ein rothes erſchien auch ihm braun, 
und die ganze Natur nahm auch für ihn 
eine gewiſſe Einförmigkeit der Farbengebung, 


Orange ſind matt geworden und haben 
alle Lebhaftigkeit eingebüßt. Auch eine Platte 
grünen Turmalins und durch Kupfer grün 


gefärbtes Glas bringt eine ähnliche Wirk— | 
ung hervor; auch hatte Prof. Holmgren 


bereits bemerkt, daß gewiſſe blaugrüne Brillen 
die Eigenſchaft beſitzen, ihre Träger roth 
blind zu machen. Betrachtet man durch die 
Nickellöſung oder die ihr entſprechenden ande— 
ren durchſichtigen Subſtanzen das Sonnen— 
ſpektrum, ſo findet man es, wie es auch den 
Daltonianern erſcheint, an ſeinen beiden 


Enden, dem Roth und Violet, beſchnitten. 
Wenn man dann ſtufenweiſe die Dicke der 
Flüſſigkeitsſchicht erhöht, ſo bleibt von dem 
ganzen Spektrum ſchließlich nur ein grünes 
Band in der Mitte übrig, welches genau 
das dunkle Loch ausfüllen würde, welches 
das Fuchſin bei ähnlicher Anwendung darin 
aushöhlt. 

Auch die Gegenprobe ſprach zu Gunſten 
der Auſicht, daß man durch eine Nickelauf— 
löſung mit normalem Auge die Welt wie 
ein Rothblinder erblickt, denn Prof. Del- 
boeuf fand für ſeine Perſon das Aus— 
ſehen der Dinge durch die Nickellöſung, 
ſelbſt bei beträchtlicher Dicke der Schicht, 
nur wenig verändert. Dieſe Thatſachen 
zuſammenfaſſend, kann man entweder ſagen, 
daß das Auge des Rothblinden gleichſam 
Nickelchlorür, oder das normale Auge gleich— 
ſam Fuchſin enthalte, um bei gleicher Or— 
ganiſation den ſo verſchiedenen Eindruck 
zu empfangen. Man weiß, daß Dalton 
vermuthet hat, ſein Auge enthalte eine 


bläuliche Flüſſigkeit, welche Vermuthung ſich 


aber bei einer nach ſeinem Tode angeſtellten 
Unterſuchung keineswegs beſtätigt hat. Auch 


ſoll der obige Ausdruck keine Hypotheſe, 
in welcher der Glanz der Contraſte fehlte, 
an. Grün, Blau und Gelb bleiben bei- 
nahe unverändert, nur Roth, Violet und 


ſondern nur ein bloßes Bild abgeben. 

Es handelte ſich nunmehr zunächſt noch 
darum, feſtzuſtellen, ob das Fuchſin auch 
einem künſtlichen Daltonianer das normale 
Geſicht wiedergiebt. Dies geſchieht in der 
That. Wenn Jemand mit gewöhnlichem 
Auge ſoviel Nickelchlorür einſchaltet, um 
die Seidenbänder ſo zu ſehen, wie ein Dal— 
tonianer, und dann eine paſſende Schicht Fuch— 
ſin hinzunimmt, ſo erſcheinen ihm die Bänder, 
durch die doppelte Farbenſchicht zwar etwas 
weniger hell, aber wieder in den urſprüng— 
lichen Nüancen. Dementſprechend wird um— 
gekehrt ein Daltonianer, deſſen Auge durch 
Fuchſin corrigirt war, durch Hinzufügung 


1 
Delboeuf, Der Daltonismus. 


511 


von Nickelchlorür von Neuem rothblind. 
In ähnlicher Weiſe wirkte eine grüne Be— 
leuchtung, indem ſie ähnliche Farbenänder— 
ungen für normale Augen hervorrief, wie 
das Nickelchlorür, und ebenſo werden bei 
dem gelbröthlichen Lichte der gewöhnlichen 
Beleuchtung durch Kerzen oder Oellampen 
die Farben leichter unterſcheidbar für Dal— 
tonianer, wie dies ſchon Dalton ſelbſt be— 
merkt hat. 

Der unmittelbaren Anwendung dieſer 
experimentellen Thatſachen auf die Erklärung 
der Rothblindheit ſtand noch eine Schwierig— 
keit entgegen, nämlich die Frage, warum das 
Farbenſpektrum der Sonne oder weißglühen— 
der Körper, welches den Daltonianern nur 
zweifarbig erſcheint, nicht mittelſt der Fuchſin— 
löſung wieder mehrfarbig wird. Allerdings 
erſchien der Uebergangstheil zwiſchen Blau 


und Gelb in ſeiner Dämpfung durch Fuchſin 
wie eine dritte Farbe, wie Grün, aber es 


trat nicht Roth oder Violet an den beiden 
Enden hervor. Allein, wie ſich bald ergab, 


dem Vorhergehenden entnehmen können, in 
der überwiegenden Wirkung der grünen 


lichkeit für die rothen und violetten ganz 
aufhebt, und dieſe grünen Strahlen werden 


ſo blendend, daß ſie, wie jedes ſehr geſteigerte 
farbige Licht, dem Auge farblos erſcheinen, 
dabei zugleich die Empfänglichkeit für die 
nahezu complementären Farben aufheben. 
Um dieſe Vorausſetzung zu erhärten, ließ 
Prof. Spring gleichzeitig, während er das 
Spektrum eines glühenden Platindrahts be— 
trachtete, durch Nickelchlorür grün gefärbtes 
Licht, mit welchem er die Scala erleuchtete, 
in ſein Auge treten, und ſiehe da, er ſah 
jetzt, wie ſein Mitarbeiter, das Spektrum 


nur noch zweifarbig, blau und gelb. Aber 
dieſe beiden Farben ſind nicht die des ge— 
wöhnlichen Spektrums, das Blau iſt ein ge— 
ſättigtes Indigo und das Gelb ein Gold— 
gelb, ähnlich dem der neuen Zwanzigfranc— 
Stücke, es ſteckt alſo in ihnen beiden Roth. 
Wurde das durch die Mitwirkung des grünen 
Lichtes zweifarbig gewordne Spektrum durch 
Fuchſin betrachtet, ſo erſchien es in ſeinen 
natürlichen Farben. 

Wurde der Verſuch nun umgekehrt, und 
an Stelle des durch Nickelchlorür gegangenen 
Lichtes Fuchſinlicht in das ein normales 
Spektrum betrachtende Auge geſendet, fo er— 
ſchien letzteres wiederum zweifarbig, nämlich 
Purpurviolet und glänzend Rothorange und 
damit ſcheint ſich das Verſtändniß einer zwei— 
ten Art von Farbenblindheit aufzuthun, die 
ſich entgegengeſetzt verhält und durch Nickel— 
chlorür aufgehoben werden kann. Auf alle 
dieſe Thatſachen gründen die Experimenta- 


toren eine neue Theorie der Farbenempfind⸗ 
ung, welche nicht mehr von dem Vorhanden— 
walten hier beſondere Verhältniſſe vor. Der 
Fehler der Daltonianer beſteht, wie wir ſchon 


ſein verſchieden empfindender Netzhaut-Ele— 
mente ausgeht, ſondern die Farbenempfindung 
als einen allgemeinen Erregungszuſtand der 


Netzhaut, der nur nach Graden verſchieden 
Strahlen, welcher bei ihnen die Empfind- 


I 


it, auffaßt. Nach dieſer Theorie find die 
Daltonianer, wie ſich gezeigt hat, nicht über- 


haupt unfähig, Roth zu empfinden, ſondern 
im mittleren Theile des Spektrums für ſie 


ſie ſind nur durch gleichzeitige Eindrücke für 
dieſe Farbe geblendet, ähnlich wie man 
durch Santonin-Genuß vorübergehend für 
die Empfindung der violetten Farbe ge— 
blendet werden kann, und dann die geſammte 
Natur in der gelbgrünen Färbung des 
Neides erblickt. In einem gewiſſen Grade 


ſind wir Alle rothblind, denn das ſtumpfe 
Grün der Blätter reicht hin, uns für die 
anſehnliche Menge rothen Lichtes, welches die 
Blätter gleichzeitig ausſtrahlen, vollkommen 
unempfindlich zu machen. 


Erſt wenn wir 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


vermittelſt des Erythroſkops von Lommel 
die überwiegende Menge der grünen Strahlen 
abblenden, empfangen wir die Empfindlich— 
keit für dieſes Roth, und ſehen dann das 
Laub und den Raſen im Sonnenſchein leuch— 
tend ſiegellackroth, während das Grün der 
Fenſterläden unverändert daneben erſcheint, 
und ein prachtvoll blauer Himmel ſich über 
die rothen Baumwipfel wölbt. Es iſt dem— 
nach möglicherweiſe der Daltonismus lediglich 
die Steigerung einer in geringerem Grade 
allgemeinen Eigenſchaft des Auges, für grünes 
Licht viel empfänglicher zu ſein als für das 
rothe, und durch das geringſte Ueberwiegen 
deſſelben gegen das Roth mehr oder weniger 
abgeſtumpft zu werden. Vielleicht ſpielt 
hierbei das Sehroth eine dem Fuchſin ähn— 
liche Rolle, und ſein Fehlen oder Vorwiegen 
bewirkt vielleicht dieſe Störungen. Wegen 
der mathematiſchen und phyſikaliſchen Be— 
gründung jener Theorie, die ohne die er— 
läuternden Figuren unverſtändlich bleiben 
würde, müſſen wir auf das Original verweiſen. 


Schlußbetrachtungen. 


„Kommt dem Farbenſinn in allen ſo— 
genannten normalen Augen derſelbe Grad 
von Feinheit zu? Man würde hieran ſchon 
zweifeln dürfen, einzig in Folge der Er— 
fahrung, daß die Natur ſich niemals wieder— 
holt. Giebt es doch nicht einmal zwei 
völlig gleiche Blätter! So erhebt ſich denn 
ein ſtarke Muthmaßung zu Gunſten der 
Meinung, daß, was die Farben angeht, Jeder 
ſie ein wenig nach ſeiner Art ſieht. Hat 
nicht ſchon die Weisheit der Völker gejagt, 
daß es gewiſſe Dinge giebt, über die man 
niemals ſtreiten ſoll? Wir ſind jetzt in der 
Stellung, auf dieſe Frage zu antworten und 
die Antwort auf poſitive Beweiſe zu ſtützen. 

Nicht weniger als es Gradunterſchiede 
beim Daltonismus giebt, muß man auch 


Mit 


ſolche beim Nichtdaltonismus zugeben. 
andern Worten: zwiſchen dieſen beiden äußer— 
ſten Graden der Farbenmächtigkeit in einem 
gewiſſen Sinne, giebt es alle möglichen 
Uebergänge. In der That corrigirte ſich 
das Auge der verſchiedenen Rothblinden, mit 
denen wir experimentirt haben, vermittelſt 
ſehr verſchiedener Fuchſinſtärken, und andrer— 
ſeits bedurften die „normalen“ Augen, welche 
wir unſern Experimenten unterworfen haben, 
mehr oder weniger beträchtlicher Mengen von 
Nickelchlorür, um einen gleichen Grad von 
Rothblindheit zu erlangen. Fragen Sie eine 
Geſellſchaft verſchiedener Perſonen, welche 
Farbe der rothe Fingerhut (Digitalis pur— 
purea) beſitze, und Sie werden — wir haben 
dieſe Probe oft angeſtellt, — die wider— 
ſprechendſten Antworten, begleitet von den 
entſchiedendſten Beſtätigungen und Vernein— 
ungen, erhalten. Man beſteht Zug um 
Zug darauf, daß die Blume violet, purpurn, 
roſa, lila, malvenfarbig, braunkohlfarbig ſei. 
Jede Perſon ſieht das Spektrum nach ihrer 
Art, die Eine ſieht darin mehr Blau und 
Gelb, die andere mehr Violet und Roth, 
die Einen ſehen es mehr ausgedehnt, die 
Andern weniger. Wir ſind ſogar bei einem 
Collegen dem ſonderbaren Falle begeg— 
net, daß er Violet ſah, wo man gewöhn— 
lich Roth ſieht. Aber Herr Spring hat 
dieſe Erſcheinung bei ſich ſelbſt hervorbrin— 
gen können, er brauchte nur ſeinen Blick 
ungefähr achtzehn Sekunden lang auf dem 
gelben Theil des Spektrums verweilen zu 
laſſen, um dann ebenfalls den rothen Theil 
violet zu erblicken. 

Dieſe letztere Thatſache reiht ſich wohl— 
bekannten und beſprochenen Erſcheinungen an; 
aber wenn man ſie mit denjenigen, die wir ſtu— 
dirt haben, vergleicht, bemerkt man, daß dieſe 
angeblich irrigen Urtheile einzig auf einer 
beſonderen Dispoſition der Netzhaut, dieſer 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


oder jener Reaction den Vorzug zu geben, 
beruhen können. Die Verſchiedenheiten in den 


Augen beziehen ſich alſo auf zweierlei Urſachen, 


auf den Grad der Trägheit oder des Wider— 
ſtandes der Netzhaut und auf die Spektral— 
lage derjenigen Strahlengattung, die ihrem 
natürlichen Gleichgewichtszuſtande, ihrem 
Nullpunkte entſpricht. Bis zum Beweiſe 
des Gegentheils neigen wir dazu, auf dieſe 
letztere Urſache die Varietäten zu beziehen, 
die der Daltonismus darbieten kann. Da— 
ran knüpft ſich ein fernerer Schluß: der 
Daltonismus vermag unter allen ſeinen For— 
men betrachtet werden, als ob er nur die 
einfache, aber ausnahmsweis ſtarke Ueber— 
treibung einer Beſondernheit wäre, die allen 
Augen, mehr oder weniger ausgeſprochen, 
eigen iſt. Aus dieſen Gründen geſchah es, 
daß wir für dieſe Eigenthümlichkeit den 
Namen Daltonismus beibehielten, da er an 
einen großen Namen erinnert und kein Vor⸗ 
urtheil erweckt, denſelben ſolchen Benenn— 
ungen vorziehend, welche, wie Achromatopſie 
(Farbenblindheit), zu viel ſagen oder ganz 
unverſtändlich ſind, wie Chromatopſeudopſie 
(falſches Farbenſehen). In Wirklichkeit 
giebt es ja eine allein wahre Manier, die 
Farben zu ſehen, überhaupt nicht. Eine 
Empfindung kann mehr oder weniger un— 
vollkommen, nicht aber falſch ſein. Es iſt 
ohne Zweifel gewiß, daß derjenige, welcher 
eine durch einen Andern erkannte Ver- 
ſchiedenheit nicht wahrnimmt, ein weniger 
gutes Geſicht beſitzt, als dieſer, aber wer 
möchte behaupten, daß nicht ein beſſer orga— 
niſirtes Auge noch da, wo der Sieger nur 
einförmige Färbung wahrnimmt, weitere 
feine Nüancen unterſcheiden könnte? Sieht 
nicht anderſeits der Daltonianer ſeinerſeits 
Färbungen durchaus verſchieden, die zu 
verwechſeln gewöhnliche Augen ſehr geneigt 
find? Anderſeits ſcheint folgende That— 


513 


ſache ſehr geeignet, dieſe Beobachtung zu 
beſtärken. 

Eines Tages entwarf einer meiner 
Freunde, ein talentvoller Maler, eine Land— 
ſchaftsſkizze. Er hatte ſich im Angeſicht 
einer der ſchönſten Maaslandſchaften nieder- 
gelaſſen, und die warmen und grellen Töne 
der Felſen von Chokier, welche ſich im Vor— 
dergrund darſtellten, contraſtirten wunderbar 
mit denen der fernen Hügel von Engis 
und Engihoul, welche den Hintergrund des 
Gemäldes ausmachten und deren Formen der 
Duft eines heißen September-Nachmittags 
verwiſchte. Als nun der Künſtler, um die 
weiche und milde Durchſichtigkeit des Hori— 
zontes darzuſtellen, Grau auf der Palette 
zurecht machte, proteſtirte ich: für mich wären 
die Hügel, welche die Ausſicht ſchloſſen, in 
Blau getaucht. Derſelben Meinung war 
außerdem eine anweſende junge Dame. Eine 
andre Dame dagegen, welche ſich mit Malerei 
beſchäftigte, urtheilte, als Schiedsrichterin 
angerufen, wie der Landſchafter. Dies 
Urtheil ſchien weitere Diskuſſionen abzu— 
ſchneiden und der Maler entſchied ſich zu 
meinem großen Mißvergnügen für die 
anfangs gewählte Farbe. Im erſten Augen— 
blick ſchien mir das ganz natürlich, aber 
beim Nachdenken darüber fand ich die Sache 
ſonderbar. Daß mein Freund die Farbe 
wiedergab, wie ſie ihm erſchien, war ja in 
der Ordnung, aber wie kam es, daß weder 
die junge Dame noch ich den auf die Lein— 
wand geworfenen gräulichen Hintergrund 
blau erblickten? Es gab alſo zwiſchen der 
natürlichen Farbe der Landſchaft und der— 
jenigen des mit Oel durchfeuchteten Staubes, 
die jene wiedergeben ſollte, einen Unterſchied, 
den der Künſtler nicht empfand. 
mich ſeitdem oft gefragt, ob nicht eine 
ähnliche Urſache daran ſchuld ſein mag, daß 
gewiſſe Coloriſten Alles in Gelb, Blau, 


Ich habe 


514 


Grün oder Grau malen müſſen.“) Und 
was den Umſtand betrifft, jetzt zu erfahren, 


mit meinem Blau Recht hatte, ſo iſt das 
eine müßige und durchaus unlösbare Frage. 


Derjenige allein wird in der Malerei reuſſi- 


ren, deſſen Augen denen der großen Menge 
entſprechend empfinden. 

Wir können auf den Urſprung dieſes 
Auseinandergehens der ſinnlichen Urtheile 
zurückgehen. Die Malerei hat in Wirklich— 
keit den Zweck, die Natur und ihr leuchten— 
des Aeußere mit Farbſtoffen nachzubilden, 
deren färbender Stoff von anderer Natur 
iſt als die nachgeahmten Färbungen. Da 
nun ein Daltonianer — wie wir oben 
ſahen — darauf verfallen kann, rothe 
Bäume zu malen, weil ihm der Farbſtoff 
auf der Palette ebenſo erſcheint, wie derjenige 
des Laubwerks: wer giebt uns Gewißheit, daß 
für andre vollkommnere Augen, vielleicht 
für diejenigen unſerer Nachkommen, das 
Gelb, die Ockerfarbe, das Blau und das 
Grün, deſſen man ſich gewöhnlich in der 
Malerei bedient, nicht ganz verſchieden erſchei— 
nen werden, von dem Gelb, Braun, Blau 
und Grün der lebenden Natur? 

Das könnte uns nun wohl auf die 
hiſtoriſche und philologiſche Seite der Frage 
führen. Man hat behauptet, daß die Alten 
weder Blau noch Violet gekannt hätten, und 
daß der Farbenſinn ſich vom Roth aus 
nach der andern Seite des Spektrums hin 
entwickelt habe. Es iſt unleugbar, daß 
Homer und die andern griechiſchen Poeten, 

) Anmerkung des Ueberſetzers. Dieſen 
Gegenſtand hat der Ophthalmologe Dr. R. 
Liebreich in einem Vortrage behandelt, 
welchen derſelbe am 8 März 1872 in London 
gehalten und in welchem er den Grund, 
warum einzelnen Malern gewiſſe Pigmente 
anders als die Naturfarben erſcheinen, geiſtreich 
erörtert hat. 


ſchieden hätten, erſcheint gezwungen. 
Lateiner haben kein beſonderes Wort, um 
die gelbe Farbe zu bezeichnen. 


Delboeuf, Der Daltonismus. 


in ihren Verſen niemals der blauen Seen 


noch des Azurs eines wolkenloſen Himmels, 
ob mein Freund mit ſeinem Grau oder ich 


gedenken, ja nicht einmal ein beſonderes Wort 
beſitzen, um deren Farbe zu bezeichnen. Der 
Schluß jedoch, den man hieraus zieht, daß 
ſie ſie nicht vom Schwarz oder Grau unter— 
Die 


Wir ſelbſt 
beſitzen keine Specialbezeichnungen für die 
Gerüche, und für die ſo verſchiedenartigen 
und beſtimmten Empfindungen des Ohres iſt 
unſer Lexikon von einer äußerſten Armuth. 
Zum Theil haben wir darin übrigens eine 
Frage der Thatſachen von uns. Iſt in den 
Malereien, welche uns aus dem Alterthum 
überkommen ſind, und welche die Tempel 
der Pharaonen und die Aſche Pompeji's 
uns bewahrt haben, der Himmel blau oder 
nicht? Findet man auf den Thonwaaren 
und Moſaiken und Statuen einer entfernten 
Epoche niemals Spuren von Blau oder 


Violet? Darin iſt es, wo man die Ent— 


ſcheidung des Streites findet.“) 

Wie es auch darum ſtehen mag, es iſt 
nunmehr möglich, verſchiedene Augen in 
Beziehung auf den Farbenſinn zu vergleichen. 
Das Fuchſin, Nickelchlorür und, wenn nöthig, 
andre Subſtanzen, werden das genaue Maß 
der Unterſchiede geben. Damit ſehen wir 
eine Breſche gelegt in jene Mauer, welche 
in jedem von uns das innere Sinnesforum 
von dem des Andern trennt. Nicht mehr 
alle Empfindungen widerſetzen ſich einem 
Austauſche; die der Farben können nun von 
einer Perſon der Andern mitgetheilt werden. 


) Anmerkung des Ueberſetzers. In einer 
Anmerkung zu dieſer Stelle verweiſt der Herr 


Verfaſſer auf die drei gegen Magnus' 
und Geiger's Theorien gerichteten Artikel im 
erſten Bande des „Kosmos“, die ihm als bewei— 
ſend erſchienen ſind. 


Delboeuf, Der 


Gewiß kann man, mit der ganzen Strenge 
einer unbeugſamen Logik räſonnirend, immer 
noch Zweifel gegen die Gleichförmigkeit der 
Eindrücke eines natürlichen Daltonianers, 
mit denen eines künſtlichen erheben. Aber 
es kann ſich die Gelegenheit bieten, ſie ver— 
ſchwinden zu laſſen. Wenn ſich z. B. Indi— 
viduen fänden, welche ein rothblindes Auge 
und ein gewöhnliches hätten, ſo würde nichts 
leichter ſein, als den Werth unſrer Ergeb— 
niffe zu controliren. Es reicht ſogar hin, daß 
die Abweichung nicht denſelben Grad in beiden 


) Centralblatt für die mediz. Wiſſenſchaften, 
24. Februar 1872. 

) Anmerkung des Ueberſetzers. In 
einer Nachſchrift behandelt der Verfaſſer noch 
kurz die Möglichkeit einer Heilung des Dal— 
tonismus, die ſich ihm dadurch eröffnet hat, 
daß er ſelbſt ſeit einiger Zeit das Roth leuch— 
tender erblickt und nicht mehr ſo leicht mit 
Braun und Violet verwechſelt als früher. Er 
ſchreibt dieſen Fortſchritt der häufigen Benutz 
ung der Fuchſinlöſung zu, welche gleichſam ein 
im Auge vorhandenes Hinderniß beſeitigt. 
Doch ſind dieſe günſtigen Ausſichten noch zu 
neu, um eine ſichere Zuverſicht darauf zu be— 
gründen. Eine auf Veranlaſſung der belgiſchen 
Regierung von der Akademie der Wiſſenſchaften 
neuerlich einberufene Commiſſion, welche aus 


den Profeſſoren Van Beneden, Delboeuf, 


Schwann und Spring beſtand, um über die 
für den Eiſenbahndienſt wichtigen Fragen zu 
berathen, hat unter Anderem für die Zugführer 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


Daltonismus. 515 
Augen erreicht hat. Nun, derartige Fälle 
dürften relativ und in Summa nicht felte- 
ner ſein, als diejenigen einer ungleichen 
Kurz⸗ oder Weitſichtigkeit beider Augen. Herr 
Woinow in Moskau erwähnt den Fall einer 
Dame, deren rechtes Auge der Empfindung 
des Grünen beraubt war, während das 
linke ſämmtliche Farben erblickte. Dürften 


wir es wagen Herrn Preyer, der den 
Fall beſprochen hat), zu erſuchen, ſich auf's 
Neue mit Herrn Woinow in Verbindung 
zu ſetzen, um von ihm wohl eingeleitete 
Aufklärungen zu erhalten ? **) 


den Gebrauch eines Analyſators empfohlen, 
der aus einer geeigneten grünen und einer 
rothen Glasſcheibe beſteht. Bei Unſicherheiten 
über die Farben der Signale, die durch Ermü— 
dung oder Krankheit ſogar plötzlich eintreten 
können, würde es genügen, das fragliche 
Signal, erſt durch die eine, dann durch die 
andre Scheibe zu betrachten. Ein rothes Signal 
wird durch das rothe Glas an Helligkeit zu- 
nehmen, und durch das grüne verdunkelt 
werden, und bei einem grünen Signal wird 
der umgekehrte Fall eintreten. Um dieſen 
Analyſator aber für die Nachtſignale ebenſo 
brauchbar wie für die Tagesſignale zu machen, 
müßten für die farbigen Laternen ſorgfältig 
Gläſer ausgewählt werden, welche nur ſolche 
Strahlen durchlaſſen, die durch die entgegen— 
geſetzten Scheiben des Analyſators möglichſt 
ausgelöſcht werden. (Bull. de 1’ Acad. Royale 
de Belge. P. XLV. Avril 1878.) 


Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften 
im vorgeſchichtlichen Europa. 


Von 


Ernſt Krauſe. 


ir John Lubbock, Ed⸗ 
ward Tylor, Herbert 
Spencer u. A. haben die 
Urzuſtände der europäiſchen 
Bevölkerung unſerm Verſtänd— 
niſſe dadurch näher zu bringen geſucht, daß 
ſie zur Vergleichung die Lebensweiſe, Fähig— 
keiten und Sitten der außereuropäiſchen 
„Wilden“ im weiteren Umfange herbei— 
zogen. Sie haben gezeigt, daß noch in 
der Jetztwelt eine bedeutende Anzahl von 
Völkern in der Steinzeit lebt, andere die 
Lebensweiſe der Ichthyophagen fortſetzen, 
deren Spuren wir in den ſogenannten 
Kjökkenmöddings finden, während noch an— 
dere in Pfahlbauten hauſen und Stein— 
monumente aufrichten, gerade ſo, wie eine 
Reihe von Stämmen im vorgeſchichtlichen 
Europa. Wir haben da mit einem Worte 
die Vorzeit in der Gegenwart, und das 
Studium der Indianerkünſte, um Stein— 
waffen zu verfertigen, Feuer anzumachen, ihre 
Jagd- und Fiſcherei-Praxis, ihre primitiven 
Leiſtungen in den Bekleidungsgewerben und 
in der Töpferei, in den Anfängen der 


ornamentalen Kunſt und ſchriftlichen Auf— 
zeichnung, in der Metallgewinnung und 
Färberei, iſt für uns ein Mittel geworden, 
die Lebensart unſerer eigenen Urväter zu 
verſtehen und auch einen tiefern Blick in 
ihr Seelenleben zu thun. 

Die genannten Autoren und ihre Nach— 
folger auf dieſem Gebiete haben bei dieſer 
lehrreichen Vergleichung einen ferneren Be— 
rührungspunkt vorläufig ganz außer Be— 
tracht gelaſſen, der dennoch zu den intereſ— 
ſanteſten Parallelen Veranlaſſung giebt: 
ich meine den allgemeinen Gebrauch von 
Pfeilgiften, wie ihn uns die Erforſcher 
der neuen Welten geſchildert haben, im alten 
Europa. Wir werden nachher ſehen, daß die 
alten Griechen und Römer, als ſie das nordiſche 
Europa entdeckten und erforſchten, vor 2-3000 
Jahren mit demſelben unheimlichen Gefühle, 
welches unſere heutigen Tropen-Reiſenden 
empfinden, den Gebrauch jener furchtbaren, 
bei der geringſten Verwundung ſicher tödten— 
den Waffen in Nordeuropa beobachteten und 
ſchilderten. Sie ſelbſt hatten dieſen, ohne 
Zweifel auch bei ihren Urvätern vorhanden 


geweſenen Gebrauch der Giftwaffen faſt 
ebenſo vollkommen vergeſſen, wie die Nord— 
europäer ſeit einigen Jahrhunderten. Dieſes 
vollkommene Verſchwinden einer ehemals 


gebräuchlichſten Jagd- und Kriegswaffe, die 


auch wahrſcheinlich unſern eigenen Urvor— 
fahren dazu diente, ihren alltäglichen Unter— 
halt herbeizuſchaffen, iſt ebenſo lehrreich als 
merkwürdig; um ſo mehr, als die Kunde 
ſich in einigen Gegenden bis ins 14., 
15. und 16. Jahrhundert erhalten hat; 
erſt die Erfindung des Schießpulvers gab 
der Erinnerung an die Giftpfeile der Vor— 
zeit den Todesſtoß. 

Als im Jahre 1595 Walter Ra— 
leigh, der Eroberer Virginiens, die erſte 
Kunde nebſt Proben von einer Subſtanz 
unbekannten Urſprunges, deren ſich die 
amerikaniſchen Indianer auf der Jagd und 
im Kriege bedienten, nach Europa brachte, 
war das Erſtaunen über den bei uns un- 
erhörten Gebrauch allgemein. Das Geheim 
niß, in welches die Wilden ihre Bereitung 
hüllten, die wunderbare Thatſache, daß ſchon 
eine minimale Spur deſſelben in einer 
Wunde unabwendbar den Tod nach ſich 
zog, die noch wunderbarere Nachricht, daß 
das Gift im Magen unſchädlich ſei und 
ſogar hier und da als Heilmittel diene, 
umhüllten dieſe Erzählungen mit einem 
romantiſchen Schauder, der ſich bei der 
Kenntnißnahme der javaniſchen Pfeilgifte 
im vorigen Jahrhundert zu einem wirklichen 
Romane ausbildete. Im Jahre 1775 ver— 
öffentlichte nämlich der holländiſche Wund- 
arzt Förſch ein Buch über Java, in 
welchem der Pfeilgiftbaum dieſer Inſel den 
Löwenantheil des pittoresken Intereſſes da— 
vonträgt: „In einer Einöde des Innern 
der Inſel ſteht der gewaltige Giftbaum, 
deſſen Ausdünſtungen die Luft auf drei 
Meilen im Umkreiſe vergiften, ſo daß der 


Kraufe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


517 


Boden rings von den Gerippen der Men- 
ſchen und Thiere umgeben iſt, die ſich ihm 
in Unkenntniß, oder mit der Abſicht, feinen 


giftigen Saft zu bekommen, genähert haben. 


Um den letzteren nämlich für die Zwecke 
des Krieges, der Jagd und der Staats— 
juſtiz zu bekommen, ſtellte man, wie Förſch 
erzählt, verurtheilten Verbrechern die Wahl 
zwiſchen ſofortiger Hinrichtung oder einem 
Gange zum Upasbaume, mit der Ausſicht 
auf Begnadigung, wenn es ihnen gelänge, 


eine Portion des Giftes glücklich heimzu⸗ 


bringen. Sie zogen in der Regel die 
letztere Alternative vor, da bei ſonſtiger 
guter Körperconſtitution und günſtigem 
Winde ein Gelingen der Expedition für 
möglich galt. 

An der Grenze des Upas-Thales wohnt 
ein alter Heidenprieſter, deſſen alleiniges 
Amt es iſt, den ausgeſandten Verbrechern für 
ihr Vorhaben nützliche Winke zu geben und 
ſie für den lebensgefährlichen Gang mit 
religiöſer Stärkung zu verſehen. Förſch 
hatte mit dieſem Prieſter eine lange Unter— 


redung, aus welcher er alles Nähere über 


den gefürchteten Baum und ſein verhäng— 
nißvolles Gift erfuhr. Der alte Mann 
wollte während eines dreißigjährigen Auf— 
enthaltes in dieſer Gegend nicht weniger 


als 700 Wagehälſe für die Reiſe nach 


dem Upasbaume vorbereitet haben, von 
denen aber nicht der zehnte Theil zurück— 
gekehrt ſei. Er verſähe einen Jeden mit 
einer Maske, mit einer ledernen Kapuze 
und einem Käſtchen für den trefflichen Saft, 
der ihnen das Leben, Andern den Tod 
bringen ſollte. Die Verurtheilten warteten 


in ſeiner Wohnung den Eintritt des gün— 


ſtigen Windes ab, und würden dann von 
ihm an einen Bach geleitet, deſſen Lauf ſie 
zu dem Baume führe.“ 

So weit die Mittheilungen von Myn— 


— EEE 


518 


heer Förſch, der ſich vergebens bemühte, 
wenigſtens einen Zweig des Baumes als 
Wahrzeichen mit nach Europa zu bringen. 


Märchen gefüttert, da man den Urſprung 
der gefürchteten Waffe den Holländern ver⸗ 
borgen zu halten wünſchte. Ein großes, 


ſcheinlich ein ehemaliger Krater, welches 


mit den Gerippen von erſtickten Thieren 

erfüllt war, wie wir derartige Mofetten 

Jia auch in Europa haben, diente um der 

Sage ein Relief zu geben. Vollkommen 
wahr mag indeſſen ein Bericht deſſelben 
Autors über eine Execution am Hofe eines 
damaligen javaniſchen Fürſten ſein, die er 
als Augenzeuge beſchrieb. Es wurden mit 
einem Male dreizehn Frauen deſſelben, die 
ſich durch irgend ein Vergehen die Un— 
gnade ihres Herrn und Gebieters zugezogen 
hatten, durch Upasgift hingerichtet. Man 
ritzte ſie dabei nur ganz leicht mit einer 
damit beſtrichenen Lanzette, worauf ſie nach 
wenigen Augenblicken todt zu Boden fielen. 
Wir erinnern uns, daß auch in den An— 
fängen der europäiſchen Juſtiz das Gift 
eine ähnliche Rolle ſpielte. 

Man hat ſpäter den Urſprung der 
javaniſchen und indiſchen Pfeilgifte genau 
kennen gelernt, die betreffenden Pflanzen 
nach Europa gebracht, ihre Wirkungen 
ſtudirt und den wirkſamen Beſtandtheil 
daraus dargeſtellt. Der von Förſch ge— 
meinte Giftbaum wurde von den Einge— 

beornen mehrer oſtindiſchen Inſeln, nament- 
lich auch auf Borneo, für ihren Bedarf 
künſtlich angepflanzt und gepflegt; es iſt 
ein über hundert Fuß Höhe erreichender 


und der Familie der Brodbäume, dem man 
nach dem Namen des aus ſeiner Rinde 
bereiteten Pfeilgiftes, Upas antjar, den 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


| 
| 
| 


Kohlenſäure aushauchendes Giftthal, wahr- 


verwandte 


Namen Antiaris toxicaria beigelegt hat. 
Erſteres verdankt ſeine Wirkſamkeit allein 
dem Antiarin, einem Harzgifte, von welchem 


Man hat ihn offenbar gefliſſentlich mit ſchon außerordentlich kleine Spuren in 


Wunden tödtlich wirken. Es iſt aber wie 
die meiſten Pfeilgifte im Magen vollkom— 
men unſchädlich, und als die Eingebornen 
Borneos in den letzten Kriegen mit den 
Holländern ihre Giftpfeile in Anwendung 
brachten, gab man den Soldaten einfach 
den Rath, ſchnell einen Kreuzſchnitt über 
die Wunde zu machen, und ſie bis zur 
Herbeiſchaffung von Schröpfköpfen mit dem 
Munde auszuſaugen. Auf dieſe Weiſe 
wurden die meiſten verwundeten Soldaten 
von dem ihnen ſonſt ſicher drohenden Tod 
errettet. 

Die Bewohner Oſtindiens verwenden 
aber neben dem Upas antiar noch ein an— 
deres, mindeſtens ebenſo gefährliches Pfeil— 
gift, das Fürſten-Gift (Upas radjah oder 
Tieutte), welches aus einer Anzahl von 
Pflanzenſtoffen bereitet wird, unter denen 
eine dem ſogenannten Krähenaugen-Baum 
Pflanze (Strychnos Tieuté 
Lesch.) die Hauptrolle ſpielt. Merkwür— 


diger Weiſe werden die ſüdamerikaniſchen, 


Baum aus der Ordnung der Neſſelgewächſe 


unter den Namen Curare, Woorari, Urari, 
Tikuna u. ſ. w. bekannten, ſehr wirkſamen 
Pfeilgifte größtentheils ebenfalls aus Strych- 
nos-Arten (namentlich Strychnos toxifera 
Schomb., St. cogens Benth., St. Schom- 
burgkii Kl. u. A.) dargeſtellt, jo daß 
man ſagen kann, die Strychnaceen ſeien 
die eigentlichen Pfeilgiftpflanzen, obwohl 
die ihnen im Syſtem zunächſt ſtehenden 
Milchſaftpflanzen der Apocyneen und 
Asklepiadeen, ſowie auch andere gar nicht 
verwandte Pflanzen ebenfalls ſehr wirkſame 
Blutgifte enthalten. 

Jene aus Strychnos und Genoſſen 
bereiteten Pfeilgifte zeichnen ſich nun meiſtens 


dadurch aus, daß fie eine dem gefürchteten 
Gifte der Krähenaugen (d. h. der Samen 
von Strychnos Nux vomiea L.), dem 
Strychnin, faſt entgegengeſetzte Wirkung 
zeigen. Während dieſes das Nervenſyſtem 


furchtbar erregt und dem Tode voran- 


gehende ſchreckliche Krämpfe erzeugt, ſtürzen 
die mit den amerikaniſchen Giftpfeilen ver— 
wundeten Thiere nach wenigen Augenblicken 
gelähmt nieder, ſie können nicht einmal 
ſtöhnen oder ſchreien, weil die Lähmung 
auch die Stimmnerven erfaßt hat, und 
ſterben lautlos, ſobald dieſelbe die Athmungs— 
nerven ergriffen hat. Im Magen dagegen 
iſt auch dieſes Gift viel weniger ſchädlich, 
ja es wird von den Ureinwohnern als 
Magenheilmittel genoſſen, natürlich in klei— 
nen Mengen. Das Fleiſch der ſo erlegten 
Thiere wird für vollkommen unſchädlich 
gehalten. 

Dieſe merkwürdigen Wirkungen und 
der Umſtand, daß in unſeren Breiten keine 
Strychnaceen vorkommen, iſt ganz geeignet, 
die irrige Vorſtellung zu erzeugen, daß ſo 
furchtbar wirkende Blutgifte in den Pflan- 
zen nur die Tropenſonne zeitigen könne, 
wie ja auch die giftigſten Reptilien und 
Inſekten nur dort vorkommen; und in der 
That findet man die Meinung allgemein 
verbreitet, daß es bei uns und in der 
gemäßigten Zone überhaupt keine Pfeilgift— 
pflanzen gäbe, und daß dergleichen in 
Europa unerhört ſei. Man betrachtete 
daher auch in den ethnographiſchen Samm— 


lungen die mit eingedicktem Pfeilgift ange— | 
füllten Muſchelſchalen und Kürbisfläſchchen, 


ſowie die mit der Warnungstafel: „Ver— 
giftet!“ verſehenen Pfeile mit einer Art 
beſonderen Reſpekts und ſcheuem Mißtrauen; 
die auf Nervenreize abzielenden Roman— 
ſchriftſteller der Dumas-Sue'ſchen Schule 
verſchrieben ſich ſolche mit einem Hände— 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


druck beibringbaren „extrafeinen“ Gifte für 
beſonders raffinirte Ausderweltſchaffungen, 
und Niemand wird die faſt abergläubiſche 
Scheu vor dem Giftpfeil, wie fie Jean 
Paul in Katzenberger's Badereiſe und 
Balzac in einer ſeiner „drolligen“ Er— 
zählungen (PApostrophe) geſchildert haben, 
humoriſtiſch und ungerechtfertigt finden. 
Gleichwohl iſt kein Zweifel daran und 


wird von zahlreichen klaſſiſchen Schriftſtel— 
lern beſtätigt, daß die Urbewohner Europas 


in ihrer heimathlichen Flora allerwärts 
Pfeilgiftpflanzen zu ermitteln wußten, und 
ſich alſo auch in dieſem Punkte gar nicht 


von den Naturvölkern Amerikas und Afrikas 


unterſchieden haben. Man konnte dieſe 
Pflanzen eben darum ſo vollkommen ver— 
geſſen, weil ſie wahrſcheinlich im Magen 
ebenfalls unſchädlich ſind, — denn ſonſt 
würden ſie zum Theil das Wildpret un— 


genießbar gemacht haben, — während die 


Volksbotanik ſich heute doch mit gutem 
Grunde nur um ſolche Giftpflanzen küm— 
mert, die vom Magen aus vergiften. So 
haben denn beiſpielsweiſe vor einigen Jahren 
die Pharmacologen Diedulin und 
Buchheim bemerkt, daß die Extrakte 
zweier unſerer für ganz unſchuldig gehal— 
tenen Feldpflanzen, nämlich der Hunds— 
zunge (Cynoglossum offieinale L.) und 


der Natternzunge (Echium vulgare L.) 


dem amerikaniſchen Curare ähnlich wirken, 
wenn auch nicht ganz ſo ſtark. 

Bevor wir zu einer nähern Betracht— 
ung der alten Zeugniſſe über den Pfeil- 
giftgebrauch der europäiſchen Indianer über— 
gehen, müſſen wir uns die anſcheinend ſehr 


verwickelte Frage vorlegen, wie die menſchliche 


Urbevölkerung auf der ganzen Welt und in 
den verſchiedenſten Zonen dazu gekommen ſein 
mag, Waffen der gefährlichſten Art zu entdecken 
die ſo in der Natur verſteckt liegen, daß 


520 


unſere Botaniker und Chemiker beiſpiels— 
weiſe noch vor wenigen Jahren nicht im 
Stande waren, auch nur eine einzige mittel— 
enropäiſche Pflanze mit Sicherheit zu be— 
zeichnen, aus welcher die alten Gallier, 
Franken, Belgier, Dalmatier und Scythen 
im Stande geweſen wären, die Pfeilgifte 
zu bereiten, mit denen ſie verſehen waren. 
Aber wenn man dieſe Frage näher be— 
trachtet, ſo findet man, daß ihre Löſung 
weniger ſchwer iſt, als ſie erſcheint. Es 
unterliegt nämlich meines Erachtens keinem 
Zweifel, daß der Urmenſch überall die 
Idee ſeiner Giftpfeile aus der Beobachtung 
der giftigen Schlangen und Inſekten ſchöpfen 
mußte. Nirgends konnte es ihm entgehen, 
daß die unbedeutenden Wunden, welche der 
Biß oder Stich dieſer Thiere bei Menſchen 
und Thieren erzeugt, nur deshalb tödtlich 
werden, weil eine fremde Subſtanz, ein 
Blutgift, mittelſt der Waffe in die Wunde 
gelangt. Je unvollkommner ſeine eigenen 
Jagd- und Kriegswaffen waren, um ſo 
ſtärker mußte er offenbar dieſe Thiere um 
ihre Giftwaffe beneiden, und daran knüpft 
ſich unmittelbar der Wunſch einer Nach— 
ahmung derſelben. Es läßt ſich annehmen, 
daß überall zuerſt ausgebrochene Giftzähne 
der getödteten Schlangen als Giftpfeil— 
ſpitzen gedient haben mögen. Schon der 
alte Aelian hat dieſer Meinung Aus— 
druck gegeben, indem er ſagt, die Menſchen 
hätten den Gebrauch der Giftpfeile den 
Wespen abgelauſcht, dieſe ſtürzten ſich näm— 
lich, ſobald ſie eine todte Schlange fänden, 
auf dieſelbe und vergifteten ihre Stacheln 
daran.!) Wenn nun auch dieſe Gewohn— 
heit der Wespen in das Gebiet der Mythe 
gehört, ſo iſt der Grundgedanke doch ſehr 
wahrſcheinlich und ſeine ſchon an ſich un— 
abweisbare Annahme wird noch beträchtlich 


. Hist. animal. V. 16. 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


durch die Thatſache erhöht, daß die Gift— 
köche aller Völker und Zeiten Schlangen 
und andere für giftig gehaltenen oder wirk— 
lich giftigen Thiere (Eidechſen, Fröſche, 
Salamander, Spinnen, Ameiſen, Raupen 
u. ſ. w.) ihrem nach den Regeln der Hexen— 
küche bereiteten Gebräu hinzuſetzten und 
heute noch hinzuſetzen. In dem alten, dem 
Ariſtoteles zugeſchriebenen griechiſchen 
Buche: De mirabilium auseultationibus 
wird die Bereitung des Pfeilgiftes der 
Scythen wie folgt beſchrieben: „Das Gift 
der Scythen, mit welchem fie die Pfeile 
vergiften, wird, wie man ſagt, aus der 
Viper bereitet. Die Seythen fangen träch— 
tige Vipern und laſſen dieſelben mehrere 
Tage hindurch faulen und zerfließen; ferner 
graben ſie das geſammte Blut eines Men— 
ſchen in einen bedeckten Topfe in Miſt. 
Wenn letzteres gut durchgefault iſt, nehmen 
ſie die über dem Blute ſtehende wäſſerige 
Flüſſigkeit, miſchen dieſelbe mit dem Schleim 
der Viper, worauf das tödtliche Gift fertig 
iſt.“!) Auch Ovid erwähnt kurz?) der 
mit Schlangengift beſtrichenen Pfeile der 
Scythen; Aelian deutet ebenfalls die 
Miſchung deſſelben mit dem menſchlichen 
Blutwaſſer an und ſagt, daß man dieſe 
Miſchung kurzweg das „ſcythiſche Gift“ 
genannt habe.?) Plinius fügt noch hin— 
zu, daß es gegen dieſe ſchändliche Miſchung 
aus Viperngift und Menſchenblut gar kein 
Heilmittel gebe; eine auch nur oberflächliche 
Berührung tödte auf der Stelle.“) 

Mit Recht bezweifelte ſchon Redi eine 
fo ſchnelle Wirkung dieſer Miſchung,“) bei 

) Cap. 153 S. 316 der Beckmann'ſchen 
Ausgabe. 

2) Ovid., ex Ponto IV. Ep. 9. v. 83. 

3) Aelian., Histor. animal IX. c. 15. 

) Plinius, Hist. nat. L. XI. c. 53. 

5) Fr. Redi, Experimenta Amstelod. 
1685. p. 266. 


welcher ohne Zweifel weniger das Schlangen— 
gift, als das durch die Fäulniß erzeugte 
ſeptiſche Gift die tödtliche Wirkung her— 


vorbrachte. Derartige, mit Fäulnißgiften 
beſtrichene Pfeile könnten allerdings nicht 
auf der Jagd, wohl aber im Kriege mit 
Erfolg benutzt worden ſein, da ſie, wenn 
auch nicht auf der Stelle, ſo doch ziemlich 
ſicher auch bei leichten Verwundungen tödt— 
lich werden müſſen. Der Gebrauch ſolcher 
Schlangen- und Fäulnißgifte bei den Vor⸗ 
fahren der Griechen malt ſich ſehr deutlich 
in den Herakles-Mythen. In der Galle 
der von ihm getödteten lernäiſchen Schlange 
ſollte er ſeine Pfeile getränkt haben, wie 
Diodor erzählt,“) und wenn auch die 
Alten annahmen, daß von der Galle der 
Schlangen aus die Giftzähne verſorgt wür— 
den, ſo deutet der Verlauf der Mythe 
allerdings ziemlich deutlich auf einen ſep— 
tiſchen Charakter des herakleiſchen Pfeil— 
giftes. Daſſelbe ſollte nämlich nach Dio— 
dor's fernerer Darſtellung das geſammte 
Blut des mit demſelben getödteten Cen— 
tauren Neſſus derartig vergiftet haben, daß 
ein mit demſelben getränkter Zeugſtoff der 
Dejanira den Herakles ſelbſt unter unſäg— 
lichen Schmerzen tödten konnte. Eine ſolche 
Wirkung wurde noch dem Erben des mit 
den Pfeilen gefüllten herakleiſchen Köchers, 
dem unglücklichen Philoktet, verhängnißvoll. 
Einer der Pfeile fiel durch einen Zufall 
auf ſeinen Fuß und die leichte Wunde 
brachte ein fürchterliches Siechthum hervor. 
Dieſe Erzählungen ſind ſo charakteriſtiſch, 
daß ſie offenbar auf wirklichen Erfahrun— 
gen beruhen; die Benutzung des Blutes 
einer durch Giftpfeile getödteten Perſon als 
neuerzeugtes Gift würde aber entſchieden 
auf die ſeptiſche Natur jener Pfeilgifte 
deuten, und vermuthlich iſt auch bei dem 


1) Diodor., IV. c. 11 u. 38. 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


| 


521 


durch den Pſeudo-Ariſtoteles, Aelian 
und Plinius erwähnten Menſchenblut 
an ſolches von durch ſeptiſche Gifte getödte— 
ten Menſchen zu denken, in deren Körper 
ſich das Gift immer von Neuem aufrriſchte. 
Man könnte ſich, während die urſprüngliche 
Erzeugung des ſeptiſchen Pfeilgiftes in dem 
in Fäulniß übergegangenen Schlangenkörper 
ganz klar liegt, nicht leicht ohne jene An— 
nahme den Zuſatz des Menſchenblutwaſſers 
erklären. Natürlich glaubte man es eigent— 
lich nur mit dem übertragenen Schlangen— 
gift zu thun zu haben. 

Ein ähnliches Fäulnißgift bereiteten die 
Indianer Nordamerikas aus faulendem 
Pferde- oder Büffelfleiſch. Wenn die An- 
gaben des Reiſenden Terral zuverläſſig 
ſind, ließen ſie Klapperſchlangen in das 
Fleiſch hineinbeißen (2) und daſſelbe be— 
geifern (2), ſchnitten dann die betreffenden 
Stellen aus und ließen ſie faulen, worauf 
noch giftige Pflanzenſäfte dem Brei, mit 
dem ſie dann ihre Pfeile beſtrichen, hinzu— 
geſetzt wurden. Die Goajiro-Indianer im 
Norden Südamerikas ließen Schlangen, 


Kröten, Eidechſen, Scorpione, Spinnen, 


Ameiſen u. ſ. w. mit einander faulen und 
tauchten ihre Pfeile hinein; auch die Buſch— 
männer fügen ihrem aus Euphorbienſaft 
gewonnenen Pfeilgifte Schlangengift hinzu, 
und andere Stämme ſollen die giftigen 
Hautausſchwitzungen gewiſſer Amphibien in 
gleicher Weiſe verwenden. Einige Forſcher 


haben vermuthet, daß dieſe Benutzung gif— 


tiger Thiere nur Aufſchneidereien der Gift— 
köche ſeien, um die eigentlich wirkſamen 
Pflanzentheile dahinter zu verbergen; daß 
indeſſen Zähne von Giftſchlangen noch immer 
mit in den Hexenkeſſel gethan werden, iſt un— 
zweifelhaft, und der ausgezeichnete Toxicologe 
Huſemann hat dieſelben ſogar in einem 
von dem Reiſenden Appun mitgebrachten 


522 Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


amerikaniſchen Pfeilgifte, welches man viel— 
leicht bei der Bereitung durchzuſeihen ver— 
geſſen hatte, angetroffen. 

Da es den Naturmenſchen unmittel— 
barer bekannt wird als den Culturmenſchen, 
daß Giftſtoffe in den Pflanzen viel ver— 
breiteter ſind, als in den Thieren, ſo lag 
es nahe, dieſelben zur Bereitung der Pfeil— 
gifte herbeizuziehen. Die Naturvölker hul— 
digen faſt überall der Theorie, daß den 
Thieren die Heil- und Giftſtoffe der Pflan— 
zen noch viel beſſer bekannt ſeien, als den 
Menſchen. So lernten nach griechiſcher Sage 
die Menſchen erſt von den Hirſchen die 
Heilkraft des kretiſchen Diptam bei Pfeil— 
ſchüſſen, von den Schwalben diejenige der 
Schwalbenwurz (Chelidonium) bei Augen— 
krankheiten, von einer Schlange läßt ſich 
Polyides das lebenſpendende Kraut zeigen. 
Woher kann die Giftſchlange ihr Gift 
haben? fragt ſich der nachdenkliche Natur— 


ſohn. Offenbar von Giftkräutern, die ſie 
heimlich frißt, und aus denen die Galle 


das Gift abſondert und in die Zähne 
ſendet. Man muß alſo ſuchen, dieſe Gift— 
kräuter ausfindig zu machen, um die ge— 
fährliche und mühſame Einſammlung der 
Giftzähne zu umgehen. 

Jedenfalls find es meiſt einzelne Per— 
ſonen geweſen, in der Regel wahrſcheinlich 
die Schamanen, welche die geeignetſten 
Pflanzentheile ausfindig machten, denn bei 
den meiſten Indianerſtämmen findet ſich noch 
heute das Geheimniß bei einzelnen Familien 
und erbt ſich vom Vater auf den Sohn, 
von der Mutter auf die Tochter; auch ſtehen 
überall einzelne Giftköche in höchſtem Rufe, 
etwa wie in Kolchis Medea und wie bei 
uns die Arkaniſten ſich den Ruhm ſtreitig 
machen, die kräftigſte Panazee zu bereiten. 
Die wunderlichen Ceremonien, die dabei 
von einzelnen Meiſtern und Meiſterinnen 


beobachtet werden, deuten unverkennbar auf 
den Zuſammenhang mit dem alten Scha— 
manenthum; der Stand der Geſtirne wird 
beim Einſammeln und Kochen beobachtet, 
Zauberformeln dazu gemurmelt und der 
Brei durch fortwährendes Blaſen vor allzu 
ſtarker Erhitzung, die den wirkſamen Stoff 
zerſetzen könnte, geſchützt. Und wenn auch 
der fortgeſchrittene Giftkoch recht gut wiſſen 
mag, daß dieſe oder jene Wurzel oder 
Rinde die Hauptſache dabei ausmacht: zu 
Ehren der alten Muhme, der Schlange, von 
der doch die Idee ausgegangen iſt, muß 
ſie immer noch mit in den Keſſel hinein und 
wir können in dieſem Umſtande eine der 
mannigfachen Urſachen erkennen, aus denen 
in der Urzeit Feuerprieſter und Zauberarzt 
immer mit der Schlange in Verbindung 
gedacht wurden. Das „Giftkochen“ iſt bei 
den Naturvölkern ein höchſt wichtiges, ein— 
trägliches und geachtetes Geſchäft, liefert 
es doch in jenen Zuſtänden eine der Haupt— 
waffen, um die Jagd erfolgreich und den 
Kampf entſcheidend zu machen, und man— 
ches der vorweltlichen Thiere, deren Reſte 
wir mit denjenigen des vorhiſtoriſchen Be— 
wohners unſerer Zonen zuſammenfinden, 


mag durch Giftpfeile erlegt worden ſein. 


Die Griechen legten den Gebrauch von 
Giftpfeilen ausdrücklich auch ihren Erz— 
vätern bei. Homer ſchildert in der 
Ddyffee!), wie der herrliche Dulder in die 
Ferne ſegelt, um 
„Menſchentödtende Säfte zu holen, damit er 

die Spitzen 
Seiner gefiederten Pfeile vergiftete 
und bei dem Schuß in die Ferſe, der den 
Achill tödtete, kann man nur an die Wirk— 
ung eines Giftpfeiles denken. Aber die 
Griechen ſelbſt bedienten ſich in hiſtoriſchen 
Zeiten der Giftpfeile nicht mehr, ſo große 


) I. v. 261. 


Te ˙.¹AA] — ů⁰wmu] —.r⅜̃ 0 


Vortheile dieſe auch ſonſt bieten mochten; 
dieſelben ſind eben überall eine vorhiſtoriſche 
Erſcheinung; es iſt, als ob ſich mit der 
beginnenden Cultur der Stolz des Men— 


ſchen auflehnte, mit ſeiner geſchworenen 
Feindin, der Schlange, irgend etwas ge— 
mein zu haben. Selbſt in den klaſſiſchen 
Schriften über die „Kriegsliſten“ der Alten 
wird der Giftpfeile nicht mehr gedacht, 
und es ſcheint mir das freiwillige Aufgeben 
einer jo wirkſamen Waffe ein höchſt inter— 
eſſantes pſychologiſches Problem darzubieten. 
Nur beiläufig will ich hierbei darauf 
hinweiſen, daß jener Pfeilgiftkeſſel, in wel— 
chem neben den Giftkräutern Drachenleib, 
told, Salamander und Unke zu Brei ge— 
kocht wurden, und der nicht nur in den 
tropiſchen Urwäldern, ſondern auch im alten 
Europa über nächtlichen Waldfeuern bro— 
delte, überall von unheimlichen Geſtalten 
umtanzt und mit Zauberliedern begleitet, 


daß dieſer Giftkeſſel offenbar das Vorbild 


zu jenen Zauberkeſſeln der Druiden, der 
Hekate und Medea, der theſſaliſchen und 
nordiſchen Hexen geworden iſt, die uns 
Shakeſpeare und Goethe ſo draſtiſch 
geſchildert haben. Die Aehnlichkeit wird 
beſonders ſtark in einer Beſchreibung, die 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


der Reiſende Tennent von der Bereitung 
des gefürchteten Kabaratelgiftes bei den 


Singaleſen gegeben hat. Dieſelben hängen 


zunächſt eine Anzahl ihrer gefürchtetſten 
Giftſchlangen, namentlich die Cobra de 
Capello (Naja tripudians), die Tikpolonga 
(Vipera elegans) und die Carawilla (Tri— 
gonocephalus hypnalis) am Schwanze 
über dem Giftkeſſel auf und machen Ein— 
ſchnitte in den Kopf, durch welche angeb— 
lich das Gift herabfließt. Das ſo ge— 


ſammelte Schlangenblut wird ſodann mit 
Arſenik und anderen zweifelloſen Giften 
gemiſcht und nun unter Beiſtand der Ka— 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


523 


baragoyas (Varanus salvator) in einem 
Menſchenſchädel fertig gekocht. Die letzt— 
genannten großen Eidechſen oder Warane 
werden von drei Seiten gegen das Feuer 
geſetzt, ihre Köpfe gegen daſſelbe gerichtet, 
in dieſer Stellung feſtgebunden und nun 
mit Schlägen und Drangſalen aller Art 
bedrängt, ſo daß ſie zu ziſchen anfangen 
und dadurch das Feuer gewiſſermaßen an— 
blaſen, wie die Thiere in Goethe's Hexen— 
küche. Aller Speichel, den ſie in der Angſt 
verlieren, wird ſorgſam geſammelt und dem 
kochenden Gebräu zugeſetzt, welches für 
fertig gehalten wird, ſobald ſich an der 
Oberfläche eine ölige Flüſſigkeit anſammelt. 
Vielleicht zum Theil in Folge dieſes bar- 
bariſchen Gebrauches wird denn die un— 
ſchuldige Kabaragoya für ein entſetzlich 
giftiges Thier gehalten. 

Indeſſen waren dieſe Giftthiere, wie 
ſchon angedeutet, zuletzt nur noch eine De— 
coration, mit der man die aus dem Pflanzen— 
reiche gewonnenen Hauptbeſtandtheile ſpäter 
noch maski rte, wie dies ja die gewöhnliche 
Praxis der Laboranten und Geheimniß— 
krämer iſt. So haben wir denn auch An— 
deutungen genug, daß auch das ſcythiſche 
Gift, obwohl es vermöge der Fäulniß ſehr 
gefährlich wirken konnte, doch auch pflanz- 
liche Beimiſchungen enthielt, durch die dann 
auch der von Plinius erwähnte ſchnelle 
Erfolg zu erklären wäre. Der Verfaſſer 
eines dem Galenus untergeſchobenen 
Buches über den Theriak erwähnt, daß 
die Dalmater und Sacer (letzteres die Be- 
nennung der Scythen bei den Römern), 
ihre bei der leichteſten Verwundung ſchnell— 
tödtenden Pfeile herſtellten, indem ſie die— 
ſelben mit der Pflanze Helenium einrieben. 
Wenn die damit verwundeten Hirſche und 
andere wilde Thiere aber dieſe Pflanze 
fräßen, würde die Verwundung unſchädlich. 


67 


524 


Die letztere Bemerkung ift in dem Munde 


eines Lobredners des Theriaks, der aus 
Vipernfleiſch bereitet, den Vipernbiß heilen 


ſollte, völlig angemeſſen, dieſe Herren waren 
eben die eigentlichen Erfinder der dem 
„großen“ Hahnemann zugeſchriebenen 
Homöopathie. Nicander von Kolophon, 
der älteſte auf uns gekommene Special-Schrift— 
ſteller über Gifte und Gegengifte, beſchreibt in 
ſeinem „Alexipharmaca“ betitelten Lehr— 
gedichte die Wirkungen eines Toxicum 
genannten Giftes, deſſen ſich die gerrhäiſchen 
Nomaden und die ackerbauenden Völker am 
Euphrat bedient hätten, um ihre Pfeilſpitzen 
zu vergiften, und der Scholiaſt ſetzt hinzu, 
dies ſei eben das, ſonſt das „ſeythiſche“ ge— 
nanute, Gift. 

Jener Name (Toxicum), welcher ſpäter 
auf alle Gifte im Allgemeinen übergegangen 
iſt und nach dem auch die Giftlehre oder 
Toxicologie ihren Namen erhalten hat, be— 
zeichnete alſo urſprünglich das Pfeilgift ganz 
im Beſondern und zwar noch zu den Zeiten 
des Feſtus, welcher in ſeinem Buche 
über die Bedeutung der Wörter ausdrück— 
lich ſagt: Toxicum wird das Hirſchgift 
(cervarium venenum) genannt und zwar 
weil man mit demſelben die Pfeile zu 
ſalben pflegt. Plinius verſucht eine un— 
glückliche Ableitung des Namens, indem er 
ſagt, daß die Pfeile, welche man zu ver— 
giften pflegte, aus Taxusholz geſchnitzt 
worden wären und daß der Name „taxi- 
corum sive toxicorum“ daher ſtamme!). 
Das Alterthum war ebenſogroß in ge— 


waltſamen Etymologien wie die Jetztwelt, 


denn die richtige Ableitung lag hier doch 
ſehr nahe. Dioscorides und mehrere 
alte Grammatiker haben ſie richtiger ge— 


geben: Toxrikon, jagt der Erſtere,?) ift es 
brauchbar werde. 
für dieſes Gift in der Eichenrinde ein 


) Hist. natur. XVI. 10. 
2) Alexipharm. Cap. 20. 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


Wiſſenſchaft vom Bogenſchießen. 


deshalb genannt worden, weil die Pfeile 
(griechiſch 7680) von den Barbaren da— 
mit beſchmiert wurden. 7650 hieß ur- 
ſprünglich der Bogen, von dem man Pfeile 
abſchoß, und 20s mit dem Bogen ſchießen. 
Wir haben darin eines der merkwürdigſten 
Beiſpiele von der Uebertragung des Sinnes 


der Worte in eine ganz andere Sphäre. 


Strenge Etymologen würden alſo das 


Wort Toxicologie und alle ähnlichen ver— 


werfen müſſen, denn es heißt wörtlich die 
Auch die 
Akonit⸗Pflanze habe ich ſtark in Verdacht, 
ihren Namen einem alten Gebrauche der 
Wurzel zur Vergiftung der Wurfſpeere 
verdankt zu haben, denn &rwv oder @x0V- 
20% hieß der Wurfſpeer und mehrere ſo— 
genannte Akonit-Arten — die keineswegs 
alle zu unſerem Aconitum zu gehören 
brauchen, — wurden von den Alten als 
Pfeilgift-Pflanzen bezeichnet. 

Der Name Toxicum wurde nun be— 
ſonders häufig dem Pfeilgifte der alten 
Celten und Gallier beigelegt, von welchem 
übrigens ſämmtliche Autoren mittheilen, 
daß es aus Pflanzenſtoffen bereitet wurde. 
Auch hierüber iſt der obencitirte Pfeudo- 
Ariſtoteles am ausführlichſten geweſen. 
„Bei den Celten“, ſagt er, wird ein Gift 
gefunden, welches fie Xenieum nennen 
(d. h. das Fremde, wenn dieſes bereits in 
den älteſten Handſchriften vorkommende 
Wort nicht ein Schreibfehler ſtatt Toxicum 
iſt) und welches mit ſo großer Schnellig— 


keit vergiftet und tödtet, daß die celtiſchen 


Jäger eiligſt herzuſpringen und dem nieder— 
geſtreckten Hirſche das Fleiſch rings um 
den Pfeil ausſchneiden, damit das Thier 
nicht durch das vordringende Gift in ſchnelle 
Fäulniß übergehe und zur Nahrung un⸗ 
Man ſetzt hinzu, daß 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


Heilmittel gefunden worden ſei; andere rüh— 
men das Blatt der Rabenpflanze (korakion), 
fo genannt, weil ein mit jenem Stoffe ver- 
gifteter Rabe von ſelbſt das Blatt auf- 
ſuchte, aß, von den Schmerzen befreit er— 
ſchien, und es ſo den Menſchen verrieth.“ 

Daß die weite Umſchneidung der Wunde, 
nicht wegen der Giftigkeit geſchah, iſt hier 
bereits angedeutet. Die Alten wußten 
recht gut, daß dieſe Gifte im Magen un— 
ſchädlich ſind, und der berühmte römiſche 
Arzt Celſus ſagt ausdrücklich: Die Jagd— 
gifte, deren ſich die Gallier vorzugsweiſe 
bedienen, ſchaden beim innerlichen Genuſſe 
nicht, ſondern nur in der Wunde.!) Pli- 
nius?) und Aulus Gellius?) erwähnen 
ebenfalls der üblichen weiten Umſchneidung 
der Wunde und ſetzen hinzu, daß man 
dieſe mit Nießwurzſaft beſtrichenen Pfeile 
auch darum auf der Jagd mit Vorliebe 
anwende, weil das Fleiſch der auf dieſe 
Weiſe getödteten Jagdthiere zarter ausfalle, 
was wohl möglich iſt. Ob unter dem von 
dieſen beiden Autoren gebrauchten Namen 
Elleborus eine Art der ſchwarzen Nieß— 
wurz (Helleborus) oder der weißen Nieß⸗ 
wurz (Veratrum) oder eine ganz verſchie— 
dene Pflanze gemeint ſei, iſt unbekannt. 
Plinius ſelbſt macht an einer anderen 
Stelle feiner Naturgeihichte?) eine andere 
Pflanze, die er Limeum nennt, namhaft, 
aus welcher die Gallier ihr Hirſchgift be— 
reitet hätten, und vielleicht hatten ſie, wie 
die obigen Ausdrücke des Celſus anzu— 
deuten ſcheinen, verſchiedene Arten von 
Pfeilgiften, die aus verſchiedenen Pflanzen 
gewonnen wurden. Strabo beſchreibt 
einen Baum näher, aus welchem die Celten, 


) De medieina V. C. 27. 
2) Hist. nat. 25, 5. 
) Noctes atticae 17. 15. 
) Hist. nat. 27. 11. 


oder, wie andere leſen, die alten Belgier, 
ſich ihr Pfeilgift bereitet hätten. „Es wird 
erzählt“, ſagt er, „daß in Gallien (hier 
leſen Einige Kedrıny, Andere BS‘ 
ein der Feige ähnlicher Baum wachſe, deſſen 
Frucht, in der Form dem Kapitäl der forin- 
thiſchen Säule ähnlich, beim Anritzen 
einen Saft ausfließen läßt, der die damit 
beſtrichenen Pfeile tödtlich macht.“! 

Die Botaniker haben ſich viele Mühe 
gegeben, die erwähnten Pfeilgiftpflanzen 
der alten Gallier und Belgier genauer zu 
beſtimmen. Einige haben die Akonit-Arten 
in Verdacht, die aber auch innerlich ſehr 
ſtark giftig wirken, jo daß man ſchon im 
alten Griechenland durch mit der Wurzel 
beſtreuetes Fleiſch die Wölfe tödtete. Doch 
erzählen ſchon römiſche Autoren, daß ſie 
auch im Blute ſchädlich wirken ſollen und 
der Wurzel vou Aconitum ferox L. ſollen 
ſich aſiatiſche Stämme noch heute zur Pfeil— 
gift⸗Bereitung bedienen. Conrad Ges— 
ner, hat, worauf wir ſpäter genauer zu⸗ 
rückkommen, die Hirſchgift-Pflanze der 
Gallier in einer Alpen-Ranunkel erkennen 
wollen und in der That ſollen ſich die 
Kamtſchadalen einer naheſtehenden Pflanze 
(Anemone ranunculoides L.) zur Pfeil⸗ 
giftbereitung bedienen. Der belgiſche Pfeil- 
gift⸗ Baum des Strabo iſt noch weniger 
enträthſelt, aber um ihn ſcheinen ſich 
ſchon im Alterthum ähnliche Mythen ge— 
bildet zu haben, wie um den javaniſchen 
Giftbaum oder den Manzanillo-Baum, den 
Scribe von den Antillen nach Afrika ver— 
pflanzt hat und deſſen unſcheinbare grün⸗ 
liche Blüthen unter den Händen unſerer 
Decorationsmaler ſich in prächtige hochrothe 
Monſtreblumen zu verwandeln pflegen. 
Plinius erzählt nämlich, daß der Tarus- 
baum, deſſen Holz die Giftpfeile lieferte, 
9 Geogr. IV. c. 4. 


526 


die unter ihm ſchlafenden oder eſſenden 
Perſonen tödte, und Lucrez ſchildert einen 
Giftbaum des Gebirges, deſſen Duft töd— 
ten ſollte. 

Daß die alten Germanen, deren Jagd— 
liebhaberei Cäſar und Tacitus jo aus— 
drücklich hervorheben, ſich ebenfalls vergifteter 
Pfeile bedient haben, iſt ſehr wahrſcheinlich, 
obwohl ich es nicht mit ausdrücklichen 
Zeugniſſen belegen kann. Die Mythen 
von dem Stich des Schlafdorns, durch 
welchen Odin die Brunhild in einen tiefen 
Schlummer verſetzte, und von der Tödtung 
Balders durch den im Spiele gegen ihn 
geſchleuderten Miſtelzweig deuten darauf 
hin. Hinſichtlich der fränkiſchen und helve— 
tiſchen Stämme ſind dagegen ausdrückliche 
Zeugniſſe noch aus ſpäterer Zeit vorhanden. 

Ueber die Waffe, mittelſt welcher die 
Giftpfeile in Alteuropa geſchleudert wurden, 
ſind wir im Unklaren. Urſprünglich mag 
es der Bogen, ſpäter auch die Armbruſt 
geweſen ſein. Aber ich vermuthe, daß 
man ſich mitunter auch, wegen der außer— 
ordentlich leichten und ſicheren Handhabung, 
wie in den Tropenländern des Blasrohres 
bedient haben wird. Xiphilinus erzählt 
nämlich in den Lebensbeſchreibungen der 
Kaiſer Domitian und Commodus, die er 
aus dem Geſchichtswerke des Dio Caſſius 
ausgezogen hat, daß ſich in dieſen Zeiten 
römiſche Meuchelmörder vielfach die von 
den Barbaren erlernten Jagdkünſte zu 
Nutzen gemacht und ihre Opfer durch 
lautlos mit dem Athem fortgetriebene ver— 
giftete Nadeln getödtet hätten.!) Wenn 
auch die Angaben darüber kurz und unklar 
ſind, läßt ſich doch die Vermuthung daran 
knüpfen, daß man mit dem Blutgifte ſelbſt 
auch die beſondere Waffe von den Barbaren 
entlehnt haben möchte. 

9 Dio Cassius h. r. 67, 11 und 72, 14. 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


Merkwürdiger Weiſe finden ſich weder 
bei griechiſchen, noch bei römiſchen Schrift— 
ſtellern Klagen darüber, daß ſich die Bar— 
baren im Kriege der Giftpfeile gegen ſie 
bedient hätten. Es ſcheint, daß die Civili— 
ſation dieſer Wilden doch bereits zu hoch 
geſtiegen war und daß ſie zu viel auf per— 
ſönliche Tapferkeit hielten, um ſich einer jo 
heimtückiſchen Waffe im offnen Männer- 
kampfe zu bedienen. Dagegen finden wir 
aus ſpäterer Zeit Nachrichten über den 
Gebrauch von Giftpfeilen und zwar von 
Seiten der Franken gegen die unter römi— 
ſcher Führung mit ihnen kämpfenden Gallier. 
Der Biſchof Gregor von Tours hat 
uns in ſeiner im ſechſten Jahrhundert ver— 
faßten Historia Francorum die Schilder— 
ung eines Kampfes aufbewahrt, der im 
Jahre 388 ſtattgefunden hat und in welchem 
die Franken ganz nach Art afrikaniſcher 
oder amerikaniſcher Wilden mit vergifteten 
Pfeilen aus dem Walde, in welchem ſie 
ſich verſchanzt hatten, auf die Soldaten 
des römiſchen Feldherrn Quintinus 
ſchoſſen. Der Kampf fand einige Tage- 
märſche von Köln ſtatt. „Am Waldrande 
erſchienen, jo erzählt Gregor!) nach den 
Aufzeichnungen des Hiſtorikers Sulpicius 
Alexander, einige dünngeſäete Feinde 
auf zu Haufen gethürmten Baumſtämmen 
und ſchleuderten von da aus, wie von den 
Zinnen eines Thurmes und als wenn ſie 
mit Kriegsmaſchinen verſehen geweſen 
wären, Pfeile, die ſie in den Saft giftiger 
Kräuter getaucht hatten, ſo daß, wenn die 
Haut auch nur geſtreift wurde und Kör— 
perſtellen getroffen wurden, an denen die 
Verwundungen ſonſt ungefährlich ſind, 
dennoch ein ſicherer Tod die Folge war.“ 

Auch in noch ſpäteren Zeiten behielten 
die Franken dieſe heimtückiſche Kampfesweiſe 

= Hist. Franc. 179. 


bei und das ſaliſche Geſetz verbot, wie 
Le Grand d' Auſſi erwähnt,!) bei 
Strafe, daß ſich ein Franke gegen den 
anderen der Giftpfeile bediene, nicht aber 
den Gebrauch gegen Fremde. In der 
Folge wurde die Verwendung von Gift— 
pfeilen immer mehr durch Geſetze eingeengt 
und zuletzt auf die Jagd beſtimmter Thiere 
beſchränkt. In der Umgegend von Mar— 
ſeille bediente man ſich ihrer noch im 14. 
Jahrhundert. „Ich habe Aktenſtücke ge— 
ſehen“, ſagt A. de Ruffi in ſeiner 
Geſchichte von Marſeille,?) welche mir be— 
weiſen, daß der Landvogt ungefähr gegen 
die Mitte des 14. Jahrhunderts erlaubte, 
Rehe, Hirſche und Eber mit dem Giftpfeile 
zu jagen.“ Kein Zweifel, daß das Ge— 
heimniß, dieſe Pfeile zu bereiten, ſich bei 
Jägern und Jagdliebhabern noch viel länger 
erhalten hat und auch wohl zuweilen auf 
„edleres Wild“ angewendet wurde. 
man die in den Chroniken Froiſſart's 
ſo rührend erzählte Geſchichte lieſt, wie der 
Graf Gaſton de Foix ſeinen gefangen ge— 
haltenen einzigen Sohn tödtete, indem er 
ihn mit einem kleinen Meſſer, welches er 
in der Hand trug, um ſich die Nägel zu 
putzen, „aus Verſehen“ ganz leicht am Halſe 
ritzte, und wenn man ſich dabei erinnert, daß 
der Graf von ſeinen Edlen und Prälaten 
vorher vergeblich den Tod ſeines Sohnes 
begehrt hatte, ſo wird man ſchwerlich den 
Gedanken loswerden, daß die Spitze jenes 
kleinen Meſſers, welches kaum um die 
Dicke eines Sou's aus des Grafen Fauſt 
hervorſah, von der letzten Jagd dieſes 
gewaltigen Waidmanns her „aus Verſehen“ 
mit Pfeilgift beſchmutzt geweſen ſein könnte. 

Die Entdeckung des Schießpulvers ver— 


) Histoire de la vie privée des Fran- 
cais Paris 1782. Vol. I. p. 349. 
2) Vol. II. p. 283. 


Wenn 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


nichtete die letzte Erinnerung an die Waffe, 
welche der vorgeſchichtliche Menſch einſt den 
Schlangen abgeſehen hatte. Nur in den 
verborgenen Alpenthälern, wo die neuen 
Erfindungen nur äußerſt langſam hin— 
dringen, hatte ſich bei den Gemſen- und 
Steinbockjägern der Gebrauch von Pfeil— 
giften bis ins 16. Jahrhundert erhalten. 
Hier ſah der berühmte Polyhiſtor Con- 
rad Gesner, wie die Aelpler die 
Thora-Pflanze (Ranuneulus Thora L.) 
einſammelten, um mit dem Safte der 
Wurzelknolle ihre Pfeile zu vergiften. Es 
iſt dies eine kleine, von den Gattungsver— 
wandten ſehr abweichend erſcheinende Hah— 
nenfußart, denn der Stengel trägt in der 
Regel nur ein oder zwei netzadrige, nieren— 
oder herzförmige Blätter und eine kleine 
intenſiv gelbe Blüthe. Sie bewahrten 
den eingedickten Saft in Kuhhörnern und 
überzeugten ſich durch phyſiologiſche Ver— 
ſuche von der Güte des gewonnenen Prä— 
parates. Dies geſchah, indem ſie eine 
Nadel damit beſtrichen und einen Froſch 
— alſo auch hier ſchon das beklagens— 
werthe Opfer der Phyſiologie! — damit 
verwundeten. Der arme Koax mußte 
zum Zeichen der Güte des Giftes ſogleich 
todt zuſammenſtürzen. Bei den alten ita— 
lieniſchen, deutſchen und niederländiſchen 
Vätern der Botanik erſcheint dieſe Pflanze 
meiſt unter dem Namen Phthora Valden- 
sium montis Baldi, was doch wohl heißt: 
die Thora der Waldenſer (?) vom Berge 
Baldo (bei Verona)? Es wird gut ſein, 
die lehrreiche Nachricht, welche Lobel in 


feinen Adverſarien darüber giebt, wörtlich 


mitzutheilen: „Der Thora der Waldenſer,“ 
ſagt er, „bedienen ſich die Jäger dieſes Alpen— 
volks vielfach und ſeit lange, wie auch jetzt 
noch viele Andere, zur Erlegung des Wildes, 
dem von dem bloßen ausgedrückten und 


528 Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


auf die Waffenſpitzen geſtrichenen Safte ein 
ſchnelles und ſicheres Verderben bereitet wird. 


Wo nämlich das Geſchoß getroffen oder 


eine Wunde gemacht hat, dringt das Gift 
ſofort ein und verurſacht, daß die Wund— 
ränder, wenn man nicht durch Ausſchneiden 
vorbeugt, verderben und in Fäulniß über— 
gehen, weshalb die Pflanze Thora ge— 
nannt worden iſt, nach einer offenbar von 
den Griechen hinterlaſſenen Sprach-Spur; 
Phthora nämlich heißt Verweſung, Tod, 
Gift. Diejenigen aber, denen aus vielen 
Gefährdungen die Wirkungen aller jener 


Pflanzen bekannt find, welche man gewöhn- | 


lich Pfeilwurze (Sagittariae) nennt, hal— 
ten die übrigen darunter für ziemlich un— 
ſicher: Der Saft dieſer nun wird im An— 
fange des Frühlings ausgepreßt und in 
kleinen Blaſen oder lieber in Rinderhufen 
oder Hörnern gekauft und auf die nächſten 
Märkte geſchickt, woſelbſt ihn die Jäger 
für das Waidmannsbedürfniß des Jahres 
einkaufen.“ ) 

Dieſem Berichte zu Folge fand alſo 
hier an der Grenze der Schweiz ein förm— 
licher Handel mit Pfeilgiften ſtatt, ganz 
wie wir ihn noch jetzt z. B. bei den Ori— 
nokoſtämmen Südamerikas antreffen, und 
einzelne Perſonen machten ebenſo wie dort 
aus dem Pfeilgiftbereiten ein Handwerk, 
deſſen große Gefahren ſie hervorhoben, um 


anſehnliche Preiſe für ihre Waare zu er- 


zielen. Man wird dabei lebhaft an die 
Antwort des Giftkochs Tenaqua erinnert, 
welcher dem Reiſenden Appun, als dieſer 
den für acht Kalebaſſen Pfeilgift geforder— 
ten Preis ſehr hoch fand, ſelbſtbewußt er— 
wiederte: „Wir ſtellen unſere Waare in 
gleichen Rang mit eurem Pulver, das ihr 
uns ebenſo theuer verkauft; beide Dinge 


) Mathias Lobel et Peter Pena, Stir- 
pium adversaria nova etc. p. 263. 


haben dieſelbe Wirkung, ſie tödten ſchnell.“ 
Gar ſehr wäre es zu wünſchen, daß ein 
moderner Toxicologe feine Sommerfriſche 
in den Alpen einmal dazu benutzen möchte, 
zu unterſuchen, was den Erzählungen von 
der großen Giftigkeit der Thora zu Grunde 
liegen mag. Man erzählte Ges ner, daß 
auch ein damit verwundeter Menſch höch— 


ſtens noch eine halbe Stunde zu leben 
habe, das Gift im Magen aber völlig 


unſchädlich ſei.“) 

Aus alledem ſchloß Gesner, daß er 
nunmehr wirklich die Pflanze gefunden habe, 
welche die Alten bald Limeum, bald Aco- 
nitum genannt und aus welcher ſchon die 
alten Gallier ihr Toxieum und Venenum 
cervarium bereitet hätten. Er ſuchte nun 
auch die „Rabenpflanze“ zu ermitteln, welche 
nach dem Pſeudo-Ariſtoteles das 
Hauptgegenmittel abgeben ſollte und fand 
einen Fingerzeig in dem Glauben der Alpen— 
bewohner, daß das Gift der Thorapflanze 
das furchtbarſte aller Gifte ſei, gegen welches 
weder bei Theriak noch Mithridat Hilfe 
zu finden ſei, ſondern einzig bei einer ande— 
ren Alpenpflanze, dem Giftheil (Aconitum 
Anthora L.) Von dieſer letzteren Pflanze 
berichtet der alte Tabernämontan, 
nachdem er erwähnt hat, daß ſie wider 
alles Gift und die Biſſe aller giftigen 
Thiere, auch gegen Scorpionen- und tollen 
Hundsbiß, wirkſam ſei, wie folgt, weiter: 
„desgleichen gegen die Peſtilentz und das 
erſchreckliche und tödtliche Gift des Krautes 


Thora und des Napellenkraut's (Aconi- 


tum Napellus L.), das alles andere Gift 
weit übertrifft, alſo, daß auch der beſte 
Theriak dieſem Gifte keinen Widerſtand 
thun mag, dem ſoll allein mit der Wurzel 

) De Aconito primo Dioscoridis. Tiguri 
1577, und Historia quadrupedum I. ©. 372 
und 746. 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


des „Heilgifts“ Widerſtand gethan werden, 
welches die Kraft hat, ihm ſeine Kraft zu 
nehmen u. ſ. w.“ “) 

Es wurde ſchon oben angedeutet, wie 
ſich an die Pfeilgifte die Homöopathie an— 
lehnt, deren Wurzeln alſo ebenfalls in die 
vorgeſchichtliche Zeit hinabreichen. Wie die 
Wunde des Telephos nur durch den (Gift— 
Speer geheilt werden konnte, der ſie ver— 
urſacht hatte, ſo war man überzeugt, daß 
Pfeil-Gift nur durch Pfeil-Gift aus dem 
Felde geſchlagen werden könnte und ſuchte 
durch den innerlichen Gebrauch deſſelben 
die Wirkung im Blute abzuſchwächen. Wir 
können hier ſogar die wahrſcheinliche Ur— 
ſache dieſes Aberglaubens in der Praxis 
der Phyllen und anderer klaſſiſcher Gift— 
doktoren erkennen, die Giftwunde mit dem 
Munde auszuſaugen, was ja, wenn es 
ausführbar iſt, als erſte Hülfe durchaus 
zweckmäßig iſt. 

Nach alter Sage ſoll neben jedem Gifte 
ſein Gegengift wachſen, und wie Strabo 
erzählt?) galt im Reiche des Muſikanus 
das Geſetz, bei Todesſtrafe jedes neu er— 
kannte Gift ſo lange geheim zu halten, 


bis man das dazu gehörige Gegengift ge | 


funden. Neben der auch in Griechenland 
vorkommenden Thora-Pflanze, die noch in 
neuerer Zeit Kurt Sprengel für 
jenes ſchlimmſte „Aconitum“ hielt, deſſen 
bloßer Beſitz wegen ſeiner ſchrecklichen Gif— 
tigkeit nach Theophraſt mit dem Tode 


beſtraft wurde, neben der Thora ſollte die 


Anthora wachſen, und das Gift des einen 
Akonit wollte man mit dem eines nicht 
minder gefährlichen bezwingen. Plinius 
hat mit ſchönen Worten dieſen Kampf der 
Gifte im Thier- oder Menſchenleibe ge— 
ſchildert. „Das Akonitum“ ſagt er, „hat 


1) Kräuterbuch, Ausgabe von 1687 S. 985. 
2) Geogr. XV. I. 


| 


259 


die Eigenſchaft, den Menſchen zu tödten, 
ſofern es nicht in ihm etwas anderes zu 
überwältigen findet; in dieſem Falle kämpft 
es lieber mit einem anderen Gifte, als 
einem ſeiner würdigeren Gegner. Aber 
nur dann entſteht Streit, wenn es einem 
anderen Gifte in den Eingeweiden begeg— 
net. Merkwürdig, daß zwei für ſich todt— 
bringende Gifte im Menſchen nur einander 
gegenſeitig ermorden und unſchädlich machen, 
den Menſchen ſelbſt aber am Leben laſſen!“ 
Dieſe für die einander aufhebende Wirkung 
gewiſſer antagoniſtiſchen Gifte, wie Opium 
und Belladonna, Chloral und Strychnin, 
ſehr angemeſſene Beſchreibung und Idee 
der einander bekämpfenden Gifte wurde 
damals leider in dem Sinne Hahne— 
mann's zu dem Wahlſpruche Similia 
similibus generaliſirt und ich möchte, 
da die Abſchweifung nun einmal ſchon ſo 
weit gediehen iſt, wenigſtens noch die Blüthe 
dieſer unſinnigen Theorie anführen. Die 
Giftwirkung des blauen Akonit's ſollte nach 
Avicenna ſo ſtark fen, daß gar kein 
ebenbürtiger Gegner in der Pflanzenwelt 
vorhanden ſei und daß nur die Thiere, die 
ihn ohne Schaden genießen, die Mäuſe, 
die feine Wurzeln verzehren (?), und die In— 
ſekten, die ſeine Blüthen beſuchen, ein Ge— 
gengift abgäben. Dieſen Unſinn haben 
Matthiolus, Dodonäus, Taber— 
naemontan, Lobel und viele andere 
weniger berühmte Botaniker und Aerzte 
gläubig nachgeſchrieben, ohne zu unterſuchen, 


ob denn wohl die Mäuſe überhaupt dieſe 


ſcharfgiftige Wurzel der Pflanze ver— 
zehren mögen. Es wäre nicht ohne In— 
tereſſe, erneuerte Verſuche auch über die gegen— 
ſeitige Wirkung von Thora und Anthora 
anzuſtellen, um zu ſehen, ob an dieſen 
alten Geſchichten irgend etwas Wahres iſt. 

Zum Schluſſe möchte ich noch auf 


530 


ein zweites Kapitel der Toricologie hin— 
weiſen, welches ebenfalls der Vorgeſchichte 


angehört: die Anwendung der Gifte in der 


Juſtiz, theils zur Ausmittelung, theils zur 
Aburtheilung der Verbrecher. Das Ver— 
zehren giftiger Subſtanzen, um ſeine Un— 
ſchuld darzuthun, finden wir nicht blos in 
der bibliſchen Geſchichte und durch ganz 


Afrika, ſondern auch im alten Europa und 


in der neuen Welt. Und ebenſo begegnet 
die im Eingange dieſes Aufſatzes erwähnte 
Hinrichtung indiſcher Fürſtinnen durch Pfeil— 
gifte ihrem Gegenſtück bei vielen Völkern, 
die entweder erſt an der Schwelle der Kul— 
tur ſtehen oder doch aus ihrer vorhiſtori— 
ſchen Zeit gewiſſe primitive Juſtizformen 
beibehalten haben. Der Schierlingstrank 
der Athener iſt alſo keine vereinzelte, blos 
für den Sokrates und Theramenes ausge— 
wählte Todesart geweſen; es war die mil— 
deſte der üblichen Todesſtrafen und auch 
im alten Maſſilia (Marſeille) gebräuchlich. 
Die alten Aegypter ſcheinen ſich der Blau— 
ſäure zu ihren Executionen bedient zu 
haben. Duteil theilt in feinen. Die- 
tionnaire des hieroglyphes mit, daß ſich im 
Louvre ein Papyrus befinde, auf welchem 
die Worte vorkommen: „Sprich nicht aus 
das Wort Jao, bei der Strafe, welche der 
Pfirſichbaum gewährt!“ Aelian erzählt 
von einem ſüßen Gifte, deſſen Gebrauch 
ſich der König von Indien und ſeine 
Mutter vorbehielten und nur dem Vetter 


Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 


auf dem perſiſchen Throne davon zum 
amtlichen Gebrauche abließen, und in ähn— 
licher Weiſe verwahrte der Timarch von 
Maſſilia das Schierlings-Präparat, um 
an lebensüberdrüſſige Gemeindeglieder da— 
von abzugeben, wenn er nach genauer 
Prüfung die Gründe derſelben für ſtich— 
haltig erkannte. Könige, wie Attalus und 
Mithridat, beſchäftigten ſich ernſtlich mit 
einer weiteren Ausbildung der Giftkunde 
für politiſche und juriſtiſche Zwecke, ja 
Aelian preiſt gradezu den Gebrauch der 
erwähnten indiſchen Gifte, weil man den 


Menſchen damit aus der Welt ſchaffen 
könne, ohne die Todesſtrafe durch körper— 


lichen Schmerz zu verſchärfen. Auch hier 
iſt es ein pſychologiſcher Proceß, eine Wandel— 
ung und Verfeinerung der Anſichten über 
Ermittelung und Beſtrafung der Verbrechen, 
welche die Anwendung von Giften gänzlich aus 
dem gerichtlichen Verfahren verbannt hat. Die 
Rechtspflege empfand je länger je mehr die 
Unwürdigkeit einer jeden Verſchwiſterung 
mit dem Giftmorde, als dem abſcheulichſten 
aller Verbrechen; ſie entſagte dem Hilfs— 
mittel der Indianer, ſelbſt auf die Gefahr 
einer Verſchärfung der Strafe. Sie ver- 
bot ebenſo den Gebrauch der Giftpfeile, 
als eines verführeriſchen Mittels zur hin— 
terliſtigen Tödtung, und Niemand wird, 
denke ich, daran zweifeln, daß ſie mit allen 
dieſen Maßnahmen Recht gehabt hat. 


ee eee 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Der Planet Vulkan. 


| ährend der in Nordamerika am 29. 
Juli c. beobachteten Sonnenfinſter— 
Oe niß, deren Totalität nur gegen drei 
Minuten dauerte, glaubt der durch 
zahlreiche Planetoiden-Entdeckungen für ſolche 
Auffindung beſtens accreditirte Aſtronom 
Prof. James Watſon von Ann-Arbor 
(Michigan), auf einer Station in Wyoming, 
den durch Leverrier ſeit langen Jahren 
verkündeten innerſten Planeten nunmehr wirk— 
lich entdeckt zu haben, wenige Monate, nach— 
dem ſein geiſtiger Entdecker die Augen für 
immer geſchloſſen. Die Sonne mit ihrer 
Corona und Chromoſphäre ſcheint diesmal 
gegen die Verfinſterungen von 1869, 1870 
und 1871 ein gänzlich verſchiedenes Aus— 
ſehen, nämlich eine viel weniger ausgedehnte 
Corona und nur wenige kleine Protu— 
beranzen dargeboten zu haben, doch ſind 
die bisher vorliegenden Nachrichten ſo wider— 
ſprechend, daß wir einen Bericht darüber 
aufſchieben, und nur erwähnen wollen, daß 
der Planet Vulkan in einem Abſtande von 
zwei Graden oder acht Sonnenhalbmeſſern 
von der Sonne entfernt erblickt wurde und 
als Stern vierter Größe erſchien. Die 
Coordinaten des Vulkans waren 8h 26 m 
Rektaſcenſion und 18 0 nördlicher Deklina— 
tion. In anderen Nachrichten wird die 
Größe als 4½ und die Entfernung von 
der Sonne nur zu zwei bis drei Sonnen— 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


halbmeſſern angegeben. Merkwürdig einer— 
ſeits iſt, daß die anderen Beobachter einen 
dem bloßen Auge noch erkennbaren Stern 
ſo oft ſollten überſehen haben, und ver— 
dächtig andererſeits, daß ein Stern im 
Bilde des Krebſes, deſſen Größe zu 5½ 
— 6 geſchätzt wird, nahezu jene Stellung 
gehabt hat. Da indeſſen genaue Stern— 
karten der Region für den Zweck der 
Vulkanentdeckung vorher entworfen worden 
waren, iſt es kaum annehmbar, daß Wat— 
ſon, der bereits fünfzehn kleine Planeten 
entdeckt hat, eine ſolche Verwechſelung hätte 
machen können. Die weitere Beſtätigung 
abwartend, wollen wir einſtweilen einen 
Blick auf die lange Reihe früherer Be— 
mühungen um dieſen innerſten Bürger des 
Sonnenſyſtems werfen, der den Merkur 
von ſeiner altaſſyriſchen Rolle als „Ge— 
heimſchreiber“ des Sonnengottes zu enthronen 
beſtimmt ſcheint. Gleich nachdem Lever— 
rier aus den Störungen des Uranuslaufes 
im Jahre 1846 die Elemente eines äußer— 
ſten Planeten, des Neptun, berechnet hatte, 
und dieſer am 23. September deſſelben 
Jahres als Stern achter Größe von Galle 
in Berlin entdeckt worden war, bemühten 
ſich verſchiedene Aſtronomen, namentlich der 
jüngere Bradley und Henrick in New- 
Haven (Connecticut) dem neuen äußerſten 
Planeten einen neuen innerſten Planeten 
gegenüberzuſtellen, aber die Verſuche, in der 
Morgen- oder Abenddämmerung einen der 
Sonne noch näher als Merkur ſtehenden 


68 


Planeten zu gewahren, mußten ſchon wegen 
der Dicke der Atmoſphärenſchicht, welche die 
Strahlen dieſes Weltkörpers in dieſen Stun— 
den zu durchlaufen hätten, erfolglos ausfallen. 

Dieſe Projekte nahmen eine beſtimmtere 
Form an, nachdem Leverrier die Er— 
gebniſſe von mehr als zwanzig genau beob— 
achteten Merkurdurchgängen (ſeit 1697) 
durchgerechnet und gefunden hatte, daß man 
entweder die Maſſe der Venus um ein 
Zehntel größer annehmen, oder intra— 
merkurielle Weltkörper als Urſache der ge— 
fundenen Abweichungen vorausſetzen müſſe. 
Da man aber mit der erſteren Annahme 
einen durchaus unwahrſcheinlichen Fehler in 
der Erdtheorie in den Kauf nehmen müßte, 
ſo blieb die zweite Annahme die einzig be— 
rechtigte, und Leverrier erwog genau 
die ſich damit darbietenden Wahrſcheinlich— 
keiten. Wenn man annehmen wollte, daß 
der innerſte Planet dieſelbe Maſſe wie 
Merkur beſäße, ſo müßte ſeine Entfernung 
von der Sonne weniger als die Hälfte der 
mittleren Entfernung des Merkur, alſo 
etwa 3,500,000 Meilen betragen. 
man ſeine Entfernung noch geringer an, ſo 
hätte er noch größer ſein müſſen, um die— 
ſelben Störungen hervorzubringen, und es 
war in keinem Falle wahrſcheinlich, daß 
ein Planet von ſolchen Dimenſionen ſelbſt 
in dieſer unbequemen Beobachtungs-Region 
den Blicken der Aſtronomen ſo lange ent— 
gangen ſein könnte. Leverrier gelangte 
deshalb zur Annahme eines Aſteroidenringes 


Nahm 


Beobachtungen 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


Namens Lescarbault, daß er bereits 
vor ſechs Monaten, nämlich am 26. März 
1859, den Durchgang eines intramerkuriel— 
len Planeten ſelbſt beobachtet, aber nicht 
gewagt habe, mit einer ſolchen Beobachtung 
an die Oeffentlichkeit zu treten. Da nun 
auch mehrere andere Perſonen, wie gewöhn— 
lich, den eben erſt aus der Theorie gefol— 
gerten Planeten geſehen haben wollten, ſo 
war auch die Lescarbault'ſche Mit- 
theilung, trotz der größeren Genauigkeit 
ihrer Angaben, verdächtig, und Leverrier 
hielt für nöthig, den namenloſen und kecken 
Planeten-Entdecker einem ſtrengen Verhör 
zu unterwerfen. Incognito als geheimer 
Poliziſt, der für die Sicherheit des Pla— 
netenſyſtems zu ſorgen ſich befliſſen hält, 
gelangte der große Aſtronom am letzten 
Sonnabend des Jahres 1859 in dem be— 
ſcheidenen Heim des Arztes an, der ganz 
eingeſchüchtert von dem Inquiſitorton ſeines 
Beſuchers ihm ſeine mangelhaften Beobacht— 
ungs-Inſtrumente und das primitive Se— 
cunden-Pendel, nach welchem er die Zeit— 
angaben gemacht hatte, vorwies. Lever— 
rier erwarb ſich indeſſen die vollkommenſte 
Ueberzeugung von der Zuverläſſigkeit der 
ſeines Examinanden und 


legte deſſen Beobachtungen in der erſten 


zwiſchen Merkur und Sonne, deſſen Glie— | 
der ſich wegen ihrer Kleinheit leichter den 


Blicken 
könnten. 

Gleich nach der Mittheilung ſeiner Rech— 
nungen an die Pariſer Akademie (Septem— 
ber 1859) meldete ein in Orgeͤres (De— 


der Aſtronomen entzogen haben 


partement Eure und Loire) wohnhafter Arzt, 


Akademie-Sitzung des Jahres 1860 vor, 
indem er dem neu entdeckten Planeten deu 
Namen Vulkan beilegte und aus Les— 
carbault's Beobachtungen eine Entfern— 
ung von 395000 Meilen und eine Um— 
laufzeit von 19 Tagen, 16 Stunden und 
48 Minuten berechnete. Dieſe Berechnun— 
gen ſind wahrſcheinlich falſch, denn Les— 
carbault hatte das ſchwarze Pünktchen 
erſt bemerkt, nachdem es ſchon einen Theil 
ſeines Weges vor der Sonnenſcheibe zurück— 
gelegt hatte, und ſeine Beſtimmungen waren 
deshalb nicht vollſtändig, ſo daß es nicht 


Rechnungen angeftellte weitere Verſuche, den 
Vulkan aufzufinden, erfolglos blieben. 

Inzwiſchen hatte Prof. R. Wolf in 
Zürich weitere Anhaltspunkte für das Vor— 
handenſein eines oder mehrerer innerſten 
Planeten, aus den vorhandenen Aufzeich— 
nungen über kleine Sonnenflecke, welche 
ſchneller als die anderen über die Sonnen— 
ſcheibe dahin gehend beobachtet worden waren, 
gefunden. Die Sonnenflecke brauchen von 
ihrem erſten Auftauchen an einem Rande 
bis zum Erreichen des anderen, wenn ſie 
ſich ſo lange erhalten, gewöhnlich die Zeit 
einer halben Sonnenumdrehung, alſo etwas 
über 12 Tage, während ein Planeten— 
durchgang nur etwa einen Vierteltag dauert. 
In der That fand Prof. Wolf Angaben 
über fünfzehn derartige kleine und durch 
ihre Bewegungsſchnelligkeit verdächtige Flecke, 
unter denen ſich mehrere auf einen kleinen 
Planeten von 38 ½ Tagen Umlaufzeit be— 
ziehen ließen. Beſonders intereſſant dar— 
unter iſt die gleichzeitige Beobachtung eines 
ſolchen runden Fleckes durch zwei ſelbſt— 
ſtändige Beobachter am 12. Februar 1820. 
An dieſem Tage ſahen nämlich in den Nach— 
mittagsſtunden A. Stark in Augsburg 
und Steinheibel in Wien einen kleinen, 
wohl umgrenzten, runden Fleck innerhalb 
fünf Stunden an der Sonnenſcheibe vor— 
überziehen. 

Noch die Beobachtung des letzten Mer— 
kurdurchganges am 6. Mai 1878 ergab 
Stützpunkte für die Richtigkeit der Annahme 
eines innerſten Planeten. Ein Vergleich 
der Contakt-Beobachtungen mit den Ephe— 
meriden des amerikaniſchen und des eng— 
liſchen Nautical Almanac zeigte, daß der 
engliſche der Wahrheit viel näher gekom— 
men war. 
rikaniſchen Almanachs ſich auf Lever— 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


zu verwundern iſt, wenn auf Grund dieſer 


Da nun die Tafeln des ame- 


rier's alte Theorie der Merkursbahn 
ſtützen, die engliſchen aber auf ſeine neue, 
ſo war auch in dem Ergebniſſe der neue— 
ſten Beobachtung eines Merkurdurchganges 
eine Beſtätigung von Leverrier's neuer 
Theorie, die den intramerkuriellen Planeten 
vorausſetzt, zu finden. Leider ſollte der 
große Aſtronom den neuen Triumph ſeiner 
Rechnungen nicht mehr erleben. Er hatte 
bis zum letzten Athemzuge ſeine Zuverſicht 
nicht verloren. Als Watſon vor vierte— 
halb Jahren von Pecking, wohin er im 
Auftrage der nordamerikaniſchen Regierung 
zur Beobachtung des Venusdurchganges ent— 
ſendet worden war, über Europa zurück— 
kehrte, beſuchte er Leverrier in Paris 
und wurde von demſelben von der Noth— 
wendigkeit überzeugt, einen Theil ſeiner 
Zeit der Aufſuchung und Beobachtung des 
Vulkan zu widmen. Ob er den Vulkan 
nun wirklich aufgefunden und ob derſelbe 
ſich durch vollſtändige Erklärung der Un— 
regelmäßigkeiten des Merkurs als alleiniger 
Beherrſcher der innerſten Zone unſeres 
Sonnenſyſtems darſtellt, muß der Zukunft 
aufzuhellen anheimgeſtellt bleiben. 


Die Kataplexie und der thieriſche 
Hypnotismus. 


Unter dieſem Titel hat Herr Profeſſor 
Dr. Preyer in Jena eine gerade hundert 
Seiten ſtarke Schrift?) veröffentlicht, auf 
deren hochintereſſanten Inhalt wir um ſo 
lieber etwas näher eingehen wollen, da der— 
ſelbe unerwarteter Weiſe auch die Darwin'ſche 
Theorie nahe angeht. Im Jahre 1646 gab 
der bekannte Jeſuitenpater Athan. Kircher 
in Rom ein nach unſeren Begriffen recht 

” 0 Mit zwei Steindrucktafeln und einer 
Photographie, Jena, Guſtav Fiſcher 1878. 


534 


ſeltſames Handbuch der Optik unter dem 
Titel Ars magna lueis et umbrae her— 
aus, in welchem er unter anderen aktiniſchen 
Vorgängen auch die „Strahlung der Ein— 
bildungskraft“ behandelt und folgenden „de 
imaginatione gallinae* (von der Einbild— 
ungskraft des Huhnes,) betitelten Verſuch 
beſchreibt. „Man binde einem Huhne die 
Füße zuſammen und lege es auf einen be— 
liebigen Fußboden, ſo wird daſſelbe anfangs 
durch Schlagen mit den Flügeln und Be— 
wegungen des ganzen Körpers auf jede 
Weiſe ſich von der Feſſel zu befreien trachten. 
Nach dem vergeblichen Verſuche zu entkom— 
men, wird es ruhig. Während das Huhn 
ſtill daliegt, zieht man vom Auge deſſelben 
auf dem Boden einen geraden Strich mit 
Kreide, laſſe es dann nach Löſung der 
Fußfeſſel liegen, ſo wird das Huhn, trotz— 
dem es nicht mehr gebunden iſt, nicht fort— 
fliegen, auch wenn man es dazu anregt.“ 
Dieſer ſchon in älteren Werken erwähnte, 
aber meiſt mit dem Namen Experimentum 
mirabile Kircheri bezeichnete Verſuch iſt 
ſeitdem in die Sammlungen von magiſchen 
Schauſtücken für geſellſchaftliche Unterhalt— 
ung übergegangen und oft wiederholt wor— 
den. 
gnügte man ſich mit der ſonderbaren Idee 
Kircher's, das Thier mit ſeiner ſtark „er— 
regbaren Phantaſie“ bilde ſich ein, daß es 
feſt gebunden ſei, da es das Ende des Bind— 
fadens in dem langen Kreideſtrich zu ſehen 
glaube. Den Taſchenſpielern war es eben— 
falls ſeit lange bekannt, daß Kanarienvögel 
und ihres Gleichen, wenn man ſie an den 
Beinen ein Paar Mal langſam durch die 
Luft ſchwenkt und dann auf den Rücken 
in die offene Hand oder ſonſt wo frei hin— 
legt, längere Zeit unbeweglich „wie todt“ 
liegen bleiben. Eine wiſſenſchaftliche Unter— 
ſuchung dieſes eigenthümlichen Verhaltens 


Was die Erklärung betrifft, fo be- 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


hatte ſeither nicht ſtattgefunden, bis der für 
die Wiſſenſchaft zu früh verſtorbene Leip— 
ziger Phyſiologe J. N. Czermak im Jahre 
1872 von dem „Magnetiſiren der Fluß— 
krebſe“ erzählen hörte, welches darin beſteht, 
daß man ſie unter einigen „mesmeriſchen 
Strichen“ mit dem Naſenſtachel (die Schee— 
ren untergeſchlagen und den Schwanz in 
die Höhe) auf den Tiſch ſtellt, worauf ſie 
im „magnetiſchen Schlafe“ längere Zeit 
unbeweglich verharren. Czermak wieder— 
holte das Experiment, fand die Sache rich— 
tig und erinnerte ji ſogleich der Kircher'— 
ſchen Henne. Er wiederholte das Experi— 
ment mit allen möglichen größeren und 
kleineren Vögeln, und ſah auch Enten, Gänſe, 
Truthühner und ſogar einen Schwan die 
Rücken-, Seiten- oder Bauchlage, die man 
den Thieren gewaltſam aufgezwängt, viele 
Minuten lang unbeweglich beibehalten, ohne 
daß der Strich oder ſonſtiger Hokuspokus 
erforderlich waren. Aber obwohl Prof. 
Czermak die Einbildungskraft und den 
magnetiſchen Schlaf zurückwies, hatten ſie 


unbemerkt ſeine Phantaſie beeinflußt, und 
er begann in der That anzunehmen, daß 


ein hypnotiſcher Zuſtand, eine Schlaftrunken— 
heit, wie ſie der engliſche Chirurg Braid 
im Jahre 1843 durch ſtarres Anblicken 
eines kleinen glänzenden Körpers erzeugen 
lehrte, die Urſache jenes unbeweglichen Da— 
liegens ſei. Er hielt daher auch das nach 
einem Zeitraum von verſchiedener Dauer, 
der ſich bis zu einer Viertelſtunde ver— 
längern kann, eintretende Aufſpringen des 
Thieres, für ein wahres Erwachen, um fo 
lieber, als letzteres gewöhnlich in Folge 
eines plötzlichen Geräuſches, einer Erſchüt— 
terung oder einer Berührung erfolgt. Das 
Thier blickt ſich dann wie erſtaunt um, 
und läuft davon. Prof. Czermak 
glaubte deshalb auch, daß das Anſtarren 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


des Kreideſtrichs oder eines über den Schna— 
bel gehängten Stückchen Bindfadens den 
Eintritt des Braidismus oder hypnotiſchen 
Zuſtandes befördern könnte. 

Prof. Preyer, der dieſe Verſuche 
ſeines Freundes ſogleich und mit dem beſten 
Erfolge auch auf Meerſchweinchen, Kanin— 
chen, Eichhörnchen und Fröſche ausgedehnt 
hatte, erklärte gleich damals (1873) im 
Centralblatt für die mediciniſchen Wiſſen— 
ſchaften, daß von einem hypnotiſchen Zu— 
ſtande keine Rede ſein könne. Die Thiere 
ſchließen die Augen wohl vorübergehend, 
aber fie find in der größten Augſt und 
zittern vor Aufregung und dieſer Zuſtand 
disponirt bekanntlich nicht zum Einſchlafen; 
das ungewöhnliche Verhalten müſſe alſo 
wohl eine Folge der Angſt und des 
Schreckens ſein. Der in demſelben Jahre 
erfolgte Tod Czermak's hinderte dieſen 
ausgezeichneten Phyſiologen, ſeine Verſuche, 
die er im Archiv für die geſammte Phy— 
ſiologie des Menſchen und der Thiere von 
1873 beſchrieben hat, wieder aufzunehmen. 
Dies iſt indeſſen im vorigen Jahre durch 
den Privatdocenten Emil Heubel in Kiew 
geſchehen, der ſeine umſtändlichen Verſuche 
in demſelben Archiv“) beſchrieben hat, und 
gefunden haben will, daß die ſo behandel— 
ten Thiere nach kurzem Feſthalten in einen 
natürlichen phyſiologiſchen Schlaf verfielen, 
nicht blos in eine Schlaftrunkenheit, wie 
Czermak geglaubt hatte. 

Dieſes unglaubliche Forſchungsreſultat 
veranlaßte Prof. Preyer zur Anſtellung 
neuer längerer und ſorgfältiger Verſuchs— 


reihen, die er in dieſem Buche mitgetheilt 
hat und die ergeben haben, daß ſeine frühere 


Auffaſſung die richtige war. Die Thiere 

bekunden, ſobald ſie ergriffen werden, durch 

Zittern und keuchendes Athmen ihre Angſt, 
) Band XIV. (1877) S. 158210. 


der anfänglich vermehrte Puls geht dann 
ebenſo wie die Athmungsfrequenz allmälig 
ſehr ſtark herab, und das Thier iſt in 
einem abnormen Zuſtande, der nichts weniger 
als mit dem Schlafe Aehnlichkeit hat. Es 
iſt möglich, daß der Zuſtand in Ausnahme— 
fällen in einen ſchlafartigen Zuſtand über— 
gehen kann, wenn die Starre eine längere 
Zeit angedauert und die Angſt einer Ab— 
ſpannung gewichen iſt, aber das wäre als— 
dann eine ſekundäre Erſcheinung. Dr. Le— 
wiſſon hat nämlich ſchon 1869 beobachtet, 
daß Fröſche durch Schlingen, die man 
ihnen plötzlich um den Hals oder an die 
Beine legt, in einen Starrzuſtand gerathen, 
aus dem ſie oft überhaupt nicht mehr her— 
auskommen, und Prof. Preyer ſah Fröſche 
und Tritonen, die mit einer Pincette an 
einem Hinterfuße bezw. am Schwanze erfaßt 
wurden, ſtarr werden und in dieſem Zu— 
ſtande ſtundenlang verharren, ja am an— 
deren Tage wurden ſie todt gefunden, ohne 
daß ſie eine andere Stellung angenommen 
hatten. 

Preyer's großes Verdienſt um die Auf— 
hellung dieſer dunkeln Vorgänge beſteht nun 
darin, daß er ſie auf einen uns allen wohl— 
bekannten Zuſtand zurückgeführt hat, näm— 
lich auf die lähmende Wirkung, die der 
Schreck auch auf den Menſchen äußert. Re— 
densarten, wie: „Ich war vor Schreck ge— 
lähmt, — ſtand wie verſteinert, — konnte 
kein Glied rühren, — der Schreck war 
mir in alle Glieder gefahren“ u. ſ. w. 
zeigen, daß auch der Menſch vor Schrecken 
ſtarr werden kann, und bei plötzlichen Ver— 
wundungen, und chirurgiſchen Eingriffen 
kann dieſer Lähmungszuſtand ſogar längere 
Zeit andauern, gerade wie bei jenen Thie— 
ren, was die Chirurgen den „Shock“ 
nennen. Der Unterſchied würde alſo nur 
ſein, daß der Menſch ſich von jener Lähm— 


536 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


ung in der Regel ſchon nach einigen Se— 
kunden erholt, während das plötzlich er— 


griffene Thier viele Minuten, ja ftunden- 
lang vor Schrecken ſtarr bleibt und ſich 
im Allgemeinen viel langſamer erholt. Es 


mag dazu beitragen, daß das Thier plötz— 
lich ergriffen und vielleicht gegen die Erde ge— 
drückt in der geiſtigen Lähmung, welche 
die körperliche begleitet und auch beim 
Menſchen nicht fehlt (die dann ebenfalls 
keines Gedanken und Wortes mächtig ſind), 
zunächſt gar nichts davon merkt, wenn man 
vorſichtig die Hand, Pincette oder Schlinge 
zurückzieht, ſo daß die Urſache des Schrecks 


auch länger andauert und intenſiver wirkt. 


Preyer nennt dieſen Zuſtand den kata— 
plegiſchen oder die Kataplexie d. h. 
Schrecklähmung, von dem griechiſchen Worte 
xarvarcıns, erſchrocken. Als wahrſcheinliche 
phyſiologiſche Urſache ſieht er die Erregung 
beſonderer Hemmungs-Centren an, welche 
ſowohl die willkürliche als die Reflex-Be— 
wegungen für kürzere oder längere Zeit 
aufheben und das Blut aus der Haut 
und vermuthlich auch aus den nervöſen 
Centralorganen auf die Eingeweide zurück— 
ſtauen, wodurch nicht nur die Hautbläſſe 
kataplegiſcher Thiere, ſondern auch die ſtarken 
periſtaltiſchen Bewegungen der Eingeweide 
und häufigen Ausleerungen derſelben ver— 
ſtändlich werden. Die Verlangſamung und 
Vertiefung der Reſpiration beim Beginn 
der Kataplexie würde zunächſt der ſtarken 
reflektoriſchen Erregung des Lungen-Vagus 
zuzuſchreiben ſein. 

Das Hauptintereſſe dieſer Auffaſſung 
beruht, wie uns ſcheint, darin, daß Preyer 
damit die Allgemeinheit einer Folgewirkung 
gewiſſer geiſtigen Eindrücke faſt durch 
das geſammte Thierreich dargethan hat. 
Kaninchen und Meerſchweinchen, mit denen 
er am meiſten experimentirte, wurden, auf 


den Rücken gelegt und kurze Zeit feſtge— 
halten, nachher ſo unbeweglich, daß er ſie 
nach entfernter Hand photographiren laſſen 
konnte, ohne daß auch nur ein Augenzucken 
oder die Verrückung eines Schnurrbarthaares 
ſtattgefunden zu haben ſcheint. Außer Säuge— 
thieren, Vögeln und Amphibien ſah er in Kairo 


große, mehrere Fuß lange Wüſten-Eidechſen 


(Varanus) augenblicklich ſtarr werden, wenn 
er ſie auf den Rücken legte, und mit der 
Uräusſchlange, die zum Stabe wird, wenn 
man ſie an dem geſchwollenen Halſe ergreift, 
hat es wohl dieſelbe Bewandtniß. Aber 
auch Krebſe mit einem ganz verſchiedenen 
Nervenſyſtem zeigen dieſelbe Wirkung, und 
mit Recht zieht der Verfaſſer zu derſelben 
Erſcheinung das ſogenannte „Sichtodtſtellen“ 
vieler Käfer und anderer Kerfe. Wie 
einleuchtend iſt dieſe Erklärung und wie 
ſchwerglaublich jene andere, welche darin 
eine bloße Kriegsliſt oder gar Eigenſiun 
ſah, wie bei jenem Käfer, den man den 
wiederauflebenden „Trotzkopf“ (Anobium 
pertinax) getauft hat, weil er ſich der 
Angabe vieler Zoologen zu Folge, lieber 
aufſpießen und lebendig braten läßt, ehe 
er ſeine Falſtaffrolle aufgiebt. Was wäre 
ein Mutius Scävola gegen ſolch' einen 
kleinen Helden, wenn die Lähmung nicht 
eine unfreiwillige wäre! Und ſollte dieſe 
Erſcheinung ſich nicht noch auf andere 
Thierkreiſe ausdehnen z. B. auf die Stachel— 
häuter, deren einige zerbrechen, wenn man 
ſie angreift, wie die Bruchſchlange, ja in 
kleine Stücke zerſpringen? 

Offenbar ſpielt dieſer Vorgang im 
großen Kampfe ums Daſein eine wichtige 
Rolle. Wie oft hat man erzählt von dem 
bezaubernden Blick der Schlangen, welcher 
die kleinen Vögel und Säugethiere lähme, 
daß ſie weder Bein noch Flügel bewegen 
können, und wem wären die daraus her— 


r ˙—ü— 


vorgegangenen Mythen vom vergiftenden 
Baſiliskenblick und dem verſteinernden, 
ſchlangenumringelten Meduſenhaupt unbe— 
kannt? Vielleicht compenſirt die Natur die 
ihr eigene Schonungsloſigkeit dadurch einiger— 
maßen, daß ſie die von Raubthieren er— 
faßten Beutethiere nach den erſten frucht— 
loſen Befreiungsverſuchen bewegungs-, ge— 
danken- und gefühllos werden läßt, und 
vielleicht hat die Gewohnheit vieler Raub— 
thiere, ihre ſicher gepackten Opfer ein paar 
Mal hin und her zu ſchleudern, nur den 
Zweck, dieſelben deſto ſchneller kataplegiſch 
und damit wehrlos zu machen. Merkwür— 
dig iſt jedenfalls der Umſtand, daß Katzen 
und Hunde nicht kataplegiſch gemacht wer- 
den konnten, wobei man freilich annehmen 
kann, daß ſie beim Ergreifen nicht ſo ſehr 
erſchreckt werden als andere Thiere. Daß 
es ſich hier nicht etwa blos um eine Eigen— 
thümlichkeit kleinerer Thiere handelt, be— 
weiſen Pferde und Rinder, die man öfter 
ſtarr werden ſah, wenn man ſie behufs 
der Verladung in Schiffe vermittelſt eines 
Bauchgurtes durch den Krahn emporhob. 
Aber bei Raubthieren wäre es immerhin 
möglich, daß ſie ſich, wie der Menſch, der 
Eigenſchaft, im höheren Grade kataplegiſch 
zu werden (durch die Gewohnheit, nur an— 
dere Thiere, nicht ſich ſelbſt zu erſchrecken) 
entwöhnt hätten. 

Nur eine oberflächliche Betrachtung 
könnte vermuthen laſſen, daß dieſe Eigen— 
thümlichkeit den Thieren ſo ſchädlich gewor— 
den ſein möchte, daß ſie alle damit Behaf— 
teten dem Untergange weihen mußte, denn 
die Kataplexie tritt wohl in den meiſten 
Fällen nur dann ein und eben deswegen, wenn 
ein Entrinnen überhaupt nicht mehr mög— 
lich iſt. Andererſeits kann aber die Un— 
beweglichkeit, wie ſchon der Volksmund 
meint, dem Thiere von Nutzen ſein, da 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


manche Räuber eine todte Beute nicht an— 
rühren, ſie unter Umſtänden auch ſchwerer 
erblicken und erkennen werden, und dadurch 
begreifen wir, daß ſich dieſe Eigenſchaft 
ſeit den Tagen der Trilobiten, die ſich be— 
reits zuſammenkugelten und dabei wahr— 
ſcheinlich bewegungslos waren, bis heute 
bei ſo vielen Arthropoden erhalten hat. 
„Richtig iſt offenbar,“ ſagt der Verfaſſer 
über dieſen Punkt, „daß ein Thier, welches 
ſich bewegt, leichter von ſeinen Feinden er— 
kannt wird, als ein ruhendes Thier. Im 
Allgemeinen werden alſo diejenigen Indi— 
viduen, welche im Augenblick der Gefahr 
ſich ganz ruhig verhalten, mehr Ausſicht 
haben, ſich zu erhalten, als die fliehenden, 
die Ueberlegenheit des Gegners voraus— 
geſetzt. Dann namentlich wird dieſes zu— 
treffen, wenn die Fluchtbewegungen lang- 
ſam ſind. Von einer Käferart mit träger 
oder nicht ſehr behender Fortbewegung 
müſſen demnach im Laufe der Zeit die 
phlegmatiſchen vor den anderen einen ge— 
wiſſen Vorzug haben, den ſie in verſtärk— 
tem Maße auf ihre Nachkommen vererben. 
Schließlich werden unter dieſen diejenigen 
wieder im Kampfe um das Daſein einen 
Vortheil erringen, welche nicht nur immobil 
find, ſondern dem Feinde keinen Angriffs- 
punkt bieten, ähnlich wie der zuſammen— 
gekugelte Igel. In dieſer Beziehung iſt 
beſonders der Pillenkäfer (Byrrhus pilula) 
mit den Fugen, in die ſich die Extremitäten 
legen, ausgezeichnet. Weshalb aber ur— 
ſprünglich die betreffenden Thiere in Augen— 
blicken der Gefahr ruhig ſich verhalten, 
während andere ſchnellere durch die Flucht 
ſich zu retten ſuchen, iſt durch dieſe An— 
wendung des Darwin 'ſchen Selektions— 
Princips nicht aufgeklärt. Mir ſcheint der 
Grund der zu ſein, daß ſie erſchrecken, d. h. 
durch eine ungewöhnliche Reizung — Be— 


538 


rührung, Schall, Erſchütterung — eine 
Hemmung der Willkürbewegung eintritt. .. 
So wird die alte anthropomorphiſche Er— 
klärung von dem „Sichstodt-ſtellen“ durch 
eine natürliche Erklärung verdrängt, welche 
es auch begreiflich macht, daß bei den man— 
nigfaltigſten Reizungen — nicht blos bei 
Berührung ſeitens eines Raubinſekts — 


die Bewegungsloſigkeit eintritt, und es nicht 
mehr als einen Akt des Heroismus er⸗ 
ſcheinen läßt, daß Anobium bei lebendigem 
Leibe ſich verbrennen läßt, ſondern als 
Conſequenz einer ſehr ſtarken Reizung von 
Mit dieſem Citat 
wollen wir von einer nach den mannig⸗ 


Hemmungsapparaten.“ 


fachſten Richtungen lehrreichen Abhandlung 
Abſchied nehmen und den Leſer für weitere 
Information auf dieſelbe verweiſen. 


Die Statiſtik der Farbenblindheit. 


Wie wir zu unſrer Freude erfahren, führt 
Herr Ur Hugo Magnus in Breslau den 
ihm in unſerer Zeitſchrift (Bd. I. S. 272) 
gemachten Vorſchlag aus, die Forſchungs— 
reiſenden zur Prüfung des Farbenunter— 
ſcheidungs- und Benennungsvermögens der 
Naturvölker anzuregen, und hat zu dieſem 
Zwecke im Vereine mit Dr. Pechuel— 
Löſche ein Programm ausgearbeitet, welches 
den Reiſenden zur Richtſchnur dienen ſoll. 
Hoffentlich ſind darin die großen Schwie— 
rigkeiten einer ſolchen Unterſuchung gehörig 
hervorgehoben und die Vorſichtsmaßregeln an— 
gegeben, deren man ſich, um nicht den ſchlimm— 
ſten Irrthümern zu unterliegen, hierbei be— 
dienen muß, wie denn nur ein vollkommen 
methodiſcher Gang und Prüfung am Spek— 
tralapparat hier einige Sicherheit zu geben 
vermag. Wie leicht man hierbei Täuſchun— 
gen unterliegen kann, haben kürzlich wieder 


en 


Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 


die Unterſuchungen des franzöſiſchen Bahn— 
Arztes Dr. Favre gezeigt, der, obwohl er 
ſich ganz ſpeciell mit dieſen Unterſuchungen 
beſchäftigt hat, zu ganz falſchen Beſtimm— 
ungen gelangt iſt, indem er Perſonen, die 
nur die Farbennamen falſch anwendeten, 
ſogleich zu den Farbenblinden rechnete. In 


dem Centralblatt für praktiſche Augenheil— 


kunde (April 1878 S. 79) wird ein in— 
tereſſanter ſtatiſtiſcher Bericht über die Ver— 
breitung der Farbenblindheit bei der nor— 
wegiſchen Jugend veröffentlicht. Herr Daae 
zu Kragerö in Norwegen hat 413 Schüler 
beiderlei Geſchlechts und im Alter von 9 
— 15 Jahren in Bezug auf ihr Farben— 


unterſcheidungsvermögen geprüft. Unter 205 


Knaben fand er 21 mehr oder weniger 
ausgeſprochene Farbenblinde (10 völlig, 11 
in geringerem Grade), im Ganzen alfo 
10,24 pCt. Unter 208 Mädchen zeigten 
dagegen blos 5 (d. h. 2,40 PCt.) dieſen 
Mangel, und noch dazu in einem weniger 
ausgebildeten Grade. Im Mäihefte deſſel— 
ben Journals finden ſich ſodann Mittheil— 
ungen über ähnliche Unterſuchungen, welche 
die Herren Prof. Dr. Herm. Cohn und 
Dr. H. Magnus in Breslau angeſtellt 
haben. Unter 2761 Knaben fanden ſie 
76, alſo 2,7 pCt., farbenblind, und unter 
2318 Mädchen nur ein farbenblindes, = 
0,04 pCt. Bei der Unterſuchung der 
Schüler einer Realſchule, welche von ſehr 
vielen jüdiſchen Schülern beſucht wird, ergab 
ſich das überraſchende Reſultat, daß bei den 
jüdiſchen Schülern die Farbenblindheit dop— 
pelt ſo häufig vorkam, als bei den chriſt— 
lichen. Unter 1947 chriſtlichen Schülern 
befanden ſich 42 Farbenblinde, — 2,1 pCt., 
unter 814 jüdiſchen Schülern 34, — 4,1 pCt. 
Von 836 jüdiſchen Mädchen wurde kein 
einziges farbenblind gefunden. 


———— ͤ—— — — 


Ch. Darwin's Geſammelte Werke.“) 


Bi 


An den letzten Wochen iſt ein litera— 
92 riſches Unternehmen vollendet worden, 
auf welches wir Deutſche in der That 


ein wenig ſtolz fein dürfen: die erfte 


Gefammt-Ausgabe von Darwin's Haupt⸗ 
ſchriften in deutſcher Sprache. 
recht berichtet ſind, ſo beſitzt nicht einmal 
das Mutterland des großen Reformators 
der Naturphiloſophie, jedenfalls keine andere 
Nation, eine ſolche Ausgabe. 


ein Dichter, noch ein Hiſtoriker, noch ein 


ſchrieben, liegt ein Forſcherleben und ein 
umfaſſendes Naturgemälde — nicht in Ein- 
zelnheiten, ſondern in großen allgemeinen 
Zügen — vor uns: Die Geſetze der Ent— 
wickelung der Erde und ihres Lebens aus 
ihrer allſeitigen Beobachtung und Durch- 
dringung abgeleitet. Mag man es immer— 
hin noch Theorie nennen; dem Studiren— 
den, der mit offnem Aug' und Sinnen um 
ſich blickt, iſt es bald keine mehr, oder 
doch nicht mehr, als Alles, was wir zu 
wiſſen glauben, Hypotheſe und Theorie iſt. 
Der erſte Band giebt uns den lebensvollen 
Bericht jener Reiſe um die Welt mit dem 
Beagle, auf welcher der junge Naturforſcher 
die erſten Anſtöße ſeiner neuen Weltauf— 


5 Zwölf Bände. Ueberſetzt von J. 
Victor Carus. Stuttgart, E. Schweizer— 
bart'ſche Buchholg. (Ernſt Koch), 1875 — 78. 


Kosmos, Band III. Heft 6. 


Literatur und Kritik. 


nehmen: 
Wenn wir 


In zwölf 
ſtattlichen Bänden, wie ſie inhaltreicher weder 


faſſung empfing, die uns im zweiten Bande 
ausgereift vorliegt, während die folgenden 
das ungeheure Gedanken-, Beobachtungs- und 
Thatſachen-Material nachliefern, worauf ſich 
dieſes mächtige Gebäude, wie auf dem 
Fundamente der Natur ſelbſt, erhebt. Wir 
brauchen hier keine Aufzählung zu unter— 
ein Staunen wird es noch in 
ſpäten Zeiten erwecken, eine ſolche un— 
geheure Zahl wohlgeordneter Beläge und 
Nachweiſe bei einander zu finden, wie der 
unermüdliche Fleiß und die Arbeitsfreudig— 
keit des Verfaſſers bis in ſein hohes Alter 
ſie erarbeitet, geſammelt und geſichtet hat, 


um den verborgenen Zuſammenhang der 
Philoſoph oder Naturforſcher jemals ge | 


Dinge daraus abzuleiten. Niemals haben 
ſich fruchtbarer Analyſe und Syntheſe er— 
gänzt, und was als geniales Apercu auf— 
getaucht ſein mag, iſt nachher im harten 
Kampfe geſichert worden, durch geduldiges 
Beobachten des Viehhofes, durch ſorgſames 
Ausſäen und Pflanzen im Garten, durch 
eine Correſpondenz, vor welcher allein ſchon 
gewöhnliche Geiſter zurückſchrecken würden. 
Aber welcher Lohn und Ertrag auch von 
dieſer fünfzigjährigen Arbeit! Wohin er 
den erleuchtenden Blick gewendet, — in 
die Tiefen des Weltmeeres, um das Rüthſel 
der Korallenbauten zu ergründen, auf die 
Vulkane und den Bau der Erde, auf die 
ausgeſtorbenen oder auf die lebenden Thiere, 
auf die windenden, kletternden und inſekten⸗ 
freſſenden Pflanzen, auf ihre Kreuzbefrudt- 
ung und Wechſelbeziehung mit den Inſekten, 
auf die Naturzweckmäßigkeit oder Natur- 


69 


Literatur und Kritik. 


ſchönheit, auf die Abſtammung des Men— 
ſchen oder den Ausdruck ſeiner Gemüths— 
bewegungen, überall erkennen wir in ihm 
den ſinnenden Weiſen, der in der Erſchein— 
ungen Flucht den ruhenden Pol entdeckt 
und die geſammte naturforſchende Mitwelt 
willig oder widerwillig zwingt, auf ſeinen 
Spuren zu wandeln, ja die Sprach- und 
Sittenforſcher, Naturforſcher in ihren Fächern 
zu werden. Und noch enthält dieſe Aus— 
gabe einerſeits nicht Alles, wodurch er die 
Wiſſenſchaft gefördert hat, und andererſeits 
dürfen wir hoffen, da die Studien über 
die inſektenfreſſenden Pflanzen und die Wirk— 
ung der Kreuz- und Selbſtbefruchtung erſt 
aus den letzten Jahren ſtammen, noch man— 
chen Bauſtein zu dem Rieſenwerke dieſer 
Weltanſchauung aus ſeiner Hand zu erhal— 
ten. In Anerkennung dieſer ſeiner letzten 
Werke hat, wie wir eben in den Zeitungen 
leſen, die Pariſer Akademie der Wiſſen— 
ſchaften Darwin zu ihrem Mitgliede er— 
nannt; in Deutſchland iſt ſein Geiſt auch 
ohne ſpecielles Diplom überall, wo natur— 
forſchende Männer berathen und ſich ver— 
ſammeln, mitten unter ihnen. Und wo 
ſeine Würdigung noch fehlt, wird dieſe 
Geſammtausgabe ſie fördern. Nichts iſt 
daran mangelhaft. Allerſeits nachahmungs— 
werthe Regiſter in der äußerſten Vollſtän— 
digkeit erleichtern das gelegentliche Nach— 
ſchlagen, eine vortreffliche Eintheilung und 
Gliederung macht die Darſtellung überſicht— 
lich. Aber mit nicht minderer Wärme 
haben wir auch dem Ueberſetzer und dem 
Verleger zu danken, die ihre beſten Kräfte 
an eine würdige Wiedergabe geſetzt haben. 
Wer je derartige Arbeiten unternommen 
hat, der weiß, was zu einer entſprechenden 
Uebertragung ſo univerſaler und neuer An— 
ſchauungen, für welche die Ausdrucksformen 
oft erſt gefunden werden ſollen, gehört. 


Welche Selbſtverleugnung und Mühen wer— 
den nicht die von ſeinem Fache weit ab— 
liegenden botaniſchen und geologiſchen Ar— 
beiten vom Prof. Carus verlangt haben! 
Es ſind das Opfer, die man nur einem 
großen Zwecke bringt. Die buchhändleriſche 
Ausſtattung endlich iſt muſtergültig und 
gereicht der Firma, zumal wenn man den 
billigen Preis bedenkt, zur höchſten Ehre. 
So hat ſich denn Alles vereint, um dem 
gebildeten Deutſchen keine Entſchuldigung 
zu laſſen, wenn er die Arbeiten des großen 
Zeitgenoſſen nicht kennen lernt. 


Descendenz - Cheorie 
und Sorial- Demokratie. 

Der unüberlegte Angriff, welchen Vir— 
How auf der Münchener Verſammlung 
gegen die Freiheit der Wiſſenſchaft und 
ihrer Lehre, gegen den Werth von Theorie 
und Hypotheſe, gegen die Berechtigung der 
Evolutionstheorie im Allgemeinen und gegen. 
die Haeckel'ſchen Ausführungen im Be— 
ſonderen gethan, beginnt in einer Weiſe 
auf ihn zurückzuprallen, daß er ſich von 
jenem großen, von ihm ſelbſt ausgeführten 
Schlage in der Achtung der Naturforſcher 
kaum jemals ſo recht erholen dürfte. Nur 
die ultramontane und urtheilsloſe Preſſe hat 
ihm zugejauchzt, auf wiſſenſchaftlicher Seite 
haben die Meiſten den Kopf geſchüttelt, und 
man findet allgemein, daß er leider wieder 
einmal ſo unvorbereitet und ununterrichtet wie 
gewöhnlich geweſen, indem er Dinge ab— 
kanzelte, die ihm völlig fremd find. Nach— 
dem ihm die Angegriffenen Zeit zum Nach— 
denken und zur Buße gegeben haben, er— 
ſcheinen ſie nun am Vormorgen der neuen 
Naturforſcher-Verſammlung wie auf Ver— 
abredung, um ihm mit Zinſen die Schul— 
den zurückzuzahlen, die er vor Jahresfriſt 


contrahirt hat. Caſſel ſoll ſühnen, was führung dienende Afterwiſſenſchaft. 


Literatur und Kritik. 


541 


Da 


München verbrochen. Da erſcheint Cas— dieſe Anklage in Folge trauriger Berirrun- 


pari, um ihm ein Collegium logicum und 
ein Privatissimum über Methodologie und 
ſynthetiſche Philoſophie zu leſen,“) es folgt 
Klebs, der ihn auf ſeinem eigenen Felde 


gen leider nicht auf ganz unfruchtbaren 


Boden gefallen iſt, ſo wollen wir mit 
freundlicher Erlaubniß des Verfaſſers hier 


angreift, da droht Oskar Schmidt dem 
berühmten Politiker über Social-Demo⸗ 


kratie Aufklärung zu geben, und endlich 
kommt der Haupt- Angegriffene Haeckel 
mit einer geharniſchten Abwehr.“) Vir— 


chow erfährt hier neben andern wiſſens— | 
werthen Dingen, daß die Umwandlungs⸗ 
lehre keine ſo beweisloſe Hypotheſe iſt, wie 


er in München behauptet hat, daß er ſogar 
ſelber als einer der lehrreichſten Beweiſe 
dafür angeführt werden kann, ſofern er ſich 
mit ſeinem ganzen Denken und Empfinden 


in das gerade Gegenſtück desjenigen Vir 
How verwandelt hat, dem einſt in Würz- | 


burg alle Studirenden zujauchzten. Es 
wird ihm nachgewieſen, daß er früher 
meiſtentheils das Gegentheil von dem be— 


haaptet hat, was er jetzt für wahr erklärt, 


ſo daß die Metapſychoſe nicht vollſtändiger 
ſein kann als ſie iſt. Das, wie Friedrich 
von Hellwald “*) damals ſehr richtig be— 
tonte, häßlichſte Manöver Virchow's be— 
ſtand jedenfalls darin, die Darwin'ſche 
Theorie für die Ausſchreitungen der Social— 
Demokratie verantwortlich zu machen, ſie 
vor aller Welt zu denunciren und an den 
Pranger zu ſtellen, als eine zur Volksver— 


) Virchow und Haeckel vor dem 
Forum der methodologiſchen Forſch— 
ung. Augsburg, Lampart u. Co., 1878. 

* Freie Wiſſenſchaft und freie 
Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolph 
Virchow's Münchener Rede. 
E. Schweizerbart'ſche Verlagsbuchhandlung 
(E. Koch), 1878. 

**) Kosmos, Bd. II. S. 180. 


Stuttgart, 


betreffenden 


wiedergeben, was im ſechsten Abſchnitt der 
vorſtehend erwähnten Vertheidigungsſchrift 
(S. 70 — 78) unter obigem Titel über 
dieſen Gegenſtand geſagt wird: 

„Jede große und umfaſſende Theorie, 
welche die Grundlagen menſchlicher Wiſſen— 
ſchaft berührt und ſomit die philoſophiſchen 
Syſteme beeinflußt, wird zwar zunächſt nur 
die Theorie der Weltanſchauung fördern, 
aber weiterhin ſicher auch eine Rückwirkung 
auf die praktiſche Philoſophie, die Ethik, 
und die damit zuſammenhängenden Gebiete 
der Religion und der Politik ausüben. 
Welche ſegensreichen Folgen nach meiner Ueber— 
zeugung unſere heutige Entwickelungslehre 
in dieſer Beziehung nach ſich ziehen wird, 
indem die wahre, auf Vernunft gegrün— 
dete Naturreligion an die Stelle der 
dogmatiſchen Kirchen-Religion tritt, und 
deren Grundlage, das menſchliche Pflicht— 
gefühl aus den ſocialen Inſtinkten 
der Thiere hiſtoriſch ableitet, das hatte ich 
in meinem Münchener Vortrage nur kurz 
angedeutet (S. 18). 

Die Beziehung auf die „ſocialen 
Inſtinkte“, die ich gleich Darwin und 
vielen Anderen für die eigentlichen Urquellen 
der ſittlichen Entwickelung halte, ſcheinen 
nun für Virchow Veranlaſſung gegeben 
zu haben, in ſeiner Gegenrede die Descen— 
denzlehre für eine „ſocialiſtiſche The— 
orie“ zu erklären und ihr ſomit den ge— 
fährlichſten und verwerflichſten Charakter 
beizulegen, den gerade in der Gegenwart 
eine politiſche Theorie haben kann. Die 
| erſtaunlichen Denunciationen 
haben übrigens gleich nach ihrem Bekannt— 


ich hier füglich darüber hinweggehen könnte. 


Doch wollen wir fie wenigſtens inſoweit 


kurz beleuchten, als ſie einen neuen Beweis 
dafür liefern, daß Virchow mit den wich— 


tigſten Grundſätzen der heutigen Entwidel- 
ungslehre unbekannt und daher zu ihrer | 
Beurtheilung incompetent ift. Uebrigens | 
legte Virchow als Politiker offenbar gerade 

predigt überaus deutlich, daß die ſocia— 


auf dieſe politiſche Nutzanwendung ſeiner 
Rede beſonderes Gewicht, indem er ihr den 
ſonſt wenig paſſenden Titel gab: „Die 
Freiheit der Wiſſenſchaft im mo— 
dernen Staate.“ Leider hat er nur ver— 
geſſen, dieſem Titel die zwei Worte hinzuzu— 
fügen, in denen die eigentliche Tendenz ſeines 
Vortrags gipfelt, die zwei inhaltsſchweren 
Worte: „muß aufhören“! 

Die überraſchenden Enthüllungen, in 
denen Virchow die heutige Entwickelungs— 
lehre, und ſpeciell die Abſtammungslehre, 
als gemeingefährliche ſocialiſtiſche Theorien 
denuncirt, lauten folgendermaßen: „Nun 
ſtellen Sie ſich einmal vor, wie ſich die 


eines Socialiſten darſtellt! Ja, meine 


Herren, das mag Manchem lächerlich er- 
ſcheinen, aber es iſt ſehr ernſt, und ich 


will hoffen, daß die Descendenz-Theorie für 
uns nicht alle die Schrecken bringen möge, 
die ähnliche Theorien wirklich im Nachbar— 
lande angerichtet haben. Immerhin hat auch 
dieſe Theorie, wenn ſie conſequent durch— 


liche Seite, und daß der Socialismus 
mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird Ihnen 
hoffentlich nicht entgangen ſein. Wir müſſen 
uns das ganz klar machen!“ 

Erſtaunt frage ich mich beim Leſen dieſer 
Sätze, die der Berliner „Kreuzzeitung“ 
oder dem Wiener „Vaterland“ entnommen 


Literatur und Kritik. 


werden ſolche gerechte Entrüſtung und ſo zu ſein ſcheinen: Was in aller Welt hat 
eingehende Widerlegung hervorgerufen, daß 


die Descendenz- Theorie mit dem Socialis— 
mus zu thun? Schon vielfach, von verſchie— 
denen Seiten und ſeit langer Zeit iſt darauf 
hingewieſen worden, daß dieſe beiden The— 
orien ſich vertragen wie Feuer und Waſſer. 
Mit Recht konnte Oscar Schmidt ent— 
gegnen: „Wenn die Soctaliften klar denken 
würden, ſo müßten ſie Alles thun, um die 
Descendenzlehre zu verheimlichen, denn fie, 


liſtiſchen Ideen unausführbar ſind.“ 
Und er fügt weiter hinzu: „Aber warum 
hat Virchow nicht die milden Lehren des 
Chriſtenthums für die Ausſchreitungen 
des Socialismus verantwortlich gemacht? 
Das hätte noch einen Sinn! Seine in's 


große Publicum geworfene Denunciation, 


ſo myſteriös, ſo zuverſichtlich, als handelte 


es ſich um „eine ſicher beglaubigte wiſſen— 
ſchaftliche Wahrheit“, und doch ſo hohl, 


vermag ich mit der Würde der Wiſſenſchaft 
nicht in Einklang zu bringen.“ 
Bei dieſen leeren Beſchuldigungen wie 


bei allen den hohlen Vorwürfen und grund— 
Descendenz-Theorie heute ſchon im Kopfe 


loſen Einwendungen, welche Virchow der 
Entwickelungslehre macht, hütet er ſich wohl, 
irgendwie auf den Kern der Sache einzu— 
gehen. Wie wäre das auch möglich, ohne 
zu ganz entgegengeſetzten, als zu den von 
ihm proclamirten Conſequenzen zu gelangen? 
Deutlicher als jede andere wiſſenſchaftliche 
Theorie predigt gerade die Descendenz-The— 


orie, daß die vom Socialismus erſtrebte 
geführt wird, eine ungemein bedenk⸗ 


Gleichheit der Individuen eine Unmöglichkeit 
iſt, daß ſie mit der thatſächlich überall be— 
ſtehenden und nothwendigen Ungleichheit der 
Individuen in unlöslichem Widerſpruch ſteht. 
Der Socialismus fordert für alle 
Staatsbürger gleiche Rechte, gleiche Pflichten, 
gleiche Güter, gleiche Genüſſe; die Des— 
cendenz-Theorie gerade umgekehrt be— 


Literatur und Kritik. 


weiſt, daß die Verwirklichung dieſer Forderung 
eine baare Unmöglichkeit iſt, daß in den 
ſtaatlichen Organiſatious-Verbänden der 
Menfchen, wie der Thiere, weder die Rechte 
und Pflichten, noch die Güter und Genüſſe 
aller Staatsglieder jemals gleich ſein werden, 
noch jemals gleich ſein können. Das große 
Geſetz der Sonderung oder Differen— 
zirung lehrt ebenſo in der allgemeinen 
Eutwickelungs-Theorie, wie in deren bio— 
logiſchem Theile, der Descendenz Theorie, 
daß die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen 
aus der urſprünglichen Einheit, die Ver— 
ſchiedenartigkeit der Leiſtungen aus der ur— 
ſprünglichen Gleichheit, die zuſammengeſetzte 
Organiſation aus der urſprünglichen Ein— 
fachheit ſich entwickelt. Die Eriftenz-Be- 
dingungen ſind für alle Individuen von 
Anfang ihrer Exiſtenz an ungleiche, ſogar 
auch die ererblen Eigenſchaften, die „An— 


lagen“, ſind mehr oder minder ungleich, 


wie können da die Lebens-Aufgaben und 


höher das Staatsleben entwickelt iſt, deſto 


mehr tritt das große Princip der Arbeits 


theilung in den Vordergrund, deſto mehr 


verlangt der Beſtand des ganzen Staats, 
daß ſeine Glieder ſich in die mannigfaltigen 


Aufgaben des Lebens vielfach theilen; und 
wie die von den Einzelnen zu leiſtende 
Arbeit und der damit verbundene Auf— 
wand von Kraft, Geſchick, Vermögen u. ſ. w. 


verſchieden ſein. 


Das ſind ſo einfache und 


Politiker ſollte die Descendenz-Theorie, wie 
z. Th 


überhaupt die Entwickelungslehre, als beſtes 


Gegengift gegen den bodenloſen Widerſinn 
der ſocialiſtiſchen Gleichmacherei empfehlen! 


Selektions-Theorie, den Virchow bei ſeiner 
Denunciation wohl eigentlich mehr im Auge 
gehabt hat, als den ſtets damit verwechſelten 
Transformismus, die Descendenz Theorie! 
Der Darwinismus iſt alles Andere eher 
als ſocialiſtiſch! Will man dieſer engliſchen 
Theorie eine beſtimmte politiſche Tendenz 
beimeſſen, — was allerdings möglich iſt —, 
jo kann dieſe Tendenz nur eine ariſto— 
kratiſche ſein, durchaus keine demokratiſche, 
und am wenigſten eine ſocialiſtiſche! Die 
Selektions-Theorie lehrt, daß im Menſchen— 
Leben wie im Thier- und Pflanzen- Leben 
überall und jederzeit nur eine kleine bevor— 
zugte Minderzahl exiſtiren und blühen kanu; 
während die übergroße Mehrzahl darbt und 
mehr oder minder frühzeitig elend zu Grunde 
geht. Zahllos ſind die Keime jeder Thier— 
und Pflanzen-Art, und die jungen Indi— 
viduen, die aus dieſen Keimen hervorgehen. 
Unverhältnißmäßig gering iſt dagegen die 


Zahl der glücklichen Individuen unter jenen, 
deren Ergebniſſe überall gleiche ſein? Je 


die ſich bis zur vollen Reife entwickeln und 
ihr erſtrebtes Lebensziel wirklich erreichen. Der 
grauſame und ſchonungsloſe „Kampf 
um's Daſein“, der überall in der 
lebendigen Natur wüthet und naturgemäß 
wüthen muß, dieſe unaufhörliche und un— 
erbittliche Concurrenz alles Lebendigen, 
iſt eine unleugbare Thatſache; nur die aus- 


erleſene Minderzahl der bevorzugten Tüch— 
tigen iſt im Stande, dieſe Concurrenz glück— 
höchſt verſchiedenartig iſt, jo muß natur- 
gemäß auch der Lohn dieſer Arbeit höchſt 


lich zu beſtehen, während die große Mehrzahl 
der Concurrenten nothwendig elend verderben 


muß! Man kann dieſe tragiſche Thatſache 
handgreifliche Thatſachen, daß man meinen 
ſollte, jeder vernünftige und vorurtheilsfreie 


tief beklagen, aber man kann ſie weder weg— 
leugnen noch ändern. Alle ſind berufen, 
aber Wenige ſind auserwählt! Die Se— 
lektion, die „Ausleſe“ dieſer „Auserwähl— 
ten“, iſt eben nothwendig mit dem Ver— 


kümmern und Untergang der übrig bleibenden 
Vollends der Darwinismus, die 


Mehrzahl verknüpft. Ein anderer engliſcher 


544 


Forſcher bezeichnet daher auch den Kern des 


Darwinismus geradezu als das „Ueber— 
leben des Paſſendſten“, als den 
„Sieg des Beſten“. Jedenfalls iſt dieſes 


Selektions-Princip nichts weniger als demo 


kratiſch, ſondern im Gegentheil ariſtokra— 
tiſch im eigentlichſten Sinne des Worts! 
Wenn daher der Darwinismus nach Vir— 


cho w, conſequent durchgeführt, für den 


Politiker eine „ungemein bedenkliche Seite“ 
hat, ſo kann dieſe nur darin gefunden werden, 
daß er ariſtokratiſchen Beſtrebungen Vor— 
ſchub leiſtet. Wie aber der heutige Socialis— 
mus an dieſen Beſtrebungen ſeine Freude 
haben ſoll, und wie die Schrecken der Pa— 
riſer Commune darauf zurückzuführen ſind, 
das iſt mir offen geſtanden, abſolut unbe— 
greiflich! 

Uebrigens möchten wir bei dieſer Ge— 
legenheit nicht unterlaſſen darauf hinzu— 
weiſen, wie gefährlich eine derartige unmit— 
telbare Uebertragung naturwiſſenſchaftlicher 
Theorien auf das Gebiet der praktiſchen 
Politik iſt. Die höchſt verwickelten Ver— 
hältniſſe unſeres heutigen Culturlebens erfor— 
dern von dem praktiſchen Politiker eine fo 
umſichtige und unbefangene Berückſichtigung, 
eine ſo gründliche, hiſtoriſche Vorbildung und 
kritiſche Vergleichung, daß derſelbe immer 
nur mit größter Vorſicht und Zurückhaltung 
eine derartige Nutzanwendung eines „Natur— 
geſetzes“ auf die Praxis des Culturlebens 
wagen wird. Wie iſt es nun möglich, daß 
Virchow, der erfahrene und gewiegte 
Politiker, der ſelbſt überall Vorſicht und 
Zurückhaltung in der Theorie predigt, mit 
einem Male eine ſolche Anwendung vom 
Transformismus und Darwinismus macht, 
eine ſo grundverkehrte Anwendung, daß ſie 
den eigentlichen Grundgedanken dieſer Lehren 
geradezu in's Geſicht ſchlägt? 

Ich ſelbſt bin nichts weniger als Poli— 


Literatur und Kritik. 


tiker. Mir fehlt dazu, im Gegenſatze zu 
Virchow, ebenſo das Talent und die Vor— 
bildung, wie die Neigung und der Beruf. 


Ich werde daher weder in Zukunft eine 


politiſche Rolle ſpielen, noch habe ich früher 
jemals einen Verſuch dazu gemacht. Wenn 
ich hier und da gelegentlich eine politiſche 


Aeußerung gethan oder eine politiſche Nutz— 


anwendung naturwiſſenſchaftlicher Theorien 
gegeben habe, ſo haben dieſe ſubjektiven 
Meinungen keinen objektiven Werth. Im 
Grunde genommen habe ich damit ebenſo 
das Gebiet meiner Competenz überſchritten, 
wie Virchow, wenn er ſich auf zoologi— 
ſche Fragen und namentlich auf den Trans— 
formismus der Affen einläßt. Ich bin in 
der politiſchen Praxis ebenſo Laie, wie Vir— 
chow im Gebiete der zoologiſchen Theorie. 
Uebrigens machen mich auch die Erfolge, 
welche Virchow während ſeiner zwanzig— 
jährigen mühſeligen, unerquicklichen und 
aufreibenden Thätigkeit als Politiker erzielt 
hat, wahrlich nach ſolchen Lorbeeren nicht 
lüſtern! 
Das aber darf ich als theoretischer 
Naturforſcher von den praktiſchen Politikern 
wohl verlangen, daß ſie bei politiſcher Ver— 
werthung unſerer Theorien ſich zuvor mit 
denſelben genau bekannt machen. Sie werden 
es dann in Zukunft wohl unterlaſſen, gerade 
das Gegentheil von demjenigen daraus zu 
ſchließen, was vernunftgemäß daraus er— 
ſchloſſen werden muß. Mißverſtändniſſe 
werden niemals dabei ganz ausbleiben: aber 
welche Lehre iſt denn überhaupt vor „Miß— 
verſtändniſſen“ ſicher? Und aus welcher 
geſunden und wahren Theorie können nicht 
die ungeſundeſten und wahnwitzigſten Fol— 
gerungen abgeleitet werden? 

Wie wenig Theorie und Praxis im 
Menſchenleben übereinſtimmen, wie wenig 
gerade die berufenen Vertreter herrſchender 


u 


Lehren ſich befleißigen, die natürlichen 
Folgen derſelben für das praktiſche Leben 
zu ziehen, das zeigt vielleicht Nichts ſo auf— 
fallend, als die Geſchichte des Chriſten— 
thums. Sicher enthält die chriſtliche Reli— 
gion, ebenſo wie die buddhiſtiſche, von allem 
dogmatiſchen Fabelkram entkleidet, einen 
vortrefflichen humanen Kern: und gerade 
jener humane, im beſten Sinne „ſocial— 
demokratiſche“ Theil der chriſtlichen 
Lehren, der die Gleichheit aller Menſchen 
vor Gott predigt, das „Liebe deinen Nächſten 
als dich ſelbſt“, überhaupt die „Liebe“ im 
edelſten Sinne, das Mitgefühl mit den 
Armen und Elenden u. ſ. w., gerade dieſe 
wahrhaft humanen Seiten der Chriſtenlehre 
ſind ſo naturgemäß, ſo edel, ſo rein, daß wir 
ſie unbedenklich auch in die Sittenlehre 
unſerer moniſtiſchen Naturreligion aufneh— 
men. Ja die „ſocialen Inſtincte“ 
der höhern Thiere, auf welche wir letztere 
gründen (3. B. das bewunderungswürdige 
Pflichtgefühl der Ameiſen u. ſ. w.), 
ſind in dieſem beſten Sinne geradezu 
„chriſtlich“! * 

Und was, fragen wir, was haben nun 
die berufenen Vertreter, ihre „gottgelehrten“ 
Prieſter aus dieſer „Religion der Liebe“ 
gemacht? Mit blutigen Lettern ſteht es 
ſeit 1800 Jahren in der Culturgeſchichte 
der Menſchheit eingeſchrieben! Alles was 
ſonſt noch verſchiedene Kirchen-Religionen 
für gewaltſame Ausbreitung ihrer Lehren und 
für Ausrottung der andersgläubigen Ketzer 
geleiſtet haben, Alles was die Juden gegen 
die Heiden, die römiſchen Kaiſer gegen die 
Chriſten, Muhamedaner gegen Chriſten- und 
Judenthum verbrochen haben, Alles das 
wird übertroffen durch die Hekatomben von 
Menſchen-Opfern, welche das Chriſtenthum 
für die Verbreitung ſeiner Lehre gefor— 
dert hat! Und zwar Chriſten gegen Chriſten! 


Literatur und Kritik. 


545 


Rechtgläubige Chriſten gegen nichtrechtgläu— 


bige Chriſten! Man denke nur an die 
Inquiſition im Mittelalter, an die 
unerhörten und unmenſchlichen Grauſamkei— 
ten, welche die „allerchriſtlichſten Kö— 
nige“ in Spanien, ihre werthen Collegen 
in Frankreich, in Italien u. ſ. w. begingen. 
Hunderttauſende ſtarben damals den grau— 
ſamſten Flammentod, blos weil ſie ihre 
Vernunft nicht unter das Joch des kraſſeſten 
Aberglaubens beugten, und weil ihre pflicht— 
treue Ueberzeugung ihnen verbot, die klar 
erkannte natürliche Wahrheit zu verleug— 
nen! Keine ſcheußliche, niederträchtige und 
unmenſchliche Handlung giebt es, die damals 
und bis heute nicht im Namen und auf 
Rechnung des „wahren Chriſtenthums“ be— 
gangen wurde! 

Und wie ſteht es vollends mit der 
Moral der Prieſter, die ſich als 
Diener von Gottes Wort ausgeben und 
die doch zunächſt die Pflicht Hätten, in ihren 
eigenen Leben die Heilslehren des Chriften- 
thums zu bethätigen? Die lange, ununter— 
brochene und grauenvolle Kette von Ver— 
brechen aller Art, welche die Geſchichte der 
römiſchen Päpſte bezeichnen, giebt darauf die 
beſte Antwort. Und wie dieſe „Stellver— 
treter Gottes auf Erden“, ſo haben anch 
ihre untergeordneten Helfer und Helfershelfer, 
ſo haben auch die „rechtgläubigen“ Prieſter 
anderer Confeſſionen nicht ermangelt, die 
Praxis ihres eigenen Lebenswandels in 
möglichſt ſchroffen Contraſt zu den edlen 
Lehren der chriſtlichen Liebe zu ſetzen, die 
ſie beſtändig im Munde führen! 

Wie mit dem Chriſtenthum, ſo geht's 
aber auch mit allen andern Religionslehren 
und Sittenlehren, ſo geht es mit allen 
Lehren, die in dem weiten Gebiete der prak— 
tiſchen Philoſophie, in der Erziehung der 
Jugend, in der Bildung des Volkes ihre 


546 


Kraft bewähren ſollen. Der theoretiſche Kern 
dieſer Lehren kann ſtets und überall, der 
widerſpruchsvollen Natur des Menſchen 
entſprechend, mit feiner praktiſchen Ausbeu— 


geht das alles aber den wiſſenſchaftlichen 
Forſcher an? Dieſer hat einzig und allein 
die Aufgabe, nach Wahrheit zu forſchen, 
und das, was er als Wahrheit erkannt hat, 
zu lehren, unbekümmert darum, welche 
Folgerungen etwa die verſchiedenen Parteien 
in Staat und Kirche daraus ziehen mögen!“ 
Dr. Arnold Dodel-Port und Ca— 
rolina Dodel-Port, Anatomiſch— 
phyſiologiſcher Atlas der Bo— 
tanik für Hoch⸗ und Mittel⸗ 
ſchulen. In 42 colorirten Wandtafeln 
nebſt Text in deutſcher, franzöſiſcher und 
engliſcher Sprache, ſowie 18 Supplement— 
Blättern für den akademiſchen Unterricht. 
Erſcheint in 10 Lieferungen von je 

6 Tafeln und deren Beſchreibung. Größe 
der einzelnen Tafeln 69: 90 Centimtr. 

Preis der Lieferung 15 Mark. 

Wer jemals bei ſeinem botaniſchen Un— 
terrichte die prächtigen Kny'ſchen Wand— 
tafeln gebraucht hat, wird gewiß den leb— 
haften Wunſch empfunden haben, es möchten 
ihm derartige Tafeln recht bald in hinläng— 
lich reicher Auswahl zur Verfügung ſtehen. 
Dieſer Wunſch würde aber ohne Zweifel 


Literatur und Kritik. 


noch lange Jahre hindurch ein ſogenannter 
frommer bleiben müſſen, wenn die Herſtell— 
ung einer einzigen, wenn auch der fleißig— 


| ſten und tüchtigſten, Arbeitskraft aufgebürdet 
. pin arellſtem Wiederſpruch ſtehen. Was 


bließe. Wir werden deshalb jeden neuen 
and ſch-phyſiologiſchen Atlas der Botanik 
wil men heißen, wenn er für den Unter- 
richt wichtige Gegenſtände, welche in den 
bereits vorhandenen Atlanten noch nicht 
enthalten ſind, richtig und einem größeren 
Publikum deutlich erkennbar darſtellt. 

Den Dodel-Port'ſchen Atlas, von 
welchem die erſten ſechs Blätter jetzt vorliegen, 
begrüßen wir um ſo mehr mit Freude und 
Dank, als dieſe Blätter nicht nur den ge— 
nannten Anforderungen genügen, ſondern 
auch durch Gruppirung und künſtleriſche 
Vollendung den vortheilhafteſten Eindruck 
machen. Die Abbildungen des Blattes 
unſerer inſektenfreſſenden Drosera rotundi- 
folia und der von Xylocopa violacea be⸗ 


ſuchten Blume von Salvia Sclarea ſind . . 


wahre Meiſterwerke, welche die Befähigung 
der Herausgeber für derartige Darjtellun- 
gen in das glänzendſte Licht ſtellen. Auch 
die Copien fremder Abbildungen, wie z. B. 
der geſchlechtlichen Fortpflanzung von Volvox, 
nach Cohn, ſind in Correktheit und co— 
loriſtiſcher Ausführung vortrefflich. Der 


mit Literaturnachweiſen verſehene erläuternde 
Text läßt nichts zu wünſchen übrig. 
Lippſtadt. 


Hermann Müller. 


Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 


N 
4 
I 


EN 
Wo 


N W N . 


. 2 * 1 


5 „ * 


N * 


nn 


3 9088 00876 3823