Full text of "Kosmos"
61
Fi
7.870
j 1 !
0 0
Nd
KA
7
12 5 8
ver rat
799
Kar
* * * en 4 M N 0 5 72 fi EN
it eh 12 7 - a lee
1235
26588144 Au er
I
5
HG
N
165
Kosmos.
Zeilſchrift
für
einheitliche Föleltanſchauung nuf Grund der Entwicklungslehre |
in Verbindung
mit
Ehurles Darwin und Ernst Haeckel
ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Darwinismus
herausgegeben
von
Prof. Dr. Otto Caspari Prof. Dr. Gufav Jäger
(Heidelberg) (Stuttgart)
Dr. Eruſt Krauſe
(Carus Sterne)
* (Berlin).
II. Jahrgang. III. Band.
April bis September 1878.
4
JJ 7
Ernſt Günther's Verlag
(Karl Alberts).
1 pr * 5 W u 9 1 00
2 e lieh 1 1
| Er * l syn. La .
Ren eee r N
9 1
. % | Re rl | Au e
a Rau, RN ee ERST a) he * Be 2 Bi;
en 8 g
N \
7 l .
7
u A W dee A e
120
W
*
Derzeihniß der Mitarbeiter
am dritten Bande des Kosmos.
Fr. v. Bärenbach (374—377), O. Beccari (38 —48), B. Carneri (467
— 475), Prof. Dr. O. Caspari (367 —374), Prof. Dr. J. Delboeuf (500
— 515), Baron N. Dellingshauſen (297-306), Dr. A. Dodel-Port
(189-196), Dr. W. O. Focke (171—176), Prof. Dr. S. Günther (289
294), Prof. Dr. E. Haeckel (10 —21, 105—127, 215 — 227), Dr. E.
Krauſe (68-81, 516 530), Dr. H. Kühne (307 313), Dr. A. Lang
(258— 260), Al. Maurer (427-433), Dr. Fritz Müller (84 —85, 178—179,
228 — 231), Dr. H. Müller (314—337, 403-426, 476 - 499), Dr. C.
Mehlis (363—364, 452 462), Dr. Frh. C. du Prel (1-9, 383 395),
Prof. Dr. W. Preyer (22-37, 128-132), Rud. Redtenbacher (201 —214)
W. v. Reichenau (133 — 147), Dr. G. Seidlitz (268 — 280), Herbert
Spencer (49— 67, 148 - 167, 232 — 243, 338—351), Dr. H. Vaihinger
(92—98, 262 268, 365367), J. E. Zilleken (253 258).
—— . —
. 1 8 A
ee A h 4
il IF Ic * * e 6 „ 5 15
= n * 1 3 3
ere 2
. De NEN 5 ital Reh 5 * 7 u,
r u A vi BR 1 1
1 8 ER Ad, mi ** 4 . 9 * rt
ee i # j
1 Da RN
ln: g 1. d Ehe 1 * U ne
eee e I N
e | nk wire 9 Bin 70 j 1 A
N. Int ra . N Kl:
in): Al )
|
|
Inhalt des dritten Bandes.
Seite
Das Leben im Kosmos. Von C. du Brel. i 1
Das Protiſtenreich. Mit Illuſtr. Von E. Haeckel. . 10. 105. 215
Sur PBhnologie Neugeborener. Von W. Preger 22. 128
Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. Mit Illuſtrationen. Von
O. Beccari PF ᷣ . | 13470 Mrale,
Die Herrſchaft des Ceremoniells. IV. V. VI. VII. e Von Herbert
Sener „
Die Ablöſung der . Von E. Kra Ri 3
Das Thierreich vom Geſichtspunkt der Anpaſſungs— Yes, 7 W. 5.
Reichenau. ’ 133
Zur Experimental -Aeſthetik. Von Rud. Renten i 201
Die Königinnen der Meliponen. Von Fritz Müller 228
Prof. Th. Schwedoff's neue Hypotheſe über den Urſprung der N
Von N. v. Dellingshaufen. 295
Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der en ar Von 1 Kühne 307
Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. I. II. III. Mit Illuſtr. Von
r CCC
Die Planetenbewohner. Von C. au e 383
Harvey über die Erzeugung der Thiere. Von W. . 396
Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. Von Al. Maurer 427
Ziel und Zweck. Von B. Carneri . 467
Der Daltonismus. Von J. Delboeuf . . 500
Ueber den Gebrauch der Pfeilgifte im vorgeſchichtlichen 5 0 Von E. e 516
VI Inhalt.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Seite
Die Fortſchritte der ſynthetiſchen Mineralogie und die e Darſtellung ver—
ſchiedener Edelſteine .. ; „„ 12157 282
Wo hat der Moſchusduft der Se 5 Sig ? Von Fritz Müller 84
Cocon⸗Mimiery? Mit, Iunſũitet rt.
Dr. Pizarro's Batrachichthys, Mit Jluſieieirt,.
Die jog. pſeudo⸗elektriſchen Organe der . „ „ ee
Der Mars und feine Monde .. E „%
Die geſchlechtliche Zuchtwahl im lungen, Von W. eff,
Die Vorkeime von Gymnogramme leptophylla Des 176
In Blumen gefangene Schwärmer. Von Fritz Müller. . 178
Dis Ackerbau treibenden Ameiſen in Teras
Dos Eibrponalkleid der ß ner
ns und Talmnd ey
Land und Leute „ e ß
Blumen der Luft .. i en
Das Relief der Gebirgeſtöcke Em die Gehabe 15 Eroſtonsthäler 3
Suporta’s Unterſuchungen über die ſog. NöggerathieAansns .. . 247
Ueber den Einfluß des Auftretens höherer Lebensformen auf den Bau der älteren
Krokodil-Arten . 252
Profeſſor Mante gazza's Neogeneſis 0 feine Anſichten über ie eic leer
Formunterſchiede der Thiere. Von J. E. Zilleken .. 253
De Maillet's Phantaſien über die 1 der Arten. Von Arn. ig 258
Das Wiederaufleuchten der Sterne
Die Parthenogeneſis im Pflanzen reich. .. 355
Die Kometenform der Seeſterne und der Geert er ch deen
Mit Illuſtrationen .
Raub⸗Raupen e
Neuere vorgeſchichtliche eee Von C. Mehlis
Ein neuer Mondkrater
Metamorphismus der Geſteine aus wehen Urſachen
Interfamiliäre Variation :
Das Leibpferd Cäſar's und die Oe a Pferde
Ueber das Vorkommen und die Bedeutung überzähliger Brüſte und Ban
beim Menſchen .
Die Furcht der Affen vor den stage 3
Der Planet Vulkan
Die Kataplexie und der chieriſche Hypnstismuts
Die Statiſtik der Farbenblindheit
— — —
Inhalt. VII
Literatur und Kritik. 5
Seite
(Kapp's) Philoſophie der Technik. (Von H. Vaihinger) 92
(Siciliani), Ueber die zoolog. Philoſophie des 19. Jahrhunderts... 98
Günther, Dr. S., Studien zur Geſchichte der et und phyſikaliſchen
Geographie .. „„ 0
Nägeli, C., Ueber die e 15 Spalpilz ex. (Von A. Dodel-Port) 189
Pivany, J. A., Entwicklungsgeſchichte der Welt und des Erdgebäudes .. 196
Jordan, W., Andachten. . r
Qu'est ce que la matiere? (Von H. 8):
Huber, Joh., Die Forſchung nach der Materie. .. 262
Hartmann, E. v., Das Unbewußte vom Standpunkt der onen hub
ne (Bon G Seidl . 268
Zwei neue Schriften über Göthe's Verhältniß zur Evolutions— ne
Cattie, J. Th., Göthe ein Gegner der Descendenz Theorie.
„Kaliſcher, S., Göthe's Verhältniß zur Naturwiſſenſchaft. .. 280
Dellingshauſen, N., Grundzüge einer Vibrationstheorie der Natur.
— —;, Beitäge zur mechaniſchen Wärmetheorie.
— , Die rationellen Formen der Chemie auf Grundlage der mechaniſchen
Wärmetheorie. (Von S. Günther. . . . e
Kramer, P., Theorie und Erfahrung. (Von S. Gunther) „„
Spencer, H., Die Prinzipien der Sociologie. lll. 294
die Spfer der Wiſſenſco fl. 2296
Der Darwinismus und die Ethik. (Von H. V.): ?
Carneri, B., Der Menſch als Eelbftzwed . . » » . 2... 865
ue mann s in Sicht len 7367
Harms, Fr., Die Philoſophie ſeit Kant. (Von Fr. v. Bärenbach.) . . 374
dei Koarbenfint. nnn ea a
Knauer, Fr. K., Naturgeſchichte der Lurche. .. 1
Deutſches Archiv für Geſchichte der Medizin und in Soap RR
Abnahme des Bienenfleißes in Auſtralien .. u
Schmick, J. G., Sonne und Mond als Bildner 95 Erdſchalle. .
Pöſche, iir... ae: E
Schliemann, H., Mykenä. (Von C. Mehli 80 „
Müller, Cophus Die nordic! oer 4562
Darwin! s, Ch. Geſammelte Werfk ee lei 539
Descend enz-Theorie und Socialdemokratie .. 540
Dodel-Port, A. und C., Anatomiſch— lege Atlas 15 Botanik für
Hoch⸗ und Mittelſchulen (von H. Müller)) 546
Offene Briefe und Antworten. 199. 466
* EN e 9 5
N 4 * 11 45 6 a PER 1
N 0 Fan 9519 DE U » Be
8 { | s re . A
ea e * no, 88
af h
Aut .
405 15 IR, 3 rs
a
a
n
ia „ In
„
n f | I DEREK, 62
"u 2 W N
oo a
i e Ne re ene *
b Er * 7539 | * j 28 7 Pe u a 41 nr 2
14. 4 2 3 1 e 1 * 1 “ 2 \ 79 * 4 * . * h * . w u 9
en 8 . N 0 1 3 e *
. Rn AR + * l * 4 ai ra 8 # 1 Fi 1
x 1 9 * * I 1 "A 7 * 5 Ne * N a N. ar * ie we A 2 * 7
DET 2 N nA ar
N 5 an * 16 N , N ' 4% nr 10 Ik: 11 4 x Me 1 N N Br v
gt 1 Vi 7 * 1 "91 1 n a WA . fi
ware ä P Br a 2
” 5 * 5
2 A e *
* T *
*
B
5 |
V aa *
1
* 1
1 .
A S
1 I STE
1 * 1 *
9 -
5 0 f 5 5 —
7 h *
* N Le 4 1
N
1 u 7 1
Pr A
. 9% b „ 0
1 50 1 N
* 5
31 — —
ar +
au *
0 N e 7
>
5 #
a 05 4 1
Ir *
4
ı ( 2
* =
4 + N
1
.
.
* a. #
a f
Das Leben im Kosmos.
Von
Carl du Prel.
Wahrheit, als paradox verlacht
zu werden, wenn ſie zum erſten
Male ausgeſprochen wird ; ſchließ—
lich aber als Gemeinplatz ver—
achtet zu werden, wenn ſich die Menge an
ſie gewöhnt hat. So wird es — es liegt
dies in der Natur der Sache — in alle
Ewigkeit bleiben, weil jede Wahrheit als
Meinung eines Einzelnen entſteht, und höch—
ſtens von der Minorität der Einſichtigen
bewillkommnet wird, während die öffentliche
Meinung ſie ablehnt; in dieſem Widerſtreit
aber erhält ſich die Wahrheit gleichwohl
vermöge ihres inneren Werthes und ihrer
größeren Uebereinſtimmung mit der Wirk—
lichkeit. Da es nun auf Erklärung dieſer
Wirklichkeit ankommt, ſo iſt die Wahrheit
viel concurrenzfähiger als der Irrthum,
muß alſo zum Durchbruche gelangen, und
kann nicht leicht wieder verloren gehen.
Iſt fie aber von der Majorität angenom-
men, dann hat ſie auch längſt ihren para—
doxen Anſchein verloren und gilt als von
ſelbſt verſtändlich, d. h. als Gemeinplatz.
Kosmos, Band III. Heft 1.
8 iſt das Schickſal einer jeden
So iſt es auch mit dem Gedanken der
Mehrheit bewohnter Welten, der, obwohl
Bruno für ihn den Feuertod ſtarb und
Campanella ſieben Mal die Tortur
erlitt, aus der Vorſtellung der Menſchheit
nicht mehr weicht, weil er im Grunde nur
die Kehrſeite jener anderen Wahrheit iſt,
welche die Erde für ein Geſtirn erklärt.
Wenn wir des Abends vom Jahrmarkte
des Lebens hinwegſchleichen und der Be—
trachtung des geſtirnten Himmels einige
Augenblicke widmen, dann iſt es nicht allein
die äſthetiſche Pracht dieſes Anblicks, die
uns anregt und jene Beruhigung über uns
ergießt, von der die Lyriker reden; auch
veligiöfe und, je nach der Perſönlichkeit,
philoſophiſche Empfindungen mengen ſich
hinein, und in dem metaphyſiſchen Dunkel,
von dem wir uns umwoben fühlen, ver-
halten wir uns nicht unähnlich den Kindern
im phyſiſchen Dunkel: Wie es dieſen zur
Beruhigung gereicht, nicht allein zu ſein, ſo
wird auch uns die Beängſtigung, die der
Anblick des großen Pan hervorruft, ge—
mildert, indem wir die zahlloſen Gefährten
der Erde erkennen. Wohl beſchwert uns
die Frage nach dem Zwecke und der Be—
deutung des Daſeins, aber es beruhigt uns
zu ſehen, daß gleich der Erde noch Tau—
ſende von Geſtirnen unbekannten Geſchicken
entgegenrollen. N
Dieſe Beruhigung könnte aber nicht
entſtehen, hätten wir nicht die dunkle Ahn—
ung, daß auch jene ungezählten Geſtirne
Welten ſeien, und würden wir nicht un—
willkürlich den Begriff des Bewohntſeins
damit verknüpfen. Freilich ſind wir dabei
in einem Irrthum befangen, und es bedarf
nur des Hinweiſes, daß alle Fixſterne Ge⸗
bilde gleich unſerer Sonne ſeien, um uns
vor übereilten Schlußfolgerungen zu be—
wahren. Wenn aber die Wiſſenſchaft in
dieſer Hinſicht unſerer Phantaſie allerdings
Zügel anlegt, ſo verneint ſie darum noch
keineswegs die Frage nach der Mehrheit
bewohnter Welten; ſie will vielmehr der be—
jahenden Antwort nur eine feſtere Begründ—
ung geben, als die in jener unklaren
Empfindung liegt, womit wir das Gewim—
mel der Sterne betrachten. Sie lehrt uns,
daß alle dieſe Sonnen um ihre Are ſich
drehen, daher gleich der unſrigen Begleiter
abtrennen müſſen, auf welchen in den man—
nigfaltigſten Formen das Leben ſich regen
mag.
Wenn aber die mittelalterliche Theologie
dieſem Gedanken abhold ſein mußte, ſo hat
ihn dagegen die moderne Teleologie will—
kommen geheißen als einen weiteren Beleg
für die Naturvollkommenheit, die doch ſehr
in Frage gekommen wäre, wenn dieſe Son—
nen keinen anderen Zweck hätten, als un—
ſere Nächte zu erhellen.
Eine unbefangene Prüfung der That—
ſachen wird uns aber zu der Erkenntniß
führen, daß, wenn wir auch berechtigt ſind,
das Phänomen des Lebens über den Kos—
du Prel, Das Leben im Kosmos.
mos auszudehnen, dieſem Gedanken doch
keine teleologiſche Tragweite zukommt. Um
ſo mehr dürfte aber eine Unterſuchung die—
ſes Problems angezeigt ſein, als hierin
eine Verſtändigung jedenfalls leichter zu
erzielen iſt, als wenn wir die Löſung
des teleologiſchen Problems innerhalb der
irdiſchen Erſcheinungen ſuchen; ja dieſer
letztere, ſchon allzulange währende Streit
wird hierdurch gewiſſermaßen überflüſſig
gemacht. f
Wenn der Teleologe aus dem Ueber—
wiegen der zweckmäßigen Erſcheinungen in
der Welt auf eine proportionirte intelli—
gente Urſache ſchließt, wenn er behauptet,
die Annahme ſei widerſinnig, daß die Bild—
ung der Welt weniger Vernunft zur Vor-
ausſetzung haben ſolle, als die Erkenntniß
und Erklärung eben dieſer Welt durch den
menſchlichen Intellekt, und wenn er ſich
verſperren ſollte gegen die Zulänglichkeit
der natürlichen Geſetze zu dieſer Erklärung,
und demgemäß den hyperphyſiſchen Urſprung
der Zweckmäßigkeit behauptet, — dann
können wir ihm, um raſcher auf den
eigentlichen Punkt des Streites zu kommen,
proviſoriſch alles dieſes zugeben, werden
ihm aber Folgendes zu bedenken geben:
Die zweckmäßige Einrichtung eines Gegen—
ſtandes beſagt nur ſeine Angemeſſenheit für
einen beſtimmten Zweck, ſagt aber durch—
aus noch nichts über dieſen Zweck ſelbſt
aus. Ein Inſtrument mag ſehr ſinnreich
ſein, ganz unabhängig von dem Gebrauche,
der davon gemacht wird; unſere Taktik iſt
ſehr zweckentſprechend, aber die Schlachten
entſprechen darum keineswegs unſerem mo—
raliſchen Ideale.
Zweckmäßige Erſcheinungen giebt es in
Hülle und Fülle, vom Mechanismus des
Planeten bis zum Rüſſel des honigſaugen—
den Inſektes; aber wenn die Teleologie
— T— —
du Prel, Das
nicht etwa nur eine Weltanſchauung für
den kalten Verſtand ſein will, dann hat
ſie noch Anderes zu erweiſen; wenn ſie
den Accent auf das ſchneidige Gebiß des
Haies legt, ſo wird eine Weltanſchauung
des Gemüthes ihn vielmehr auf die Em—
pfindung derjenigen Weſen legen, welche
die zweckmäßige Einrichtung dieſes Gebiſſes
an ſich erfahren.
Wir werden alſo den Teleologen an
ſeine Obliegenheit erinnern, nicht nur das
Mittel zu beurtheilen, ſondern auch die
Weisheit und Güte des Endzwecks zu be—
weiſen; wenigſtens werden wir uns nicht
für abgeſpeiſt erklären durch den Nachweis
der Angemeſſenheit eines Dinges für den
zunächſt liegenden Zweck, und werden
mindeſtens das verlangen, daß innerhalb
der Skala der Zwecke, welche auf den
Endzweck des Kosmos hinzielen, irgend
ein höheres Glied nachgewieſen und die
Angemeſſenheit der Mittel hierfür aufge—
zeigt werde.
Um nicht Widerſpruch hervorzurufen,
wird alsdann der Teleologe wohl auf die
Darſtellung des Endzweckes verzichten; er
wird aber aus logiſchen Gründen zugeſtehen
müſſen, daß in der langen Reihe der cau—
ſalen Veränderung ein jedes Glied in Be—
zug auf die vorhergegangenen Glieder als
Wirkung, in Bezug auf die nachfolgenden
als Urſache zu bezeichnen iſt, daß aber,
wenn wir einen Endzweck vorausſetzen,
jedes Glied in Anſehung der abgelaufenen
Reihen als Zweck, in Anſehung der fol—
genden als Mittel anzuſehen iſt, und daß
ſich in der Reihe der Endzweck wenigſtens
ſo weit offenbaren müſſe, daß kein mittleres
Glied in Bezug auf dieſen geradezu zweck—
widrig erſcheinen könne. Jede Stufe in
der Entwickelung der Natur muß eine An—
näherung an das Endziel in ſich enthalten,
J e Pr =
Leben im Kosmos. 3
und da in der Reihe der kosmologiſchen
Veränderungen die biologiſche Entſtehung
des Bewußtſeins und die Steigerung die—
ſes Bewußtſeins in der Geſchichte die letzte
und höchſte der uns bekannten Wirkungen,
alſo Mittel, darſtellt, ſo muß vom teleolo—
giſchen Geſichtspunkte aus der Nachweis
geführt werden können, daß die Erſchein—
ung des Lebens im Kosmos durch die vorauf—
gehenden Veränderungen allmälig vorbereitet
werde. Wir werden zwar dem Teleologen
den Nachweis erlaſſen, daß das Leben auf
den Endzweck hinziele, nicht aber den, daß
die Anordnung des Kosmos eine ſolche ſei,
durch welche die Entſtehung und Steiger—
ung des Bewußtſeins ſowohl zeitlich als
räumlich am beſten garantirt erſcheine.
Wir haben daher, wenn wir uns be—
hufs dieſer Unterſuchung an das uns zu—
nächſt liegende und beſtbekannte Sonnen-
ſyſtem wenden, daſſelbe vom Standpunkte
der Bewohnbarkeit kritiſch zu beurtheilen,
und es entſtehen folgende Fragen:
1. Wie viele Weltkörper unſeres Sonnen—
ſyſtems können als bewohnt oder
als in’ Zukunft bewohnbar angeſehen
werden?
2. Iſt die den einzelnen Geſtirnen zu—
gemeſſene biologiſche Zeitlänge eine
ſolche, daß wir daraus auf eine hohe,
erreichbare biologiſche Stufe ſchließen
dürfen?
Eine unbefangene Unterſuchung dieſer
Fragen wird nun gegen den Teleologen
ausfallen, indem es ſich nachweiſen läßt, daß
das Leben im Kosmos räumlich und zeitlich
viel zu ſehr beſchränkt iſt, als daß wir
die vorhergehende Entwickelung als eine
Vorbereitung zu dieſem Lebenszwecke an—
ſehen könnten.
Die Spektralanalyſe weiſt die Anweſen—
heit der irdiſchen Stoffe im Kosmos nach.
1
1
Somit kann uns der Umſtand, daß wir
ſpeciell von unſeren Planeten nur reflektir—
tes Licht erhalten, welches über ihre che—
miſche Zuſammenſetzung nichts ausſagt,
und daß uns höchſtens die Abſorptions—
ſtreifen ihres Spektrums einige Aufſchlüſſe
gewähren, nicht hindern, die ungefähre
qualitative Gleichartigkeit aller Planeten
anzunehmen und zu behaupten, daß alle
wenigſtens die Anlage zu bewohnbaren
Weltkörpern in ſich tragen, wie die Erde;
daß es ſich nur um die weitere Frage handeln
kann, ob die äußeren Umſtände der Art
ſind, dieſe Anlage zur Entwickelung zu
bringen; daß endlich auf allen das Leben
ſich nur einſtellen kann als das Reſultat
eines längeren Entwickelungsganges, analog
den irdiſchen Verhältniſſen.
Nach phyſikaliſchen, durch die Spektral—
analyſe als kosmiſch nachgewieſenen Ge—
ſetzen iſt ferner als die erſte Bedingung von
Veränderungen überhaupt die Sonnenwärme
anzuſehen; durch den reſpektiven Abſtand
der Planeten von der gemeinſchaftlichen
Wärmequelle wird daher auch die ihnen
zugemeſſene reſpektive Wärme, und damit
die Intenſität der eventuell vorhandenen
biologiſchen Proceſſe beſtimmt ſein.
Wenn wir nun die wirklichen Alters—
unterſchiede der Planeten vernachläſſigen —
da dieſelben, an der Zeitlänge ihrer Lebens—
dauer gemeſſen, wohl nicht in Betracht kom—
men, und ihre Dauerunterſchiede in Richt—
ung der Zukunft ungefähr als äquivalent
angenommen werden können — ſo ſind
die Planeten, nach ihren Sonnenabſtänden
geordnet, zugleich qualitativ in Hinſicht
auf ihre derzeitige oder künftige Lebens—
energie geordnet. Wir werden weit leb—
haftere Proceſſe bei den inneren Planeten
annehmen können, als bei den äußeren, von
welchen Jupiter 0,0372, Saturn 0,0111,
du Prel, Das Leben im Kosmos.
|
Uranus 0,0026, Neptun 0,0011 der
Sonnenwärme empfängt, welche die Erde
trifft.
Die organiſche Entwickelung eines Pla—
neten wird um ſo langſamer von Statten
gehen und um ſo ſpäter die Stufe denkender
und ſelbſtbewußter Weſen erreichen, je weiter
er von der Sonne abſteht, und da den
Planeten nur eine zeitlich begrenzte Exiſtenz
zugeſprochen werden kann, ſo wird das
Mißverhältniß zwiſchen ihren kosmiſchen und
ihren biologiſchen Zeitlängen ebenfalls um
ſo größer ſein, je entfernter ſie von der
Sonne kreiſen. Wenn aber ſchon die kos—
miſche Exiſtenz der Erde uns in unberechen—
bare Tiefen der Vergangenheit führt, wäh—
rend ſich die Anweſenheit des Menſchen auf
ihre jüngſten geologiſchen Schichten beſchränkt,
jo geſtaltet ſich das Verhältniß noch viel
ungünſtiger für die äußeren Planeten, die
doch vermöge ihrer Größe und ihrer An—
lage die Schauplätze viel ausgedehnterer
Lebensproceſſe ſein könnten. |
Wenden wir uns nun aber der Frage
zu, ob denn alle Planeten in das Stadium
der biologiſchen Proceſſe bereits eingetreten
ſind, ſo iſt auch dieſe zu verneinen. Nach
Analogie irdiſcher Verhältniſſe muß eine
regelmäßige Entwickelung abhängig gedacht
werden vom Stillſtande der geologiſchen
Umwälzungen und dem Eintritte einer feſten
Kruſtenbildung in Folge zunehmender Ab—
kühlung. Nun ſind aber die Zeitlängen,
innerhalb welcher ſich die Weltkörper ab—
kühlen, höchſt verſchieden, und hier fällt der
Vergleich abermals zu Ungunſten der großen,
äußeren Planeten aus; denn die Oberflächen
der Planeten — und dieſe ſind ja auch
die Abkühlungsflächen — ſtehen im Ver—
hältniſſe des Quadrats des Halbmeſſers,
während ihr Inhalt, alſo ihr Wärmevor—
rath, mit dem Cubus des Radius wächſt.
Wenn wir daher an der Erde einen Er—
ſtarrungsproceß bemerken, der nur erſt ihre
äußerſten Oberflächenſchichten erfaßt hat, ſo
ſcheint dagegen aus der Theorie zu folgen,
daß die großen Planeten vermöge ihres
ungleich gewaltigeren Umfanges noch lange
nicht in dieſes Entwickelungsſtadium getre—
ten ſind. Die Erfahrung aber beſtätigt
die theoretiſche Folgerung, und zahlreiche
Beobachtungen beweiſen, daß die großen
Planeten noch keineswegs jenes Abkühlungs—
ſtadium erreicht haben, welches ſie zu Wohn—
ſtätten denkender Weſen geeignet machen
könnte.
Wenn Jupiter vermöge ſeines Sonnen—
abſtandes nur 0,0372 der die Erde treffen—
den Sonnenwärme empfängt, ſo läßt ſich
daraus auf eine geringere Energie der me—
teorologiſchen Veränderungen um ſo mehr
ſchließen, als bei ihm vermöge der Stell—
ung ſeiner Axe die Jahreszeiten fehlen; die
äußerliche Beſtrahlung kann daher keine
ſtarke Entwickelung atmoſphäriſcher Dämpfe
nach ſich ziehen. Nun iſt aber thatſächlich
die Atmoſphäre Jupiters von Dämpfen in
viel höherem Grade geſättigt, als die At—
moſphäre der Erde, es kann alſo dieſe be—
deutende Dampfentwickelung nur auf der
Eigenwärme unſeres größten Planeten be—
ruhen. Es laſſen ſich in den oberſten
Wolkenhüllen Jupiters oft elliptiſche weiße
Flecken beobachten, welche unbeſtimmt be—
grenzte und veränderliche Schatten auf tiefer
liegende Schichten werfen, welche letzteren alſo
nicht dem feſten Kerne Jupiters angehören
können, ſondern ſelbſt wieder veränderliche
Wolkenſchichten ſein müſſen. Für die Höhe
der über einander gelagerten Wolkenſchichten
hat — wie erſt jüngſt (Kosmos, Band J.
S. 435) berichtet wurde — Proctor
ein Minimum von 6000 Meilen berechnet.
du Prel, Das Leben im Kosmos.
5
liche Veränderlichkeit in der Zeichnung und
Färbung dieſer Schichten, wofür ebenfalls
die äußerliche Sonnenwärme keine hinläng—
liche Urſache ſein kann. Endlich ſind noch
die Bewegungserſcheinungen in den äqua—
torealen Streifen des Jupiter zu erwähnen;
da dieſe Streifen weder mit dem Fort—
ſchreiten des Tages noch des Jupiterjahres
ſich bewegen und verändern, demnach keinen—
falls auf die Sonne bezogen werden kön—
nen, ſo müſſen ſie durch die intenſive Hitze
des Jupiterkerns erzeugt werden, daher denn
auch Proctor auf das Auf- und Nieder-
wogen erhitzter Dampfmaſſen ſchließt.
Nach Vogel's „Unterſuchungen über
die Spektra der Planeten“ charakteriſirt ſich
das Spektrum der dunklen Streifen Jupi—
ters hauptſächlich durch die ſehr ſtarke und
gleichmäßige Abſorption, welche die blauen
und violetten Strahlen erleiden. Zwar
treten keine neuen Abſorptionsſtreifen auf,
aber die vorhandenen werden verbreitert
und verſtärkt, als ſchlagender Beweis dafür,
daß die dunklen Theile auf dem Jupiter
tiefer gelegen ſind. Das Sonnenlicht muß
alſo hier einen längeren Weg durch die
Atmoſphäre zurücklegen und erleidet hier—
durch eine ſtarke Veränderung. Merkwür⸗
dig iſt auch eine ſehr dunkle Bande, die
ſich im rothen Theile des Jupiterſpektrums
zeigt, und welche ſich auch in den Spektren
der rothen Fixſterne, z. B. c Orionis und
% Herculis, findet, alſo bei jenen Sternen,
welche im Verlaufe der Abkühlung bereits
das Stadium der Rothgluth erreicht haben.
Alle dieſe Erſcheinungen ſcheinen darauf
hinzudeuten, daß der Kern Jupiters noch
im feurig⸗-flüſſigen Zuſtande ſich befindet,
wenigſtens noch nicht ganz mit Schlacken
überzogen, und daher von einer hohen und
ſchweren Atmoſphäre umgeben iſt.
Hierzu kommt aber noch die außerordent— Saturn, obwohl kleiner als Jupiter,
6
beſitzt doch einen äquatorealen Durchmeſſer,
der den der Erde etwa um das Zehnfache
übertrifft. Auch hier darf ein Theil des—
ſelben auf die Atmoſphäre bezogen werden,
welche ebenfalls dichte Wolkenanſammlungen
trägt. So wenig, als bei Jupiter, iſt bei
Saturn an die Verdampfung von Flüſſig—
keiten durch die Sonnenwärme zu denken;
denn bei ſeinem Sonnenabſtande könnte
Waſſer nur in Geſtalt von Eis vorhanden
ſein. Wie es die Theorie erfordert, ſind
die Veränderungen in der Atmoſphäre die—
ſes Planeten geringer, als bei Jupiter; daß
ſie gleichwohl viel intenſiver ſind, als bei
der Erde, und daß wir die eigentliche Ober—
fläche des Saturn nicht ſehen, geht aus
verſchiedenen Beobachtungen hervor: Her—
ſchel machte zu Anfang dieſes Jahrhun—
derts die Wahrnehmung, — welche von
Schröter, Airy, Schiaparelli und
Anderen beſtätigt wurde, — daß damals
der längſte Durchmeſſer dieſes Planeten
nicht der äquatoreale war, ſondern mit die—
ſem einen Winkel von 45“ bildete, jo daß
Saturn das Anſehen eines Rechtecks ge—
wann. Da dieſe Veränderung ſich nicht
auf Sonnenwärme zurückführen läßt, fo
muß ſie auf gewaltige Kräfte bezogen wer—
den, die von der Oberfläche Saturns aus—
gingen.
Auch die von Struve beobachtete Ver—
breiterung des Saturnringes in der Richt—
ung gegen den Planeten, ſcheint keine andere
Erklärung zuzulaſſen, als eine ſeit der
Entdeckung der Ringe eingetretene Abkühl—
ung der Oberfläche Saturns, welche den
höheren atmoſphäriſchen Dämpfen geſtattete,
ſich zu condenſiren und an den inneren
Rand des Ringes anzuſetzen.
Endlich zeigt auch Saturn die ſehr
intenſive Bande im rothen Theile ſeines
Spektrums, wie Jupiter.
du Prel, Das Leben im Kosmos.
+
|
Bei Uranus hat die Spektralanalyſe
eine Atmoſphäre nachgewieſen, welche der—
jenigen des Jupiter und Saturn mehr
gleicht, als der irdiſchen, und Gaſe enthält,
welche in unſerer Atmoſphäre fehlen. Da
auch hier an eine Verdampfung von Flüſſig—
keiten in der Sonnenwärme nicht zu denken
iſt, ſo muß die Beſchaffenheit des Planeten
ſelbſt die Erſcheinung erklären, der bei einem
etwa vier Mal größeren Durchmeſſer, als
der der Erde, ſich viel langſamer, als dieſe,
abkühlen muß.
Die gleiche Erklärung fordert endlich
die Atmoſphäre Neptuns, die ſich mit der
des Uranus faſt identiſch zeigt.
Es folgt nun daraus, daß die äußeren
Planeten nicht nur ungleich ſpäter in die
organiſche Entwickelungsſtufe eintreten wer—
den, ſondern auch, daß alsdann dieſe Pe—
riode ungleich kürzer ſein wird, als bei
der Erde, da ſie nur beſtimmt ſein kann
durch die auf ihren Erſtarrungskruſten noch
fühlbare Eigenwärme. Da die äußere
Sonnenwärme für dieſe Planeten kaum
in Betracht kommt, ſo werden ſie auch als
Wohnſtätten nicht mehr gelten können,
wenn ſie die unſerer Steinkohlenperiode
entſprechende Entwickelungsphaſe zurückge—
legt haben werden. Denn ſollte ſelbſt der
ihnen derzeit zugemeſſene Antheil von Sonnen—
wärme genügen, den biologiſchen Proceß,
wenn auch in ſehr trägem Gange, über
dieſe Periode hinaus zu verlängern, ſo
wird ihnen doch dieſer Antheil nicht einmal
unverkürzt zukommen. Es werden wohl
noch Jahrmillionen vergehen, bis auf dieſen
Planeten das organiſche Leben beginnen
könnte; inzwiſchen wird aber auch die
Sonne, deren Flecken die Bildung ihrer
Erſtarrungkruſte bereits andeuten, eine weitere
Abkühlung erfahren, ja vielleicht aufgehört
haben, Wärme und Licht in erforderlichem
du Prel, Das Leben im Kosmos. 7 |
Grade zu ſpenden. Die kosmiſche Materie
erſcheint ſomit in Anſehung des Lebens
ſchlecht verwerthet in der Bildung großer
Planetenmaſſen, da dieſelben relativ gerin—
gere Oberflächen haben und viel längerer
Abkühlungszeiten bedürfen, um ſich mit
einer Kruſte zu überziehen. Es würde
daher ſowohl der Schauplatz als die Dauer
des Lebens ausgedehnt worden ſein, wenn
ſtatt weniger großer Planeten ſehr viel kleine
gebildet worden wären.
So ergiebt ſich denn, daß das Leben
in unſerem Planetenſyſteme zeitlich und
räumlich in hohem Grade beſchränkt iſt.
Abgeſehen von dem koloſſalen Mißverhält—
niſſe zwiſchen den kosmiſchen und biologiſchen
Zeitlängen ſehen wir, daß die kleinen Monde,
weil längſt erſtarrt, nur mehr in ihren
geologiſchen Schichten die verſteinerten Ske—
lette ihrer früheren Bewohner einſchließen;
daß die größeren Monde?) vielleicht jetzt
noch einen trägen und jedenfalls nicht mehr
lange währenden Lebensproceß unterhalten,
daß aber die bedeutendſten Körper unſeres
Syſtems in jeder Hinſicht weit zurückſtehen
hinter den inneren Planeten: Merkur,
Venus, Erde und Mars, bei welchen allein
die Bedingungen für einen längeren und
energiſchen biologiſchen Entwickelungsgang
gegeben ſind. Das Kreiſen todter Welt—
körper um einen Sonnenball, der nur kurze
Zeit hindurch das Leben auf einigen ſeiner
Begleiter zur Blüthe zu bringen vermag,
aber auch ſelbſt nur kurze Zeit Organis-
men tragen wird, deren Leben in ewiger
Nacht verfließt: — dies iſt der Hauptbe—
* Titan im Saturnſyſtem hat einen
Durchmeſſer von 6400 Kilometer, iſt demnach
größer, als Merkur und Mars: Ganymed,
der dritte Jupitermond, hat bei einem Durch—
meſſer von 5800 Kilometer mehr als das dop—
pelte Volumen Merkurs und erreicht etwa /;
der Marsgröße.
ſtandtheil der Geſchichte unſeres Sonnen—
ſyſtems.
Wir haben noch diejenigen Weltkörper
zu unterſuchen, welche, in weitaus über—
wiegender Mehrzahl gegeben, auf langge—
ſtreckten elliptiſchen Bahnen die Sonne in
ihrem Laufe begleiten: Kometen und Meteo—
riten. Denn können dieſelben auch nicht
als bewohnt angeſehen werden, jo find fie
doch erkannt als Bruchſtücke ehemaliger plane—
tariſcher Körper, — ſogar organiſche Sub—
ſtanzen ſind in den Meteoriten nachgewieſen
worden, — um deren ehemalige Bewohn—
barkeit es ſich alſo handelt. Bedenken wir
aber die intenſive Kälte des Raumes, in
dem ſie ſchweben, ſo verbleibt auch für ihre
Bewohnbarkeit nur jene kurze Zeitſpanne,
während welcher ihre Eigenwärme einen
organiſchen Proceß unterhalten konnte. Ja
nicht einmal dieſes dürfen wir ihnen ganz
zugeſtehen: Es kann nämlich weder die Ge—
ſtalt, noch die Funktionsweiſe von Orga—
nismen für irgend einen Stern willkühr—
lich vorgeſtellt werden, und müſſen dieſe
überall in ihrer Beſonderheit als bedingt
gedacht werden durch die gegebenen äußeren
Exiſtenzverhältniſſe. Es kann nur ange—
paßte Organismen geben, oder ſie müſſen
ganz fehlen; das Leben muß überall aus
inneren Funktionen beſtehen, welche den
äußeren Relationen angepaßt find, Dem—
nach erſcheint als die vornehmſte Bedingung
eines regelmäßigen biologiſchen Entwickel—
ungsganges eine gewiſſe Conſtanz der äuße—
ren Verhältniſſe, durch deren plötzliche
Umwandlung die Anpaſſung der inneren
Funktionen aufgehoben, d. h. das Leben
gefährdet würde. Zwar paſſen ſich die
Organismen auch veränderlichen Exiſtenz—
verhältniffen an, aber dieſes im Ver-
laufe von Generationen wirkende Vermögen
vermag nur bei langſamen Veränderungen
8 du Prel, Das Leben im Kosmos.
Schritt zu halten. Es iſt daher nicht
denkbar, daß Organismen irgend welcher
Art ſo beträchtliche Umwälzungen überleben
könnten, wie ſie für Weltkörper perioden—
weiſe eintreten, die in langgeſtreckten Bah—
nen wandeln; ohne Zweifel müſſen die
biologiſchen Proceſſe immer wieder abge—
ſchnitten werden und eine allgemeine Ver—
tilgung der Organismen periodenweiſe ein—
treten für Weltkörper, welche nach langer
Wanderung im kalten Raume ins Perihel
zurückkehren und dabei Temperaturdifferen—
zen erfahren, die, je nach ihrem Sonnenab—
ſtande im Perihel, ſich nach Tauſenden von
Graden bemeſſen.
Demnach ſtellt ſich die Beſchränkung
des kosmiſchen Lebens für unſer Syſtem
ſo dar, daß von den unzählbaren Begleitern
der Sonne nur die vier kleinen Planeten
als Träger des Lebens ernſtlich in Betracht
kommen können, — ein Verhältniß, das
ſich analog auf alle anderen Sonnen über—
tragen läßt. Zeitlich dagegen bekundet ſich
dieſe Beſchränkung durch das für alle Welt—
körper geltende große Mißverhältniß zwi—
ſchen den kosmiſchen und biologiſchen Zeit—
längen. Die Begleiter der Sonne werden
dieſe nämlich jo lange umkreiſen, bis unter
fortgeſetzter Verengung ihrer Bahnen ihre
Tangentialgeſchwindigkeit durch den Wider—
ſtand des Aethers, in dem ſie ſich bewegen,
aufgezehrt ſein und der ſenkrechte Sturz
gegen die Sonne eintreten wird. Die An—
zahl der hierzu nöthigen Umläufe entzieht
ſich jeder Berechnung; daß aber in der
That die Planeten ihre urſprüngliche Ent—
fernung nicht eingehalten haben, ſondern
im Verlaufe der Jahrmillionen der Sonne
ſchon näher gerückt ſind, das hat erſt jüngſt
Llei n (Kosmologiſche Briefe, S. 292) durch
eine intereſſante Tabelle nachgewieſen, worin
er die urſprünglichen, abgeleiteten Entfern—
ungen mit den derzeitigen mittleren Ent—
fernungen vergleicht. Das Gleiche gilt
aber von der Sonne ſelbſt in Anſehung
der Centralgruppe, um welche ſie kreiſt;
auch ihre Tangentialgeſchwindigkeit wird
einſt ermatten.
Es iſt nun aber die Umlaufszeit der
Sonne um die Gruppe der Plejaden auf
22½ Millionen Jahre berechnet worden,
während andererſeits Helmholtz nachge—
wieſen hat, daß die Sonne durch ihre bis—
herige Verdichtung eine Wärme entwickelte,
welche ihre gegenwärtige Ausgabe auf 22
Millionen Jahre der Vergangenheit decken
konnte, daß dagegen die künftige Verdicht—
ung (bis zur Dichtigkeit der Erde) noch
auf weitere 17 Millionen Jahre die In—
tenfitat der Wärme unterhalten könnte,
worauf derzeit die organiſchen Veränder—
ungen beruhen.
Unter dieſen Umſtänden erſcheint die Au—
nahme faſt gewagt, daß die durchſchnitt—
liche Dauer des ganzen Lebensproceſſes im
Sonnenſyſteme jener langen Verdichtungs—
zeit gleichkomme, — da ja die Planeten
erſt im Laufe derſelben ſucceſſive vom
Mutterkörper ſich abtrennten, — und doch
würde dieſe Lebensdauer kaum zwei Umläufe
der Sonne um die Plejaden ausfüllen,
während die Geſammtzähl dieſer Umläufe
auch nicht annähernd zu beſtimmen iſt!
Es iſt nun aber weiter noch zu be—
denken, daß unſere Sonne dem Mittelpunkte
des Milchſtraßenſyſtems, nämlich der Ple—
jadengruppe, relativ ſehr nahe ſteht —
nach Mädler beträgt die Lichtzeit der
Alcyone in den Plejaden 715 Jahre, die
der entfernteſten Punkte dieſes Syſtems
5521 Jahre, — daß dagegen allen außer—
halb der Sonnenbahn kreiſenden Fixſternen
nach Maßgabe ihrer Entfernung eine längere
Exiſtenz zugeſchrieben werden muß, weil
| du Prel, Das Leben im Kosmos.
|
eine zunehmende Dichtigkeit des Aethers
von den äußerſten Grenzen des Milchſtra—
ßenſyſtems gegen feinen Mittelpunkt anzu⸗
nehmen iſt. Wenn wir nun die Sonnen
als ungefähr gleich groß annehmen, ſo wäre
auch die durch ihre Leuchtkraft vermittelte
biologiſche Zeitlänge für alle Begleiter der—
ſelben die gleiche, und daraus würde ſich
ergeben, daß die Leuchtperiode der Fixſterne
— dieſer Culminationspunkt ihrer Ent⸗
wickelung in Anſehung des kosmiſchen Lebens
— bei der überwiegenden Mehrzahl dieſer
Geſtirne kaum ſo lange anhält, bis ſie nur
einen Bruchtheil ihrer Bahnlängen während
eines Umlaufs durchwandern, daß ſie da—
gegen während unberechenbarer Zeiten ihren
dynamiſchen Mittelpunkt als kosmiſche Leichen
umkreiſen. f
Faſſen wir das Ergebniß zuſammen.
Der Teleologe muß unter der Vorausſetzung
einer in der Weltordnung ſich kundgebenden
Abſicht logiſcher Weiſe annehmen, daß die
höchſte der uns bekannten Stufen kosmiſcher
Entwickelung, das Phänomen des Lebens,
eine Förderung der Endabſicht enthalte; er
muß aber auch in dieſer Erſcheinung des
Kosmos, Band III. Heft 1.
92 80
Lebens, da ſie auf Erden thatſächlich gege—
ben iſt, das Minimum deſſen anerkennen,
was überhaupt ein Planet leiſten ſoll.
Keine noch ſo große mechaniſche Zweck—
mäßigkeit eines Sonnenſyſtems und keine
noch fo große Anpaſſung feiner Organis⸗
men könnte ihn abhalten, ein ſolches Syſtem
(oder einzelne Beſtandtheile deſſelben) für
eine verfehlte Schöpfung zu erklären, wenn
nicht wenigſtens die irdiſche Entwickelungs—
höhe darin erreicht wird.
Es liegt darum dem Teleologen noch die
weitere Verpflichtung ob, nachzuweiſen, daß
der Kosmos auf die Vernunft angelegt ſei,
daß die ganze Anordnung der Syſteme und
die einleitenden Entwickelungsſtufen ihrer
Geſtirne auf das Lebensphänomen offenbar
hinzielen.
Es hat ſich aber gezeigt, daß dieſes
nicht der Fall iſt, da nur ein Theil unſe—
rer Planeten ſich zu Wohnſtätten denkender
Weſen entwickeln kann und kaum ein Augen-
blick in der Exiſtenz der Geſtirne dem
unterſtellten Zwecke geweiht erſcheint, wäh—
rend die kosmiſche Exiſtenz derſelben durch
ganz irrationelle Zeitlängen ſich ausdehnt.
Das Protiſtenreich.
Von
Ernſt Haeckel.
ür das tiefere Verſtändniß unſerer
heutigen Entwickelungslehre und
= der darauf gegründeten einheit-
1 lichen Weltanſchauung dürften
. wenige Zweige der Natur⸗
wiſſenſchaften von ſo fundamentaler Bedeut—
ung ſein, wie die Naturgeſchichte der
niederſten Lebeweſen, der ſogenannten Pro—
tiſten. Denn die urwüchſige Einfachheit
im Körperbau und in den Lebenserſchein—
ungen dieſer unvollkommenen „Urweſen“
öffnet uns erſt den wahren Weg für das
Verſtändniß der viel verwickelteren und
ſchwierigeren Erſcheinungen, welche uns
die Anatomie und Phyſiologie der höheren
und vollkommneren Organismen, der echten
Thiere und Pflanzen, darbietet. Dennoch
iſt die Bekanntſchaft mit den Protiſten faſt
nur auf die gelehrten Fachkreiſe beſchränkt
geblieben und erſt ſehr wenig in weitere
Kreiſe eingedrungen. Das iſt auch leicht
erklärlich. Denn die große Mehrzahl jener
einfachſten Lebensformen, die wir im
„Protiſtenreich“ zuſammenfaſſen, iſt dem
unbewaffneten Auge völlig verborgen. Erſt
durch das Mikroſkop können wir ſie er—
TEN x
—
y 1
) > 7
v 2
kennen und meiſtens ſogar erſt mit Hülfe
ſtarker Vergrößerungen ihre Formverhält—
niſſe genau erforſchen. Aber auch dann
iſt dieſe Erforſchung noch mit vielen
Schwierigkeiten und Hinderniſſen verknüpft.
Denn die allgemeinen Anſchauungen vom
lebendigen Organismus, die gewöhnlichen
Begriffe von den Organen und Funktionen
der Lebeweſen, welche wir aus der alltäg—
lichen Anſchauung des höheren Thier- und
Pflanzenlebens uns gebildet haben, paſſen
nur wenig oder gar nicht auf jene nieder—
ſten Lebensformen. Außerdem iſt aber
auch die gründliche wiſſenſchaftliche Erforſch—
ung der letzteren kaum vierzig Jahre alt;
und erſt die ſehr ausgedehnten und ſorg—
fältigen Unterſuchungen der letzten zwanzig
Jahre haben ihre Kenntniß auf eine ſolche
Höhe gebracht, daß wir gegenwärtig we—
nigſtens eine befriedigende Vorſtellung von
der Eigenthümlichkeit und eine klare Ein—
ſicht in die Bedeutung des Protiſten-Reiches
gewonnen haben.
Wenn wir nun hier den Verſuch
wagen, in allgemein-verſtändlicher Form
eine kurze Ueberſicht über das ganze große
Haeckel, Das Protiſtenreich—
Protiſten-Reich zu geben und ſeine hohe
Bedeutung für die Entwickelungslehre dem
Verſtändniß der gebildeten Kreiſe näher zu
bringen, ſo ſind wir uns der großen, da—
mit verknüpften Schwierigkeiten wohl be—
wußt. Wir glauben aber denſelben am
beſten zu begegnen, wenn wir uns auf die
gedrungene Zuſammenfaſſung des Wichtig
ſten beſchränken, und die Bekanntſchaft mit
dem höchſt mannigfaltigen und intereſſanten
Detail dieſes unendlich reichen Forſchungs—
Gebietes dem Studium der Special-Werke
überantworten. Zunächſt wird ſicher für
unſere moderne Entwickelungslehre und
weiterhin auch für unſere damit verknüpfte
moniſtiſche Weltauffaſſung ſchon viel ge—
wonnen ſein, wenn eine allgemeine An—
ſchauung von dem weiten Umfang des
mikroſkopiſchen Lebensreiches, von der Ein—
fachheit und elementaren Bedeutung des
„kleinſten Lebens“ ſich einen Platz im Be—
wußtſein unſerer gebildeten Kreiſe erobert hat.
Die niederſten Lebeweſen, die wir hier
als: Protiſten d. h. „Erſtlinge“
oder „Urweſen“ zuſammenfaſſen, wer—
den in weiteren Kreiſen auch heute noch
ſehr oft mit dem unpaſſenden Namen In—
fuſorien oder Infuſionsthierchen (im
weiteren Sinne!) bezeichnet. In den ſyſte—
matiſchen Lehrbüchern der Naturgeſchichte
werden fie meiſtens als Urthiere (oder
„Protozoa“) aufgeführt. Die beſte
deutſche Bezeichnung für die ganze große
Gruppe wäre vielleicht: Zellinge oder
Zellweſen; denn es würde dadurch die
weſentlichſte Eigenthümlichkeit ihrer Orga—
niſation, die autonome Selbſtſtändigkeit und
permanente Individualität ihres einfachen
Zellen-Leibes in präciſeſter Weiſe ausgedrückt.
Obgleich viele von der Exiſtenz der
meiſten mikroſkopiſchen Protiſten keine Ahn⸗
ung haben, ſo kommt dennoch jeder Menſch
11
unendlich oft mit ihnen in Berührung. Jeder
hat beim Waſſertrinken, beim Eſſen von
Früchten, Auſtern und anderen rohen Spei-
ſen ſchon Tauſende und Millionen von
lebenden Protiſten verſchluckt, ohne ſich
deſſen bewußt geworden zu ſein. Denn
obgleich dieſe merkwürdigen Geſchöpfe von
dem unbewaffneten Auge des Menſchen zum
größten Theile gar nicht erkannt oder höch—
ſtens als ganz kleine Pünktchen wahrge—
nommen werden, ſind ſie dennoch in zahl—
loſen, höchſt mannigfaltigen und intereſſan⸗
ten Formen allenthalben über unſeren Erdball
verbreitet. Unſere Mikroſkope weiſen uns
dieſelben überall im ſüßen und ſalzigen
Waſſer nach. Alle Bäche und Flüſſe, alle
Teiche und Seen, alle Tümpel und Grä—
ben enthalten ſolche Urthierchen, oft in un—
glaublicher Maſſe. Man kann keinen
Stein, keine Pflanze aus dem Waſſer
heben, ohne in dem daran haftenden ſchlei—
migen Ueberzug wenigſtens einige Infuſo—
rien zu finden. Ebenſo iſt das Meer
überall von ihnen bedeckt. Der weiche
Schlamm, der den Meeresboden bedeckt,
beſteht zum großen Theil aus dergleichen
Protozoen. Der feine ſchlammige Ueber—
zug, der bei ruhigem Wetter den klaren
Meeresſpiegel überzieht, iſt aus Milliarden
ſchwimmender Infuſorien zuſammengeſetzt.
Aber auch der Staub unſerer Straßen,
der Sand unſerer Dachrinnen, die Humus—
Erde unſerer Felder und Wälder, enthält
Millionen kleinſter Infuſions-Keime, ſowie
eingetrocknete, aber noch lebensfähige Körper
derſelben. Wir brauchen blos dieſen Staub
und Sand in einem Glaſe mit etwas
Waſſer zu übergießen und dieſen Aufguß
einige Zeit in der Sonne ſtehen zu laſſen,
um durch unſer Mikroſkop Maſſen von
beweglichen Infuſorien wahrzunehmen; theils
haben ‚fie? ſich in kürzeſter Zeitz aus jenen
12
Keimen entwickelt, theils find fie unter dem
belebenden Einfluſſe des Waſſers aus ihrem
Trockenſchlafe zu neuem Leben erwacht.
Iſt es ja doch gerade dieſe Erſcheinung,
die zu der Benennung: In fuſoria oder
Infuſionsthierchen, d. h. „Aufgußthier⸗
chen“ Veranlaſſung gab.
Es ſind jetzt kaum zweihundert Jahre
verfloſſen, ſeitdem die mikroſkopiſchen In—
fuforien durch den holländiſchen Natur-
forſcher Anton van Leeuwenhoek
zuerſt in einem Topfe voll ſtehenden Regen—
waſſers entdeckt wurden. Die Holländer haben
die zweihundertjährige Jubelfeier dieſer Ent—
deckung, die damals das größte Aufſehen
erregte, vor wenigen Jahren (1875) feier
lichſt begangen; und ſie thaten Recht daran.
Denn die wiſſenſchaftliche Tragweite der—
ſelben iſt in der That unermeßlich, und je
mehr wir mit unſeren vervollkommneten
Mikroſkopen in die tiefſten Geheimniſſe
des Lebens eindringen, deſto mehr werden
wir uns ihrer Bedeutung bewußt.
Unſere ganze Anſchauung vom Weſen
des Lebens und von der Entwidel-
ung der organiſchen Geſtalten iſt durch
die genauere Kenntniß dieſer Urthierchen
oder Infuſionsthierchen unendlich erweitert
und gefördert worden. Anatomie und Phy—
ſiologie, Entwickelungsgeſchichte und Syſte—
matik verdanken ihr die wichtigſten Auf-
ſchlüſſe. Selbſt für die Geologie haben
ſie eine außerordentliche Bedeutung erlangt.
Denn dieſe kleinſten Lebensformen haben
keinen geringeren Einfluß auf die Bildung
der mächtigſten Gebirgsmaſſen und auf die
ganze Geſtaltung unſerer Erdrinde aus—
geübt, als alle die zahlreichen großen Thiere
und Pflanzen, die unſern Planeten ſeit
Millionen von Jahren belebt haben. Die
mikroſkopiſchen Kalkſchalen und Kieſelgehäuſe
welche ſich die meiſten Urthiere bilden, blei—
Haeckel, Das Protiſtenreich.
ben nach dem Tode ihrer Bewohner un—
verändert übrig. Sie häufen ſich auf dem
Grunde der Gewäſſer maſſenhaft an, bil—
den hier mächtige Schlammſchichten und
werden im Laufe der Jahrtauſende zu feſtem
Geſteine verdichtet. So ſind z. B. die
Kreidegebirge von England und von der
Inſel Rügen, ſowie die über der Kreidefor—
mation abgelagerten eocänen Tertiärſchichten
zum größten Theile, oft faſt ausſchließlich,
aus den zierlichen Kalkſchalen der Polytha—
lamien zuſammengeſetzt. Andere Geſteine,
wie z. B. die tertiären Felſenmaſſen von
Barbados und von den Nikobaren Inſeln,
zeigen ſich zum größten Theil aus den
reizenden Kieſelpanzern der Radiolarien ge—
bildet. Viele von den Geſteinen, welche
ſolchen Urthierchen ihre Entſtehung verdan—
ken, liefern ein vorzügliches Baumaterial;
und manche unſerer größten Städte find
vorzugsweiſe aus dergleichen Steinen erbaut,
ſo z. B. Wien und Paris.
Die berühmten Tiefſee-Forſchungen der
neueſten Zeit, zu denen die erſte Legung
des atlantiſchen Telegraphen-Kabels den
Anſtoß gab, haben jene felsbildende Macht
des kleinſten Lebens in das hellſte Licht
geſtellt. Sie haben uns gezeigt, wie noch
heute in den tiefſten Abgründen des Mee—
res unaufhörlich kreideartiges Geſtein aus
feinſtem Meerſchlamm entſteht, und wie
dieſer Schlamm faſt ausſchließlich aus den
Kalkſchalen und Kieſelpanzern unglaublicher
Maſſen von Urthierchen gebildet wird. Vor
Allem ſind es hier die unvergleichlichen
Entdeckungen der bewunderungswürdigen
britiſchen Challenger-Expedition, welche
uns mit einer Fülle neuer und überraſchender
Anſchauungen über die „Mikrogeologie“,
über das reiche, räthſelvolle mikroſkopiſche
Leben der Tiefſee-Thäler bereichert haben.
Wie nun die eifrigen Forſchungen des
Haeckel, Das
letzten halben Jahrhunderts unſere Kennt—
niß vom Leben und Weben der Urthiere,
von ihrer Geſtaltung und Entwickelung
ungemein gefördert haben, ſo haben ſie
auch unſere Anſichten von ihrer Stellung
in der Natur und von ihrer ſyſtematiſchen
Gruppirung ſehr weſentlich verändert. Das
Syſtem der organiſchen Formen iſt ja
immer mehr oder weniger der Ausdruck
der Anſchauungen, welche wir von ihrer
natürlichen Verwandtſchaft beſitzen, und ſo
zeigen uns denn auch die großen Verän—
derungen, welche das Syſtem der Urthiere
im Verlauf der letzten Jahrzehnte erlitten
hat, am klarſten den gewaltigen Umſchwung
unſerer bezüglichen Vorſtellungen. Nachdem
vor neunzig Jahren (1786) Otto Fried—
rich Müller den erſten umfaſſenden Ent—
wurf eines Syſtems der Infuſionsthierchen
gegeben hatte, erſchien vor vierzig Jahren
das große Prachtwerk des berühmten (1876
verſtorbenen) Naturforſchers Ehren berg:
„Die Infuſionsthierchen als vollkommene
Organismen. Ein Blick in das tiefere
organiſche Leben der Natur.“ Das war
im Jahre 1838, in demſelben für die
Naturwiſſenſchaft Epoche machenden Jahre,
in welchem der geniale Botaniker Schlei—
den in Jena zuerſt den Grund zu der
ſo höchſt fruchtbaren Zellen-Theorie
legte. In der That ein merkwürdiger
Zufall, eine ſeltſame Ironie des Schickſals.
Denn Ehrenberg war in ſeinem großen
Hauptwerk vor Allem bemüht, das ihm
eigene „Princip überall gleich voll⸗
endeter Entwickelung“ zur Geltung
zu bringen. Er ſuchtz bei den Infuſorien
eine ebenſo vollkommene Organiſation nach—
zuweiſen, wie bei den höheren Thieren und
beim Menſchen. Er glaubte überall Ner—
ven und Muskeln, Darm und Blutgefäße,
männliche und weibliche Organe unterſchei—
Protiſtenreich.
13
den zu können. Gerade dieſes Princip
war grundfalſch; vielmehr find die In⸗
fuſorien höchſt einfache Organismen: die
meiſten haben nur die Bedeutung und den
Werth einer einzigen einfachen Zelle, und
ihr wahres Verſtändniß wird uns erſt
durch die Zellentheorie gegeben.
Der alte Name „Infuſionsthierchen“
wird heute nur noch auf einen kleinen
Theil der mikroſkopiſchen Weſen angewendet,
welche Ehrenberg in ſeinem großen
Werke als ſolche beſchrieb. Nur die
Wimperthierchen oder Ciliaten und die
Borſtenthierchen oder Acineten, oft auch
die Geißelſchwärmer oder Flagellaten
werden heute noch in wiſſenſchaftlichen Wer—
ken „Infuſorien“ genannt; die formen—
reichen Kieſelzellen oder Diatomeen wer-
den dagegen meiſt von den Botanikern zu
den Algen gerechnet. Die Räderthierchen
(Rotatoria), die für Ehrenberg ger ade
den Typus der Infuſorien bildeten, ſind
Würmer, alſo Thiere von viel höherer
Organiſation. Dagegen bilden die Amo eben
und ihre Verwandten heute eine beſondere
wichtige Protiſtenklaſſe, die wir Lappen⸗
thierchen oder Loboſa nennen. Neben
dieſen aber hat die fortgeſchrittene mikro—
ſkopiſche Forſchung uns andere Klaſſen von
Urthierchen kennen gelehrt, die viel zahl—
reichere, merkwürdigere und mannigfaltigere
Formen enthalten, als jene älteren Infuſions—
thierchen: vor allen die wunderbare Klaſſe
der Wurzelfüßler oder Rhizopoden,
die Sonnenthierchen oder Heliozoen,
die kalkſchaligen Thalamophoren und
kieſelſchaligen Radiolarien. Dieſen
ſchließen ſich eng die ſonderbaren Schleim—
pilze oder Myxomyceten an, welche die
Botaniker früher zu den echten Pilzen
(Fungi) ſtellten. Aber auch die Stellung
dieſer letzteren im Pflanzenreiche iſt ganz
14
zweifelhaft geworden und es beſtehen ge—
wichtige Gründe dafür, ſie aus letzterem
in das Protiſtenreich zu verſetzen. Als
eine beſondere, intereſſante, wenn auch nur
ſehr kleine Protiſtenklaſſe dürfen wir die
Catallacten betrachten. Endlich finden
wir unten auf der tiefſten Stufe jene höchſt
einfachen, wunderbaren Urweſen, mit denen
das organiſche Leben in denkbar einfachſter
Geſtalt beginnt, die Moneren.
Schon beim erſten Blick auf die wun—
derbare Formenwelt, welche uns hier das
Mikroſkop entſchleiert, wird ſich jedem Un—
befangenen zunächſt die Frage aufdrängen:
„Sind denn dieſe ſogenannten Urthiere oder
Infuſorien wirkliche, echte Thiere und
warum werden fie von den Naturforſchern
in das Thierreich geſtellt?“ Dieſe Frage
iſt vollſtändig berechtigt; ſie gehört zu jenen
ſchwierigen Grundfragen der allgemeinen
Biologie, deren Löſung durch unſere fort—
ſchreitenden Kenntniſſe eher erſchwert als er—
leichtert wird. Wenn wir nämlich alther—
gebrachter Maßen die ganze organiſche Na—
tur in die beiden großen Hälften: Thierreich
und Pflanzenreich eintheilen, und wenn wir
damit glauben, den natürlichen Gegenſatz
zwiſchen zwei völlig getrennten Hauptgebieten
auszuſprechen, ſo iſt dieſe Unterſcheidung zwar
durch die feſtgewurzelte Anſchauung und den
Sprachgebrauch von Jahrtauſenden geheiligt;
aber logiſch begründbar und wirklich natur—
gemäß iſt ſie nicht. Vielmehr lehren uns
gerade unſere Urthierchen das Gegentheil.
Je genauer wir deren Form und Lebens—
erſcheinungen ſtudirt haben, je vollſtändiger
uns ihre ganze Entwickelungsgeſchichte be—
kannt geworden iſt, deſto klarer hat ſich
herausgeſtellt, daß ſie eine ununterbrochene
Verbindungsbrücke zwiſchen den tiefſten Stu—
fen des Thierreichs und Pflanzenreichs her—
ſtellen. So leicht und ſicher wir die höheren
1
|
Haeckel, Das Protiſtenreich.
und vollkommeneren Stufen der beiden
großen Reiche von einander unterſcheiden
können, ſo ſchwer, ja unmöglich wird dieſe
Trennung auf den niedrigſten und unvoll—
kommenſten Stufen. Denn hier ſind beide
Reiche durch eine zuſammenhängende Kette
von einfachen Uebergangsformen untrenn—
bar verbunden.
Die Erkenntniß dieſer wichtigen That—
ſache, welche heute unzweifelhaft feſtgeſtellt
iſt, hat zu den lebhafteſten Streitigkeiten
über die Grenze zwiſchen Thierreich und
Pflanzenreich Veranlaſſung gegeben. Sie
hat zugleich die abweichendſten Anſchauungen
über das Weſen der zweifelhaften Infuſo—
rien hervorgerufen, die mitten zwiſchen den
beiden großen Reichen der organiſchen Na—
tur ein neutrales Grenzgebiet für ſich in
Anſpruch nehmen.
Während nämlich viele Infuſorien von
den Zoologen für Thiere, von den Bota—
nikern dagegen für Pflanzen erklärt, und
demnach von Beiden annektirt wurden,
hatten andere gerade das entgegengeſetzte
Schickſal: ſie wurden von Beiden verſchmäht;
bei einer dritten Gruppe von Infuſorien
ſchien ſogar nur die Annahme übrig zu
bleiben, daß ſie abwechſelnd als Thiere
und Pflanzen lebten. Der daraus ent—
ſpringende Streit über ihre wahre Natur
ſcheint am einfachſten dadurch entſchieden zu
werden, daß man den Begriff von
Thier und Pflanze ſcharf umſchreibt,
und dieſe unzweideutige Begriffsbeſtimmung
auf jene zweifelhaften Mittelweſen anwen—
det. Aber dieſe geſuchte Begriffsbeſtimm—
ung ſelbſt iſt ein unlösbares Problem; je
mehr Mühe man darauf verwendet hat,
deſto klarer hat ſich herausgeſtellt, daß es
überhaupt auf einer falſchen Frageſtellung
beruht, und daß die Begriffe von Thier und
Pflanze nicht in der Natur begründet ſind.
Haeckel, Das
Um nun den ſo entſtandenen Schwierig—
keiten zu entgehen, und um zu einer ver—
nünftigen Claſſification der organiſchen Weſen
zu gelangen, iſt ſchließlich nur ein Ausweg
übrig geblieben: nämlich die Aufſtellung
eines dritten, ſelbſtſtändigen Reiches von
elementaren Organismen: Das iſt unſer
Reich der Protiſten oder Zellinge,
das Reich der neutralen Urweſen. Wir
faſſen demnach die ganze organiſche Natur,
die Geſammtheit aller lebenden Weſen un—
ſeres Erdballs, als ein großes einheitliches
Ganze auf; und dieſes umfaſſende Univer—
ſalreich theilen wir in drei Reiche: das
Thierreich einerſeits, das Pflanzenreich an—
drerſeits, mitten zwiſchen Beiden das neu-
trale Reich der Protiſten.
Um nun die Aufſtellung unſeres Pro—
tiſtenreiches zu rechtfertigen, wollen wir
einen flüchtigen Blick auf die verſchiedenen
Charakterſeiten des Thier- und Pflanzen—
reichs werfen. Es wird ſich dabei von
ſelbſt ergeben, daß unſere Protiſten weder
dem einen, nach dem andern vollſtändig
Verweilen wir zunächſt einen
der äußeren Geſammt⸗
entſprechen.
Augenblick bei
erſcheinung. So charakteriſtiſch uns da
einerſeits das höhere Thier mit der Glie—
derung ſeines Leibes und ſeiner Gliedmaßen,
anderſeits die höhere Pflanze mit ihrem
Stengel und ihren Blättern entgegentritt,
ſo wenig reicht dieſe äußere Gliederung
hin, um die niederen Formen beider Reiche zu
unterſcheiden. Viele unzweifelhafte Thiere,
wie z. B. die Korallen, die Schwämme,
ahmen ſo vollkommen die Geſtalt echter
Pflanzen nach, daß man ſie früher allge—
mein für ſolche gehalten hat. Umgekehrt
giebt es viele unzweifelhafte Pflanzen, wie
z. B. viele Orchideen und andere Schma—
rotzer, welche die Geſtalt echter Thiere nach—
ahmen. Und was ſollen wir nun vollends
Protiſtenreich. 15
zu den unendlich mannigfaltigen Figuren
unſerer Protiſten ſagen? Da treffen wir
allein ſchon in der einen Klaſſe der kieſel—
ſchaligen Radiolarien alle möglichen Grund—
formen verkörpert an, die überhaupt in der
Natur vorkommen können; und in welcher
zierlichen und wundervollen Ausführung!
Da finden wir in einem einzigen Tropfen
Meerwaſſer neben einander Kugeln, Kreuze,
Körbchen, Schrauben, Sterne, Schachfiguren,
Hörner, Hauben, Helme u. ſ. w.; kurz eine
Fülle der mannigfaltigſten und merkwür⸗
digſten Geſtalten. Gewiß wird Jedermann,
der dieſe Formen zum erſten Male ſieht,
ſie für Kunſtprodukte halten, oder vielleicht
für abgelöſte Theile von größeren Organis—
men. Und doch ſind es vollkommen ent—
wickelte und ſelbſtſtändige Lebeweſen! Aber
Niemand wird geneigt ſein, ſie für echte
Thiere oder echte Pflanzen zu erklären.
Ebenſo wenig können wir aus der äußeren
Körperform der meiſten anderen Protiſten
einen ſicheren Schluß auf ihre wahre Na—
tur ziehen. Sehr viele bewahren zeitlebens
die einfache Kugelgeſtalt. Andere zeigen
beſtändig die einfache Form eines Cylinders,
einer Scheibe, eines Kegels, einer Pyramide
u. ſ. w. Noch andere endlich haben über—
haupt gar keine beſtimmte Geſtalt, jo na—
mentlich die Moneren und die Amoeben.
Der ganze Körper dieſer höchſt einfachen
Urweſen beſteht aus einem lebenden mikro—
ſtopiſchen Schleimklümpchen, das in unab-
läſſigem Wechſel ſeine Geſtalt beſtändig
ändert: daher der paſſende Name „Aender—
ling“, den Oken dieſen Amoeben beilegte.
Doch verlaſſen wir die äußere Körper⸗
form! Denn daß dieſe ganz unzureichend
iſt, um den Unterſchied zwiſchen Thier und
Pflanze zu begründen, das iſt längſt all-
gemein anerkannt. Fragen wir uns lieber,
was denn eigentlich in der naiven An
16 Haeckel, Das
ſchauung des täglichen Lebens dieſe Unter—
ſcheidung begründet, und was dieſelbe ſeit
Jahrtauſenden in der Sprache und im
Begriffsleben der Menſchheit gerechtfertigt
hat. Unzweifelhaft ſind es die Lebens—
erſcheinungen der Empfindung und
Bewegung, welche uns hier zunächſt
entgegentreten. Empfindung und Beweg—
ung ſind es, welche in der allgemeinen
Anſchauung das Thier gegenüber der Pflanze
auszeichnen, und aus denen wir auf ein
„Seelenleben“ des Thieres ſchließen,
ein Seelenleben, das wir der Pflanze ab—
ſprechen. Wie verſchieden auch die pſycho—
logiſchen Vorſtellungen ſind, und wie weit
auch die Anſichten über das eigentliche We—
ſen der Seele aus einander gehen, darüber
ſind wir doch Alle einig, daß mindeſtens
den höheren Thieren eine Art Seelenleben
zukommt. Denn die Hausthiere, die wir
täglich um uns ſehen, bewegen ſich zweifel—
los ebenſo willkürlich, wie wir ſelbſt. Sie
luſt, der Freude und des Schmerzes zweifel—
los ähnlich, wie wir ſelbſt. Auch lehrt uns
ja ſofort jede anatomiſch-phyſiologiſche Un—
terſuchung, daß das Nervenſyſtem, das
Organ dieſer Seelenthätigkeiten, bei den
höheren Wirbelthieren im Weſentlichen eine
ähnliche Einrichtung beſitzt, wie bei uns ſelbſt.
Von dieſen augenfälligen Seelenthätig—
keiten der höheren Thiere ausgehend, ſchlie—
ßen nun die Zoologen, daß dieſelben auch
allen anderen Thieren zukommen, und dem—
gemäß werden ſeit alter Zeit Empfindung
und willkürliche Bewegung als charakteriſtiſche
Eigenſchaften des Thieres betrachtet. Schon
Linne ſagt: „Die Pflanzen leben, die
Thiere leben und empfinden.“ Und doch
iſt gerade dieſe allgemein angenommene
Unterſcheidung völlig unhaltbar. Wir
brauchen nur an den gewöhnlichen Bade—
Protiſtenreich.
empfinden die Eindrücke der Luft und Un⸗
ſchwamm zu denken, um uns davon zu
überzeugen. Dieſer Badeſchwamm, mit
dem ſich der Kulturmenſch täglich zu wa—
ſchen pflegt, iſt das todte Skelet, das in—
nere Gerüſt eines unzweifelhaften Thieres.
Im Leben ſtellt dieſes Thier einen fleiſchigen,
ſchwarzen, formloſen Klumpen dar, der
unbeweglich auf dem Meeresboden feſtge—
wachſen iſt. Aehnliche Seegewächſe aus
der Klaſſe der Schwämme oder Spongien
ſitzen maſſenhaft auf dem Boden aller
Meere, hunderte von verſchiedenen Arten.
Die meiſten zeigen keine Spur von Be—
wegung und Empfindung; ſie galten daher
früher auch allgemein für Pflanzen. Erſt
die genaueſten Unterſuchungen über ihre
Entwickelungsgeſchichte haben uns in den
letzten Jahren darüber belehrt, daß wir ſie als
echte, unzweifelhafte Thiere betrachten müſſen.
Aehnliche echte Thiere, welche in voll—
kommen reifem und ausgebildetem Zuſtande
der Empfindung und Bewegung entbehren,
kennen wir jetzt in Menge. Die meiſten
leben feſtgewachſen auf dem tiefen Grunde
des Meeres. Sie gehören ſehr verſchiede—
nen Klaſſen an: Würmern, Ascidien, Mol-
(usfen u. ſ. w. Viele von ihnen werden
auf den italieniſchen Fiſchmärkten unter dem
Namen „Seefrüchte“ (Frutti di mare) feil ge⸗
boten, und ſowohl der Fiſcher, der ſie verkauft,
wie der Fremde, der ſie mit Appetit verſpeiſt,
hält ſie für die Früchte von Seegewächſen.
So gar unter den höheren Thierklaſſen,
z. B. unter den Schnecken und Krebſen,
giebt es einzelne Arten, die in vollkommen
reifem Zuſtande einen formloſen runden
Klumpen, ohne jede Spur von Bewegung
und Empfindung, darſtellen. In dieſen
Fällen iſt es die ſchmarotzende Lebensweiſe,
durch welche das Thier ſeine „Seele“ ver—
loren hat. Das gilt z. B. von der be
rühmten Wunderſchnecke (Entoconcha mi-
Haeckel, Das Protiſtenreich. 17
rabilis) und von dem merkwürdigen
Säckchenkrebſe (Saceulina). Erſtere lebt
als Paraſit im Innern von Seegurken
oder Holothurien; letzterer ſitzt ſchmarotzend
auf anderen Krebſen feſt. Beide Thiere
haben die Geſtalt eines einfachen, länglichen,
runden Schlauches; und dieſer Schlauch
enthält nichts weiter als Eier. Keine
Spur von einem Kopfe und von Sinnes-
organen; keine Spur von Fühlhörnern und
Beinen; keine Spur von Empfindung und
willkürlicher Bewegung. Gewiß würde
kein Menſch in dieſen beiden ſeelenloſen
Eierſchläuchen wahre Thiere vermuthen, und
doch ſtellt die Entwickelungsgeſchichte un—
zweifelhaft feſt, daß das eine eine Schnecke
und das andere ein Krebs iſt.
Als Gegenſtück zu dieſen „ſeelen—
loſen Thieren“ treffen wir auf der
anderen Seite „ſeelenvolle Pflan—
zen“, die uns noch mehr überraſchen.
Wir betreten einen tropiſchen Urwald und
wollen uns ein zierlich gefiedertes Mimoſen—
blart abpflücken. Aber kaum berühren wir
den zarten Zweig der ſchamhaften Sinn—
pflanze (Mimosa pudica), ſo klappen die
Blätter ihre zierlichen Fiederreihen zuſam—
men und die Blattſtiele ſinken wie gelähmt
herab. Ja, manche dieſer akazienartigen
Bäume ſind ſo reizbar, ſo empfindlich, daß
ſchon die Erſchütterung des Bodens durch
den Tritt des herannahenden Wanderers
hinreicht, ſämmtliche Blätter zum Schließen
zu bringen. Nicht minder empfindlich ſind
neben vielen Anderen die durch Darwin
neuerdings ſo berühmt gewordenen „inſekten—
freſſenden Pflanzen“. Sobald eine unvor—
ſichtige Fliege ſich auf das Blatt einer „Fliegen—
falle“ (Dionaea) ſetzt, klappt das reizbare
Blatt zuſammen, und die mörderiſche Pflanze
verzehrt das erfaßte Inſekt mit offenbarem
Wohlbehagen. Wollten wir dieſen hoch—
Kosmos, Band III. Heft 1.
organiſirten Pflanzen eine Seele abſprechen,
ſo müßten wir ſie ganz ebenſo auch bei den
empfindlichen, aber feſtgewachſenen, pflanzen—
ähnlichen Korallen leugnen; denn dieſe geben
keine anderen Aeußerungen ihres Seelenlebens.
Aber nicht allein ſolche hohe Empfind⸗
lichkeit, ſolche lebhafte Beweglichkeit einzel—
ner Körpertheile treffen wir vielfach bei
echten Pflanzen an. Nein, auch ſelbſtſtän—
dige, freie Ortsbewegung, auch die Willens—
thätigkeit, auf die wir aus der ſcheinbar
willkürlichen Bewegung ſchließen, findet ſich bei
unzweifelhaften Pflanzen vor. Viele Algen,
z. B. viele von unſeren einheimiſchen grü—
nen Waſſerfaden oder Conferven, ſchwim—
men in ihrer Jugend frei und lebhaft im
Waſſer umher. Die jungen Pflänzchen
bewegen ſich dabei, ebenſo wie viele junge
Thiere, durch zarte, haarförmige, ſchwingende
Fäden, Geißeln oder Wimpern. Bei die⸗
ſer Schwimmbewegung äußern ſie ebenſo
viel Lebhaftigkeit, ebenſo viel Ausdauer,
ebenſo viel ſcheinbaren Willen, wie die ganz
ähnlichen, flimmernden Jugendformen vieler
Thiere, z. B. der Gaſtrula. Auf den
Wiener Botaniker Unger, der zuerſt vor
35 Jahren (im Jahre 1843) dieſe frei
beweglichen Jugendformen der Algen ent—
deckte, machten dieſelben einen ſo tiefen Ein—
druck, daß er ſeine bezügliche Mittheilung
betitelt: „Die Pflanze im Momente der
Thierwerdung.“
Schon aus dieſen wenigen Thatſachen,
die wir noch durch Aufzählung vieler ähn—
licher Erſcheinungen beträchtlich vermehren
könnten, geht unzweifelhaft hervor, daß die
höheren Seelenthätigkeiten der bewußten
Empfindung und der willkürlichen Beweg⸗
ung weder allen Thieren eigenthümlich ſind,
noch allen Pflanzen fehlen. Sie können
daher nicht mehr in der üblichen Weiſe
zur Unterſcheidung von Thier- und Pflan-
18 Haeckel, Das Protiſtenreich.
zenreich benutzt werden; und ebenſo wenig
ſind ſie von ſyſtematiſcher Bedeutung für
unſer Protiſtenreich. Für die Beurtheilung
dieſes letzteren iſt es gleichgültig, ob ſich
die Protiſten ſehr lebhaft bewegen und ſehr
fein empfinden, wie die meiſten Wimper—
Infuſorien; oder ob ſie nur ſtumpfe Em—
pfindung und träge Bewegung beſitzen, wie
die meiſten Wurzelfüßler. Viele Protiſten
treten uns in zwei abwechſelnden und ganz
verſchiedenen Zuſtänden entgegen: einem
unbeweglichen und unempfindlichen Ruhe—
zuſtande, in welchem ſie uns als Pflanzen
erſcheinen; und in einem frei beweglichen
und ſehr empfindlichen Zuſtande, in welchem
ſie Thieren gleichen. Wir dürfen von
dieſen merkwürdigen Urweſen geradezu ſagen:
ſie ſind abwechſelnd Thier und Pflanze.
Und ſo ſind ſie auch wirklich früher beur—
theilt worden. So ſind z. B. von manchen
Flagellaten und Myxomyceten die vegeta—
tiven Ruhezuſtände als Pflanzen, die animalen
Bewegungszuſtände als Thiere unter ver—
ſchiedenen Namen beſchrieben worden, und
erſt viel ſpäter wurde entdeckt, daß Beide nur
verſchiedene Lebens-Zuſtände eines und deffel-
ben Protiſten ſind.
Wollen wir nun aber vom Standpunkte
der vergleichenden Psychologie zu einem
Schluſſe über das Seelenleben aller dieſer
Geſchöpfe kommen, ſo kann dieſer Schluß
nur lauten: „Alle lebenden Weſen
ſind beſeelt, die Pflanzen ſo gut wie
die Thiere, und die Protiſten ſo gut wie
die Pflanzen.“ Innere Bewegungs - Er-
ſcheinungen, die ſcheinbare ohne äußere Ur—
ſachen entſtehen und auf Ortsveränderungen
kleinſter Theile beruhen, insbeſondere Pro—
toplasma⸗Strömungen, find allen Organis—
men gemeinſam, und inſofern iſt jedes lebende
Weſen beſeelt, jedes iſt zugleich reizbar, im
gewiſſen Sinne empfindlich. Stufenweiſe
erhebt ſich die Seelenthätigkeit, von den
unſcheinbarſten und niedrigſten Anfängen
ausgehend, zu immer höheren und voll—
kommeneren Leiſtungen. Während die nie—
drigſten Thiere ſich in dieſer Beziehung
nicht von den meiſten Pflanzen und Pro—
tiſten unterſcheiden, ſteigt das Seelenleben
der höheren Thiere, das Wollen und Em—
pfinden, Vorſtellen und Denken, zu einer
ähnlichen Stufe wie beim Menſchen empor.
Gleich der Seelenthätigkeit haben ſich
auch alle anderen Eigenſchaften, durch welche
man Thiere und Pflanzen hat unterſcheiden
wollen, als unzureichende Merkmale erwieſen.
Unzweifelhaft der wichtigſte Unterſchied
zwiſchen Beiden beruht auf den entgegen—
geſetzten phyſiologiſch-chemiſchen Verhältniſſen
ihrer Ernährung. Der geſammte Stoff—
wechſel in beiden Reichen, im Großen
und Ganzen betrachtet, iſt grundverſchieden.
Die Pflanzen allein beſitzen das Vermögen,
aus den einfachen chemiſchen Verbindungen
der lebloſen anorganiſchen Natur, aus Waſſer,
Kohlenſäure und Ammoniaf, jene verwickel—
ten und höchſt zuſammengeſetzten, eiweißar—
tigen Kohlenſtoff-Verbindungen herzuſtellen,
welche als die wahren Träger aller eigent—
lichen Lebens-Erſcheinungen gelten, vor allen
das Protoplasma oder den Bildungs—
ſtoff („Plasson“). Das können die Thiere
nicht. Sie nehmen die Eiweißkörper, die
ſie beſtändig verbrauchen und zerſetzen,
direkt oder indirekt aus dem Pflanzenreiche
auf. Zur Aufnahme und Verdauung ihrer
Nahrung bedürfen ſie einer Magenhöhle und
einer Mundöffnung; und das ſind die am mei—
ſten charakteriſtiſchen Organe des Thierkörpers,
welche dem Pflanzenorganismus ſtets fehlen.
Mit dieſem fundamentalen Gegenſatze
in der Ernährung hängen auch noch andere
wichtige Unterſchiede beider Reiche zuſam—
men. Die Pflanzen athmen für 3
Haeckel, Das Protiſtenreich. 19
lich Kohlenſäure ein und hauchen Sauerſtoff
aus; die Thiere gerade umgekehrt. Die
meiſten Pflanzen bilden maſſenhaft jenen
eigenthümlichen grünen Farbſtoff, das
Chlorophyll oder Blattgrün, dem unſere
Erde den grünen Schmuck ihrer Vegeta—
tionsdecke verdankt. Die meiſten Thiere
hingegen bilden kein Chlorophyll. Ebenſo
erzeugen die meiſten Pflanzen Maſſen von
Stärkemehl (Amylum) und von Celluloſe;
von jener wichtigen ſtickſtoffloſen Verbind—
ung, welche die Grundlage des Holzes
bildet. Die meiſten Thiere produciren kein
Amylum und keine Celluloſe. Und ſo
könnten wir noch eine ganze Anzahl anderer
chemiſcher Verbindungen anführen, welche
den Gegenſatz im Stoffwechſel des Thier-
und Pflanzenreichs bezeichnen.
Unzweifelhaft iſt dieſer Gegenſatz von
der größten Bedeutung. Denn auf ihm
beruht das beſtändige Gleichgewicht in der
Oeconomie der organiſchen Natur. Was
das eine der beiden großen Lebensreiche
ausgiebt, das nimmt das andere wieder
ein. Was das eine als unbrauchbar aus—
ſcheidet, das verzehrt das andere. Aber ſo be—
deutungsvoll auch dieſe Wechſelwirkung jeden—
falls iſt, ſo wenig iſt der damit verknüpfte Ge—
genſatz durchgreifend und zu einer beſtändigen
Grenzmarke geeignet. Denn zahlreiche Aus-
nahmen finden ſich in jeglicher Beziehung.
Als ſolche wichtige Ausnahmen ſind
vor allen die zahlreichen Schmarotzerpflanzen
zu nennen: z. B. viele Orchideen, Oroban—
chen, Lathraeen u. ſ. w. Dieſe Paraſiten,
deren nahe Verwandtſchaft zu echten hochent—
wickelten Pflanzen feſtſteht, haben durch
Anpaſſung an ſchmarotzende Lebensweiſe
ihren Stoffwechſel gänzlich geändert. Statt
gleich anderen Pflanzen mühſam Eiweiß—
körper zu produciren, finden ſie es beque—
mer, gleich den Thieren dieſe wichtigſten
Lebensſtoffe aus anderen Pflanzen aufzu⸗
nehmen. Damit ändert ſich aber ihre ge—
ſammte Ernährung. Sie bilden kein Blatt⸗
grün mehr, ſie athmen Sauerſtoff ein und
Kohlenſäure aus; ſie bilden Verbindungen,
die ſonſt nur im Thierkörper erzeugt werden.
Umgekehrt finden wir nun wieder im
Thierreiche merkwürdige Schmarotzer, welche
gleichfalls durch Anpaſſung an para
ſitiſche Lebensweiſe ihre ganze Ernährung
völlig geändert haben. Außer den ſchon
angeführten Wunderſchnecken und Säckchen—
krebſen ſind da beſonders jene Würmer
(Bandwürmer, Kratzwürmer u. ſ. w.) her⸗
vorzuheben, welche im Innern anderer
Thiere leben und deren Säfte durch ihre
Haut aufſaugen. Mund und Magen ſind
dadurch überflüſſig geworden und im Laufe
der Jahrtauſende allmälig verloren gegan—
gen. Die nächſten Verwandten dieſer darm—
loſen Paraſiten beſitzen einen wohl ent—
wickelten Mund und Darmkanal. Aber
auch andere echte Thiere bieten in ihrem
Stoffwechſel beträchtliche Abweichungen dar,
und einige produciren Verbindungen, die
ſonſt nur die Pflanzen erzeugen. So bilden
ſich z. B. die Ascidien einen Mantel aus
Celluloſe; die grünen Süßwaſſerpolypen
und einige grüne Würmer erzeugen in ihrer
Haut echtes Blattgrün oder Chlorophyll ꝛc.
Angeſichts dieſer zahlreichen Ausnahmen
kann uns denn auch der Stoffwechſel unſe—
rer Protiſten keinen Aufſchluß über ihre
wahre Natur geben. Wenn viele von ihnen
Chlorophyll, Celluloſe und Stärkemehl er—
zeugen, ſo beweiſt das ebenſowenig für ihre
Pflanzen-Natur, als die Bildung von Kalt
ſchalen bei vielen Anderen für ihre Thier—
Natur Zeugniß ablegt. Vielmehr ſprechen
auch die Verhältniſſe der Ernährung und
des Stoffwechſels, im Großen und Ganzen
betrachtet, für die neutrale Natur der
20 Haeckel, Das Protiſtenreich.
Protiſten. Allerdings wiſſen wir von den
phyſiologiſch-chemiſchen Vorgängen ihres
Stoffwechſels im Ganzen noch ſehr wenig.
Aber dies Wenige reicht doch hin, um uns
auch hierin ganz eigenthümliche Verhält—
niſſe erkennen zu laſſen. So nehmen z. B.
die formloſen Amoeben und die formen—
reichen Wurzelfüßler zwar ihre Nahrung
ähnlich den Thieren auf, aber ohne Mund
und Magen. Au jeder Stelle der nackten
Körperoberfläche können die Nahrungsbiſſen
in's Innere dringen. Auch die thierähnlichſten
Protiſten, die Wimperthierchen, beſitzen keinen
wahren Darm, keinen wahren Mund und
Magen. Dieſer fehlt vielmehr allen Protiſten.
Wir ſehen alſo, daß keine der verſchie—
denen Lebenserſcheinungen genügt, um uns
über das Verhältniß der Protiſten zu den
Thieren und Pflanzen vollkommen aufzu—
klären. Da nun auch die äußere Geſtalt—
ung uns darüber keinerlei Aufſchluß giebt,
ſo bleiben uns nur noch diejenigen Verhält—
niſſe übrig, welche uns das Mikroſkop im
feineren Bau und in der Entwickelungsge—
ſchichte enthüllt. Ohne die genaueſte Kennt—
niß dieſer Verhältniſſe können wir uns ja
überhaupt kein vollſtändiges Bild von der
Natur der Organismen machen. Alles
nun, was wir bisher davon erkannt haben,
findet ſeinen umfaſſenden Ausdruck in der
berühmten Zelleutheorie, die ſeit vierzig
Jahren das wichtigſte Fundament aller bio—
logiſchen Forſchungen geworden iſt.
Bekanntlich lehrt uns dieſe Zellentheo—
rie, daß alle die tauſendfach verſchiedenen
Formbeſtandtheile, die wir im Körper
ſämmtlicher Thiere und Pflanzen mittelſt
des Mikroſkopes unterſcheiden, lediglich ver—
ſchiedene Abarten und Umbildungen eines
einzigen Grundorganes, eines einzigen ur—
ſprünglichen Form-Elementes ſind. Dieſes
Form⸗Element iſt die Zelle, ein kleines,
vn
für das bloße Auge meist unſichtbares
Körperchen, welches bis zu einem gewiſſen
Grade ein ſelbſtſtändiges Leben führt. So
unendlich mannigfaltig die Form der Zelle
auch iſt, ſo iſt ſie doch immer aus zwei
verſchiedenen Beſtandtheilen zuſammengeſetzt:
aus einem Stückchen weicher, eiweißartiger
Subſtanz, dem Bildungsſtoff oder Proto—
plasma, und aus einem feſteren, davon
umſchloſſenen Körperchen, dem Kern oder
Nucleus. Die urſprüngliche Selbſtſtän—
digkeit der Zelle iſt ſo vollkommen, daß
man ſie mit Recht als den Elementar—
Organismus, als das Individuum
erſter Ordnung bezeichnet hat. Da die
Zellen jede organiſche Form bilden, können
wir ſie auch die „Bildnerinnen“ oder Pla—
ſtiden nennen. Der ganze Körper der
meiſten Thiere und Pflanzen iſt aus Milliar—
den ſolcher Zellen zuſammengeſetzt: und
was dieſes Thier, was dieſe Pflanze leiſtet,
das iſt in Wahrheit die Leiſtung ihrer
zahlloſen Zellen. Auch unſer eigener
menſchlicher Leib beſteht aus Milliarden der—
artiger Zellen, und alle unſere Lebensver—
richtungen ſind das höchſt verwickelte Reſultat
aus der Thätigkeit dieſer mikroſkopiſchen
Weſen. Jedes Härchen beſteht aus vielen
Millionen Zellen. Ein kleinſtes Blutströpf—
chen von einem Cubik-Millimeter Rauminhalt
umſchließt ſchon fünf Millionen Blutzellen.
Für die richtige Auffaſſung der Zelleu—
theorie, von der das ganze Verſtändniß
des Lebens abhängt, iſt Nichts lehrreicher,
als der oft angewendete Vergleich des viel—
zelligen Organismus mit einem wohlorga—
niſirten menſchlichen Staate. Die Exiſtenz
jeder geordneten ſtaatlichen Organiſation,
gleichviel ob wir Monarchie oder Republik
betrachten, beruht bekanntlich darauf, daß
die einzelnen Staatsbürger einen Theil ihrer
perſönlichen Freiheit aufgeben, ſich den Ge—
Haeckel, Das Protiſtenreich. 21
ſetzen des Staats unterwerfen und in die
Arbeit des Lebens theilen. Ebenſo genießen
auch die Zellen in jedem vielzelligen Or—
ganismus zwar bis zu einem gewiſſen
Grade ihr ſelbſtſtändiges Leben; aber ſie
ſind doch zugleich den Geſetzen des Ganzen
untergeordnet und durch die Arbeitstheilung
von einander abhängig. Wir können dieſen
politiſchen Vergleich auch noch weiter aus—
dehnen, indem wir den Pflanzen-Orga—
nismus als eine Zellen-Republik, den
Thier-Organismus dagegen als eine
Zellen-Monarchie betrachten. Denn die
Pflanzenzellen ſind durchweg ſelbſtſtändiger,
gleichartiger, unabhängiger von einander
und vom Ganzen. Die Thierzellen hin—
gegen ſind in Folge der vorgeſchrittenen
Arbeitstheilung ungleichartiger, mehr von
einander abhängig und zugleich in Folge
der ſtärkeren Centraliſation der „Staatsidee“
in höherem Maße unterworfen.
Nun lehrt uns aber ferner die Ent—
wickelungsgeſchichte, daß jedes Thier und
jede Pflanze im Beginne der individuellen
Exiſtenz eine einzige einfache Zelle iſt. Das
Ei, aus dem ſich jedes Thier, eine jede
Pflanze entwickelt, iſt weiter nichts als eine
Zelle. Das iſt eine der bedeutungsvollſten
Thatſachen. Denn das ganze Problem der
individuellen Entwickelung löſt ſich demnach
in die Frage auf: Wie kann der vielzellige
Organismus mit allen ſeinen verſchiedenen
Organen aus einer einzigen Zelle entſtehen?
Und die Antwort hierauf lautet höchſt ein—
fach: „Durch wiederholte Theilung entſteht
aus der einfachen Zelle eine Zell-Gemeinde
oder Aſſociation, eine Geſellſchaft von zahl—
reichen gleichartigen Zellen; dieſe werden durch
Arbeitstheilung ungleichartig und ordnen
ſich nach den Geſetzen der Vererbung und
Anpaſſung zu einer centraliſirten Einheit.
Wie verhalten ſich nun unſere kleinen
Protiſten zu dieſen höchſt wichtigen That—
ſachen und zu der darauf gegründeten Zel—
4
lentheorie? Iſt auch ihr winziger Leib aus
vielen und ungleichartig entwickelten Zellen
zuſammengeſetzt? Findet ſich auch in ihrem
Organismus jene Arbeitstheilung der aſſo—
ciirten Zellen, durch welche die verſchiedenen
Gewebe und Or gane entſtehen? Das
Mikroſkop antwortet uns: Nein! Biel
mehr iſt bei den meiſten Protiſten der ganze
Körper zeitlebens nur eine einzige
Zelle. Aber auch bei jenen Protiſten,
welche in entwickeltem Zuſtande vielzellig
ſind, finden wir niemals wahre Gewebe
und Organe, niemals jene eigenthümliche
Arbeitstheilung und Anordnung der Zellen,
welche den wahren Thierkörper und den
wahren Pflanzenkörper auszeichnet. Denn
hier beherrſcht immer die Geſammtform des
Körpers die ganze Anordnung und Bild—
ung der Zellen, ihre Verbindung zu den
Geweben und Organen, aus denen er zu—
ſammengeſetzt iſt. Bei den vielzelligen Pro—
tiſten hingegen bewahren die geſellig ver—
bundenen Zellen ſtets mehr oder weniger
ihre Selbſtſtändigkeit; ſie bilden immer
nur ſehr lockere Geſellſchaften, ſociale Ver—
bände ohne Arbeitstheilung, die nicht als
centraliſirte Staaten anerkannt werden können.
Wenn wir vorher den Organismus des
Thieres wie der Pflanze einem wohlorga—
niſirten Culturſtaate verglichen, fo können
wir dagegen die lockeren Zellenhaufen der
vielzelligen Protiſten höchſtens mit den
rohen Horden der uncultivirten Natur—
völker vergleichen. Die meiſten Protiſten
bringen es aber, wie geſagt, nicht einmal
zur Bildung ſolcher Zellen-Horden,
zu dieſer niedrigſten Stufe der Aſſociation;
ſie ziehen es vor, als Einſiedler für ſich
zu leben und ihre volle Selbſtändigkeit
in jeder Beziehung zu bewahren. Die
meiſten Protiſten bleiben zeitlebens einfache,
iſolirte Zellen, ſie leben als Zellen-Ein—
ſiedler.
(Fortſetzung folgt.)
— GM2— X
\ 2 ein
Zur Phyfiotonie Aengeborener,
Von
3. Dreyer.
der Lebensäußerungen unent—
wickelter, wachſender Organe
40 und der Zuſammenwirkungen
> I noch nicht ausgebildeter Organ—
complexe iſt trotz der günſtigſten Gelegen—
heiten zu Beobachtungen und Experimenten,
trotz eines überreichen Arbeitsmaterials und
I.
der faſt ſicheren Ausſicht, weſentliche Fort-
ſchritte in verhältnißmäßig kurzer Zeit an—
zubahnen, doch nur von wenigen Forſchern
bis jetzt in Angriff genommen worden.
Das alltägliche Unbegreifliche wird bald
ſelbſtverſtändlich, das heißt: man läßt es
als unverſtändlich auf ſich beruhen. Man
begnügt ſich z. B. mit dem intellectuellen
Genuß, die zunehmende Geſchicklichkeit und
Klugheit des Kindes zu conſtatiren, ohne
wiſſenſchaftliche Verwerthung ſolcher Wahr—
nehmungen. Ja, vor nicht langer Zeit
konnte, wer ſich damit abgab, triviale
Dinge, wie das Verhalten der Säuglinge
und die Sprünge neugeborener Thiere zu
beſchreiben, Gefahr laufen, etwas ganz an—
deres als Dank und Anerkennung zu ernten.
ie Entſtehung und Entfaltung | Man überſchätzte die traditionellen Specu—
culationen und begnügte ſich mit Vermuth—
ungen.
Heute iſt es anders. Durch Darwin's
großes Werk von 1859 wurde zwar bis
jetzt mehr die Erforſchung der morpholo—
giſchen Entwickelung, als die der keines—
wegs mit ihr parallelen funktionellen Ent—
wickelung gefördert. Aber wenn auch die
ungemein fruchtbaren neuen Ideen in den
phyſiologiſchen Schulen noch nicht haben
Wurzel faſſen können, ſondern nur in
einzelnen Fällen dort mit Hochachtung er—
wähnt, aber ſelten in der Funktionenlehre wirk—
lich angewendet wurden, ſo liegt dieſes Zu—
rückbleiben der Lehre von der Entſtehung
und Entwickelung der Funktionen hinter
der Morphogeneſis jedenfalls viel mehr an
der durch große Erfolge genährten Vor—
liebe für andere Richtungen in der Phy—
ſiologie, als an einer etwaigen Unanwend—
barkeit jener Principien. Auch daß die
Phyſiologie der Gegenwart nicht immer
ihrer Aufgabe, die Funktionen zu unter—
ſuchen, ſich bewußt bleibt, mag ſchuld ſein.
.
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 23
In den meiſten neuen Lehrbüchern der
Phyſiologie findet man langathmige rein
phyſikaliſche, rein chemiſche, rein hiſtologiſche
Auseinanderſetzungen, welche ſich viel beſſer
in anderen Büchern ausnehmen, da ſie
nicht in die Phyſiologie gehören. Dagegen
vermißt man faſt überall Angaben über
die Entwickelung und Vergleichung der
Funktionen, obwohl beides recht eigentlich
phyſiologiſch iſt.
Die jetzige Generation zehrt noch an
dem Vermächtniß des großen Johannes
Müller. Aber der Bau, den er anlegte,
iſt bisher nach dieſer Seite nicht weiter
geführt worden. Lange ſchon wartet ſie auf
die ſorgfältige Behandlung und Ausführung,
welche die Elektrophyſiologie und die phy—
ſiologiſche Optik und Akuſtik gefunden haben.
Es iſt Zeit, das Material zu ſammeln.
Wenig liegt zwar vor, doch dein Anfang iſt
da. Und es lohnt wohl die Mühe, die
ſpärlichen Angaben zuverläſſiger Beobachter
zuſammenzufaſſen.
Vorträgen ihn gern erörtert, und will im
Folgenden in loſer Aneinanderreihung einige
der Natur der Sache nach fragmentariſche
Beobachtungen, zunächſt über die Sinnes-
thätigkeit Neugeborener, mittheilen.
Die anſpruchloſen Notizen ſollen ganz
und gar nicht abſchließender Art ſein, ſon—
dern vielmehr zur Mittheilung weiterer
Thatſachen anregen.
1. Ueber das Hören Ueugeborener.
Eine Prüfung des Hörvermögens neu—
geborener Säugethiere hat mir die über—
raſchende Thatſache ergeben, daß die Meer-
ſchweinchen (Cavia cobaya) in dieſer Bezieh-
ung die erſte Stelle einnehmen, während
an die Seite zu ſtellen wüßte.
Ich habe ſeit Jahren dieſem Gegen-
ſtande meine Aufmerkſamkeit zugewendet, in
das menſchliche Neugeborene in den erſten
Stunden nach der Geburt taub iſt, wenig—
ſtens nicht auf Schallreize reagirt.
Sechs noch nicht einen halben Tag
alte Meerſchweinchen gaben durch Beweg—
ungen der Ohrmuſcheln unzweideutig zu
erkennen, daß ſie alle Töne hören von
1000 bis 40000 Doppelſchwingungen in
der Secunde, der höchſten bis jetzt erzielten
Zahl. Denn es wurden jedesmal, wenn
ich, den Thieren ſelbſt unſichtbar, in ge—
räuſchloſer Umgebung eine meiner 40 kleinen
Stimmgabeln jenes Intervalls anſtrich (vom
dreigeſtrichenen e bis zum achtgeſtrichenen e),
unmittelbar darauf die Ohrmuſcheln voll-
kommen ſynchron bewegt, entweder nieder—
gedrückt oder nur gefaltet, und bei ſtarken
Tönen fuhren die Thierchen jedesmal zu—
ſammen. Mit einer ſolchen maſchinen—
mäßigen Sicherheit tritt die Reflexbewegung,
die Contraktion der Ohrmuſcheln, ein, daß
ich keine zweite bezüglich der Präciſion ihr
Bei er⸗
wachſenen Meerſchweinchen iſt der Gehör—
reflex gleichfalls bei allen Stimmgabeltönen
von 1000 an bis zu den höchſten leicht
zu conſtatiren, aber bisweilen, namentlich
nach häufiger Wiederholung des Verſuchs,
ſehr ſchwach.
Das Verhalten gegen tiefere Töne iſt
nicht ſo leicht zu ermitteln.
Dagegen ließ ſich ſofort feſtſtellen, daß
alle geſunden neugeborenen Meerſchweinchen
am erſten Tage auf die mannigfaltigſten
lauten und leiſen Geräuſche, z. B.
Händeklatſchen, durch eine Zuckung des
ganzen Körpers, manchmal ſogar anfangs
durch einen Sprung und Flucht, ant⸗
worteten.
Wie fein ihr Gehör für geringe In—
tenſitäten iſt, beweiſt der folgende Ver—
ſuch, den ich mit drei Thieren am erſten
CCC
24 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. |
Tage ihres Lebens anftellte. Sie wurden auf die
Dielen des Zimmers geſetzt, jedes zwei Meter
vom andern entfernt, und in die Mitte des
ſo gebildeten Dreiecks ſetzte ich die Mutter,
welche ſeit zwei Stunden von den Jungen
entfernt geweſen war. Die letzteren liefen
nun nach verſchiedenen Richtungen offenbar
direktionslos ſogleich fort, als wenn die
Mutter nicht dageweſen wäre. Sie begaben
ſich in die Ecken des geräumigen Zimmers
und blieben dort ſitzen. Wieder auf ihren
früheren Platz geſetzt, wiederholten ſie immer
wieder dieſes Manöver, zuerſt an die Wand,
dann dieſer entlang laufend, bis ſie in eine
Ecke gelangten. Das Laufen war in An—
betracht des Alters von weniger als 15
Stunden ungemein ſchnell und ſicher. Auch
ſonſt iſt die Erhaltung des Gleichgewichts
bemerkenswerth, indem die Thierchen, wenn
ich ſie fallen ließ oder hinwarf, immer auf
ihre Füße zu ſtehen kamen. Alſo zum
Balanciren brauchten ſie ihre Aufmerkſam—
keit nicht. Aber ihre Mutter berückſichtig—
ten ſie auch nach 12 Minuten nicht. Selbſt
als ich ein Junges einen Meter vor die
Alte ſetzte, lief es eiligſt fort, ein anderes
dicht an der Mutter vorbei, das dritte
ebenſo, bis alle drei wieder in den Ecken
hockten. Was hierbei beſonders auffiel,
war die Ruhe und ſcheinbare Apathie der
Mutter. Dieſelbe behielt 13 Minuten
lang lautlos die ihr ertheilte Poſition mit—
ten im Zimmer und verrieth durch nichts,
daß ſie die um ſie herum laufenden Jun—
gen ſah oder ihr lautes Quieken hörte.
Ich hielt das Thier für erſchrocken durch
die fremdartige Umgebung. Nun ſind aber
die Meerſchweinchen kurzſichtig. Ich ſetzte
daher jetzt ein Junges der Mutter einen
halben Meter vor das Geſicht. Es blieb
einige Secunden ruhig ſitzen. Sowie es
dann Anſtalten machte, abermals fortzu—
laufen, hörte ich ein ſehr leiſes gluckſendes
Geräuſch, die Stimme des bis dahin laut—
loſen Mutterthieres. Es dauerte nur einen
Augenblick, genügte aber dem Jungen, denn
dieſes lief nun äußerſt ſchnell laut ſchreiend
geradlinig auf die Mutter zu, die ſich über
es ſtellte und eine vertheidigende und faſt
drohende Stellung einzunehmen ſchien, ſo
weit einem Meerſchweinchen ſolches zugetraut
werden darf. Mit den beiden anderen
Jungen verlief das Experiment genau eben
ſo. Die Mutter befand ſich immer noch —
im Ganzen 23 Minuten lang — auf dem—
ſelben Platze. Ich trennte ſie jetzt von den
Jungen und bemerkte, daß ſie in ihrem
Behälter mit großem Eifer alles Heu und
ſonſtige Futter durchwühlte, dabei fort—
während den gluckſenden Laut ertönen laſſend.
Offenbar ſuchte das Thier die Jungen und
rief ſie zu ſich wie vorhin. Das vergeb—
liche Suchen und Rufen ließ jedoch nach
einigen Minuten nach und das Thier fing
nun an zu freſſen. Die Jungen quiekten
zwar gleichfalls in ihrem Behälter, aber
durchaus nicht ſo, daß man hätte auf eine
Beantwortung der Locklaute ſchließen können.
Sie wurden von jetzt an außer Hörweite
gebracht. Drei Tage dauerte dieſe völlige
Trennung. Die Jungen erhielten Kuh—
milch, fraßen und nagten aber ſchon vom
erſten Tage an friſch geſchnittenes Gras,
den einzelnen Halm geſchickt mit den Zähnen
zerkleinernd und in den Mund ziehend.
Anfangs des vierten Tages ſeit dem Ver—
ſuche wiederholte ich ihn, jetzt aber mit an—
derem Erfolge. Die Mutter blieb diesmal
29 Minuten mitten im Zimmer auf dem
Boden ſitzen. Zwei von den Jungen, die
ich einen. Meter vor ſie hinſetzte, liefen an
ihr vorbei in ihre Ecken zurück, aber nach
9 Minuten fand eine Begegnung beider
ſtatt, indem eines ſeine Ecke verließ und
in der Richtung, aus der die Stimme des
andern kam, quer durch das Zimmer auf
dieſes zueilte. Als es ihm ſchreiend auf
etwa einen halben Meter nahe gekommen
war, lief letzteres ihm entgegen, und nun
blieben die beiden Thierchen vereinigt, eines
oft über das andere hinkriechend oder um
es herumlaufend. Während deſſen ſetzte ich
das dritte Junge einen Meter vor das
Geſicht der Alten; es lief aber wieder fort.
Als ich es einen halben Meter vor die
Mutter ſetzte, machte dieſe eine Kopfbeweg—
ung, ich hörte wieder den Locklaut ſehr
deutlich, aber das Junge hörte und ſah
die Mutter nicht. Es lief fort. Es hatte
die Stimme der Mutter wahrſcheinlich ver—
geſſen. Dagegen wurde bald ſeine Auf—
merkſamkeit offenbar den Stimmen ſeiner
zwei Geſchwiſter, mit denen es drei Tage
zuſammen geweſen war, zugewendet. Elf
Minuten nach der Vereinigung der letzteren
kamen alle drei Junge, offenbar nur durch
ihre Stimme geleitet, zuſammen, freilich
nach langen Irrfahrten. Sie blieben gegen
neun Minuten vereinigt. Da endlich ſetzt
ſich die Mutter, deren Blick eine gewiſſe
Spannung zu bekunden ſcheint, in Beweg—
ung. Sie läuft mit großer Haſt, ſo ſchnell
ein Meerſchweinchen laufen kann, nicht ge—
nau in der Richtung, aus der die Stim—
men ihrer Jungen ertönen, ſondern ſchnur—
gerade gegen die Wand und dann ohne
Aufenthalt dieſer entlang direkt auf die Jungen
zu. Nun gluckſte fie, während fie ſich über
dieſelben ſtellte, wie eine Henne ſich über
die Küchlein ſtellt. Ich konnte aber die
Jungen nicht mehr zum Saugen bringen.
Sie hatten vielleicht auch dieſes ſchon ver—
geſſen. Es war wenigſtens nicht mehr er—
forderlich, ihnen künſtlich Nahrung beizu—
bringen. Ganz ähnlich wie dieſe Thiere
Kosmos, Band III. Heft 1.
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
25
gegenüber, die
waren.
Dieſe einfachen Beobachtungen zeigen,
daß die Meerſchweinchen ſchon am erſten
Tage ſehr ſcharf hören und dann ſchon
durch das Gehör die Gegenwart der Mutter
erkennen, dagegen nach 4 bis 5 Tagen noch
nicht durch das Geſicht. In Bezug auf
das Gehör iſt alſo das Meerſchweinchen
bevorzugt. Denn es hört die höchſten Töne
ſogleich, und ſchon am erſten Tage genügt
ein ſchwacher Schallreiz, eine Reihe coordi—
nirter Muskelbewegungen zu veranlaſſen,
nämlich die geradlinige Fortbewegung zur
Schallquelle (der Mutter), alſo wird auch
die Richtung, aus der der Schall kommt,
percipirt. Vielleicht hängt der erſtere Vor⸗
zug damit zuſammen, daß die Schnecke,
welche die Endigungen der tonempfindenden
Nervenfaſern enthält, bei den Cavien vier
Windungen aufweiſt, während die Mehr-
zahl der Säugethiere weniger beſitzt. Jeden—
falls iſt bezüglich des Gehörs das neuge—
borene Meerſchweinchen dem neugeborenen
Menſchen ſehr erheblich überlegen.
Profeſſor Kuß maul“) bemerkt, man
könne vor den Ohren wachender neugebore—
ner Menſchenkinder in den erſten Tagen die
ſtärkſten disharmoniſchen Geräuſche machen,
ohne daß ſie davon berührt würden. Zahl—
reiche Verſuche, die er in dieſer Richtung
anſtellte, hatten nur einen negativen Erfolg.
Dieſe Angaben treffen jedoch nicht für alle
neugeborenen Kinder zu. Viele ſind ſehr
empfindlich gegen Schallreize, denn fein Aſſi—
ſtent überzeugte ſich einige Male mit Be—
ſtimmtheit, wie er ſelbſt mittheilt, daß
ſchlafende Kinder — allerdings war das
jüngſte ſchon drei Tage alt — im Bett zus
ſammenfuhren, wenn er unter dem Bett bei
ebenſo placirt worden
) Ueber das Seelenleben des neugebore—
nen Menſchen. 1859.
verhielten ſich drei andere ihrer Mutter
|
26
tiefer Stille plötzlich ſtark in die Hände klaſchte.
Außerdem hat Dr. Genzmer!) ſich da—
von überzeugt, daß Kinder ſchon vom erſten
oder höchſtens zweiten Lebenstage an für
Gehörreize empfänglich ſind. Er ermittelte
die größten Entfernungen, in welchen Säug—
linge beim Anſchlagen einer kleinen Glocke,
das immer gleichmäßig geſchah, mit den
Augenlidern zuckten. Es ergab ſich, daß
der Gehörſinn bei Neugeborenen ſehr un—
gleich entwickelt iſt und innerhalb der erſten
Wochen ſich verfeinert. Als durchſchnittliche
Entfernung, in welcher das Anſchlagen der
Glocke gehört wurde, ergaben ſich 8 bis
10 Zoll, doch ſchwankten die Zahlen zwi—
ſchen 1 und 20. In einem Falle war
die Diſtanz am erſten Tage 8, am ſechſten
18, am 24. Tage 24 Zoll; in einem an⸗
deren wären die Gehörreflexe am erſten
Tage inconſtant, am achten Tage traten
ſie bei 5, am 24. bei 11 Zoll Abſtand
der Glocke ein. Man ſieht aus dieſen
Zahlen, wie ungleich der Fortſchritt iſt.
Da aber das Zucken mit den Augenlidern
nicht ausſchließlich durch Schallreize bewirkt
und durchaus nicht jeder Schallreiz mit
Zucken der Augenlider beantwortet wird,
jo iſt dieſe ganze, auf nur 30 Beobachtun⸗
gen an 15 Kindern beſchränkte Verſuchs—
reihe unſicher.
Wurde die Glocke bei gut hörenden
Kindern ſehr nahe am Ohre leiſe ange—
nach derſelben Seite; waren ſie mit Saugen
keit.
machte ſie unruhig. Ich habe gleichfalls
bemerkt, daß Säuglinge durch ſtarke Schall—
reize, gerade wie neugeborene Thiere, in
) Ueber die Sinneswahrnehmungen des
neugeborenen Menſchen. Snaug.-Difjertation.
Halle 1873. |
\ — 8
ſchlagen, ſo wendeten ſie bisweilen den Kopf
|
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
große Unruhe verſetzt werden, z. B. bewirkt
der ſchrille Pfiff einer nahen Locomotive
leicht anhaltende lebhafte Bewegungen und
heftiges Schreien des vorher ganz ruhigen
Kindes.
Aber inſofern ſtimmen meine Beobadt-
ungen an menſchlichen Neugeborenen mit
denen Kußmaul's überein, als innerhalb
der erſten Stunden nach der Geburt die—
ſelben gegen Schallreize der verſchiedenſten
Art ſich völlig indifferent verhalten. Weder
| ſtarkes Händeklatſchen dicht am Ohr, noch
Pfeifen, noch Anſchreien vermochte das
ruhende Kind im geringſten aufzuregen
oder das aufgeregte ſchreiende zu beruhigen,
während es heftig ſchrie, nachdem ihm in
das Geſicht geblaſen, oder der Schenkel ge—
ſchlagen, oder die Schläfe mit dem Finger
öfters berührt worden war. Mein Sohn,
den ich gerade in der erſten Zeit mehrmals
täglich mit Rückſicht auf das Gehör prüfte,
gab mir in zweifelhafter Weiſe in der
21. Stunde und erſt in der erſten Hälfte
des vierten Tages unzweifelhaft zu erken—
nen, daß er mich hörte, indem er, wenn
er ſchrie, ſofort aufhörte zu ſchreien, wenn
ich pfiff, und wenn er ſatt und warm allem
Anſchein nach behaglich dalag, beim Pfeifen
die Augen mit einer plötzlichen Kopfbeweg⸗
ung aufſchlug. Da dieſer Erfolg, bei öfte—
rer Wiederholung am vierten Tage jedes—
mal eintrat, am dritten Tage jedoch nicht,
ſo iſt nicht zu zweifeln, daß vermittelſt des
Trommelfells in dieſem Falle am vierten
beſchäftigt, ſo unterbrachen ſie ihre Thätig— |
Sehr heftiges Anſchlagen der Glocke
Tage der Schall empfunden wurde, vorher
aber wahrſcheinlich nicht.
Ob dieſe Taubheit völlig ausgetragener
(3 und über 4 Kilo ſchwerer) Neugeborener
durch die wegen Mangels an Luft in der
Paukenhöhle geringere Beweglichkeit der Ge—
hörknöchelchen bedingt oder auf das innere
Ohr zu ſchieben iſt, muß noch entſchieden
werden. Wenn eine vorſichtig auf den Kopf
geſetzte ſchwingende Stimmgabel keine an—
dere Reaktion, als eine ebenſo aufgeſetzte
ruhende Stimmgabel beim Neugeborenen
hervorruft, ſo würde man wohl auf eine
Betheiligung des inneren Ohres bei der
Taubheit der Neugeborenen ſchließen dür—
fen. Solche Verſuche müſſen aber an vielen
Individuen angeſtellt werden. Dagegen iſt
gewiß, daß am vierten, und wahrſcheinlich,
daß am zweiten und dritten Tage viele ge—
ſunde Kinder Schallempfindungen haben,
denn ſie werden dann öfters, wenn ſie
ſchreien, durch akuſtiſche Reize, z. B. Pfeifen,
beruhigt.
Das eben ausgeſchlüpfte Hühnchen hört
gut, da es bald nach dem Verlaſſen der
Eiſchale dem Glucken der Henne folgt.
Entſprechendes gilt für neugeborene Schweine.
Spalding Douglas beobachtete nicht
nur, daß kräftige Ferkel ſich erheben und
der Zitze nachgehen, ſogleich oder innerhalb
einer Minute nach ihrem Eintritte in die
Welt, ſondern auch, daß ſie, in einem Alter
von nur wenigen Minuten, wenn ſie in
eine Entfernung von mehreren Fuß von
dem Mutterthier gebracht werden, den
Rückweg bald finden, offenbar durch das
Grunzen deſſelben geleitet, welches ihr
Quieken beantwortet. Die Sau erhob
ſich in dem einen beobachteten Falle in
weniger als anderthalb Stunden nach dem
Wurf und ging fort, um zu freſſen; die
Ferkel liefen umher und verſuchten allerlei
Stoffe zu freſſen, folgten ihrer Mutter und
ſaugten, während ſie ſtehend fraß. Eines
der Jungen ward unmittelbar nach ſeiner
Geburt in einen Sack gebracht und im
Dunkeln gehalten, bis es ſieben Stunden
alt war. Hierauf ward es außerhalb des
Stalles zehn Fuß von der Stelle hinge—
ſetzt, wo im Innern deſſelben die Sau
Preyer, Zur Phyſiologie Neug eborener.
27
verborgen lag. Das Junge „erkannte“
bald das leiſe Grunzen ſeiner Mutter und
bemühte ſich längs der Außenwand, über
oder unter den unterſten Balken zu gelan-
gen. Nach fünf Minuten glückte es ihm,
unter demſelben ſich durchzuzwängen an
einer der wenigen Stellen, wo dieſes mög—
lich war. Eben durchgeſchlüpft, begab es
ſich ohne Pauſe in den Stall zur Mutter
und benahm ſich ſogleich wie die übrigen
Ferkel. Daß bei dieſer Entdeckungsreiſe
die durch das Grunzen bedingte Schall—
empfindung dem erſt ſeit fünf Minuten
dem Lichte ausgeſetzten Thiere für die ein-
zuſchlagende Richtung beſtimmend war, iſt
nicht zu bezweifeln.
Aus den obigen Angaben folgt, daß
viele neugeborene Thiere ſogleich oder am
erſten Tage gut hören. In der That lehrt
auch ſchon eine einfache Ueberlegung, daß
der Fötus mehrfache Gelegenheit hat, ſchon
vor der Geburt ſein Gehörorgan zu üben,
freilich nur unter der Vorausſetzung, daß
er nicht ununterbrochen bis zur Geburt
feſt ſchläft, ſondern, wofür ſchon feine Be-
wegungen ſprechen, empfinden kann.
Eine häufige Erregung des Hörnerven
iſt ſchon intra-uterin unvermeidlich; und daß
auch leiſe ſchlafende Säuglinge auf akuſtiſche
Reize reagiren, wurde ſchon oben mitgetheilt.
Die intrasuterin wahrnehmbaren Geräuſche,
um die es ſich handelt, ſind mannigfaltig
und wechſelnd. Sie ſtammen theils von
dem mütterlichen Körper, theils vom füta-
len. Zu jenen gehören der Puls der
Aorta, die fortgeleiteten Herztöne der
Mutter, das Uteringeräuſch, ferner Darm-
geräuſche durch Gasentwickelung und peri—
ſtaltiſche Bewegungen, vielleicht auch Muskel—
geräuſche. Zu dieſen ſind zu rechnen die
fötalen Herztöne, das Nabelſchnurgeräuſch,
die ſonderbaren abgebrochenen Geräuſche bei
28 | Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
den Bewegungen der Frucht (möglicher—
weiſe auch ſchon Muskelgeräuſche und Plät—
ſchern). Alſo Gelegenheit iſt reichlich ge—
geben, auch wenn die Stimme der Mutter
ungehört bleiben ſollte, wie der Schall
außerhalb des mütterlichen Organismus.
Es iſt aber möglich, daß die Frucht ſchon
vor der Geburt die Stimme der Mutter
hört, wie auch andere Schallgeräuſche, wenn
dieſelben nur ſtark genug und nahe genug
wirken. So gut man mit dem auf die
äußere Haut gelegten Ohr oder mit dem
Stethoſkop die Herztöne des Kindes vor der
Geburt deſſelben hören kann, wird auch
das Kind einen Schall an der äußeren
Haut hören können, wenn er laut genug
iſt. Was in der einen Richtung gehört
wird, wird auch in der anderen Richtung
gehört werden können. Im Waſſer hört
man beſſer, was an der Oberfläche und
am Boden, alſo einer Wand des Waſſer—
reſervoirs, in dem man ſich befindet, ertönt,
als in der Luft, was im Waſſer ertönt.
Das nahezu reife, ungeborene, vom Frucht—
waſſer umgebene Kind befindet ſich jeden—
falls durchaus nicht unter ſehr ungünſtigen
Umſtänden bezüglich der Hörbarkeit von Ge—
räuſchen im mütterlichen Körper. Unter den
Klängen und Geräuſchen, die es am häufigſten
zu hören Gelegenheit hat, nimmt aber die
Stimme der Mutter die erſte Stelle ein.
Ich halte es für wahrſcheinlich, daß die
erſtaunliche Anziehungskraft, welche bei ſehr
verſchiedenen Thieren der Lockruf der Mut—
ter für die Neugeborenen ſchon am erſten
Tage hat, eben daher rührt, daß dieſer
Laut ihnen etwas bekanntes iſt, indem ſie
ihn ſchon vor der Geburt gehört haben
können. Bei Meerſchweinchenmüttern we—
nigſtens habe ich auch vor dem Werfen
das Gluckſen und Schnurren oft gehört,
welches die Jungen gleich am erſten Tage
veranlaßt, ſich ſchleunigſt zu ihr hin zu be—
geben, wenn ſie nicht zu lange von ihr ge—
trennt worden waren. Es iſt auch mög—
lich, daß durch Reſonanz die Stimme der
Mutter verſtärkt wird, ſo daß die reifere
Frucht ſie, auch wenn ſie leiſe iſt, hören
kann. Denn obgleich die Bedingungen,
unter welchen bezüglich der Schallleitung
und Reſonanz der Fötus im Uterus ſich
befindet, noch nicht näher analyſirt worden
ſind, ſo kann man doch aus den vorliegen—
den Experimenten, wie fie zuerſt Johan—
nes Müller anſtellte, um über das
Hören im Waſſer lebender Thiere Aufſchluß
zu erhalten, ſchließen, daß für manche Schall—
arten eine Verſtärkung durch Reſonanz im
Uterus wohl ſtattfinden kann. Immerhin
ſind die Bedingungen zur Erregung
des Hörnerven erfüllt. Sogar eine
ſubjektive Erregung deſſelben kann ſchon
intra-uterin ſtattfinden durch den Blutſtrom
und Spannungsänderungen der ſchnell
wachſenden Gewebe. Aber ſolches durch
mechaniſche Reizung veranlaßtes ſubjektives
Ohrenbrauſen wäre von ſehr untergeordne—
ter Bedeutung gegenüber den erörterten
objektiven Schallreizen, wenn auch die Er—
regbarkeit des Hörnerven vor der Geburt
noch ſo groß iſt. Hiernach iſt die ſchon
von Anderen aufgeworfene Frage zu be—
jahen: Ob die Annahme berechtigt ſei,
daß der Fötus einige intra-uterine Geräuſche
hören könne.
Daß ſämmtliche Vögel durch die Ei—
ſchale hindurch vor dem Ausſchlüpfen vieles
hören können, zumal die Stimme der Henne,
iſt nicht zu bezweifeln, falls ſie nicht bis
zum Aufbrechen ihres Gefängniſſes ohne
Unterbrechung feſt ſchlafen.
Bei allen derartigen Betrachtungen iſt
die Frage, was beim Neugeborenen die
Paukenhöhle erfüllt, nicht von weſentlichem
5
Belang. Denn auch wenn vom Trommel—
fell aus, wie es für den Menſchen höchſt
wahrſcheinlich iſt, keine Schallſchwingungen
vermittelſt der Gehörknöchelchen und des
ovalen Fenſters vor der Geburt auf das
Labyrinthwaſſer übertragen werden ſollten,
ſo iſt die Schallleitung durch die Kopftheile
doch unbehindert. Ich habe mich ſelbſt
davon überzeugt, daß man unter Waſſer
das Aneinanderſchlagen zweier Steine auf
dem Boden mit feſt zugehaltenen Ohren
durchaus nicht ſchlechter hört, als mit offe—
nen Ohren. Iſt aber der Kopf über
Waſſer, ſo hört man die Steine nicht.
Demnach wird der Fötus im amniotiſchen
Waſſer genügend nahe und ſtarke Geräuſche
im mütterlichen Körper, auch wenn das
Trommelfell gar nicht ſchwingt, durch die
Leitung ſeitens der Kopftheile wohl hören
können.
2. Ueber das Sehen Weugeborener.
Alle Säugethiere ſind vor der Geburt
ohne Unterbrechung in einen dunkeln Raum
eingeſchloſſen und höchſt wahrſcheinlich wer—
den ihre Augen während der ganzen Zeit
nicht einmal geöffnet. Bei ſehr vielen
bleiben bekanntlich die Augen ſogar viele
Tage nach der Geburt noch feſt geſchloſſen,
z. B. bei Hunden, Katzen, Kaninchen, Mäu—
ſen. Es iſt jedenfalls ſicher, daß die
Säugethiere vor der Geburt durchaus keine
Gelegenheit haben, irgend einen Gegenſtand
durch den Geſichtsſinn wahrzunehmen. Sie
können überhaupt nicht, ſelbſt wenn ſie im
Uterus die Augen aufmachten, durch Licht⸗
ſtrahlen eine Erregung der Sehnerven er—
fahren. Es muß alſo gleich nach der Ge—
burt, wenn dieſelbe nicht in einem völlig
dunkeln Raume ſtattfindet, das Kind wie
die meiſten Säugethiere beim erſten Oeff-
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
29
nen des Auges durch eine ganz neue Em—
pfindung überraſcht werden. Auch die
blindgeborenen Säugethiere müſſen dieſe
Veränderung ſpüren, falls durch das Augen—
lid etwas Licht dringt, was vor der Ge—
burt nicht geſchehen konnte. Für ſolche
Vögel, die in offenen, dem Tageslicht aus—
geſetzten Neſtern brüten, iſt es dagegen nicht
ſicher, ob nicht das Junge ſchon kurz vor
dem Sprengen der Eiſchale eine Lichtempfind—
ung durch objektives Licht haben kann.
Wenn nun auch durch dieſe Thatſachen
feſtſteht, daß ein Sehen und eine Erregung
des Sehnerven durch objektives Licht beim
Säugethier erſt nach der Geburt ſtatt hat,
ſo iſt doch damit keineswegs geſagt, daß
bei ihm überhaupt alle und jede Lichtem—
pfindung vor der Geburt fehlte. Denn es
kann die Netzhaut auch durch Druck und
Zerrungen, namentlich durch Augenbeweg—
ungen, Aenderungen des intraocularen
Druckes und plötzlich vermehrte oder ver—
minderte Blutzufuhr in Thätigkeit gerathen.
Die Lichtempfindungen, welche auf ſolche
mechaniſche Reizungen folgen, ſind bei Er—
wachſenen mannigfaltiger Art und haben
verſchiedene Namen, wie z. B. das Drud-
phosphen, welches durch Drücken des Augen—
winkels mit dem Fingernagel bei geſchloſ—
ſenem Auge entſteht, das Funkenſehen, das
Lichtchaos. Nicht der mindeſte Grund iſt,
vorhanden, weshalb der reifere Fötus mit
ſeiner durch die lange Ruhe ungemein er—
regbaren Netzhaut nicht dann und wann
eine ſolche ſubjektive Lichtempfindung haben
ſollte. Sein Geſichtsfeld iſt, wenn er nicht
ſchläft, ſchwarz. Dieſe Schwärze ſelbſt iſt ſchon
eine Empfindung, die durch eine geringe
Erregung der Sehnervenfaſern bedingt iſt,
und wechſelt von der tiefſten Finſterniß bis
zu Grau. In dem ſchwarzen Felde können
die ſubjektiven Lichterſcheinungen ſchon vor
30
der Geburt auftreten. Aber mag auch die—
ſen Empfindungen der größte Spielraum
gewährt fein, fie find gänzlich verſchieden
von denen nach dem erſten Eindringen des
Tageslichts in das Auge des eben Gebore- |
nen und ſehr viel ſchwächer als dieſe.
Darum iſt es jedoch keineswegs überflüſſig,
auf ihre mögliche Exiſtenz hinzuweiſen, weil
dadurch auch für dieſen Sinn eine Art
Continuität vor und nach der Geburt dar—
gethan wird.
Bei allen ausgetragenen Kindern reagirt
die Pupille ſchon in den erſten Stunden
auf Licht. Sie verengt ſich ſtark bei An-
näherung an die Lichtquelle, und erweitert
ſich bei Abwendung von derſelben wie bei
Erwachſenen. Dieſes conſtatirte Genzmer
auch bei einem im 8. Fruchtmonat gebore—
nen Kinde. Ich ſah auch bei Meerſchwein—
chen am erſten Tage die dunkelbraune Iris,
wenn Licht einfiel, ſich verbreitern, d. h.
die Pupille verengte ſich bedeutend, und
ſie erweiterte ſich ſogleich beim Beſchatten
des Auges wieder. Die jungen Meer—
ſchweinchen ſuchen ſchon am erſten Tage,
ſich ſelbſt überlaſſen, dunkle Ecken zu er
reichen. Helles Licht iſt ihnen offenbar un—
angenehm.
Kußmaul meint dagegen, ſchon zwei
Monate vor dem gewöhnlichen Termin ge—
borene Kinder ſuchten das Licht, und einen
Tag nach der Geburt veranlaſſe ſchon bis—
weilen mäßiges Licht ein Luſtgefühl. Er
ſah wenigſtens in einem ſolchen Fall das
Kind am zweiten Tage Abends in der
Dämmerung den vom Fenſter abgewende—
ten Kopf auch bei veränderter Lage wieder—
holt dem Fenſter und Lichte zuwenden.
Bei anderen Siebenmonatkindern wurde
derartiges nicht wahrgenommen.
| Genzmer beſtätigt dieſen Befund und
. es könne in dem Suchen des Lichtes
Licht in das Auge fiel.
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
der Anfang einer auf reflektoriſchem Wege
zu Stande kommenden Fixation liegen.
Wahrſcheinlicher iſt aber die Annahme, daß
die mäßige Erregung der Netzhaut des Neu—
geborenen allerdings ein Luſtgefühl bedingt,
denn ich ſah ein Kind innerhalb der erſten
fünf Minuten nach der Geburt, als ich es
mit dem Geſicht gegen ein Fenſter im
Zwielicht hielt, wiederholt die Augen öffnen
und ſchließen, und zwar nicht beide Augen
gleichzeitig und nicht beide gleich weit.
Manchmal war die Lidſpalte 5 Millimeter
breit. Hierbei ſchrie das Kind nicht. Gegen
Ende des erſten Lebenstages hielt es beide
Augen weit offen dem Dämmerlicht zuge—
wendet und bewegte die Augen lebhaft mit
einem Mienenſpiel, das ſehr wohl für den
Ausdruck eines Luſtgefühls gelten konnte,
denn es veränderte ſich plötzlich, als ich
das Geſicht beſchattete.
Auch operirte Blindgeborene (3. B. der
von Everard Home)) freuen ſich über
das erſte Licht. Durch ihre Neuheit feſſelt
die Lichtempfindung, welche nicht blendet
d. h. ſchmerzt, das Kind, ſo daß es ſich
bewegt, wenn die Empfindung fortfällt.
Die Erregbarkeit des Sehnerven muß
unmittelbar nach der Geburt, alſo nach
einer ſehr langen Ruhe, eine ganz außer-
ordentliche fein. Schon daraus möchten,
dieſes hervorgehen, daß Neugeborene im
Tageslicht ihre Augen, wie ich oft wahr-
nahm, zukneifen, und ſogar ſchon mehrere
Tage alte, ſchlafende Kinder die Lider
ſtark zuſammenkneifen, zuſammenfahren
) Philos. Transact. London, 1807. J.
S. 87: Er freute ſich ungemein über das
Sehen und fand es „ſo hübſch“, auch wenn
kein Gegenſtand dicht vor ihm ſtand und nur
Der Knabe empfand
ein ſolches Vergnügen am Sehen (am Lichte),
daß er den Verband ſogleich beſeitigte.
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
und erwachen, wenn man ein helles
Lampenlicht dem Auge ſchnell nahe bringt.
Hier genügt alſo das durch die Augen—
lider fallende Licht von der Farbe des
Blutes zur Reflexbewegung und zum
Wecken, wenn das Licht geräuſchlos nahe
kommt. Ferner werden manche Neugeborene
durch plötzliche grelle Beleuchtung oder
ſchnell wechſelndes blendendes Licht zu all—
gemeiner Unruhe oder zum Schreien ge—
bracht, wie Genzmer fand und ich be—
ſtätigen kann. 0
Bei einer ſolchen Empfindlichkeit der
Netzhaut iſt es nicht möglich, daß das
Neugeborene in der allererſten Zeit irgend—
welchen hellen Gegenſtand deutlich ſieht.
Wenn der Erwachſene nach ſtundenlangem
Aufenthalt im Dunkeln plötzlich in einen
hellerleuchteten Raum oder in den Sonnen—
ſchein gelangt, jo ſteht er geblendet da, er—
kennt nichts deutlich, macht die Augen zu,
getraut ſich nicht, ſie ſogleich wieder aufzu—
machen und kann erſt nach öfteren Ver—
ſuchen mit verkleinerter und verſchmälerter
Lidſpalte blinzelnd Einzelnes deutlich ſehen.
Ganz ähnlich das Neugeborene. Es wird
geblendet vom Tageslicht, wie vom Kerzen—
und Lampenlicht. Ihm iſt ſchon das durch
die Lider bei geſchloſſener Lidſpalte ein—
dringende Licht zu ſtark. Es kneift noch
die Lider zuſammen, verträgt nur die
Dämmerung ohne Unluſt und gewöhnt
ſich erſt nach einigen Tagen an das diffuſe
Tageslicht. Dann erſt kann überhaupt
vom Beginn des Sehens die Rede ſein,
welches allemal die Exiſtenz und die Unter—
ſcheidung von Lichtempfindungen vorausſetzt.
Daß übrigens die Augen beim Neu-
geborenen ohne Rückſicht auf Licht geöffnet
und geſchloſſen werden, läßt ſich verſchie—
dentlich zeigen. Das oben erwähnte Zucken
der Lider beim Hören des Glockenſchlages
iſt ein Beweis dafür. Häufige Beobacht—
ung der Säuglinge hat mich überzeugt,
daß oftmals, wenn dieſelben angenehm
erregt zu ſein ſcheinen, die Augen weit
geöffnet werden, z. B. beim Saugen, beim
Entleeren der Blaſe. Einmal konnte ich
ſogar drei Minuten nach dem Austritt des
Kopfes in der Geburt daſſelbe wahrnehmen.
Das Kind ſchrie ſogleich, als der Kopf
geboren war. Ich führte nun einen
Finger in die Mundhöhle ein und
drückte auf die Zunge. Sofort hörte
alles Schreien auf, lebhafte Saugbewegun—
gen begannen und der bis dahin hüchſt
unzufriedene Geſichtsausdruck wurde plötz—
lich umgewandelt. Das Kind ſchien jetzt
etwas Angenehmes zu empfinden und da—
bei — während des Saugens — wurden
die Augen weit geöffnet, wie ich
es bei älteren ſaugenden Kindern oft ſah.
Beim Schreien werden die Lider dagegen
zuſammengekniffen, wie ich bei mehreren
Kindern ſchon am erſten Tage wahrnahm.
Daß dieſes Oeffnen und Schließen der
Augen bei den Gefühlen der Luſt und Un—
luſt mit dem Sehen nichts zu thun hat,
iſt klar.
Bei ſchneller Annäherung der Hand an
das offene Auge von vorn ohne Berühr—
ung wird, wie ich oft feſtſtellte, von mehr—
tägigen, ſogar achttägigen Säuglingen nie—
mals das Auge geſchloſſen wie von Er—
wachſenen. Berührte ich aber das Lid, die
Bindehaut oder Hornhaut des Auges oder
die Augenwimpern von Neugeborenen, ſo
wurde jedesmal das Auge geſchloſſen bei
Menſchen wie bei Thieren. Dieſe Reflex—
bewegung läuft unabhängig vom Sehakt
ab, ohne alle Betheiligung des Sehnerven,
während die erſtere nur zu Stande kommt
durch das Sehen der ſich nähernden Hand,
Außerdem
alſo mittelſt des Sehnerven.
32 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
erfordert fie extra-uterine Erfahrung. Denn
an ſich iſt kein Grund da, bei ſchnellerer
Annäherung eines Objekts eine Lidbeweg—
ung auszuführen, bei langſamer nicht. Es
muß erſt die Vorſtellung der Gefahr hin—
zutreten. Dieſe fehlt aber natürlich dem
neugeborenen Menſchen
Erwachſenen iſt es die Vorſtellung, daß die
Hand das Auge berühren könnte, welche
bei ſchneller Annäherung den Lidſchluß zur
Folge hat. Es iſt übrigens bemerkens—
werth, daß der reflektoriſche Lidſchluß nach
Berührung des Auges bei neugeborenen
Menſchen und Thieren nicht ſo ſchnell und
vollſtändig eintritt, wie bei Erwachſenen.
Der Reflexbogen vom Nervus trigeminus
auf den N. oculomotorius iſt alſo vor der
Geburt nicht ſo widerſtandsfrei wie der
vom Sehnerven auf den N. oculomotorius,
welcher ſich durch die Pupillenenge im
Lichte kundgiebt. Man erkennt an dieſem
Unterſchied ſehr deutlich den Unterſchied
ererbter Reflexaktionen von erworbenen
Reflexaktionen.
Die Augen bewegungen ſind in den
erſten Tagen völlig ungeordnet. Ich habe,
wie viele andere, conſtatirt, daß in den
erſten Tagen der Blick nicht der bewegten
Kerze folgt, und die Angabe Darwin's “),
der zu Folge das Kerzenlicht nicht vor
dem neunten Tage angeſtarrt wurde, iſt
öfter beſtätigt gefunden worden. Es war
gerade am neunten Tage, als mein Kind
die Kerzenflamme in einem Meter Entfern-
ung aushielt. Man muß aber hierbei un—
terſcheiden die Anſtarrung des unbewegten
Lichtes oder eines ruhenden hellen Gegen—
ſtandes und die Verfolgung eines hin- und
herbewegten Lichtes oder langſam ſchwingen—
den glänzenden Objekts mit dem Blick.
Zum erſten Anſtarren bedarf es keiner
) Kosmos, I. S. 367 flgde.
gänzlich. Beim
Kopf- und Augenbewegungen, da man nur
das helle Objekt in paſſendem Abſtande
vom offenen Auge in die Blicklinie zu
bringen hat. Der ſtarre Ausdruck des
Auges und das Aufhören der Bewegungen
oder des Schreiens verrathen dann die
Lichtempfindung. Die Perception jenes Ab—
ſtandes, d. h. die Kenntniß der dritten
Raumdimenſion, iſt aber vor dem neunten
Tage beim Menſchen noch nicht ausgebildet
und nach Jahren noch ſehr unvollkommen,
denn kleine Kinder greifen nach der ihrem
Arm unerreichbaren Lichtflamme, nach weit
entfernten Gegenſtänden. Das erſte An—
ſtarren eines hellen Gegenſtandes hört auf,
wenn derſelbe auch nur langſam bewegt
wird. Erſt jeher ſpät — bei Darwin's
Kind nach 7½ Monaten noch nicht ſicher
— wird das langſam geſchwungene Objekt
mit dem Blicke verfolgt. Doch ſah ich
ein Kind von 23 Tagen ſehr correkt das
Licht verfolgen, welches ich um es herum
bewegte. Sein Blick blieb dabei auf mich
gerichtet und es wurden ſymmetriſche Augen—
bewegungen gemacht. Hierzu iſt freilich
eine Beherrſchung der Augenmuskeln erfor—
derlich, die nur durch häufige Uebung nach
der Geburt von dem Kinde erworben wird.
Daſſelbe gilt für die Accommo—
dation. Hier iſt jedoch der Reflexvor—
gang einfacher. Denn eine Annäherung
des Lichtes bei unbewegten Augen bewirkt
Convergenz der Blicklinien bei Kindern von
zwei bis ſechs Wochen, auch Schielen, und dieſe
Convergenzſtellung ſcheint mit einer Anſpann—
ung des Ciliarmuskels verbunden zu ſein, wie
Genzmer durch Beobachtung des Linſen—
bildchens ermittelte. Er betrachtete ein Auge,
während das andere abwechſelnd beſchattet
und grell beleuchtet wurde, und ſchließt,
daß ein vorgebildeter Zuſammenhang zwi—
ſchen Convergenzſtellung und Accommoda—
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 33
tionsſpannung beſteht. In der That iſt | gen wird. Am eheſten ſcheint der Säug—
dieſe Vermuthung höchſt wahrſcheinlich. ling das Geſicht ſeiner Mutter oder Amme
Denn daß der Reflexbogen vom Sehnerven deutlich zu erkennen, indem dieſes am öfte—
auf den Nervus oculomotorius ſchon vor | ften ſich auf feiner Netzhaut abbildet und
der Geburt fertig präexiſtirt, iſt durch die ihr zugleich fo nahe iſt, daß es am häufig—
oben erwähnte Verengerung der Pupille bei ſten in deutlicher Sehweite zu liegen kom—
Beleuchtung des Auges unmittelbar nad men wird. Hierdurch wird alſo der Unter—
der Geburt bewieſen. Nun iſt aber der ſchied des verwaſchenen Netzhautbildes (ferner
zuletzt genannte Nerv, durch deſſen Erreg- und zu naher Objekte) von ſcharfen Netz—
ung die Pupille ſich verengt, zugleich der | hautbildern dem Kinde aufgedrängt. Es
Accommodationsnerv, welcher den Ciliar- müſſen die Zerſtreuungskreiſe ſich weniger
muskel beim Sehen naher Gegenſtände an- geltend machen, wenn das Mäßighelle in
ſpannt. Es begreift ſich alſo, daß beim einem gewiſſen geringen Abſtande vom Auge
Annähern eines hellen Objekts an das ſich befindet; in allen anderen Abſtänden
Auge die Accomodationsmaſchinerie in Thä- treten fie hervor.
tigkeit geräth, und zwar in dieſem Falle Bezüglich des zweiten Punktes iſt ge⸗
zum erſten Male. Ferner wird durch den- wiß, daß in den erſten Tagen oder Wochen,
ſelben Nerv, der vier von den ſechs Mus- auch wenn einmal die Zerſtreuungsbilder
keln des Auges verſorgt, die Drehung gänzlich fehlen ſollten, doch die Geſtalt des
beider Augen nach innen, d. h. die Con- Objektes nicht deutlich geſehen werden kann,
vergenzſtellung, herbeigeführt; alſo Pupillen- ſondern nur das Helle deutlich empfunden
verengerung, Accommodationsanſtrengung wird. Alle Erfahrungen an blindgeborenen
und Convergenz der Blicklinien treten zu- Menſchen, welche nach Jahren noch operirt
gleich ein, wenn dem Säugling ein Licht wurden, ſprechen dafür. Und wenn auch
genähert wird, ohne daß die geringſte | das Sehenlernen Solcher ein anderes als
Willkür oder Abſicht darin erblickt werden das Sehenlernen normaler Säuglinge iſt,
dürfte. weil durch jahrelange Ruhe der centralen
Durch das Zuſammentreffen dieſer drei [Sehſinnorgane eine theils langſamere, theils
Proceſſe, von denen nur die Pupillenver- ſchnellere funktionelle Ausbildung derſelben
engerung nicht unmittelbar gefühlt wird, wahrſcheinlich wird, ſo iſt doch gar kein
mit dem Auftreten der Empfindung des Grund vorhanden, einen durchgreifenden
Hellen wird jedenfalls das Sehenlernen weſentlichen Unterſchied beider Entwickelun—
eingeleitet. Aber weder find gleich anfangs gen des Sehakts zu ſtatuiren, wenn die
die Bedingungen für das Zuſtandekommen Operation noch im Kindesalter ausgeführt
eines ſcharfen Netzhautbildes der Flamme wird. In beiden Fällen werden unter den
gegeben, noch würde, wenn daſſelbe ent- unzähligen Netzhautbildern diejenigen mitt—
ſtände, ſogleich die Flamme deutlich geſehen lerer Helligkeit und diejenigen, deren Zer—
werden können. Denn bezüglich des erſte- ſtreuungskreiſe ein Minimum ausmachen,
ren Punktes iſt einleuchtend, daß nur ſelten vor allen anderen bevorzugt werden müſſen.
die Flamme der Kerze (oder ein beliebiges Denn die großen Helligkeiten bewirken Un—
anderes helles Objekt) gerade in die deut- luſt, wie jede zu ſtarke Nervenerregung,
liche Sehweite des kindlichen Auges gelan- und die Dunkelheit bedingt immer eine
Kosmos, Band UI. Heft 1. 5
34
ſchwächere Nervenerregung, als das Mäßig⸗
helle. Von den Bildern mittlerer Licht⸗
ſtärke wird aber dasjenige, welches ſcharf
iſt, darum vor allen anderen
weil es, abgeſehen von dem
begrenzt
beachtet,
Luſtgefühl, ſich von allen anderen unter⸗
ſcheidet leben durch ſcharfe Conturen), die
Orientirung beſſer zu Stande kommen läßt
und ſich beſſer wieder erkennen läßt. Alſo
müſſen in der Concurrenz aller Netzhaut⸗
bilder die helleren und ſchärferen ſich den
Kindern am erſten und nachhaltigſten ein⸗
prägen, und es müſſen daher die anderen
vernachläſſigt werden. Nun iſt es aber
weit gefehlt, wenn man das erſte Anftar- |
ren einer Kerzenflamme ſchon ein Fixiren
nennt, wie es gemeiniglich geſchieht. Fixiren
heißt willkürlich einen leuchtenden Punkt
auf der Stelle des deutlichſten Sehens, dem
gelben Fleck, deutlich zur Abbildung
bringen. Das Kind, welches zum erſten
Male die Kerzenflamme anſtarrt, hat aber
keine Willkür, und bei ihm iſt daher ein
Fixiren mit Abſicht nicht möglich. Viel⸗
mehr hält es das Auge, nur durch die
neue Empfindung des Lichtes gefeſſelt, in
der Richtung der ſchon in ſeiner Blicklinie
befindlichen Flamme. Wie lange es
dauert, bevor ein abſichtliches Fixiren ſtatt⸗
findet, zeigt die Thatſache, daß erſt nach
einigen Wochen der Blick dem bewegten
Lichte folgt, während das Anſtarren des
vor das Auge gehaltenen Lichtes ſchon am
neunten Tage eintritt.
Hiernach ſind die Angaben Genzmers
zu berichtigen, welcher meint, ein wahres
Minute fand es die Zitze. In beiden Fällen
Fixiren, eine Einſtellung des gelben Flecks,
könne ſchon in den erſten Lebenstagen ein⸗
Die einzige Beobachtung die er zu
treten.
Gunſten dieſer Behauptung anſtellte, iſt
dieſe: Schüttelte er einen Bund blanker
Schlüſſel etwa 15 Zoll vor den Augen
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
der Kinder, deren jüngſtes zwei Tage alt
war, ſo trat „ein deutliches Fixiren mit
parallelen Sehaxen“ ein und die Kinder
folgten durch Drehungen des Kopfes allen
Bewegungen des beſtändig geſchüttelten
Schlüſſelbundes. Offenbar handelt es ſich
hierbei um eine Luſtempfindung durch das
Geräuſch der aneinandergeſtoßenen Schlüſſel.
Das Anſtarren derſelben mit parallelen
Sehaxen iſt eine Begleiterſcheinung (S. 42),
ein Ausdruck der Luſt, und etwas ganz
anderes, als eine von dem Beobachter an⸗
genommene Einſtellung des gelben Flecks.
Die Drehungen des Kopfes wurden, we
nigſtens bei dem zweitägigen Kinde, ſchwer⸗
lich durch Aenderungen des Netzhautbildes
bedingt, denn ſie traten bei Bewegungen
|
|
|
|
|
|
|
1
|
des nicht geſchüttelten, alſo geräuſchloſen
Schlüſſelbundes nicht ein, alſo iſt es
wahrſcheinlich, daß das Kind ſich nach der
Schallquelle umwendet, wie oben nach der
Glocke (S. 37).
Viele neugeborene Thiere haben freilich
ſchon in den erſten Lebensſtunden die Fähig⸗
keit, nicht nur den Kopf, ſondern den gan⸗
zen Körper nach einem Geſichtseindruck in
Bewegung zu ſetzen, z. B. die jungen
Schweine. Spalding verband zwei eben
geborenen Ferkeln die Augen. Das eine
wurde ſogleich zur Mutter gebracht: es fand
bald die Zitzen und begann zu ſaugen.
Sechs Stunden ſpäter wurde das andere
in einer kleinen Entfernung von der Sau
hingeſetzt.
Es erreichte dieſelbe in einer
halben Minute nach einem etwas unſtäten
Umhergehen. Nach einer weiteren halben
muß alſo der Geruch und das Getaſt, in
letzterem wahrſcheinlich das Gehör, für die
Richtung der Bewegung maßgebend ge⸗
weſen ſein. Es iſt aber nicht ausdrücklich
angegeben, ob die Sau grunzte. Am
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
|
folgenden Tage zeigte es ſich, daß das eine
der beiden Ferkel, die bei der Mutter ge |
laſſen worden waren, die Bandage nicht
mehr hatte. Das andere war vollkommen
unvermögend zu ſehen, ging umher und
ſtieß gegen Gegenſtände an. Am Nach—
mittag wurde die Binde entfernt. Es lief
nun herum, als wenn es vorher hätte
ſehen können und plötzlich ſein Sehver—
mögen verloren hätte. Nach zehn Mi—
nuten war es aber kaum von einem
Ferkel zu unterſcheiden, das ohne Un—
terbrechung ſich des Augengebrauchs er—
freute. Auf einen Stuhl geſetzt, ſah es,
daß die Höhe Ueberlegung (considering) er⸗
forderte, kniete nieder und ſprang hinab.
Zwanzig Minuten nach der Entſchleierung
wurde dieſes Thier mit einem anderen zu-
ſammen 20 Fuß weit vom Stall hingeſetzt.
Beide Ferkel erreichten ihre Mutter nach
5 Minuten und in demſelben Augenblick.
Wenn im letzterwähnten Verſuche Geruch
und Gehör nicht ausgeſchloſſen ſind und
die Nachahmung und Nachfolge des un—
unterbrochen ſehfähigen Thieres ſeitens des
anderen, erſt ſeit 20 Minuten ſehfähigen
wahrſcheinlich wird, ſo kann doch die über⸗
aus merkwürdige Thatſache des Hinab—
ſpringens vom Stuhle, nach vorherigem
Niederknieen, nur auf einem Sehakt be—
ruhen. Der Proceß der Diſtanzenſchätzung
in dem Gehirn des noch nicht zweitägigen,
bis vor 10 Minuten nicht ſehenden Thieres
vor dem Hinabſpringen mag noch ſo un—
vollkommen ſein, er beweiſt, daß ſchon ſo
früh die dritte Raumdimenſion durch das
Auge, alſo als Reſultat von Netzhautein⸗
drücken, in der Wahrnehmung zum Be—
wußtſein kommt, andernfalls hätte das
Thier nicht vor dem Sprung niederknieen
können. Da es nun bis dahin keine Ge—
ſichtswahrnehmungen gehabt hatte und in
. —
35
den 10 Minuten keine, die es zum Sprin⸗
gen veranlaßten, ſo muß die Verbindung
von Netzhauterregung, Diſtanzenſchätzung,
Muskelbewegung zum Knieen und darauf⸗
folgendem Springen ererbt ſein. Denn
eine ſolche Erfindungsgabe, die Initiative
zu jo vernünftigem und zweckmäßigem Ver—
fahren aus Ueberlegung wird Niemand
einem ſo jungen, bis vor 10 Minuten ge—
blendet geweſenen Thiere zuſchreiben. Es
ſpringt richtig, weil ſeine Vorfahren es
unzählige Male auch gethan haben, ohne
lange zu warten oder gar zu überlegen.
Ein menſchlicher Säugling gleichen Alters
erfreut fi dieſer Aſſociation von Netzhaut⸗
erregung und coordinirter Muskelbewegung
nicht. Er fällt, ſich unzweckmäßig bewegend,
vom Stuhl, wie ein blindes Thier. Das
junge wie das alte, Meerſchweinchen da⸗
gegen ſpringt nicht und fällt nicht, ſondern
es läßt ſich fallen, wie ich öfters conſtatirte.
Beim Menſchen ſind ſo viel mehr
Aſſociationen, der Möglichkeit nach, als beim
Thiere im Augenblick der Geburt vorhan-
den, daß alle nur erſt durch längeres Wachs
thum nach der Geburt ſich ausbilden können.
Vor der Geburt ſchon ſo complicirte Aſſo—
ciationsmechanismen auszubilden, wie die
eben erörterten, geht darum nicht an, weil
zu viele andere Mechanismen mit ihnen
concurriren. Potentiell ſind alle da, aber
es hängt von der Erfahrung, d. h. der
Reizung von außen, dem mehr oder weni—
ger oft wiederholten Betreten der einzelnen
Aſſociationsbahnen im Cerebroſpinalſyſtem
ab, welche ſchließlich am leichteſten fungiren.
Mit anderen Worten, das Kind lernt
viel mehr als das Thier. Der Vorzug
des Thieres, welches ſeine Netzhauterreg—
ungen ſogleich zu ſeinem eigenen Vortheil
durch Springen verwendet, iſt alſo nur
ein ſcheinbarer, denn es fehlt ihm die An—
36
lage, zahlreiche andere nützliche Verwerth—
ungen zu erlernen. Weil eben dieſe An—
lage nicht da war, konnte bei ihm ſchon
vor der Geburt die geringe Anzahl von
Aſſociationen ſich viel vollkommener ausbil-
den. Dieſe vollkommenere einfeitige Ausbild-
ung iſt das Weſen des Inſtinktes, deſſen
Gegentheil, die Ueberlegung, nur durch die
Möglichkeit vieler verſchiedenartiger Beant—
wortungen deſſelben Sinneseindrucks gege—
ben iſt.
Bezüglich des Farbenſehens neu—
geborener Kinder iſt zwar uubeſtreitbar,
daß ein grünes Licht von ihnen anders als
ein rothes oder blaues oder gelbes empfun—
den wird, aber es macht kleinen Kindern,
auch mehrjährigen, wie ich ſelbſt conſtatiren
konnte und auch Darwin fand, große
Schwierigkeiten, die Farben richtig zu be—
nennen. Zwei aufgeweckte Knaben, bei
denen mir dies auffiel, hatten trotz der
größten Ausdauer ihrer Mutter im Unter-
richten, als ſie ſchon faſt alle Gegenſtände
ihrer Umgebung kannten, nach mehreren
Monaten erſt einige Sicherheit im Benen-
nen der Farben erworben; aber erſt noch
ſpäter wurde die anfängliche Befürchtung,
ſie möchten farbenblind fein, zunichte. Es
verhält ſich hiermit ähnlich, wie mit Tönen.
Einen Ton richtig zu benennen, lernen
viele Kinder erſt nach ſehr langer Uebung,
manche niemals. Aus dieſem Mangel
ſchließen wollen, die Kinder empfänden
die Farben nicht verſchieden, wäre ebenſo
falſch, wie es falſch iſt, aus den unvoll—
kommenen Benennungen der Farben und
Töne in vielen alten und neuen Sprachen
auf Farbenblindheit oder einen Mangel
des Gehörorgans zu ſchließen.
Solche Blindgeborene, welche zu einer
Zeit, in der ſie ſchon die Benennung der
getaſteten Gegenſtände gelernt haben und
Preyer, Zur Phyſiologie Neugebor
ener. |
fließend ſprechen können, durch Operationen
ſehend werden, unterſcheiden die Farben
ſogleich und benennen ſie in ſehr kurzer
Zeit richtig, wie ſich aus den Berichten
über dieſelben deutlich ergiebt. Beſonders
beachtenswerth — wegen der Analogie mit
dem Erlernen der Tonbenennungen — iſt
in dieſer Hinſicht die Angabe von Franz!)
über ſeinen 17 jährigen Patienten: Er er⸗
kannte die verſchiedenen Farben mit Aus-
nahme von Gelb und Grün, welche er
häufig verwechſelte, aber, wenn ſie ihm
gleichzeitig vorgelegt wurden, unterſchied.
Er konnte jede einzelne Farbe richtig be—
zeichnen, wenn ihm mehrere zugleich gezeigt
wurden. So habe ich auch bei einem ge—
ſunden Knaben bemerkt, daß er, als er
ſchon jede Farbe einer bunten Tiſchdecke
richtig angab, doch beim Vorlegen einer
einzelnen Farbe häufig in der Benennung
irrte. So werden auch die Töne der Ton—
leiter e d e oder f g a richtig benannt,
wenn der einzelne Ton noch nicht jedesmal
richtig benannt wird. Schließlich ſei noch
ein hierher gehöriger Fall mitgetheilt, welcher
zeigt, wie eigenthümlich bisweilen Kinder
bei Bezeichnung ihrer Geſichts- und
Ton⸗ Empfindungen verfahren. Ein vier⸗
jähriger Knabe fragte ſeinen Vater, ob er
auch ſo pfeifen könne, wie der Buchfink im
Garten, und als der Vater das Gezwitſcher
nachzuahmen verſuchte, ſagte das Kind:
„Nein der Fink pfeift viel rother als du,
du pfeifſt brauner“. Dieſe Aeußerung zeigt,
daß der vierjährige Sohn Unterſchiede der
Tonhöhe wohl empfinden, nicht aber ſprach—
lich ausdrücken konnte. Denn er wußte
noch nicht, was hoch und tief bei Tönen
bedeute. Um ſeiner Empfindung, daß der
Vogel höher als der Vater pfiff, Ausdruck
London 1841,
) Philosoph. Transact.
I. S. 59.
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener..
zu geben, übertrug er die Empfindungs—
unterſcheidung vom Farbengebiet auf das
Tongebiet. Für ihn war Roth höher als
Braun und — wie ſich bei einem andern
ähnlichen Anlaß ergab — Gelb höher als
Roth. Der Unterſchied der Tonhöhe und
der der Farbenwärme (Farbenhöhe) waren
ihm ähnlich im Gefühl. Dabei ſcheint mir
beachtenswerth, daß die Maler ſich ebenſo
ausdrücken — Gelb iſt hoch gegen Roth,
Roth hoch gegen Braun — und daß die
Gefühle der Wärme und Kälte bei Farben
mit der Tiefe und Höhe derſelben zuſam—
mengehen. Sehr intereſſant wäre es, mehr
folder Irrthümer kleiner Kinder bei der
ſprachlichen Bezeichnung ihrer Empfindungen
zu regiſtriren.
Der Sprachſchatz des Kindes iſt ſo
klein, daß es genöthigt wird, mehrere Em—
pfindungen und Gefühle mit demſelben
Ausdruck zu benennen. Es wird dabei
das Aehnliche zuſammenfaſſen.
Bezüglich des Zeitpunktes, in dem die
Farben deutlich unterſchieden und zugleich
die Formen und Entfernungen erkannt
werden, fehlt es noch an Angaben.
verſchieden empfunden werden, ehe ihre
Begrenzungen und die Gegenſtände durch
den Geſichtsſinn wahrzunehmen ſind, be—
weiſen die an Blindgeborenen, welche durch
Operationen ſehend werden, gemachten Be—
obachtungen. Auch ſpricht dafür eine merk—
würdige Aeußerung des unglücklichen Kaspar
Hauſer, welche Anſelm von Feuerbach
mittheilt?): Im Jahre 1828 follte Kaspar
Hauſer bald nach ſeiner Ankunft in Nürn⸗
) In feiner Schrift: Kaspar Hauſer.
Ansbach 1832. S. 77 flgde.
Daß
aber die Farben der Außenwelt lebhaft
37
berg im Veſtner Thurm nach dem Fenſter
ſehen, von dem aus eine weite farbenreiche
Sommerlandſchaft zu überſehen war. Kaspar
Hauſer wandte ſich ab. Ihm war der
Anblick widerlich. Später aber, als er
längſt ſprechen gelernt hatte, gab er befragt
die Erkärung: „Wenn ich nach dem Fenſter
blickte, ſah es mir immer fo aus, als
wenn ein Laden ganz nahe vor meinen
Augen aufgerichtet ſei und auf dieſem La⸗
den habe ein Tüncher ſeine verſchiedenen
Pinſel mit Weiß, Blau, Grün, Gelb, Roth
alle bunt durcheinander ausgeſpritzt. Ein⸗
zelne Dinge darauf, wie ich jetzt die Dinge
ſehe, konnte ich nicht erkennen und unter—
ſcheiden. Das war dann gar abſcheulich
anzuſehen“.“) Dieſer Ausſpruch beſtätigt
durchaus eine merkwürdige divinatoriſche,
12 Jahre vor dem Auftreten des Kaspar
Hauſer von Schopenhauer niedergeſchrie—
bene Aeußerung. Dieſer ſagte nämlich“):
„Könnte Jemand, der vor einer ſchönen
weiten Ausſicht ſteht, auf einen Augenblick
alles Verſtandes beraubt werden, ſo würde
ihm von der ganzen Ausſicht nichts übrig
bleiben, als die Empfindung einer ſehr
mannigfaltigen Affektion ſeiner Retina,
welche gleichſam der rohe Stoff iſt, aus
welchem vorhin ſein Verſtand jene Anſchau—
ung ſchuf.“
Das neugeborene Kind hat noch keinen
Verſtand und kann darum, wie der große
Philoſoph ſehr treffend anführte, anfangs
noch nicht ſehen, ſondern nur das Licht
empfinden.
) Näheres in meiner Schrift: Die fünf
Sinne des Menſchen. Leipzig 1870. S. 69.
**) „Ueber das Sehen und die Farben“.
Leipzig 1816. S. 14.
(Fortſetzung folgt.)
8
10 „Jie lebhaften Farben, die ele—
7 ganten Formen und der Ge—
a 982 ſang der Vögel üben eine
. 923 mächtige Anziehung aus, die
uns faſt unwillkürlich zur
Beobachtung und zum Studium dieſer
Thiere anſpornt, während deren Sitten
und unverkennbare Intelligenz uns die
größte Bewunderung einflößen. Wer hat
nicht über den Fleiß, die Ausdauer und
die Kunſt, mit der die Vögel ihre Neſter
bauen, geſtaunt? Brauche ich doch nur
die der Beutelmeiſe, des Ciſtenſängers, des
Webers ꝛc. zu nennen. Und doch iſt es
in allen dieſen Bauten die Nothwendigkeit,
die den Vogel zum Neſtbau treibt; und
die angewandte Sorgfalt behält nur im
Auge, die Wohnung der Kinder bequemer,
ſanfter, gegen den Regen und ſonſtige
Witterungsungelegenheiten ſowie gegen
Feinde geſchützter anzulegen und herzu—
richten. Die Neſter ſind alſo für die
Vögel Nothwendigkeits⸗ Gegenſtände, und
9 Aus den „Annuali del Museo Civico
di Storia naturale di Genova“. Vol. IX.
Fasc. 3, 4. 1877.
Die Hütten und Gärten von
Amblyornis inornata.
Von
D. HBeccari.“)
wir ſehen in ihnen mehr das Nützliche
als das Schöne vertreten, weshalb man
auch ſelten ein Neſt mit irgend einer Art
Verzierung antrifft. Es iſt jedoch eine
ganze Gruppe Vögel bekannt, die ſich nicht
mehr mit einem einfachen Neſte begnügen,
um dort die Eier niederzulegen und die
Jungen aufzuziehen oder ſie in einigen
Fällen als Wohnung zu benutzen: bei ihnen
iſt der Luxus, die Feinheit und der gute
Geſchmack ſo ſehr entwickelt, daß ſie ſich
beſondere Geſellſchaftslocale errichten, die ſie
dann nach ihrer Phantaſie verſchönern und
ſchmücken und in denen ſie ſich dem Ver—
gnügen und aller Art von Tollheiten hin—
geben. Dieſe beflügelten Lüſtlinge gehören
der Familie der Paradiesvögel an. Es ſind
die Arten der Gattungen Chlamydodera,
Ptilonorhynchus, Sericulus und Ambly-
die ausſchließlich Auſtralien und
Neu-Guinea bewohnen. Die Lauben,
Gallerien oder Hütten der Chlamydodera
ſind bereits wohl bekannt. Dieſe Bauten
erſchienen anfangs ſo wunderbar, daß man
nicht glauben wollte, es ſeien Thierwerke;
man hielt ſie für Wiegen, die die Ein—
ornis,
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 39
gebornen ihren Säuglingen bereiteten. Man
ſah bald ein, daß es auch keine Neſter ſein
konnten, welche die Chlamydodera vielmehr
auf gewöhnliche Art zwiſchen den Zweigen
machen und die in Form und Größe denen
unſeres gewöhnlichen Hähers gleichen.
Die Chlamydodera nuchalis iſt ein
etwas größerer Vogel als ein Turdus
viscivorus, von brauner, aber unauffälliger
Farbe, jedoch mit einem ſchönen Roſa-Fleck
auf dem Nacken verſehen. Ihre Laube hat
die Form eines Ganges, der von auf den
Boden geſtützten Reiſerchen gebildet wird,
die oben ſo zuſammenſtoßen, daß ſie das
Dach einer Art primitiver Hütte bilden.
Rings umher iſt der Boden mit Muſcheln
überſäet. Man hat beobachtet, wie der
Vogel hin- und herflatterte, eine Muſchel
mit dem Schnabel aufpickte und durch
die Gallerie einmal auf die eine, einmal
auf die andere Seite trug.
Die Gallerien der Chlamydodera ma-
eulata find auch aus kleinem Reiſigholz
erbaut, jedoch außerdem noch mit hohen
Kräutern ſchön bekleidet, die ſich mit den
äußerſten Enden faſt berühren; die Deco—
rationen ſind reich und beſtehen aus zwei—
klappigen Muſcheln, Schädeln kleiner Säuge—
thiere und anderen von der Sonne ge—
bleichten Knochen. Nach den Erzählungen
einiger Beobachter müſſen die Muſcheln oft
von weither geholt werden, da die nächſten
Flüſſe, aus denen ſie herrühren könnten,
ſich in beträchtlicher Entfernung vom Bau
befinden. Von dieſer Species ſollen viele
Individuen ſich in derſelben Gallerie ver—
einen, um den Weibchen den Hof zu machen;
es ſcheint auch, daß dieſelbe Gallerie während
vieler Jahre benutzt wird.
Die Ch. guttata erbaut eine grad-
linige Gallerie, in der, auf dem Boden
umhergeſtreut, Meeresfrüchte gefunden wur-
|
|
|
den, die vom Vogel mit großer Geduld
und Anſtrengung vom fernen Ufer herbei—
gerollt werden mußten.
Die Gallerie der Ch. eerviniventris
iſt von der der anderen Species verſchie—
den, weil ihre Wände ſehr dicht und faſt
ſenkrecht ſind, ſo daß der innere Gang,
der von ſchönen Hälmchen gebildet wird,
die auf einer dichten Reiſig-Plattform
liegen, ſehr eng iſt. Der Bau iſt 1 Meter
20 Centimeter lang und faſt ebenſo breit,
hier und da liegen Beeren, Schneckenhäuſer
oder Muſcheln zerſtreut als Zierrath.
Mit nicht weniger Kunſt conſtruiren
die Ptilonorhynchus ihre Hütten. Der
Satin bower bird (P. violaceus) baut“
Gallerien wie die Chlamydodera und de-
corirt ſie mit den grellfarbigſten Gegen—
ſtänden, die er auftreiben kann, ſchönen
Vogelfedern, gebleichten Knochen, Erde und
Muſcheln c. Manche Federn find oft
zwiſchen den Halmen angebracht, während
andere Verzierungen vor dem Eingang zur
Hütte umhergeſtreut liegen. Die Neigung
dieſes Vogels, jeden auffallenden Gegen—
ſtand zu entführen, iſt ſo groß, daß die
Eingebornen ſtets ſeine Gallerien durch—
ſuchen, wenn ſie zufällig etwas verloren
haben. Man hat ſogar Steinäxte und
Lumpen von blauer Baumwolle darin ge—
funden, die ſie wahrſcheinlich von den Lager—
plätzen der Wilden entwendet hatten.
Es iſt bemerkenswerth, wie der Inſtinkt,
glänzende Gegenſtände zu ſammeln, einigen
Mitgliedern der Rabenfamilie gemein iſt,
welche bekanntlich unzweifelhafte Analogien
mit der Familie der Paradiesvögel aufweiſen;
ſollte dieſe Gewohnheit vielleicht der Fall
eines ererbten „moraliſchen Charakters“
ſein und alte Spuren eines gemeinſamen
Urſprungs andeuten?
Die Conſtruktionen der Chlamydodera
7
40 Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata.
und Ptilonorhynchus ſind als die wunder⸗
barſten Werke der Vogelarchitektur betrachtet
worden. Doch was find dieſelben im Ber-
gleich zu denen der Amblyornis inornata,
deren Beſchreibung ich jetzt verſuchen will.
Ich habe abſichtlich zuerſt die intereſſante⸗
ſten Fälle dieſer Art erwähnt, damit man
um ſo mehr das Genie dieſes wunderbaren
Geſchöpfes ſchätzen könne, das unter ſo be—
ſcheidenem Kleide den entwickeltſten Verſtand
der Vogelklaſſe birgt. Und wenn man in
Betracht zieht, daß die Familie, der die Am-
blyornis ſowie die anderen Architekten⸗
Vögel angehören, die der Paradiesvögel iſt,
welche gleichzeitig die höchſte Eleganz von
körperlichen Ornamenten und die höchſte
Entwickelung der Intelligenz aufweiſen, ſo
darf man wohl mit Recht dieſelben als
die vollkommenſten Vertreter ihrer Klaſſe
thinſtellen.
Bekanntlich bauen die mit ſchönen Ye
dern geſchmückten Paradiesvögel keine Hüt⸗
en; es iſt dies die Prärogative der mit
beſcheideneren Farben verſehenen Familien—
ſicht ſich auszuzeichnen und den Weibchen zu
gefallen, eine andere Richtung genommen hätte,
als der ihrer ſchön ausgeſtatteten Verwandten.
Der Amblyornis inornata, den ich im
Italieniſchen „Giardiniere* (Gärtner)
nennen möchte, iſt von der Größe einer
Miſteldroſſel; der ſpecifiſche Name charak-
teriſirt treffend ſein unſcheinbares Kleid;
er iſt allen Schmuckes beraubt und ſogar
wurden, empfing ich jedoch erſt von den
Jägern des Herrn Bruijn. Sie hatten
verſucht, ein ganzes Bauwerk nach Ternate
zu bringen, aber das Unternehmen ſcheiterte
an den großen Dimenſionen der Hütte und
den Schwierigkeiten der Straße. Jedoch
hatte ich das Glück, ſelbſt ein ſolches Werk
an dem entlegenen Orte, wo es errichtet
worden war, zu beobachten. Es war am
20. Juni 1875; ſeit fünf Tagen befand ich
mich auf dem Wege von Andai nach Ha-
tam auf den Arfak-Bergen. Früh am
Morgen dieſes Tages aufgebrochen, befan—
den wir uns noch gegen 1 Uhr Nachmit⸗
tags auf dem mühſamen Wege, der uns
binnen Kurzem nach den Hütten von Ha⸗
tam bringen ſollte. Ein hoher und ſchöner
Urwald umgab uns; kaum ein Sonnen⸗
ſtrahl durchdrang das Dickicht. Der Boden
war ziemlich frei von kleinem Geſtrüpp;
ein ausgetretener Fußpfad beſagte, daß wir
nicht mehr weit von den Wohnungen ſein
konnten; wir hatten ſogar eine kleine Quelle
paſſirt, wo man oft Waſſer zu holen ſchien;
glieder, als ob deren Verſtand, in der Ab-
vielleicht von der ganzen Familie der an
Farben ärmſte Vogel; er iſt mehr oder
weniger dunkelbraun und die beiden Ge⸗
ſchlechter in Farbe kaum zu unterſcheiden.
Vor mehreren
Jahren war er von
den Jägern von Roſenberg's gefunden
worden.
Die erſten Nachrichten über ſeine
Bauten, die mir als Neſter beſchrieben
eine orangegelbe, knotenartige Balanophora
ſproß hier und da wie Pilze aus dem
Boden; elegante Palmen und ſonſtige fremd—
artige Pflanzen erregten meine Aufmerkſamkeit.
Doch wurde dieſelbe immer wieder abge—
lenkt durch den Geſang und das Geſchrei
von Vögeln, die mir neu und unbekannt
waren, wie dies Jedem geſchieht, der zum
erſten Male eine unerforſchte Gegend be—
ſucht. Jede Blattbewegung ließ uns eine
Entdeckung vermuthen, und es war dies
nicht bloße Vermuthung, denn faſt jeder
Flintenſchuß verurſachte uns eine Ueber—
raſchung, und die angetroffenen Vögel waren
nicht nur meiſtens von denen der Ebene
verſchieden, ſondern oft ganz neu für uns.
Ich hatte gerade ein kleines Beutelthier
getödtet, das einen nackten und geraden
Da
Baumſtamm wie ein Eichhörnchen hinauf—
kletterte, als ich mich beim Umwenden ganz
in der Nähe des Fußpfades dem ſchönſten
Werke gegenüber befand, das je vom Thier-
verſtande erbaut wurde. Es
Hütte inmitten einer mit Blumen geſchmück—
ten kleinen Aue. Das Ganze en minia-
ture. Ich erkannte ſofort die berühmten
Neſter, die mir von den Jägern Bruijn's
beſchrieben worden, doch vermuthete ich ſo—
gleich, daß ſie einen andern Zweck haben
müßten, obgleich mir damals die Bauten
der Chlamydodera unbekannt waren. Ich
begnügte mich damit, für den Augenblick
und verbot meinen Jägern auf das Strengſte,
daſſelbe zu zerſtören. Bei den Papuas
war dieſe Anempfehlung augenſcheinlich ganz
überflüſſig, denn obgleich das Neſt oder
beſſer die Hütte ſich auf deren Wege be |
fand, ſo war dieſelbe doch unverſehrt und
dies bewies, wie friedlich ihre Bewohner
dort gelebt hatten, bis ihr böſer Stern
uns dorthin führte, um ſie in ihrer
ruhigen und romantiſchen Wohnung zu
ſtören. Wir konnten uns auf einer Höhe
von ca.
halben Stunde ſteilen Anſtieges waren wir
an unſerem Ziele. In den erſten Tagen
verhinderte mich meine vielfältige Beſchäf-
tigung zur Hütte der Amblyornis zurück—
zukehren, doch wurden inzwiſchen noch
andere von meinen Jägern entdeckt, welche
chitekten ſelbſt verſchafften. Wie leid that
es mir, ſo thätige und intelligente Thier—
chen des Lebens zu berauben, und kaum
hatte ich eine hinreichende Anzahl Exem—
plare geſammelt, ſo empfahl ich neuerdings
meinen Jägern, dieſe Vögel und ihre Wohn
ungen unbehelligt zu laſſen.
Die zuerſt von mir geſehene Hütte war
Kosmos, Band III. Heft 1.
4800 Fuß befinden; in einer
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata.
I}
|
41
meiner Wohnung am nächſten; ich nahm alſo
eines Morgens Bleiſtift, Farben und Ge—
wehr — das mir ein Arfak nachtrug —
und begab mich zur Reſidenz der Ambly-
war eine
ornis. Unterwegs ſchoß ich mir zum Früh—
ſtück ein Paar fetter Täuber (Carpophaga
chalconota Salvad.), die auf einem hohen
Baume Früchte aßen, wo ſie aber unſicht—
bar geweſen wären, hätte nicht ihre Be—
wegung von einem Zweige zum andern und
das Fallen der Früchte ihre Gegenwart
verrathen. Am Orte der Hütte angelangt,
ſchickte ich mich ſofort zur Zeichnung an.
Die Hausherren waren nicht gegenwärtig,
jenes Wunderwerk oberflächlich zu beſchauen
auch habe ich nie Zeit und Gelegenheit ge—
habt, ſie in ihrem Heim zu beobachten;
meine Jäger haben ſie jedoch oft beim Ein—
und Ausgehen aus der Hütte angetroffen.
Um die Thiere zu ſchießen, wartete man
dieſelben gewöhnlich vor der Hütte ab, ſo
daß gar kein Zweifel obliegt, daß ſie die
wirklichen Erbauer derſelben ſind. Ich kann
nicht verſichern, ob eine gegebene Hütte von
einem oder mehreren Paaren, oder mehr
von Männchen als Weibchen, oder umge—
kehrt beſucht wird, ob blos das Männchen
dieſelbe conſtruirt, oder ob auch das Weib⸗
chen dazu beiträgt, oder aber ob ſie das
Werk vieler Individuen iſt. Ich glaube
jedoch, daß ſie für länger als eine Saiſon
dient, denn ſie wird beſtändig wieder ge—
reinigt. Der Amblyornis wählt eine flache
Stelle und conſtruirt um eine kleine Staude,
mir auch in Kürze eine Anzahl jener Ar-
die von der Größe eines Rohres iſt, mit
feinem Erdmoos eine Art Kegel vom Um—
fang einer Spanne an der Baſis. Dieſer
wird der Centralpfeiler und auf ſeine Spitze
ſtützt ſich das ganze Gebäude; die Höhe
des Pfeilers iſt daher ein wenig geringer
als die der ganzen Hütte, die einen halben
Meter erreicht. Im Kreiſe werden dann,
von der Spitze des Centralpfeilers „aus—
42 Beccari, Die Hütten ımd*Gärten von Amblyornis inornata.
ſtrahlend“, in geneigter Stellung methodiſch
Halme und Reiſer gelegt, die mit dem
einen Ende die Spitze des Pfeilers,
mit dem andern den Boden berühren,
und ſo im Umkreis bis auf die Vorder— |
jeite, jo daß dadurch die Form einer |
ſehr regelmäßigen coniſchen Hütte entfteht.
Viele andere Stäbchen werden noch hinein-
geflochten, um das Dach feſt und undurch—
dringlich zu machen; wie man ſieht, bleibt
zwiſchen dem Centralpfeiler und der Be—
rührungslinie der Dachbedeckung mit dem
Boden eine hufeiſenförmige Gallerie. Die
ganze Conſtruction mißt ca. einen Meter im
Umfange. Die Stäbchen waren faſt alle
feine und gerade Stengel einer Orchideen-Art
(Dendrobium), die in dichten Büſcheln
auf den bemooſten Zweigen großer Bäume
wächſt, dünn wie Strohhalme und ca. einen
halben Meter lang; ſie trugen noch kleine
ſchmale, faſt friſche Blätter, was wohl ver-
muthen läßt, daß dieſe Pflanze abſichtlich
gewählt wurde, um zu verhindern, daß
das Haus bald verfaule und zuſammen—
falle; denn dieſe Stengelchen bleiben noch
lange friſch, wie es bei den meiſten epiphy-
tiſchen Orchideen in den Tropen der Fall iſt.
Der verfeinerte Sinn des „Gärtners“
beſchränkt ſich nicht auf die bloße Con—
ſtruktion einer Hütte. Es iſt ſonderbar,
wie der Geſchmack am Schönen im Ambly-
ornis und in vielen anderen Vögeln dem
menſchlichen entſpricht, inſofern das, was
ihnen, auch uns gefällt. Die Leidenſchaft
für Blumen und Gärten zeugt von gutem
Geſchmack und verfeinertem Sinn, und es |
hat mich nicht wenig gewundert, zu ſehen,
wie die Arfaks mit dem Vorbilde des
Amblyornis ſo wenig Aeſthetik in ihren
Wohnungen entwickeln, deren Umgebungen |
ſolche Anhäufungen von Unrath find, daß
man ſich ihnen nicht nähern kann. |
hafteſten Farben.
die
Wenn man dieſe Menſchen mit Lehm
und Aſche beſchmutzt ſieht (denn ſie ſchlafen
mitten im Feuerherd) ‚ Jo muß man fie
unwillkürlich mit dem Schweine, dem fie
mehr denn jedem anderen Thiere nahe
kommen, vergleichen.
Die Gärten des A. inornata ſind nun
folgendermaßen angelegt: Vor der Hütte
befindet ſich ein freier Platz, der einen be—
deutend größeren Raum als die Hütte
ſelbſt einnimmt. Es iſt eine Art kleiner
Wieſe von weichem Mooſe, alles herbei—
getragen und rein und frei gehalten von
Gräſern, Steinen und anderen Gegen—
ſtänden, die die Harmonie ſtören könnten.
Auf dieſem reizenden grünen Teppich
liegen Blumen und Früchte von lebhaften
Farben ſo regelmäßig umhergeſtreut, daß
ſie in der That ein elegantes Gärtchen dar—
ſtellen.
Die meiſten Schmuckgegenſtände ſcheinen
beim Eingang zur Hütte zuſammengelegt
zu werden; wahrſcheinlich bringt dorthin
das Männchen ſeine täglichen Ueberraſchun—
gen bei ſeinen Liebesbeſuchen. Die dort
hingelegten Zierrathe ſind von der ver—
ſchiedenſten Art, doch ſtets von den leb—
Bei dem von mir beob—
achteten Hüttchen lagen am Eingange
einige Garcinia-Früchte, ſo groß wie kleine
Aepfel und von violetter Nüance, andere
von Gardenia, die ebenfalls ſehr groß und
unregelmäßig in vier oder fünf Klappen
geöffnet waren, ſo daß ſie das Fleiſch und
ſchön ſafrangelben Samen zeigten.
Ferner manche Trauben von kleinen roſen—
rothen Früchten, die einen gelben, halb
aus der Schale hervorſchauenden Samen
enthalten. Die roſigen Blüthen einer ſchö—
nen Art Vaceinium bildeten einen der haupt—
ſächlichſten Ziergegenſtände, welche jedenfalls
auch mit der Saiſon gewechſelt werden.
—
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata.
Nicht nur Blumen und Früchte ſucht aber
der Amblyornis; auch Schwämme und
ſchön gefärbte Inſekten hat man in den
Gärten oder im Innern der Hütte geſehen.
Wenn dieſe Schmuckſachen lange Zeit das. |
gelegen und ihre Friſche verloren haben,
werden dieſelben hinausgeſchafft und durch
neue erſetzt. Die Geſchicklichkeit des Am—
blyornis beſteht nicht allein in der An—
lage ſeines Luſtortes. Er iſt auch ein
kluger Vogel und un—
ter andern hat man
Liebesluſt getrieben, ſich vereinen, um den
Weibchen den Hof zu machen und ſich
deren Gunſt zu erringen.
Die Hütten und Gärten des Ambly-
ornis würden mir eine vortreffliche Ge—
legenheit bieten, die Behauptung Walla—
ce's, die Neſter der Vögel ſeien nicht, wie
vielfach angenommen wird, Produkt des
Inſtinktes ſondern des Verſtandes — zu
bekräftigen, doch er—
laubt mir meine Zeit
ihm den Namen Bu- b 1 N jetzt nicht die Be⸗
rum Guru gegeben, 2 ſprechung eines ſo
d. h. Meiſtervogel, N , wichtigen Gegenſtan—
weil er den Geſang S 5 2 des. Dagegen kann
und den Schrei vie— ur =. oO } 0 — ich eine Frage von
ler anderer Vögel 88 E41 . zZ kaum geringerem In⸗
nachahmt und ſeine — F I tereſſe nicht gänzlich
Noten bei jeder Ge— 000 > übergehen: mit wel-
legenheit ändert. Auf E 20 E chen Mitteln ein
dieſe Weiſe brachte er * 5 Vogel dahin gelangt
meine Jäger oft zur IT a, “ 7 ſei, eine Wohnung zu
Verzweiflung, die, EN ; , erbauen, die, was
von einem unbekann⸗ ' Beer. 8 Geſchick und künſt⸗
ten Schrei angelockt, Grundriß der Riederlaffung BES leriſchen Geſchmack
eine neue Entdeckung
zu machen hofften,
dann aber nur den
Amblyornis vorfan—
den. Ferner nennt
man ihn auch Tu—
kan Kobon oder Gärtner, welchen
Namen ich auch im Italieniſchen adoptirt
habe.
Aus dem Geſagten ſcheint mir ohne
allen Zweifel zu folgen, daß die Hütten
und Gärten des Amblyornis, wie die
Gallerien oder „bowers“ der Chlamydo-
dera und Ptilonorhynchus Zuſammen—
kunfts⸗ und Vergnügungsorte find, in denen
zu gewiſſen Zeiten die Männchen, von
BT.
A. Centralpfeiler.
oder Gallerie.
Mooswieſe.
Gardenia-Frucht.
Amblyornis inornata.
B. Mooskegel.
D. Reiſigbaſis. E. Künſtliche
F. Garcinia-Frucht.
H. Vaceinium-Blumen.
K. Weggeworfene verwelkte Blumen.
anbelangt, alle Con—
ſtruktionen der an—
deren übertrifft.
Wallace iſt der
Meinung, ein Vogel
könne ſich ein Neſt
nie genau wie die Mehrzahl der Vertreter
ſeiner Species bauen, wenn er nicht zu—
vor die Art und Weiſe von ſeinen Eltern
oder anderen erlernt hätte; weshalb ein
ſeit der Geburt in Gefangenſchaft aufge—
zogener Vogel ſein Neſt nicht ganz ſo wie
ſeine freien Collegen conſtruiren würde.
Um nun zu erklären, wie die Vögel
von einem höchſt einfachen Obdach zur Eier—
legung dahin gekommen ſind, vollkommnere
C. Gang
G. Offene
8
44 Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata,
Neſter und Wohnungen zu errichten, nimmt
man an, die Erbauer der beſſeren oder
ſchöneren Neſter hätten einigen Vortheil
über die weniger geſchickten Architekten ge—
noſſen, in Folge deſſen die erſteren ſich
beſſer erhalten und vermehrt hätten.
Dieſe Thatſachen werden durch die na—
türliche und geſchlechtliche Selektion erklärt.
In Folge der erſteren erhalten ſich diejenigen
Individuen, die am beſten den unzähligen,
zerſtörenden Kräften, mit denen ſie im be—
ſtändigen Kampfe ſind, Widerſtand zu leiſten
vermögen. Kraft der zweiten haben die ſtär—
keren, ſchöneren und intelligenteren Indi—
viduen in Folge des ihnen von den Weib—
chen bewilligten Vorzugs eine zahlreichere
Nachkommenſchaft.
Im Specialfalle des Amblyornis ſollen
dieſe Vögel durch die natürliche Selektion
zur Erbauung ihrer Hütten und Gärten
gelangt ſein, weil
Männchen vorzogen, welche die Hütten am
beſten conſtruirten und ausſtatteten, während
die mit weniger Kunſtgeſchmack begabten,
der Weibchen verluſtig, ohne Nachkommen
geblieben wären. Und auf dieſe Weiſe
hätte ein Vogel die Gaben der Intelligenz
und des Geiſtes genugſam zu ſchätzen ge—
wußt, um ſie der eigenen Formeneleganz
und der perſönlichen Eitelkeit vorzuziehen.
Der Amblyornis und die Chlamydo-
dera gehören eben zur Gruppe der Paradies—
vögel, in denen ohne Zweifel das Gefühl
des Schönen ganz bedeutend entwickelt iſt.
Ich bin nun der Anſicht (die vielleicht
ſehr gewagt ſcheinen mag), daß nicht ſo
ſehr die geſchlechtliche Selection, als der
lebhafte Wunſch, ein ſchönes Ideal zu er—
reichen, die Urſache geweſen iſt, die zur
Hervorbringung jener großen Varietät von
Formen und Farben in den Federn führte,
welche dieſe Vögel ſo ſehr auszeichnen, und
die Weibchen ſolche
daß daſſelbe Gefühl durch Einſchlagung einer
andern Richtung, anſtatt ſich auf die perſön—
liche Ausſchmückung zu concentriren, im
Amblyornis den Geſchmack zur Verſchöner—
ung der eigenen Wohnungen entwickelt hat.
Welche Theorie man aber auch anneh—
men mag, ſo viel ſteht feſt, daß der Wunſch,
den Weibchen zu gefallen, ganz bedeutend
zur Erreichung jenes hohen Grades von
Schönheit bei den Paradiesvögeln mitge—
wirkt hat, doch kann ich ſchwer begreifen,
wie ſo kleine Aenderungen im Geſieder, die
ſich nach Darwin langſam und zufällig
bei den Männchen bildeten, von den Weib—
chen gewürdigt werden konnten und daß ſich
infolge dieſer kleinen Vortheile blos die
ſchöneren Individuen conſervirt hätten.
Ich will hier keine formellen Einwände
gegen die geſchlechtliche Zuchtwahl machen,
doch kann ich nicht umhin, an deren abſo—
luter Wichtigkeit zu zweifeln und eine mäch—
tigere Urſache in dem eignen Willen des
Individuums, in deſſen nervöſen Eindrücken,
in deſſen äſthetiſchem Sinne zu erblicken.
Iſt es Zufall, der die Paradisea apo-
da am Morgen beim Aufgang der Sonne
und Abends beim Untergang auf die höch—
ſten Wipfel des Waldes führt, von wo ſie
dieſe Phänomene in ihrer ganzen Herrlichkeit
genießen kann? Ich glaube es nicht, auch
ſcheint es mir nicht, daß ſie dies thun, um
den Weibchen den Hof zu machen, denn
dieſe ſcheinen gar nicht zugegen zu ſein, und
können die von Anderen dafür gehaltenen
Individuen ebenſo gut junge Männchen
ſein. Auch in Gefangenſchaft führen die
Paradiesvögel ihre Tourniere aus, ſelbſt
wenn keine Weibchen gegenwärtig ſind, man
möchte faſt ſagen, ſie wären in die Sonne
verliebt. Die in jenen romantiſchen Stunden
ſichtbaren Tinten ſind ihr ſchönes Ideal,
und wenn auch ſonderbar, ſo iſt es doch
—
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 45
Thatſache, daß alle Farben des Mantels
der Paradisea apoda gerade jene find, die
in ſolchen Momenten beobachtet werden und
zwar in den von ihnen bewohnten Ländern
und in der Saiſon, in der allein ſie das
ſchöne Hochzeitskleid tragen. Die Morgen—
und Abend-Dämmerung zeigt alsdann
faſt jeden Tag die lebhafteſten überraſchenden
Farbenſpiele. Die fernen und nahen Wol—
ken längs des Horizontes ſind in lange Streifen
gelegt und werden von den letzten Strahlen
der Schon verſchwundenen Sonne vergoldet;
Schäfchen oder purpurne geballte Wölkchen
erheben ſich darüber, und laſſen in Zwi—
ſchenräumen die Bläue des Himmels durch—
blicken. Der von der hereinbrechenden Nacht
bedeckte Wald erſcheint im tiefſten Grün.
Alle dieſe Farben ſind mit wunderbarer
Treue auf dem prachtvollen Kleide des Para—
dies-Vogels wieder gegeben. In den gelben
Federn ſind die feinen vergoldeten Schichten
des Horizontes abgezeichnet; die Farbe des
weichen Bruſtflaums iſt die der Wolken,
der Schnabel und die Füße ſind blau wie
der Himmel, am Halſe herrſcht das Grün
des Waldes vor, der Kopf iſt gelb wie
die untergehende Sonne. In dieſen Mo—
menten ergiebt ſich der Paradiesvogel der
Gewalt ſeiner Leidenſchaft. Er flattert von
Zweig zu Zweig, öffnet die Flügel, breitet
ſie aus, bewegt ſie mit freudigem Zittern,
hebt und ſenkt den Kopf, ſchreit, biegt den
Schweif, kurz er ſchwelgt in dem Genuſſe
ſeiner Schönheit und Eitelkeit. „Wie
ſchön wäre ich, wie würde ich den Weibchen
gefallen, wenn ich mich mit den herrlichen
Tinten, die ich aus meinen luftigen Regionen
bewundere, ſchmücken könnte!“ — wird ſich
ein primitiver Paradiesvogel geſagt haben,
der in Farbe wahrſcheinlich nicht von Am—
blyornis differirte, der mit dieſem dieſelben
häuslichen Sitten gemeinſam hatte, ſein
Gärtchen zierte und ſeiner Liebe angenehme
Ueberraſchungen mit Blumen und Früchten
vor der Hüttenthüre bereitete, der aber eines
Tages, von der Eitelkeit geblendet, ſich ſeines
beſcheidenen Kleides ſchämte und dem ruhigen
Frieden ſeiner Hütte den Prunk der per—
ſönlichen Ansſtattung vorzog.
Warum ſollte nicht ein beſtändiger
lebhafter Wunſch, einen Schönheitstypus zu
erreichen, eine Aenderung in der Färbung
und Erzeugung der Federn bewirkt haben?
Und noch erſtaunlicher iſt folgendes: Während
in der von der P. papuana bewohnten Ge—
gend der Sonnenuntergang faſt ſtets vergoldet
iſt, erſcheint er zu Waighen gewöhnlich feuer—
roth; ſollte nun durch bloßen Zufall die dort
lebende Art der einen jener
täglichen Erſcheinung in Farbe entſprechenden
Mantel beſitzen?
Warum hat die Schlegelia calva einen
nackten Kopf von der Farbe des Himmels,
den ſie durch die Baumzweige zur Stunde
ihrer Dämmerungsliebe ſchaut? Warum
hat unter denſelben Bedingungen die D.
magnifica auf dem Bürzel einen Mantel,
der in Form und Farbe einem Halbmonde
gleicht, von dem ein einzelner Strahl viel—
leicht den unter dem Walddickicht verborge—
nen Tournierplatz erleuchtet, wo ſtolze, mit
Zierrath überladene Kämpen ſich die Gunft
der beſcheidenen Zuſchauerinnen erkämpfen?
Sollte der Cieinnurus nur aus reinem Zu—
fall genau von der Farbe der Blüthen des
Costus ſein, mit deſſen Samen er ſich ernährt?
Warum find Ziegenmelker (Caprimul-
gus), Käuzchen und andere nächtliche Vögel
dunkel und farblos und warum ſieht man
unter ihnen keine Species mit lebhaften
Tinten, z. B. grün, das ihnen am Tage
ſehr zum Schutze dienen würde, während
Paradisea
Nachts jede Farbe indifferent fein ſollte?
Weshalb erinnern die Flecken einiger Ca—
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata.
primulgus an das Bild des Himmels, mit
zerriſſenen Wolken, zwiſchen denen der Mond
durchblickt, wie es in jenen Nächten der
Fall iſt, in denen ſie, auf einem Baumaſt
ſitzend, ſtundenlang ihre eintönige Stimme
erſchallen laſſen, die den regelmäßigen Schlä—
gen eines Stück Holzes auf einen Baum—
ſtamm gleicht.
Meine Erklärung iſt vielleicht nicht die
richtige, aber ſie ſcheint mir verlockend.
Welche Idee können die nächtlichen Vögel
von den Farben haben? Faſt gar keine,
der Mangel an Licht giebt ihnen von
allen Coloriten faſt denſelben Eindruck, die
einzige Varietät beſteht für ſie in den helleren
Flecken, den leuchtenden Punkten und in
den kleinen Tonunterſchieden, welche die
Schatten in einer klaren Nacht aufweiſen.
Iſt es alſo ein verallgemeinerter Fall von
Mimicry oder Nachahmung, der die Färbung
der Vögel hervorruft? Doch das erklärt
Welches iſt die Urſache dieſer |
Nachahmung? Iſt es die Frage auf Leben
uns wenig.
oder Tod, die ſie zur Annahme gerade jener
Tinten veranlaßt, welche die Naturerſchein—
ungen darbieten? Iſt es nöthig, zur Er-
klärung dieſer Thatſache zur Theorie der
natürlichen Selection, die ich lieber natür—
lich Elimination nennen möchte, Zuflucht
zu nehmen? Es ſcheint mir nicht; denn bei
den nächtlichen Vögeln kommt ſie gar
nicht ins Spiel und bei den Tagesvögeln
mit glänzendem Geſieder ſcheint ſie mir eher
ſchädlich als nützlich. Es bliebe alſo zu
prüfen, ob dieſe Fälle von Mimiery durch
die ſexuelle Zuchtwahl verurſacht worden
wären. Ich gebe zu, daß bei einem Indi—
viduum anfangs einige kleine Veränderungen
auftreten, ohne daß eine ſichtbare Urſache
dafür vorhanden wäre. Dann muß man aber
noch annehmen, daß die Weibchen dieſe unbe
deutenden Variationen ſofort bemerken und
die betreffenden Männchen zur Begattung
vorziehen, — daß ſolche kleine Veränderung
jedoch gleich ſo nützlich ſein und die anderen
Männchen ſo ſehr in den Hintergrund ſetzen
ſoll, ſcheint mir etwas gewagt. In dieſem
Falle müßte man ferner annehmen, die
Varietät reproduzire ſich in der Mehrzahl
der Individuen, alsdann könnten die wenigen
leer ausgegangenen eliminirt werden; aber
wie erklärt es ſich dann, daß die Varietät
in allen Individuen gleichmäßig erſchienen
iſt? Dies wäre nicht ſchwer durch die
Hypotheſe zu erklären, daß die Veränder—
ungen nach einem präſtabilirten Variations—
plan ſtattfänden, nicht aber durch Zufall
entſtünden. Betrachten wir den Fall der
Paradisea apoda.
Beim jungen Männchen, das noch das
weibliche Kleid trägt, beginnen die erſten,
dem erwachſenen Männchen eigenthümlichen
Federn zu erſcheinen. Auf dem Kopfe zeigt
ſich eine gelbe Feder (warum nicht eine
rothe, oder ſchwarze oder blaue?), eine glän—
zend grüne auf dem Halſe, andere gelbe auf
dem Rücken und an den Seiten, — wie ſoll
man nun glauben, aus dieſen wenigen Fe—
dern habe ſich durch zufälliges Zuſammen—
treffen eine ſo wunderbare Nachahmung der
Tinten des Sonnenuntergangs gebildet, wenn
wir nicht einen präſtabilirten Begriff, einen
Variationsplan vorausſetzen, nach dem ſich
allmälig die vollkommene Imitation jenes
Phänomens entwickelt hat?
Um meine Hypotheſe beſſer zu erklären,
will ich einen unzweifelhaften Spezialfall
von Mimicry nehmen, den der lebenden
Blätter, der Phyllium, einer Art Heuſchrecken,
die oft die Form, Farbe und Gliederung
der Blätter, auf denen ſie leben, ſo vor—
trefflich nachahmen, daß man ſie faſt nicht
von denſelben unterſcheiden kann.
Ich kann mir den Eindruck einer Man—
N = z — —
A
C
tis vorſtellen, die auf einem Blatt ſitzend
einen Vogel der ſie ſicher verſchlingen wird,
herbei fliegen ſieht — wie ſie ſich klein machen
wird, wie gern ſie unſichtbar oder in das
Blatt, über das ſie ſich beugt, verwandelt
ſein möchte, um dem ſcharfen Auge ihres
Verfolgers zu entgehen; — doch dieſer hat
ſie bereits entdeckt, faßt ſie feſt in ſeine
Krallen und zerreißt ihr Kopf, Leib und
Glieder. Jedoch vielleicht nicht alle In—
dividuen, die ſich in ſolch kritiſcher Lage
befanden, haben daſſelbe Schickſal erlitten,
einige ſind gewiß der Gefahr entronnen.
Wäre es ſonderbar, wenn ſich unter
der Wirkung eines ſo heftigen nervöſen Ein—
drucks in den Eiern eines ſchwangeren Weib—
chens, welches das tragiſche Ende ſeiner Schwe—
ſter mit anſchaute, derartige Dispoſitionen
in den für Formveränderung empfänglichen
Theilen bildeten, daß ſie auf die Re—
produktion jenes Gegenſtandes (in unſerm
Falle der Blätter) hinzielten, der als
einziges Rettungsmittel in jenem angſtvollen
Augenblicke die Urſache eines ſo lebhaften
Wunſches war?
Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß einige
Jungen aus den von einem ſolchen Weibchen
gelegten Eiern Monſtren waren, die ſchon
theilweiſe in ihren Gliedern ein Blatt dar—
ſtellten, da ſich ja die Monſtroſitäten nicht
langſam, ſondern plötzlich bilden. Wäre
dieſe Monſtroſität eher ſchädlich als nützlich,
ſo würde ſie ſich wahrſcheinlich nicht lange
reproduziren; da aber in unſerm Falle
gerade wegen der Monſtroſität die betreffenden
Individuen erhalten bleiben, ſo werden dieſe
letzteren gewiß, wie ihre Mutter, den Vor—
theil, ſich durch Nachahmung der von ihnen
beſuchten Blätter verſtecken zu können, zu
ſchätzen wiſſen, und ſo werden höchſt—
wahrſcheinlich die meiſten Nachkommen die
vortheilhafte Monſtroſität beibehalten haben,
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata.
die ſich vielleicht nach und nach vermehrt,
regelt, erblich und innerhalb gewiſſer Grenzen
unveränderlich wird. Bekanntlich iſt in
einigen Arten von Phyllium dieſe Nach—
ahmung ſoweit gediehen, daß ſelbſt der
Menſch dadurch getäuſcht und jene zu einem
ſehr wirkſamen Vertheidigungsmittel wird.
Die Flügel ſind geglättet und ausge—
dehnt und dienen faſt gar nicht zum Flie—
gen; auf denſelben reproduziren ſich die
Blattnerven bis zur vollkommenſten Täuſch—
ung; die Farbe verändert ſich mit dem
Alter des Individuums und imitirt die
verſchiedenen Tinten der diverſen Vegetations—
perioden; die Beine haben ſich in Plättchen
ausgedehnt, und die Fühler in eben ſo viele
blattartige Fortſätze; die Hinterfüße ſind
zum Springen untauglich geworden und
die ſchüchterne und argwöhniſche Gemüths—
art hat ſich in eine ruhige, des eigenen
Friedens bewußte Indifferenz umgewandelt.
Daſſelbe iſt, in anderem Sinne, bei den
Bacillus, Phasma etc. geſchehen, die trocke—
nen Holzſtäbchen gleichen. In dieſen Fällen
hat gewiß auch die natürliche Selection
ihren Antheil an der Hervorrufung der
Nachahmung gehabt, aber die Haupturſache
ſcheint mir doch immer eine nervöſe Em—
pfindung und der Wille des Individuums
zu ſein. Annehmen zu wollen, daß aus
einfachen, im Anfang zufällig erzeugten
Veränderungen Imitationen entſtanden ſein
ſollten, ohne den Willen des Thieres
und die Idee eines dadurch präſtabilirten
Planes zu Hilfe zu nehmen, ſcheint mir
geradeſo, als wenn man behaupten wolle, ein
Architekt könne ein Haus bauen durch ein—
fache Anhäufung von Material, ohne eine
Idee von dem zu haben was er thun will.
Die Abſicht der eigentlichen Paradies—
vögel, ſowie des Amblyornis und ver—
wandter Species, durch individuellen Schmuck
48
und Erbauung von Hütten und Gärten
ihren Weibchen zu gefallen — im Vereine mit
der natürlichen Zuchtwahl — ſcheint mir
nicht hinreichend, die Farben der erſten und
die Fähigkeiten der letzteren zu erzeugen
und zu entwickeln. Dagegen glaube ich
wohl annehmen zu dürfen, daß in den
Vögeln ein lebhaftes Bewußtſein des
Schönen und ein eben ſolcher Wunſch zur
Erreichung deſſelben ſo lange gewirkt haben,
bis in den eigentlichen Paradiesvögeln die
Nachſchrift der Redaktion. Wir
haben die etwas phantaſtiſchen Ideen des Herrn
Verfaſſers über die Urſachen gewiſſer Färb—
ungen wiedergeben wollen, weil ſie der Stimm—
ung eines Beobachters ſo wunderbarer Leiſt—
ungen entſprechen, und weil in ihnen doch
vielleicht ein ſchätzbarer Kern verborgen liegt.
Freilich, wenn der Wunſch, ſchön zu ſein, ge—
nügte, um ſchön zu werden, ſo gäbe es bei—
ſpielsweiſe keine häßlichen Menſchen. — Da—
gegen kann man ſich allerdings ganz wohl
einen natürlichen Zuſammenhang denken zwi—
ſchen den Farben des Sonnenuntergangs und
denjenigen eines Thieres, welches während
deſſelben ſeine Farben zur Schau ſtellt. Dieſer
Zuſammenhang wäre, daß ſobald die Sonne
nur noch vorwiegend gelbliche und röthliche
Strahlen emporſendet, auch nur die gelblichen,
röthlichen und goldgrünen Farbentöne ihre
höchſte Brillanz entfalten. Wenn unſere Da—
men ſich ſpeciell für Gasbeleuchtung putzen,
warum ſollte durch geſchlechtliche Zuchtwahl
ein Vogel nicht ebenſo ſpeciell für den Son—
nenuntergang, die Stunde ſeiner Liebeswerb—
ungen, geſchmückt werden können? Eine ſolche
Anpaſſung würde vielmehr erſt recht in das
Gebiet der geſchlechtlichen Zuchtwahl, wie ſie
Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis nornata.
Farbenveränderungen in den dazu empfäng—
lichen Theilen zur vollen Befriedigung
des Verlangens ſtattfanden, ebenſo wie
ſich auch beim Amblyornis und den ver—
wandten Species jener Beobachtungstrieb
entwickelte, in Folge deſſen urſprüngliche Em—
pfindungen Reflex-Actionen werden können,
die einen Vernunftſchluß ermöglichen, und ſo
auch dieſe Thiere befähigen, Werke zu ſchaffen,
die nicht das bloße Reſultat des Inſtink—
tes ſind.
Darwin auffaßt, fallen. So könnte ich mir
auch recht wohl vorſtellen, daß gewiſſe blaue
und violette Vögel im Beſondern für die
Dämmerungsſtunde geſchmückt ſeien, wenn bei
völliger Abweſenheit der Sonne das Himmels—
gewölbe noch eine Fülle blauen Lichtes her—
niederſtrahlt. Wenn man um dieſe Zeit an
einem nach Weſten blickenden Bergabhange
ſpazieren geht, ſo erſcheinen die blauen und
violetten Blumen daſelbſt in einem deutlichen
Vortheil vor allen anders gefärbten Blumen,
und wenn es ſchattenwerfende Bäume oder
Geſträuche dazwiſchen giebt, ſo ſcheinen dieſe
Blumen in einem eigenen, phosphoriſch blauen
Lichte zu leuchten, weil ſie eben allein faſt alles
Licht zurückwerfen können, was ſie empfangen.
Ohne Zweifel hat dieſes ſcheinbare Leuchten
der blauen Blumen in der Dämmerungsſtunde
zu der Sage von der „blauen Wunderblume“
der Romantiker Anlaß gegeben, und vielleicht
iſt es kein Zufall, daß im erſten Frühjahr,
in welchem ſo ſelten klare Dämmerung ein—
tritt, blaue und violette Blumen viel ſeltener
ſind, als im Sommer und Herbſt. Auch würde
ich mich nicht wundern, wenn ſie vielleicht
von Dämmerungs-⸗Inſekten bevorzugt würden.
f 8
Die Herrſchakt des Ceremoniells.
Von
Herbert
Spencer.
IV.
Penn wir leſen, daß Cook „den
e König (von Otaheiti) mit zwei
großen Beilen, einigen präch—
f tigen Perlen, einem Meſſer
und einigen Nägeln beſchenkte“; oder wenn
Speke in der Beſchreibung ſeiner Auf—
nahme beim Könige von Uganda erzählt:
„Ich ſagte darauf, daß ich das beſte
Schießgewehr der Welt — Whitworth's
Flinte — mitgebracht hätte und ihn bäte,
es nebſt anderen Kleinigkeiten anzunehmen;“
ſo erinnert uns dies daran, wie Reiſende
gewöhnlich, wenn ſie in Berührung mit
fremden Völkern kommen, ſie durch allerlei
Gaben günſtig zu ſtimmen ſuchen. Zweier—
lei wird damit erreicht: Eine augenblickliche
Befriedigung, welche der Werth des Er—
haltenen hervorruft, wodurch ein freund—
ſchaftliches Gefühl den Ankömmlingen gegen—
über erzeugt wird, und der auch ohne
Worte verſtändliche Ausdruck des Wunſches
derſelben, zu gefallen, welcher wieder eine
Kosmos, Band III. Heft 1.
ähnliche Wirkung ausübt.
Der letztere iſt
es, wovon ſich die Entwickelung des Ge—
ſchenkedarbringens als Ceremonie ableitet.
Der Zuſammenhang zwiſchen Verſtüm—
melungen und Geſchenken — zwiſchen der
Darbringung eines eigenen Körpertheiles
oder eines andern Dinges — zeigt ſich
deutlich in einem Berichte Garcilaſſo's
über die alten Peruaner, welcher zugleich
darlegt, wie das Beſchenken zu einer Ver—
ſöhnungshandlung wird, ganz abgeſehen vom
Werthe des Dargebotenen. Er erzählt von
den Leuten, welche ſchwere Laſten über hohe
Bergpäſſe tragen, und beſchreibt, wie ſie
auf dem Höhepunkt des Weges ihre Laſten
niederſetzen und wie dann mehrere den Gott
Pachacamac anrufen: „Ich danke Dir da—
für, daß dieſes bis hierher getragen iſt;“
und dann bringen ſie eine Gabe dar, in—
dem ſie entweder ein Haar aus ihren
Augenbrauen reißen oder das Kraut Coca
aus ihrem Munde nehmen als Geſchenk
vom Koſtbarſten, was ſie beſitzen. Wenn
fie aber nichts Beſſeres hatten, ſo brachten
ſie einen kleinen Stock oder einen Stroh—
halm, ja ſogar ein Stück Stein oder Erde
dar; auf den Höhen der Bergpäſſe
2
L
50
fanden ſich große Haufen folder Opfer—
gaben.”
In dieſer durchaus ungewohnten Form
uns entgegentretend, mögen uns dieſe Opfer
von Theilen des eigenen Körpers oder von
ſonſt geſchätzten Dingen, ja ſogar von ganz
werthloſen Gegenſtänden, ſonderbarerſcheinen.
Indeß ſie werden uns weniger ſeltſam vor—
kommen, wenn wir uns vergegenwärtigen,
wie man in Frankreich am Fuße der Kreuze
an den Straßen tagtäglich einen Haufen
kleiner, aus zwei elenden Latten zuſammen—
genagelter Kreuzchen finden kann. Dieſe
haben an ſich keinen größern Werth als
jene Strohhalme, Stöckchen und Steine,
welche die Peruaner darbrachten, und lenken
in gleicher Weiſe unſere Aufmerkſamkeit auf
die Thatſache, daß die Handlung des
Schenkens in
drückt. Wie naturgemäß das Erſetzen einer
wirklichen Gabe durch eine blos nominelle
ſich ergiebt, wo wirkliche Gaben nicht ſtatt—
haft find, zeigen uns ſogar ſchon kluge
Thiere. Ein Vorſtehhund, der gewohnt
iſt, ſeinem Herrn zu gefallen, indem er ihm
getödtete Vögel und anderes bringt, wird
leicht die Gewohnheit annehmen, in andern
Fällen nur irgend etwas zu bringen, um
ſein Beſtreben, dem Herrn zu gefallen, aus-
zudrücken. Wenn er Jemand, den er gern
hat, des Morgens oder nach einer langen
Trennung wiederſieht, ſo wird er, von den
gewöhnlichen Freudenbezeugungen abgeſehen,
wohl auch ein dürres Blatt, eine Ruthe
oder ſonſt einen geeigneten Gegenſtand in
der Nähe ſuchen und es ihm im Maule
bringen. Und dieſes Beiſpiel, welches uns
den natürlichen Urſprung jener Verſöhnungs—
ceremonien vorführt, dient auch dazu, zu
zeigen, auf welch' tiefer Stufe ſchon der
Proceß der Symboliſirung auftritt.
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
eine Ceremonie übergeht,
welche einen Wunſch nach Verſöhnung aus—
So ſind wir nun darauf vorbereitet,
die Entwickelung des bloßen Darbringens
von Gaben zu einer wirklichen Ceremonie
zu verfolgen, und dieſe wollen wir nun in
ihren verſchiedenen Erſcheinungen beobachten
und ſehen, wie die geſellſchaftlichen Ein—
richtungen ſich möglicher Weiſe von ihnen
ableiten. 8
In Stämmen, welche entweder gar
kein Oberhaupt haben oder bei welchen
die Oberherrſchaft noch auf unſicherem
Boden ſteht oder bei welchen eine Ober—
herrſchaft zwar vorhanden, aber noch ſchwach
iſt, bildet ſich das Darbringen von Ge—
ſchenken nicht zum feſtſtehenden Gebrauche
aus. Die Auſtralier, Tasmanier und
Feuerländer ſind Beiſpiele hierfür; und
wenn wir Berichte von wilden amerikani-
ſchen Raſſen leſen, welche noch wenig orga—
niſirt find, wie die Eskimos, Chinvofs,
Schlangenindianer, Comanchen, Chippeways
und andere, oder welche eine demokratiſche
Organiſation haben, wie die Irokeſen und
die Creekindianer, ſo finden wir, daß ge—
rade bei dieſen Völkern, die ſich durch das
Fehlen ſtrenger perſönlicher Regierung
charakteriſiren, kaum irgendwo der Opfer—
gaben als eines ſtaatlichen Brauches Erwähn—
ung geſchieht.
Ein gutes Gegenſtück dazu bieten an—
dererſeits die Beſchreibungen von Gebräuchen
unter jenen amerikaniſchen Raſſen, welche
in früheren Zeiten unter despotiſcher Re—
gierung einen beträchtlich hohen Grad von
Civiliſation erreicht haben. Torquemada
erzählt uns, daß in Mexico „Jeder, welcher
den Herrn oder König begrüßen will,
Blumen und Geſchenke mitnimmt.“ So
leſen wir auch von den Chibchas: „wenn
ſie ein Geſchenk darbrachten, um mit dem
Caziken zu verhandeln oder zu ſprechen
(denn Niemand beſuchte ihn, ohne eine
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 51
Gabe zu bringen), ſo neigten ſie Kopf und
Körper beim Eintreten“; und die alten
Mucataneſen „brachten ihrem Herrn ſtets einen
Theil der Beute, wenn ſie jagten, fiſchten
oder Salz holten“. Völker von anderen
Raſſen, wie die Malayo-Polyneſier, welche
auf ähnlicher Stufe der geſellſchaftlichen
Entwickelung unter unbeſtrittener Herrſchaft
von Häuptlingen leben, weiſen gleiche Ge—
wohnheiten auf. Forſter erzählt von
den Sachen, welche den Tahitiern gegen
Nahrungsmittel, einheimiſche Anzüge u. ſ. w.
verhandelt wurden, und ſagt: „Jedoch fanden
wir, daß alle dieſe erlangten Güter mit der
Zeit in Form von Geſchenken oder von
freiwilligen Erkenntlichkeitsbeweiſen in den
Schatz der verſchiedenen Häuptlinge floſſen,
welche, wie es ſchien, die alleinigen Beſitzer
der Beile und Streitäxte waren.“ In
Fidſchi wieder „wird von Jedem, der eine
Gunſt von einem Häuptling erbittet oder
privaten Verkehr mit ihm wünſcht, voraus—
geſetzt, daß er ein Geſchenk bringe.“
In den letztgenannten Fällen können
wir beobachten, wie dies Darbringen von
Geſchenken an den Häuptling aus einem
freiwilligen allmälig zu einem erzwungenen
Begütigungsmittel wird; denn wenn wir
leſen, daß „die Häuptlinge auf Tahiti die
Beſitzungen ihrer Unterthanen nach Belieben
plünderten“, und daß in Fidſchi „die
Häuptlinge gewaltſam das Eigenthum An—
derer an Dingen oder Perſonen an ſich
nehmen“, ſo wird es klar, daß das Dar—
bringen von Geſchenken eigentlich nichts
Anderes iſt als das Hingeben eines Theils
des Beſitzthums, um den Verluſt des Gan—
zen zu verhüten. Die Klugheit gebietet,
zu gleicher Zeit die Begierden der Obern
zu befriedigen und ihnen Unterwerfung
zu bezeugen. „Die Malagaſſen, Scla—
ven ſowohl wie Freie, machen gelegentlich
ihren Häuptlingen Geſchenke aus ihren Vor—
räthen, als Zeichen der Huldigung.“ Und
es iſt dabei ſelbſtverſtändlich, daß die Sorge,
den Häuptlingen zu gefallen, um jo leb—
hafter ſein wird, je größer ihre Macht iſt;
ſei es durch Zuvorkommenheit gegen ihre
begehrlichen Wünſche, ſei es zugleich durch
Bethätigung der Unterthänigkeit.
Nur in wenigen Fällen jedoch, wenn über—
haupt irgendwo, wird der Gebrauch, einem
Häuptlinge Geſchenke darzubringen, zu einer
ſo ausgebildeten Sitte in einem einfachen
Stamme. Anfangs wird der Anführer,
der ſich noch nicht ſehr von den Uebrigen
unterſcheidet und noch nicht mit Leuten um—
geben iſt, welche bereit ſind, ſeinen Willen
mit Gewalt durchzuſetzen, die anderen
Glieder des Stammes nicht mit genügen—
der Furcht erfüllen, um das Darbringen
von Geſchenken zu einer ſtehenden Cere—
monie zu machen. Erſt in zuſammengeſetz—
ten Geſellſchaften, welche durch die Ueber—
wältigung mehrerer Stämme durch einen
erobernden Stamm von gleicher oder an—
derer Raſſe ſich gebildet haben, entſteht
eine herrſchende Klaſſe von Ober- und
Unterhäuptlingen, welche ſich genügend vor
den Andern auszeichnen und mächtig ge—
nug ſind, die erforderliche Furcht einzuflößen.
Einen Fall, in welchem die Sitte ihren
urſprünglichen Charakter bewahrt hat, liefert
uns Timbuctu. Hier „belegt der König
weder ſeine Unterthanen noch die fremden
Kaufleute mit irgend einem Tribut, ſondern
er erhält nur Geſchenke.“ Aber Caillé
fügt hinzu: „Es beſteht daſelbſt keine eigent—
liche Regierung. Der König iſt gleich einem
Vater, der ſeine Kinder leitet.“ Wenn
ſich Streitigkeiten erheben, ſo „verſammelt
er einen Rath der Aelteſten“. Das will
alſo ſagen: die Darbringung von Geſchen—
ken bleibt freiwillig, wo die königliche
— —
52
Macht noch gering iſt. Bei einem andern
afrikaniſchen Volke dagegen, den Kaffern,
können wir beobachten, wie die Gaben ihren
freiwilligen Charakter verlieren.
„Das
Einkommen des Königs beſteht in einer
jährlichen Lieferung von Vieh, Erſtlings—
früchten u. ſ. w.“, und „wenn ein Kooſſah
(Kaffer) ſeinen Kornboden öffnet, ſo muß
er etwas von dem Korn ſeinen Nachbarn
ſenden, einen größern Antheil aber dem
Könige.“ Auch in Abyſſinien finden wir
eine ähnliche Miſchung von auferlegten Ab—
gaben und freiwilligen Geſchenken neben feſt—
ſtehenden Lieferungen. In Form von Zeug—
ſtücken und Korn empfängt der Fürſt von
Tigré alljährliche Geſchenke, und ein ent—
ſprechendes Syſtem von theils beſtimmten,
theils unbeſtimmten Abgaben des Volkes
an die Könige iſt in ganz Oſtafrika allge=
mein verbreitet. — Aber indem ſolche Ge—
ſchenke, wenn ſie einmal zur bleibenden
Sitte geworden ſind, inſofern aufhören,
eine begütigende Wirkung auszuüben, ergiebt
ſich von ſelbſt das Beſtreben, andere Ge—
ſchenke zu machen, welche als Verſöhnungs—
mittel gelten, weil ſie unerwartet kommen,
— was leicht verſtändlich iſt, wenn man
ſich erinnert, daß da, wo die königliche
Macht ſehr groß geworden iſt, die Unterthanen
ihr Eigenthum nur geduldeter Weiſe be—
halten. Wenn Burton uns erzählt, daß
in Dahome „wahrlich keine große Verführ—
ung zum Anhäufen von Reichthümern ge—
geben iſt, da ſolche dem Beſitzer ſicherlich
jo oft «ausgepreßt» werden würden, als er
überhaupt die Operation ertragen könnte,“
und wenn wir von den alten Königen von
Bogota leſen, daß fie „abgeſehen von den
regelmäßigen Tributen, welche mehrere Male
des Jahres bezahlt werden mußten, und
abgeſehen von anderen unzähligen Spenden,
abſolute Herren des Eigenthumes
n
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
und des Lebens ihrer Unterthanen waren,“
ſo erkennen wir leicht, warum neben den—
jenigen Gaben, die zuerſt freiwillig und
nach Belieben geliefert wurden, ſpäter aber
pflichtige und regelmäßige Steuern gewor—
den ſind, beſtändig immer neue freiwillige
Gaben zu entſtehen ſtreben.
Wenn eine Privatperſon ihrem Häupt—
ling oder Könige eine Gabe darbringt, ſo
drückt dieſer Akt zugleich Unterwerfung aus;
noch mehr iſt dies aber der Fall, wenn
ein untergeordneter Herrſcher dem oberſten
König feine Gabe -übergiebt: hier, wo
Widerſetzlichkeit noch mehr zu fürchten iſt,
erlangt dieſe Ceremonie eine noch größere
Bedeutung als Beweismittel der unter—
thänigen Geſinnung. Deswegen gilt dann
das Darbringen von Geſchenken als for—
male Anerkennung der Oberherrſchaft. Im
alten Vera Pas, „ſobald einer zum König
gewählt war, erſchienen alle Herren der ein—
zelnen Stämme oder ſie ſchickten ihre Ver—
wandten mit Geſchenken. Sie erklärten (bei
der Ausrufung des Gewählten), daß ſie mit
ſeiner Erwählung einverſtanden wären und
ihn als König empfingen.“ Wenn bei den
Chibchas ein neuer König auf den Thron kam,
„legten die Häuptlinge darauf einen Eid
ab, daß ſie gehorſame und getreue Vaſallen
ſein wollten, und zum Beweiſe ihrer Treue
überbrachte ihm Jeder ein Juwel, eine
Anzahl Kaninchen u. ſ. w.“ Von den
Mexicanern erzählt Toribio: „Alljährlich
pflegten diejenigen Indianer, welche keine
Steuern zu zahlen hatten, und ſelbſt die
Häuptlinge bei gewiſſen Feſtlichkeiten . ...
ihren Herrſchern Geſchenke zu machen . . ..
zum Zeichen ihrer Unterwürfigkeit.“ Und
Gleiches fand ſich in Peru. „Keiner näherte
ſich Atahuallpa, ohne ihm zum Beweiſe
ſeiner Unterthäuigkeit eine Gabe zu bringen;
und ſelbſt wenn große Edelleute kamen, ſo
— .
— —— ä X—1—̃ ——1—ꝝVL— ———— 1 K Q — — ———— —— ̃ͤ ——ſ— —— kT - —ͤ—— — b——½ . —
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
traten ſie doch mit den Geſchenken auf
ihrem eigenen Rücken herein und ohne
Schuhe.“ Dieſe Bedeutung des Geſchenke—
machens als Ausdruck der Lehenspflicht
ergiebt ſich ferner deutlich aus zwei ent—
gegengeſetzten Darſtellungen in den Schriften
der alten Hebräer. Von Salomon heißt
es, daß er „über alle die Könige herrſchte
vom Fluſſe an bis in das Land der Phi—
liſter und bis an die Grenze von Aegyp⸗
tenland,“ und ferner, daß „alle Könige
der Erde das Angeſicht Salomons ſuchten
NR und fie brachten ein Jeglicher fein
Geſchenk . . . . eine Gabe, Jahr für Jahr.“
Dagegen ſteht geſchrieben, als Saul zum
Könige gewählt war: „Da ſagten die Kin—
der Belials: Was ſoll uns dieſer helfen?
Und verachteten ihn und brachten ihm keine
Geſchenke.“ Im ganzen fernen Orient be—
hält die Ueberreichung von Geſchenken an
den höchſten Herrſcher immer noch dieſelbe
Bedeutung. In Japan „gehörte es zu den
Obliegenheiten eines Edelmannes, einmal
des Jahres den kaiſerlichen Hof zu beſuchen
und ſeine Ehrfurcht zu bezeugen, wobei er
Geſchenke überreichte“; überdies „bezeugte der
weltliche Monarch dem Mikado ſeine Ehr—
furcht und Gehorſam einmal des Jahres
es. durch feierliche Geſandtſchaft und
reiche Geſchenke.“ In China tritt die Be—
deutung des Aktes als Ausdruck der Un—
terwerfung außerordentlich ſcharf hervor.
Abgeſehen von der Schilderung, daß „bei
der Thronbeſteigung des großen Chan vier—
tauſend Boten und Geſandte, welche mit
Geſchenken beladen ankamen, der Ceremonie
beiwohnten,“ leſen wir auch, daß die mon—
goliſchen Beamten die Franziskanermönche,
welche Innocenz IV. dorthin entſandt hatte,
vor Allem frugen, „ob der Papſt wiſſe,
daß der große Chan der Sohn des Him—
mels ſei, und ob ſie wüßten, daß die
53
Herrſchaft der Erde von Rechts wegen ihm
gehörte und was für ein Geſchenk
ſie vom Papſte für den großen Chan mit—
gebracht hätten.“ Und ebenſo beſtimmt iſt
die dem Ueberbringen von Geſchenken an
den Monarchen in Burmah beigelegte Bedeut—
ung, wo nach Yule's Bericht „bei frühes
ren Gelegenheiten lebhafte Anſtrengungen
gemacht wurden, um fremde Geſandte als
Bittende an den „Verzeihungstagen? unter
den Vaſallen und abhängigen Fürſten des
Reiches mit einzuführen: ihre Geſchenke
wurden dabei als Opfer zur Abbitte dar—
geſtellt, welche die verdiente Züchtigung für
Beleidigungen ihres Lehnsherren abwenden
ſollten.“
Auch in der ältern Geſchichte von Euro—
pa fehlt es nicht an Beiſpielen für die
eigentliche Bedeutung des Geſchenkemachens.
Wir erfahren, daß zur Zeit der Merowinger
„an einem beſtimmten Tage, einmal des
Jahres, auf dem Märzfelde nach altem
Brauche den Königen vom ganzen Volke
Gaben dargebracht wurden,“ und daß ſich
dieſer Brauch bis zur Zeit der Carolinger fort-
erhielt; die Geſchenke waren der verſchiedenſten
Art — Speiſen und Getränke, Pferde, Gold
und Silber, Juwelen und Gewänder.
Wir haben ferner die Thatſache, daß ſolche
Geſchenke ebenſowohl von ganzen Gemein—
ſchaften als von Einzelnen geliefert wurden;
Städte bezeugten damit ihre gute Geſinn—
ung, und wir finden, daß von den Zeiten
Guntram's an, welcher von den Gaben
der Einwohner von Orleans beim Eintritt
in die Stadt förmlich erdrückt wurde, bei
den Städten noch lange die Sitte herrſchend
blieb, auf ſolche Weiſe ſich die Zuneigung
der Monarchen zu erwerben, bis ſchließlich
dieſe Geſchenke zum Geſetz wurden. Im
alten England kam es ſogar dahin, daß
die beim Beſuch eines Monarchen von
— 222
——
54
einer Stadt anfangs freiwillig, ſpäter aber
zwangsweiſe gelieferten Geſchenke ſo ſchwere
Verluſte mit ſich brachten, daß in manchen
Fällen „die Einkehr der königlichen Familie
und des Hofes für ein großes Unglück er—
achtet wurde“.
Die im Obigen zuſammengeſtellten
Zeugniſſe werden jedem Leſer bereits den
Schluß nahegelegt haben, daß aus den
Verſöhnungsgeſchenken allgemeine und un—
freiwillige Abgaben, feſtſtehende Tribute
werden und daß mit der Entſtehung einer
gangbaren Münze dieſe ſich in eine regel—
mäßige Steuer verwandelt. Wie dieſer
Uebergang beſtändig ſich zu vollziehen ſtrebt
und welche Motive fortwährend in dieſer
Richtung wirken, um außerordentliche, frei—
willige Gaben in ordentliche, erzwungene
Abgaben umzuwandeln, ergiebt ſich deutlich
aus Malcolm's Bericht über die Ge—
bräuche in Perſien. Indem er die „un—
regelmäßigen und erdrückenden Abgaben“
ſchildert, „denen ſie (die Perſer) unaufhör—
lich ausgeſetzt find,“ ſagt er: — „Die
erſte Klaſſe dieſer außergewöhnlichen Steuern
kann als gebräuchliche und außerordentliche
Geſchenke bezeichnet werden. Die gebräuch—
lichen Geſchenke für den König ſind die—
jenigen, welche ihm alle Gouverneure der
Provinzen und Diſtrikte, die Häuptlinge
der Stämme, die Miniſter und alle übrigen
Beamten höhern Ranges alljährlich beim
Feſte des Nourouze oder der Frühlingstag—
und Nachtgleiche überbringen. Der Werth
des bei dieſer Gelegenheit Geſchenkten regelt
ſich auch im Allgemeinen durch den Brauch:
eine zu kleine Gabe bedeutet einfach Ver—
luſt des Amtes und ein Ueberſteigen des
Gewöhnlichen Vermehrung der Gunſt.“
Daß unter einem ſolchen Druck aus
unregelmäßigen Geſchenken allmählich eine
regelmäßige Abgabe wurde, liegt in der
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Natur der Sache und ebenſo, daß die—
ſelben meiſt aus den Haupterzeugniſſen der
einzelnen Diſtrikte beſtehen, wie z. B.
im alten Peru, wo das Volk aus einer
Provinz wohlriechende Hölzer einſandte,
aus einer andern Baumwolle, aus einer
dritten Gold und Edelſteine, aus einer
vierten Papageien, Honig und Wachs; oder
wie im alten Mexico, wo die Städte das
als Steuer erlegten, „was das Land her—
vorbrachte — Fiſche, Fleiſch, Korn, Baum—
wolle, Gold ꝛc., denn ſie hatten keine Münze.“
In andern Fällen, wo die Einrichtungen
weniger beſtimmt ſind, kommen vom ſelben
Orte verſchiedenerlei Gaben; ſo pflegten
beiſpielsweiſe die Städte den altfranzöſiſchen
Königen zu ſchenken: „Rinder, Schafe,
Wein, Hafer, Wild, Wachskerzen, Zucker—
werk, Pferde, Waffen, goldene und ſilberne
Gefäße u. ſ. w.“
Für den Uebergang vom Geſchenkemachen
zum Bezahlen einer Abgabe, in dem Sta—
dium gerade, wo dieſelbe eine periodiſche
Einrichtung wird, finden wir gute Beiſpiele
in einigen verhältnißmäßig kleinen Geſell—
ſchaften, wo die Regierungsgewalt feſtge—
gründet iſt. In Tonga „macht die höhere
Klaſſe der Häuptlinge im Allgemeinen dem
Könige ungefähr alle vierzehn Tage ein Ge—
ſchenk, aus Schweinen oder ams beſtehend;
dieſe Häuptlinge aber erhalten zu derſelben
Zeit Geſchenke von den unter ihnen Stehen—
den und dieſe letzteren von Anderen und
ſo fort bis hinab zum gemeinen Volke.“
Das alte Mexico, welches aus zu verſchie—
dener Zeit unterjochten und in verſchiedenem
Grade abhängigen Provinzen beſtand, zeigte
auch mehrere Stufen des Uebergangs vom
Geſchenk zur Abgabe. Duran ſchildert
dieſe Verhältniſſe aus der Zeit Montezuma's!.
folgendermaßen: „Die Liſte der Abgaben
umfaßt alle möglichen Dinge. Die Pro—
vinzen lieferten dieſen Tribut ſeit der
Zeit ihrer Eroberung, damit die tapfern
Mexicaner aufhören möchten, ſie auszu—
plündern“ — woraus deutlich hervorgeht,
daß es urſprünglich Verſöhnungsgeſchenke
waren. Ferner leſen wir, daß „in Mez—
titlan der Tribut nicht zu beſtimmten Zei⸗
ten bezahlt wurde, ſondern wann der Herr
deſſen bedurfte. Sie dachten nicht daran, die Ab—
gaben aufzuhäufen, ſondern ſie frugen von Zeit
zu Zeit, was im Augenblick für die Tempel,
die Feſtlichkeiten oder die Fürſten nöthig
ſei.“ Von den Tributen, welchen das ganze
Land Montezuma's unterworfen war und
welche aus „Lebensmitteln, Kleidern und
einer großen Menge verſchiedener Dinge“
beſtanden, wird uns geſagt, daß „einige
von denſelben jährlich, andere halbjährlich
und wieder andere alle achtzig Tage bezahlt
wurden“. Und ferner ſagt Toribio hin—
ſichtlich der Geſchenke, welche Einige bei
Feſtlichkeiten „zum Zeichen ihrer Unter—
würfigkeit“ darbrachten: — „Dies ſcheint
zu beweiſen, daß die Häuptlinge, die Kauf—
leute und die Grundbeſitzer nicht verpflichtet
waren, Steuern zu bezahlen, ſondern es
freiwillig thaten.“
Der Uebergang von freiwilligen Gaben
zu pflichtigem Tribut läßt ſich in der alten
europäiſchen Geſchichte verfolgen. Unter
den Einfommensquellen der Merowingiſchen
Könige zählt Waitz die Gaben auf, welche
das Volk aus freiem Willen bei verſchie—
denen Gelegenheiten (beſonders bei Hoch—
zeiten) darbrachte, neben den jährlichen Ge—
ſchenken, die urſprünglich bei den Märzver—
ſammlungen, aber ſpäter zu andern Zeiten,
um den Jahresanfang, gemacht wurden: —
freiwillig, als ſie Sitte wurden, aber all—
mählig zu einer feſten Steuer ſich aus—
bildend.
Derſelbe ſagt auch, wo
= — = — TER
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 55
jährlichen Geſchenken des Volkes zur Zeit
der Karolinger ſpricht, daß ſie ſeit lange
ihren freiwilligen Charakter verloren hätten
und ſogar von Hine mar wirklich als Tri—
but bezeichnet würden. Sie umfaßten Pferde,
Gold, Silber und Edelſteine; ferner (aus
Nonnenklöſtern) Gewänder und Regquiſiten
für die königlichen Schlöſſer; und hier fügt
er hinzu, daß dieſe Verpflichtungen oder
Tributa ſtets einen mehr oder weniger
privaten Charakter trugen: obwohl ſie als
Pflicht betrachtet wurden, ſo waren ſie doch
noch nicht Abgaben im wörtlichen Sinne.
Es läßt ſich ferner zeigen, wie auch die
freiwilligen Geſchenke, welche manche Städte
ihren Beherrſchern bei deren Beſuchen mach—
ten, auf ähnliche Weiſe aus freiwilligen
zu pflichtigen Abgaben wurden. Es be—
durfte beſonderer Befehle des Königs, um
Paris zu veranlaſſen, 1584 dem Herzog
von Anjou und auch bei andern Gelegen—
heiten den Geſandten und auswärtigen
Fürſten Geſchenke darzubringen.
In dem Maße, als der Geldwerth
beſtimmter und Bezahlungen in baarer
Münze leichter wurden, vollzog ſich eine
entſprechende Veränderung: das beweiſen
in der Karolingiſchen Zeit „die ſogenann—
ten Inferenda, eine Abgabe, die man ur-
ſprünglich in Vieh, jetzt aber in baarem
Gelde zu entrichten pflegt;“ das beweiſt
ferner in der engliſchen Geſchichte die
Schenkung von Geld anſtatt von Waaren
und dergl., welche die Städte einem König
und ſeinem Gefolge zu machen hatten,
wenn dieſer ſeinen Einzug hielt. Dieſe
Zäeugniſſe mag am paſſendſten die folgende
Stelle aus Stubbs abſchließen: —
„Die gewöhnlichen Einkünfte des Königs
von England ſtammten blos von den könig—
lichen Gütern und den Erzeugniſſen deſſen,
er von den was Lehnsbeſitz geweſen war, nebſt den
un
56
abgelöften Abgaben von Feormfultum
oder Lebensmitteln in natura, die an Stelle
der vorbehaltenen Renten aus alten Beſitz—
ungen der Krone ſowohl wie an Stelle
der halb freiwilligen Abgaben getreten waren,
welche die Nation ihrem erwählten Ober—
haupte zu liefern hatte;“ — eine Stelle,
die zu gleicher Zeit einmal den Uebergang
freiwilliger Gaben in unfreiwillige Abgaben,
dann aber auch die Umwandlung ſolcher
Abgaben in eigentliche Steuern trefflich
erläutert.
Hier iſt noch zu bemerken, daß der
oberſte Herrſcher neben den periodiſchen und
gewöhnlichen Geſchenken, welche zu ſeiner
Verſöhnung und zur Anerkennung ſeiner
Ueberlegenheit dargebracht werden, auf frü—
hen Entwickelungsſtufen gewöhnlich noch
beſondere Geſchenke empfängt, wenn er
dafür angerufen wird, ſeine Macht zur
Vertheidigung oder Unterſtützung eines an—
gegriffenen Unterthanen zu brauchen. Bei den
Chibchas „durfte Niemand vor dem Angeſicht
eines Königs, Caziken oder ſonſtigen Hoch—
geſtellten erſcheinen, ohne eine Gabe mitzu—
bringen, welche abgeliefert werden mußte,
bevor man ſeine Bitte vortrug.“ Auf Su—
matra „erhebt ein Häuptling keine Steuern,
er hat auch ſonſt kein Einkommen .....
oder irgend andere Abgaben von ſeinen
Unterthanen, außer was ihm in Folge der
Schlichtung von Streitigkeiten zufällt.“ Ein
ähnlicher Brauch herrſcht in Nordweſt—
Indien. Von Gulab Singh, einem frühe—
ren Herrſcher von Jummoo, erzählt Herr
Drew: „Mittelſt der gebräuchlichen Gabe
einer Rupie als Nazare (Geſchenk) konnte
Jeder Zugang zu ſeinem Ohre erlangen;
ſelbſt mitten aus der Menge heraus konnte
man ſein Auge auf ſich lenken, wenn man
eine Rupie emporhielt und ausrief: „Ma—
harajah, eine Bitte!? Er pflegte gleich
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
einem Habicht auf das Geld niederzufahren
und dann, nachdem er es an ſich genom—
men, die Bittenden ruhig anzuhören.“ Wir
haben Zeugniſſe, daß bei uns ſelbſt in
früheren Zeiten ein gleicher Zuſtand herrſchte.
„Wir dürfen wohl glauben,“ ſagt
Broom, indem er ſich auf eine Aeußer—
ung von Lingard bezieht, „daß nur
wenige Fürſten in jenen Tagen (der angel—
ſächſiſchen Herrſchaft) es verweigerten, rich—
terliche Funktionen auszuüben, wenn ſie
durch Günſtlinge darum erſucht, durch Be—
ſtechung verleitet oder durch Habgier und
Geiz angetrieben waren.“ Und wenn wir
leſen, daß in den älteren normanniſchen
Zeiten der erſte Schritt in einem Proceß
zur Erlangung des gerichtlichen Beiſtandes
darin beſtand, ſich des Königs eigenhändige
Schrift auszuwirken oder zu erkaufen, in—
dem man die dafür feſtgeſetzte Summe be—
zahlte — eine Schrift, welche dem Ange—
klagten befahl, vor dem Könige zu erſchei—
nen — ſo iſt wohl anzunehmen, daß die
für dieſes Document bezahlte, von vorn—
herein beſtimmte Summe nichts Anderes
darſtellte als das Geſchenk, welches urſprüng—
lich dem Könige für die Leiſtung ſeines
richterlichen Beiſtandes gemacht wurde. Die—
ſer Schluß ſteht nicht ohne Stütze da.
Blackſtone ſagt: „Jetzt gilt es in der
That für ausgemacht, daß ſelbſt die könig—
liche Handſchrift nach gemeinem Rechte ge—
fordert werden darf, wenn man die ge—
bräuchlichen Gebühren bezahlt?!“ — was
auf eine frühere Zeit hinweiſt, in welcher
die Gewährung derſelben eine Sache könig—
licher Gunſt war, die erſt durch Verſöhn—
ung erlangt werden konnte.
Natürlicherweiſe werden dann aber, wenn
richterliche und andere Funktionen ſich als
ſelbſtſtändige Aemter ablöſen, Geſchenke ge—
macht werden, um die Dienſte der betref—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
fenden Beamten zu gewinnen, und wenn
auch urſprünglich freiwillig, werden dieſe
gleichfalls mit der Zeit zu pflichtigen Löh—
nen werden. Berichte aus dem alten Orient
belegen dies. So geht aus Amos, Cap. I
V. 6 hervor, daß die Richter Geſchenke er-
hielten, wie dies für die türkiſchen Behörden
in denſelben Gegenden bis auf unſere Tage
gelten ſoll; die Behauptung des Propheten
ſowohl wie die manches Beobachters aus der
Gegenwart, daß dieſer Gebrauch in Folge
allgemeiner Verderbniß eingeriſſen ſei, iſt
eben nur wieder einer von den vielen Fällen,
in denen das Fortbeſtehen eines niedrigeren
Zuſtandes mit dem Herabſinken von einem
höheren Zuſtande verwechſelt wird. So
empfingen die Richter auch in Frankreich in
früheren Zeiten ſogenannte „Speſen“ als
Zeichen der Erkenntlichkeit von der Partei,
welche den Proceß gewonnen hatte. Um das
Jahr 1369, wenn nicht ſchon früher, wur—
den dieſelben in Geld umgewandelt, und
1402 waren ſie bereits als gebräuchliche
Abgabe anerkannt. Dieſe Sitte erhielt ſich
bis zur Revolution. In unſerer eigenen
Geſchichte bildet der bekannte Fall von
Bacon nicht etwa ein Beiſpiel eines eigen—
thümlichen neuen Gebrauches, ſondern viel—
mehr des Fortlebens einer alten und her—
kömmlichen Sitte: manche locale Urkunden
zeigen uns, wie regelmäßig den Rechts—
beamten und ihren Unlergebenen Geſchenke
gemacht wurden, und dieſe Thatſachen ſind
wirklich ganz treffend in dem Satz zu—
ſammengefaßt, daß „Niemand ſich einem
hochgeſtellten Manne, einer Magiſtratsperſon
oder einem Höfling je zu nähern wagte
ohne die orientaliſche Begleitung — ein Ge—
ſchenk.“ Daß aber in vergangenen Zeiten
die den Staatsdienern gemachten Verſöhn—
ungsgeſchenke in vielen Fällen ihr ganzes
Einkommen bildeten, läßt ſich ſchon aus
57
der Thatſache ſchließen, daß im zwölften
Jahrhundert die höchſten Aemter des könig—
lichen Haushalts verkauft wurden: in der
Meinung offenbar, daß der Werth der zu
erhaltenden Geſchenke groß genug ſei, um
die Stellen preiswürdig zu machen. Ruß⸗
land ſcheint in früheren Zeiten ein Beiſpiel
für den Zuſtand geliefert zu haben, in
welchem das Gefolge und die Beamten des
Herrſchers hauptſächlich, wenn nicht aus—
ſchließlich, auf Geſchenke angewieſen waren.
Karamſin giebt die Bemerkungen der Reiſen—
den wieder, welche Moskau im ſechszehnten
Jahrhundert beſuchten. „Iſt es ein Wunder,“
ſagen dieſe Fremden, „daß der Großfürſt
reich iſt? Er bezahlt weder ſeinen Soldaten
noch ſeinen Abgeſandten irgend Etwas; ja
er nimmt dieſen Letzteren ſogar alle die
koſtbaren Dinge ab, welche ſie aus fremden
Ländern zurückbringen Gleich-
wohl pflegen ſich dieſe Leute nicht zu be—
klagen.“ Woraus wir ſchließen müſſen,
daß ſie in Ermangelung von Löhnen und
Gehältern von Oben ihren Unterhalt aus
Gaben von Unten beſtritten. Was wir jetzt
Beſtechungen nennen, welche die elend be—
zahlten Beamten fordern, bevor ſie ihre
Obliegenheit erfüllen, ſind zum Theil
die Stellvertreter der Geſchenke, welche
ihre einzige Quelle des Unterhaltes in jenen
Zeiten bildeten, wo ſie noch keinen Gehalt
bezogen. Und daſſelbe läßt ſich von Spa—
nien ſagen, von dem Roſe erzählt: „Vom
Richter bis herab zum Büttel herrſchen
Beſtechung und Corruption ... ..... Es
giebt jedoch eine Entſchuldigung für den
armen ſpaniſchen Beamten. Seine Regierung
gewährt ihm keinerlei Entſchädigung und
erwartet dagegen Alles und Jedes von ihm.“
Die Gewohnheit läßt uns die Bezahlung
einer beſtimmten Summe für einen be—
ſtimmten Dienſt ſo ſelbſtverſtändlich erſchei—
wor ee ae
Kosmos, Band III. Heft 1.
58
nen, daß wir wie in andern Fällen, ſo auch
hier leicht annehmen, dies Verhältniß habe |
von Anfang an beftanden. Wenn wir aber
leſen, wie in noch wenig organiſirten Ge—
ſellſchaften, z. B. bei den Betſchuanen, die
Häuptlinge den Leuten ihres Gefolges „nur
einen kärglichen Antheil an Speiſe oder
Milch gewähren und es ihnen überlaſſen,
das noch Fehlende durch Jagd oder durch
Ausgraben wild wachſender Wurzeln zu
ergänzen“, und wie ſelbſt in erheblich weiter
vorgeſchrittenen Geſellſchaften, wie in Da—
home, „kein im Dienſte der Regierung
ſtehender Beamter bezahlt wird,“ jo er
ſehen wir wohl, daß urſprünglich die einem
Anführer zunächſt Untergeordneten nicht von
Amts wegen unterhalten werden, ſondern
ſich ſelbſt zu unterhalten haben. Und da
ihre Stellung ihnen die Macht verleiht,
den Unterthauen Uebles wie Gutes zuzu—
fügen, da es ja in der That oft nur
durch ihre Vermittelung möglich iſt, den
Häuptling anzurufen, ſo macht ſich hier
daſſelbe Motiv geltend, ſie durch Geſchenke
zu begütigen, wie es für die Begütigung
des Häuptlings ſelbſt gilt; und daraus
entſpringt dann für ſie auf gleiche Weiſe
ein beſtimmtes Einkommen. Dieſer Schluß,
daß die Verſorgung der Staatsangeſtellten
auf ſolchem Wege beginnt, wird ſofort
weitere Beſtätigung darin finden, daß er
völlig mit dem noch deutlicher zu begrün—
denden Schluſſe in Einklang ſteht, daß auch
die Verſorgung der kirchlichen Angeſtellten
ſolchen Urſprungs iſt.
Indem das andere Ich des todten
Menſchen urſprünglich ſo vorgeſtellt wird,
als ſei es eben ſo ſichtbar und greifbar
wie das Original und auch nicht minder
dem Schmerz, der Kälte, dem Hunger und
Durſt unterworfen, ſo knüpft ſich von ſelbſt
die Meinung daran, es bedürfe in gleicher
1
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Weiſe der Speiſe, des Trankes, der Kleid—
ung u. ſ. w., und es könne auch verſöhnt
werden, indem man es mit dieſen Dingen
wohl verſehe. Im Anfang alſo unterſcheiden
ſich die den Todten dargebrachten Geſchenke
von ſolchen für die Lebenden weder ihrer
Bedeutung noch ihren Motiven nach.
Auf der ganzen Erde finden wir in
niedrigeren Geſellſchaftsformen der Ver—
gangenheit und der Gegenwart, wie Gaben
für die Todten unmittelbar neben Gaben
für die Lebenden einhergehen. Speiſe und
Trank wird bei dem noch nicht begrabenen
Leichnam zurückgelaſſen von den Papuas,
Tahitiern, Sandwich-Inſulanern, Malanans,
Badagas, Karenen, den alten Peruanern,
den Braſilianern ꝛc. Speiſen und Getränke
werden ſpäter zum Grabe gebracht in Afrika
vom Volke von Scherbro und von Loango,
den Binnenland-Negern, den Bewohnern
von Dahome ꝛc., im ganzen indiſchen Berg—
lande von den Bhils, Santals, Kukis ꝛc.;
in Amerika von den Cariben, Chibchas,
Mexikanern; und ein ähnlicher Gebrauch
war unter den alten Stämmen des Oſtens
verbreitet. Bei den Eskimos werden den
Todten von Zeit zu Zeit Kleider zum Ge—
ſchenk überbracht. In Patagonien öffnet
man alljährlich die Grabkammern und be—
kleidet die Todten von Neuem, wie dies
auch die alten Peruaner thaten. Wenn ein
Potentat unter dem Congovolke ſtirbt, ſo
wächſt die demſelben von Zeit zu Zeit ge—
ſchenkte Menge von Kleidern ſo an, „daß
die erſte Hütte, in welcher der Leichnam
beigeſetzt worden war, bald zu klein wird
und eine zweite, eine dritte, ja bis zu einer
ſechsten, von immer größeren Dimenſionen
darüber errichtet werden muß.“ Der Bes
weggrund für dieſen Verſuch, dem todten
Menſchen zu gefallen, iſt genau derſelbe
wie für einen ähnlichen Verſuch dem lebenden
-
Menſchen gegenüber. Wenn wir leſen, daß heißen nun Opfer für eine Gottheit ſtatt
ein Häuptling bei den Neu-Caledoniern Geſchenke für eine Perſon. Die urſprüng—
zum Geiſte ſeines Vorfahren ſagt: „Barm- liche Uebereinſtimmung ergiebt ſich aber
herziger Vater, hier iſt etwas Speiſe für deutlich aus folgender Bemerkung Guhl's
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 59
ihretwillen!“ — oder wenn der Veddah
Theil an dieſem! Gewähre uns Deine
Unterſtützung, wie Du es thateſt, als Du
noch lebteſt!“ — ſo müſſen wir es als
unleugbare Thatſache anerkennen, daß das
Geſchenkemachen für die Todten genau das—
ſelbe iſt wie das Geſchenkemachen für die
Lebenden, mit der einzigen Ausnahme, daß
dort der Empfänger unſichtbar iſt.
Blos im Vorbeigehen ſei noch darauf
hingewieſen, daß ein gleiches Motiv für
eine ähnliche Verſöhnung der nicht genauer
unterſchiedenen übernatürlichen Weſen befteht, .
welche der primitive Menſch rings um ſich
verbreitet glaubt, mag dieſe Verſöhnung
zum Ausdruck kommen in den Reſten von
Brod und Kuchen, welche unſere ſcandi—
naviſchen Vorfahren für die Elfen und
ähnliche Weſen übrig ließen, oder in den
Speiſen und Getränken, welche die Dajaks
bei ihren Feſtlichkeiten auf die Giebel der
Häuſer ſtellen, um die Geiſter zu laben,
oder in dem kleinen Antheil der Speiſe,
welcher bei Seite geworfen, und des Trankes,
der für die Geiſter ausgegoſſen wird, wie
dies viele Raſſen auf der ganzen Erde zu
thun pflegen, bevor ſie ihre Mahlzeiten
beginnen. Wir wollen nun vielmehr dazu
übergehen, das Geſchenkebringen in ſeiner
ausgebildeteren Form für das entwickelte
übernatürliche Weſen näher zu betrachten.
Die hier geſchenkten Dinge und die Motive
der Geber bleiben dieſelben, wenn auch die
Identität mehr oder weniger durch die An—
wendung anderer Worte verhüllt wird; ſie
Dich; nimm ſie und ſei uns gnädig um über die Griechen: „Gaben, wie ein altes
Sprichwort ſagt, beſtimmen die Handlungen
einen verſtorbenen Verwandten bei feinem | der Götter und der Könige“; und ebenfo
Namen ruft und ſagt: „Komm und nimm
den Pſalmen (Pf. LXXVI, V. 11): „Ge-
lobet und zahlet dem Herrn Eurem Gott,
deutlich ergibt ſie ſich aus einem Vers in
Alle, die ihr um Ihn her ſeid; bringet
Geſchenke dem Schrecklichen!“ Aber außer—
dem werden wir noch eine Uebereinſtimmung
in den Einzelheiten finden, die außerordent—
lich wichtig iſt.
Speiſe und Trank, welche die urſprüng—
lichſte Art von Verſöhnungsgaben für eine
lebende Perſon ſowohl wie für einen Geiſt
darſtellen, bleiben auch überall die weſent—
lichen Beſtandtheile eines Opfers für eine
Gottheit. Wenn ein Zulu einen Ochſen
ſchlachtee, um ſich den guten Willen
des Geiſtes ſeines todten Verwandten
zu ſichern, welcher ſich im Traume
bei ihm beklagt, daß er nicht geſpeiſt
worden ſei — wenn dann unter den
Zulus dieſe Privathandlung ſich zu einer
öffentlichen Handlung ausbildet, indem von
Zeit zu Zeit ein junger Ochſe getödtet
wird „als Verſöhnungsopfer für den Geiſt
des unmittelbaren Vorfahren des lebenden
Königs“, ſo dürfen wir uns wohl fragen,
ob nicht auf demſelben Wege jene Hand—
lungen der ägyptiſchen Könige entſtaki—
den ſeien, welche durch Hekatomben von
Ochſen den Geiſtern ihrer vergötterten Väter
zu gefallen hofften. Wir werden natürlich dieſe
Uebereinſtimmung voll anerkennen und ſogar
hinzufügen, daß, wenn auch in den ſpäteren
Zeiten z. B. der Juden die urſprüngliche und
grobe Auffaſſung der Opfer mehr und mehr
verhüllt wurde und die primitive Theorie
60 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
ſeither allmählich ſich verflüchtigt hat, doch
die Form immer noch fortbeſteht. Das
Offertorium unſerer Kirche enthält immer
noch die Worte: „Nimm an unſere Al—
moſen und unſere Gaben“; und bei ihrer
Krönung opferte die Königin Victoria am
Altar durch die Hand des Erzbiſchofs „ein
Altargewand von Gold und einen Gold—
klumpen“, ein Schwert, ferner Brod und
Wein für die Communion, und endlich
einen Beutel voll Gold, worauf die Bitte
folgte, „dieſe Opfer anzunehmen.“
Hieran ſchließt ſich eine fernere wichtige
Bemerkung. Wir ſahen, daß das Geſchenk
für den ſichtbaren Herrſcher urſprünglich
um ſeines innern Werthes willen verſöh—
nende Bedeutung hatte, ſpäter aber eine
mehr äußerliche verſöhnende Wirkung er—
langte, als Ausdruck der Loyalität. Ebenſo
werden die Geſchenke für den unſichtbaren
Herrſcher urſprünglich für unmittelbar nütz—
lich gehalten und gewinnen erſt ſecundär
den Charakter einer bloßen Verſicherung
des Gehorſams; und erſt dieſe ſecundäre
Bedeutung drückt dann dem Opfer jenes
ceremonielle Gepräge auf, was bis auf den
heutigen Tag geblieben iſt.
Nun ſtoßen wir auf eine bemerkens—
werthe Folgeerſcheinung. Wie ſich das
Geſchenk für den Herrſcher ſchließlich zum
Staatseinkommen entwickelt, ſo erweitert
ſich das Geſchenk für den Gott mit der
Zeit zum kirchlichen Einkommen.
Gehen wir zunächſt von der früheſten
Stufe aus, wo noch keine beſtimmte Orga—
niſation der ſtaatlichen oder kirchlichen Ver—
hältniſſe beſteht und wo die letzteren ſich
einzig in dem Medicinmanne verkörpern,
welchem vielmehr die Funktion obliegt,
böswillige Geiſter auszutreiben, als ſolche
zu verſöhnen, welche man einer Beſänftig—
ung für fähig hält. Auf dieſer Stufe
wird das Geſchenk für das übernatürliche
Weſen oft zwiſchen ihm und denjenigen
getheilt, welche daſſelbe zu verſöhnen haben,
und zwar wohl auf Grund der meiſten—
theils ſehr unklaren und unbeſtimmten Vor—
ausſetzung, daß das übernatürliche Weſen
entweder einen ſubſtantiellen Theil der
dargebrachten Speiſe zu ſich nehme oder
aber daß es ſich von dem vermeintlichen
geiſtigen Inhalt derſelben nähre, während
ſeine Anbeter blos die materielle Schale
verzehrten. Es geſellt ſich die Deutung
dazu, daß das übernatürliche Weſen nicht
nur durch das Geſchenk von Speiſen
verſöhnt, ſondern daß auch durch das ge—
meinſchaftliche Verzehren der letzteren zwi—
ſchen ihm und ſeinen Verſöhnern ein
Band der Vereinigung geknüpft werde,
welches von der einen Seite ſchützenden
Einfluß und von der anderen Unterthanen—
treue bedinge.
Was uns jedoch hier hauptſächlich au—
geht, iſt die Thatſache, daß aus dieſer
Verwendung der Geſchenke ein Lebensunter—
halt für die Prieſter gewonnen wird. Wenn
wir leſen, daß die Prieſter der Chippeways
„durch freiwillige Lieferungen von Lebensmit—
teln unterhalten werden“ und daß die Prieſter
der Khonds ihre beſtimmten Sporteln haben
und Gaben empfangen, ſo ſehen wir un—
gefähr, wie ſchon in dieſen rohen Geſell—
ſchaften der Unterhalt einer Prieſterſchaft
durch Opfer beginnt; und in anderen Fällen
tritt dies noch deutlicher zu Tage. Bei
den Kookies pflegt der Priefter, um die
zornige Gottheit, welche Jemanden krank
gemacht hat, zu beſänftigen, das nächſte
beſte, z. B. ein Huhn, zu ergreifen, das,
wie er behauptet, der Gott verlangt, und
nachdem er das Blut deſſelben als Opfer
auf den Boden hat ausſtrömen laſſen,
wozu er Gebete murmelt, „jegt er ſich 1
müthlich nieder, röſtet und ißt das Huhn,
wirft die Abfälle in die Dſchungeln und
geht nach Hauſe.“ In gleicher Weiſe opfern
die Battas auf Sumatra ihren Göttern
Pferde, Büffel, Ziegen, Hunde, Geflügel
„oder welches Thier gerade der Hexen—
meiſter an dem betreffenden Tage am lieb—
ſten eſſen möchte“. Und ferner leſen wir
von den Buſtarſtämmen auf den Mahadeva—
Bergen, daß bei ihnen Kodo Pen „von
jedem neuen Ankömmling vor einem kleinen
Steinhaufen verehrt wird durch Vermittel—
ung des älteſten Anſiedlers, und zwar mit
Geflügel, Eiern, Korn und einigen Kupfer-
münzen, welche in den Beſitz des dienenden
Prieſters übergehen“. Die etwas weiter
entwickelten Geſellſchaften in Afrika zeigen
uns eine gleiche Einrichtung. Burton
erzählt, daß in Dahome „Diejenigen, welchen
die «Pflege der Seelen» obliegt, keine regel—
mäßige Bezahlung erhalten, ſondern ſehr
wohl von den milden Gaben ihrer Ver—
ehrer leben können;“ und Forbes ſpricht
es noch beſtimmter aus, daß in ihren Tem—
peln „alltäglich von den Andächtigen kleine
Opfer niedergelegt und von den Prieſtern
weggenommen werden.“ Ebenſo hängt im
benachbarten Königreich von Aſchanti „das
Einkommen der Fetiſchmänner ganz von
der Freigebigkeit des Volkes ab.
Hälfte der Opfergaben nämlich, welche dem
Fetiſch dargebracht werden, gehört den
Prieſtern“. Gleiches gilt für Polyneſien.
Ellis erwähnt, daß der Doktor auf Ta—
hiti faſt ausnahmslos ein Prieſter ſei und
fügt hinzu, derſelbe empfange, bevor er
ſeine Operationen beginne, eine gewiſſe Ent—
ſchädigung, von der, wie man glaubte, ein
Theil den Göttern gehören ſollte. Und ſo
ſtand es endlich auch in den alten ameri—
kaniſchen Staaten. Ein von Oviedo aufge—
Die
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
1
„Bruder: opfert Ihr irgend etwas
Anderes in Euren Tempeln?
„Indianer: Jedermann bringt aus
ſeinem Hauſe mit, was er zu opfern wünſcht
— Geflügel, Fiſche, Mais oder andere
Dinge — und die Knaben nehmen es und
ſtellen es in den Tempel hinein.
„Bruder: Wer ißt denn dieſe ge—
opferten Dinge?“
„Indianer: Der Vater des Tempels
ißt ſie, und was übrig bleibt, wird von
den Knaben aufgegeſſen“.
In Peru ſodann, wo die Verehrung
der Todten die Hauptbeſchäftigung der Leben—
den bildete und wo das ganze kirchliche
Syſtem ſo künſtlich ausgebildet war, hatte
die Anhäufung der Gaben für die Geiſter
und Götter zahlreiche und reich ausgeſtattete
„geweihte Güter“ entſtehen laſſen, von denen
die Prieſter aller Grade erhalten wurden.
Eine ähnliche Entſtehung ſolcher Güter
erkennen wir aber auch bei den alten hiſto—
riſchen Völkern. Bei den Griechen „fielen
die Ueberreſte des Opfers als Entgelt den
Prieſtern zu“ und „Alle, welche den Göttern
dienten, wurden durch die Opfer und andere
geweihte Gaben unterhalten“. Nicht an—
ders bei den Hebräern. Im Leviticus,
Cap. II, V. 10 leſen wir: „Und das,
was vom Fleiſchopfer übrig bleibt, ſoll
Aaron und ſeinen Söhnen gehören“ (den
auserwählten Prieſtern); und an anderen
Stellen wird dem Prieſter das Fell des
Opfers und ſogar das ganze gebratene und
geröſtete Opfer zuerkannt. Selbſt die Ge—
ſchichte des ältern Chriſtenthums läßt eine
gleiche Entwickelung erkennen. „In den
erſten Jahrhunderten der Kirche waren jene
Deposita pietatis, deren Tertullian
erwähnt, ſämmtlich freiwillige Gaben“.
Später „war ein genau beſtimmter Unter—
ſchriebenes Wechſelgeſpräch enthält die Stelle: halt für den Clerus erforderlich, aber immer
62 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
noch wurden vom Volke jene Gaben dar—
gebracht .. . .. Dieſe Gaben (welche be—
zeichnet wurden als ewas fromme Chriſten
Gott und der Kirche geopfert habens), an—
fänglich durchaus freiwillig, wurden ſpäter
in Folge der fortlaufenden Entrichtung durch
die Sitte zu pflichtigen Abgaben.“ In
den Zeiten des Mittelalters kommt es zu
einer weiteren Stufe in dieſer Fortbildung.
— Abgeſehen von Dem, was für die
Communion der Prieſter und Laien erfor—
derlich, und dem, was für Lobpreiſungen
beſtimmt war, war es urſprünglich Brauch,
alle möglichen Arten von Geſchenken dar—
zubringen; in etwas ſpäterer Zeit aber
wurden dieſe letzteren in das Haus des
Biſchofs genommen und ſchließlich gar nicht
mehr in die Kirche gebracht.“ Und
indem dann ſolche Schenkungen ſich wieder—
holten und vergrößerten und beſonders die
dem Namen nach Gott, in Wirklichkeit
aber der Kirche hinterlaſſenen Vermächt—
niſſe dazu kamen, entſtanden die eigentlichen
Kirchengüter.
gegen die vorſtehende Darſtellung den Ein—
wurf erhoben, daß ſie durchgängig nur die
von Niedrigſtehenden zur Verſöhnung Höher
ſtehender gemachten Geſchenke berückſichtige,
während ſie diejenigen Geſchenke, welche die
Höhern den Niedrigern machen und welche
einen ſolchen Zweck nicht haben, gänzlich
ignorire. In der That müſſen dieſe, ob—
wohl ſie an dem, was man Herrſchaft des
Ceremoniells nennen kann, keinen Antheil
bekommen, doch noch kurz beſprochen werden.
Der zwiſchen den beiden Arten von Ge—
ſchenken hinſichtlich ihrer Bedeutung beſtehende
Gegenſatz wird klar erſichtlich, wo das Ge—
ſchenkemachen ſehr ausgekünſtelt iſt, wie in
China. „Bei „den gebräuchlichen Wechſelbe— |
ſuchen zwiſchen Höhern und Niedern oder
nach denſelben findet ein Austauſch von
Geſchenken ſtatt, aber die von den Erſteren
gegebenen werden als Schenkungen dar—
geſtellt, die von den Letzteren als Ge—
bühren in Empfang genommen: es ſind
dies nämlich die chineſiſchen Ausdrücke für
die Geſchenke, welche zwiſchen dem Kaiſer
und auswärtigen Fürſten ausgewechſelt
werden.“
Wenn nun die Macht des Staatsober—
hauptes ſich weiter ausbildet, bis daſſelbe
ſchließlich das allgemeine Eigenthumsrecht
mit wenig oder gar keiner Einſchränkung
erlangt, ſo wird es naturgemäß zu einem
Stand der Dinge kommen, wo jenes es
nothwendig findet, ſeinen Anhängern und
Unterthanen einen Theil deſſen zurückzu—
geben, was es in ausſchließlichen Beſitz
genommen hat. Und ſind die Letzteren ur—
ſprünglich durch ihr Geben in eine gewiſſe
Unterordnung gekommen, ſo werden ſie nun
in einer Hinſicht wenigſtens durch ihr Em-
pfangen noch weiter herabgedrückt. Völker,
von denen man wie z. B. von den Kookies
Ohne Zweifel hat mancher Leſer bereits
was ſie beſitzen, ihnen nur durch die Gnade
behaupten kann, daß „all das Eigenthum,
des Rajah zugeſtanden iſt“, oder! ſolche
Völker wie die Dahomeaner, welche mit
ihrem Leben wie mit ihren Gütern Beſitz—
thum ihres Königs ſind, befinden ſich offen—
bar in der Lage, daß die Dinge, welche
im Uebermaß nach dem Staatscentrum zu—
ſammengefloſſen ſind, ſchon in Ermangelung
einer anderen Verwendung wieder nach unten
abfließen müſſen; und ſo giebt denn auch
in Dahome der König, obgleich kein Staatsbe—
amter bezahlt wird, doch ſeinen Miniſtern und
Officieren königliche Gnadengeſchenke. Ohne
uns jedoch weiter nach Belegen umzuſehen,
wird es genügen, wenn wir dieſe Bezieh—
ungen von Urſache und Wirkung in Eu—
ropa von den älteſten Zeiten an bis zu
uns herab verfolgen. Von den alten Ger-
manen berichtet uns Tacitus:
Häuptling muß ſeine Freigebigkeit beweiſen
und ſeine Gefolgſchaft erwartet dies. Das
eine Mal verlangt Einer dieſes Kriegsroß,
das andere Mal jenen ſiegreichen, vom
Blute des Feindes bedeckten Speer. Der
Tiſch des Fürſten, ſo ſchmucklos er auch
ſei, muß ſtets reichlich gedeckt ſein; dies iſt
der einzige Sold Derer, die ihm folgen“.
Mit anderen Worten: eine Alles umfaſſende
Obergewalt bedingte als ihre einfache Folge
Gnadengeſchenke für die von ihr Abhängi—
gen. Die Zeit des Mittelalters charakte—
riſirte ſich durch eine etwas modificirte
Form deſſelben Syſtems. Im dreizehnten
Jahrhundert — „damit die Prinzen von
Geblüt, das ganze königliche Haus, die
hohen Beamten der Krone und Alle .. ..
vom Haushalt des Königs mit einer ge—
wiſſen Auszeichnung auftreten könnten, gaben
ihnen die Könige Kleider, entſprechend dem
Range, den ſie einnahmen, und für die
Jahreszeit geeignet, zu welcher dieſe feier—
lichen Hoflager abgehalten wurden. Dieſe
Kleider wurden Livreen („liveries“) ge—
nannt, weil fie geliefert („delivered“)
wurden“, als des Königs freie Geſchenke:
eine Aeußerung, die deutlich beweiſt, wie
die Entgegennahme ſolcher Geſchenke in der
That Unterordnung bezeichnete. Bis ins
fünfzehnte Jahrhundert pflegte der Herzog
von Burgund an einem Feſttage den Rittern
und Edeln ſeines Hauſes „Geſchenke von
Kleinodien und reiche Gaben zu geben .. ..
nach der Sitte der damaligen Zeit“. Wahr-
ſcheinlich bildeten ſolche Geſchenke nebſt dem
täglichen Unterhalt, der Wohnung und den
Dienſtkleidungen für ſich und ihre Diener
die einzige Entſchädigung für ihre Thätig—
keit. Es braucht kaum hinzugefügt zu wer—
den, daß auf derſelben Stufe des Fortſchrit—
„Der
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 63
tes in Europa das von Königen, Herzögen
und Edlen geübte Ausſtreuen von Gaben
ins Volk gleichfalls eine Begleiterſcheinung
jener unterthänigen Stellung war, in welcher
die Entſchädigung, die der Beamte für ſeine
| Arbeit abgeſehen vom täglichen Unterhalt
empfing, viel mehr die Geſtalt einer Schenk—
ung als eines Lohnes hatte. Uebrigens
haben wir ſelbſt heutigen Tages noch in
den Trinkgeldern und Weihnachtsgeſchenken
für die Dienſtboten u. ſ. w. die letzten
Ueberreſte eines Syſtems beibehalten, nach
welchem die feſtgeſetzte Entſchädigung durch
freie Gaben ergänzt wurde — ein Syſtem,
das ſelbſt wieder die einfache Folge des
früheren Syſtems war, nach welchem Ge—
ſchenke überhaupt die einzige Entſchädigung
bildeten.
So dürfte es denn hinlänglich klar
erwieſen ſein, daß ſich aus den von den
| Unterthanen dargebrachten Geſchenken ſchließ—
lich die Abgaben, Steuern und Sporteln
entwickelt haben, während aus den Gaben,
welche die herrſchenden Perſönlichkeiten ſpen—
deten, mit der Zeit Löhne und Gehälter
hervorgingen.
Mit kurzen Worten ſeien hier noch die
Geſchenke beſprochen, welche zwiſchen Solchen
ausgetauſcht werden, die nicht in anerkann—
ten Beziehungen von hoch und niedrig zu
einander ſtehen. Die Betrachtung derſelben
führt uns auf die primitive Form des
Geſchenkemachens zurück, wie daſſelbe zwi—
ſchen Fremden oder zwiſchen Gliedern ver—
ſchiedener Geſellſchaften vorkommt; und
angeſichts einiger der hierher gehörigen
Thatſachen erhebt ſich eine Frage von
großem Intereſſe: ob nicht aus der unter
ſolchen Umſtänden gemachten Verſöhnungs—
gabe eine andere wichtige Art ſocialer Hand—
lungsweiſe hervorgeht? — Der Tauſch—
handel nämlich wird keineswegs, wie wir an—
64
zunehmen geneigt find, überall von ſelbſt
verſtanden. Cook erzählt, daß es ihm nicht
gelungen ſei, irgend welchen Austauſch von
Handelsartikeln mit den Auſtraliern ſeiner
Zeit zu Stande zu bringen, und fügt hinzu:
„Sie hatten in der That keine Idee vom
Handel“. Und andere Aeußerungen laſſen
vermuthen, daß auf der Stufe, wo der
Waarenaustauſch beginnt, noch wenig Ver—
ſtändniß für die Gleichwerthigkeit der ge |
gebenen und empfangenen Dinge vorhanden
iſt. Von den Oſtjaken, welche nach Bell's
Bericht „ſie mit einer Fülle von Fiſchen
und wildem Geflügel verſorgten“, ſagt
Derſelbe: „Man braucht ihnen nur ein
wenig Tabak und einen Schluck Branntwein
zu geben, und ſie verlangen nichts weiter,
da ſie den Gebrauch des Geldes nicht
kennen“. Bedenken wir nun, daß anfangs
gar kein Mittel vorhanden iſt, um Werthe
zu meſſen, und daß die Vorſtellung von
Gleichheit des Werthes erſt allmälig durch
Uebung ausgebildet werden muß, ſo erſcheint
es nicht unmöglich, daß gegenſeitige Ver—
ſöhnung durch Gaben der Akt war, aus
welchem ſich Tauſchhandel entwickelte. Die
Erwartung, daß das empfangene Geſchenk
von gleichem Werthe ſein werde wie das
gegebene, ſtellt ſich dann erſt allmälig feſt
und die ausgetauſchten Artikel verlieren zu
gleicher Zeit den Charakter von Geſchenken.
Den innigen Zuſammenhang dieſer beiden
Formen kann man in der That ſchon aus
den im Beginn dieſes Capitels angeführten
allbekannten Beiſpielen von den Geſchenken
europäiſcher Reiſender an eingeborene Häupt- |
linge erkennen; ſo auch wenn Mungo
Park ſchreibt: „Ich beſchenkte Manſa
Kuſſan (den Häuptling von Julifunda)
mit etwas Amber, Korallen und Scharlach,
womit er vollkommen zufriedengeſtellt zu ſein
ſchien, und er ſandte einen jungen Ochſen als
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Gegengeſchenk“. Solche Vorkommniſſe zeigen
uns ſowohl die urſprüngliche Bedeutung
des Einführungsgeſchenkes als Verſöhnungs—
gabe, wie die Idee, daß das Erwiederungs—
geſchenk annähernd denſelben Werth haben
müſſe, was bereits eine Art formloſen
Tauſchhandels iſt.
Laſſen wir jedoch dieſe Speculation bei
Seite, ſo iſt hier namentlich auf die Art
und Weiſe aufmerkſam zu machen, wie
das Verſöhnungsgeſchenk zu einem ſocialen
Gebrauch wird. Wie jede andere Art von
Ceremonien, welche ja alle von dem
Streben ausgehen, den guten Willen irgend
eines gefürchteten Weſens, eines ſichtbaren
oder unſichtbaren, zu erwerben, ſo durch—
läuft auch das Geſchenkemachen eine ganze
Reihe von Stadien, bis es zu einem
gegenſeitigen Höflichkeitsakt zwiſchen Solchen
wird, die, ohne daß thatſächlich Einer dem
Andern untergeordnet wäre, ſich doch zu
gefallen ſuchen, indem ſie Unterordnung
vorgeben. Daß ſelbſt neben der urſprüng—
lichen Form deſſelben, die alſo Unterthanen—
treue einem Häuptling oder König gegen—
über ausdrückt, auch diejenige Form Ver—
breitung finden kann, in welcher ſie nur
ein Mittel darſtellt, um ſich im Allgemeinen
die Freundſchaft mächtiger Perſonen zu
ſichern, ſehen wir im alten Peru, wo, wie
bereits bemerkt wurde, „Niemand ſich Ata—
huallpa näherte, ohne zum Zeichen ſeiner
Unterwürfigkeit ein Geſchenk mitzubringen“
und wo auch „die Indianer ſich
nie einfallen ließen, vor einen höher Ge—
ſtellten zu treten, ohne ein Geſchenk zu
bringen“. In Yucatan ſodann erſtreckte
ſich der Gebrauch auch auf Gleichgeſtellte.
„Bei ihren Beſuchen führen die Indianer
ſtets Geſchenke mit ſich, um dieſelben je
„ Er vr
nach ihrer Stellung wegzugeben; die Be—
ſuchten antworteten mit einer andern Gabe.“
In Japan beſonders, wo jo ftreng auf
Ceremonien gehalten wird, laſſen ſich dieſe
Stadien der Umbildung deutlich erkennen:
dort empfängt der Mikado periodiſch ſich
wiederholende Geſchenke als Ausdruck der
Loyalität; dort begegnen wir der von Mit-
ford erwähnten Thatſache, daß „das Be—
von demſelben Autor erwähnten Thatſache,
daß es „zur guten Sitte gehört, bei Ge—
legenheit des erſten Beſuches in einem
Hauſe ein Geſchenk für den Eigenthümer
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
65
ſaß in der Eingangshalle ſeines Hauſes;
ſie gingen an ihm vorüber und ein jeder
Bürger, indem er ſeine Gabe in der Hand
hielt, legte dieſelbe beim Vorübergehen zu
den Füßen dieſes irdiſchen Gottes nieder.
Dieſe Geſchenke beſtanden in Silbermünzen,
und der Herrſcher gab dann eine ihren
ſchenken der Höhern durch die Niedrigeren
eine allgemeine Sitte iſt“, und der ferneren
deſſelben mitzunehmen, welcher dann bei
der Erwiederung des Beſuches Etwas von
gleichem Werthe übergiebt“.
Völkern ſehen wir dieſe gegenſeitige Ver—
ſöhnung zwiſchen Gleichgeſtellten andere
Formen annehmen. Markham berichtet
in ſeiner Schilderung der Himalayavölker,
daß das Austauſchen der Mützen „für einen
ebenſo unzweideutigen Beweis der Freund—
ſchaft in den Bergen gilt, als wenn im
flachen Lande zwei Häuptlinge ihre Turbane
austauſchen.“ Und Morgan ſagt, indem
er ſich dabei hauptſächlich auf die Irokeſen
bezieht: „Die indianiſchen Völker pflegten,
nachdem ſie einen Vertrag abgeſchloſſen,
ſtets ihre Gürtel mit einander auszutauſchen,
welche dann nicht allein als Beſtätigung
des Vertrags, ſondern auch als Andenken
an denſelben galten“.
Wie das Geſchenkemachen ſchließlich zur
allgemeinen Sitte wird, in Folge der Furcht
vor Gleichgeſtellten, die ſich feindlich zeigen
möchten, wenn ſie übergangen werden, während
Andere durch Geſchenke begütigt wurden,
können wir ſchon aus der europäiſchen Ge—
ſchichte erſehen. So „gab und empfing in
Rom alle Welt Neujahrsgeſchenke“. Die
Clienten gaben ſolche ihren Patronen; alle
Römer gaben ſie dem Auguſtus. „Er
Bei anderen
Geſchenken gleiche oder ſogar eine größere
Summe zurück.“ Wegen ihres Zuſammen—
hangs mit heidniſchen Einrichtungen wurde
dieſe Sitte, welche ſich in den chriſtlichen
Zeiten forterhielt, von der Kirche vielfach
verdammt. Schon im Jahre 578 verbot
das Concil von Auxerre Neujahrsgeſchenke,
welche es mit ſehr ſtarken Worten bezeich—
nete. So ſagt Ives von Chartres: „Es
giebt Leute, welche teufliſche Neujahrsgaben
von Anderen annehmen und ſelbſt ſolche
verſchenken.“ Im zwölften Jahrhundert
predigte Maurice, Biſchof von Paris,
gegen die böſen Leute, welche „ihren Glau—
ben in Geſchenke ſetzten und ſagten, daß
Keiner während des kommenden Jahres
reich bleiben würde, der nicht am Neu—
jahrstag ein Geſchenk bekommen hätte“.
Trotz aller dieſer kirchlichen Interdikte
erhielt ſich jedoch dieſe Sitte durch das
ganze Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit
fort, wo denn die Prieſter ſelber ſo gut
wie alle Andern an dieſem Gebrauch der
gegenſeitigen Verſöhnung Theil nehmen.
Außerdem haben ſich gleichzeitig noch andere
ähnliche periodiſch wiederkehrende Ceremo—
nien entwickelt; ſo in Frankreich das gegen—
ſeitige Beſchenken mit Oſtereiern. Und
auch die Schenkungen dieſer Art haben
ähnliche Umwandelungen erlitten, wie wir
ſie bei den bisherigen Arten nachweiſen
konnten: indem ſie in mäßigem Umfang
und freiwillig anfingen, ſind die Geſchenke
mit der Zeit überreichlich und in gewiſſer
Hinſicht pflichtig geworden.
Kosmos, Band III. Heft 1.
66 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Stellen wir uns nun noch die Frage,
in welcher Beziehung das Geſchenkemachen
zu den verſchiedenen geſellſchaftlichen Typen
ſteht, ſo iſt in erſter Linie hervorzuheben,
daß dieſe Erſcheinungen in den einfachen
Geſellſchaften, wo eine Häuptlingswürde
noch gar nicht exiſtirt oder noch ſchwankend
iſt, kaum vorkommt. Bei herumwandernden
führerloſen Stämmen kann ſie ſich offenbar
gar nicht feſtſetzen und zu einem Syſtem
entwickeln, ebenſo wenig aber auch bei ein—
fachen ſeßhaften Stämmen, deren Häuptlinge
nur den Namen und keine Macht beſitzen.
Wir finden ſie dagegen bedeutend ausgebil—
det in zuſammengeſetzten und doppelt zuſam—
mengeſetzten Geſellſchaften, ſo in ſämmtlichen
halbeiviliſirten Staaten von Afrika, in denen
von Polyneſien, in denen des alten Amerika
u. ſ. w., wo die dauernde Einrichtung von
Häuptlingswürden erſten und zweiten Ranges
ſowohl die Veranlaſſung als das Motiv
dazu bietet. Und indem wir dieſe That—
ſache erkennen, wird uns auch die tiefere
Wahrheit verſtändlich, daß das Geſchenke—
machen nur in indirekter Beziehung dazu
ſteht, ob der ſociale Typus einfach oder
zuſammengeſetzt iſt, dagegen direkt mit
ſeiner mehr oder weniger vollkommen krie—
geriſchen Organiſation zuſammenhängt. Denn
das Streben nach Verſöhnung muß um
ſo größer ſein, je mehr die zu verſöhnende
Perſon gefürchtet wird; daher iſt es vor
Allem der ſiegreiche Häuptling und noch
mehr der König, der ſich durch Waffen—
gewalt zum Herrſcher über zahlreiche
Häuptlinge emporgeſchwungen hat, deſſen
Freundſchaft man ſich auf's eifrigſte durch
Handlungen zu verſichern ſucht, welche
gleichzeitig ſeine Habgier befriedigen und
Unterwerfung unter ihn ausdrücken. Daraus
erklärt ſich nun die Thatſache, daß die
Ceremonie der Beſchenkung des Herrſchers
vorzugsweiſe in den Geſellſchaften aus—
gebildet iſt, welche entweder wirklich kriege—
riſchen Charakters ſind oder in denen
dauernde kriegeriſche Verhältniſſe während
vergangener Zeiten die deſpotiſche Regier—
ungsform zur Entwickelung gebracht haben,
welche dem Geſchenkemachen ſo günſtig iſt.
Daher ferner die Thatſache, daß im ganzen
Orient, wo dieſer ſociale Typus durch—
gängig herrſcht, die Beſchenkung der im
Beſitz der Macht Befindlichen überall
zwingendes Gebot iſt. Daher endlich die
Thatſache, daß auch in Europa in früheren
Jahrhunderten, ſo lange die ſocialen Thä—
tigkeiten hauptſächlich kriegeriſch waren und
der ganze Aufbau der Geſellſchaft dem ent—
ſprach, unterthänige Beſchenkungen der
Könige von Seiten Einzelner wie von
Seiten ganzer Körperſchaften allgemeine
Pflicht waren, während die Freigebigkeit
der Höhern gegen ihre Untergebenen, da ſie
gleichfalls eine Folge dieſes Zuſtandes der
vollſtändigen Abhängigkeit iſt, welche den
kriegeriſchen Typus begleitet, nicht minder
zur guten Sitte gehörte.
Der gleiche Zuſammenhang beſteht aber
auch hinſichtlich der Sitte, den Gottheiten
Geſchenke zu machen. In den untergegan—
genen kriegeriſchen Staaten der neuen Welt
hörten die Opfer für die Götter gar nicht
auf und ihre Schreine bereicherten ſich
immer mehr durch die darin niedergelegten
Koſtbarkeiten. Papyrusrollen, Wandgemälde
und Sculpturen in Menge beweiſen uns,
daß auch bei den alten Nationen des Oſtens,
deren Geſammtthätigkeit und geſellſchaftlicher
Aufbau ſo ſehr kriegeriſch waren, die Dar—
bringungen vor den Gottheiten ſehr reich—
lich und häufig ſtattfanden und daß große
Summen darauf verwendet wurden, die
Orte glänzend auszuſtatten, wo jene ver—
ehrt wurden. Ebenſo waren auch in ganz
2
Europa während der früheren kriegeriſchen
Zeiten die Geſchenke für Gott und die
Kirche viel allgemeiner und mannigfaltiger,
als ſie es in den ſpäteren induſtriellen
Zeiten geworden ſind.
Daſſelbe gilt ſogar von der Sitte, ſich
zum Zwecke geſellſchaftlicher Begütigung
Geſchenke zu machen. Wir erkennen dies
aus einer Vergleichung derjenigen europäiſchen
Nationen, welche, im Uebrigen hinſichtlich
ihrer Entwickelungsſtufe ziemlich auf der—
ſelben Höhe ſtehend, doch in Betreff des
Grades, bis zu welchem der kriegeriſche
Typus vom induſtriellen zurückgedrängt
worden iſt, ſich erheblich von einander
unterſcheiden. In Deutſchland, wo zu be—
ſtimmten Zeiten wiederkehrende Beſchenkun—
gen zwiſchen Verwandten und Freunden
zu den allgemeinen Verpflichtungen gehören,
und in Frankreich, wo die hieraus erwach—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
*
ſende Laſt ſo empfindlich wird, daß manche
Leute nicht ſelten zu Weihnachten und Oſtern
ihren Wohnort wechſeln, um derſelben zu
entgehen, lebt dieſer geſellſchaftliche Brauch
in viel größerer Stärke fort als in Eng—
land mit ſeiner weniger kriegeriſchen Orga—
niſation.
Auch von dieſer Art des Ceremoniells
können wir alſo wie von den bereits be—
ſprochenen Arten ſagen, daß ſie mit der
Befeſtigung jener ſtaatlichen Führerſchaft,
welche durch kriegeriſche Thätigkeit hervor—
gerufen wird, zuerſt beſtimmte Geſtalt ge—
winnt, und daß ſie ſich mit der Ausbild—
ung des kriegeriſchen Typus des geſellſchaft—
lichen Aufbaues weiter entwickelt, um dann
mit der Ausbildung des induſtriellen Typus
allmälig wieder an Umfang und Bedeut—
ung abzunehmen.
(Fortſetzung folgt.)
Die Ablölung der Menlchenopfer.
Von
Ernſt Keane.
n einer der letzten ſeiner höchſt
geiſtvollen Unterſuchungen über
den Urſprung der Ceremonien
und Gebräuche hat Herbert
j Spencer hinſichtlich der Dar-
bringung abgeſchnittener Körpertheile auf
Gräbern und Altären die Meinung aus—
gedrückt, daß dadurch wahrſcheinlich die
Unterwerfung und Hingebung der Opfern—
den ſymboliſirt werden ſollte, ſofern ent—
ſprechende Verſtümmelungen an Sclaven
und im Kriege bezwungenen Perſonen all—
gemein vorgenommen wurden.) Für eine
große Anzahl der hier in Betracht kom—
menden Fälle dürfte dieſe Auffaſſung wohl
die richtige ſein, aber andererſeits gehören
mehrere der dort von Spencer angeführten
Beiſpiele unzweifelhaft einer weſentlich ver—
ſchiedenen Kategorie an, nämlich einer Ab—
löſung der althergebrachten Menſchenopfer,
durch Darbringung einzelner Körpertheile.
Edward Tylor hat dieſen auf dem
ganzen Erdenrund vor ſich gegangenen Ab—
löſungsproceß mit der ihm eigenen Umſicht
und Quellenkenntniß behandelt, *) aber
) Kosmos, Bd. II. S. 540 flgde.
%) Anfänge der Kultur, Bd. II. S. 402
lade. (Deutſche Ausgabe, Leipzig 1873.)
gleichwohl einige beſonders wichtige Punkte
überſehen, weshalb es mir angemeſſen er—
ſcheint, den Gegenſtand noch einmal abge—
rundeter und mehr im Zuſammenhange dar—
zuſtellen. Zum klareren Verſtändniß dieſes
merkwürdigen Ablöſungsvorganges wird es
zweckmäßig ſein, einige Worte über die
Entſtehung der Opfergebräuche vorauszu—
chicken.
Zunächſt muß ich hier bemerken, daß
ich ſtets die von Lubbock, Tylor,
Spencer, ſowie früher ſchon von ein—
zelnen deutſchen Forſchern vertretene Anſicht
getheilt habe, daß der Urſprung der reli—
giöſen Syſteme vorzüglich im Traum—
leben des Urmenſchen zu ſuchen ſei. Da
ſich aber eine in der pſychologiſchen Analyſe
der Ur-Ideen des Menſchengeſchlechts ſo
hervorragende Autorität, wie Otto Cas-—
pari, dieſer Auffaſſung an verſchiedenen
Stellen ſeines bahnbrechenden Werkes) ab—
geneigt gezeigt hat, ſo ſehe ich mich veran—
laßt, dieſe bereits früher von mir ausge—
führte Anſicht mit einigen Worten zu
vertheidigen. Auf den erſten Augenblick
mag es allerdings ſonderbar erſcheinen, ein
) Urgeſchichte der Menſchheit. 2. Aufl.
(Leipzig 1877) Bd. I. S. 349 flgde.
| 1
ſeit Jahrtauſenden waches Leben, trotz der
offenen Sinne noch immer von den Träu—
men ſeiner Kindheit umſchattet zu nennen,
aber wenn man ſich wirklich in die Lage
des träumenden Urmenſchen vertieft, wird
man ſich ſchwerlich der Einſicht verſchließen
können, daß die Grundpfeiler aller Reli—
gionen, der Glaube an körperloſe Exiſten—
zen, an Geiſter, Dämonen und Götter,
an den Verkehr mit denſelben und an die
Unſterblichkeit der menſchlichen Seele, gar
keinen andern Urſprung haben, als die
Träume des Urmenſchen und die Reflexion
über deren Inhalt.
Der Einfluß der Träume auf das
wache Leben bietet einen noch lange nicht
erſchöpften Forſchungsgegenſtand dar. Die
gebildete Welt legt nicht nur keinen Werth
auf die Träume, ſondern ſie geht ſo weit,
zu behaupten, daß gebildete Menſchen über—
haupt nicht träumen; letztere vergeſſen nämlich
ihre Träume, eben weil ſie dieſelben keiner
Betrachtung würdig erachten. Wenn man
nun in die weniger reflektirenden Schichten
unſeres Bürgerthums hinabſteigt, ſo findet
man die Familie alle Morgen am Früh—
ſtückstiſch ihre Träume beſprechend; alle.
Mitglieder derſelben haben geträumt. Noch
eine Stufe niedriger, und man kann fort—
während der Wendung begegnen: „Heute
Nacht hat mich mein verſtorbener Mann,
Sohn, Vater u. ſ. w. beſucht“, und der
Glaube an die überirdiſche, prophetiſche,
eingebungsvolle Natur der Träume iſt dort
feſt begründet. Sollen wir in dieſer Be—
ziehung erwarten, daß die noch eine ganze
Reihe von Stufen tiefer ſtehenden Urmen-
ſchen klüger geweſen ſeien, als alle dieſe Pfahl—
bürger? Im Gegentheil, ſie erlagen der
Uebermacht des Traumes vollſtändig, und
wir find es, welche die Folgen jenes Tri-
umphes des Phantaſielebens über den
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer.
|
=,
69
wachen Zuſtand noch immer mit uns her—
umtragen. Erſt da, wo beim Thiere die
Fähigkeit der Reflexion über den Traum
ganz aufhört, erliſcht auch die Macht des—
ſelben; der träumende Hund, der einem
Haſen im Schlafe nachjagte, kommt auch
im Erwachen wohl nicht zur Erkenntniß,
daß die Jagd nicht in dieſer Welt ſtatt—
gefunden hat; er unterſcheidet nicht mehr
Traum und Wirklichkeit.
Anders bei dem Urmenſchen. Der ver—
ſtorbene Vater, Gatte, Sohn, Häuptling
tritt Nachts munter wie je an das Lager
der Seinigen, ſpricht zu ihnen und zer—
fließt, eine Weile noch dem offenen Auge
des Erwachten ſichtbar, langſam in Luft.
Was bleibt dem Naturkinde, welches keine
Ahnung von der natürlichen Entſtehung
ſolcher Vorgänge beſitzt, übrig, als zu glau—
ben, die Verſtorbenen ſeien nicht todt, ſon—
dern lebten in einem veränderten Zuſtande
weiter; und vielleicht ſollten die ſchwer—
gethürmten Steingräber einiger Stämme
mit dazu dienen, die Verſtorbenen von ihren
häufigen Beſuchen abzuhalten, während
zahlreiche Völkerſchaften die Wohnungen
den Verſtorbenen gänzlich überlaſſen, weil
ſie deren beſtändige Nähe fürchten. Cas—
pari fagt*): Man könne von keinem Geiſte
träumen, wenn nicht dieſer Begriff vorher
auf andere Weiſe ſich gebildet habe. In
Wahrheit träumt man auch gewöhnlich nicht
von geiſterhaften Weſen, ſondern meiſt nur
von Exiſtenzen ſeiner Erfahrung, aber eben
aus der ſpätern Reflexion über den
Traum, aus der Disharmonie, in
welcher deſſen Inhalt mit den Thatſachen
des wachen Lebens ſteht, geht der Begriff
einer geiſterhaften Exiſtenz der Traum—
gebilde mit Nothwendigkeit hervor.
Lubbock hat eine Reihe von Ausſprüchen
) A. a. O. I. S. 377.
70
tiefſtehender Völker geſammelt, die ſich alle
hinſichtlich ihres Geiſterglaubens direkt auf
ihre nächtlichen Erfahrungen beriefen. So
erklärten die Veddahs auf Ceylon, daß ſie
an Geiſter glaubten, weil ſie ihre ent—
ſchlafenen Angehörigen im Traume ſähen,
und die Manganjas in Südafrika begrün
deten ihren Glauben an ein zukünftiges
Leben ausdrücklich auf dieſelbe Thatſache.“)
Darauf folgt die weitere Erfahrung,
daß der Menſch im Traume entfernte Ge—
genden ſieht, Reiſen, Jagden, Kämpfe und
andere Abenteuer beſteht, während ihn
ſeine Angehörigen verſichern, daß inzwiſchen
ſein Körper ruhig an derſelben Stelle
liegen geblieben ſei, wo er ihn hingelegt
hatte. Der Naturmenſch iſt nicht gelehrt
genug, um zu erkennen, daß ſeine Gehirn—
faſern ſich einen Scherz mit ihm erlaubt
haben, ſondern er folgert mit unumſtöß—
licher Gewißheit, daß er ſelbſt ebenfalls
ein derartiges unſichtbar davongehendes und
umherſchwärmendes Weſen beſitze, wie das—
jenige des verſtorbenen Freundes und Ver—
wandten, kurz er findet ſeine innere Er—
fahrung mit der vermeintlichen äußeren
Erſcheinung anderer gleichartiger Exiſtenzen
im ſchönſten Einklang, ſo daß der Spiri—
tualismus ſich als ein ganz unausweichliches
Produkt der Traumerfahrungen darſtellt.
Viele Naturvölker glauben ihr körperloſes
Doppelweſen beſonders im Schatten oder
Spiegelbilde zu erkennen, woher ſich wahr—
ſcheinlich die über den ganzen Erdball ver—
breitete Angſt derſelben, ſich malen und
ihr Spiegelbild hinwegnehmen zu laſſen,
und ebenſo die Sorge einzelner Natur—
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer.
der
Daſſelbe berichtet Crank von den Ein—
völker herſchreibt, daß kranke Leute, bei denen
jenes Doppelweſen beſonders geneigt ſcheint,
von dem Körper zu entfliehen, ihren
) Lubbock, Entſtehung der Civiliſation.
Deutſche Ausgabe. (Jena 1875.) S. 178 flgde.
Schatten hübſch eng bei ſich behalten.
Caspari ſcheint aus pſychologiſchen Grün—
den daran zu zweifeln, daß das ungebildete
Naturkind einen ſolchen fubtilen Begriff,
wie den eines geiſtigen Weſens, formen
könnte, allein mir ſcheint, daß bei dieſem
Vorgange eine wirkliche Abſtraktion kaum
vorhanden iſt, und daß es ſich im Gegen—
theil bei der urſprünglichen Geiſtertheorie
nur um eine allerroheſte Deutung des
wirklich Erlebten handelt. So iſt denn
auch jene Anſchauung von der Möglichkeit
einer Entfernung des Geiſtes vom Körper
im Traume bei den meiſten Naturvölkern
verbreitet und ſie malt ſich unter Andern
in der Vorſchrift deutſcher Sagen, den
Schlafenden ja nicht umzukehren, damit die
in Thiergeſtalt (Maus, Vogel, Schlange)
entſchlüpfende Seele leicht den Rückweg
finden könne.
Auf dieſe Ideen-Verknüpfungen gründet
ſich nun naturgemäß die niedere Religions—
form des Manen-Dienſtes, die ſehr
weit verbreitet iſt, und früher noch viel
allgemeiner verbreitet war. In dieſer Re—
ligionsform gelten die Träume als vor—
nehmſte Offenbarungen des Ueberſinnlichen,
und die Spuren dieſer Ueberſchätzung der
nächtlichen Gehirnthätigkeit finden wir ja
noch reichlich in der Bibel und in den In—
cubationsträumen der claſſiſchen Völker.
„Bei den Yorubans in Weſtafrika,“ er—
zählt Burton, „werden die Träume für
Offenbarungen, welche ihnen die Manen
Hingeſchiedenen geben, angeſehen.“
gebornen Madagascars, und von den Natur—
völkern Nord- und Südamerikas, ſowie
Nordeuropas und -Aſiens iſt es bekannt,
daß ſie ſich narkotiſcher Mittel bedienen,
um den Traumverkehr mit ihren Manen
und Göttern zu befördern.
Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer.
Eine unmittelbar ſich aufdrängende Frage
war, wie und wovon dieſe Manen leben?
Natürlich von Speiſe und Trank, lautete
die Antwort, und wenn man nun auch an—
nehmen konnte, daß der Verſtorbene, wenn
man ihm ſeine Waffen ließ, ſich ſpäter auf
der Jagd ſelbſt verſorgen könnte, ſo ſchien
es doch gerathen, ihm, ehe er ſich in ſeinen
neuen Zuſtand gefunden, Speiſe und Trank
zum Grabe zu bringen. Dieſe Gewohn—
heit, die bei manchen Völkern lange fort—
geſetzt wird, ſcheint die primitivfte
Form des religiöſen Opfers zu
ſein, wie ſie die älteſte und verbreitetſte iſt.
Daß die Opfer nicht angerührt werden,
kann das Naturkind nicht beirren, denn alle
dieſe Dinge haben in ſeiner Phantaſie etwas
von ihnen ausgehendes Geiſtiges, von den
am Grabe geſchlachteten Thieren ſteigt eine
Seele empor, um ſich im Jenſeits jagen
und verzehren zu laſſen u. ſ. w. In
einem ebenſo witzigen als unverſchämten
franzöſiſchen Buche des ſiebenzehnten Jahr—
hunderts, in dem 51. Kapitel von Ver—
ville's „Moyen de parvenir“ wird ein
Bild von den Schmäuſen der abgeſchiedenen
Geiſter entworfen, welches in vielen Punkten
den Vorſtellungen der Speiſe und Trank opfern—
den Kindheitsvölker entſprechen mag. „Erfah—
ret denn,“ erzählt einer dieſer muntern Geiſter,
„wie wir Abgeſchiedenen tafeln. Unſer guter
Wein iſt gar nichts anderes, als der reine
Geiſt des Weines, der ſelbſt den Quint—
eſſenz-Bereitern entſchlüpft, unſere Braten
werden aus den Seelen der Thiere zube—
reitet. Ihr, die ihr materieller und kör—
perlicher ſeid, eßt die Körper derſelben, wir
dagegen die Seelen, welche wir mit dem
Duft eurer Saucen, mit den feinſten im
Feuer geläuterten Theilen der Gewürze,
des Oeles und Salzes zubereiten.“
Vor Allem aber hatte der Verſtorbene
a
Anſpruch auf den Fortbefig feines Pferdes,
ſeiner Sclaven und Sclavinnen und ebenſo
ſeines Weibes im Jenſeits: dieſelben wur—
den mithin ohne Gnade auf ſeinem Grabe
geopfert, mit verbrannt, oder wohl gar
lebendig mit ihm verſcharrt. Tylor hat
die Beweiſe von der ungeheuren Verbreit—
ung dieſes ſchrecklichen und doch ſo un—
mittelbar folgerichtigen Gebrauches geſam—
melt“) und ich will nur einige der bezeich—
nendſten Beiſpiele daraus hervorheben. Ein
Bericht von den Leichenfeierlichkeiten ange—
ſehener Männer bei den Kajanen auf Bor—
neo lautet folgendermaßen: „Sclaven wer—
den getödtet, damit ſie dem Verſtorbenen
folgen und ihn bedienen. Ehe ſie getödtet
werden, ſchärfen ihre Angehörigen ihnen
ein, ſich große Mühe um ihren Herrn zu
geben, wenn ſie zu ihm kommen, ihn zu
behüten und gehörig zu frottiren, wenn er
unwohl ſei, immer in ſeiner Nähe zu ſein
und allen ſeinen Befehlen zu gehorchen.
Dann nehmen die weiblichen Verwandten
des Verſtorbenen einen Speer und ver—
wunden die Opfer leiſe, worauf die Män—
ner ſie zu Tode ſpeeren.“ Auf den Fidſchi—
Inſeln beſtand bis vor Kurzem der Ge—
brauch, bei der Beſtattung angeſehener
Perſonen ſeine Frauen, Freunde und Scla—
ven feierlich zu ermorden und damit ſein
Grab auszuſchmücken. Die Leichen der
Frauen wurden wie zu einem Feſte geſalbt,
mit neuen Franſengürteln bekleidet, der Kopf
geputzt und verziert, Geſicht und Buſen mit
Scharlach und Gelbwurz gepudert, an ſeine
Seite gelegt. Bekanntlich iſt in Indien
die Wittwenverbrennung, und in China der
Selbſtmord der Wittwen noch heute eine
ſehr lobenswerthe Handlung in den Augen
der Altgläubigen. Auf niederer Culturſtufe
ſtehende Völker, bei denen das Leben beſtän—
5) A. a. O. I. S. 451 flgde.
2
12 Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer.
dig in die Schanze geſchlagen und nicht
beſonders hoch geachtet wird, findet man
dieſes Verfahren auch ganz natürlich. Wie
Caron erzählt, war es noch im ſiebenzehnten
Jahrhundert in Japan allgemein üblich,
daß beim Tode eines Adligen ſich zehn bis
dreißig ſeiner Diener durch das ſogenannte
Harakari oder Bauchaufſchlitzen freiwillig
den Tod gaben, wozu ſie ſich allerdings
bei Lebzeiten durch einen feierlichen Vertrag
bei einer gemeinſchaftlichen Schmauſerei ver—
pflichtet hatten, um ihrem Herrn im Jen—
ſeits weiter zu dienen. Dieſe armen Leute
waren, wenn der Herr ſich gut gegen ſie
bewieſen hatte, froh, in der andern Welt
ein ſo gutes Unterkommen zu finden.
Wir finden dieſelbe Sitte auch in Alt—
europa bei den Griechen, Galliern, Germa—
nen und Slaven. Hygin erzählt, wie
die Gattin des Proteſilaus den Scheiter—
haufen deſſelben mit beſteigt, und ſo be—
ſteigt Brunhild in der älteren Sage mit
ihren Dienerinnen den Scheiterhaufen Si—
gurds, und Baldr wird mit Diener, Pferd
und Sattel verbrannt. Cäſar erzählt,
daß die Gallier bei ihren Leichenfeierlich—
keiten alle Koſtbarkeiten, Lieblingsſclaven
und Hörige, Hausthiere u. ſ. w. mit ver—
brannt hätten, und der heilige Bonifacius
führt als Beiſpiel der ehelichen Treue bei
den Slaven an, daß deren Frauen ihnen
auf den Scheiterhaufen ſolgten. Dieſelben
Gebräuche fand man noch in den jüngſten
Zeiten durch ganz Amerika, Afrika und
Aſien.
Glaube herrſchend, daß alle Perſonen, die
ſie im Leben beſiegt und getödtet haben,
ihnen im Jenſeits dienen müſſen; darum
der Drang ſo vieler kriegeriſcher Völker,
ſo viele Menſchen als möglich zu tödten,
und die Opferung der Kriegsgefangenen
Bei kriegeriſchen Völkern iſt der
|
Aber man kann ihnen auch noch Diener nach—
ſchicken, und bei den Indianern Nordame—
rikas galt es als Freundſchaftsdienſt, einen
Scalp auf das Grab des Verſtorbenen zu
pflanzen. Bei den Dayaks werden förm—
liche Kopfjagden zu dem Zwecke unter—
nommen, einem verſtorbenen Verwandten
oder Freunde Diener nachzuſenden. Bei
den Begräbniſſen mongoliſcher Fürſten galt
die Sitte, alle Perſonen, die dem Leichen—
zuge zufällig begegneten, den übrigen
Menſchenopfern zuzugeſellen.
Am längſten erhielten ſich derartige
Menſchenopfer natürlich bei den Begräb—
niſſen von Häuptlingen und Fürſten und
ſteigerten ſich hier nicht ſelten zu großen
Maſſenexecutionen. Wir wundern uns nicht,
wenn der König von Dahome in das
Todtenland mit einem Gefolge zahlreicher
Frauen, Eunuchen, Trommler, Sänger und
Soldaten einzieht, denn in ſeinem Lande
iſt ja das Morden die Hauptſache, aber
ſelbſt in verhältnißmäßig friedlichen Ländern
war es nicht viel beſſer. Die Japaner
erzählen, daß bis zur Zeit des elften Mi—
kado Suining Tenno bei dem Begräbniſſe
des Kaiſers oder der Kaiſerin deren ge—
ſammter Hofſtaat, die männlichen, wie die
weiblichen Perſonen, rings um das Grab
bis an den Hals lebendig eingegraben wur—
den und eine lebendige Schirmhecke bilde—
ten, bis ſie einem martervollen Tode er—
lagen. Marco Polo berichtet aus dem
dreizehnten Jahrhundert, wie ſich die Reiter—
garde in den Scheiterhaufen des Königs
von Malabar zu ſtürzen pflegte, um ihn
im Jenſeits weiter zu beſchirmen. Ganz
entſprechende Berichte beſitzen wir aus Alt—
mexico, Peru, Bogota und andern halb—
civiliſirten Staaten. Bei wilden Völkern geht
es darum nicht beſſer her. Mit einem ver—
z. B. auf dem Grabe des Patroclus. ſtorbenen Wados-Häuptling wird ein Sclave
und eine Sclavin lebendig begraben, jener
mit einer Sichel in der Hand, um Holz
zur Feuerung zu ſchneiden, dieſe um ihm
das Haupt zu halten. Bei den Unyam⸗
wezis wird der Häuptling in einer gewölb—
ten Grube, den Bogen in der Hand, auf
einen Schemel geſetzt, zu ſeinen Füßen ein |
Topf voll einheimiſchen Bieres, und mit
ihm werden drei Sclavinnen lebendig be—
graben. Der verſtorbene König von Da—
home empfängt auch ſpäter von ſeinem
Nachfolger beſtändige Botſchaften über alle
neueren Regierungshandlungen durch Per-
ſonen, denen man die oft ſehr unwichtige
Nachricht einſchärft und ſie dann in der
freundlichſten Abſicht ermordet.
Die todten Häuptlinge bildeten den
Uebergang von den Manen zu den Göttern,
und viele Forſcher find aus triftigen Grün—
den der Meinung, daß ſich die Götter—
verehrung erſt aus dem Manendienſte ent—
wickelt habe. Jedenfalls iſt der Begriff
der Dämonen und Gottheiten erſt aus dem
des unſichtbar fortlebenden Menſchengeiſtes
entſtanden. Das ſind jedoch entferntere Con—
ſequenzen der Traumvorſtellungen, die ſchon
eine höhere Geiſtesthätigkeit vorausſetzen;
ſie mangeln daher oft, während der Manen—
dienſt kaum irgendwo gänzlich fehlte. Manche
Dämonen geben ſich unmittelbar als Traum—
Quälgeiſter, welche unſerm Alp und dem
Vampyr, dem Succubus und Incubus, ent-
ſprechen. Die Sorge aber, die man em—
pfand, es den Manen an nichts fehlen zu
laſſen, damit ſie freundlich und hilfreich
ihre Hinterbliebenen umſchwebten, dieſelbe
im höhern Grade mit Furcht gemiſchte
Sorge trieb dazu, den Dämonen und
Göttern ähnliche Gaben zu widmen, wie
den Verſtorbenen. Alſo zunächſt Speiſe—
und Trank-Opfer. An einer anderen
Kosmos, Band III. Heft 1.
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 73
Stelle) habe ich ausführlich darzulegen
geſucht, wie man in der aufwärts ſteigen—
den Flamme einen Boten und Mittler er—
kannte, um die dargebotenen Geſchenke an
Stelle der Ueberirdiſchen in Empfang zu
nehmen, und den geiſtigen Theil der Ga—
ben, welcher den Göttern behagt, nach oben
zu tragen, wie ſich daraus die Verehrung
des Silik-mulu⸗khi bei den Akkadiern, des
Agni bei den Indern, des Mithra bei den
Perſern und der anderen Verſöhner- und
und Mittlergeſtalten entwickelte.
Selbſtverſtändlich gingen nun auch die
Thier- und Menſchenopfer aus dem Todten—
dienſt in den Götzendienſt über, aber hier
vollzieht ſich eine eigenthümliche Wandlung.
Wie man aus naheliegenden Ideen-Ver—
knüpfungen fehlerfreie Thiere, das erſte
junge Gemüſe und Obſt, von Allem das
Beſte für die Götter ausſuchte, ſo wurden
im Beſondern zur Verſöhnung derjenigen
Götzen und Dämonen, die man für böſen
Charakters hielt, an vielen Orten der Welt
außer Kriegsgefangenen und Sclaven die
eigenen Kinder, Jünglinge und Jung—
frauen zu Opfern erwählt. Neben den
Erſtlingen des Feldes und Viehhofes blutete
die menſchliche Erſtgeburt auf den Altären.
Insbeſondere fand dies in den Tempeln
der Sonnengottheiten ſtatt, die in warmen
ſchöpfungen kund, ſo die weit verbreiteten
Ländern oftmals als die ſengenden und
verwüſtenden Gewalten des Himmels an—
geſehen werden. Im alten Babylon ſuchte
der Menſch vor dieſer den Todespfeil ſen—
denden Strahlengottheit Gnade zu finden,
indem er ihr das Leben ſeines erſtgebornen
Kindes für das ſeinige anbot. Ein kleines,
in der Bibliothek von Niniveh vor wenigen
Jahren aufgefundenes Ziegelſteinfragment
beſtätigt die Angabe der Bibel (2. Könige,
9 Der Spfergott und die Mittler-Idee.
(Voſſiſche Zeitung 1876, Nr. 176.)
10
74 Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer.
Cap. 17, V. 31), daß man dem Sonnen
gotte von Sippora die Erſtgeburt geopfert
hat, es lautet: „Den Sprößling, der aus
der Menſchheit hervorwächſt, — den Spröß—
ling hat er für ſein Leben hingegeben, —
das Haupt des Sprößlings hat er für
ſein Haupt hingegeben, — die Stirn des
Sprößlings hat er für ſeine Stirn hin—
gegeben, — die Bruſt des Sprößlings hat
er für feine Bruſt hingegeben.“ Es ſcheint,
daß dieſe Verſöhnung des gefürchteten Son—
nengottes durch Menſchenopfer ein vorwie—
gend ſemitiſcher Zug iſt, wenigſtens fehlt
dieſer grauſame Sonnengott in keiner ſemi⸗
tischen Religion. In Sippora hieß er
Malik, in Amathus Malika, in Canaan
Melech oder Moloch, in Phönizien und
Karthago Melkarth, d. h. in allen dieſen
Sprachen der König (der Götter). Ihm
opferte der König von Moab vor dem
Streite ſeinen älteſten Sohn auf der
Mauer zum Brandopfer, die Phönizier
Kinder der edelſten Familien, ja es ſcheint,
daß man bei ſeinem Jahresopfer ausdrück—
lich ſolche Eltern beraubte, die nur ein ein—
ziges Kind hatten, damit das Opfer, je
ſchmerzlicher, deſto größer ſei. Als Helio⸗
gabalus dieſen ſemitiſchen Sonnengott nach
Rom überſiedelte, wurden die edelſten
Jünglinge zu Opfern für ihn auserſehen.
Man ſtellte den von den Griechen und
Römern mit Kronos oder Saturn ver—
wechſelten Gott als metallne Figur mit in
gebückter Stellung vorgeſtreckten Händen
dar, auf welche man die Kinder niederlegte,
die dann in einen glühend gemachten Schlund
hinabrollten. Schon der menſchenfreund—
liche Tyrann Gelon von Syracus nahm
nach ſeinem Siege über die Karthager
(480 v. Chr.) in den Friedenstraktat die
Bedingung auf, daß die Menſchenopfer
aufhören ſollten, aber noch viel ſpäter be—
mühten ſich die römiſchen Gewalthaber um
Abſtellung dieſer barbariſchen Sitte.
Es bleibt kaum ein Zweifel bei dem
tieferblickenden Kritiker, daß es dieſelbe
blutdürſtige Gottheit geweſen iſt, welche die
Juden bis zu den Zeiten des Moſes unter
dem Namen El Schaddai, d. h. der Ver—
wüſter oder Vernichter, angebetet haben,
und in deſſen ſchrecklichen Dienſt ſie auch
ſpäter noch oftmals zurückfielen. Sie war
es, die von Abraham und Moſes das
Leben der Erſtgeburt verlangte, und der
Jephtha, wohl in einem Rückfalle, ſeine
einzige Tochter opferte. Die zahlreichen,
den Dämonen und Ungeheuern dargebrach—
ten Jungfrauen-Opfer gehören ebenfalls
hierher.
Dieſe grauſamen, offenbar aus dem
Manendienſt entſprungenen Menſchenopfer
forderten aber mit der Klärung der Reli—
gionsſyſteme von ſelbſt zu einer Milderung
auf, wozu der Mißbrauch der Prieſter bei—
getragen haben mag, die Kinder angeſehener
Perſonen, denen ſie feindlich geſinnt waren,
als der Gottheit angenehmſte Opfer zu be-
zeichnen. In der Iphigenien-Mythe glau-
ben wir den poetiſchen Nachklang ſolcher
prieſterlichen Racheakte zu ſehen. Ueber—
haupt kann man eine allgemeine Ten—
denz zur Ablöſung der Opfer
aller Art bei allen Völkern conſtatiren,
und bei denjenigen, die eine geſchriebene
Poeſie beſitzen, kann man dieſe Ablöſung
in unendlichen Dichtungskreiſen verfolgen.
So z. B. hörte man bald auf, den Ver⸗
ſtorbenen geſchlachtete Thiere und Menſchen
ins Grab zu werfen und den Göttern zu
verbrennen, man verzehrte, nebſt den dazu
gehörigen Getränken, beides ſelbſt, woraus
große Leichenſchmauſereien entſtanden, bei
welchen die Anthropophagie einen ſtarken
Hinterhalt fand. Den Manen und Göttern
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 5
wurden, da es ihnen ja ohnehin nur auf
die Seelen der Opfer ankommen konnte,
die unbrauchbaren Theile nur noch gleich—
ſam als Beweisſtücke dargebracht. Zuletzt
verbrannte man auf den Speiſealtären nur
noch aus Mehl und Fett hergeſtellte Ab—
bilder der Opferthiere nebſt den mit den
Eingeweiden und unbrauchbaren Fetttheilen
umwundenen Knochen und goß eine knappe
Libation in die Flamme. Der Spötter
Lucian hat in einem ſeiner göttlichen
Göttergeſpräche dieſe Uebervortheilung der
Götter durch die jüngere Generation poetiſch
dargeſtelltt. Dem Prometheus wird die
Schuld an Allem beigemeſſen; nicht dafür,
daß er das Feuer vom Himmel geſtohlen,
habe ihn Zeus an den Felſen ſchmieden
laſſen, ſondern dafür, daß er den Menſchen
das böſe Beiſpiel gegeben habe, den Göttern
ſtatt der beſten und ſaftigſten Stücke die
Knochen hinzuwerfen. Heſiod erzählt
denſelben Vorgang als eine Art neuen
Bundes zwiſchen den Olympiern und
Griechen, bei denen Prometheus die Ver—
handlungen leitete:
. Als einſt ſich verglichen die
Götter und ſterblichen Menſchen, — dort
zu Mekone, da theilt' er den mächtigen
Stier mit bedachtem — Sinn in Stücke
und nahm ſich vor, Zeus' Geiſt zu betrü—
gen. — Hierher legt' er das Fleiſch und
in glänzendem Fett die Geweide — Nur
in der Haut, und deckte ſie zu mit dem
Magen des Stieres; — Dorthin legt er
des Stieres weißſchimmernde Knochen mit
Argliſt — Künſtlich geordnet nieder, bedeckt
mit glänzendem Fette. — Jetzo zu ihm
nun ſprach Allvater der Menſchen und
Götter: — „Japeto's Sproſſe, vortreff—
lichſter du von ſämmtlichen Herrſchern, —
Lieber, wie haſt du die Theile zerlegt mit
befangenem Sinne!“ — Ihm entgegnete
wieder Prometheus liſtigen Geiſtes, —
Lächelte ſanft, doch ohne die trügliche Kunſt
zu vergeſſen: — „Zeus, ruhmvollſter und
größter der ewig geborenen Götter, —
Wähle du, welchen der Theile der Sinn
dir im Herzen gebietet!“ — Sprach's mit
betrüglichem Geiſt; doch Zeus, der unend—
lichen Rath weiß, — Dieſer erkannt' es
und merkte die Liſt und dachte Verderben
— Jetzt für die ſterblichen Menſchen, das
bald auch ſollte geſchehen! — Drauf mit
der Rechten und Linken enthob er das
weißliche Stierfett, — Und da ergrimmt'
er im Geiſt und Grollen erfüllte das Herz
ihm, — Wie er die weißlichen Knochen
des Stiers mit der liſtigen Kunſt ſah.
— Seither ſieht man den Göttern die
Stämme der Menſchen auf Erden — Im—
mer die weißlichen Knochen verbrennen auf
duft'gen Altären.“
Prometheus wurde für dieſen Streich
an den Kaukaſus geſchmiedet, aber der
neue Bund war einmal gemacht und es
hatte bei demſelben ſein Bewenden. Auf
zweierlei iſt hierbei aufmerkſam zu machen;
einmal, daß die Vereinfachung des Opfers
als „neuer Bund“ bezeichnet wird, und
zweitens, daß die Dichter dieſen Vorgang
als Ueberliſtung der Götter darſtellen.
Zeus war ſo indignirt über das Verfahren,
daß er, an Hekatomben gewöhnt, in der
Folge lieber bei den freigebigen Aethiopern
zu Gaſte ging, die noch nicht ſo raffinirt
waren, wie die Griechen.
Dieſer Ablöſungsproceß ging in der
Folge immer weiter. Die Nothwendigkeit,
jene Eingeweide und Fetttheile, wegen des
üblen Geruches, den ſie beim Verbrennen
bereiteten, vorher mit Spezereien und wohl—
riechenden Harzen zu beſtreuen, führte dazu,
den eigentlich weſentlichen Theil des Brand—
opfers ganz fortzulaſſen, und nur die Zu—
76 Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer.
that noch in die Opferflamme zu ſtreuen,
die Götter mit dem Wohlgeruch abzuſpeiſen.
So wurde aus dem Brandopfer das
Rauchopfer, welches ſich bis auf den heu-
tigen Tag in den katholiſchen Kirchen er-
halten hat. In ähnlicher Weiſe ging es
mit der Ablöſung der Trankopfer. An
die Stelle der vollen Gefäße, die man
früher zu den Gräbern und Tempeln trug,
traten kleine Schälchen Flüſſigkeit, die man
in die Flamme goß, und den Unterirdiſchen
pflegten die Griechen bei ihren Mahlzeiten
ein „ſtilles Glas“ zu widmen, von welchem
man einige Tropfen auf den Boden ſchüttete.
Bei den Römern wurde den Todten noch
in ſpäterer Zeit ein Fläſchchen Wein in's
Grab mitgegeben, Gefäße, deren einge—
trockneten Inhalt man ſeltſamer Weiſe häu—
fig für „Märtyrerblut“ ausgegeben hat.
Im vergangenen Jahre hat man zu Alys—
camps bei Arles ein derartiges Opferfläſch—
chen aus zugeſchmolzenem Glaſe auf dem
großen römiſchen Begräbnißplatze gefunden,
ſo daß der Inhalt noch nach mindeſtens
fünfzehnhundert Jahren wohlerhalten war
und der chemiſchen Analyſe unterworfen
werden konnte. Berthelot hat dieſelbe
vorgenommen und gefunden, daß man einen
Wein ſehr geringer Qualität, wahrſcheinlich
ſchon ſauer, als er eingefüllt wurde, für
die Manen ausreichend gehalten hat.
Natürlich hat unter Allen die Ablöſung
der Menſchenopfer in der Erinnerung der
Völker die meiſten Spuren zurückgelaſſen.
Statt der Eingeborenen ſchlachtete man am
Altare der tauriſchen Diana Fremde, an—
derswo Sclaven, Kriegsgefangene, ja ſelbſt
Verbrecher. In Zeiten der Noth kamen
dann freilich, weil man den Zorn der
Götter erregt zu haben fürchtete, wieder
zeitweiſe Rückfälle vor, und in Karthago
warf man nach den Siegen des Agathokles
dem Molochbilde mit einem Male zwei—
hundert Kinder der edelſten Familien in
den Feuerrachen, nachdem man längere Zeit
mit gekauften Kindern das Bedürfniß ge—
ſtillt hatte. Auch die Ablöſung der Jung—
frauen und Keuſchheitsopfer gehört hierher,
und in mannigfachen Dichtungen der ſpä—
teren Zeit wurde derjenige als Befreier
gefeiert, der dieſe Menſchenopfer vielleicht
durch Beſiegung des Staates, dem ſie als
Tribut zu liefern waren, abgeſtellt hatte.
Hierher gehört wahrſcheinlich auch die Per—
ſeus- und Theſeus-Mythe.
Die häufigſte und zunächſt liegende
Ablöſungsform für das Menſchenopfer ſtellt
nun die Darbietung eines Theiles
für das Ganze dar: die verpflichteten
Perſonen geben ſtatt Leib und Blut nur
noch ein Glied ihres Körpers oder einen
Theil ihres Blutes zur Befriedigung der
Manen und Götter her, um den guten
Willen zu zeigen. In dieſen Ideenkreis
ſcheint mir nun vor Allem, was Spencer
und ſogar Tylor entgangen iſt, die Be—
ſchneidung der Juden zu gehören. Ihre
Mythen deuten es ganz unverkennbar an.
El Schaddai, der ſchreckliche Gott Abrahams,
verlangt, wie er es in deſſen chaldäiſcher
Heimath gewohnt war, das Leben Iſaaks,
der Erſtgeburt. Durch den Gehorſam
Abrahams läßt er ſich erweichen, macht,
wie Zeus mit Prometheus, einen neuen Bund
mit ihm, in deſſen Pakten das Erſtgeburt—
Opfer aufgehoben und dafür die Beſchneid—
ung als Bundeszeichen entgegengenommen
wird. Iſaak iſt der erſte Erſtgeborne, an
welchem die mildere Praxis geübt wird. Dieſe
Deutung könnte zweifelhaft erſcheinen, aber
ſie wiederholt ſich nochmals in der Geſchichte
des Moſes (Exodus 4, 23 — 26). Wiederum
erſcheint El Schaddai und verlangt die
Erſtgeburt Moſis. Da nahm Zippora,
P
oe F
u * m.
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 11 \
die Frau des Moſes, einen Stein und
beſchnitt das Kind und bei dem gefloſſenen
Blute wird ein neuer Bund gemacht, des
Inhalts, daß in Zukunft nicht mehr die
Erſtgeburt, ſondern an Stelle derſelben die
Vorhaut aller männlichen Sprößlinge ge—
opfert werden ſolle. Erſt nachdem dieſes
Zeichen des neuen Bundes feſtgeſtellt iſt,
verſchwindet der ſchreckliche El Schaddai
und an ſeine Stelle tritt der mildere Jahve.
(Exodus 6, 3.)
Faſt noch klarer iſt dieſer Sinn bei
den von Spencer ebenfalls anders ge—
deuteten Fingeropfern an den friſchen Grä—
bern der Familienväter und Häuptlinge.
Zum Zeichen der Dienſtbarkeit, welche Frauen
und Kinder dem vorangegangenen Fami—
lienhaupte im Jenſeits ſchulden, bietet man
ihm als paſſendſtes Symbol der Dienſtbar—
keit einen Finger. Die Nicobaren verbrennen,
wie Hamilton erzählt, mit den Todten
zugleich ſein Beſitzthum und ſein Weib
muß ſich (offenbar zum Erſatz für ihr
Leben) ein Fingerglied abſchneiden laſſen.
Natürlich kann dieſe Ceremonie auch zur
Rettung
denn vor Allem brachte man ja den Todes—
gottheiten Menſchenopfer, wie wir ſchon
früher geſehen haben; noch der Kaiſer
Hadrian glaubte nur durch den freiwilligen
Tod ſeines Lieblings (Antinous) die Ge—
ſundheit wiedererhalten zu haben, und dieſelbe
Sitte fand ſich in Peru. In allen ſolchen
Fällen handelte man aber ſpäter den Preis
herab; in Indien ſuchte man die Todes—
göttin mit einen abgeſchnittenen Finger zu
beſänftigen, und an vielen Orten der Welt
diente auf Gräbern und Altären ein frei—
williger Aderlaß an Stelle des tödtlichen
Blutverluſtes. Ja es ſcheint ſogar, daß
die weitverbreitete Sitte, ſich bei Todes—
fällen in der Familie das Haar kurz zu
einer erkrankten Perſon dienen,
ſcheeren, nicht ein einfacher Ausdruck der
Trauer iſt, in der man ſich des Haares,
wie jedes andern Schmuckes, entledigt, ſon—
dern urſprünglich in einigen Fällen das
Löſungsmittel des den Manen oder der
Gottheit verfallenen Hauptes. So hängen
die Neuſeeländer nach Polack's Angabe
Haarlocken an den Bäumen des als Opfer—
platz allgemein anerkannten Begräbnißortes
auf und die Sitte der klaſſiſchen Völker,
das abgeſchnittene Haar der zur Mannheit
herangereiften Jugend der Hauptgottheit
des Geburtsortes als Opfergabe zu ſenden,
zeigt eine unverkennbare Parallele mit der
Hergabe der Vorhaut am Altare.
Dieſe ſtellvertretende Bedeutung des
Hauptſchmuckes tritt beſonders deutlich in
der von römiſchen Autoren vielfach behan—
delten Mythe hervor, in welcher ſich Ju—
piter von Numa ſtatt der zur Sühne
verlangten Menſchenhäupter deren Haar
unterſchieben läßt. Ovid hat mit Humor
die Unterhandlung des königlichen Ober—
prieſters mit dem Gotte, wie die Feilſcherei
mit einem jüdiſchen Handelsmann, der viel
verlangt, während man ihm wenig bietet,
geſchildert. Jupiter eröffnet den Handel:
„Bringe zur Sühn' einen Kopf!“ „Ich
gehorch'“ iſt des Königs Entgegnung; —
„Denn von der Zwiebel den Kopf bring'
aus dem Garten ich dir.“ — „Nein, einen
menſchlichen Kopf!“ „Du meineſt ſein Haar
von dem Scheitel?“ — „Nein, das Leben
mein' ich!“ Numa ruft ſchnell: „eines
Fiſch's?“ — Lächelnd darauf der Gott:
„Nun, fühne nur jo den Blitzſtrahl, —
Mann, der Götter ſogar mag im Geſpräche
beſtehn“.
Der Kirchenvater Arnobius, der
den ſeltſamen Handel ebenſo erzählt und
Beide hernach einen Lieferungsvertrag auf
Zwiebelhäupter und Haare ſtatt der Men—
78
Krause, Die Ablöſung der Menſchenopfer.
ſchenhäupter abſchließen läßt, braucht mehrere derlei Geſchlechtes und aus verſchiedenen
Schriftſeiten, um die Albernheit dieſes
heidniſchen Handels bloszuſtellen. Abge—
ſehen von der Redeliſt und Schlagfertigkeit,
die den Naturvölkern, wie ihre Dichtungen
beweiſen, einen großen Beifall abgewannen,
bietet dieſe Mythe allerdings nur von dem
entwickelungsgeſchichtlichen Standpunkte eini—
gen Gehalt, ſofern ſich darin eben jener
auf dialectiſche Schlüſſe begründete Ablöſ—
ungsvorgang läſtig gewordener Abgaben
malt. Sobald das Menſchenleben, welches
den Wilden ſehr wenig gilt, an Werth ge—
wonnen hatte, ſuchte man ſich in der That mit
allerlei Winkelzügen den hergebrachten Ver—
pflichtungen zu entziehen. Hier und da
wird das Opfer noch ſcheinbar gebracht,
oder in ſeinen Eingangsceremonien nach—
geahmt. Bei einigen Indianerſtämmen
Nordamerikas legt die Wittwe für einige
Augenblicke ihr Haupt neben das ihres
Gatten auf den ſchon brennenden Scheiter—
haufen und bei den Oſſeten im Kaukaſus
wird Gattin und Leibpferd dreimal um
das Grab des Verſtorbenen geführt, und
beide bleiben ihm ihr Lebelang geweiht;
die Frau darf ſich nicht neu vermählen
und Niemand des Verſtorbenen Roß be—
ſteigen. Sogar die ariſchen Hirtenſtämme
am Himalaya, haben, wie H. Wilſon
in einer gelehrten Abhandlung nachgewieſen
hat, ihre Menſchenopfer (Purucha medha)
gehabt, aber man darf ſich nicht wundern,
daß ſie bei ihnen ihre Ablöſung ſchneller
als irgendwo fanden, da ſie ihren milden
Sitten entſchieden widerſtrebten, und es iſt
dies um ſo natürlicher, als die Menſchen—
opfer überall mit der Einführung eines
regelmäßigen Ackerbaues und der Viehzucht
verſchwunden find. Eine in der Ydjur—
Veda beſchriebene Ceremonie ſtellt ihre
Ablöſungsform dar: 185 Perſonen bei
Stämmen wurden an elf Pupa's oder
Opferpfählen feſtgebunden und erſt nach—
dem man einen Hymnus zu Ehren Na—
rayana's geſungen, wieder befreit. Als
Löſegeld brachte man dann für die Men—
ſchen — Butterſpenden dar. Während früher
in Indien der Todesgöttin Kali maſſenhaft
Menſchen geopfert wurden, haben die Par—
ſen und indiſchen Brahmanen ſogar die
Thieropfer (Agniſchtoma der Veden) ab—
geſchafft. Wie oben die Menſchenopfer
der Flamme nur gezeigt wurden, ſo nahm
man nach Haug bei der parſiſchen Izeſchne—
Ceremonie einige Ochſenhaare und zeigte
ſie dem Opferfeuer, ohne daſſelbe durch
die Berührung damit zu verunreinigen.
Die Brahmanen erſetzen, um kein Thier
zu tödten, das vorſchriftsmäßige Opferthier
durch eine Nachbildung aus Butter und
Mehl. Aehnlich verfuhr man auch bei den
Griechen und Römern, und ärmere Leute,
die kein Opferthier bezahlen konnten, legten
je nach dem Vermögensſtande kleine Nach—
bildungen aus Silber, Bronze oder Thon
auf dem Altare nieder. Ueberall wo man
alte Opferſtätten aufgeräumt hat, fand man
dieſe ſtellvertretenden Figuren und oft in
ſo großen Mengen, daß man an einen
ſchwunghaften Handel mit denſelben vor
den Tempelhäuſern denken muß. Noch
kürzlich hat man wieder in Olympia Hun—
derte ſolcher kleinen Bronzen gefunden,
meiſt Ochſen, Kühe, Widder, Pferde dar—
ſtellend. Aber auch Hirſche, Haſen und
Vögel kommen vor und oft iſt die Arbeit
ſo archaiſtiſch, daß man die Species nicht
zu beſtimmen wagt. Auch menſchliche
Figuren finden ſich darunter in Maſſe,
die wohl die Opfernden oder die Hilfe—
flehenden, für die man opferte, vorſtellen
ſollten. In ähnlicher Weiſe hat man aber
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 79
auch zum Opfer beſtimmte Menſchen ſpäter
in effigie den Todten mit ins Grab ge—
geben oder zum Opfer verwendet. Heinrich
von Siebold, Attache der öſterreichiſchen
Geſandtſchaft in Yeddo hat vor kurzem
eine Abhandlung über die Tſchutſchi Ningio
veröffentlich, worin er die ſchon früher aus—
geſprochene Meinung weiter begründet, daß
dieſe hölzernen, thönernen oder metallenen
Menſchenbilder, die man in Japan häufig
beim Nachgraben auf ehemaligen Begräb—
nißplätzen findet, nichts anderes ſeien, als
ein Erſatz für die daſelbſt ehemals bis
an den Hals eingegrabenen Menſchen.
Wahrſcheinlich gehören hierher auch die
mit Glasperlen und anderm Zierrath ge—
ſchmückten menſchenköpfigen Holzpfähle, die
Schweinfurth um die Gräber im Bon—
golande gepflanzt ſah, wenn man auch
jetzt meinte, es ſeien die Portraits der
Verſtorbenen. Die Chineſen, welche es in
der Ablöſung aller Opfer am weiteſten
gebracht haben, geben, wie Doolittle
erzählt, den Verſtorbenen papierne Men—
ſchenbilder mit ins Grab, ja ſie verbrennen
im Voraus Bilder von Boten, die ihre
Ankunft im Jenſeits anzeigen ſollen, und
ſenden auch papierne Schirm- und Sänf—
tenträger vorauf.
Auch im alten Europa hat man die
in unterirdiſchen Klüften hauſenden Erd—
götter, denen ſich noch ein Curtius opferte,
die Dämonen der Flüſſe und Seen, wenn
ſie übertreten und „raſen, um ihr Opfer
zu erhalten“, mit Puppen aus Ruthenge—
flecht, Thon oder Metall zu beſänftigen
geſucht. Wahrſcheinlich gehören die Metall—
ſchätze, die man öfter in der Nähe der
Pfahlbauten gefunden hat und die aus
ungebrauchten, neuen Gegenſtänden beſtan—
den, zu der Mitgift ſolcher Puppen, um
das Opfer koſtbarer zu geſtalten. Bei der
Ueberſchwemmung des Nils zu Cairo er—
richtet man am Ufer einen kegelförmigen
Pfeiler aus Erde, den die Fluth bei ihrem
Höherſteigen hinwegſpült. Derſelbe wird
Aruſeh oder „Braut“ genannt und dieſer
Name ſcheint darauf hinzudeuten, daß er
ein Erſatzmittel vorſtellt, welches von den
humaneren Moslims für die Jungfrau
eingeführt wurde, welche man in älteren
Zeiten prächtig geſchmückt als Opfer für
den Flußgott in den Strom warf, um eine
fruchtbare Ueberſchwemmung zu erhalten,
oder anderswo ſeine Wuth zu mildern.
Zahlreiche Drachen- und Jungfrauenſagen
gehören zu dieſer Gruppe von Erinnerun—
gen an althergebrachte Menſchenopfer.
Im alten Mexico legte man Werth
darauf, den Schein ſehr genau zu wahren.
Nach den Berichten von Torquemada
und Clavigero wurde an den Feſttagen,
an welchen in den Tempeln Menſchenopfer
ſtatthatten, dieſelben auf getreue Weiſe in
den Häuſern nachgeahmt. Man fertigte
Menſchenbilder aus Teig, betete ſie an,
öffnete die Bruſt und nahm die Herzen
heraus, ſchnitt dann den Figuren die Köpfe
ab, zertheilte ſie in Stücke und verzehrte
ſchließlich die einzelnen Körpertheile. Die
in effigie vollzogene Darbringung von
Menſchenopfern zur Heilung kranker Per—
ſonen beſtand im Alterthum auf weiten
Gebieten; die oben erwähnte Darbringung
der Bruſt, des Hauptes u. ſ. w. des
Sprößlings für Bruſt, Haupt u. ſ. w.
des Vaters, fand ihren Abglanz in den
goldenen, ſilbernen und bronzenen Votiv—
Gliedmaßen, die man im Alterthum vor
den Tempeln der Heilsgottheiten feilhielt.
Im vergangenen Jahre noch wieder entdeckte
man die Spuren ſolcher Kaufläden mit
metallenen Votivgliedern in Rom. Heut-
zutage iſt man in dieſer Ablöſungsform
80
heidniſcher Menſchenopfer bis auf Wachs—
nachbildungen für die chriſtlichen Wallfahrts—
kirchen herabgeſunken und ſelbſt das Wachs
verfälſcht man, wie die Bruder Schmelzer
klagen, auf unverantwortliche Weiſe. Die
Chineſen als erſte Repräſentanten des
papiernen Zeitalters helfen ſich auch hier
mit Papierbildern. Eine ſehr vereinfachte
Form ſolcher Menſchenbilder hat Dobrot—
worsky kürzlich bei den Ainos, den Ur—
einwohnern Japans bemerkt. Dieſelben
opfern den Göttern ein Stückchen Holz
von 9 — 31 Centimeter Länge, an deſſen
oberm Ende ſie einige dünne Spahnlocken
abſpalten, und nennen das einen Inau.
Den verſchiedenen Göttern werden verſchie—
dengeſtaltete Inau's dargebracht und bei
den ſorgfältiger geſchnitzten ſieht man jene
Haarlocken darſtellenden Spähne ein wirk—
liches Menſchenhaupt mit Ohren, Augen,
Mund und Naſe umkräuſeln, ja es treten
unterwärts Hals und Arme erkennbar her—
vor. Mit Recht deutet Dobrotworsky
dieſe Inau's als die Stellvertreter ehemaliger
Menſchenopfer.
Eine ſehr gebräuchliche Ablöſungsform
für Menſchenopfer iſt endlich der Erſatz durch
Thieropfer, wobei zwar der Schein preis-
gegeben, deſto beſſer aber der Sinn (Leben
für Leben) gewahrt wurde. In Aegypten
ſoll man ehemals dem Typhon alle voth-
haarigen Fremden, deren man habhaft
werden konnte, geopfert haben, bis König
Amaſis alle Menſchenopfer aufhob. An
die Stelle der rothhaarigen Menſchen trat
nun die rothhaarige Kuh, die auch in dem
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer.
jüdiſchen Opferceremoniell eine bemerkens-
werthe Rolle ſpielt. Die Kühe und Kälber
aber, die man nunmehr in Aegypten opferte,
wurden, wie Porphyr ius erzählt, zum
untrüglichen Zeichen ihrer ſtellvertretenden
Bedeutung, mit einem Petſchaft geſiegelt,
auf welchem ein knieender Menſch, im Be—
griffe den Todesſtreich zu empfangen, dar—
geſtellt war. In ähnlicher Weiſe, wurde
auch von anderen Völkern durch das Cere—
moniell ausgedrückt, daß das Opferthier
nur als Stellvertreter diene. Aelian
erzählt uns, daß die Tenedier von Alters
her dem Dionyſos (— Melkarth) die vor—
züglichſte trächtige Kuh erzogen und dieſelbe,
wenn ſie geworfen hatte, wie eine Wöch—
nerin gepflegt hätten. „Dem neugeborenen
Kalbe binden ſie, wenn ſie es zum Opfer
führen, Kothurne unter die Füße; der
aber, welcher ihm den tödlichen Streich
verſetzt, wird zur Sühne mit Steinen ge—
worfen und flieht bis an das Meer.“ Der
Opferprieſter wurde, wie man ſieht, behan—
delt, als ob er dem Melkarth, wie ehemals,
ein menſchliches Kind geopfert habe. Eine
ähnliche, nur im Zuſammenhange dieſer
Ablöſungsceremonien verſtändliche Sitte be—
ſchreibt Pauſanias aus dem Dienſte des
Jupiter Polieus: Man ſtreuete auf ſeinen
Altar Gerſte und Weizen und ließ einen
erleſenen Stier in der Nähe los. Während
derſelbe von den Körnern fraß, näherte
ſich der Opferprieſter, ſchlug ihn mit dem
Beile todt, warf aber das Inſtrument ſo—
gleich von ſich und ſuchte das Weite. Das
Beil aber wurde, wegen des Mordes, vor
Gericht gezogen und verurtheilt. Dem
Dionyſos und der unterirdiſchen Demeter
ſcheinen in Griechenland noch in ſehr ſpä—
ter Zeit Menſchenopfer gebracht worden
zu ſein und man erzählte, daß der König
Erechtheus der Letzteren eigenhändig eine
Tochter geſchlachtet habe. In ſpäterer Zeit
opferte man ihr Stiere oder Widder über
einer Grube, in welcher ein Menſch ſtand,
der von dem Blute beſpritzt und dadurch
entſühnt wurde. Herakles, den einſt König
Buſiris dem Typhon opfern wollte, ſoll
die Menſchenopfer in Griechenland abge
ſchafft haben. Am längſten ſcheinen ſolche
daſelbſt dem Dionyſos in ſeinem Myſterien—
dienſte gebracht worden zu ſein und ſelbſt
Themiſtokles ſoll ihm, wie Plutarch er—
zählt, noch drei Jünglinge geopfert haben.
Pauſanias bemerkt ausdrücklich, daß
der Bock, der ihm ſpäter dargebracht wurde,
an Stelle eines Menſchen angenommen
werde. Alſo ganz wie in der Abrahams—
Mythe. Am bacchiſchen Feſte des Roh—
eſſens wurde das Thier (hier gewöhnlich
ein Schwein) wie einſt Dionyſos ſelbſt, von
den Titanen in kleine Stücke zerſchnitten und
roh von den Opfernden verzehrt. Auch
in Italien ſoll Herakles die Menſchenopfer
abgeſchafft haben. Den Sabinern, die
einem griechiſchen Orakel zu Folge, bisher
Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer.
81
dius verſichert, daß der Kaiſer Commodus
dem in Rom neumodiſchen Gotte zahlreiche
Mienſchen geſchlachtet habe.
In dieſer Zeit begann das Menſchen—
opfer jedoch die religiös-myſtiſche Wendung
zu nehmen, welche in der Soma-, Mithras-⸗,
Oſiris-, Dionyſos-, Adonis- und Balder-
Legende ausgedrückt iſt, die Entſühnung
Menſchen (rss) geopfert hatten, lehrte
er nach Angabe des Dionyſius von
Halikarnaß, dem Numa an Spitzßindigkeit
mißverſtanden, es ſeien Lichter (gor«) ge—
meint.
liche aufboten, um die Menſchenopfer in
Karthago und Gallien zu unterdrücken,
ſchlich ſich mit dem Mithrasdienſte die Un—
ſitte derſelden wieder ein, und Lampri⸗
aller Menſchen durch das einmal vergoſſene
Blut, womit naturgemäß alle Opfer auf-
hören mußten, oder höchſtens noch als Er—
innerungsmahle u. dergl. in gereinigter
ſymboliſcher Geſtalt fortdauern konnten. Ob—
wohl dieſe Entwickelungsrichtung innig ver—
flochten iſt mit der anderweitigen Ablöſung
der Menſchenopfer, iſt es hier nicht unſere
Abſicht, derſelben zu folgen. Aber auch
abgeſehen von dieſer Verklärung der Men—
ſchenopfer, würde man in der langſamen,
aber ſtetig fortſchreitenden Ablöſung jener
Hekatomben von Menſchenleben, die chemals
nichts nachgebend, ſie hätten das Orakel
auf der ganzen Erde einem Wahne fielen,
den fortſchrittlichen Charakter der allgemeinen
Während die Römer alles Mög-
Cultur⸗Entwickelung anerkennen müſſen und
wenn wir es auch darin noch nicht „herr—
lich weit gebracht“, — etwas beſſer iſt es
jedenfalls geworden.
eee
Kosmos, Band III. Heft 1.
— — . . — . !!!!!!
11
Kleinere Mittheilungen und Journallchau.
Die Fortſchritte der ſynthetiſchen Waſſer für ſich erhalten wurde. In beiden
Mineralogie und die künſtliche Fällen zeigten die
Darſtellung verſchiedener Edelſteine.
G. 82
on einem nicht geringen kosmologiſchen
IIntereſſe find die neueren Verſuche ver—
und Edelſteine nach Zuſammenſetzung
und Kryſtallgeſtalt künſtlich darzuſtellen, nicht
ſowohl, um die chemiſchen Proceſſe, welche auf
dem glühenden und ſich abkühlenden Erdball
eintraten, überhaupt künſtlich nachzuahmen,
ſondern um dadurch einen Einblick in das
Weſen und den Verlauf dieſer Proceſſe zu
gewinnen. Das vergangene Jahr hat in
dieſer Richtung beſonders bedeutende Leiſt—
ungen aufzuweiſen, und hier ſind in erſter
Reihe die Verſuche von P. Hautefeuille
zu erwähnen, die verſchiedenen Arten der
Feldſpathe künſtlich zu erzeugen. Nach—
dem es ihm ſchon früher gelungen war,
den Natronfeldſpath oder Albit durch Ein—
wirkung von Wolframſäure in der Glühhitze
auf ein ſehr alkaliſches Thonerde-Natron—
Silikat zu gewinnen, iſt ihm dies kürzlich
in analoger Weiſe mit dem Orthoklas
oder Kali-Feldſpath ebenfalls geglückt; nach
einer vierzehntägigen Erhitzung des Ge—
nahezu tauſend Grad war
menges auf
ſämmtliches Silikat in kryſtalliſirten Feld-
ſpath übergegangen, der durch Entfernung
des wolframſauren Alkalis mit ſiedendem
künſtlich hergeſtellten
Kryſtalle genau die chemiſche Zuſammen—
|
I
|
|
|
|
|
ſetzung, Dichtigkeit, Kryſtallform, Spaltbar—
keit u. ſ. w. der natürlichen Feldſpathe dieſer
Kategorie, obwohl in der Natur wahrſchein—
lich eine andre Alkali entziehende feuerbe—
ſchiedener Chemiker, allerlei Mineralien
ſtändige Säure die Rolle der Wolframſäure
| geſpielt haben dürfte.“) Nach einem andern
Verfahren ſtellte bald darauf E. Fremy
den Diſthen, ein reines kryſtalliſirtes
Thonerdeſilikat und auch andre Silikate dar,
indem er ebenfalls ſein Augenmerk auf eine
langſame Ausſcheidung der Mineralien durch
chemiſche Einflüſſe aus einem wochenlang im
feurigen Fluſſe erhaltenen Gemenge richtete.
Von großer practiſcher Wichtigkeit dürfte die
Entdeckung eines Verfahrens werden, die
Minerale der Korundfamilie, die als Edel—
ſteine ſehr geſchätzt ſind (denn hierher ge—
hören Rubin, Sapphir, und diejenigen
Smaragde, Topaſe und Amethyſte,
die man zum Unterſchiede ihrer weniger ge—
ſchätzten Namensvettern „orientaliſche“ Sma—
vagde u. ſ. w. nennt), in größeren Kry—
) Die Abhandlungen von Haute—
feuille und Fremy wurden in derſelben
Sitzung der Pariſer Akademie (3. December
1877) geleſen und ſind abgedruckt in den
Comptes rendus T. LXXXV p. 952 u. p. 1029.
An demſelben Tage legte Monnier eine Arbeit
vor über die künſtliche Gewinnung von Opa—
len, indem man eine verdünnte Auflöſung von
Oxalſäure vorſichtig auf ſyrupsdickes Natron—
Waſſerglas gießt, ſo daß die Kieſelſäure nur
langſam durch die Oxalſäure verdrängt wird.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 83
ſtallen künſtlich darzuſtellen. Da dieſe dem
Diamanten im Werthe am nächſten ſtehen—
den Edelſteine nur aus kryſtalliſirter und
mit verſchiedenen Metalloxyden gefärbter
Thonerde beſtehen, jo waren ſeit Jahrzehn-
ten die Bemühungen verſchiedener Chemiker
— wir nennen die Namen Gaudin und
Debray, Sainte Claire Deville,
Caron und Ebelmann — darauf ge—
richtet geweſen, Thonerde zu kryſtalliſiren.
Schon durch eine bloße Schmelzung reiner,
etwas Chromſäure oder Kobaltoxyd ent—
haltenden Thonerde im Knallgasgebläſe war
es früher Gaudin gelungen, rubin- und
ſapphirartige Schmelzperlen zu erzeugen,
aber dieſen Schmelzprodukten fehlte durch—
ſichtige Klarheit, und die Bemühungen ſpä—
terer Chemiker gingen mit Recht auf eine
wirkliche Kryſtalliſation der Thonerde
aus. Durch feurige Auflöſung der Thon—
erde mittelſt Borax oder Borſäure und
langſamer Verflüchtigung der letzteren, gelang
es auch wirklich, kleine Thonerdekryſtalle zu
gewinnen, aber dieſelben waren zu winzig,
um irgend einen Werth als Schmuckſteine
beanſpruchen zu können. In Gemeinſchaft
mit Herrn Feil ermittelte indeſſen Herr
E. Fremy eine Methode, größere Kry—
ſtalle zu gewinnen, und indem ſie viertel
und halbe Centner Material zwei bis drei
Wochen in den Schmelzöfen des Erſtgenann—
ten erhitzten, konnten ſie mehrere Kilogramme
theils ungefärbter, theils gefärbter Korunde
(d. h. Rubinen und Sapphire) gewinnen
und der Akademie vorlegen. Das von
ihnen als das vortheilhafteſte erprobte Ver—
fahren beſteht in der langſamen Wegnahme
der Kieſelſäure durch ſchmelzendes Bleioxyd
aus einer reinen Thonerde (d. h. Thonerde—
Silikat), wobei die übrig bleibende Thon—
erde langſam aus der feuerflüſſigen Maſſe
auskryſtalliſirt und die Kryſtalle zu einer
hinreichenden Größe anwachſen, um in der
Edelſteinſchleiferei und Uhrmacherei Anwend—
ung zu finden. Man brachte gleiche Ge—
wichtsmengen von Thonerde und Mennige
in einen feuerfeſten Tiegel, der von einem
zweiten umſchloſſen wurde, und ſetzte die—
ſelben in einem Glas- oder Porzellanofen
einer mehrwöchentlichen, beſtändigen, leb—
haften Rothgluth aus. Weil nämlich das
Bleioxyd dem Thone der Tiegelwände eben—
falls langſam die Kieſelſäure entzieht, wer—
den die Wände häufig durchgefreſſen, und
deshalb empfiehlt es ſich, einen Doppel—
tiegel anzuwenden. Nach dem Erkalten
finden ſich im Tiegel zwei Schichten, eine
obere, die vorzugsweiſe aus glasartig
amorphem Bleiſilikat beſteht, und eine un—
tere, kryſtalliniſche, in welcher ſich die Thon—
erdekryſtalle in kugeligen Klumpen finden
und von ihrer Silikathülle durch ſchmelzen—
des Kali oder Bleioxyd, reſp. durch Fluor—
waſſerſtoff befreit werden müſſen. Ohne
weiteren Zuſatz erhält man farbloſe Ko—
rund ⸗Kryſtalle; ſetzt man dem Gemiſch
von Thonerde und Mennige zwei bis drei
Procent doppeltchromſaures Kali hinzu, ſo
erhält man roſen- bis purpurrothe Rubine,
und wenn man nur eine kleine Spur die—
ſes Salzes, nebſt einer geringen Menge
Kobaltoxyd hinzufügt, ſo findet man mehr
oder weniger tief gefärbte Sapphire.
Dieſe künſtlichen Diamantſpathe, Ru—
bine und Sapphire beſitzen nun alle Eigen—
ſchaften der natürlichen Edelſteine, ſie zeigen
nicht allein deren Kryſtallgeſtalt, Dichtig—
keit, Härte und Farbe, ſondern ſie ſind
nach den Angaben der Edelſteinſchleifer,
denen man einige Proben zur Bearbeitung
übergab, ſelbſt härter als dieſe, alſo z. B.
für die Uhrmacherei, wo man ſie zu Zapfen—
lagern verwendet, noch werthvoller. Die
künſtlichen Rubine verlieren, wie die na—
84 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
türlichen, beim Erhitzen ihre roſenrothe
Färbung und gewinnen ſie beim Erkalten
wieder, nur der Glanz ſchien nicht völlig
derjenige der ſchönſten natürlichen Steine
zu ſein, obſchon der Unterſchied gering war.
Es läßt ſich denken, daß dieſe Mittheilun—
gen unter den Juwelieren von Paris eine
große Aufregung erzeugt haben, da es ſich
gerade um die koſtbarſten, unter Umſtänden
höher als der Diamant bezahlten Edel—
ſteine handelt. Ihre Fachjournale ſuchen die
künſtlichen Steine herabzuſetzen, indem ſie
behaupten, die Kunſt werde nie erreichen,
wozu die Natur vielleicht Jahrtauſende ge—
braucht habe u. ſ. w. Thatſache iſt, daß
dieſe künſtlichen Steine ſchon jetzt nach den
erſten Verſuchen kaum von den natürlichen,
mit denen ſie ja ihrer chemiſchen Natur
und Bildungsweiſe nach völlig identiſch ſind,
weder durch chemiſche noch durch phyſika—
liſche Hilfsmittel ſich unterſcheiden laſſen, und
man wird ohne Zweifel Mittel finden, ſie,
vielleicht durch Verlangſamung des Pro—
ceſſes, noch ſchöner zu erhalten, und auch
in andern Farben darzuſtellen, ſo daß ſich
hier eine weite Perſpektive für eine neue
hoffnungsvollere Alchemie aufthut, als es
ihre ältere Schweſter war.
Wo hat der Moſchusduft der
Schwärmer ſeinen Sitz?
I. Unter den Tauſenden europäiſcher
Schmetterlingsjäger ſcheint ſich noch keiner
dieſe Frage vorgelegt zu haben.
Frage wäre ja ſofort auch die Antwort
zur Hand geweſen, da man eben einfach
der Naſe nachzugehen braucht, um den Aus—
gangspunkt eines ſtarken Geruches zu finden.
Während in Europa der Winden—
ſchwärmer nicht ſelten iſt, von deſſen
Mit der
ſchloſſen.
Männchen man ſeit lange den Moſchus—
geruch kennt, habe ich hier heute zum erſten
Male ein biſamduftendes Schwärmermänn—
chen gefangen, von einer kleinen, nur 0,04
Meter langen Art, deren Namen ich nicht
weiß. Es umflog gegen Abend die reich—
blüthigen, großen, blauen Dolden eines
Agapanthus in meinem Garten.
Beim Beriechen ergab ſich ſofort, daß
der ſehr kräftige Geruch von der Bauch—
ſeite des Hinterleibes ausging. Als ich
nun, die Bruſt zwiſchen Daumen und
Zeigefinger faſſend, den Schwärmer mit
aufwärts gekehrter Bauchſeite feſthielt, be—
merkte ich, daß, ſo oft das Thier mit den
Flügeln ſchwirrte, jederſeits am Anfange
des Hinterleibes ein blonder Haarpinſel
biſamduftend ſich ausſpreizte. Beruhigte
ſich das Thier, ſo legte ſich der Pinſel
wieder in eine Längsrinne, die ſich jeder—
ſeits über den größeren Theil der beiden
erſten Hinterleibsringe erſtreckte, und ver—
ſchwand, indem fi die die Rinne begren-
zenden Schuppen über ihm zuſammen—
Während der Ruhe war von
dem Pinſel nichts, von der Rinne kaum
etwas zu ſehen. Letztere läßt ſich am
todten Thiere ſichtbar machen durch Zu—
ſammendrücken des Hinterleibes von hinten
nach vorn; zwiſchen den auseinander weichen—
den Schuppen zeigte ſich dann der Boden
der Rinne als ſchmaler, nackter Längsſtreif.
Alſo wieder — nur an einem neuen
Orte — dieſelbe wirkſame Form der Duft—
vorrichtungen, die als Träger deutlich
wahrnehmbarer Gerüche auf den Flügeln
und am Ende des Hinterleibes bei verſchie—
denen Tagfaltermännchen gefunden wurde.
Ich bezweifle kaum, daß auch die unter
Dickköpfen und Nachtſchmetterlingen vor—
kommenden „Schienenpinſel“ (Herrich—
Schäffer), die z. B. bei den Männchen
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
von Pantherodes pardalaria, einem zeit—
weiſe hier häufigen, prachtvoll pantherartig,
ſchwarz auf gelb gefleckten Schmetterling,
mächtig entwickelt ſind, der Verbreitung
eines die Weibchen anlockenden Duftes
dienen, obwohl ich einen ſolchen noch nicht
habe wahrnehmen können.
Ob bei den Männchen des Winden—
und des Liguſterſchwärmers der Moſchus—
duft von der gleichen Stelle ausgeht? Und
ob auch die für menſchliche Naſen geruch—
loſen Schwärmermännchen ähnliche Duft—
pinſel beſitzen? Beides iſt wahrſchein
lich. Möge es bald durch Beobachtungen
entſchieden werden.
II. Obige Vermuthung gründete ſich
hauptſächlich auf das Verhalten des Schienen—
pinſels bei Pantherodes pardalaria, der
am Anfang der Hinterſchiene entſpringend,
deren volle Länge erreicht, und ſich für ge—
wöhnlich in einer tiefen Längsrinne birgt, die
an der Innenſeite der Schiene ſich hinzieht
und überdacht wird von eigenthümlichen, ſehr
großen Schuppen ihres Randes. Die Ent—
faltung des Pinſels ſcheint durch ſehr kräftiges
Strecken der Schiene bewirkt zu werden.
Jene Annahme hat ſich inzwiſchen
beſtätigt. An einem unſerer Schmetterlings—
rieſen aus der Familie der Erebiden, mit
etwa 0,19 Meter Flügelſpannung, konnte
ich einen wenn auch nicht beſonders ſtarken,
ſo doch ganz unverkennbaren, eigenthüm—
lichen Geruch an den Hinterſchienen des
Männchens wahrnehmen. Schlank bei dem |
Weibchen, iſt bei dem Männchen dieſer Art
die Hinterſchiene ſtark verbreitert (4 Milli-
meter breit bei 12 Millimeter Länge), und
ihre ganze Innenſeite iſt mit einem dichten
Walde von Haaren bedeckt, die ſich zu
einer gewaltigen Bürſte aufſträuben können,
während ſie in der Ruhe der Schiene dicht
anliegen. Dabei liegen zu unterſt, in einer
85
ſeichten Längsrinne, die Haare der Mittel—
linie, überlagert von einer dicken Schicht
der ſeitlichen Haare, welche dabei ſchief nach
der Mittellinie und dem Ende der Schiene
zu gerichtet find “). |
Wie wahrſcheinlich aus über die ganze
Fläche der Flügel verſtreuten Duftſchuppen
die mannigfachen, auf beſtimmte Stellen be—
ſchränkten Duftwerkzeuge der Flügel her—
vorgegangen ſind, ſo läßt ſich auch der
Schienenpinſel von Pantherodes unſchwer
ableiten aus einer die ganze Innenſeite der
Schiene bedeckenden Behaarung, wie ſie
das eben erwähnte Erebidenmännchen zeigt,
und zwar um ſo unbedenklicher, als auch
in der Familie der Erebiden lange, am
Anfange der ſonſt unbehaarten Hinterſchie—
nen ſitzende Haarpinſel vorkommen.
Bei den mir bekannten Dickköpfen fin—
det ſich an den Hinterſchienen keine Vor—
richtung zur Bergung des Pinſels; dagegen
ſah ich bei einer der anſehnlicheren Arten
dieſer Familie, wahrſcheinlich einem Anti—
gonus, daß der Schienenpinſel in einer
durch die Schuppen des Hinterleibes ge—
bildeten Furche verſteckt lag.
Itajahy, 26. November 1877.
Fritz Müller.
Cocon-Mimicry?
Im erſten Hefte des vierundvierzigſten
Jahrgangs von Troſchel's Archiv für
) Dieſem Erebiden ähnlich ſcheint ſich
ein javaniſcher Dickkopf, Ismene Oedipodea,
zu verhalten, bei deſſen Männchen die Hin—
terſchienen ſehr ſtark verdickt („extremely
thick) und dicht behaart („very densely
hairy“) find. (Doubleday, Weſtwood,
Hecoitron, Genera of diurnal Lepidoptera.
P. 514.) — Es darf bei dieſer Gelegenheit
daran erinnert werden, daß ſchon Linne einer
Erebidenart den Namen „odora“ gab; Nähe—
res über dieſelbe weiß ich nicht.
86
Naturgeſchichte (1878, S. 20) be
richtet Dr. H. Dewitz aus Berlin, in
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
legen ſind; die beiden dem Deckel zunächſt
ſtehenden Löcher ſind die größeren, auch
einer Arbeit über Venezuelaniſche Schmetter- führen fie in geräumigere Höhlungen, als
linge, nach den Beobachtungen Gollmer's,
über den Coconbau einer Spinner-Raupe,
die beiden andern. Von dem Innern des
Cocons ſind die vier Höhlungen gänzlich
der den Auſchein einer ſehr eigenthümlichen
Mimicry darbietet.
lichen Auszug ſeiner Bemerkungen bei.
Wir fügen deshalb
der Abbildung dieſes Cocons einen wört⸗
„Der Cocon,“ ſagt er, „iſt länglich
rund, 0,02 Meter lang, im Verhältniß
zur Raupe ſehr klein, faſt wie Leder, in
der Wand dick, auf der äußern Seite
runzlig, grau, innen geglättet und dunkler
gefärbt, an einem Ende
abgeſchrägt, und man
ſieht hier eine halb—
kreisförmige Klappe
ſich markiren, welche
während des Puppen—
lebens geſchloſſen, beim
Ausſchlüpfen des
Schmetterlings aufge—
klappt wird. Obwohl
der Deckel, ſo lange
er geſchloſſen iſt, mit
dem übrigen Cocon ein
zuſammenhängendes
Ganze bildet und nur durch eine dunklere
Linie markirt wird, ſo muß er doch von
Hauſe aus beſonders angelegt ſein und nur
durch wenig Geſpinnſtmaſſe und Klebſtoff
mit den angrenzenden Rändern des Cocons
verbunden worden ſein. Letzterer hängt in
wagerechter Lage an der untern Seite eines
Blattes oder Aſtes, ſo daß der aufgeklappte
Deckel nach unten gekehrt iſt. An der
dem Boden zugewandten Coconſeite ſieht
man vier im Quadrat ſtehende runde Löcher,
ſie führen in kleine Höhlungen, welche
zwiſchen der äußeren, helleren, und der in—
neren, dunkleren Wand der Coconſchicht ge—
Cocons von Aides Amanda Cramer.
J. Anſicht von unten, uneröffnet.
II. Seitenanſicht mit geöffnetem Deckel.
getrennt und können nicht als Luftlöcher
angeſehen werden. . . . . .. Den Aufbau
dieſes ſonderbaren Cocons denke ich mir
folgendermaßen: Zuerſt ſpann die Raupe
an der Unterſeite des Blattes aus grauen
Fäden einen mit den vier Löchern verſehe—
nen Cocon, die äußere helle Schicht. Dann
wurde die Wand von innen her durch eine
zweite, vielleicht nur in Folge eines ſtär—
keren Zuſatzes von
Klebſtoff dunkler ge—
färbte Lage verdickt.
Das Thier baute die
innere Schicht zwar
über die vier Löcher
hinweg, nahm jedoch
jetzt auf den Deckel
Rückſicht, indem es
ſeine kunſtvolle Be—
feſtigung durch Grat
und Nuth anlegte.
e Sehr ähnliche
Geſpinnſte wie die
von Amanda, vielleicht dieſelben, hat ſchon
Moritz ( Wiegmann's Archiv, 1836,
S. 303) beſchrieben. Er ſagt: „Kleine
weißgraue Cocons an Stämmen der im—
merblühenden Roſen- und Weingelände
ſind von ſo unregelmäßiger, runzliger Ge—
ſtalt, daß ſie Auswüchſe, durch einen Cy-
nips hervorgebracht, oder Klümpchen geſell—
ſchaftlicher Ichneumon-Geſpinnſte zu fein
ſcheinen, wozu vollends noch vier tiefe kleine
Löcher in der Oberhaut des Geſpinnſtes
ſelbſt das Auge des Entomologen täuſchen,
der nur noch die Hülle kleiner Inſekten—
Geſpinnſte darunter vermuthet.“ Und in
der That, im erſten Augenblick weiß man
nicht recht, ob man eine von den Inſaſſen
verlaſſene, runzlige, holzige Galle, oder
ein von Schlupfwespen durchbrochenes, alſo
leeres Blattwespen-Cocon vor ſich hat.
Verſchiedene Perſonen, denen ich die Ge—
ſpinnſte zeigte, waren der Meinung, Schma—
rotzer hätten dieſelben durchlöchert. Da die
Inſekten ihren Cocon wohl in den meiſten
Fällen ſymmetriſch bauen, ſo wurden auch
die Löcher in dieſer Weiſe angelegt. Die
Cocons ſcheinen jedoch meiſt in wagerechter
Lage an der Unterſeite eines Blattes oder
Aſtes befeſtigt zu ſein, ſo daß man nur
zwei Löcher wahrnimmt, wodurch die Sym—
metrie wieder verwiſcht wird und die Täuſch—
ung um ſo beſſer gelingt. . . . .. An
einen Luftaustauſch iſt bei dieſen Löchern
gar nicht zu denken, denn die Höhlungen,
in die ſie führen, werden durch die ſehr
feſte, pergamentartige, innere Schicht vom
Hohlraum des Cocons geſchieden, und dann
wäre es ja auch nur nöthig geweſen, die
Coconwand an dieſer Stelle ſchwächer an—
zulegen, ohne die vier Hohlräume. Selbſt
die Annahme, daß die Oeffnungen nur
während der erſten Zeit des Verſpin—
nens dem Thiere Luft zuführten, iſt un—
haltbar, denn man kann dann mit Recht
wieder fragen, wozu dienen die Hohlräume
und warum bedarf dieſe Raupe der Luft-
zufuhr, während andere, welche ebenfalls
einen feſten, pergamentartigen Cocon bauen,
und gleichfalls einen großen Körper im
Verhältniß zur Geſpinnſthöhlung beſitzen,
dieſelbe nicht nöthig haben? Wir müßten
alſo bei Amanda, wären die Oeffnungen
des Luftzutritts wegen da, einen von ihren
nächſten Verwandten, den übrigen Cochlio—
poden-Raupen, abweichenden inneren Körper—
bau annehmen, was doch wohl nicht gut
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 87
denkbar iſt; daß jedoch eine Raupe von derbare Einrichtung erklären können.“
inneren Theilen in Zuſammenhang ſtehen,
ihren nächſten Verwandten durch ihre Ge—
wohnheiten, ſo weit dieſe nicht mit den
ſehr verſchieden ſein kann, liegt auf der
Hand. — Bei der Annahme einer Luft-
zufuhr ſtehen die vier Höhlungen alſo un—
erklärt da. Nehmen wir jedoch eine Nach—
ahmung an, ſo haben die Hohlräume ihren
guten Grund, ja ſie ſind unentbehrlich,
denn die vier Löcher mußten in dunkle
Höhlungen führen, ſollten ſie den Schein
erwecken, daß der Cocon bereits durchbohrt
ſei, indem ſo die innere, die Höhlungen
von dem Raume im Cocon trennende Wand
dem Auge des Beſchauers aus Lichtmangel
verborgen bleibt. Daß vier einfache, die
ganze Dicke der Geſpinnſtwand durchboh—
rende Löcher dem Thiere durch eindringende
Näſſe und kleine Inſckten nachtheilig ge—
weſen wäre, iſt wohl klar. . . . .. Hätte
die Raupe durch einen ſchwarzen Farbſtoff
ſtatt der Löcher ſchwarze Flecken angelegt,
wie man an einem Hauſe ſchwarze Schein—
fenſter anbringt, ſo wäre die Wirkung bei
Weitem nicht eine ſo ſtarke; auch hätte die
Speicheldrüſe der Raupe erſt dahin ge—
bracht werden müſſen, dieſen ſchwarzen
Stoff abzuſondern, was wohl mit größe—
ren Schwierigkeiten verknüpft geweſen wäre,
da es ſich um die Umwandlung eines in—
nern Organs handelt, als den Kunſttrieb
der Raupe dahin zu lenken, daß ſie die
vier Höhlungen baut. — Es mußte alſo
ein geſchloſſener Cocon mit dem vollſtändi—
gen Eindruck eines durchlöcherten hergeſtellt
werden, und dieſes Problem iſt wohl aufs
Einfachſte und Schönſte gelöſt. — Mag
man ſich nun für Naturzüchtung oder für
eine treibende und lenkende Kraft entſchei—
den, in beiden Fällen wird man nur durch
die Annahme einer Nachahmung dieſe ſon—
88
„Eriogaster catax und lanestris,
die gleichfalls gedeckelte Cocons bauen,
laſſen nach Esper und Ratzeburg
(Forſtinſekten, 1840, II. S. 134) ein
Loch in ihrem Cocon, doch vermuthe ich,
daß dieſes die Geſpinnſtwand ebenfalls nicht
durchbohrt, ſondern auch in eine kleine
Höhlung führt, welche von dem Innern
des Cocons getrennt iſt, alſo kein Luftloch
vorſtellt, wie Esper meinte, ſondern nur
dazu dient, den Feinden die Meinung bei—
zubringen, der Cocon ſei leer; auch glaube
ich wohl, daß Vögel, durch die Erfahrung
belehrt, die von Schlupfwespen durchbohr—
ten, alſo leeren Inſektengehäuſe nicht an—
rühren und hier durch Nachahmung ge—
täuſcht werden.“
Dr. Pizarro's Batrachichthys.
Im erſten Bande (Jahrgang 1876)
eines neuen braſilianiſchen Journals für
Naturkunde (Archivos do Museu Nacio—
nal do Rio de Janeiro) wird auf Seite
31 unter dem Titel: „Nota descriptiva
de uno pequeno animal extremamente
curioso e denominado Batrachichthys“
ein Waſſerthier beſchrieben, welches der
Verfaſſer des Artikels, Dr. Pizarro, für
ein höchſt merkwürdiges Mittelglied zwiſchen
den Fiſchen und Fröſchen betrachtet und
der beſonderen Aufmerkſamkeit Dar win's,
Haeckel's und anderer Vertreter der Ab—
ſtammungslehre empfiehlt. Wenn dieſe
„Uebergangsform“ nun auch gerade nicht viel
lehrreicher ſein ſollte, als andere Kaulquappen
auch, ſo geben wir doch eine Copie ſeiner
Abbildung, an deren Treue zu zweifeln
keine Urſache vorliegt, weil ſie das Fiſch
ſtadium der Fröſche jedenfalls ſehr ein—
dringlich vorführt. Wir ſchließen uns näm—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
lich unbedingt der Meinung von Mr. S.
W. Garman?) an, daß Dr. Pizarro
die Larven einer wahrſcheinlich neuen Art
des „Trugfroſches“ aus Paraguay beſchrie⸗
ben hat, und daß dieſer paradoxe Geſelle
alſo ſeinem Namen wieder einmal Ehre
gemacht hat.
Die Trugfröſche, von denen einige
Arten auch in Südeuropa vorkommen, zeich—
nen ſich nämlich dadurch aus, daß ſie in
ihrer Jugend einen unförmlichen Fiſchſchwanz
mit ſich umherſchleppen, wie Horaz ſagt:
„desinit in piscem rana formosa superne“,
welche Unzier fie erſt ſehr ſpät abwerfen, um
dann bedeutend verjüngt, als zierlich gewachſene
Froſchjunker und- Damen dazuſtehen, denen
Niemand ihre ehemalige, ſcheußliche Zwitter—
und Drachengeſtalt anſieht, wie die nach—
ſtehende Figur einer kleineren Art im aus—
gebildeten Zuſtande zeigt. Der Umſtand, daß
die älteren Fröſche bedeutend kleiner ſind,
als die jungen Larven, aus denen ſie her—
vorgehen, hat von der erſten Entdeckung
derſelben an, die merkwürdigſten zoologiſchen
Träumereien erzeugt. Durch einige nieder—
ländiſche Sammler in Surinam hatte ſich
zuerſt Albert Seba einige Exemplare, ſo—
wohl des ausgebildeten (herangewachſenen
darf man hier nicht ſagen) Froſches, als der
großen Larven mit und noch ohne Beinen
verſchafft. Indem er nun die kleineren
Exemplare mit den größeren verglich, kam
er zu dem ſehr verführeriſchen Schluſſe,
daß die Entwickelung hier nicht, wie bei
den anderen Fröſchen, vorwärts, ſondern
rückwärts, d. h. in umgekehrter Folge vor
ſich gegangen ſei, daß das Thier nämlich
als Froſch geboren würde, dann einen
Schwanz bekäme, endlich die Beine abwerfe
und ſchließlich ein Fiſch werde. Seba
theilte ſeine Vermuthungen und Zeichnungen
) The American Naturalist. Oct. 1877.
Kosmos, Band III. Heft 1.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Fig. 1 und 2. Dr. Pizarro's Batrachichthys.
Fig. 3 und 4. Pseudis minuta.
90
dem Fräulein Maria Sibylle von Merian
mit, welche darnach den Froſchfiſch (Rana
piseis), wie ihn alſo auch Seba getauft
hatte, in der zweiten Ausgabe ihres ſchö—
nen Buches über die Verwandlung der
Surinam'ſchen Inſekten (und Fröſche), welche
erſt zwei Jahre nach ihrem (1717 erfolgten)
Tode erſchien, beſchrieben hat. Man er—
kennt leicht, daß die ſorgfältige Beobachterin
den Jackie, wie ihn die Eingeborenen Su—
rinams nennen, nicht mit eigenen Augen in
ſeiner Entwickelung beobachtet hat, wie
z. B. die Surinam'ſche Wabenkröte, die
ſie ausgezeichnet beſchrieb. Sonſt würde
ihre Beſchreibung der Entwickelung wohl
nicht viel anders ausgefallen ſein, als die—
jenige eines anderen ſurinam'ſchen Froſches,
die ſie ebenfalls zuerſt gegeben hat: — —
— „eenige dagen dar na krygen je
bogen, nog wat laater krygen ſe voeten
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
van achter, acht dagen daar na krygen fe
nog twee voeten van vooren, de haar uit
te huit barſten, vier voeten hebbende, dan
rot haar den ſtart af, en zyn alſo Kik—
vorſchen, en loopen uit het water land—
waarts in 4
Später hat Seba in feinen Thesau- |
rus (1734 J. tab. 78) ebenfalls in einer
Reihe von Abbildungen dargeſtellt, wie ſich
dieſer Froſch allmälig in einen Fiſch ver-
wandelt. Auch Lin ns hatte anfangs nebſt
andern Naturforſchern den Rana piseis
angenommen, aber in der zehnten Ausgabe
ſeines Systema Naturae (1758 —59) ſtrich
er den Fiſch und nannte das Thier wegen
des ſonderbaren Größen-Rückgangs in ſeiner
Verwandlung Rana paradoxa. Wagler
trennte 1830 die Gattung wegen ihrer Be
ſondernheiten von ihren nächſten Verwand- |
ten, den Waſſerfröſchen, und nannte ſie in An—
betracht der Irrthümer, zu denen ſie ihre erſten
Biographen verführt hatte, Trugfroſch
fangenſchaft und unter ſonſt ungünſtigen
Verhältniſſen, häufig vorkommt. Dr. Jeffries
(Pseudis), ein Name, der wie wir ſahen,
ſeine volle Berechtigung noch einmal im Jahre
1876 darthat. Daß der Froſchfiſch oder
Batrachichthys des Dr. Pizarro allem
Anſcheine nach derſelben Gattung angehört,
erkennt man leicht bei einer Vergleichung
der Larve mit der vorſtehend abgebildeten,
ausgewachſenen Pseudis-Art. Wie dieſe hat
ſie vorn — um mit Fräulein von Merian
zu ſprechen, — Kikvorſchen-voeten und
hinten Eenden-voeten d. h. mit Schwimm—
haut verbundene Zehen, und, was das merk—
würdigſte Erkennungsmerkmal der Gattung
Pseudis iſt, der Daumen ihrer Hände iſt
den andern Fingern, wie bei einer Men—
ſchenhand, gegenübergeſtellt, was ihnen beim
Umherklettern gewiß vorzügliche Dienſte
leiſtet. Vielleicht, jo bemerkt Mr. Garman,
dem wir in dem Mitgetheilten vielfach ge—
folgt find, iſt die Täuſchung des Dr. Pi-
zarro dadurch befördert worden, daß die
Larve des Trugfroſches aus Paraguay be—
ſonders lange in ihrem „Fiſchſtadium“
verharrt, wie dies, namentlich in der Ge—
Wyman ſoll beiſpielsweiſe den Ochſen—
froſch ſieben Jahre in der Gefangenſchaft
im Larvenzuſtande erhalten haben, während
in der freien Natur die Umwandlung viel
ſchneller vor ſich geht. Auch andere Pseudis-
Arten ſollen auffallend lange den unförmigen
Fiſchſchwanz bewahren, und wenn ſie auch
in keiner Weiſe als Mittelformen zwiſchen
Fiſch und Froſch zu betrachten ſind, haben ſie
jedenfalls das Verdienſt, die phylogenetiſchen
Lehren mit beſonderer Augenfälligkeit in
ihrer perſönlichen Entwicklung darzuthun.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Die fogenannten pſeudo elektriſchen
Organe der Bitterfifche.
Bekanntlich hatte Darwin die elek—
triſchen Fiſche als ſeiner Theorie beſondere
Schwierigkeiten darbietend betrachtet,“) aber
je genauer dieſe Thiere unterſucht werden,
um ſo mehr verlieren ſie für die Anti-
Darwinianer an Intereſſe. Beſonders waren
es die ſogenannten pſeudo⸗elektriſchen Organe,
welche zuweilen für ſich, zuweilen neben
anerkannt elektriſch wirkſamen Organen (3. B.
im Schwanze der Zitterrochen) vorkommend,
ein vollkommen zweckloſes und unerklärliches
Daſein zu führen ſchienen. Zwar hatte
ſchon früher J. Stark die Angabe ge—
macht, daß man auch, wenn man einen
Zitterrochen am Schwanze ergreife, einen
Schlag erhalte, und Ch. Rolin glaubte
die elektriſche Wirkung auch dieſes Organs
nachgewieſen zu haben, allein Matteucci
und Du Bois-Reymond, die ſich jo
genau mit den elektriſchen Fiſchen beſchäftigt
haben, wollten höchſtens ganz ſchwache
Ströme von dieſen Organen ausgehend
bemerkt haben, unfähig als Schlag empfun—
den zu werden. Bei anderen Rochen—
Gattungen, die ganz analog gebaute Organe
beſitzen, leugnete man jede elektriſche Wirk—
ung. Nun hat aber Profeſſor Babuſchin
aus Moskau den Nachweis geliefert, daß
von den ſogenannten „pſeudo ⸗elektriſchen“
Organen der Mormyrus-Arten ganz an—
ſehnliche Ströme ausgehen.“) Er nahm dieſe
Verſuche auf, weil ihm bei einem früheren
Aufenthalte in Aegypten einer ſeiner Leute
verſichert hatte, einen elektriſchen Schlag
) Kosmos Band I. ©. 255.
) Du Bois Reymond's
Phyſiologie, 1877. Heft 3.
Bi...
Archiv für
9
von einem Mormyrus-oxyrhynchus er—
halten zu haben. In Ermangelung eines
Galvanometers oder eines Froſchſchenkels
benutzte Profeſſor Babuſchin einen Krö—
tenſchenkel zum Nachweis, als er zuerſt in
Oberägypten eines größeren Fiſches dieſer
Gattung habhaft wurde. „Um keine Zeit
zu verlieren,“ erzählt er, „lagerte ich den
Kröten-Iſchiadicus ohne Weiteres auf den
Körpertheil des Fiſches, wo die elektriſchen
Organe ſich finden und ſah zu meiner Be—
friedigung, daß mein Krötenſchenkel während
fünf Minuten fortwährend hüpfte. Der
Fiſch regte ſich dabei nicht. Als ich den
Iſchiadicus auf andere Theile des Körpers,
welche den Muskeln entſprechen, legte, hörten
die Zuckungen auf.“ Es iſt bemerkenswerth,
daß der Strom nicht ſoweit auf dem Kör—
per des Mormyrus ſich verbreitet, wie es
bei Malapterurus der Fall iſt. Wenn
der Iſchiadicus auf die Schwanzfloſſen ge—
legt wird, bekommt man noch Zuckungen,
entfernt man ihn aber nach oben, um nicht
mehr als 1 Centimeter vom Organe, ſo
hören die Zuckungen auf. Aehnliche Ver—
ſuche in vielfach abgeänderter Form wurden
mit demſelben Erfolge mehrfach an ver—
ſchiedenen Arten von Mormyrus angeftellt,
nur bei M. eyprinoides, bei welchem die *
Organe ſehr klein ſind, blieb derſelbe aus.
Auf Grund dieſer Verſuche und da ſich
Herr Babuſchin ſchon früher mit ähn—
lichem Erfolge von der Wirkſamkeit des
kleineren Organes im Schwanze der Zitter—
rochen überzeugt hat, hält er ſich nunmehr
für berechtigt zu erklären, daß es pſeudo—
elektriſche Organeüberhauptnicht
giebt, ſondern nur kleinere und ſchwächere
Schläge austheilende, neben deu gefürchte—
ten, größeren.
Literatur und Kritik.
Eine „Philoſophie der Technik“.
ON Syſtems gerathen iſt, der windet
900 ſich ſelbſt mit dem beſten Willen
nicht mehr ſo leicht davon los.
der ſtrammen Disciplin des dialektiſchen
Taktſchrittes entzogen hat, behält immer noch,
wenn ihn auch andere Kräfte nach einer
anderen Richtung ziehen, eine ſtarke Ten-
denz bei, ſich im Takte von Theſis, Anti-
theſis und Syntheſis, An-Sich, Außer—
Sich und An- und Für-Sich zu bewegen.
Der trügliche Schein, mit dieſen dialektiſchen
Purzelbäumen wirklich einen Fortſchritt im
Erkennen und Begreifen zu machen, iſt jo
ſtark, daß ihm ſelbſt die bedeutendſten
Geiſter, wie z. B. Viſcher, nur allmälig
entronnen ſind. Ein eclatautes Beiſpiel
dieſes unwiderſtehlichen Zaubers, der in
der dialektiſchen Vermittelung und ideellen
Uebertäubung der Gegenſätze liegt, begeg—
nete mir einſt in Berlin. Ein junger ſtreb—
ſamer Mann hatte bei Z. Pſychologie ge—
hört, der, im Einklang mit der modernen
Betrachtungsweiſe ſich alle Mühe gegeben
hatte, zu zeigen, daß zwiſchen den molecu—
Auch der
Gedankengang deſſen, der mit der Zeit ſich
Illuſtrationen in Holzſchnitt.
den pſychiſchen Proceſſen eine totale Differenz
ſtattfinde. Der Zuhörer, der unglücklicher—
weiſe bei dem autodidactiſchen Beginn ſeiner
Studien auf Hegels Encyclopädie geſtoßen
war, beklagte ſich aber darüber, daß ſein
Lehrer es ganz verſäumt habe, Natur und
Geiſt dialectiſch zu vermitteln.
An dieſes Beiſpiel wurde ich bei der
Lectüre der Schrift erinnert, welche den Au—
laß zu dieſem Aufſatze abgiebt. Ich will
damit nicht von vornherein ein ungünſtiges
Vorurtheil gegen das Buch erwecken: ich
wollte nur die allgemeine Richtung anzeigen,
welcher daſſelbe angehört. Der Titel der
Schrift iſt ſpannend: „Grundlinien
einer Philoſophie der Technik.
Zur Entſtehungsgeſchichte der Cultur aus
neuen Geſichtspunkten. Von Ernft Kapp.
Mit zahlreichen in den Text gedruckten
Braun⸗
ſchweig, Weſtermann, 1877.“ Der
Verfaſſer gehört einer in philoſophiſchen
Kreiſen wohlbekannten althegeliſchen Familie
an und hat lange Zeit in Amerika gelebt, wo
er, wie aus dem Philosophical Journal
hervorgeht, viel für die Einbürgerung des
deutſchen Gedankens gethan hat. Der täg—
liche Anblick der in Amerika ja zu ſo
dominirender Blüthe gelangten techniſchen
Induſtrie mochte in ihm den Gedanken er—
laren Vorgängen der äußeren Natur und wecken, auch dieſes Gebiet mit dem Schling—
Literatur und Kritik. 93
werk dialectiſcher Begriffsentwicklung zu
umſpinnen. Wahrlich, eine merkwürdige
Verſchmelzung der abſtracte Hegelianer
Arm in Arm mit dem concreten Techniker,
und eine frappante Tendenz das mecha—
niſche Gebiet der Maſchinenlehre teleologiſch
zu deduciren!
Doch — entwickeln wir in Kürze den
Grundgedanken des Werkes. Was iſt der
verſprochene „neue Geſichtspunkt?? Der
Verfaſſer verfehlt nicht, uns denſelben recht
oft darzulegen: K. geht aus (S. 28) vom
„idealen Gebiet der teleologiſchen Welt—
anſchauung, welche am ſelbſtbewußten
Menſchen Beginn und Ziel der kosmiſchen
Entwicklung mißt.“ Das Selbſtbewußtſein
entzündet ſich dadurch, „daß das Wiſſen
von einem Aeußeren zu einem Wiſſen von
einem Innern umſchlägt“ (23). Zur
Außenwelt gehören aber vor Allem auch alle
künſtlich vom Menſchen geſchaffenen Cultur—
producte (24). Auch dieſe und vor Allem
dieſe dienen dazu, die Selbſterkenntniß
des Subjects zu fördern. Sollen ſie aber
dies können, ſo müſſen ſie eben ſo be—
ſchaffen ſein, daß aus ihnen das reflecti—
rende Subject ſich ſelbſt erkennen kann.
Alſo muß das Subject unbewußt ſeine
leiblichen Organe in einer ſtofflichen Nach—
bildung aus ſich hinausverſetzen, dann kann
es den Mechanismus zum Verſtändniß des
Organismus rückwärts verwenden (119).
Dieſes Princip nennt der Verfaſſer die
„Organprojection“, ein „bisher unbeachtet
gebliebenes wiſſenſchaftliches Princip“
(82). Seine eigentliche Tendenz iſt, zu
zeigen, daß der Menſch in allen Werkzeugen,
Geräthen, Maßen, Inſtrumenten, Appa—
raten, Architecturwerken, Maſchinen, in der.
Sprache und im Staat ſich ſelbſt und
ſeine Organe projicirt habe, um vermittelſt
der ſo unbewußt als Nachbilder geſchaffenen
Artefakte rückwärts ſich ſelbſt zu erkennen
und zum Selbſtbewußtſein zu gelangen.
Dieſes Princip der Organprojektion wird
als ein erklärendes Prineip einge—
geführt (z. B. 203). Natürlich erfordert
dieſe Hypotheſe als Hilfsannahme das un—
bewußte Walten des Inſtinkts: „Dieſes
urſprünglichk Begleitetfein der Maſchinen—
bildung vom Unbewußten . . . . erklärt
die Uebereinſtimmung der Artefakte theils
der Form nach mit einzelnen Organen,
theils den kinematiſchen Vorgängen nach“
u. ſ. w. Sehen wir nun zu, wie dieſes
Princip im Einzelnen durchgeführt wird.
In die urſprünglichen Werkzeuge hat der
Menſch die Formen ſeiner Organe verlegt
und projicirt; die Werkzeuge ſind alſo un—
bewußt geſchaffene Nachbilder, denen die
Organe zu Vorbildern dienen. Dieſer Ab—
ſchnitt (40 — 67) iſt mit intereſſantem und
fleißig geſammeltem, ſprachlichem Material
illuſtrirt, durch das nachgewieſen wird, daß
der Menſch die primitiven Werkzeuge mit
Namen ſeiner Organe belegte. (Es laufen
dabei jedoch manche Ungenauigkeiten unter:
z. B. iſt die Bemerkung [40], daß das
Wort „Organon“ im Griechiſchen zunächſt
ein Körperglied, ſodann deſſen Nachbildung,
das Werkzeug, bezeichne, eine Umdrehung
des wirklichen Verhältniſſes: opyavov
heißt vielmehr urſprünglich Werkzeug, und
erſt relativ ſehr ſpät erfolgte die Uebertrag—
ung auf die menſchlichen Glieder; es läßt
fi) ſogar exakt nachweiſen, daß dieſe Ueber—
tragung erſt von Plato gemacht wurde,
wie ſich der Verf. Theaetet 184 D. über⸗
zeugen kann.) Es findet alſo eine unbe—
wußte Uebertragung der Form und der
Bewegungsgeſetze des Organs auf die me—
chaniſche Verrichtung ſtatt, um eine rück—
bezügliche Verwendung des Mechanismus
zur Erklärung des Organismus zu ermög—
94
lichen. Darum fpielen, ſagt der Verf. S. 65,
in der Mechanik der Skeletbewegungen Aus-
drücke wie Hebel, Charnier u. ſ. w. eine
angeſehene Rolle. So iſt das Weſen der
Projektion ein Proceß fortſchreitender, meiſt
unbewußter Selbſtentäußerung des Sub—
jekts (67). Unter den zahlloſen Beiſpielen
müſſen wir diejenigen hervorheben, die der
Verf. ſelbſt beſonders auszeichnet. Die
Conſtruktion der Camera obscura iſt das
von dem Organ aus unbewußt projicirte
mechaniſche Nachbild deſſelben, mittelſt deſſen
Unterſtützung die Wiſſenſchaft nachträglich
in die Vorgänge der Geſichtswahrnehmung
hat eindringen können (81). Die achro—
matiſche Vorrichtung an Fernröhren (die
Zuſammenſetzung des Objektivs aus zwei
Prismen, um die Farbenerzeugung an den
Rändern des Bildes zu verhindern) iſt
ebenſo eine unbewußte Projektion deſſen,
was in unſerem Auge durch die Verbind⸗
ung der Linſe mit dem Glaskörper erreicht
iſt (83). Dies iſt für den Verf. ein
„glänzendes Beiſpiel der Organprojektion“.
Das Monochord, das Klavier u. ſ. w.,
dieſe von Menſchenhand aus Stücken zu—
ſammengeſetzten Mechanismen, welche in
auffallendſter Uebereinſtimmung mit einem
organiſchen Gebilde, dem Ohr und ſeinen
Einrichtungen, ohne die geringſte Kennt—
niß von deſſen Funktionen, conſtruirt
werden konnten (93), ſind ſpätere Nach—
bildungen der unbewußten Vorbilder. Jede
andere Möglichkeit des Zuſtandekommens
iſt ausgeſchloſſen (90); das Corti'ſche Or-
gan iſt nicht nur „gleichſam“ ein Saiten— |
inſtrument, ſondern hier waltet die Bezieh-
ung realer Ab- und Nachbildung. Wir
müßten weit den uns zur Verfügung ſtehen—
den Raum überſchreiten, wollten wir auch
nur die als auffallend vom Verf. bezeich—
neten Beiſpiele aufzählen. Nur noch einige
Literatur und Kritik.
Fälle, welche die Anſicht beſtätigen ſollen,
daß das mechaniſche Produkt der Technik
ein durch das vom unbewußten Inſtinkt
geleitete Subjekt nachgeſchaffenes Abbild des
Organiſchen ſei. Die Anordnung der
Knochenſubſtanz iſt das bisher unbekannte
Vorbild für gewiſſe Werke der Architektur.
Das Netz der Blutgefäße iſt das organiſche
Vorbild des Eiſenbahnſyſtems. Der Tele—
graph iſt ein Nachbild des Nervenſyſtems.
Das charakteriſtiſche Merkmal der Organ—
projektion iſt das unbewußte Vorſichgehen,
(141); da die Erfinder der elektriſchen Te—
legraphie nicht den bewußten Vorſatz ge—
habt haben, die Nerven plaſtiſch genau nach—
zuconſtruiren, ſo — nun ſo war es „das
Unbewußte“. Der leibliche Organismus iſt
das allgemeine Ur- und Muſterbild aller
beſonderen Formen der Maſchinentechnik;
die machinale Kinematik iſt die unbewußte
Uebertragung der organiſchen Kinetik ins
Mechaniſche, und das Verſtehenlernen des
Originals mit Hilfe der Uebertragung wird
bewußte Aufgabe der Erkenntnißlehre. Der
goldene Schnitt, das Proportionsgeſetz des
menſchlichen Körpers, wird unbewußt auf
die meiſten Artefakte, z. B. die amerikaniſche
Axt, die Violine u. ſ. w. übertragen. So
ſind alle Artefakte ohne Ausnahme Nach—
gebilde unterſchiedlicher organiſcher Bezirke,
Sprache und Staat aber ſind Ab- und
Nachbildungen des Geſammtorganismus;
der leibliche Organismus iſt das Urbild
echten Staatslebens.
So ſehr wir nun auch den großen
Aufwand an Geiſt anerkennen, mit dem
die vorgetragenen Gedanken ausgeführt ſind,
und obgleich die Schrift in einem noch näher
zu bezeichnenden Sinne ein werthvoller
und ſchätzenswerther Beitrag iſt, ſo wür—
den wir doch uns nicht ſo ausführlich auf
dieſelbe hier eingelaſſen haben, wenn es
a
nicht opportun erſchiene, wieder einmal an
einem Beiſpiel zu zeigen, welche Kluft zwi—
ſchen Wiſſenſchaft und Dichtung,
dere die Maſchinen und wiſſenſchaftlichen
zwiſchen cauſaler und teleologiſcher
Anſchauung beſteht.“) Gerade der be—
ſtechende Reiz, mit dem die Theorie des
Verf. theilweiſe vorgetragen iſt, könnte da-
zu verführen, in dem Grundprincip eine
wirkliche „causa vera“ zu ſehen. Sichten
der elektriſche Apparat haben bekanntlich
wir nun ſtreng die Thatſachen, die „actuelle
Empirie“, wie der Verf. S. 124 ſelbſt
ſagt, d. h. alſo die reine unverfälſchte Er—
) Wir vermögen hier dem Herrn Recen—
ſenten nicht beizuſtimmen, wenn er den Gegen—
ſatz von Wiſſenſchaft und Dichtung mit dem
der Teleologie und Ateleologie vermiſcht.
Faßt man jede einheitliche Zuſammenziehung
von Thatſachen, d. h. jede erklärende Syntheſe,
als Dichtung auf (wie Alb. Lange wollte),
ſo giebt es gar keine Wiſſenſchaft ohne
ſyntheſirende Dichtung. Denn es giebt keine
bloße Analyſe ohne eine logiſch geforderte
Syntheſe. Der Fehler aber, den der Teleo—
loge begeht, iſt der, daß er die zur Syntheſe
hintreibende Idee nicht als bloßes Regu—
latev, ſondern als mitwirkende Ur-
ſache unter der Conſtellation der cauſalen
Kräfte betrachtet. Dies ſetzt Recenſent im
Folgenden richtig auseinander (ſiehe unten);
aber er vergißt, daß ſehr viele menſchliche
Kunſtprodukte eine Art von Dichtung und
Entſtehung bekunden, bei denen die Abficht,'
einer beſtimmten Idee nachzukommen, in ſe—
cundärer Weiſe jo zu jagen mitwir—
kend wird. Hierin unterſcheiden ſich die
Kunſtprodukte von den reinen Naturproduf-
ten. Man muß ſich daher vor zwei Fehlern
hüten: Erſtens ſoll man nicht, durch falſche
Analogien verleitet, die Natur zu einem
bloßen Kunſtprodukt geſtalten wollen (ein
Fehler, dem Herr Kapp offenbar ſehr nahe
kam), aber man darf auch, wie Recen—
ſent uns zu verabſäumen ſcheint, nicht ver—
geſſen, den gegebenen Zuſammenhang zwiſchen
Natur und Kunſt (Sein und Denken ꝛc.) und
die hier waltenden Aehnlichkeiten anzudeuten.
Anmerk. der Redaktion.
Literatur und Kritik.
hört dieſer reale Zuſammenhang ſchon auf
|
fahrung von dem Hypothetiſchen, jo bleibt
als empiriſcher Reſt die Thatſache, daß
Artefacte im weiteſten Sinne, alſo insbeſon—
Apparate und Inſtrumente, einen bedeut—
ſamen Beitrag zur theoretiſchen Erklärung
des Organismus geliefert haben: die Camera
obscura, die Linſe, die Daguerrotypie, die
Claviatur, die Pumpe, die Dampfmaſchine,
zur Erklärung des Auges, des Ohres, der
Herzthätigkeit, des Organismus überhaupt
und insbeſondere ſeiner Nervenfunktionen
nicht wenig beigetragen. In dieſen Fällen
iſt der Zuſammenhang des mechaniſchen
Gebietes mit dem organiſchen unbeſtritten
und als neueſtes Beiſpiel können wir die
durch die Grundgeſetze der Architektur, ins—
beſondere der Druck- und Zuglinien er—
möglichte Erklärung der inneren Anordnung
der Knochenſubſtanz anreihen. Dagegen
und wird zu bloßer ſpieleriſcher Analogie
bei der Sprache und beim Staat; die
Sprache iſt nach der Auffaſſung moderner
Forſcher, insbeſondere Steinthals, kein
Organismus, und die organiſche Auffaſſung
des Staates iſt trotz Plato und Schäffle
noch nicht zur Anerkennung gelangt. Von
„den beiden Richtungen der Organprojektion“
müſſen wir alſo die zweite ſtrikte als Faktum
anerkennen, daß nämlich der Mechanismus
zum Verſtändniß des Organismus beige—
tragen habe. Anders verhält es ſich mit
der erſten Richtung, der ſog. Organprojektion,
d. h. der unbewußten Hinausverſetzung der
leiblichen Organe und ihrer Einrichtung in
die Artefakte. Die Anſicht zwar, daß die
Werkzeuge „eine Verlängerung der menſch—
lichen Organe“ ſeien, iſt eine alte; allein
zwiſchen dieſer Anſicht und der Theorie
des Verfaſſers iſt ein himmelweiter u
96
ſchied; denn die letztere poſtulirt die
Bildung der einzelnen Artefakte ſei un—
bewußt von dem Inſtinkt geleitet geweſen,
die Organeinrichtungen hinauszuprojiciren,
und wohl zu merken, dies zu dem Zwecke,
um dieſe projicirten Nachbilder rückwärts
zur Erklärung der Vorbilder zu benutzen.
Die größte Scheinbarkeit hat dieſe Anſicht
noch bei den einfachſten Werkzeugen, in
denen „die Eigenſchaften der ſchöpferiſchen
Hand verkörpert ſind.“ Allein auch hier
iſt der Gedanke der Projektion ein ſchiefer:
zwar liegt direkt nichts Unwahres darin,
wenn der Verf. ſagt (43): „Der geſtreckte
Zeigefinger mit ſeiner Nagelſchärfe wird
in techniſcher Nachbildung zum Bohrer; die
einfache Zahnreihe findet ſich wieder an
Feile und Säge, während die greifende
Hand und das Doppelgebiß in dem Kopf
der Beißzange und den Backen des Schraub—
ſtockes zum Ausdrucke gelangt.“ Allein
die Erklärung dieſer Uebereinſtimmung und
die Conſequenzen, die der Verf. daraus
zieht, können wir nicht anerkennen; anſtatt
einer unbewußten und den oben beſchriebenen
Zweck verfolgenden Projektion ſehen wir
darin nichts weiter, als theilweiſe eine be—
wußte Nachahmung der Organe, theilweiſe
aber eine für das findende Subjekt zufällige,
objektiv aber ganz natürliche und nothwendige
Uebereinſtimmung, für welche wir die An—
nahme des Waltens eines Unbewußten
überflüſſig und darum falſch finden. Vollends
aber geht dieſe Erklärung in die Brüche
bei den complicirteren Apparaten; daß der
Erfinder der achromatiſchen Einrichtung am
Fernrohr, der Pumpe, der architektoniſchen
Geſetze, des Monochords unter der Leitung
des Unbewußten geſtanden habe und dadurch
die Erklärung des Auges, des Herzens,
der Knochenſubſtanzanordnung und des
Literatur und Kritik.
das iſt eine Annahme, die ſich mit unſerer
Logik nicht verträgt. Selbſt wenn aber
die Artefakte unbewußt von den organiſchen
Einrichtungen beeinflußt geweſen wären,
— was aber eben geleugnet wurde —
iſt doch noch die Verbindung beider Reihen
der Nachbildung des Organiſchen im Me—
chaniſchen, und der Erklärung des erſteren mit
Hülfe des letzteren, eine teleologiſche Willkür,
die mit wiſſenſchaftlicher Erklärung nichts
zu thun hat. Was Lamarck (vgl. Kosmos,
Band J. S. 142) in anderer Hinſicht jagt:
daß nämlich die Harmonie, die zwiſchen
der Organiſation und den Gewohnheiten
der Thiere exiſtirt, uns zwar als vorbe—
dachtes Reſultat erſcheine, faktiſch aber blos
ein nothwendig herbeigeführtes Reſultat ſei;
dies gilt auch mutatis mutandis von un—
ſerem Falle.
Es gibt zweierlei Auffaſſungsweiſen
der Weltvorgänge. Man fragt einmal nach
der Complication derjenigen Antecedentien,
deren Zuſammenwirken einen Effekt hin—
reichend beſtimmt. Wie eine mathematiſche
Aufgabe, ſo kann auch dieſe Frage im 5
einzelnen Falle auf zweierlei Weiſe gelöſt
werden, ſynthetiſch und analytiſch. Man
ſucht entweder direkt nach den Antecedentien
einer gegebenen Erſcheinung, und als ſolche
gelten nur phyſiſche Vorgänge, im vor—
liegenden Fall zuſammen mit pſpchiſchen
Prozeſſen, bei denen aber nur individuelle
Regungen eine Rolle ſpielen können, kein
ſogenanntes „Unbewußtes“ da dieſes im
Hartmann'ſchen Sinne von der Philoſophie
nicht anerkannt werden kann; oder man
denkt ſich die betreffende Erſcheinung als
Aufgabe, als Zweck, und fragt rückwärts,
welche Bedingungen mußten vorhanden ſein,
im Falle man dieſes Ergebniß herbeiführen
wollte? So kann man z. B. fragen: falls
ein aufrechtgehender Organismus hervor—
Cortiſchen Organs habe ermöglichen wollen,
gebracht werden ſollte, welche Vorbedingungen
mußten dazu erfüllt werden? So kann ja
der Mathematiker eine Aufgabe entweder
direkt zu löſen verſuchen, oder er kann
ſich dieſelbe gelöſt denken, und dann rück—
wärts aus der Löſung ſich die Operationen
conſtruiren, welche zur Herbeiführung jener
Löſung nothwendig ſind. Mit dieſer zweiten
Methode der cauſalen Erklärung beſitzt nun
die andere Anſchauungsweiſe, die teleologiſche,
eine äußerliche Aehnlichkeit; allein während
der cauſale Erklärer ſich das Produkt als
eine Aufgabe denkt, deren Löſungsbe—
dingungen er ſucht, denkt ſich der Teleologe
die Wirkung als den objektiv gewollten
Zweck und führt dieſen Zweck ſelbſt als
ein cauſales Erklärungsprincip ein.
Es liegt durchaus nichts Unwiſſenſchaftliches
darin, ſich zu fragen: Welche Bedingungen
mußten erfüllt werden, damit der Menſch
ſeinen eigenen Organismus erkennend be—
greifen könnte? Die Antwort wird lauten:
Es mußten zuvor die mechaniſchen Grund—
begriffe und Einrichtungen bekannt werden,
ehe der Menſch ſeinen complicirten Mecha—
nismus begreifen konnte. Allein die Teleologie
und damit die Dichtung beginnt, wenn man
das Begreifen des Organismus durch die
Mechanismen nun ſelbſt als ein cauſales
Erklärungsprincip einführt, welches
das Entſtehen und Schaffen jener Mecha—
nismen begreiflich machen ſoll. Man kann
Niemand verwehren, die Sache ſo anzuſehen,
als ob dieſe Uebereinſtimmung eine vorbedachte
und anfänglich gewollte geweſen ſei — es
drängt ſich ſogar dieſe Betrachtungsweiſe
ſelbſt dem unbefangenſten Forſcher ſehr
häufig auf — allein man muß es ent-
ſchieden zurückweiſen, daß jene Betrachtungs—
weiſe zur Erklärung im Einzelnen
herbeigezogen wird. Der point de vue des
Verfaſſers, die teleologiſche Betrachtungs—
Kosmos, Band III. Heft 1.
Literatur und Kritik.
kann
97
weiſe, entſteht, wie er ſelbſt ſagt (81), durch
eine einfache Umkehrung des natürlichen
Verhältniſſes. Es iſt ſchon zum ſo und ſo
vielten Male ſeit Leibnitz und Kant den
wiſſenſchaftlichen Arbeitern eingeſchärft wor—
den, daß das teleologiſche Princip kein Er—
klärungsprincip der Dinge ſei; und doch
muß man dieſe einfache Wahrheit immer
wiederholen, welche Kant trefflich dahin
formulirte, daß alle Teleologie nur ein re—
gulatives, kein conſtitutives Ele—
ment der Wiſſenſchaft ſein könne. Man
ſchlechterdings auch nichts dagegen
haben, die Welt und ihre Geſchichte gleich—
ſam verkehrt anzuſchauen und alles Spätere
als Zweck des Früheren zu betrachten —
dies iſt eben einfach eine Durchlaufung der
Reihe vom anderen Ende aus; allein den
Zweck als ein neben den cauſalen Wirk—
ſamkeiten noch mitarbeitendes Prin—
cip zu betrachten und ihn als Glied in
die Cauſalkette einzureihen, dagegen muß
immer von neuem proteſtirt werden. Dieſe
teleologiſche Anſchauungsweiſe, welche glück—
lich durch Kant ihren Ort angewieſen er—
hielt, hat nun neuerdings durch die ſchlechte
Hypotheſe eines neben der Cauſalität noch
wirkſamen Unbewußten ein greifbares
Subſtrat erhalten, welches der Verfaſſer der
vorl. Schrift anerkennen zu müſſen glaubte.
Zu welchen ſeltſamen Reſultaten er dadurch
gekommen iſt, indem er von dieſem falſchen
Princip aus eine verkehrte Methode befolgte,
ſahen wir ſchon oben. Es wären Beiſpiele
genug aufzuzählen, wo ſeine Methode in
die Brüche geht. Was hat z. B. die ver⸗
meintliche Erkenntniß des Staates als eines
organiſch gebauten Ganzen zur Erklärung
des menſchlichen Organismus beigetragen?
was etwa der Thermometer oder Baro—
meter? Und die einfache Conſtatirung der
Identität des Baues einer Maſchine mit
13
1
0
98
dem Bau des menſchlichen Organismus ſcheint
uns ebenſowenig der Organprojektion zu be—
dürfen, als die Conſtatirung der Identität
der Gravitation mit der Schwere durch
Newton. Man kann, wenn man will, das
Hegel'ſche Schema, daß der Geiſt ſich ſelbſt
in der Natur entäußere, um ſich aus ihr mit
ſich ſelbſt zu vermitteln, auch auf die Technik
anwenden, fo lange man ſich bewußt iſt,
daß man damit eine teleologiſche Betrach'
tungsweiſe anwendet, mit der nichts, auch
gar nichts erklärt wird; allein die Ent*
ſtehungsgeſchichte der Cultur von
dieſem Geſichtspunkte aus zu ſchreiben, ſcheint
uns ein verkehrtes Unternehmen, weil die
wirklichen Urſachen, wie fie z. B. Ty lor
und Hellwald aufzuſuchen beſtrebt ſind,
dadurch in den Hintergrund gedrängt werden.
Die myſtiſche Intervention des Unbewußten,
welches in jedem einzelnen Falle die Hand
des Erfinders geleitet haben ſoll, iſt als
ein nicht-wiſſenſchaftliches Princip
zurückzuweiſen. Wenn wir nun trotz der
Anſicht, daß das eigentliche Princip des
Verfaſſers und ſeine darausfließende Methode
verkehrt ſei, die Schrift deſſelben zur Lek—
türe empfehlen, ſo geſchieht dies deßhalb,
weil dieſelbe mit Geiſt, wenn auch nicht
immer mit kritiſcher Auswahl geſchrieben
iſt. Trotz vieler Willkürlichkeiten und ge—
ſuchter, bizarrer Aeußerungen (was ſoll z. B.
heißen: der Geiſt ſei Selbſtdefinition?) iſt
doch die Zuſammenſtellung derjenigen me—
chaniſchen Gebiete, welche zur Erklärung
des Organismus dienen, eine dankens—
werthe Arbeit. Vom Standpunkt der ein—
heitlichen Weltanſchauung auf Grund der
Entwicklungslehre aus, wie vom Stand—
punkte der Methodologie und des Criticis—
mus aus müſſen wir aber den „neuen
Geſichtspunkt“ des Verf. als einen princi—
piell verkehrten bezeichnen: die Nachblüthe
Literatur und Kritik.
der Hegel'ſchen Dialectik und der
Schelling'ſchen Naturphiloſophie findet
in unſerer nüchternen und kühlen Zeit keinen
Anklang.
Straßburg. H. Vaihinger.
Ein Buch über die Zoologiſche
Philoſophie des 19. Jahrhunderts.
Unter den wenigen bedeutenderen Wer—
ken von wiſſenſchaftlichem Werthe, welche
in jüngſter Zeit in Italien veröffentlicht
wurden, nimmt jedenfalls das des Bolog—
neſer Profeſſors Dr. Siciliani über die
zoologiſche Philoſophie unſeres Jahrhunderts
den hervorragendſten Platz ein. Sowohl
Charles Darwin als Prof. Haeckel
haben ſich dem Verfaſſer gegenüber brief—
lich in anerkennendſter Weiſe über ſein Buch
geäußert; es dürfte daher auch den weiteren
Kreiſen der Leſer des Kosmos von Intereſſe
ſein, wenn wir denſelben im Nachfolgenden
einen gedrängten Ueberblick über den Inhalt
der Siciliani'ſchen Arbeit geben, die
der großen Tagesfrage: „wie iſt das Thier—
reich entſtanden und wie hat ſich daſſelbe
entwickelt“ gewidmet iſt. Um uns dieſen
Ueberblick zu verſchaffen, können wir aber
nichts Beſſeres thun, als der trefflichen
Kritik zu folgen, welche Profeſſor S.
Tommaſi aus Neapel vor Kurzem in
der Rivista Europea über das vorliegende
Werk veröffentlichte, und durch die den Leſern
zugleich einer der älteſten und tüchtigſten
Verfechter der Evolutionstheorie in Italien
in der Perſon des Herrn Kritikers vor—
geführt wird.
Das ganze Buch Sicilianis beſteht
aus Dialogen, die während ſechs
Tagen von den Gründern
und noch
Literatur und Kritik. 99
lebenden Vertretern der Wiſſenſchaften und
Philoſopheme gehalten werden. Die Dia—
logform iſt vielleicht unglücklich gewählt und
jedenfalls am Wenigſten geeignet, um ſolch'
gewichtige Gegenſtände, wie ſie die heutige
philoſophiſche Zoologie in ihren Bereich
zieht, vor einem größeren Publikum zu
deſſen Belehrung zu beſprechen, doch iſt es
trotzdem der Gewandtheit des Verfaſſers
gelungen, dieſe Schwierigkeit faſt gänzlich
zu überwinden und uns ein oft treffendes
Bild der weltbewegenden Probleme zu
entrollen.
Vor allem war es natürlich nöthig,
daß der Autor uns einen hiſtoriſchen Ueber-
blick der Entſtehung und Entwickelung der
verſchiedenen Theorien über den Urſprung
der Species verſchaffte. Dies thut er in
den erſten beiden „Tagen“ ſeiner Dialoge.
Nach ihm ſollen ſich die biologiſchen
Doktrinen unter drei große typiſche Cate—
gorien vertheilen, die in Frankreich von
Cuvier, Lamarck und Geoffroy
St. Hilaire repräſentirt werden. Die
Doktrin des erſteren gründet ſich auf den
Begriff freier Schöpfung und wird durch
Bedingung der Unveränderlichkeit der Spe-
cies zum orthodoxen Dogmatismus. Sici—
liani zeigt uns in Thatſachen die In—
conſequenzen der Theorie, die mit ihren
wiederholten Schöpfungen und auf einander
folgenden Erdrevolutionen allen natürlichen
Schlüſſen Hohn ſpricht.
Der Cuvier ſchen Schule ſtellt er
die Lamarck' ſche und Geoffroy'ſche
gegenüber.
„Für mich“ — bemerkt Dr. Tommaſi
an dieſer Stelle — „iſt Lamarck der
Vorläufer und wirkliche Gründer des Evo—
lutionismus im Gebiete der organiſchen
Wiſſenſchaften und es ſcheint mir, daß man
ſeine Doktrin in folgenden drei großen
Principien zuſammenfaſſen kann. 1) Die
innere und natürliche Differenzirung der
Species; 2) der Einfluß der phyſiſchen
Umgebung, der ſich die Thiere fügen müſſen;
3) die funktionelle Nothwendigkeit, welche
die Organe nach dem Zweck der Funktion
ſelbſt modificirt.“ Die beiden erſten Punkte
hat Siciliani wohl verſtanden und klar
dargeſtellt. Doch hätte er bei denſelben und
ganz beſonders bei der dritten Idee länger
verweilen müſſen, denn dieſelben ſind zum
Verſtändniß der Umwandlung der lebenden
Formen gar zu wichtig; auch bedarf der
Darwinismus — der moderne Transformis-
mus — der Ergänzung durch die La-
marck'ſchen Ideen, um ſich zur Höhe
einer ſtarken und wahrhaft philoſophiſchen
Doktrin zu erheben.
Die Geoffroy he Theorie ſtellt er
als Bindungsglied zwiſchen der Cuvier'-
ſchen und Lamarck'ſchen hin, unter
Angabe der Geoffroy 'ſchen Ideen über
die mögliche Veränderlichkeit in der embryo-
genetiſchen Entwickelung, und erzählt den
Kampf zwiſchen Geoffroy und Cuvier,
wobei er die berühmte Theorie der Ana-
logen erwähnt und den Geoffroy'ſchen
Begriff der Analogie dem der Homo-
logie der heutigen Morphologiſten zu
nähern ſucht. Der „zweite Tag“ iſt eine
Weiterentwickelung des erſten. Siciliani
will in derſelben darthun, daß in allen
drei Schulen oder Richtungen eine pro-
greſſive Evolution ſtattgefunden hat und
läßt dabei den gelehrten Littré mit der ihm
eignen Fertigkeit die Geſchichte der zoolo⸗
giſchen Philoſophen Frankreichs von den
Vorgängern Lamarck's an vortragen.
Hier ſpricht der Verfaſſer dann auch von
der Entwickelung jener drei Richtungen in
Deutſchland. In einem ſpäteren Capitel
kommt er auf den hier nur vorüber—
100
gehend in Betracht gezogenen Id ealis—
mus zurück.
Im „dritten Tage“ geht er von der
Geſchichte der Syſteme zur Kritik der
Theorien über, wobei er hauptſächlich be—
zweckt, die Nothwendigkeit und große Wich—
tigkeit der taxonomiſchen Forſchung in der
ganzen Naturphiloſophie zu zeigen, einer
Forſchung, die um wiſſenſchaftlichen Werth zu
beſitzen, die organiſchen Beziehungen ſtudiren
und beſtimmen und dieſe beſonders vom Ge—
ſichtspunkt der vergleichenden Morphogenie
betrachten muß. Hier treten neue Perſön—
lichkeiten, wie Schiff, Moleſchott und
Montegazza auf und der Dialog wird
lebhaft, geiſtreich und wirklich dramatiſch.
Die meiſten Fragen werden nur im Fluge
aufgeworfen und berührt; überhaupt iſt
dieſes Capitel größtentheis nur ein geiſt—
reiches Geplauder, das uns mehr amüſirt
und intereſſirt, als belehrt.
Der vierte, fünfte und ſechſte
Tag bilden den wichtigſten Beſtandtheil
des Buches. Ein jeder dieſer Tage iſt
in zwei Abſchnitte getheilt. Im erſteren
wird uns eine gegebene Theorie von einem
ihrer tüchtigſten Vertreter dargeſtellt, wäh—
rend in dem zweiten Abſchnitte die
Kritik derſelben den Gegnern anheimfällt.
Dadurch entſteht ein lebhafter und ſtets
zunehmender Kampf, der ſich in ganz dra—
matiſcher Weiſe entwickelt. Hierbei hat der
unpartheiiſche Verfaſſer, der ſich ſehr wohl
in den Discutenten zu perſonificiren ver—
ſteht, ein glänzendes Zeugniß ſeines Scharf—
ſinns und ſeines vielſeitigen Wiſſens ab—
gelegt.
Im vierten Tage ringen z. B. zwei
der tüchtigſten Athleten der Wiſſenſchaft mit
einander, Huxley und Milne Edward«s.
Letzterer als Cuvierianer, vertheidigt die
Principien ſeiner Schule, deren von Cuvier
tapferen,
Literatur und Kritik.
gelegte Baſis faſt unverändert bleibt, wäh—
rend er andererſeits die Methoden zu ver—
beſſern und in Einklang mit den neuen
Entdeckungen der Wiſſenſchaft zu bringen
ſucht. Dagegen zeigt der große engliſche
Gelehrte mit feiner und ſtrenger Analyſis
die Fehler und Widerſprüche der Neocuvie—
rianiſchen Theorie. Der Dialog zwiſchen
dem unverſöhnlichen Immutabiliſten und
dem nicht mehr verſöhnlichen Transformiſten
wird ſo treffend, der Kampf ſo heiß und
gewaltig, daß ſchließlich der zweite (Hu x—
ley) unter wuchtigen Hieben den, wenn auch
aber ſeinen Halt verlierenden
Gegner niederſtreckt.
In den beiden andern Tagen geht
es ähnlich zu. Im fünften tritt der kühne
Haeckel auf, um die taxonomiſchen Tafeln
des Transformismus zu erklären und zu
vertheidigen; er führt die Darwin'ſche
Theorie bis zu den äußerſten Conſequenzen
und vervollſtändigt ſie ſyſtematiſch, gegen
ihn erheben ſich Owen und Baer.
Im letzten Tage nehmen ſchließlich zwei
italieniſche Hegelianer, Sparenta als ſpe—
culativer, Demeis als Naturphiloſoph,
Theil am Kampf; ſie vertheidigen die
Vaſis der idealiſtiſchen Zoologie, welche von
Darwin, Gegenbaur und Anderen
ſcharf kritiſirt und zu zerſtören verſucht wird.
Dies ſind jedenfalls die ſchönſten „Tage“
des Werkes. Es iſt dem Autor gelungen,
in denſelben die heute auf dem Gebiet der
organiſchen Wiſſenſchaft kämpfenden, ver—
ſchiedenen Schulen in meiſterhafter Weiſe
zu perſonifiziren. Es iſt natürlich un⸗
möglich, auch nur im Fluge den Inhalt
dieſes zweiten Theiles anzudeuten; der Leſer,
dem das Buch aufs Wärmſte empfohlen wer—
den kann, wird darin anregende und unter—
haltende Belehrung finden; die verſchiedenen
naturphiloſophiſchen Doktrinen, die ſich unter
Literatur und Kritik.
unſern Augen bekämpfen, ſind darin mit
einer Lebhaftigkeit, Wahrheit und gewiſſen—
haften und exakten Kritik behandelt, die dem
Verfaſſer alle Ehre machen. Vielleicht hätte
Siciliani, der das Buch durchaus nicht
für Gelehrte und Eingeweihte allein ge-
ſchrieben, bei der Darſtellung der Theorien,
zu deren Verſtändniß ſo manche techniſchen
Kenntniſſe erforderlich ſind, durch Beifüg—
ung von erklärenden Noten ſeinem Werke
einen größeren Leſerkreis verſchafft und auch
mehr Intereſſe unter ſeinen Landsleuten für
|
|
die großen, weltbewegenden, naturphiloſo-
die geſchichtliche Erkenntniß, indem ſie Ent—
Das Werk ſchließt ein Epilog, wo
phiſchen Fragen wachgerufen.
der Verfaſſer nochmals auf alle ſechs Tage
zurückgreift und die Discuſſionen überſicht—
lich zuſammenfaßt, um, die reine Kritik
verlaſſend, verſchiedene eigne Schlüſſe an—
zudeuten, die er in einer weiteren Arbeit
auszuführen gedenkt. Dieſe Schlüſſe je—
doch, die auf eine vermittelnde, faſt
verſöhnende Theorie hinlenken zu wollen
ſcheinen, finden durchaus nicht den Beifall
des Dr. Tommaſi, der vom poſitiven
Darwiniſtiſchen Standpunkte aus die Si—
cilianiſche Annahme einer unbeſtimmten
ſpontanen Thätigkeit, einer gleichzeitig razio—
nellen und irrazionellen, anſcheinend imma—
teriellen Kraft, welche teleologiſch die Thier—
welt aufbaute, unbedingt als unlogiſch und
unphiloſophiſch zurückweiſen muß: denn man
würde durch eine ſolche Annahme einfach
wieder zum offnen Dualismus zurückkeh—
ren. Den poſitiven Naturphiloſophen, zu
denen ſich auch wohl Siciliani rechnet,
bleibt nichts anderes übrig, als in der
Natur zu verweilen, wenn ſie ihren Prin—
cipien logiſch folgen; alsdann brauchen
| wir nicht lange mehr im Zweifel darüber
zu bleiben, zu welcher von den drei Schulen
ſie ſich bekennen werden.
11
101
Dr. S. Günther, Studien zur Geſchichte
der mathematiſchen und phyſikaliſchen
Geographie. Heft 1 und 2. Halle,
Nebert 1877. |
In neueſter Zeit macht ſich ein lebhaftes
Streben geltend, die einzelnen Wiſſenszweige
in ihrer geſchichtlichen Entwickelung darzu—
ſtellen und wir ſind überzeugt, daß es ein
ſehr heilſames Streben iſt. Erſt die wiſ—
ſenſchaftliche Erkenntniß des Entwickelungs—
ganges einer Wiſſenſchaft führt zum rich—
tigen Verſtändniß und zur völligen, ge—
rechten Würdigung derſelben. Zugleich iſt
ſtehung und Löſung von Problemen, die
Wege und Ziele der Forſchung in ver—
gangenen Zeiten darlegt, gewiß von an—
regendem Einfluß für die gegenwärtige
Forſchung auf dem betreffenden Gebiete.
Wenn deshalb überhaupt Werke, die ſich
die geſchichtliche Behandlung der Wiſſen—
ſchaften zur Aufgabe machen, mit Freude
zu begrüßen ſind, ſo iſt dies bei vorliegen der
Arbeit ganz beſonders der Fall, da auf
dem Gebiete, das ſie behandelt, nur Mo—
nographien, aber, wenn wir nicht irren,
keine, das Ganze umfaſſenden Werke exiſtiren.
Dieſes Gebiet iſt die Geſchichte der exacten
(mathematiſch-phyſikaliſchen) Erdkunde.
Der Verfaſſer beabſichtigt in einer Reihe
zwangloſer Abhandlungen die Geſchichte der
Hauptprobleme der exacten Erdkunde dar-
zuſtellen und hat in den beiden erſten Heften
die zwei Fundamentalwahrheiten derſelben
in ihrem geſchichtlichen Entwickelungsgange
im Mittelalter vorzuführen unternommen.
Das erſte Heft beſchäftigt ſich mit dem
chriſtlichen Abendlande, das zweite Heft mit
den Hebräern und Arabern. Die zwei
Fundamentalwahrheiten, die hier behandelt
werden, ſind natürlich die Kugelgeſtalt und
der Bewegungsmodus unſeres Planeten.
| 102
Auf dieſen zwei Wahrheiten beruht nicht
nur die ganze Erdkunde, ſondern die ganze
Weltanſchauung; insbeſondere die Lehre
von der Erdbewegung, die den Standpunkt
der Erde im Weltraume anweiſt und den
geocentriſchen Irrthum verbannt hat, iſt
hier von eminenter Bedeutung. Die Stellung,
die Zeiten und Menſchen zu dieſen beiden
Problemen einnehmen, iſt deshalb nicht blos
für ihre geographiſche, ſondern auch für
ihre kulturgeſchichtliche Beurtheilung von
großem Werthe und deshalb hat gerade
die geſchichtliche Behandlung dieſer beiden
Lehren ein weitgehendes Intereſſe. Die
Entwickelung derſelben im Mittelalter vor—
zuführen, iſt aber ſpeciell dankenswerth,
weil über ſie weit weniger allgemein be—
kannt iſt, als über die des Alterthums.
Der erſte Theil, welcher die Entſtehung
und Entwickelung der Lehre von der Erd—
rundung und Erdbewegung vorführt, ſteht
mit den beiden anderen der Sache nach
kaum in einer Verbindung. Dieſer Ent—
wickelungsgang iſt ein iſolirter, er ſteht
nicht im Zuſammenhang mit dem der Se—
miten und Araber, auch nicht mit denen
der Griechen. Was den Umfang des vom
Verfaſſer behandelten Zeitraumes betrifft,
ſo iſt der Anfang deſſelben die Zeit der
kirchenväterlichen Omnipotenz, das Ende
natürlich Nicolaus Kopernikus. Man kann
die vorliegende Arbeit gewiſſermaßen als
Fortſetzung zu dem bekannten Werke von
Schiaparelli betrachten.
Der Verfaſſer ſchildert zunächſt jene
erſte Epoche der mittelalterlichen Erdkunde,
die er mit Drapes ſehr treffend „pe—
triſtiſche Geographie“ nennt, jene Epoche
der abenteuerlichen Theoſophie, zu deren
unbedeutendem Anhängſel die Erd- und
Weltkunde gemacht wurde.
Ein Mann, der zuerſt an der Tra—
Literatur und Kritik.
dition zu rütteln wagte, der Biſchof Vir—
gilius von Juvavo, wird von dem
Verfaſſer der Vergeſſenheit entriſſen. Der
entſchiedene Aufſchwung der Erdkunde fällt
in das zehnte und elfte Jahrhundert. Im
13. Jahrhundert war die richtige Lehre
von der Erdrundung bereits tief einge—
drungen; der Verfaſſer beſpricht die Schrift
„Imagine du Monde“ und das Werkchen
von Sacro Bosco, welches der Lehre
von der Kugelgeſtalt zum durchſchlagenden
Erfolge verhalf. Von großem Intereſſe iſt
die klare und überſichtliche Darſtellung der
Anſichten Dante's, der über die Kugel—
geſtalt die allerklarſten Vorſtellungen be—
ſaß und den Irrlehren ſeiner Zeit ent—
gegentrat. Im Gegenſatz zu Dante zeigt
der Verf. wie Columbus irrige Anſichten
über die Erde hatte, wie er durch That—
kraft und Muth, nicht aber durch wiſſen—
ſchaftliche Einſicht zum Ziele kam. Seit
dem 16. Jahrh. fand die Kugelgeſtalt keine
ernſtlichen Gegner mehr. Der Verf. ſchließt
hiermit die geſchichtliche Darſtellung des
einen Problems und wendet ſich zu dem
noch wichtigeren zweiten, dem der Erd—
bewegung. Zunächſt hebt der Verf. hervor,
daß vor dem dreizehnten Jahrhundert keine
Vorläufer der reformatoriſchen That des
Kopernikus zu ſuchen ſind. Bei den Scho—
laſtikern, von denen der Verf. mit Recht
ſagt, daß ſie bei allen Extravaganzen doch
immer einen großartigen Charakter zeigen,
ſind die erſten Spuren einer Verbeſſerung
der aſtronomiſchen und geographiſchen Lehren
zu ſuchen. Der Verf. führt uns nun die
Anſichten von Albertus Magnus,
Roger Bacon's und Thomas v. Aquin
vor und zeigt, daß ſie bezüglich der Lehre von
der Erdbewegung nicht weiter kamen. Von
großem Intereſſe iſt die ausführliche Dar—
ſtellung der Anſichten Dante's; die Ana—
Literatur und Kritik.
lyſe ſeiner Trilogie zeigt die Unmöglichkeit,
ihn als einen Vorläufer des Kopernikus
anzuſehen. Dante ſteht hier ganz auf dem
Boden ſcholaſtiſcher Denk- und Forſchungs—
weiſe. Nun führt uns der Verf. in ein-
gehender Weiſe einen Mann vor, der ein
hervorragender Vorläufer moderner Phi⸗
loſophie und Wiſſenſchaft iſt: den Cardinal
Nicolaus von Cuſa. Der Verf. macht
es ſich zur Aufgabe, die gerechte Würdigung,
die dieſem tiefſinnigen Denker durch neuere
Forſchungen zu Theil wurde, weiteren Kreiſen
vorzuführen. Nicolaus Chryphs (Krebs)
aus dem Erzſtift Trier war ein ſcharfer Denker
und durchaus nicht ohne gediegenes Wiſſen.
Er ſpricht der Erde ihre abſolut centrale
Stellung ab und ſetzt ſie als Stern mit den
anderen Himmelskörpern auf gleichen Fuß.
Clemens hat ein Dokument veröffent—
licht, welches völligen Aufſchluß darüber
giebt, wie Nicolaus von Cuſa ſich die
Bewegung der Erde dachte. Der Verf.
druckt den intereſſanten Text ab und giebt
wichtige Erläuterungen zu dieſem „kosmo—
logiſchen Glaubensbekenntniſſe.“ Es ergiebt
ſich klar, daß der Cardinal die Rotation
der Erde formell correkt ausgeſprochen und
die himmliſchen Erſcheinungen mathematiſch
richtig erklärt hat. Der letzte große For—
ſcher vor Copernikus, den uns der Verf.
ſchildert, iſt Leonardo da Vinci, be—
kanntlich eines der größten Genies aller
Zeiten, der, wie auf ſo vielen anderen Ge—
bieten, auch auf dem der mathematiſchen
Geographie Hervorragendes leiſtete und ſich
hauptſächlich im Jahre 1510 mit dem
Probleme der Erdrotation beſchäftigte.
Hiermit ſchließt der Verfaſſer ſeine
Darſtellung, aus der hervorgeht, daß vor
Kopernikus nur von einer Rotation der
Erde, aber gar nicht von einer Bewegung
um die Sonne die Rede war.
103
Das zweite Heft giebt die geſchicht—
liche Behandlung derſelben Probleme bei
Arabern und Hebräern. Die Dar-
ſtellung der Leiſtungen der Araber bildet
den zweiten Abſchnitt der ganzen Arbeit.
Zunächſt weiſt der Verf. auf den Gegen—
ſatz zwiſchen Arabern und Decidentalen hin,
der darauf beruht, daß die Erſteren griechiſche
und indiſche Bildungselemente in ſich auf—
genommen hatten und deshalb die Lehre
von der Kugelgeſtalt von Anfang an rich—
tig erfaßten. Der Verf. führt dann einige
wichtige arabiſche Mathematiker und Aſtro—
nomen vor und zeigt, wie ſie die erſte geo—
graphiſche Grundwahrheit gründlich zu er—
faſſen verſtanden. Vor allem hebt er die
äußerſt wichtige Breitengradmeſſung unter
dem Chalifen al Mamun hervor.
Nun wendet ſich der Verfaſſer zu einem
Kapitel, dem bislang noch nirgends eine
ſyſtematiſche Behandlung zu Theil gewor—
den. Es ſoll eine Analyſe derjenigen Ar—
beiten liefern, die nicht ſtreng ſachgemäßen,
ſondern mehr populären Inhaltes und
für weitere Kreiſe beſtimmt waren. Die
Ausführung dieſes Abſchnittes iſt ſehr ver—
dienſtlich und intereſſant.
Der zweite Theil der Unterſuchung be—
handelt die Lehre von der Erdbewegung.
Was zunächſt die tägliche Rotation betrifft,
ſo war bei den Arabern keine feſtſtehende
und ausgebildete Theorie darüber vorhan—
den, aber doch eine Hypotheſe oder Vor—
ahnung dieſer Lehre. Der Verf. führt eine
Anzahl Stellen an, welche dies bezeugen;
insbeſondere führt er einen kurzen Artikel
von Sprenger an, der das intereſ—
anteſte Zeugniß darlegt, das einem Lehr—
buch der arabiſchen Schulphiloſophie ent—
nommen iſt.
Der Verf. wendet ſich ſchließlich zur
Betrachtung derjenigen arabiſchen Forſcher,
104
welche in unbewußter Vorahnung der Lehre
von der Bewegung der Erde um die Sonne
das herrſchende ptolemäiſche Syſtem an—
griffen. Er beſpricht den Bitrogi oder
Alpetragius und andere, hebt dann den
Philoſophen Abu Bekr Ibnal Cayeg,
einen Zeitgenoſſen des Maimonides her—
vor, der bisher von der mathematiſch—
geſchichtlichen Forſchung nicht beachtet worden
iſt, und ſchließt die Betrachtung der ſpaniſch—
islamitiſchen Refombewegung gegen das
ptolemäiſche Syſtem mit der Schilderung
der Leiſtungen des Königs Alphons X.,
der eine großartige aſtronomiſche Encyflo-
pädie herausgab, aber zu keinem Reſultate
kam. Aus Allem ergiebt ſich, daß die
Araber in der Erkenntniß des zweiten
Grundproblems nicht viel erreicht haben.
Der dritte Abſchnitt behandelt die
Hebräer. Die Lehre von der Kugel—
geſtalt der Erde habe ſchon zur Zeit Chriſti
bei vielen gebildeten Juden feſtgeſtanden,
meint der Verf., giebt aber zu, daß erſt
für das nächſte Jahrhundert ein Beweis
exiſtire. Jedoch ſcheint uns auch dieſer
nicht ganz evident; denn daß von der Größe
der Erde nach Paraſangen die Rede iſt,
dürfte vielleicht nicht unbedingt die Vor—
ſtellung der Kugelgeſtalt involviren. Das
nächſte Zeugniß, das der Verfaſſer anführen
kann, fällt bedeutend ſpäter, es iſt eine geo⸗
graphiſche Schrift des Rabbi Samuel
aus der Zeit zwiſchen 776 und 860.
Dieſer kannte bereits die Elementarwahr—
heiten der aſtronomiſchen Geographie. Der
Verf. giebt ſodann eine Ueberſicht der An—
ſichten und Lehren jüdiſcher Gelehrten ſeit
Anfang des zwölften Jahrh. Der wichtigſte
iſt Abraham ben Chüja, der eine
aſtronom. Geographie und Aſtronomie ſchrieb,
worin er die Lehre von der Kugelgeſtalt
wiſſenſchaftlich behandelte und richtiges Ver-
.
Literatur und Kritik.
ſtändniß dafür zeigt. Außer den wiſſenſchaft—
lichen Doktrinen giebt der Verf. auch eine
intereſſante Schilderung der Phantaſien
und abenteuerlichen Hypotheſen des mittel—
alterlichen Judenthums auf dieſem Gebiete.
Es folgt nun die Betrachtung über
die Stellung der Juden des Mittelalters
zu dem zweiten Grundproblem. Da eine
ſyſtematiſche Darſtellung dieſes wichtigen
Gegenſtandes bislang nicht vorhanden war,
ſo iſt es ſehr verdienſtlich, daß der Verf.
eine ſolche in ihren Grundzügen zu geben
unternommen hat. Die Zeugniſſe für die
Lehre von der Erdrotation finden ſich merk—
würdiger Weiſe in kabbaliſtiſchen Schriften,
vor allem in dem Hauptwerke, dem Buche
Sohar. Dies beſpricht der Verf. näher.
Was die Lehre von der Bewegung der
Erde um die Sonne betrifft, ſo haben die
Juden darin nichts geleiſtet; ſie hielten
conſervativ am ptolemäiſchen Syſteme feſt.
Nur einige ſchwächere, unwichtige Abweich—
ungen davon finden ſich; am intereſſanteſten
iſt die Kritik des Ptolomäus von Maimo—
nides, den der Verf. eingehend behandelt.
Dieſer bricht aber zuletzt in die Worte aus:
„Et c'est la une perplexite reelle.“
Hiermit ſchließt der Verf. dieſe Arbeit,
die eine treffliche und vollſtändige Ueber—
ſicht des Entwickelungsganges der aſtrono—
miſch-mathematiſchen Geographie im Mittel—
alter giebt. Der Verf. hat es verſtanden,
das reichhaltige Material trefflich zu ver—
werthen, lichtvoll anzuordnen und in ele—
ganter anregender Darſtellung vorzuführen.
Er hat zugleich mehrere bisher unbekannte
Thatſachen an's Licht gezogen und den Grund
zur ſyſtematiſchen Behandlung einiger Ge—
genſtände gelegt, bei denen ſie bisher fehlte.
Wir empfehlen dieſe Schrift auf's Beſte.
W 8.
WW
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
ER
Das Protikenreid,
Ernſt Haeckel.
ſtehen will, wenn man ſich
von der ſelbſtſtändigen Stellung des Pro—
tiſtenreichs zwiſchen dem Thierreiche einer—
ſeits und dem Pflanzenreiche anderſeits über—
zeugen will, ſo muß man vor Allem den
autonomen, unabhängigen Zellen—
Charakter ihres Organismus gehörig
würdigen. Bei allen einzelligen Pro-
tiſten, die ihr ganzes Leben als „Zellen—
Einſiedler“ zubringen, verſteht ſich das von
ſelbſt. Aber auch bei den vielzelligen Pro—
tiſten, bei den „Zellenhorden“, finden wir
immer die Individualität der locker ver
bundenen Zellen gewahrt und vermiſſen
jene Abhängigkeit derſelben von einander
und vom Ganzen, welche wir in dem
wohlorganiſirten Zellenſtaate des Thier—
und Pflanzenorganismus antreffen.
In dieſer Auffaſſung des Protiſten—
Organismus liegt nach unſerer Anſicht der
Schwerpunkt ſeines Verſtändniſſes. Es wird
daher zunächſt erforderlich ſein, den Be—
II.
griff der organiſchen Zelle überhaupt
feſtzuſtellen. Dieſer Begriff hat ſeit der
Begründung der Zellentheorie mancherlei
Wandlungen erfahren. Gegenwärtig nimmt
man faſt allgemein an, daß zum Begriff
der Zelle zwei verſchiedene Beſtandtheile
gehören. Erſtens: der eigentliche Zellen—
leib, ein lebendiges Stückchen von weichem,
eiweißartigem Bildungsſtoff oder Proto-
plasma; und zweitens ein davon um—
ſchloſſener Zellkern oder Nucleus,
ein kleinerer, meiſt feſterer Körper, der
ebenfalls aus einer eiweißartigen, aber vom
Protoplasma etwas verſchiedenen Materie be—
ſteht. Als dritter Hauptbeſtandtheil kommt
dazu bei vielen Zellen noch eine äußere
Umhüllungshaut oder Schale, die Zell—
haut oder Membran. Die meiſten
Pflanzenzellen ſind von einer ſolchen Kapſel
oder Membran umſchloſſen: Schlauch—
zellen. Hingegen ſind die meiſten Thier—
zellen hautlos und nackt: Urzellen.
Die meiſten Protiſten zeichnen ſich durch
die Bildung ganz eigenthümlicher Kapſeln
oder Schalen aus, welche ihrem Zellenleibe
3
Kosmos, Band III. Heft 2.
14
106
eine ſehr charakteriſtiſche und mannigfaltige
Geſtalt geben.
Wenn wir nun zunächſt unter unſern
Protiſten diejenige Gattung aufſuchen, welche
uns auf der Höhe ihrer Entwickelung die
einfachſte Form eines ſolchen einzelligen Or—
ganismus, gewiſſermaßen das Ideal der
Zelle, darſtellt, ſo treten uns vor allen
Andern die berühmten Amoeben entgegen
(Fig. 1). Weit verbreitet in unſern ſüßen
und ſalzigen Gewäſſern, ſind dieſelben wegen
ihrer höchſt einfachen Bildung und ihren
bedeutſamen Beziehungen zu anderen Zellen
von ganz beſonderer Wichtigkeit. Die
Amoeben ſind nackte Zellen ohne Hülle
Fig. 1. Eine gewöhnliche Amoebe
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Fig. 2.
und ohne beſtimmte Form. Ihr weicher
Körper, der nur einen einfachen Zellkern
enthält, bewegt ſich langſam kriechend im
Waſſer umher. Dies geſchieht dadurch, daß
eine wechſelnde Anzahl von veränderlichen,
lappenförmigen oder fingerförmigen Fort—
ſätzen aus beliebigen Stellen der Oberfläche
vorgeſtreckt und wieder eingezogen werden.
So ändern die kriechenden Amoeben immer—
fort ihre unbeſtimmte Geſtalt. Kommen ſie
zufällig mit kleinen Körperchen in Berührung,
die zur Nahrung dienen können, ſo drücken
fie dieſelben mittelſt der Bewegungen ihrer
Fortſätze an einer beliebigen Stelle ihrer
Körper⸗Oberfläche in dieſen hinein.
r
> LT 2 2.
Freſſende, amoebenähnliche, farbloſe
(Amoeba vulgaris) in zwei auf-
einander folgenden Zuſtänden der
Bewegung dargeſtellt. Im Proto-
plasma liegt der Kern (n) und
Blutzellen aus dem Blute einer nackten See—
ſchnecke (Thetis leporina). Die Blutzellen
führen in der Blutflüſſigkeit lebhafte Bewegungen
gleich echten Amoeben aus; und gleich Letzteren
einige fremde Körperchen (i).
Auch kleinſte Waſſertröpfchen werden ſo
verſchluckt. Die einzellige Amoebe kann alſo
eſſen und trinken, ohne daß ſie Mund und
Magen beſäße. Nachdem die Amoebe durch
fortdauerndes Wachsthum eine gewiſſe Größe
erreicht hat, zerfällt ihr einfacher Zellenleib
durch Theilung in zwei Zellen. Zuerſt theilt
ſich dabei der Kern, darauf das Proto—
plasma. Auf dieſelbe Weiſe vermehren ſich
auch die Zellen, welche
Körper zuſammenſetzen,
und von
erſetzt werden.
unſern eigenen
denen
viele beſtändig verbraucht und durch neue
Die größte Aehnlichkeit mit
verzehren ſie feſte Farbſtoffkörnchen.
den Amoeben haben die farbloſen Blut—
zellen, die milliardenweiſe in unſerm Blute
kreiſen. Auch dieſe bewegen ſich nach
Amoeben-Art, indem ſie ihre unbeſtimmte
Form ändern. Auch dieſe können fremde
Körperchen in ihr Inneres aufnehmen; wir
können fie unter dem Mikroskop z. B. mit
Carminkörnchen füttern, mit denen ſie ſich
in kurzer Zeit anfüllen (Fig. 2).
Von beſonderer Wichtigkeit für die Ent—
wickelungsgeſchichte iſt die intereſſante That—
ſache, daß auch die Eier der Thiere in
ihrer früheſten Jugend nackte, formloſe
Haeckel, Das Protiſtenreich. 107
Zellen ſind, welche Amoeben zum Verwechſeln | bei ſie ihre Form beliebig verändern (Fig. 3).
ähnlich ſehen und gleich dieſen langſame, Bei den Schwämmen oder Spongien unter—
| nehmen diefe amoebenähnlichen Eizellen, lang—
unbeſtimmte Bewegungen ausführen, wo—
Fig. 3. Jugendliche Eizellen verſchiedener Thiere, amoebenähnliche, nackte Zellen, welche
unter langſamer Formveränderung, gleich echten Amoeben, Bewegungen ausführen. In dem
dunkeln, feinkörnigen Protoplasma liegt ein heller, bläschenförmiger Kern, und in dieſem
ein dunkles Kernkörperchen. — 41 — 4. Eizelle eines Kalkſchwammes (Leucon) in vier
verſchiedenen, auf einander folgenden Bewegungs-Zuſtänden. — B1— 8. Eizelle eines
Schmarotzerkrebſes (Chondracanthus) in acht verſchiedenen, auf einander folgenden Bewegungs—
Zuſtänden. — 01—5. Eizellen der Katze in verſchiedenen Bewegungs-Zuſtänden. — D. Junge
Eizelle der Forelle. — E. Junge Eizelle des Huhnes. — F. Junge Eizelle des Menſchen.
Alle dieſe amoebenähnlichen Eizellen befinden ſich noch in der erſten Jugend: ſpäter nehmen
ſie ſehr verſchiedene Beſchaffenheit an.
ſam fortkriechend, oft weite Wanderungen dringlinge im Schwammkörper ſchmarotzend
durch den Körper des Schwammes und leben ſollten (Fig. J).
find daher früher als „paraſitiſche Amoeben“ Es giebt auch Amoeben, welche ihren
beſchrieben worden, welche als fremde Ein- nackten Zellenleib theilweiſe mit einer ſchützen—
—
108 Haeckel, Das Protiſtenreich.
den Schale umgeben, und dieſe bilden die boſen. Bald ſchwitzen dieſe gepanzerten
Gruppe der Arcellinen oder Thekolo— Amoeben eine ſchleimige Maſſe aus, welche
Fig. 4. Amoebenähn—
liche Eizelle eines
Kalkſchwammes (Olyn-
thus), weite Strecken
im Körper des Letzteren
fortkriechend.
Fig. 5. Difflugia
(oblonga), eine gepan—
| zerte Amoebe, welche
ihre länglich-eiförmige
Schale (a) aus feinſten
Sandkörnchen zuſam—
menklebt. Aus der ein—
fachen Mündung des Ge—
häuſes (oder der ineru— Fig. 7. Monocystis
ſtirten Zellmembran) tritt (agilis), eine ſchmarotzen—
der vordere Theil des de Gregarine aus der
weichen Zellenleibes (b) Fig. 6. Quadrula (symmetrica). Leibeshöhle des Regen—
| mit feinen wechſelnden Eine gepanzerte Amoebe, deren wurmes. Der langge—
Lappenfüßchen vor (e). Schale aus quadratiſchen Plättchen ſtreckte, wurmförmig ſich
Im hinteren Theile iſt ein zierlich zuſammengeſetzt iſt. Oben bewegende Körper iſt
heller kugeliger Kern mit liegt ein kugeliger Zellkern (n) im eine einfache Zelle mit
| zahlreichen Kernkörper⸗ Protoplasma, unten treten mehrere feſter Haut (a), Proto-
chen ſichtbar (d). Lappenfüßchen vor (). plasma (b) und Kern (e).
ſofort erhärtet und mit Sandkörnchen und Bald wird die ganze Maſſe der erhärteten
anderen fremden Körpern zu einer feſten Hülle blos von ausgeſchwitzter organiſcher
Kruſte zuſammenbackt (Dikllugia, Fig. 5). Subſtanz gebildet, und dieſe zeigt oft eine
& =)
jehr zierliche Struktur, indem ſie aus ſechs—
eckigen oder viereckigen Täfelchen zuſammen—
geſetzt erſcheint (Arcella, Quadrula, Fig. 6).
Alle dieſe amoebenartigen Weſen, die
Haeckel, Das Protiſtenreich.
f
echten, nackten Amoeben und die gepanzer-
ten, zierlichen Arcellinen, können wir als
beſondere Klaſſe unter dem Namen Lappinge
oder Lappenfüßler (Tobosa) zuſam⸗
menfaſſen, weil der auszeichnende Charakter
dieſer einzelligen Urthiere die Bildung lappen-
förmiger Wechſelfüßchen iſt. An ſie ſchließen
ſich aber ganz eng die ſonderbaren Weſen
an, welche die beſondere Gruppe der Gre—
garinen bilden. Alle Gregarinen leben
als Schmarotzer oder Paraſiten im Innern
anderer Thiere und ſind gewiſſen niederen
Würmern ſo ähnlich, daß man ſie früher
ſelbſt als Eingeweide-Würmer beſchrieben
hat; auch ſtimmen die wurmförmigen Be—
wegungen ihres kriechenden Körpers ganz
mit denjenigen gewiſſer Würmer überein.
Trotzdem iſt ihr ganzer, ziemlich großer,
oft mehrere Millimeter langer Körper nichts
Anberes, als eine einfache Zelle.
trübe, mit feinen Körnchen erfüllte Proto-
plasma⸗Leib (b) umſchließt einen Zellkern (e)
und iſt von einer feſten, homogenen, ſtruktur—
loſen Hülle umgeben (a) Fig. 7. Die flüſſige
Nahrung ſchwitzt aus den umgebenden
Säften des bewohnten Thieres durch dieſe
Hülle oder Zellmembran hindurch und
dringt ſo in die Gregarine ein. Man
kann die Gregarinen als Amoeben betrach—
ten, welche in das Innere von anderen
Thieren eingedrungen ſind, ſich hier an
paraſitiſche Lebensweiſe gewöhnt und durch
Anpaſſung mit einer ſchützenden Hülle um—
geben haben.
Eine ganz andere Bewegungsform, als
die langſam kriechenden Amoeben und Gre—
garinen zeigen uns die ſchwimmenden Fla—
gellaten, die Geißler oder Geißel—
Der
zen betrachtet.
licher Weiſe eine gelbe oder braune Farbe
tragen, ſo werden ſie für echte Thiere er-
109
ſchwärmer. Dieſe intereſſanten Protiſten
haben bis auf den heutigen Tag unter
einem ganz eigenthümlichen Schickſal zu
leiden. Wenn ſie nämlich das Glück haben,
grün gefärbt zu ſein, werden ſie von vielen
Naturforſchern unbedenklich als echte Pflan-
Wenn ſie dagegen unglück—
klärt; gewiß ein ſchlagendes Beiſpiel von
der Willkür der üblichen Claſſificationen.
Zahlreiche Formen dieſer Geißler, die auch
oft mit dem vieldeutigen Namen der Mo—
naden belegt werden, bevölkern das Sü ß—
waſſer, wie das Meer, oft in unglaublichen
Maſſen. Wenn im Frühjahr zuweilen
plötzlich unſere Teiche ſich mit einer grünen
Schleimdecke überziehen, ſo beruht das ge—
wöhnlich auf der Entſtehung zahlloſer grüner
Euglenen. Ebenſo iſt die ſeltener auf—
tretende blutrothe Färbung der Gewäſſer,
die zur Sage vom Blutregen, ſowie zu
vielen abergläubiſchen Vorſtellungen und
Hexenproceſſen Veranlaſſung gegeben hat,
durch Milliarden rother Euglenen bedingt.
Durch verwandte rothe Protococcus-Formen
wird auch der rothe Schnee gebildet, der
die Eisberge ſowohl in den Polarmeeren,
wie auf unſeren Alpenhöhen bisweilen in
weiter Ausdehnung blutroth färbt.
Dieſe Protococcen und Euglenen ſind
Einſiedler-Zellen, während andere Flagel—
laten ſich zu kleinen Geſellſchaften zuſam—
menthun. Sie ſchwimmen im Waſſer um-
her mittelſt eines feinen fadenförmigen Fort-
ſatzes, der wie eine Geißel oder Peitſche
hin und hergeſchwungen wird (Fig. 8).
Manche ſetzen ſich auch feſt auf dünnen
Stielen. Außer der Geißel, ihrem Haupt—
Bewegungsorgan, beſitzen manche Geißel—
ſchwärmer noch einen Kranz von feinen
Wimpern mitten um den Zellenleib; dieſe
= —
| 110
Haeckel, Das
heißen Wimpergeißler (Peridinia,
Fig. 9). Von letzteren bilden ſich viele
eine Kieſelſchale, die aus zwei ungleichen
Hälften beſteht; die größere Hälfte trägt
zwei lange Hörner, die kleinere ein Horn;
ſchwimmen frei umher.
Fig. 8. Phacus (longicauda). Ein Geißel—
ſchwärmer mit einer langen ſchwingenden
Geißel am vorderen, einem fadenförmigen
Anhang am hinteren Ende; hinter erſterem
ein rother Augenfleck.
Fig. 9. Peridinium (tripus). Ein Wimper-
geiler, deſſen dreihörnige Kieſelſchale aus
zwei Hälften zuſammengeſetzt iſt.
zwiſchen beiden Hälften tritt der Wimper—
kranz und die Geißel hervor. Durch die
Schwingungen der Geißel werden kleine
Nahrungskörnchen dem Zellenleibe der
Flagellaten zugeführt und an deren Baſis
durch eine Art Zellenmund aufgenommen.
Ihre Vermehrung geſchieht meiſtens durch
einfache Theilung.
Bei vielen finden wir
Protiſtenreich.
abwechſelnd einen frei beweglichen und einen
Ruhezuſtand. Während des letzteren kap—
ſeln ſie ſich ein und zerfallen innerhalb
der Hülle in vier oder acht Zellen. Dieſe
treten ſpäter aus der Kapſel aus und
Nahe Verwandte dieſer einzelligen Fla—
gellaten ſind auch die grünen ſogenannten
Kugelthierchen oder Volvocinen
(Fig. 10); grüne Gallertkügelchen, welche
die Größe eines Stecknadelknopfes erreichen.
In jedem Kügelchen ſind zahlreiche grüne
einzellige Flagellaten zu einer Geſellſchaft
Fig. 10. Ein Kugelthierchen (VoI Vox glo-
bator). Die netzförmige Zeichnung an der
Oberfläche der Gallertkugel entſteht dadurch,
daß die kleinen grünen, in den Knotenpunkten
des Netzes befindlichen Geißelzellen ſich durch
feine Fortſätze unter einander verbinden. Im
Innern der Kugel ſind 6 Tochterkugeln
(junge Colonien) ſichtbar.
und durch die gemeinſamen
Schwingungen ihrer Geißeln wird die
ganze Kugel umherbewegt. Im Innern
der Gallertkugeln entſtehen neue Tochter—
kugeln. Außerdem vermehren ſich die Vol—
vocinen auch geſchlechtlich, wie durch Cohn's
ſorgfältige Unterſuchungen dargethan wor—
den iſt; ihre Befruchtung geſchieht in ähn—
licher Weiſe wie bei vielen Algen; ſie
ſchließen ſich dadurch ſchon enger an das
Pflanzenreich an.
Eine ſehr eigenthümliche Protiſtengruppe,
die man auch noch zu den Flagellaten
vereinigt;
rechnet, ſind die großen blaſenförmigen
Noktiluken oder Meerleuchten
(Fig. 11). Sie bedecken oft die Meeres-
oberfläche in unglaublichen Maſſen, ſtrahlen
im Dunkeln ein helles Licht aus und ſpielen
eine Hauptrolle bei dem wundervollen Phä—
nomen des Meerleuchtens. Die gewöhn—
lichen Noktiluken ſind coloſſale rundliche
Zellen, welche 1. — 1 Millimeter Durch—
meſſer erreichen und die Geſtalt einer
Pfirſiche beſitzen. Der Hohlraum der
blaſenförmigen Zelle iſt mit wäſſeriger
Flüſſigkeit erfüllt, in welcher ſich ver—
äſtelte Stromfäden (g) des Protoplasma
7
ec
ET
LIE 7
N EN 2
EN A 0 5: N
ES 8 . \
Fig. 11.
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Eine Meerleuchte (Noctiluca miliaris).
111
bewegen, ausgehend von der Wandſchicht
des letzteren, welche innen an der Zell—
haut anliegt. Der Kern iſt eiförmig (b).
An einer Stelle iſt die Zellhaut von einer
Oeffnung, einem Zellmund (Cytostoma),
durchbrochen und hier wird Nahrung direct
in das Innere aufgenommen. Hier befin—
det ſich auch neben der zarten Geißel
ein großer peitſchenförmiger, quergeſtreifter
Anhang (a), ſowie ein zahnförmiger
Fortſatz (d). Die Fortpflanzung erfolgt
theils durch einfache Theilung, theils
durch eine eigenthümliche Form der Spo—
renbildung.
110
4 ER, ne
2 e ver RN
W
U
4.
1. Die ganze Geißelzelle von oben.
2. Im optiſchen Durchſchnitt: a Peitſchenförmiger Anhang, b Kern, e Furche der Oberfläche,
d zahnförmiger Fortſatz, daneben die zarte Geißel, e, k größere Protoplasma-Anſammlung
um
Neuerdings iſt eine Noktiluken-Form
entdeckt worden, welche zum Verwechſeln
einer kleinen ſchirmförmigen Meduſe ähn—
lich iſt, und gleich einer ſolchen ſich durch
Zuſammenklappen des zarten concaven
Schirmes ſchwimmend bewegt (Leptodis-
cus medusoides, ſ. Kosmos II. S. 567).
Während über die einzellige Natur der
Geißelſchwärmer und Amoeben heutzutage
kein Zweifel mehr beſteht, ſo iſt dieſe da—
gegen bis vor Kurzem ſtreitig geweſen bei
denjenigen Protiſten, die man heute viel—
fach als Infuſionsthierchen im
engeren Sinne bezeichnet. Dazu gehören
den Kern herum, g, g verzweigte Stromfäden des Protoplasma.
die beiden Klaſſen der Wimperthierchen
oder Ciliaten (Fig. 12 — 15) und der
Starrthierchen oder Acineten (Fig. 16,
17). Maſſenhaft bevölkern fie alle ſtehen—
den und fließenden Gewäſſer und ſind auch
in allen Infuſionen zu finden.
Beſonders die Ciliaten, die Wimper—
linge oder Wimperthierchen, er—
ſcheinen in einer Fülle von niedlichen For—
men; und durch die Anmuth ihrer lebhaf—
ten Bewegungen feſſeln ſie uns ſtundenlang
an das Mikroskop. Nur einzelne Ciltaten
ſind ſchon mit bloßem Auge ſichtbar, ſo
z. B. das große Trompetenthierchen (Stentor,
3
Sa
Fig. 12); die meiſten find erſt durch das
Mikroſkop erkennbar. Zahlreiche kurze
Wimperhärchen ſind über den Körper zer—
ſtreut und werden willkürlich ſchlagend be—
wegt. Wie die Geißeln der Flagellaten,
jo find auch dieſe Wimpern der Ciliaten
e
ll
N I 152 2 e 0 100
SH,
N N NW. 44 A 1 h
Wan
Fig. 13.
dem Stentor ſind zwei kleine,
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Ein Mai⸗
j glockenthierchen
Fig. 12. Ein Trompetenthierchen (Vortice lla micro—
(Stentor polymorphus). Oben stoma). Der ein—
iſt der große, den Mund um- zellige Leib iſt auf
gebende Wimperkranz ſichtbar, einem dünnen Stiele
links darunter der lange, roſen- befeſtigt, der ſich kork—
kranzförmige Kern. Rechts neben zieherartig zuſam⸗ (Freia elegans).
menziehen kann.
direkte Fortſätze vom Protoplasma des
einzelligen Körpers. Die meiſten Wimper-
thierchen bewegen ſich frei ſchwimmend oder
laufend mittelſt dieſer Wimpern umher.
Es giebt aber auch feſtſitzende Ciliaten,
wozu die niedlichen Vorticellen (Fig. 13)
Der einzellige
Körper iſt in eine ovale, auf Waſſer—
bewimperte Zellen ſichtbar, die a Wimperkranz um pflanzen (unten) befeſtigte Hülle ein—
aus dem Innern deſſelben aus- den Mund; v con- geſchloſſen, aus deren Oeffnung der
geſchwärmt ſind, entweder Junge traktile Blaſe; n Zell- Vordertheil der Zelle mit der Mund—
oder Paraſiten (Aeineten—
Schwärmer).
und Freia (Fig. 14) gehören. Bei dieſen
Ciliaten dient der durch die Wimpern er—
zeugte Strudel dazu, friſches Waſſer und
Nahrung der Zelle zuzuführen.
Das Protoplasma des Giliatenkörpers
iſt in eine feſtere Rindenſchicht (Exo—
kern; k. p zwei Knos- öffnung und zwei großen Wimper—
pen, die ſich ablöſen.
lappen vortritt.
plasma) und eine weichere Markſchicht (En-
doplasma) geſondert. In der erſteren be—
findet ſich eine beſtändige Oeffnung, eine
Art Zellenmund (Cytostoma), durch
welchen ſowohl feſte Biſſen als Waſſer—
tropfen verſchluckt und in die weichere
PP—˙⁰U ͤ D W
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Markmaſſe hineingedrückt werden. Bis-
weilen iſt dieſe Mundöffnung zu einem
beſonderen gefalteten Schlundtrichter erwei—⸗
tert, ſo z. B. bei dem Fiſchreuſenthierchen
(Fig. 15 a). In dem weichen Protoplasma
des Innern ballt ſich die verſchluckte Nahr—
ung in Biſſen (Fig. 15 c), welche allmälig
verdaut und aufgelöſt werden; Ehren—
beſondere Magenſäcke und benannte des—
halb die Ciliaten „Vielmagenthierchen“ (Po-
Iygastriea). Unſere magenloſen Wimper—
thierchen können alſo eſſen und trinken,
obwohl ſie einfache
Zellen ſind. Was aber
noch mehr überraſcht,
das iſt die Munter⸗
keit und offenbare
Willkür ihrer Beweg⸗
ungen, der zarte und
ſeelenvolle Charakter
ihrer Empfindungen.
Gerade wegen dieſer
Eigenſchaften werden
ſie gewöhnlich als Fig. 15. Ein Reuſenthierchen (Prorodon
echte Thiere betrachtet. teres).
N zan ähnlichem Schlundtrichter).
Daß ſie das nicht Blaſe.
ſind, geht aus ihrem
feineren Bau und
ihrer Entwickelung deutlich hervor. Zeit—
lebens umſchließt ihr einfacher Zellenleib
nur einen einzigen Kern. Bald iſt dieſer
Nucleus rundlich (Fig. 15 d), bald
wurſtförmig (Fig. 13 u), bald langgeſtreckt,
ſtabförmig oder roſenkranzförmig (Fig. 12).
Die Ciliaten ſind alſo wirklich einzellig,
wie zuerſt der um die Kenntniß der Pro-
tiſten hochverdiente Zoologe Siebold dar—
gethan hat. Die Vermehrung der Ciliaten
geſchieht durch einfache Theilung; und wie
bei jeder gewöhnlichen Zellentheilung zer—
fällt zuerſt der Kern, und darauf das
Kosmos, Band III. Heft 2.
a Mundöffnung (mit fiſchreuſen—
e Verſchluckte Nahrungsballen.
d Zellkern (mit Kernkörperchen).
113
Protoplasma in zwei gleiche Hälften. Aber
auch Fortpflanzung durch Knospenbildung
iſt bei vielen Ciliaten zu finden, ſo z. B.
bei den Vorticellen (Fig. 13). Außerdem
ſcheinen ſich viele durch Sporen zu ver—
mehren, d. h. durch junge Zellen, welche
ſich im Innern der Mutterzelle bilden und
wobei der Kern betheiligt iſt (Fig. 12).
berg beſchrieb dieſe Nahrungsballen als
Das Intereſſanteſte an den Wimper⸗
thierchen, und diejenige Eigenſchaft, durch
welche ſie alle anderen Protiſten übertreffen,
iſt der hohe Grad von Empfindlich—
keit und Willens-Energie, den ſie
bei ihren lebhaften Be⸗
wegungen kundgeben.
Wer lange und ein-
gehend Ciliaten beob—
achtet hat, kann nicht
zweifeln, daß ſie eine
Seele ſo gut wie die
die höheren Thiere be—
ſitzen. Denn die See—
lenthätigkeiten
der Empfindung und
der willkürlichen Be⸗
wegung üben fie eben-
ſo aus, wie die höhe⸗
ren Thiere; und an
dieſen Thätigkeiten
allein iſt ja die Seele zu erkennen. Da
nun der ganze Leib der Ciliaten blos eine
einfache Zelle iſt, ſo gewinnen ſie die
höchſte Bedeutung für die Theorie von
der Zellſeele, für die Annahme, daß
jede organiſche Zelle ihre eigene individuelle
„Seele“ beſitzt — oder vielmehr, richtiger
ausgedrückt: daß Seelenleben eine Thä—
tigkeit aller Zellen iſt.
An die formenreiche Klaſſe der Wimper⸗
thierchen ſchließt ſich die kleine Gruppe der nahe—
verwandten Starrthierchein oder Acineten
b Gontractile
an (Fig. 16, 17). Im Gegenfage zu erſteren
114
zeigen dieſe letzteren nur ſehr wenig Beweglich—
keit; ſie ſitzen meiſtens zeitlebens auf einem
Stiele feſt. Statt der Wimperhärchen treten
aus ihrem ſtarren, von einer Hülle umſchloſſe—
nen Zellkörper zahlreiche feine, oft büſchel—
förmig gruppirte Fortſätze hervor (Fig. 16 p).
Dies ſind ſehr feine Saugröhrchen, die
am Ende mit einem Saugknöpfchen ver—
ſehen ſind. Wenn ein ſchwimmendes Wim—
perthierchen unvorſichtig in die Nähe einer
ſolchen Acinete geräth, wird ſie von den
ſteif ausgeſtreckten Saugröhren der letzteren
Fig. 16. Eine Aeineta, auf einem kurzen
Stiele (unten) befeſtigt. p Saugröhren der
Zelle. » Contractile Blaſen im Protoplasma.
e eine Spore. n Zellkern.
gewährt ebenſo wie diejenige der Ciliaten
das höchſte Intereſſe. An dieſen Infuſions—
thierchen zeigt uns die organiſche Zelle deut—
lich, wie weit ſie es in ihrem idealen Streben
nach thieriſcher Vollkommenheit für ſich
allein bringen kann. Wir können ſagen:
Die Wimperthierchen ſind der gelungenſte
Verſuch der einzelnen Zelle, ſich zu einem
wirklichen Thiere zu entwickeln. Aber zu
einem echten Thie re gehören ja mindeſtens
zwei Keimblätter, deren jedes aus zahl—
3
Haeckel, Das Protiſtenreich.
feſtgehalten und ausgeſaugt (Fig. 17). Das
Protoplasma des gefangenen Ciliaten (a)
wandert langſam durch die Saugröhren (k“)
in das Innere der Acinete hinein. Daß
auch ſie nur eine einfache Zelle iſt, beweiſt
ihr Zellkern (n); im Protoplasma find,
wie bei den Ciliaten, oft eine oder mehrere
„contraktile Blaſen“ oder Vacuolen ſicht—
bar, waſſererfüllte kugelige Hohlräume, die
ſich langſam zuſammenziehen und wieder
ausdehnen (Fig. 16 v, Fig. 17x).
Die anhaltende Beobachtung der Acineten
Fig. 17. Eine Aeineta, welche mit ihren
Saugröhren (t) ein Wimperthierchen (Euche-
lys a) ergriffen hat und daſſelbe ausſaugt.
x, v Contractile Blaſen. n Zellkern.
reichen Zellen zuſammengeſetzt iſt. Alſo
können wir doch die Ciliaten und Acineten
nicht als wirkliche Thiere gelten laſſen.
Unter allen Protiſtenklaſſen die formen—
reichſte und in geologiſcher Beziehung die
wichtigſte iſt die wunderbare Klaſſe der
Wurzelfüßler oder Rhizopoden.
Außer mehreren kleineren Gruppen gehören
dahin die kalkſchaligen Thalamophoren und
die kieſelſchaligen Radiolarien. Beide Ab-
theilungen ſind in zahlloſen, höchſt phan—
Haeckel, Das Protiſtenreich.
taſtiſch geformten Arten in allen Meeren
verbreitet.
größten Theile kriechend auf dem Grunde
des Meeres, beſonders auf Seetang; die
Radiolarien hingegen ſchwimmen in dicht—
gedrängten Schaaren an der glatten Ober-
fläche des Meeres
oder ſchweben in ver—
ſchiedenen Tiefen des—⸗
ſelben. Die bekannte⸗
ſten und geologiſch wich—
tigſten Rhizopoden ſind
die Thalamopho—
ren, Kammer—
linge oder Kammer—
thierchen; ausgezeichnet
durch eine feſte, mei⸗
ſtens kalkige Schale, in
welche ſich dieſe Ur⸗
thierchen, wie die
Schnecke in ihr Haus,
zurückziehen können.
Bald enthält dieſe Kalk⸗
ſchale nur eine einzige
Kammer (Einkam⸗
merige, Monotha-
lamia, Monostegia);
bald mehrere, durch
Thüren mit einander
verbundene Kammern
(Vielkammerige,
Polythalamia, Poly-
stegia). Solche zierlich
geformte, oft einem
Schneckenhaus ähnliche
Kalkſchalen haben ſich
ſeit vielen Millionen
Jahren in ungeheuren Maſſen auf dem Mee—
resboden angehäuft und an der Gebirgs-
bildung unſerer Erde den wichtigſten An—
theil genommen. Schon die älteſten, aus
dem Meere abgeſetzten Flötzgeſteine, die
Die Thalamophoren leben zum
Fig. 18. Nummulites (retieulatus).
a, b, e in natürlicher Größe; d,. e, f ſchwach
vergrößert. Die linſenförmige Scheibe iſt in
a vom Rande aus geſehen, in b und e
von der Fläche, e und d im Längsſchnitt
(Dickenſchnitt).
115
laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen
Schichten, enthalten dergleichen Polythala—
mien⸗Schalen und find wahrſcheinlich zum
großen Theile aus ihnen gebildet. Das
älteſte von Allen iſt das berühmte Eozoon
canadense aus den unteren laurentiſchen
Schichten, deſſen Poly-
thalamien-Natur mit
Unrecht in Zweifel
gezogen wurde. Die
mächtigſte Entwickel⸗
ung erreichen dieſe
Rhizopoden jedoch erſt
viel ſpäter, während
der Kreideperiode und
der älteren Tertiär⸗
periode. Jedes kleinſte
Körnchen unſerer wei⸗
ßen Schreibkreide läßt
uns unter dem Mi-
kroſkop zahlreiche fol-
cher zierlichen Kalk—
ſchalen erkennen. Der
Grobkalk von Paris,
aus dem viele Paläſte
dieſer Weltſtadt erbaut
ſind, beſteht ebenfalls
zum größten Theile
aus ſolchen Kammer-
ſchalen. Ein Cubifcenti-
meter des Kalkes aus
den Steinbrüchen von
Gentilly enthält un—
gefähr 20,000, ein
Cubikmeter demnach ge—
gen 20 Mill. Schalen.
Die größten Polytha-
lamien aber lebten während der älteſten
Tertiärzeit, während der Eocän-Periode.
Unter ihnen find die Rieſen des Protiften-
Reiches, die gigantiſchen Num muliten
(Fig. 18), deren ſcheibenförmige Kalkſchalen
116
Der von ihnen erzeugte Nummuliten Kalk,
aus dem unter Anderem die egyptiſchen
Pyramiden gebaut ſind, bildet die unge—
heuren Gebirgsmaſſen des Nummuliten—
Syſtems. Dies iſt eins der gewaltigſten
Gebirgsſyſteme unſerer Erde, das von
Spanien und Marokko bis nach Indien
und China hinüberreicht, und an der Bild—
ung der Pyrenäen und Alpen, des Liba—
non und Kaukaſus, des Altai und Himalaya
den bedeutendſten Antheil nimmt.
Fig. 19. Gromia (oviformis).
von einer biegſamen Schale eingeſchloſſen.
fließendes Protoplasma heraus,
Haeckel, Das Protiſtenreich.
die Größe eines Zweithalerſtückes erreichen.
In welchen ungeheuren Maſſen die Po—
lythalamien auch gegenwärtig noch unſere
Meere bevölkern, geht daraus hervor, daß
z. B. der Sand der Mittelmeerküſte an vielen
Stellen zur größeren Hälfte aus den Scha—
len lebender Polythalamien-Arten beſteht.
Schon einer ihrer erſten Beobachter,
Bianchi, zählte im Jahre 1739 in einem
einzigen Eßlöffel Seeſand von Rimini
6000 Individuen; und derjenige Natur-
forſcher, dem wir die genaueſten Unterſuch—
ungen über ihre Naturgeſchichte verdanken,
Die Hauptmaſſe des eiförmigen einzelligen Körpers iſt
Durch die Oeffnung derſelben tritt (unten)
welches die ganze Schale umhüllt und von dem nach
allen Richtungen bewegliche Fäden ausſtrahlen.
der berühmte Anatom Max Schultze,
berechnete ihre Menge in einem Eßlöffel
Seeſand von Gaeta auf mehr als Hun—
derttauſend.
Der weiche lebendige Körper der Kam—
merthierchen, welcher dieſe wunderbaren
Schalen- und Panzer-Bildungen erzeugt, iſt
ſtets von höchſt einfacher Bildung: ein
Stück formloſes Protoplasma, das zahl—
reiche Zellenkerne einſchließt. Von der Ober-
2 des weichen Protoplasma-Leibes ftrah-
len hunderte, oft tauſende von äußerſt feinen
Fäden aus. Dieſe Schleimfädchen, die den
Namen Scheinfüßchen oder Pſeudo—
podien führen, ſind ſehr empfindlich und
beweglich. Sie können ſich veräſteln, mit
einander verſchmelzen, Netze bilden und wie—
der in die gemeinſame Centralmaſſe des
Körpers zurückgezogen werden. Durch die
Zuſammenziehungen dieſer Fäden bewirken
die Wurzelfüßler ihre kriechende oder ſchwim—
mende Ortsbewegung. Wenn ein anderes
Protift, z. B. ein Wimperthierchen oder
eine Bacillarie, in den Bereich dieſer Fäden
gelangt, ſo wird es von ihnen erfaßt, um—
ſchlungen und in das Innere des Proto—
plasmakörpers hineingezogen, wo es einer
höchſt einfachen Verdauung unterliegt. Wie
bei den Amoeben kann jede Stelle der
Körperoberfläche dergeſtalt die Aufgabe eines
Mundes und Magens übernehmen. Auch
die Vermehrung der Wurzelfüßler iſt höchſt
einfach. Der weiche Protoplasma-Leib des
Kammerthierchens zerfällt in zahlreiche kleine
Fig. 20. Polystomella (venusta), ein
Polhthalam, deſſen Kammern in einer
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Stückchen. Jedes Stückchen erhält einen
Zellkern, bildet alſo eine echte Zelle, und
dieſe nackte Zelle ſchwitzt alsbald wieder
eine Kalkſchale aus.
Die vielgeſtaltige Schale des Acyttarien—
Körpers beſteht meiſtens aus kohlenſaurem
Kalk, ſeltener aus einer erhärteten organi—
ſchen Subſtanz, die mit Sandkörnchen u.
dergl. verkittet iſt. Bald beſitzt die Schale
nur eine größere Mündung, iſt aber übri-
gens undurchlöchert (Imperforata); bald
iſt die Schale überall von ſehr zahlreichen
. 21. Alveolina (Quoyi). Mehrere Reihen
Spirale aufgerollt find, ganz Eur tie
bei Nautilus. Aus den feinen Löchern
der Schale treten überall bewegliche faden-
förmige Scheinfüßchen hervor.
En Kammern laufen in einer Spirale neben ein-
ander hin. Die durchſchnittenen Wände der
Kammern ſind weiß gezeichnet; die Verbindungs—
öffnungen mit den darüber liegenden ſchwarz.
kleinen Löchern durchbrochen (Foraminifera).
Mit Bezug auf die Schalenform unter—
ſcheidet man bei den zwei Hauptgruppen:
Einkammerige und Vielkammerige. Die
Einkammerigen (Monothalamia) ſind
verhältmäßig wenig formenreich.
Einer ihrer bekannteſten, häufigſten und
größten Vertreter iſt die Gromia (Fig. 19).
Sie beſitzt eine eiförmige Schale, mit dun—
kelbraunem Protoplasma erfüllt, und erreicht
die Größe eines Stecknadelknopfes. Die
Netze der Scheinfüßchen, welche davon aus-
ſtrahlen, kann man ſchon mit bloßem Auge
deutlich erkennen.
Die Vielkammerigen (Polythala-
mia) bilden die Hauptmaſſe der Acyttarien.
Die einzelnen Kammern, welche ihre Schale
zuſammenſetzen, ſind durch unvollſtändige
Scheidewände getrennt, oft ſehr zahlreich.
Meiſtens ſind dieſelben mehr oder weniger
in Spiralen geordnet. So entſtehen Ge—
häuſe, welche die größte Aehnlichkeit mit
denjenigen gewiſſer Mollusken, namentlich
Cephalopoden, beſitzen (Fig. 20). Daher
118 Haeckel, Das Protiſtenreich.
*
wurden dieſe Rhizopoden von ihren erſten | Erſt vor 40 Jahren lernte man, zuerſt
Entdeckern wirklich für echte, mikroſkopiſche durch Dujardin, ihre wahre Natur
Cephalopoden gehalten und auch ſpäter noch kennen, und überzeugte ſich, daß ganz ähn—
ihre Organiſation als ſolche beſchrieben. lich geformte Schalen das eine Mal von
Sy
N
N 8 N N
N l
S
NN
je MAD ©
(
Fig. 22. Cyeloelypeus, ein colofjales Polythalam von 3 Centimeter Durchmeſſer, in
großen Tiefen des Sunda-Meeres lebend. Man ſieht die eine Hälfte der in der Mitte
durchſchnittenen Schale, von der links noch ein Stück der oberen Schicht abgeſchnitten iſt,
um in die Kammern hineinzublicken.
Fig. 23. Parkeria, ein coloſſales Polythalam von 3 Centimeter Durchmeſſer. Man ſieht
blos ein Stück der eiförmigen Schale, ſo durchſchnitten, daß man nach allen Richtungen hin
die Zuſammenſetzung des Gehäuſes aus zahlloſen kleinen Kammern erkennen kann.
einem höchſt vollkommen organiſirten Weich- häuſe hin, indem innerhalb der Kammern
thiere (Nautilus), das andere Mal von ſich wieder parallele Scheidewände bilden
einem höchſt einfach gebauten Wurzelfüßler (Fig. 21). Bei den großen Orbituliten
(Polystomella) gebildet werden. und Nummuliten liegen ſolche Kammer—
Bei manchen Polythalamien laufen reihen ſogar in mehreren Stockwerken über—
mehrere Spiralen neben einander im Ge- einander. Die Kammerreihen ſind hier
Haeckel, Das Protiſtenreich. 119
bald in zuſammenhängenden Spirallinien, dem gigantiſchen Cyeloelypeus (Fig. 22).
wie bei den Nummuliten (Fig. 18) geovd- | Die Gehäuſe dieſer letzteren ſind runde
net, bald in concentriſchen Ringen, wie bei Scheiben, welche ſich am beſten mit einem
/
9
6%
I
in
Me
MI
NN
U N
\
A || X
A
N 1 N 1 | \
0 \
Fig. 24. Hastingerina Murrayi. Ein Polythalam, deſſen Kalkſchale überall mit
haarfeinen, ſehr langen Kalkſtacheln bewaffnet iſt.
Palaſte vergleichen laſſen, deſſen Umfaſſungs⸗ Mehrere Stockwerke liegen übereinander,
mauern nach dem Plane eines römiſchen in jedem eine centrale Hauptkammer, um⸗
Amphitheaters gebaut find. geben von vielen ringförmigen Corridoren,
120
und jeder Corridor durch viele Scheide—
wände in Kammern getheilt; alle dieſe zahl—
reichen Stockwerke, Corridore und Kammern
ſtehen durch Thüren mit einander in Ver—
bindung und kleine Fenſter in der äußeren
Schalenfläche vermitteln die Verbindung
Fig. 25. Helios phaera (inermis).
Haeckel, Das Protiſtenreich.
mit der Außenwelt, indem ſie die feinen
Schwimmfüßchen durchtreten laſſen.
Zu den größten und am meiſten zu—
ſammengeſetzten Polythalamien gehören die
Parkerien, deren Gehäuſe größtentheils aus
Sandkörnchen zuſammengeſetzt ſind (Fig. 23).
Ein Radiolar, deſſen kugelige Gitterſchale aus ſechs—
eckigen Maſchen zuſammengeſetzt iſt. Im Innern ſchwebt eine kugelige Centralkapſel, welche
einen dunkeln Kern einſchließt, umgeben von kleinen gelben Zellen. Zahlreiche fadenförmige
Scheinfüßchen ſtrahlen allenthalben aus, halten ſich an der Gitterſchale feſt und treten durch
deren Löcher aus.
Während die große Mehrzahl der Tha—
lamophoren auf dem Meeresboden kriechend
lebt, giebt es auch einige Arten, die an
der Oberfläche des Meeres ſchwimmen, und
zwar oft in großen Maſſen, mit Radio—
larien gemiſcht. Dahin gehören auch die
merkwürdigen Pulvinulinen, Globigerinen
und Haſtigerinen, letztere durch ihre ſehr
langen borſtenförmigen Kalkſtacheln ausge—
zeichnet (Fig. 24).
Wenn ſchon bei dieſen merkwürdigen
Polythalamien die formbildende Kunſt des
formloſen Protoplasma unſere höchſte Be—
wunderung erregt, ſo wird dieſelbe noch
Haeckel, Das Protiſtenreich.
geſteigert, wenn wir die nahe verwandten
Radiolarien, die „Gitterthiere“ oder
Strahlinge, betrachten. Bei dieſen höchſt
intereſſanten Wurzelfüßlern treffen wir die
größte Mannigfaltigkeit von zierlichen und
ſonderbaren Formen an, die überhaupt in
der organiſchen Welt zu finden iſt. Ja,
alle möglichen Grundformen, welche man
nur in einem promorphologiſchen Syſteme
aufftellen kann, finden ſich hier wirklich ver-
körpert vor. Das Material aber, aus
welchem das
formloſe Pro⸗
toplasma hier
die unendlich
mannigfaltigen
Skelettheile bil—
det, iſt nicht
Kalkerde, wie
bei den Poly⸗
thalamien, ſon⸗
dern Kieſelerde.
Der weiche
lebendige Leib
der Radiolarien
iſt übrigens
etwas höher
121
zu Radiolarien entwickeln, verwendet wird,
ſo kann man die Centralkapſel auch als
Sporenbehälter (Sporangium) der Ra⸗
diolarien betrachten.
Sie iſt umſchloſſen von einer Schicht
Protoplasma, von welchem nach allen Richt⸗
ungen zahlloſe, äußerſt feine Scheinfüßchen
ausſtrahlen. Dieſe verhalten ſich im Uebri—
gen ebenſo wie bei den Polythalamien.
Gewöhnlich finden ſich im Protoplasma
der Radiolarien außerhalb der Centralkapſel
noch zahlreiche
gelbe Zellen von
unbekannter Be⸗
deutung; ſie ent⸗
halten Stärke⸗
mehl.
Außerdem
bilden ſich bei
einigen Radio⸗
larien rings um
die Central⸗
kapſel große
helle Waſſerbla⸗
fen aus (Va⸗
cuolen), welche
von einer ſehr
organiſirt, als Fig. 26. Thalassicolla (pelagica). Ein großes nacktes dünnen Gallerte
derjenige der Radiolar (ohne Schale).
Die innere kugelige Centralkapſel umſchloſſen ſind,
. iſt von einem Mantel großer Waſſerblaſen umgeben. An 5 ;
Polythalamien. der Oberfläche ftahlen tauſende von feinen Schleimfäden aus. Tonamentlic) bei
Denn im Innern
des formloſen weichen Protoplasmakörpers
findet ſich hier eine beſondere Kapſel, welche
von einer feſten Membran umſchloſſen iſt,
die Centralkapſel (Fig. 25).
In dieſer bilden ſich Maſſen von kleinen
Zellen, welche eine bewegliche Geißel er—
halten, ſpäter die Kapſel durchbrechen und
ausſchwärmen.
Da der ganze Inhalt der Centralkapſel
zur Bildung dieſer Keime, welche gleich
Flagellaten umherſchwimmen und ſich dann
Kosmos, Band III. Heft 2.
den erbſengro⸗
ßen Thalaſſicollen (Fig. 26). Es giebt auch
zuſammengeſetzte Radiolarien (Polycytta⸗
ren). Dieſe bilden größere Gallertklumpen
von cylindriſcher oder kugeliger Form, von
1 bis 3 Centimeter Durchmeſſer. Die Gal-
lerte beſteht größtentheils aus ſolchen Waffer-
blaſen, und in der Oberfläche ſind ältere,
im Innern dagegen jüngere Centralfapfeln
vertheilt (Fig. 27). Jede der letzteren
iſt oft von einer gegitterten Kieſelſchale
umſchloſſen (Fig. 28).
16
122
Bei ſehr vielen Radiolarien iſt die
Kieſelſchale eine Gitterkugel (Fig. 25, 28,
29, 31); oft gehen lange, regelmäßig ver—
Fig. 27. Collosphaera (Huxleyi).
Haeckel, Das Protiſtenreich.
N) Oo %
2
m!
theilte Stacheln davon ab (Fig. 29). Bei
den Ommatiden (Fig. 30, 31) finden wir
mehrere ſolcher Gitterkugeln concentriſch in
Ein zuſammengeſetztes Radiolar mit vielen Central-
kapſeln; die inneren kleineren ohne, die äußeren größeren mit Kieſelſchale. Zwiſchen den
ausſtrahlenden Fäden ſind zahlreiche kleine gelbe Zellen zerſtreut. Im Centrum der Colonie
iſt eine große Waſſerblaſe ſichtbar, umgeben von einem Protoplasma Netz.
einander geſchachtelt und
den, radiale Stäbe verbun⸗
durch ganz ähnlich dem be—
kannten zierlichen Spielzeug,
das die Chineſen aus Elfen—
bein anfertigen.
Es giebt ſolche Gitter—
kugeln, die aus zwanzig im
Centrum in einander ge—
ſtemmten Stacheln zuſam⸗
mengeſetzt ſind; veräſtelte
Querfortſätze der Stacheln,
Fig. 28. Eine einzelne Kiejel-
ſchale (ſtachelige Gitterkugel) von
Collosphaera (spinosa).
verwandt find die merk—
würdigen Acanthome—
tren (Fig. 33), ebenfalls
mit 20 Stacheln, die nach
einem beſtimmten mathe—
matiſchen Geſetze regelmäßig
vertheilt ſind.
Bei noch andern Radio—
larien iſt die centrale Gitter-
kugel von einem lockeren
Kieſel-Schwammwerke um⸗
hüllt und mächtige drei—
die in gleichem Abſtande vom Centrum | kantige Stacheln mit ſpiralig gedrehten Kan—
abgehen, ſetzen die Gitterſchale zuſammen
(Dorataspis, Fig. 32). Den letzteren nahe
Fig. 34).
ten ragen daraus hervor (Spongosphaera,
1 ˙¹wm.] ⁰¹ʃEußLLʃ ̃6.Üiůu % LX! ⅛ vb] p/¾ö²ʃũl: . ˙L——Uꝛ.! . ⅛ ůͤ¹—nnn 2
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Fig. 29. Heliosphaera (actinota). Von der Gitterkugel ſtrahlen zwiſchen den Pfeudo-
podien zahlreiche Kieſelſtacheln aus; im Innern der Schale die Centralkapſel.
Fig. 30. Actinomma (asteracanthion). Die Fig. 32. Doratas pis (bipennis). Die
Kieſelſchale, drei concentriſche Gitterkugeln, durch Kieſelſchale wird durch die gabelförmigen
ſechs radiale Stäbe verbunden, deren äußere Querfortſätze von zwanzig regelmäßig
Enden ſtarke dreikantige Stacheln bilden, da— vertheilten Stacheln zuſammengeſetzt.
zwiſchen ſtehen zahlreiche, ſehr feine borſten—
förmige Kieſelſtacheln.
124 Haeckel, Das Protiſtenreich.
Fig. 31. Haliomma (Wyvillei). Die Kieſelſchale beſteht aus zwei concentriſchen Gitterkugeln,
die durch zahlreiche radiale Stacheln verbunden ſind. Zwiſchen beiden Schalen findet ſich die
Membran der Centralkapſel, ſo daß die eine innerhalb, die andere außerhalb der letzteren liegt.
——
Fig. 33. Xiphacantha (Murrayana). Eine Acanthometra, deren 20 Stacheln kreuz—
förmige Querfortſätze tragen. Die Stacheln bilden 5 parallele Zonen von je 4 Stacheln,
die gleichweit von einander abſtehen.
EEE ˙˙% ² l.: dg Üü¹H̃ n ̃ wq!½ͤ̃ !dz....—˙ Ä ¼½d̃ ! . ²ẽůùu.! ß
ßſeõe%E ͤ˖( ¼ ͤ¹ìu¹iunn.“;:il m T ¼—ͥẽflL« ü w
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Eine andere, äußerſt formenreiche Gruppe
von Radiolarien, die Cyrtiden oder
Helm⸗Radiolarien, bilden Kieſelſchalen von
der Form eines Helmes (Fig. 35), einer
Haube oder eines Körbchens, mit ſiebförmig
durchlöcherter Wand Podocyrtis, Fig. 36).
Noch Andere gleichen einem Ordensſtern
(Astromma, Fig. 37), einer Sanduhr
125
(Diploconus, Fig. 38), einem dreiſeitigen
Prisma (Prismatium, Fig. 39) u. ſ. w.
In der großen Abtheilung der Acan—
thometren wird das Skelet ſtets aus
zwanzig Kieſelſtacheln gebildet, welche im
Centrum in einander geſtemmt und nach
einem ſehr merkwürdigen mathematiſchen
Geſetze vertheilt ſind; dies entdeckte zuerſt
Fig. 34. Spongospha era (streptacantha). Neun dreikantige
Stacheln ragen aus der kugeligen Centralkapſel hervor, welche
von kieſeligem Schwammgeflecht umhüllt iſt und eine centrale
Fig. 35. Dictyophimus (Chal-
lengeri). Helmförmige Gitterſchale
mit drei Füßchen und Gipfelſtachel.
Gitterſchale einſchließt.
der große Johannes Müller, dem
wir überhaupt die erſten genaueren Kennt⸗
niſſe der Radiolarien verdanken.
Welche Bedeutung dieſe höchſt mannig—
faltigen, zierlichen und ſeltſamen Formen
beſitzen; wie das formloſe Protoplasma der
Radiolarien dazu kommt, ſie zu bilden,
— davon haben wir heute noch keine
Ahnung.
Neben den Thalamophoren und Ra—
diolarien wird noch eine große Anzahl von
anderen Protiſten zur Klaſſe der Wurzel—
füßler gerechnet. Viele davon leben auch
im ſüßen Waſſer. Eines der häufigſten
iſt das niedliche ſogenannte „Sonnen—
thierchen“, welches vor nun hundert Jah—
ren (1776) vom Paſtor Eichhorn in
Danzig entdeckt und als „lebendiger Stern“
beſchrieben wurde (Actinosphaerium Eich-
hornii, Fig. 40).
Haeckel, Das Protiſtenreich.
h
Fig. 36. Podocyrtis (Schomburgki). Fig. 37. Astro
Die helmförmige Gitterſchale ſteht auf drei Die ſchwammige Kieſelſchale hat die Form
Füßchen und trägt auf dem Gipfel einen eines Ordenskreuzes.
Stachel; das Gitterwerk der drei Abtheilungen
iſt ſehr verſchieden.
N NN)
GH A, fi
2 N
,
,
Fig. 39. Acanthodesmia (prismatium).
Neun Kieſelſtäbe ſind ſo verbunden, daß ſie
die Kanten eines dreiſeitigen Prisma bilden.
ein ſtarker, an Im Centrum ſchwebt eine kugelige Central—
Stab ſteht. kapſel, von gelben Zellen umgeben.
—
„» rn a u me
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Es iſt ein weißes, mit bloßem Auge den.
deutlich ſichtbares, weiches Schleimkügelchen,
von der Größe eines kleinen Stecknadel—
knopfes, oft in Menge auf dem ſchlammi—
gen Boden unſerer Teiche und Gräben zu
finden. In der Mittel des ſchleimigen und
blaſigen Protoplasma-Kügelchens liegen
mehrere Zellkerne. Von der Oberfläche
ſtrahlen zahlreiche empfindliche und beweg—
liche Fäden oder Pſeudopodien aus. Durch
dieſe wird, wie bei den übrigen Wurzel-
füßlern, die Nahrung aufgenommen. Die
Vermehrung iſt erſt kürzlich entdeckt wor⸗
Fig. 40. Das vielzellige große Sonnenthier—
chen (Actinosphaerium Eichhornii). Die
innere dunkle Markmaſſe (e) enthält viele
Zellkerne und einige Nahrungsbiſſen (d). Von
der hellen, ſchaumigen Rindenſchicht (b),
welche eben einen neuen Nahrungsbiſſen (a)
aufnimmt, hc Scheinfüßchen.
e) aus.
Während das große Sonnenthierchen
oder Strahlenkügelchen (Actinosphaerium)
einen nackten Rhizopoden darſtellt, der
viele Zellkerne enthält, alſo aus vielen ver⸗
einigten Zellen zuſammengeſetzt iſt, zeigt
uns dagegen ein anderer, ſehr häufiger Süß—
waſſerbewohner, das kleine Sonnen—
thierchen (Actinophrys sol) den Orga-
127
Das Sonnenthierchen zieht dabei
ſeine Fäden ein, umgiebt ſeinen kugeligen
Körper mit einer Gallerthülle und zerfällt
in viele einzelne Kugeln. Jede von dieſen
enthält einen Kern und ſchwitzt eine Kieſelhülle
aus, und jede dieſer kieſelſchaligen Zellen
wird ſpäter zu einem neuen Sonnenthierchen.
Man kann dieſelben aber auch künſtlich
vermehren. Man kann ſie in mehrere
Stücke zerſchneiden und aus jedem Stück—
chen wird alsbald wieder ein ſelbſtändiges
Weſen. Daſſelbe gilt auch von vielen an—
dern Protiſten.
Fig. 41. Das einzellige kleine
Sonnenthierchen (Actino-
phrys sol). Im Innern
der ſtrahlenden Brotoplasma-
Kugel liegt nur ein Zellkern
(n). Eine contraktile Blaſe
tritt an der Oberfläche des
Protoplasma vor (“).
nismus der Wurzelfüßler in ſeiner aller—
einfachſten Geſtalt (Fig. 41), nämlich als
eine nackte einfache Zelle mit einem einzigen
Kern; von der Oberfläche deſſelben ſtrahlen
viele feine Fäden aus, und indem das Proto-
plasma an gewiſſen Stellen Waſſer aufnimmt
und wieder abgiebt, bildet es „contractile
Blaſen oder Vacuolen.“
(Schluß folgt.)
Zur Phyſiologie Neugeborener.
Von
W. Preyer.
I
3. Vom Geruchſinn Neugeborener. |
a die Anfüllung der Nafen-
sc 8
DR
höhle mit einer ſtark riechen—
den Flüſſigkeit nicht nur keine
Geruchsempfindung, ſondern
s für einige Zeit ſogar eine
erhebliche Verminderung der Empfindlichkeit
für Gerüche zur Folge hat, kann es nicht
zweifelhaft ſein, daß vor der Geburt das
Säugethier durch keinen objektiven Geruchs—
reiz eine Geruchsempfindung erfährt. Denn
beim Fötus, der rings von Fruchtwaſſer um—
geben iſt, enthält bis zur Geburt die Naſen—
höhle keine Luft. Die Grundbedingung für
das Zuſtandekommen einer Geruchsempfind—
ung durch äußere Reizung, das Einathmen
gaſiger Stoffe, fehlt gänzlich. Dagegen iſt
die Möglichkeit der Erregung durch innere
Reize vorhanden. Der Blutſtrom und die
Gewebeſpannung können theils peripher,
theils central vor der Geburt ſubjective
Gerüche veranlaſſen. Da jedoch derlei
Empfindungen noch ſehr wenig unterſucht
find, fo iſt einſtweilen nur ihre intra-uterine
Möglichkeit feſtgeſtellt. Die Geruchshallu—
cinationen bei Erwachſenen, z. B. nach Ge-
nuß von ſantonſaurem Natron, die ich
ſelbſt erlebte,“) beweiſen, daß durch Einführ—
ung kleiner Mengen gewiſſer geruchloſer
Stoffe in das Blut eine ſehr ſtarke Er—
regung der nervöſen Riechſinnorgane her—
beigeführt werden kann. Sonſt ſind ſubjektive
Geruchswahrnehmungen durch inadäquate
Reizung bei Geſunden ſo ſelten beobachtet,
daß man vorläufig von Experimenten bei Neu—
geborenen nach dieſer Richtung abſehen muß.
Das Neugeborene ſehr ſtark riechende
Subſtanzen wohl bemerken, habe ich an 6
Meerſchweinchen, von denen keins älter war
als 17 Stunden, ſicher ermittelt. Denn
wenn ich übelriechende Stoffe, wie Stink—
aſant, in nicht zu kleiner Menge auf den
Boden einer horizontalen Glasflaſche brachte,
in die das Beobachtungsthier hineinkroch,
ſo wurde mit den Vorderfüßen wiederholt
die Naſe gewiſcht und gerieben. Ferner
) Archiv für die geſammte Phyſiologie
Bonn 1868
des Menſchen und der Thiere.
1. Bd. S. 305.
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
wendeten ſich die Thierchen, nachdem einige
Secunden ſehr concentrirte Propionſäure oder
Carbolſäure oder Ammoniakwaſſer ihnen
vorgehalten worden war, mit einer ſchnellen
Kopfbewegung ab. Häufig aber machten
ſie hierbei eine ſtärkere Exſpirationsbeweg—
ung mit einem eigenen Geräuſch, die ſich
wohl nur als ein Nieſen auffaſſen läßt.
Den jungen Meerſchweinchen ſcheint dagegen
der Geruch des Kamphers nicht unangenehm
zu ſein. Denn ſie verweilen lange in einer
mit Kampherſtücken halb angefüllten Flaſche,
ohne jene abwehrenden Bewegungen auszu—
führen. Daſſelbe gilt für Benzod- Harz.
Freilich kommt hier die ſchnelle Abſtumpf—
ung Neugeborener gegen Gerüche in Be—
tracht. Ich prüfte noch eine lange Reihe
von anderen riechenden Subſtanzen in dieſer
Weiſe, beſonders Thymol, Alkohol, Aether,
Chloroform, Blauſäure, Nicotin. Gegen
dieſe Riechmittel verhielten ſich aber die
Meerſchweinchen am erſten Tage nicht fo
decidirt wie gegen die erſterwähnten, wahr—
ſcheinlich weil die Verdünnung der Luft zu
groß war. Soviel iſt ſicher, daß es
falſch iſt, zu behaupten, Neugeborene ver—
möchten am erſten Tage noch nicht mittelſt
der Naſe angenehme und unangenehme
Gerüche zu unterſcheiden. Die Eindrücke
müſſen nur ſehr ſtark ſein. Wer geſehen
hat, wie ein einen halben Tag altes Meer—
ſchweinchen fi einerſeits gegen Asa foe- |
tida, andererſeits gegen Kampher verhält,
wird nicht zweifeln, daß jenes ihm Un-
luſt verurſacht. Tabakrauch, den ich zwei
mehr als 12 Stunden, aber noch nicht
einen Tag alte, große Meerſchweinchen ein—
athmen ließ, bewirkte Augenzwinkern und
Zurückziehen des Kopfes.
Man iſt nun nicht berechtigt anzu—
nehmen, daß eben geborene Säugethiere
jene Stoffe mittelſt ihrer Riechnerven per—
129
cipiren, denn das Nieſen, das Wiſchen der
Naſe mit den Vorderfüßen, die Abwendung
oder Zurückziehung des Kopfes von ſtark
riechenden Stoffen einerſeits, die auffallende
Gleichgültigkeit gegen weniger intenfive,
aber immer noch deutlich riechende Stoffe
andererſeits, ſprechen dafür, daß es ſich
bei den Experimenten an Eintägigen mehr
um Reizung der Naſalzweige des Nervus
trigeminus, d. h. der Gefühlsnerven der Naſe,
handelt, als des Nervus olfactorius, welcher
allein die Geruchsempfindungen vermittelt.
Durch andere Thatſachen iſt aber be—
wieſen, daß Hunde, Kaninchen und Katzen
ſchon in den erſten Lebenstagen riechen
können. Es ſind folgende.
Biffi durchſchnitt ganz jungen, noch
blinden Hündchen die Lobi olfactorii.
Die Verwundung wurde gut ertragen und
das Lecken der Mutter beförderte die Heil—
ung. So operirte Thiere konnten nun,
ſo lange ſie blind waren, die Zitzen der
Mutter nicht mehr finden. Sie krochen
am Bauche derſelben hin und her, indem
fie überall zu ſaugen verſuchten — ten-
tando qua e la col muso gli oggetti.
Meiſt mußte man ihnen den Mund öffnen
und die Zitze hineinſtecken. Geſunde blinde
Hündchen dagegen finden die Zitzen ſogleich,
als wenn ſie dieſelben ſähen. Hiernach iſt
kaum zu bezweifeln, daß beim Aufſuchen
der Zitzen der Geruch die Jungen leitet,
denn taſten konnten die Operirten nach wie
vor). Man wird alſo ſchließen dürfen,
daß der Nervus olfactorius auch bei
eben geborenen Säugethieren erregbar iſt
und darum auch bei den obigen Beobacht—
ungen mitwirkte. Der Schluß wird durch
Gudden beſtätigt. Dieſer Forſcher hat
) Mitgetheilt in Schiff's Lehrbuch der
Muskel- und Nervenphyſiologie, Lahr 1858.
S. 373.
Kosmos, Band III. Heft 2.
17
130 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
blinden, ein bis zwei Tage alten Kaninchen
den Riechnerv durchſchnitten ), oder die
Naſenöffnung verſchloſſen oder die centralen
Theile des Riechſinnorgans exſtirpirt, aber
ſeine Aufmerkſamkeit mehr den dadurch
herbeigeführten anatomiſchen Aenderungen,
als den Störungen der Funktion zuge—
wendet. Er conſtatirte nach Verſchließung
einer Naſenöffnung oder Entfernen einer
Hemiſphäre eine geringere Entwickelung
des Riechnerven, des Bulbus olfactorius
und des Tractus olfactorius derſelben
Seite, als nach 6—8 Wochen das Thier
getödtet wurde. Bei Fortnahme des einen
Bulbus olfaetorius verſchwindet der Trac-
tus olf. faſt ganz. Nach Entfernung beider
Bulbi olf., wobei die Verwundung relativ
unbedeutend war, gingen die Thierchen, des
Geruchſinnes gänzlich beraubt, in Folge
mangelhafter Ernährung bald zu Grunde,
indem fie ſich „an der Alten und ihren
Zitzen, trotz der Erhaltung der Nachhilfe
von Seiten der Nexvi trigemini nicht mehr
gut zurechtfanden“. Alſo wie bei einfacher
Durchſchneidung beider Riechnerven. Wur—
den dagegen die Riechorgane intakt gelaſſen
und den Neugeborenen beide Augen fort—
genommen, ſowie beide Ohren verſchloſſen,
ſo entwickelte ſich der Geruchsſinn in ſehr
hohem Grade, indem ſich die Bulbi olfae—
torii über das gewöhnliche Maß anatomiſch
nachweisbar vergrößerten; ähnlich wie
die Ohrmuſcheln eines Kaninchens, dem
beide Augen nach der Geburt fortgenommen
worden waren, eine ſtarke Entwickelung
erhielten und das Gehör ſich über die
Norm verfeinerte.
Aus dieſen Verſuchen ergiebt ſich die Ab—
hängigkeit der Organentwickelung von äußerer
Reizung, insbeſondere aber, daß Kaninchen
ſchon ſehr bald nach der Geburt riechen
9) Archiv für Pſychiatrie 2. Bd. S. 693.
können, und von dieſem Vermögen aus—
giebigen Gebrauch beim Aufſuchen der Zitze
machen. Sonſt wäre es unverſtändlich, wie
ſie nach Zerſtörung allein der Riechnerven
die Zitze nicht mehr finden und verhungern.
Ferner hat Spalding (1875) be-
obachtet, daß 4 noch blinde dreitägige Kätz—
chen als er ſeine Hand, die ſoeben einen
Hund geſtreichelt hatte, ihnen nahe brachte,
in ergötzlichſter Weiſe zu fauchen und zu
ſpeien begannen. Er ſchließt daraus mit
Recht, daß die Katze, noch ehe ſie ihn ſehen
kann, Schon den Erbfeind verabſcheut. Hier
iſt der Schluß, daß nach drei Tagen die
Katze einen entwickelten Geruchſinn beſitzt,
anzumerken.
Das menſchliche Neugeborene verhält
ſich anders als die Thiere. Kußmaul
hat ermittelt, daß ſtark riechende Subſtanzen
von ſchlafenden Neugeborenen (auch einen
Monat vor dem phyſiologiſchen Termin
geborenen) unangenehm empfunden werden.
Denn er ſah dieſelben, wenn er die Düfte
der Asa foetida oder des Dippel'ſchen Oeles
ihnen in die Naſe ſteigen ließ, häufig die
Augenlider feſter zuſammenkneifen, das
Geſicht verziehen, unruhig werden, Kopf
und Arme bewegen, erwachen und nach Ent—
fernung des Riechmittels wieder einſchlafen.
Genzmer bemerkte, daß gut entwickelte,
lebhafte Kinder durch ſtarke Geruchsein—
drücke zum Schreien gebracht werden. Er
verwendete die ſehr übelriechende Aqua
foetida antihysterica, welche mit einem
Pinſel auf den oberen Rand der Oberlippe
wachenden wie ſchlafenden Kindern geſtrichen
wurde. Wie viele Stunden oder Tage ſie
alt waren, iſt leider nicht angegeben. Die
Säuglinge machten, wenn wenig Flüſſigkeit
aufgetragen war, Saugbewegungen, wenn
mehr, Würgbewegungen; auch wurden die
Augen zugekniffen und das Geſicht ver—
r ²˙¹A⁰ò̃²˙¹- /t!̃̃ a ͤGyA ß——
8
Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 131
zogen. Bei dieſen Beobachtungen iſt die
Empfindung des Naſſen überſehen worden,
und beide Forſcher haben nicht bedacht, daß
durch ihre Verſuche keineswegs die Exiſtenz
eigentlicher Riechempfindungen beim Neu—
geborenen erwieſen iſt. Vielmehr ſpricht
der Mangel an entſcheidenden Ergebniſſen
des erſteren, ſowie er wachende Säuglinge
vornahm, und der Umſtand, daß über—
haupt nur ſehr ſtarke Reizmittel verwendet
und wirkſam gefunden wurden, auch hier,
für eine Erregung des N. trigeminus. g
Der Beweis für das Riechvermögen
würde erbracht ſein, wenn eine Mutter oder
Amme ſich entſchlöſſe, die Warze, an welcher
der Säugling bereits einmal geſogen, mit
einer riechenden Subſtanz, die nicht ſchmeckt,
zu beſtreichen, z. B. Kampher, oder wenn
man flüchtige Subſtanzen wie Petrolenm,
Weingeiſt, Kölniſches Waſſer, in ſehr kleiner
Menge außen an die Saugflaſche oder auf |
das Warzenhütchen oder auf die Bruſt
brächte. Weigert ſich dann das Kind zu
ſaugen und weigert es ſich nicht mehr nach
Entfernung des Riechmittes, ſo kann es
riechen. Denn bei ſchwachen Gerüchen
dieſer Art iſt eine merkliche Erregung der
Naſaläſte des N. trigeminus nicht an—
nehmbar. Solche Verſuche werden durch
die ältere Angabe, daß Säuglinge in den
früheſten Tagen des Lebens die Mutter—
bruſt verſchmähen, welche zufällig einen
fremdartigen Geruch erhalten hat, nicht
überflüſſig gemacht. |
Daß beim Aufſuchen der Warze ſeitens
des nur angelegten, ſonſt nicht unterſtützten
Säuglings der Geruchſinn betheiligt ſei,
wie bei Thieren, iſt mir nach eigenen Be—
obachtungen unwahrſcheinlich. Denn das
Kind fährt oft auffallend haſtig und faſt
gewaltſam mit dem ganzen Kopfe an der
ſteht, bleibt freilich dahingeſtellt.
Bruſt hin und her mit offenem Munde
und intermittirenden Unterkieferbewegungen,
aber erſt am 8. Tage trat dieſes Taton—
niren bei dem von mir hieraufhin ge—
nau beobachteten Kinde ein. Und ſelbſt in
dieſem Fall können die taſtenden Bewegungen
durch das künſtliche Anlegen erſt erworben
worden ſein.
4. Vom Geſchmackſinn Neugeborener.
Die Schmecknerven gehören zu den—
jenigen Sinnesnerven, welche bei Säuge—
thieren ſchon vor der Geburt unzweifelhaft
objektiv erregt werden. Denn mag auch
der Mundſchleim für ſich keinen Geſchmacks—
reiz abgeben, ſo muß doch die verſchluckte
Amniosflüſſigkeit, deren Concentration nicht
immer dieſelbe iſt, durch ihn verändert
werden, ſowie ſie in den Mund des Fötus
gelangt. Und daß der Fötus Fruchtwaſſer
verſchluckt, wird nicht mehr bezweifelt *).
Ob mit der Erregung der Geſchmacksner—
ven ſchon intra-uterin eine Empfindung ent—
Auch ob
durch innere“ Reize vom Blute der Frucht
aus Geſchmacksempfindungen zu Stande
kommen können, iſt unſicher. Derartige
Geſchmackshallucinationen ſind beim ge—
ſunden Erwachſenen noch nicht näher unter—
ſucht. Ich habe ſie in ausgeprägter Weiſe
durch ſantonſaures Natron hervorrufen
können *), aber bei Neugeborenen wird
nach dieſer Richtung nicht zu experimentiren
ſein, obgleich es mir wiederholt vorgekommen
iſt, daß Thiere nach ſubcutaner Injection
ſtark ſchmeckender Stoffe, z. B. milchſau—
ren Natrons und Blauſäure, wobei nichts
in den Mund kam, lebhafte leckende, kauende
) Guſſerow im Archiv für Gynäkologie
3. Bd. 2. Heft: Zur Lehre vom Stoffwechſel
des Fötus.
) Archiv für die gef. Phyſiologie. Bonn
1868. 1. Bd. S. 305.
132 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.
oder ſchluckende Bewegungen machten, als
ob ſie etwas ſchmeckten. Es iſt wahr—
ſcheinlich, daß hier das Blut in der Zunge
die Endigungen der Geſchmacksnerven von
innen her erregt.
Meine an Menſchen und Meerſchwein—
chen angeſtellten Verſuche zur Prüfung, ob
Säugethiere am erſten Tage ihres Lebens
ſchmecken können, ſind bis jetzt nur bezüg—
lich des Süßen erfolgreich geweſen. Ein
noch nicht 17 Stunden altes Meerſchwein—
chen, dem ich gleichzeitig Thymol, Kampher
und Candiszucker in je einem Stück vor—
ſetzte, hielt ſich bei letzterem am längſten auf,
nagte eine Kante an und begann hierauf
ſehr eifrig den Zucker zu lecken. Man
ſah deutlich wie es die Zunge vorſtreckte
und gegen die glatte Fläche des Kryſtalls
ſtrich. Nachdem es Minuten lang dieſe
Operation anſcheinend mit großem Behagen
fortgeſetzt hatte, nahm ich es fort, nähte
ihm beide Augen zu und wiederholte
den Verſuch nach 24 Stunden. Zu
meinem Erſtaunen unterſchied auch das
blinde Thier den Zucker, obwohl es weder
das Thymol noch den Kampher angenagt
oder beleckt hatte, wahrſcheinlich ver—
mittelſt des Geruchs, und wieder begann
es den Zucker zu lecken. Andere Meer-
ſchweinchen ſah ich am erſten Lebenstage
eine ſolche Entſchiedenheit des Geſchmacks
oder vielmehr des Geſchmacks und Geruchs
nicht bekunden. Aber der eine Fall beweiſt,
daß die Empfindung des Süßen — viel—
leicht durch die Muttermilch oder das Frucht—
waſſer zuerſt, ihm bekannt geworden —
am erſten Tage erkannt und angenehm ge—
funden wird. Andere Verſuche bei 8— 165
ſtündigen ſeit 2 Stunden von der Mutter
getrennten Meerſchweinchen ergaben mir als
allgemeines Reſultat, daß concentrirte Löſ—
ungen von Weinſäure, von Soda, von
Glycerin, in Glasröhrchen in den Mund
eingeführt, ebenſo begierig wie Kuhmilch
und Waſſer mittelſt energiſcher Saugbe—
wegungen verſchluckt wurden. Aber auch
das leere Röhrchen bewirkte ebenſolches
Saugen. Alſo können die Verſuche, in dieſer
Weiſe angeſtellt, nicht viel Sicheres ergeben.
Die Berührung als Reflexreizung der Taſt—
nerven des Mundes zum Saugen bei
Hungernden überwiegt offenbar etwaige Ge—
ſchmacksreize. Geſättigte Neugeborene ſaugen
aber überhaupt nicht conſtant. Dagegen
beobachtete bei menſchlichen Säuglingen
Kußmaul 1entſchiedene Geſchmacksreflexe.
Er brachte ſehr concentrirte Zuckerlöſung,
ſtark bitter ſchmeckende Chininlöſung, aus—
geſprochen ſauer ſchmeckende Weinſäurelöſ—
ung, ſtark ſalzig ſchmeckende Kochſalzlöſung
warm mit einem Pinſel auf die Zunge und
zwar ſolchen (auch im 7. und 8. Fruchtmonat
geborenen) Kindern, welche noch keine Milch
erhalten hatten und ſchließt aus den mimi—
ſchen Bewegungen, die dann eintraten, daß
der Geſchmacksſinn Neugeborener bereits
in ſeinen weſentlichſten Empfindungsformen
thätig zu ſein vermag. Genzmer ver—
wendete Chininlöſungen und die zu ſolchen
Verſuchen ihres ſtarken Geruchs wegen bei
Körperwärme wenig geeignete Eſſigſäure. Er
fand, daß wenn Eſſigſäure, oder ¼ bis 1-
procentige Chininlöſungen auf die Zunge
gelangten, das Geſicht wie beim Empfinden
des Süßen ſich veränderte und Saugbe—
wegungen eintraten. Auch Kußmaul
hatte zuweilen die Säuglinge mit dem
mimiſchen Ausdruck für Bitteres auf Zucker
antworten ſehen.
Es läßt ſich alſo noch nicht ſagen, ob
neugeborene Menſchen die verſchiedenen Ge—
ſchmacksempfindungen ſicher unterſcheiden.
Dazu bedarf es noch viel umfangreicherer
Verſuchsreihen.
Das Thierreich,
vom Geſichtspunkte der Anpallungsähnlichkeit.
(Ein Beitrag zum 14. Kapitel von Darwin's „Entſtehung der Arten“)
von
Wilhelm von Reichenau.
N
JR Aehnlichkeit in den Reichen
2
IE 5; der Lebeweſen kann aus ver-
e ſchiedenen Urſachen enttanden -
Findet man — und
wir müſſen uns dabei auf eine
relative Anſchauungsweiſe beſchränken — bei
zwei Lebeweſen eine auffällige Uebereinſtim—
mung äußerer und innerer Organe, ſo iſt,
wie die Descendenztheorie aufgehellt hat,
Abſtammung von einer gemeinſamen Ahnen—
form als Grund der Aehnlichkeit zu ver—
muthen; beſteht dagegen die Aehnlichkeit
mehr obenhin, d. h. erſtreckt ſie ſich nur
über äußere Form, Farbe u. ſ. w., ſo iſt
eine andere Erklärung hierfür nothwendig
und wurde auch in der Uebereinſtimmung
der maßgebenden äußeren Bedingungen von
Lamarck zuerſt aufgefunden.
Darwin hob (1859) hervor, daß
die „analogen oder Anpaſſungs-Charaktere“
zur Feſtſtellung der wirklichen Verwandt—
ſchaft der in Unterſuchung befindlichen Weſen
nur in ſehr geringem Grade von Werth
ſeien, um ſo mehr aber als wichtig erachtet
werden müßten „für das Gedeihen der be—
treffenden Weſen.“ Stark ausgeprägte
analoge Charaktere könnten den Natur-
forſcher bei ſyſtematiſchen Studien weit eher
beirren, als ihm zur Unterſtützung gereichen;
ſo habe „Linné, durch den äußeren An—
ſchein verleitet, wirklich ein homopteres
| Infekt unter die Motten geſtellt.“ —
Es leuchtet ein, daß Anpaſſung an ſehr
verſchiedene Exiſtenzbedingungen — ſetzen wir
z. B. für die eine Form. Baumleben mit
Früchtegenuß und Adler als Feinde, für
die zweite Form Meeresleben mit Muſchel—
nahrung und Haifiſche zu Feinden, — auf
die Nachkommen einer und derſelben Urform
durch fortgeſetzte Vererbung der erworbenen
neuen Anpaſſungs-Charaktere Formen er—
zeugen kann, deren urſprüngliche Bluts—
verwandtſchaft ernſtlich in Zweifel geſtellt
werden könnte. „Wir begreifen ferner,“
ſagt Darwin, „das anſcheinende Para— ö
doxon, daß die nämlichen Charaktere
analoge ſein können, wenn eine Klaſſe
oder Ordnung mit der andern verglichen
ad)
134
wird, aber für echte Verwandtſchaft zeugen
homologe genannt werden müſſen), wo—
fern es ſich um die Vergleichung von
Gliedern der nämlichen Klaſſe oder Ord—
nung unter einander handelt. So beweiſen
Körperform und Ruderfüße der Wale nur
eine Analogie mit den Fiſchen, indem ſie
in beiden Klaſſen nur eine Anpaſſung des
Thieres zum Schwimmen im Waſſer be—
deuten. Aber beiderlei Charaktere beweiſen
auch die nahe Verwandtſchaft zwiſchen den
Gliedern der Wal-Familie ſelbſt; denn dieſe
Wale ſtimmen in ſo vielen großen und
kleinen Charakteren miteinander überein,
daß wir nicht an der Ererbung ihrer all—
gemeinen Körperform und ihrer Ruderfüße
von einem gemeinſamen Vorfahren zweifeln
können. Und ebenſo iſt es bei den Fiſchen.“
Nach der Natur und Wirkung der
äußeren Anpaſſungsverhältniſſe kann man
zunächſt Waſſer-, Erd- und Luft—
Anpaſſuungen unterſcheiden, von denen
wir einige der lehrreichſten betrachten wollen:
I. Die Anpaſſungen an die Gewäſſer.
A. Säugethiere.
Echte Anpaſſungen find in der Säuge—
thierklaſſe nicht in beſonders großer
Zahl und Mannigfaltigkeit vertreten. Die
Menſchen und hochſtehenden Affen, Paviane
mit inbegriffen, können ohne Unterricht nicht
ſchwimmen; kein Wunder daher, daß ſich
aus ſo entſchiedenen Landthieren keine Waſſer—
formen bildeten. Viele der übrigen Affen
der alten und neuen Welt können indeß
wenigſtens durch Schwimmen ihr Leben
retten oder ſetzen gar freiwillig über ſchmale
Flüſſe hinweg. Flederthiere retten, in's
Waſſer gefallen, auch gewöhnlich das Leben
durch Flattern. Alle übrigen Säugethier—
ordnungen begreifen Thiere in ſich, die
von Reichenau, Das Thierreich vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
mehr oder weniger mit dem Waſſer ver—
traut ſind; demſelben ſpecieller angepaßt
haben ſich von Säugethieren folgende.
a) In geringerem Grade durch
Umbildung vorhandener Charaktere:
Die Waſſerſpitzmaus (Crossopus fo—
diens). Dem Waſſerleben entſprechen ein—
mal das durch Haare verſchließbare Ohr
und der dichter gewordene Pelz. Die Zehen
ſind auf der Unterſeite nicht mit zarten
Wimperhärchen, ſondern mit ſteifen, ſtarken
und ziemlich langen Haaren beſetzt; letztere
laſſen ſich ausbreiten und beim Laufen glatt
anlegen. Mit ſo einfachen Erwerbniſſen
iſt die Waſſerſpitzmaus, den Typus der
flinken Spitzmäuſe beibehaltend, ein höchſt
gewandtes Waſſerthier geworden, welches
tauchend mit den Steißfüßen wetteifern kann.
Sieht man von gewiſſen anderen tüchtigen
Schwimmern, z. B. dem Eisbären, Hermelin,
der Wanderratte und Waſſerratte ab, da
dieſelben körperlich keine beſonders ausge—
ſprochene Waſſeranpaſſung verrathen, ſo
können wir
b) in auffallenderem Grade
entwickelte Waſſerthiere in nach—
folgenden Formen vorführen:
1. Die Biſamſpitzmaus (Myogale)
mit langer Röhrennaſe, dichtem Pelze, ver—
ſchließbaren Ohren, verſchließbarer Naſe,
niederen Beinchen mit je fünf durch Schwimm—
häute verbundenen Zehen. Die Vorder—
füßchen ſind behaart, die hintern beſchuppt,
der lange Schwanz iſt am Ende zweiſchneidig
zuſammen gedrückt. f
2. Das Waſſerſchwein
choerus capybara). Dieſes eigenthüm—
liche Nagethier ähnelt in ſeiner Erſcheinung
einem kleinen Flußpferde (Hippopotamus)
durch den plumpen Bau, das ſtarke Ge—
biß und die geſtreckte Form. Die hufartig
benagelten Zehen ſtehen am Vorderfuße zu
(Hydro-
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
vier, am Hinterfuße zu drei und ſind durch
erweiterte Bindehäute (kleine Schwimmhäute)
verbunden.
3. Die Biſam ratte (Fiber zibethi-
eus) Nordamerikas iſt eine große Wühl—
maus mit der Lebensweiſe und den Fähig—
keiten des Bibers; ihre Füße ſind mit
Schwimmhaaren beſetzt. Nach den Berichten
guter Beobachter ſteht die Biſamratte dem
Biber nicht an Tüchtigkeit im Schwimmen
u. ſ. w. nach, wiewol ſie weder Schwimm—
häute, noch eigentlichen Steuerſchwanz befigt.
4. Der Nörz (Vison), eine Ueber—
gangsſtufe von den Iltiſſen zur Fiſchotter,
gleicht ſeiner Geſtalt nach dem Iltis,
doch iſt ſeine Schnauze breiter, das Ohr
kleiner und mit Haaren verſchließbar, der
Pelz dichter, und die Bindehäute der Zehen
ſtellen eine mehr als zur Hälfte reichende,
kurzbehaarte Schwimmhaut dar.
5. Das Flußpferd (Hippopotamus
amphibius) hat ſich mehr durch die Unge—
ſchlachtheit ſeines langgeſtreckten Walzen—
körpers, unter deſſen dicker Haut (der die
Behaarung mangelt) reichliches Fett vor—
handen iſt, dem Waſſerleben angepaßt, als
durch beſonders differenzirte äußere Organe.
Das Flußpferd neigt als ein ſchweinartiges
Thier leicht zur Fettproduction, und letztere
iſt ein großer Vortheil für Thiere, welche
im Waſſer leben, denn ſie macht den Körper
ſpezifiſch leicht, und Maſſenentwicklung hindert
in dem flüſſig nachgiebigen Elemente nicht.
6. Der Schwimmbeutler (Chiro-
nectes vulgaris), das einzige Beutelthier,
welches im Waſſer lebt, aus Südamerika.
Der „Papock“ oder „Demerararatte“, wie
das Thier auch genannt wird, hat den
Typus der Beutelratten beibehalten, jedoch
im Waſſerleben an den langzehigen Hinter—
füßen Schwimmhäute erworben, die bis zu
den Krallen reichen. Die Lebensweiſe ſoll
coypus),
135
der unſeres Fiſchotters ähnlich ſein, wenn
auch die Backentaſchen nach A. Brehm
darauf hindeuten, daß Pflanzennahrung nicht
ganz verſchmäht wird.
c) Mit hervorſtechenderen Charak—
egen;
1. Der Spitzotter (Potamogale ve-
lox) von den Flüſſen Weſtafrikas. Ein
Inſektenfreſſer ſeiner Verwandtſchaft nach,
hat Geſtalt und Lebensweiſe mit den Ottern
gemein und einen ſeitlich zuſammengedrückten,
langen Steuerſchwanz.
2. Der Sumpfbiber (Myopotamns
ein Nager mit den enormen
Schneidezähnen und ſtarken Grabkrallen ſeiner
Verwandten, der Schrotmäufe (Echimyidae),
aber mit großen Schwimmhäuten an den
Hinterfüßen und dichtem Waſſerpelze; ſein
Schwanz zeigt nichts Beſonderes und da—
her taucht das plumpe Thier wohl auch
ſchlecht.
3. Der Biber (Castor fiber), eine
vollkommene Waſſeranpaſſung, ſo plump ge—
baut, wie der vorige. Seine Ohren ſind faſt
ganz im Pelze verſteckt, die Augen kleiner
und mit entwickelter, verſchiebbarer Nickhaut.
Der Schwanz, höchſt muskulös, ſcheidet ſich
nicht deutlich vom Rumpfe, iſt von der
Wurzel rund, in der Mitte oben und unten
platt, über handbreit, beſchuppt und, von
oben geſehen, eirund geſtaltet. Er iſt ein
kräftiges Steuer, mit welchem namentlich
die Tauchbewegung präcis ausgeführt wird.
Die Hinterfüße haben große Schwimmhäute.
4. Die Sumpfratte (Hydromys
chrysogaster) von Vandiemensland, ein
fünfzehiges Nagethier mit Schwimmhäuten an
den Hinterfüßen und einem Steuerſchwanze,
welcher dreifünftel der Geſammtlänge ein—
nimmt, ebenmäßig wie beim Biber und
abweichend von allen Landſäugethieren un—
merklich aus dem Rumpfe heraustritt (jo
Bra)
136 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
ſtark find die Schwanzwurzelmusfeln ent—
wickelt) und dünn, nicht platt, ausläuft.
5. Der Fiſchotter (Lutra), ein Mar—
der des Waſſers, iſt demſelben ſehr gut an—
gepaßt. Der Leib iſt flach, der Kopf platt,
ſtumpfſchnäuzig und mit kleinen vorſtehen—
den Augen und kurzen, runden Ohren ver—
ſehen. Zwiſchen den fünf Zehen der kurzen
Füße befinden ſich ſehr ausgebildete Schwimm—
häute, und der lange, ſtarke, beim Schwim—
men nützliche Schwanz iſt am Ende ſeitlich
flach, wie bei dem Spitzotter. Der Pelz
iſt wegen ſeiner Waſſerdichte rühmlichſt be—
kannt.
6. Das Schnabelthier (Ornitho—
rhynchus paradoxus) von Auſtralien. In
der allgemeinen Körperform ähnelt dieſe
Süßwaſſeranpaſſung ſehr den Ottern, doch
ſind alle Körpertheile, einzeln betrachtet, von
denen genannter Thiere verſchieden. Der
Rumpf und der Schwanz halten die Mitte
zwiſchen Biber und Fiſchotter, die kurzen
Beine haben fünfzehige Füße, deren vordere
die größte Kraft beſitzen und ebenſowol
zum Schwimmen, als zum Graben dienen.
Bei ihnen erſtreckt ſich die Schwimmhaut
ziemlich weit über die Krallen hinaus, iſt
aber vorn ſehr biegſam und ſchiebt ſich
beim Graben zurück. Die Hinterfüße ſtehen
rückwärts, ſind ſehr kurz, ſtark bekrallt und
mit kurzer Schwimmhaut verſehen. Der
Schwanz iſt platt, breit und am Ende
plötzlich abgeſtutzt. Die Naſenlöcher liegen
in der Oberfläche des Schnabels, nahe dem
Ende, die verſchließbaren Ohrenöffnungen,
welchen die äußere Muſchel fehlt, nahe am
äußeren Augenwinkel. Die fleiſchige Zunge
iſt mit hornigen Zähnchen beſetzt und bildet
mit dem Schnabel ein Sieb, wie es der
Schnabel der Flamingos, Enten und Säger
bei den Vögeln darſtellt. Das Schnabel—
thier beſitzt außerdem Backentaſchen, worin förmig, der Hals ſehr kurz und dick, va
*
die in der Eile gefangene thieriſche Nahrung
bis zu einem Momente der Ruhe aufge—
ſpeichert wird. Der Pelz iſt dem des
Fiſchotter ähnlich, doch durch eine Eigen—
ſchaft der Grannenhaare ausgezeichnet, welche
als Anpaſſung des Aufenthaltes in ſelbſt—
gegrabenen Röhren und zugleich als Waſſer—
anpaſſung aufzufaſſen iſt. A. Brehm
ſagt darüber: „Die langen Haare würden
es, wenn ſie von der Wurzel an bis zur
Spitze geradeaus nach dem Schwanze zu
gerichtet ſtänden, beim Wühlen ſehr be—
läſtigen, zumal wenn es ſich in ſeinem
Baue rückwärts drehen wollte, während ſie
bei ihrer wirklichen Beſchaffenheit, indem
ſie nach der Wurzel zu ſchwächer, nach außen
zu ausgebreiteter find, die Spitze leicht in
jeder Richtung hin bewegen können, und zu
gleicher Zeit, da ſie ſich dicht aufeinander
legen, das Waſſer vortreffllich abhalten“.
In der Lebensweiſe ſteht das Schnabelthier
zwiſchen Otter und Ente: wie jene ſchwimmt
und taucht, wie dieſe erbeutet es ſeine
Nahrung! —
d) Meeres anpaſſungen. Mit
dem Aufenthalte in einem größeren Ge—
wäſſer trat die Rückkehr zum Lande wegen
der eine Schranke bildenden Brandung immer
mehr in den Hintergrund. Die Formen
werden einfacher, allmälig fiſchförmiger und
verlieren dabei die unnöthige Länge der
äußeren Organe. Gegen die Gewalt der
Wellen und den Temperaturwechſel ſchützt
eine ſtarke Haut mit maſſenhaft darunter
gehäuftem Fett, welches zudem das ſpezi—
fiſche Gewicht dem des Waſſers ungefähr
gleichmacht.
Als Uebergangsſtufe von den Fiſch—
ottern zu den Robben haben wir:
1. den großen Seeotter (Enhydris
lutra) anzuſehen; ſein kräftiger Leib iſt walzen
Kopf rundlich und ſtumpf, mit großen nach
vorne blickenden Augen, ſehr kleinen und
tief unten ſtehenden Ohren. An den Vorder—
füßen ſind die Zehen verkürzt und mit
einer ſchwieligen, unten nackten Haut ver—
bunden; ſie dienen noch zum Beſteigen des
Landes, wo die Beute verzehrt wird. An
den Hinterfüßen nehmen die Zehen von
außen nach innen zu an Länge ab und ſind
durch eine große Schwimmhaut verbunden
(wie beim Ruderfuß der Pelikane). Der
Schwanz iſt kurz geworden, tritt aber noch
handelnd auf und iſt daher zuſammenge—
drückt und kräftig. — Noch entſchiedener
ausgeprägte Meeresanpaſſungen ſind:
2. die Robben. Unter den Robben
haben die Ohrenrobben (Otariae) noch
am eheſten in ihren Formen das Andenken
an ihre Landraubthier-Abkunft bewahrt. Der
breite, ſtarke Raubthierkopf hat verſchließbare
Naſen⸗ und Ohren-Oeffnungen, und die
Bindehaut des Auges zieht ſich beim Unter-
tauchen wie ein Schiebfenſter querüber; das
äußere Ohr iſt, wenn auch kurz, noch vor—
handen, und die Gliedmaßen ragen ziemlich
weit aus dem Körper hervor. Dieſer iſt
mit Woll⸗ und Grannenhaaren bedeckt bis
auf die einfach behaarten Extremitäten, deren
Unterſeite kahl wurde und deren Zehen bei
der großen Länge derſelben, namentlich am
Hinterfuße, mit ſehr großen Schwimm-
häuten verſehen ſind. Der Schwanz iſt
rudimentär. — Zwiſchen den Ohrenrobben
und Seehunden, zu welch' letzteren der
See-Elephant (Macrorhinus elephan-
tinus), ſowie die Mützenrobbe (Stemma-
topus eristatus) ebenfalls zu zählen find,
während Seebär (Aretocephalus) und
Seelöwe (Otaria) zu erſteren gehören,
ſtehen die Seeleoparden (Leptonyx).
Dem Kopfe fehlen die äußeren Ohren, der
Hals iſt noch lang, die Vorderfüße nehmen
Kosmos, Band III. Heft 2.
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 137
vom Daumen zum kleinen Finger ſtetig an
Länge ab, und die Hinterfüße find einge—
ſchnitten wie ein Fiſchſchwanz. — Die ei—
gentlichen Seehunde (Phocae) haben
kein äußeres Ohr mehr, kurze Gliedmaßen,
deren vordere ſie noch recht geſchickt zum
Putzen an ihrem Körper verwenden, kurzen
Hals und verſchwindenden Schwanz. Der
Körper iſt noch dicht behaart. — Die
Wallroſſe (Trichechus) haben gleichfalls
die äußere Ohrmuſchel verloren und gehörige
Floſſenfüße erhalten.
Die Behaarung, welche übrigens auch
manchen großen Landthieren, z. B. Elefanten
und Nashörnern, mangelt, iſt ſehr dünn
geworden und im Alter faſt nur noch auf
die ſtarken und vielen Schnurrborſten, einer
charakteriſtiſchen Entwicklung aller ſeither
betrachteten Waſſeranpaſſungen von hervor—
ragenderem Charakter, beſchränkt. Die Dicke
der Haut und deren Fettunterlage machen
das Haar entbehrlich.
3. Die Sirenen (Sirenia) oder
Seerinder. Bei den Sirenen oder See—
kühen iſt die Waſſeranpaſſung ſehr weit
fortgeſchritten; ſo weit, daß kaum noch die
Reihe von Thieren erkannt zu werden ver—
mag, von welchen dieſe merkwürdigen Miſch—
formen, halb Säugethier, halb Fiſch, ab-
ſtammen. Das Studium des äußeren und
inneren Baues bei Alt und Jung legt es
indeß doch ſehr nahe, daß dieſe Thiere von
Hufthieren, und zwar von einer Abtheilung!
der letzteren herrühren, zu welcher das heute
noch fortexiſtirende Flußpferd zu rechnen iſt.
Die Sirenen haben einen kleinen Kopf
mit dickwulſtiger Schnauze, ſpärliche, kurze
und borſtenartige Behaarung, kleine Augen,
kleine, tiefliegende Ohröffnungen, ziemlich
große Naſenöffnungen und einen mäßig geipal-
tenen, eher kleinen Mund. Die Zähne ſind
ſehr einfach geworden; viele fehlen den aus—
18
138
gewachſenen Thieren, welche das Junge noch
beſitzt. Der Leib der Seerinder ſteht in
der Form zwiſchen dem eines Flußpferdes
und eines großen Fiſches mitten inne. Die
Vordergliedmaßen allein ſind äußerlich noch
vorhanden, erſcheinen aber nur zweigliedrig
und ſehen wie Floſſen aus, ſo vollſtändig
ſind die im Skelet vorhandenen Finger mit
der Körperhaut überzogen. Von den Hinter—
gliedmaßen findet man nur am Becken des
Skelets die Rudimente, äußerlich treten ſie
nicht mehr hervor; dagegen endet die ver—
längerte Rückenwirbelſäule in einem Fiſch—
ſchwanze. Erwähnenswerth iſt, daß die
Sirenen ihre Zitzen auf der Bruſt, zwiſchen
den Vorderfüßen, haben und das Junge nach
Menſchenart mit einer der Floſſen an der
Bruſt feſthalten, um es zu ſäugen. Die
Nahrung beſteht in See- und Seeſtrand—
pflanzen, die Thiere weiden die letzteren,
mit der Bruſt und den Vorderfüßen ſich
aus dem Waſſer hinaus an's Land ſchaffend,
ab, wie Rinder dies thun. Die Bewegung
auf dem Lande iſt aber eine ſehr mühevolle.
4. Walthiere (Cetacea). Wahr⸗
ſcheinlich als Fortſetzung einer Reihe der
pflanzenfreſſenden Walthiere (Phy-
toceta), zu welchen die Sirenen gehören,
hat ſich die Ordnung der fleiſchfreſſen—
den oder eigentlichen Wale (Sarcoceta)
entwickelt. Dieſe ſind faſt ſo vollkommene
Waſſeranpaſſungen wie die Fiſche, nur mit
dem durchgreifenden Unterſchiede, daß ſie
durch Lungen Luft athmen, d. h. daß ſie
eben keine Fiſche, ſondern Säugethiere ſind.
Das Land, welches die Robben noch regel—
mäßig, die Sirenen mitunter beſuchen, iſt
ihnen gänzlich fremd geworden. Der Leib
iſt denn auch durchaus fiſchartig geworden,
maſſig und unbeholfen, ohne alle äußere
Gliederung; der Kopf, welcher meiſt ſehr,
oft ganz beiſpiellos groß iſt und dabei ein
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
ſehr kleines Hirn hat, geht unvermerkt in
den übrigen Körper über; der Hals iſt
äußerlich nicht vom Rumpf zu unterſcheiden,
und der Rücken trägt gar in vielen Fällen
eine wie bei manchen Fiſchen geſtaltete
Rückenfloſſe, welche iudeß keine Knochen—
ſtrahlen beſitzt, vielmehr nur als eine durch
natürliche Zuchtwahl befeſtigte Hautwuche—
rung (Fettfloſſe) angeſehen werden kann.
Die Vorfüße ſind Handfloſſen, zeigen aber
im Skelete den Bau der Säugethierhand,
wenn auch mit weit mehr Gliedern ver—
ſehen, wie gewöhnlich; die Hinterfüße fehlen
gänzlich, der Schwanz trägt wie beim
Dujong eine wagrechte, halbmondförmige
Finne. Die Knochen ſind ſchwammig und
mit öligem Fette durchtränkt, dagegen marklos
geworden, und unter der zarten, glatten,
mit nur einzelnen Borſten beſetzten Haut
liegt eine ſehr dicke Fettſchicht, welche gegen
die meiſten äußeren Einflüſſe (Temperatur,
Gewicht und Druck des Waſſers, Feinde)
Schutz gewährt.
Die Walthiere unterſcheiden ſich von
allen anderen Säugethieren außer durch
die angeführten Umbildungen noch durch die
Bildung ihrer Naſe. Dieſe öffnet ſich nämlich
nur noch in einer Spalte, dem Spritz—
loch; ſie functionirt nicht mehr als Geruchs—
organ, denn die Geruchsnerven fehlen, ſie
iſt ausſchließlich Luftſchöpfer geworden und
hat durch natürliche Zuchtwahl da ihre
Stelle erhalten, wo der Kopf des Thieres
beim Auftauchen zuerſt an die Oberfläche
kommt. Bei den Delphinen, welche ſehr
gewandt ſind, iſt das Spritzloch einfach
und befindet ſich nicht weit hinten am
Oberkiefer, bei den Schnabeldelphinen (Pla-
tanista) ift es S- förmig geſtaltet, ebenſo
beim Kaſchelot, bei welchem es an der
Stelle ſitzt, wo die Naſe anderer Säuge—
thiere zu ſein pflegt. Bei den ſchwer—
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
fälligen Bartenwalen liegen die Spritz—
löcher auf der höchſten Stelle des Kopfes.
faſt oberhalb dem Auge: die Bartenwale
haben doppelte Spritzlöcher.
B. Vögel.
Die Claſſe der Vögel, ebenfalls ſämmt—
lich aus Lungenathmern beſtehend, hat ſich
in einigen vereinzelten und in einer großen
zuſammenhängenden Reihe von Formen
dem Waſſerleben in verſchiedenem Grade
angepaßt. So vollkommenen Waſſerthieren
begegnen wir bei ihnen jedoch nicht, wie
bei den Säugethieren die Wale ſie bieten;
denn ſämmtliche Waſſervögel bedürfen un—
bedingt, wenigſtens zur Brütezeit und zum
endlichen Ruhen nach angeſtrengter Arbeit,
des Landes. Mit Rückſicht auf die im
Körperbau wahrnehmbaren ſpeciellen Cha-
raktere und auf die Lebensweiſe ſtellen wir
folgende Abtheilungen auf: —
J. Der Waſſerthiernahrung
angepaßte Landformen.
1. Die Waſſerdroſſel (Cinelus),
zur Droſſelfamilie (Turdi) gehörend,
ein Waſſerſchlüpfer in des Wortes voller
Bedeutung, fliegt über und durch das Waſſer,
ſtelzt darin umher und läuft auf deſſen Grunde
herum, wie auf dem Lande. Der Droſſel—
ſchnabel, nur weiche Waſſerkerfe aufnehmend,
wurde biegſam und die Naſenöffnungen
von innen durch eine Hautklappe verſchließ—
bar. Der hochläufige Fuß mußte auf dem
Boden kieſiger Bäche haften und erhielt
ſtarkgekrümmte zweiſchneidige Krallen; die
Flugthätigkeit trat in den Hintergrund, ſie
hat kurze, kräftige Flügel, vortheilhafter
zum Leben in Verſtecken. Die⸗Bürzeldrüſe
und das Gefieder ſind ſehr entwickelt,
waſſervogelartig; die Naſendrüſen ſind auf—
fallend groß geworden. Während der
Schwanz kurz und das gut einzufettende
139
Gefieder gleich dem der Taucher waſſerdicht
wurde, füllten ſich die Knochen wie bei
echten Erdvögeln mit Mark und nur der
Schädel blieb in geringem Grade luft—
führend. Unter dem Wurzelgeniſte und aus
dem trüben Waſſer vermag aber auch das
beſte Auge die Libellenlarven, die Phryga—
neenlarven, zudem in ihrer röhrenförmigen
Verkleidung, nicht zu erkennen; da half die
Naſe beim Suchen aus: ſie iſt gebaut wie
bei den Regenpfeifern und Steinwälzern.
Das angenehme Weſen und der herrliche
Droſſelſang aber verblieben dem Waſſer—
ſchwätzer. N
2. Die Eis vögel oder Fiſcher
(Alcedines) ſitzen gewöhnlich auf einem er—
höhten Punkte nahe dem Waſſer und ſtürzen
ſich von da auf die erſehene Beute, welche
meiſt in Fiſchen beſteht, „ſturztauchend“ herab.
Mittelſt der Flügel arbeiten ſie ſich mit der
im Schnabel gefaßten Nahrung aus dem
Waſſer heraus und verzehren darauf dieſelbe.
Ihre Schnabelform ähnelt der des Reihers:
die Stirn läuft in gleicher Linie mit dem
Schnabelrücken fort und bildet ſo die zum
Durchſchneiden des Waſſers geeignete Pfeil—
oder Keilform, wie ſie auch bei den Schlangen—
halsvögeln, Eistauchern und Steißfüßen
vorhanden iſt. Im Gerippe fällt das
platte Bruſtbein auf; ein ähnliches haben
Taucher.
II. Eigentliche Waſſervögel. Zu
ihnen zählen wir nur die Schwimmer
(Natatores), indem die Stelzvögel
(Grallatores) an einem anderen Orte Er-
wähnung finden. Sahen wir die Waffer-
formen bei den Säugethieren durch ein-
ſeitige Umbildung gewiſſer Landformen ent⸗
ſtehen, ſo müſſen wir es in dem vorliegendem
Falle, welcher die Verwandtſchaftsbeziehungen
der Waſſervögel in ſich begreift, geradezu
—
nach dem jetzigen Stande unſeres rg
N
140 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
für eine Unmöglichkeit erklären, dieſe letz—
teren von Landvögeln herzuleiten. Ich habe
bereits in einer kleinen Schrift *) den Ver—
ſuch gemacht, die Waſſervögel und die
ihnen nächſtverwandten Stelz- und Hühner—
vögel von einer Formenreihe herzuleiten,
welche das Reptiliengepräge am deutlichſten
bewahrt hat und glaube, daß wir vor der
Hand die meiſte Berechtigung für uns haben,
wenn wir die einſeitigſten Waſſeranpaſſungen
nicht nur für beſonders charakteriſtiſche Um—
formungen, ſondern für eine niedere Vogel—
ſtufe halten, welche den Ahnen vieler Vogel—
familien am ähnlichſten geblieben ſein dürfte.
Wir unterſcheiden in der Stufenleiter der
Anpaſſung, wobei die Verwandtſchaftsgrade |
ohne Rückſicht bleiben: a) Luftwaſſer—
vögel, b) Schwimmer und ce) Taucher.
a) Luftwaſſervögel. Eine große
Anzahl von Waſſervögeln ſucht fliegend
ihre Nahrung, welche faſt durchgängig aus
Fiſchchen und Weichthieren beſteht. Dieſe
Waſſerflieger haben lange Flügel und leichten
Körper; ſie vermögen ſich aus einer ge—
wiſſen Höhe bis einige Fuß tief unter die
Waſſerfläche zu ſtürzen (Stoßtaucher),
dann aber hebt ſie ihr eigenes ſpezifiſches
Gewicht, gewöhnlich mit einigen Flügel—
ſchlägen begleitet, wieder empor. Schwim—
mend können dieſe Vögel nicht untertauchen.
Hierhin gehören die Sturmvögel (Pro-
cellariae), die kaum unter die Woge
hinabzudringen verſuchen, dagegen die meiſte
Nahrung von der Meeresfläche im Fluge
wegnehmen; die Albatroſſe [Diomedeaec)
ſah man noch nie ſtoßtauchen.
ven (Laridae) und Seeſchwalben (Ster—
nae) ſind gewandte Stoßtaucher,
) Die Abſtammung der Vögel und Vogel—
leben in den oberbairiſchen Voralpen. Mainz,
Diemer. 1876.
Die Mö⸗
ebenſo
die ruderfüßigen Fiſcherſtöß er (Pisca-
trices), zu welchen die Tropikvögel (Phae—
ton), Tölpel oder Baſſangänſe
(Sula) und Fregatt vögel (Tachypetes)
gehören. |
Die kleinen Sturmvögel (Procel-
laria minor, Thalassidroma, Puffinus)
bilden eine eigenthümliche Mittelſtufe; ſie
ſind gleichſam Anpaſſungen an die hoch—
gehenden Wogen, welche ſie durchfliegen
können; die Gattung Thalassidroma,
Sturmſchwalbe, verſteht es, auf den Wellen
zu laufen oder zu ſitzen und balancirt da—
bei mit den Flügeln.
b) Eigentliche Schwimmer ohne
Tauchvermögen giebt es nicht viele,
wenn wir die ſoeben angeführten Stoß—
taucher bei Seite laſſen. Die mit gro—
ßem, weichfederigem Körper ausgeſtatteten
Schwäne (Cygnus) und Pelekane (Pe—
lecanus) können nicht untertauchen. Die
Schwäne haben ſich mit ihren langen Häl—
ſen den ſeichten Flußmündungen, Seen und
Sandbänken angepaßt, wo ſie ihre aus
Pflanzen und Weichthieren beſtehende Nah—
rung vom Grund aufnehmen — „gründeln“.
Sie fliegen nur ſehr ſchwer auf, gehen ſel—
ten und ungern, dabei ſehr langſam und
mit den weit hinten eingelenkten Beinen
watſchelnd und unbeholfen auf dem Lande
umher. In tiefem Waſſer, ohne zahlreiche
Thier- und Pflanzenarten an der Ober—
fläche oder dem Rande, vermögen ſie ſich
aus dieſen Gründen nicht zu ernähren.
Die Pelekane haben einen ſehr leichten
Körper und nicht beſonders langen Hals;
ſie haben ſich in anderer Weiſe dem Leben
auf der Waſſerfläche angepaßt, indem ihr
Schnabel zum Fiſchhamen wurde. „Er
beſteht,“ um mit Alfred Brehm zu reden,
„aus einem Sacke und einem dieſen ſchlie—
ßenden Deckel. Erſterer wird gebildet durch
—
„—— See ee er Me
ER
sg ne
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
den Untertheil, letzterer hergeſtellt durch den
Obertheil. Der Deckel iſt ſehr lang, ganz
flach gedrückt und von der Wurzel an bis
gegen die Spitze hin ziemlich gleichmäßig
breit und hier abgerundet; die Firſte verläuft
als deutlich ſichtbarer Kiel ſeiner ganzen
Länge nach und geht an der Spitze in
einen krallenförmigen, ſtarken Haken über.
Inwendig oder auf der Unterſeite iſt dieſer
Deckel mit ſcharfen, feinen Gaumenleiſtchen
und jederſeits mit einer doppelſchneidigen
Längsleiſte durchzogen, welche den Rahmen
des Sackes aufnimmt. Der Unterſchnabel
beſteht aus den ſehr ſchwachen, dünnen,
niedrigen, biegſamen Unterkieferäſten, welche
ſich erſt an der Spitze vereinigen und zwi—
ſchen ſich einen außerordentlich großen, im
hohen Grade dehnbaren Hautſack auf—
nehmen.“
e) Das Tauchen, d. h. das Sich—
fortbewegen unter der Waſſerfläche, iſt eine
Fertigkeit, welche wir bei vielen Schwimm—
vögeln vorfinden; hierher gehören:
1. Die Enten (Anates). Dieſe La⸗
mellenſchnäbler tauchen indeß nur ausnahms—
weiſe, und zwar die großen Arten ſeltener
und weniger geſchickt, als die kleinen. Bei
den Gänſen (Anseres), welche ſich nur bei
drohender Gefahr unter den Waſſerſpiegel
bergen, tauchen die Jungen weit beſſer als
die allzu reichfederigen Alten.
2. Die Tauchenten (Fuligulae) ma-
chen ihrem Namen Ehre. Unter ihnen
giebt es Meervögel, z. B. die Eider—
enten arten (Somateriae), welche bis zu
bedeutenden Tiefen hinabtauchen. Die Eider—
ente (Somateria mollissima), deren Dunen
ſo berühmt ſind, taucht nahrungſuchend nach
Holboell und Faber bis in eine Tiefe
von fünfundzwanzig Faden hinunter und
verweilt mindeſtens gegen zwei Minuten
ohne Gefahr unter dem Waſſer. Die
141
Prachteiderente (Somateria specta—
bilis) ſoll gar fünfundſechzig Faden tief
tauchen und im Maximum neun Minuten
des Athemholens entbehren können.
3. Die Säger (Mergi' jagen aus—
ſchließlich tauchend nach Fiſchen. Ihr Schna—
bel iſt hornig gezähnelt, wodurch die glatte
Beute ſicher feſtgehalten werden kaun, und
ſcheint ſich aus dem gewöhnlichen Lamellen—
ſchnabel entwickelt zu haben, da die anderen
echten Fiſchwaſſerſchnäbel von vornherein
meſſerklingenartig oder raubvogelartig an—
gelegt ſind. Zwiſchen Sägern und Enten
liegt jedenfalls nahe Blutsverwandtſchaft
vor, da ſich der kleine, weiß und ſchwarz
gezeichnete Zwergſäger (Mergulus al-
bellus) mit der Schellente (Anas elan-
gula) fruchtbar paart. |
4. Die Sturmtauder (Puffinus),
Verwandte der Albatroſſe und Sturm—
ſchwalben, tauchen ausgezeichnet, auf dieſe
Art ihre Nahrung erbeutend, und ſind in
jeder Beziehung Herren der Wogen. Ihre
Naſenlöcher liegen in einer Röhre auf dem
Schnabel.
5. Die Scharben (Phalacrocora)
und Schlangenhalsvögel (Ploti), be-
kannt als gute Fiſchfänger, erbeuten die
Fiſche tauchend, und werden erſtere von den
Chineſen ſogar wegen ihrer Fertigkeit im
Fangen gewiſſermaßen abgerichtet, indem
man den gezähmten Vögeln einen, das
Hinabwürgen der Beute verhindernden Ring
um den Hals legt und ihnen, wenn ſie
in den Kahn oder aufs Land ſteigen, den
Such abnimmt. Sie find, wie die tiefſchwim—
menden und geſchickttauchenden Schlangen—
halsvögel, Ruderfüßler mit glattem, etwas
den ſchuppenähnlichem Gefieder. Scharben
giebt es in allen, die Ploti nur in warmen
Zonen.
6. Die Lappentaucher oder Steiß—
—
142
füße (Podieipites). Dieſe find ſchon
recht einſeitig dem Waſſerleben angepaßt,
denn auf freies Land verſetzt, ſind ſie nicht
einmal im Stande aufzufliegen, während
ſie dies doch von der Waſſerfläche aus nach
genommenem Anlaufe recht gut können. Die
Flügel ſind ſehr kurz und abgerundet; die
Schwanzfedern fehlen ganz oder ſind doch
rudimentär geworden; die Füße, am Laufe
ſeitlich flachgedrückt, haben vorn drei große
Zehen (und nach hinten eine kleine), welche
nur unter ſich bis zum erſten Gelenke durch
eine Schwimmhaut verbunden ſind, dann
bildet eine jede durch ſeitliche Hautverbrei—
terung ein Ruder für ſich, ſo daß die
Steißfüße, ſtatt gleich den Pelekanen,
Schwänen, Enten u. ſ. w. mit zwei ge—
ſchloſſenen, ſo zu ſagen mit ſechs Rudern
verſehen einherſchwimmen.
7. Die See- oder Eistaucher
(Colymbi) können ſchon auf dem Lande
nicht mehr laufen, rutſchen nur mit Hilfe
des Haͤlſes, Schnabels und der Füße dar—
über hinweg, ſchwimmen aber mit den
ſchnellſten Fiſchen um die Wette. Die
Füße ſind Schwimmfüße, jedoch mit eini—
gen beſonders ausgeprägten (Reptil-)Cha—
rakteren. Im Uebrigen ähneln die See—
taucher ſehr den Steißfüßen.
8. Die Gruppe der Lummen und
Alke (Uriae et Aleidae) umfaßt Meeres—
taucher, welche auf dem Lande, der Steiß—
ſtellung ihrer Beine entſprechend, Sohlen—
gänger wurden. Die Flügel ſind klein,
aber nur bei einer und zwar der größten
Art, zum Fliegen untauglich. Sie ſchwim—
men unter der Oberfläche mit den Flügeln
und Füßen zugleich, mit erſteren ausgrei—
fend und rudernd, mit letzteren ſich vor—
wärts ſtoßend. Die Schwanzfedern ſind,
wie bei allen Tauchern, ſehr klein und tre—
ten kaum in Thätigkeit.
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
9. Die einſeitigſte Waſſergruppe bilden
die Floſſentaucher (Aptenodytae).
Ihre Geſtalt iſt kegelförmig; der Fuß hat
einen ſehr kurzen Lauf, welcher als Sohle
beim Gehen dient, vier nach vorn gerichtete
Zehen, deren innere ſehr klein und ſcharf—
bekrallt iſt, während die drei größten mit
Schwimmhaut verbunden ſind. Der Flü—
gel gleicht eher einer Floſſe, als einem
Fittige, indem er durch Verbreiterung der
Haut und ſchuppenartige Bildung der Fe—
dern zum Ruderarm geworden iſt. Der
Schwanz hat keine Steuerfedern, nur bor—
ſtenartige Kiele. Der erwachſene Vogel
gleicht überhaupt ſehr dem Neſtjungen, nur
mit dem einen Unterſchiede, daß über den
Dunen bei ihm die ſchuppenartigen Feder—
chen, welche den Kleinen noch mangeln, eine
vollkommene Decke bildend, dachziegelartig
aufliegen. Sie ſchwimmen nach Art der
Waſſerſäugethiere, welche keinen Ruder—
ſchwanz beſitzen, und ihre Haut liegt auf
einer öligen Fettdecke; ja ſelbſt die Knochen
enthalten öliges Mark. Von Flug iſt na—
türlich keine Rede; die Bewegung auf dem
Lande iſt ein Trappeln; Felſen werden mit
Hilfe der Ruderarme erſtiegen.
C. Die Reptilien
weiſen ebenfalls eine Reihe von Waſſeran—
paſſungen auf.
Sämmtliche jetztlebende Reptilien ge—
hören nämlich dem Luftleben an, ſind ent—
weder Erd- (Felſen-), Baum- oder Waſſer—
Anpaſſungen. Zwar können alle ſchwim—
men, aber alle athmen durch Lungen Luft
und alle bedürfen zu ihrer Fortpflanzung
des Landes, mit einziger Ausnahme der
Waſſerſchlangen.
1. Die Eidechſen (Squamati). Der
„Waran“ (Polydaedalus niloticus) hat
in ſeiner Form außer einem um ein We—
we = BY,
I —— a ——
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 7
niges abgeplatteten Schwanze nichts Be
ſonderes aufzuweiſen, lebt trotzdem, wie
unſere Waſſerſpitzmaus, häufig im Waſſer
der Flüſſe, z. B. des Nils, taucht und
ſchwimmt vorzüglich, frißt kleine Reptilien,
Lurche, Fiſche, Vögel u. ſ. w. und kommt
in den meiſten afrikaniſchen Flüſſen vor.
Die Meerechſe (Amblyrhynchus eri-
status) hat kurze Beine mit kurzen, faſt
gleichen Zehen, deren mittlere durch eine
derbe Haut am Grunde verbunden ſind,
und einen ſeitlich flachen Schwanz.
indem ſie die Beinchen dem Körper dicht
anſchmiegt und Wellenbewegungen mit Kör—
per und Schwanz ausführt; die Nahrung
beſteht in Seetangen. Ihr Aufenthalt ſind
die Lavafelſen der Galopagosinſeln, nahe
dem Strande.
2. Die Panzerechſen oder Kroko—
dile (Loricata s. Crocodilia) find ſämmt—
lich
mit Fortpflanzung durch Eier, welche auf
das Land gelegt werden. Ihr Körper
zeigt eine
Waſſercharakteren. Das Trommelfell liegt
unter einer ohrmuſchelartigen Klappe, der
Rumpf iſt viel breiter als hoch, der
Schwanz iſt lang und ſeitlich ſtark zuſam—
mengedrückt, ein ſehr kräftiger Schwimm—
und Steuerſchwanz. Die niedrigen Beine
haben ſehr entwickelte Füße, deren Zehen
durch ganze oder halbe Schwimmhäute ver—
bunden ſind. Die Naſenlöcher können ge—
ſchloſſen werden und ſind halbmondförmig
geſtaltet. Die Krokodile ſind gute Schwim—
mer und tüchtige Taucher, lieben es aber,
ſich auf dem Lande zu ſonnen. Die Ver—
breitung der Gruppe erſtreckt ſich über die
Flüſſe und zum Theil auch Meeresarme
der warmen Wendekreisländer.
Dieſer
dient als Schwimmorgan; die Meerechſe
ſchwimmt ganz nach Art unſerer Eidechſen,
eigenthümliche Süßwaſſeranpaſſungen
bemerkenswerthe Menge von
3. Die Schildkröten (Testudinata):
Die Sumpfſchildkröten (Paludivagi)
bewohnen die Sümpfe und Binnengewäſſer
der gemäßigten Zone, können ziemlich flink
laufen, ſchwimmen und tauchen gut und
ſpazieren ſelbſt ohne Mühe auf dem Grunde
der Gewäſſer umher; zu ihnen gehören die
Flußſchildkröten (Emydae) mit ein-
ziehbarem Kopf und eben ſolchen Gliedmaßen
mit vorne fünf, hinten vier Zehen. Die
Hinterfüße tragen ſpitzkrallige Nägel und
eine Schwimmhaut, die vorderen nur freie
Zehen mit Krallen. Zu ihnen gehört die
Teichſchildkröte (Emys europaea),
welche in Deutſchland, z. B. in der Mark
und in Mecklenburg, vorkommt. Die
Klappſchildkröten (Cinosternum) ha—
ben beweglichen Bruſtpanzer und Bart—
fäden, womit die Beute geködert werden
dürfte. Die Alligatorſchildkröten
(Chelydrae) ſind muthige, tückiſche Thiere
mit längerem Halſe, Beinen und Schwanz;
ihr Oberkiefer iſt wie ein Adlerſchnabel
gebogen und ſie vermögen mit demſelben
halbzolltiefe Löcher in ein Ruder zu hacken.
Ihre großen Extremitäten ſind nicht unter
den ſchuppenartigen Panzer zurückziehbar.
Unter ihren Kameraden auffallend durch
nur knorpeligen Panzer und unvollkommen
verſchmolzene Rippen, ſowie durch die rüſſel—
artige Naſe ſtehen die Weichſchildkröten
(Trionyches) da. Sie ſchnellen ihren
langen Hals auf die erſehene Beute
ſchlangenartig oder fiſchreiherartig, wie ein
Blitz, vor. Eine vollkommenere Waſſer—
thierform, den Pinguinen analog, ſehen
wir im Typus der Meerſchildkröte
(Oicapoda). Jedes der vier Beine iſt in
eine Floſſe umgeſtaltet, namentlich aber ſind
die vorderen gewaltige Ruderarme gewor—
den. Dieſelben ähneln ſehr denen der Pin—
guine und Robben, die Hinterfüße denen
>
144
der letzteren mehr als denen der erſteren.
Die Zehen werden von einer gemeinſchaft—
lichen Haut überzogen und dadurch unbe—
beweglich; nur die beiden erſten Zehen
eines jeden Fußes tragen Grabkrallen. Der
Panzer iſt ziemlich flach, Hals und
Extremitäten können nicht darunter verbor—
gen werden. Die Augen ſind vorſpringend
und die Naſenlöcher klein.
4. Die Schlangen (Ophidia) haben
ſich in einigen Formen, jedoch ohne äußer—
lich auffallende Merkmale, in ſehr charak—
teriſtiſcher Weiſe dem ſtändigen Waſſerleben
angepaßt. Eine Abzweigung der furchen—
zahnigen Giftſchlangen (Protero—
glypha) gehört nämlich dem Meere an, es
find dies die Seeſchlangen (Hydri).
Ihr Körper hat, oberflächlich betrachtet,
Aehnlichkeit mit den Aalen; der Rumpf
iſt ſeitlich zuſammengedrückt, der Schwanz
meiſt ſehr kurz und ſtellt ein ſenkrecht aus—
geſtrecktes Ruder (Steuer) dar.
meer, und zwar das indiſche; niemals be—
geben ſie ſich auf das Land. Ihre Eier
behalten ſie ſo lange bei ſich, bis das Em—
bryo
beim Legen zerreißt die Eiſchale und das
Junge, deren mehrere aus einer Schlange
hervorkommen, ſchwimmt ſofort ſelbſtſtändig
in dem naſſen Elemente, Beute machend,
umher.
D. Lurche.
Mit wenigen Ansnahmen, bei welchen
eine eigenthümliche abgekürzte Entwickel—
ung eingetreten iſt, entwickeln ſich noch
heute ſämmtliche Lurche im Waſſer, haben
anfangs Kiemen und kurz vor Austritt
aus dem Waſſer einen großen, breiten
Ruder- oder Schwimmſchwanz, welcher bei
den Schwanzlurchen, mehr oder minder
Alle See-
ſchlangen bewohnen ausſchließlich das Welt—
reif zum Ausſchlüpfen geworden;
von Reichenau, das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
modifizirt, zeitlebens bleibt. Wir ziehen
es vor, an dieſer Stelle nur die
Froſchlurche (Batrachia) vorzunehmen,
da die Schwanzlurche (Hemibatra-
chia) wohl paſſender als Sumpf- oder
Schlammanpaſſungen anzuſehen ſind.
Die Landkröten (Bufones) haben
verhältnißmäßig kurze Hinterbeine und kleine,
nur wenig ausbreitbare Schwimmhäute an
den Hinterfüßen; die Baum- oder Laub-
fröſche (Iylae) an ihren langen Sprung-
beinen lange Zehen mit ziemlich entwickelter
Schwimmhaut, ebenſo die Steppen—
fröſche (Aeris). Die Glattfröſche
(Ranae), ſchon weit mehr, in einigen Arten
ſogar faſt ausſchließlich dem Waſſer- oder
doch Uferleben angehörend, haben ſehr ſtarke
lange Hinterbeine bei faſt rudimentär gewor—
denen Vorderbeinen, an den langen Zehen
der erſteren breite Schwimmhäute, welche
ein ſehr vollkommenes, ſchnell fördern—
des Ruder darſtellen. Die Vorderbeine
werden weder zum Springen, noch zum
Schwimmen benutzt und haben faſt nur
noch den Zweck, dem Körper als Stütze
und zur Beibehaltung einer richtigen Stel—
lung, ſowie zum Umarmen des Weibchens
und als ſchwache Hülfe bei der Nahrungs—
aufnahme zu dienen. Die Knoblauch—
kröten (Pelobates) kommen in dieſer
Bildung wie in der Geſchicklichkeit beim
Tauchen und Schwimmen den Fröſchen faſt
gleich, ebenſo die kleinen Unken (Bom-
binator) mit ganzen Schwimmhäuten an
den etwas kürzeren Hinterbeinen.
E. Fiſche.
Die Fiſche bilden eine Thierklaſſe,
welche durchaus nur einſeitige Anpaſſungen
an die Gewäſſer aufweiſt. Sie pflan—
zen ſich durch (nur ausnahmsweiſe im Mutter-
körper zum Ausſchlüpfen kommende) Eier,
die in das Waſſer gelegt werden, fort. Ein—
zelne gehören nebenbei zu den Schlamm-
Anpaſſungen und werden weiter unten be—
rückſichtigt werden.
F. Inſekten.
Die Inſekten gehören im ausgebilde—
ten Zuſtande dem Land- und Luftleben an;
nur wenige haben ſich dem Waſſer angepaßt,
während viele Jugendformen oder Larven
dieſer „luftigen“ Weſen, wie Libellen und
Eintagsfliegen, durchaus hierher gehören.
Als entwickeltes Inſekt oder Imago fin-
den wir nur ſolche im Waſſer, welche
in den Jugendſtufen in demſelben
auch
wohnen. Man ſollte hiernach ſchließen, daß
ſchon auf früher Entwickelungsſtufe die
Trennung in Land- und Waſſerinſekten er—
folgte; allein die nähere Betrachtung der
einzelnen Gattungen im Vergleich mit ho—
mologen Landformen lehrt, daß dies nicht
der Fall iſt, daß wir vielmehr ſämmtliche |
Waſſerinſekten als ſecundäre Waſſeranpaſſun—
gen, d. h. als ſolche aufzufaſſen haben,
welche ſich als Landinſekten in Folge äußerer
Nothwendigkeit zum Waſſerleben bequemten.
Im entwickelten Zuſtande athmen ſämmt⸗
liche Waſſerinſekten Luft durch Tracheen, ja
einige ſchützen ſogar ihre bewegungsloſen
Eier vor der ſtändig-unmittelbaren Berüh—
rung mit Waſſer, wie wir bald ſehen werden.
Unter den Käfern (Coleoptera) be—
gegnen wir ausgeſprochenen Waſſerformen.
Die Schwimmkäfer (Dytieidae) find
ohne Zweifel Laufkäfer (Carabieidae),
welche ſich dem Waſſer anpaßten; demgemäß
blieben die weſentlichſten Theile intact,
die allgemeine Körperform aber verbreiterte
ſich und wurde flach; „indem der Kopf
tief im Halsſchilde ſitzt, dieſes mit ſeinem
Hinterrande eng an die Flügeldecken an—
ſchließt, Rücken und Bauch fi
Kosmos, Band III. Heft 2.
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
145
gleichmäßig wölben und in den Umriſſen
mehr oder weniger ſcharfkantig zuſammen⸗
ſtoßen, jo ſtellt dieſer Umriß in ununter—
brochenem Verlaufe ein regelmäßiges Oval
dar. In gleicher Weiſe werden die Beine,
vorzugsweiſe die hinterſten, breit und be—
wimpern ſich zur Nachhülfe ſtark mit Haa-
ren, denn ſie dienen als Ruder, ihre Hüften
ſind meiſt groß, quer, reichen faſt bis zum
Seitenrande des Körpers und verwachſen
mit dem Hinterbruſtbeine vollſtändig.“
(Taſchenberg.) Neben großer Fertigkeit
im Schwimmen und Tauchen fehlt den
Dyticiden keineswegs die Flugfähigkeit. Die-
ſelbe hat ſich vielmehr, „da ſie faſt aus—
ſchließlich in ſtehenden Wäſſern leben, deren
manche im Sommer austrocknen“, durch
natürliche Zuchtwahl erhalten; im andern
Falle würden ſie dem Ausſterben entgegen—
gegangen ſein.
Die Taumelkäfer (Gyrinus) zeigen
eine ganz eigenthümliche Geſtalt und Lebens—
weiſe. „Die Vorderbeine, aus freien, kegel—
förmigen Hüften entſpringend, haben ſich
armartig verlängert, die hinteren, deren
Hüften feſt mit dem Bruſtbeine verwachſen,
Schienen und Füße je ein rhombiſches Blatt
darſtellend, ſind zu förmlichen Floſſen ge—
worden. Die Fühler, obſchon zuſammen—
geſetzt aus elf Gliedern, deren letztes ſo
lang iſt, wie die ſieben vorhergehenden zu—
ſammengenommen, erſcheinen doch als bloße
Stümpfe. Höchſt eigenthümlich ſind die
Augen gebildet, indem jedes von einem
breiten Querſtreifen in eine obere und eine
untere Partie getheilt wird, ſo daß der
Käfer, wenn er umherſchwimmt, gleichzeitig
unten in das Waſſer, oben in die Luft,
wahrſcheinlich aber nicht in gerader Richtung
mit dem Waſſerſpiegel ſchauen kann. . ..“
Die Käfer ſind bekannt durch die merk—
ch ſo ziemlich würdigen Curven und Spiralen, welche ſie
auf der Oberfläche beſchreiben und welche
ſelbſtverſtändlich mit ihrem Gliederbau im
innigſten Zuſammenhange ſtehen.
Den Schwimmfäfern zunächſt im Körper—
bau ähnlich, aber in der Bildung der
Mundtheile und Fühler abweichend, iſt die
Gruppe der Waſſerkäfer (Hydro-
philidae). Bei dem pechſchwarzen
Kolben-Waſſerkäf er (Hydrophilus pi-
ceus) bildet die untere Körperhälfte in der
Längsmitte einen ſehr deutlichen, ſcharfen
Kiel, die obere eine gedrungene, glatt ge—
wölbte Maſſe, der Adhäſion des Waſſers
faſt vollkommen widerſtehend. Die Füße
haben ſich an den vier hinteren Beinen
ruderartig verbreitert und an der Innen—
ſeite dicht bewimpert; Mittel- und Hinter-
bruſtbein bilden einen gemeinſamen, flachen,
ſtark gefurchten Kiel, welcher ſich in Form
einer Lanzenſpitze über die Hinterhüften
hinaus erſtreckt. „Intereſſant,“ jagt Taſchen—
berg, „geſtalten ſich einige Verhältniſſe
in der inneren Organiſation des Thieres.
Eine bedeutend große, äußerſt dünnhäutige,
ballonartige Luftröhrenblaſe auf der Grenze
von Mittel- und Hinterleib iſt neben den
übrigen, ſehr zahlreichen Ausdehnungen der
Luftröhren geeignet, eine beträchtliche Menge
Luft in den Körper aufzunehmen und zu—
gleich als Schwimmblaſe zu dienen. Auch
der Darmkanal, welcher dem der pflanzen-
freſſenden Blätterhörner gleicht und ein
langes, dünnes, in allen ſeinen Theile gleich—
förmig gebildetes Rohr darſtellt, weicht
weſentlich von dem der anderen Waſſerkäfer
ab und weiſt auf Pflanzenkoſt hin.“ ..
Auffallend complicirt iſt das Legegeſchäft,
denn das Weibchen fertigt mittelſt Spinn—
ſaft aus den Hinterleibsröhren ein ſeidenes
Gehäuſe, in welches die Eier abgelegt werden,
worauf der Verſchluß mit einem ebenartigen
„Auf dieſen Deckel wird
Deckel erfolgt.
| 146 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. |
noch eine Spitze gefegt, die Fäden fließen
von unten nach oben und wieder zurück
und indem die folgenden immer länger wer—
den, thürmt ſich die Spitze auf und wird
zu einem etwas gekrümmten Hörnchen. In
vier bis fünf Stunden iſt das Werk voll—
endet und ſchaukelt, ein kleiner Nachen von
eigenthümlicher Geſtalt, auf der Oberfläche
zwiſchen den Blättern der Pflanzen. Wird
er durch unſanfte Bewegungen der Wellen
umgeſtürzt, jo richtet er ſich ſogleich wieder
auf, mit dem ſchlauchartigen Ende nach
oben, in Folge des Geſetzes der Schwere;
denn hinten liegen die Eier, im vorderen
Theile befindet ſich die Luft.“
Unter den Schnabelkerfen (Rhyn-
chota, Hemiptera) haben ſich gewiſſe
wanzenartige Thiere, die Waſſerwanzen
(Hydrocores), dem Waſſerleben angepaßt.
Den Uebergang von den Landwanzen zu den
Waſſerwanzen bilden die Waſſerläufer
(Hydrodromiei) welche in ihrer Körper—
bildung den Landwanzen noch ganz nahe
ſtehen und auf der Oberfläche des Waſſers
leben. Die Uferläufer (Saldidae) leben
ſogar nur am Waſſer, theils auf dem Sande
des Ufers, theils auf den Waſſerpflanzen
umherlaufend. Ihre Beine haben ziemlich
dichtſtehende Wimperhaare, welche das Laufen
an feuchter Oertlichkeit begünſtigen. Die
Bachläufer (Velia) haben faſt gleich—
große, nicht ſehr lange Beine und ge—
drungenen, oben leiſtenartig erhobenen Hinter—
leib: ſie laufen ſtoßweiſe auf dem Waſſer—
ſpiegel und gern gegen den Strom. Sie
leben, wie alle Waſſerwanzen, von Inſekten,
welche ſie mit ihrem ſpitzen Rüſſel todt—
ſtechen. Die übrigen Waſſerläufer (Hydro-
metra und Limnobates) zeichnen ſich durch
einen ſehr dünnen Körper aus; ſie haben
lange Schreitbeine, von denen die vorderen
oft verkürzt ſind und deren Fußglieder
|
durch den eigenthümlichen Gebrauch zum
Theil rudimentär wurden oder wegfielen.
Im Waſſer und nur zum Luftſchöpfen
oder um auszufliegen an die Oberfläche
kommend, leben noch die Waſſerſkorpionen
(Nepa, Ranatra), Tangwanzen (Naucoris)
und die Ruderwanzen (Notonectini).
Von den Spinnen (Arachnoidea)
hat ſich ein Glied aus der Familie der
Sackſpinnen, wenn auch durchaus nicht
in der Körpergeſtalt, ſo doch durch Erwer—
bung eines beſonderen Vermögens, Luftvor—
rath unter die Waſſerfläche mitnehmen zu
können, dem Waſſerleben anbequemt. Dies
iſt die gemeine Waſſerſpinne (Argy-
roneta aquatica), deren Hinterleib mit
einem „zarten Reif weißgrauer Sammet—
haare“ überzogen iſt. Sie lebt faſt beſtän—
dig im Waſſer und athmet durch Lungen—
ſäcke und Luftröhren zugleich. Taſchen—
berg ſagt: „Die ſchwimmende Spinne
bietet einen überraſchenden Anblick, indem
eine dünne Luftſchicht ihren Hinterleib um—
gibt, welche wie eine Queckſilberblaſe er—
glänzt und die Gegenwart der ihrer Kleinheit
wegen ſonſt leicht zu überſehenden jungen
Thierchen verräth. Dieſe Luftſchicht wird
nicht blos von dem Sammetüberzug, wel—
cher das Naßwerden der Haut verhindert,
feſtgehalten, ſondern überdies noch durch
eine Art von Firniß vom umgebenden
Waſſer getrennt. Wenn unſere kleine
Taucherin ein Neſt bauen will, ſo kommt
ſie an die Oberfläche des Waſſers und
von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit.
147
reckt, auf dem Kopfe ſtehend, oder den
Bauch nach oben gerichtet, die Spitze ihres
Hinterleibes in die Luft, breitet die
Spinnenwarzen auseinander und huſcht
ſchnell wieder in das Waſſer. Auf dieſe
Weiſe nimmt ſie unabhängig von dem
Silberkleide des Hinterleibes eine kleinere
oder größere, der Leibesſpitze anhängende
Luftblaſe mit ſich hinab. Mit ihr ſchwimmt
ſie an den Pflanzenſtengel, den ſie ſich vor—
her als paſſendes Plätzchen für ihre Woh—
nung auserkoren hatte und heftet dort
die Blaſe an. Dies kann natürlich nur
mittelſt des Spinnſtoffes geſchehen, welcher
aus den Warzen als eine Art von Firniß
hervordringt, mit den Hinterfüßen geordnet
wird und die Luft der Blaſe vom Waſſer
abſchließt, weil dieſe ſonſt ohne Weiteres
wieder nach oben perlen würde. Hierauf
wiederholt ſie ihr erſtes Verfahren, holt
ſich eine zweite Luftblaſe, welche unten am
Stengel durch die zweckmäßige Vergrößerung
des ſie haltenden Fadennetzes mit der
erſten vereinigt wird und fährt fort, bis
allmählig die kleine Taucherglocke mit ihrer
Oeffnung nach unten etwa in der Größe
einer Wallnuß fertig iſt.“ „Das
Weibchen legt ſeine Eier in eine Luftblaſe,
welche es dann weiter umſpinnt und heftet
dieſes etwas abgeplattet-kugelige Neſtchen
an eine Waſſerpflanze oder hängt es in
ſeiner Glocke auf.“
Alle übrigen Thierabtheilungen find a
priori Waſſeranpaſſungen.
Die Herrfhaft des Ceremoniels,
Von
Herbert
Ehrenbezeugungen.
> ewis und Clarke erzählen
von einigen Schoſchonen, die fie
5 plötzlich überraſchten, unter An—
7 derem Folgendes: „Als die
andern Beiden, eine ältere Frau und ein
kleines Mädchen, ſahen, daß wir ſchon allzu
nahe waren, um ihnen Zeit zur Flucht zu
laſſen, ſetzten ſie ſich auf den Boden und
ließen die Köpfe hängen, ganz als ob ſie
bereits auf den Tod gefaßt wären, der
ihrer, wie ſie beſtimmt glaubten, wartete.
Dieſelbe Sitte, das Haupt zu ſenken und
den Feind zum Zuſchlagen aufzufordern,
wenn jede Möglichkeit des Entfliehens ge—
ſchwunden iſt, hat ſich auch in Aegypten
bis auf den heutigen Tag erhalten.“ Wir
erkennen darin ein Streben, durch abſolute
Unterwerfung zu verſöhnen, und aus den
hierdurch veranlaßten Handlungen gehen
die Ehrfurchtsbezeugungen hervor.
Als ich im Anfang zur Beleuchtung
der Thatſache, daß das Ceremoniell nicht
Speneer.
allein vor jeder ſocialen, ſondern ſogar vor
der menſchlichen Entwickelung geherrſcht habe,
das Benehmen eines kleinen Hundes er—
wähnte, welcher ſich angeſichts eines ihm
Furcht einflößenden großen Hundes auf den
Rücken wirft, mag mancher Leſer gedacht
haben, ich zöge hieraus eine ziemlich ge⸗
zwungene Folgerung. Die Sache wird aber
in anderem Licht erſcheinen, wenn wir er—
fahren, daß ein ähnliches Benehmen auch
bei menſchlichen Weſen vorkommt. Living—
ſtone beſchreibt uns die Begrüßung der
Batoka mit den Worten: „Sie werfen ſich
auf ihren Rücken zu Boden, und indem
ſie von einer Seite zur andern rollen,
klatſchen ſie auf die Außenſeite ihrer Schen—
kel, um damit ihre Dankbarkeit und Will—
komm auszudrücken.“ Mag die Annahme
dieſer Stellung, welche gleichſam erklärt:
„Du brauchſt mich nicht niederzuwerfen, ich
liege ſchon zu Deinen Füßen,“ — mit Ab-
ſicht zu dieſem Zwecke ausgedacht ſein oder
nicht, jedenfalls iſt ſie das beſte Mittel, ſich
vor Gewaltthat zu ſichern. Widerſtand
ruft Feindſeligkeit hervor und erregt den
Zerſtörungsſinn. Das ſtärkere Thier oder
der ſtärkere Menſch wird weniger gefähr—
PPP ˙0·¹ 1 a
lich, wenn der ſchwächere Theil ſich von
ſelbſt unterwirft, weil nun Nichts vorliegt,
was die Sucht nach Sieg reizen könnte.
Daraus erklärt ſich denn ganz natürlich
die Entſtehung dieſer Unterthänigkeitsbezeug—
ung durch Niederwerfen auf den Rücken,
was wahrſcheinlich eher als jede andere
Stellung eine Selbſtvertheidigung unmög—
lich macht. Ich ſage wahrſcheinlich, weil
ſich allerdings noch eine andere, ebenſo hülf—
loſe Stellung anführen läßt, welche noch be—
zeichnender vollſtändige Unterwerfung aus—
drückt. „In Tonga-Tabu .. . bezeugen
die gemeinen Leute ihrem großen Häupt—
ling . . . die denkbar größte Ehrfurcht, in—
dem ſie ſich vor ihm niederwerfen und
ſeinen Fuß auf ihren Nacken ſetzen.“ Das—
ſelbe kehrt in Afrika wieder. Laird ſagt,
die Boten vom König von Fundah „beugten
ſich alle nieder und ſetzten meinen Fuß
auf ihren Kopf und beſtreuten ſich mit
Staub.“ Und bei alten hiſtoriſchen Völ—
kern galt dieſe Haltung, die offenbar durch
Beſiegung in der Schlacht entſtanden war,
durchweg für diejenige, die man als Aus—
druck der Unterwürfigkeit anzunehmen pflegte.
Von dieſen primären Ehrenbezeugungen,
welche hiernach ſo genau wie nur möglich
die Lage des Beſiegten unter dem Sieger
nachahmen, ſtammen dann andere Formen
ab, welche in mannigfaltiger Weiſe die
Unterwerfung des Sclaven unter ſeinen
Herrn ausdrücken: die letztere iſt ja auch
die einfache Folge der erſteren. Im Orient
wurde vor Alters eine ſolche Unterwerfung
ausgeſprochen, z. B. als „Ben-hadad's
Knechte ſich Sackleinwand um ihre Lenden
gürteten und Stricke um den Kopf wanden
und zum Könige von Iſrael kamen.“ In
Peru, wo der kriegeriſche Organiſations—
typus in ſo hohem Maße ausgebildet war,
war es ein Zeichen der Demuth, wie uns
RR
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
149
Garcilaſſo erzählt, mit gebundenen
Händen und einem Strick um den Hals
dazuſtehen; mit anderen Worten, man legte
ſich ſelbſt diejenigen Feſſeln an, welche ur—
ſprünglich den vom Schlachtfeld gebrachten
Kriesgefangenen bezeichneten. Neben dieſer
Form, ſich als Sclave darzuſtellen, war
noch eine andere gebräuchlich bei der An—
näherung an den Ynca: Die Unterwürfig—
keit mußte dadurch bezeugt werden, daß
man eine Laſt trug, und „dieſes Aufſich—
nehmen einer Bürde, um vor das Ange—
ſicht Atahuallpas zu treten, iſt eine Cere—
monie, welche von all den Herren geübt
werden mußte, die in jenem Lande herrſchten.“
Dieſe wenigen extremen Beiſpiele habe
ich an den Anfang geſtellt, um daran die
natürliche Entſtehung der Ehrenbezeugungen
als eines Mittels, Gnade zu finden, dar—
zuthun — zuerſt von Seiten eines Siegers
und dann von Seiten eines Herrſchers.
Eine völlig zutreffende Vorſtellung von der
Ehrenbezeugung ſchließt jedoch noch ein an—
deres Element in ſich. In dem einleiten—
den Capitel iſt darauf hingewieſen worden,
daß verſchiedene Anzeichen des Vergnügens,
welche phyſio-pſychologiſchen Urſprungs ſind
und in Gegenwart derjenigen zum Aus—
druck kommen, für welche eine Zuneigung
beſteht, in Höflichkeitsbezeugungen übergehen
können, weil es eben den Menſchen ange—
nehm iſt, ſich geliebt zu glauben, ihnen
demnach ſolche Zeichen der Zuneigung Ver—
gnügen bereiten. Während alſo das Stre—
ben beſteht, einen Höhergeſtellten zu ver—
ſöhnen, indem man ſeine Unterwerfung
unter ihn ausdrückt, findet ſich allgemein
das fernere Streben, ihn zu verſöhnen, in—
dem man in ſeiner Gegenwart Freude an
den Tag legt. Dieſe beiden Elemente der
Ehrenbezeugungen wollen wir denn nun
im Auge behalten, indem wir jetzt die ver—
150
ſchiedenartigen Erſcheinungen derſelben und
ihre ſtaatliche, religiöſe und geſellſchaftliche
Verwendung betrachten.
Wenn auch mit dem Niederwerfen auf
das Geſicht nicht das vollſtändige Aufgeben
jeder Vertheidigung verbunden iſt, wie es
das Niederwerfen auf den Rücken aus—
ſpricht, ſo iſt es doch ausdrucksvoll genug,
um es zum Zeichen tiefſter Unterwürfigkeit
zu machen; und dem entſprechend finden
wir es denn auch als Ehrenbezeugung faſt
überall da, wo noch ungemilderter Despo—
tismus und ſclaviſche Unterordnung herr—
ſchen. Dieſe Sitte beſtand im alten Ame—
rika, wo bei den Chibchas „die Leute vor
dem Caziken nur erſcheinen durften, indem
ſie ſich platt hinwarfen und mit dem Ge—
ſicht den Boden berührten.“ So auch in
Afrika, wo „ein Borghu-Mann, wenn er
den König anredet, ſich ſo platt wie eine
Flunder auf den Boden hinſtreckt und,
den Staub küſſend, in dieſer Lage ver—
bleibt, bis ſein Geſchäft mit ſeinem Herr—
ſcher beendet iſt.“ Aſien giebt uns manche
Beiſpiele: „Wenn ein Khand oder Panoo
eine Bitte vorzubringen hat, ſo wirft er
ſich auf ſein Angeſicht nieder, die Hände
gefaltet und einen Büſchel Gras oder Stroh
im Munde“; und während in Siam „alle
Untergebenen vor den Edeln des Landes
in ehrfurchtsvoller Niederwerfung verhar—
ren, beobachten die Edeln ſelbſt in Gegen—
wart des Herrſchers die gleiche kriechende
Haltung.“ Aehnliches gilt für Polyneſien.
Auf ſein Geſicht niederzufallen iſt ein Zeichen
der Unterwürfigkeit bei den Sandwich-In—
ſulanern; ſelbſt der König that dies vor
Cook, als er dieſem zum erſten Mal be—
gegnete. Und in der Geſchichte der alten
hiſtoriſchen Völker tritt uns eine Fülle ent—
ſprechender Belege entgegen; ſo z. B. wenn
Mephiboſeth vor David auf ſein Angeſicht
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
fiel und ihm ſeine Ehrfurcht bezeugte; oder
wenn der König von Bithynien vor dem
römiſchen Senat ſich auf ſein Geſicht nieder—
warf. In manchen Fällen wird die Be—
deutung dieſer Lage des Beſiegten vor dem
Sieger, welche alſo allgemein als Ausdruck
vollſtändiger Unterwerfung dient, noch durch
Wiederholung verſtärkt. Bootanu liefert
ein Beiſpiel hierfür: „Sie . .. warfen
ſich vor dem Rajah neunmal hinter einan—
der nieder, was die ihm von ſeinen Unter—
thanen gezollte Ehrenbezeugung iſt, ſo oft
es ihnen geftattet wird, in feine Nähe zu
kommen.“
Jede Art von Ceremonie zeigt die
Neigung, durch Abkürzung ihr urſprüng—
liches Weſen verdunkeln zu laſſen, und
durch ſolche Abkürzung iſt auch dieſe tiefſte
aller Ehrenbezeugungen zu einer minder
tiefen geworden. Um eine Niederwerfung
des ganzen Körpers auszuführen, muß
man faſt mit Nothwendigkeit eine Stellung
durchlaufen, in welcher der Körper auf
den Knien ruht, während das Geſicht ſchon
den Boden berührt, und noch mehr iſt
beim Wiederaufſtehen das Anziehen der
Knie die unumgängliche Vorbereitung, um
den Kopf zu erheben und ſich auf den
Füßen aufzurichten. Deshalb darf dieſe
Stellung wohl als eine unvollſtändig aus—
geführte Niederwerfung betrachtet werden.
Dieſelbe iſt ſehr allgemein verbreitet. Bei
den Völkern der Negerküſte „iſt es Brauch,
daß ein Eingeborner, wenn er ſeinen Vor—
geſetzten beſuchen geht, oder auch ihm zu—
fällig begegnet, ſofort auf die Knie fällt
und dreimal nach einander die Erde küßt,
dann in die Hände klatſcht, ſeinem Herrn
Guten Tag oder Gute Nacht zuruft und
ihn beglückwünſcht.“ Laird erzählt uns,
wie der König des Braß- Volkes, um feinen
untergeordneten Rang zu bezeugen, niemals
ei
mit dem Könige der Ibos ſprach, „ohne
auf ſeine Knie zu fallen und mit ſeinem
Haupte den Boden zu berühren.“ In
Embomma am Congo „befteht die Be—
grüßung darin, daß man in die Hände
klatſcht, und ein Untergebener wirft ſich
zugleich auf die Knie nieder und küßt die
Spange am Knöchel des Höheren.“
Oft wird die in dieſer Ceremonie liegende
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Erniedrigung noch dadurch verſtärkt, daß
man auf die Berührung des Bodens mit
der Stirn beſonderen Nachdruck legt. Am
unteren Niger „werfen ſich die Männer
zum Zeichen großer Ehrfurcht nieder und
ſchlagen ihren Kopf gegen den Boden.“
Wenn in früheren Zeiten der Kaiſer von
Rußland gekrönt wurde, ſo huldigten ihm
die Adeligen, indem ſie „das Haupt nieder—
beugten und damit zu ſeinen Füßen auf
den bloßen Grund aufſchlugen.“ In China
beſteht gegenwärtig von den acht an Unter—
würfigkeit ſich ſteigernden Ehrenbezeugungen
die fünfte im Niederknien und den Kopf
auf den Boden Schlagen, die ſechſte im Nieder—
knien und dreimal den Kopf Anſtoßen, was
verdoppelt die ſiebente und verdreifacht die
achte giebt; dieſe letztere wird aber nur
dem Kaiſer und dem Himmel erwieſen.
Vor Alters hatte bei den Juden eine
Wiederholung ſolcher Art eine ähnliche Be—
deutung. Indem ich daran erinnere, daß
dieſe Ceremonie verſchiedentlich vorkommt,
wie z. B. wenn Nathan „ſich vor dem
Könige mit ſeinem Angeſicht bis zur Erde
herunterbeugt“, oder wenn Abigail vor
David und Ruth vor Boas daſſelbe thaten,
füge ich die andere Stelle bei, daß „Jakob
ſich ſiebenmal zur Erde niederbeugte, bis
er zu ſeinem Bruder kam.“
Nach dem Vorhergehenden läßt ſich
ſchon vorausſehen, daß dieſe Lage des Be—
ſiegten, welche der Sclave vor
151
und der Unterthan vor ſeinem Herrſcher
annimmt, auch den Verehrer vor ſeiner
Gottheit charakteriſiren werde. Der Orient
liefert uns aus Vergangenheit und Gegen—
wart mannigfache Belege. Daß die voll—
ſtändige Niederwerfung gebräuchlich war,
mochte das zu verſöhnende Weſen ſichtbar
oder unſichtbar ſein, erſehen wir aus der
Aeußerung in den jüdiſchen Geſchichten, daß
„Abraham auf ſein Angeſicht niederfiel“
vor Gott, als er den Bund mit ihm
machte, aus dem Umſtand ferner, daß
„Nebukadnezar auf ſein Angeſicht fiel und
Daniel anbetete“, und daß, als Nebukad—
nezar ein goldenes Bildniß aufſtellte, der
Tod einem Jeden angedroht wurde, „der
nicht niederfalle und es anbete“. Auch
die unvollſtändige Niederwerfung vor den
Königen kehrt der Gottheit gegenüber
gleichermaßen wieder. Wenn ſie vor ihren
Götzenbildern ihre Anbetung verrichten, ſo
berühren die Mongolen die Erde dreimal
mit der Stirne, die Kalmücken aber nur
einmal. So pflegen auch die Japaneſen
„in ihren Tempeln auf die Knie nieder zu
fallen und langſam und mit großer De—
muth das Haupt ganz bis auf den Boden
herab zu neigen“. Und aus den Abbild—
ungen von ihren Gottesdienſt verrichtenden
Muhammedanern iſt Jedermann mit einer
ähnlichen Stellung bekannt.
Von der gänzlichen Niederwerfung auf
den Rücken oder das Geſicht oder der
halben Niederwerfung auf die Knie werden
wir zu mehreren anderen Stellungen über—
geleitet, welche jedoch alle darin überein—
ſtimmen, daß ſie eine verhältnißmäßige
Unfähigkeit zu jedem Widerſtand ausdrücken.
In einzelnen Fällen iſt es geſtattet, dieſe
Lage zu verändern, wie in Dahome, wo
„die höchſten Beamten ebenſo vor dem
ſeinem Herrn.] König liegen, wie die Römer auf dem
152
Triclinium. Von Zeit zu Zeit drehen fie
ſich auf dem Bauche nach der andern Seite
oder ſie erleichtern ſich die Sache, indem
fie «auf allen Vierens ſtehen.“ Duran
verſichert, daß „die kauernde Stellung . . .
bei den Mexicanern ein Zeichen der Ehr—
erbietung war, wie bei uns etwa das
Beugen der Knie“. Unter den Neucaledo—
niern gilt das Kriechen als Ausdruck der
Ehrfurcht, ſo auch in Fidſchi und in Tahiti.
Andere Abänderungen in Stellungen
dieſer Art bedingt die Nothwendigkeit, ſich
fortzubewegen. In Dahome „pflegen ſie,
wenn ſie ſich dem Könige nähern, entweder
gleich Schlangen zu kriechen oder auf ihren
Knien vorwärts zu rutſchen“. Wenn die
Siameſen vor einem Höhergeſtellten ihren
Platz verändern müſſen, ſo „ſchleppen ſie
ſich auf ihren Händen und Knien herum“.
Aehnlich auch in Cambodſcha: „Wenn
irgend Jemand der königlichen Perſon ſich
zu nähern hatte, um ihr Etwas zu geben
oder einem Rufe Folge zu leiſten, ſo ſchrieb
die Cambodſchaniſche Etiquette, die Entfern—
ung mochte noch ſo groß ſein, eine kriechende
Vorwärtsbewegung auf Knien und Ellbogen
vor.“ In Java muß ein Untergebener
„mit auf die Ferſen niedergelaſſenem Hintern
ſich entfernen, bis er ſeinem Vorgeſetzten
aus dem Geſichte iſt“. Aehnliches iſt auch
den Unterthanen eines Zulu-Königs vor—
geſchrieben — ſogar ſeinen Weibern. Din—
garn's Weiber ſagten, „ſo lange er im
Hauſe weile, ſei es ihnen niemals geſtattet,
aufzuſtehen, ſondern ſie müßten ſich be—
ſtändig auf ihren Händen und Knien
herumbewegen“. Und in Loango ſcheint
die Ausdehnung dieſer Stellung auf den
häuslichen Kreis nicht auf den Hof be—
ſchränkt zu ſein: die Weiber im Allgemeinen
„dürfen nicht anders mit ihnen (ihren
Männern) ſprechen, als auf bloßen Knien,
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
und bei einer Begegnung mit ihnen müſſen
ſie auf ihren Händen kriechen“. Ein be—
nachbarter Staat liefert uns ein Beiſpiel
für Abſtufungen in dieſen Formen theil—
weiſer Niederwerfung und zugleich den
Beweis, daß die Bedeutung dieſer Ab—
ſtufungen wohl verſtanden wird. Burton
erzählt nämlich, daß die „Dakro“, ein
Weib, welches Botſchaften vom König
von Dahome an den Meu überbringt, auf
allen Vieren vor dem König erſcheint. „Der
Regel nach geht ſie auch auf allen Vieren
zum Meu: vor Niedrigerſtehenden aber
kniet ſie nur, während dieſe vor ihr zu
Vierfüßlern werden.“
Damit kommen wir von ungefähr zu
einer ferneren Abkürzung der urſprünglichen
Niederwerfung, aus welcher eine der am
weiteſten verbreiteten Ehrenbezeugungen her—
vorgeht. Wie wir von der ganz ausge—
ſtreckten Lage zu derjenigen des muham—
medaniſchen Beters mit die Erde berühren—
der Stirne übergeleitet werden, ſo von
dieſer zu der Stellung auf allen Vieren
und von da durch Aufrichtung des Körpers
zum einfachen Knien. Daß das Knien an
zahlloſen Orten und zu allen Zeiten eine
der Formen ſtaatlicher, häuslicher und reli—
giöſer Ehrenbezeugung war und noch iſt,
bedarf keines Beweiſes. Wir heben blos
hervor, daß es überall in der Vergangen—
heit wie in der Gegenwart mit deſpotiſcher
Regierungsform verbunden erſcheint; ſo in
Afrika, wo „ihre (der Dahomeaner) Kniee,
weil ſie ſo fortwährend die Kniebeugung
auf dem harten Boden ausführen, mit der
Zeit faſt ſo hart werden, wie ihre Ferſen“;
ſo in Japan, wo „die Beamten, wenn ſie
das Angeſicht des Kaiſers verlaſſen, auf
ihren Knien rückwärts hinausgehen;“ ſo
in China, wo „die Kinder des Vice—
königs . . . als fie an ihres Vaters Zelt
vorbeigingen, auf die Kniee fielen und ſich
mit nach der Erde gewendetem Geſicht drei—
mal verbeugten“; und ſo auch im mittel
alterlichen Europa, wo die Hörigen vor
ihren Herren, die Vaſallen vor ihrem
Suzerain knieten und noch im Jahre 1444
die Herzogin Iſabella von Burgund, als
ſie die Königin beſuchte, während ihres
Eintritts dreimal auf ihre Knie niederfiel.
Ohne uns bei dem Uebergang vom
ſich auf beide Kniee Niederlaſſen, zu dem
auf einem Knie, was als weniger unter—
thänige Stellung der völligen Aufrichtung
ſchon näher kommt, aufhalten zu wollen,
wird es genügen, mit einem Worte noch
des Uebergangs vom Knien auf einem
Knie zum bloßen Beugen der Kniee zu ge—
denken. Daß dieſe Ceremonie in der That
eine Abkürzung iſt, zeigen uns am beſten
die Japaneſen:
„Bei einer Begegnung bezeugen ſie ihre
Ehrfurcht durch Beugen des Knies, und
wenn ſie Jemand eine außergewöhnliche
Eyre erweiſen wollen, jo ftügen ſie ſich
auf das Knie und verbeugen ſich bis auf
die Erde hinab. Dies wird jedoch in den
Straßen nie gethan, wo ſie vielmehr nur
eine Bewegung machen, als ob ſie nieder—
knien wollten. Wenn ſie eine Perſon von
Rang begrüßen, ſo beugen ſie ihre Knie
ſo weit, daß ſie mit ihren Fingern den
Boden berühren.“
Daſſelbe ſehen wir ebenſo gut oder
noch beſſer in China, wo die dritte der
wohlabgegrenzten Abſtufungen in den Ehren-
bezeugungen erläutert wird als Beugen des
Knies, während die vierte wirkliches Nieder—
knien iſt. Es iſt einleuchtend, daß die Form,
welche ſich unter uns bei dem einen Geſchlecht
in Geſtalt des „Knixes“ forterhalten hat,
und diejenige, welche bis vor kurzem dem
andern Geſchlecht als „Kratzfuß“ bekannt
Kosmos, Band II. Heft 2.
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
153
war (der in einem Rückwärtsſchleifen des
rechten Fußes beſtand), alle beide nichts
Anderes als die allmälig ſich verwiſchenden
Reſte des auf einem Knie ſich Niederlaſſens
darſtellen.
Es bleibt nur noch die damit verbun⸗
dene Verbeugung des Körpers zu beſprechen.
Iſt dieſelbe einerſeits die erſte Bewegung,
welche durchlaufen werden muß, wenn eine
vollſtändige Niederwerfung ausgeführt wer—
den ſoll, ſo iſt ſie anderſeits auch die letzte
Bewegung, welche noch fortbeſteht, wenn
die Niederwerfung Stück um Stück be-
ſchnitten wird. An vielen Orten finden
wir Hindeutungen auf dieſen Umbildungs—
prozeß. „Bei den Sooſoos pflegen ſelbſt
die Frauen eines vornehmen Mannes, wenn
ſie mit ihm ſprechen, ſich mit dem Körper
zu verbeugen und eine Hand auf jedes
Knie zu legen; daſſelbe geſchieht, wenn er
vorübergeht.“ Hat man in Samoa „ein
Zimmer zu paſſiren, in dem ein Häuptling
ſitzt, ſo gilt es für unehrerbietig, aufrecht
hindurchzugehen: man muß die ganze Zeit
mit tief verbeugtem Körper gehen“. Von
den alten Mexicanern, welche bei einer Ver-
ſammlung ſich vor ihrem Häuptling duckten,
leſen wir, daß, „wenn ſie ſich zurückzogen,
dies nur mit geſenktem Haupte geſchehen
durfte“. Und endlich finden wir in dem
ſchon oben citirten chineſiſchen Ceremonien—
ritual, daß die Ehrenbezeugung Nummer
zwei, weniger demüthig als das Beugen
des Knies, in einer tiefen Verbeugung mit
gefalteten Händen beſtand. Vergegenwär—
tigen wir uns ſolche Thatſachen und be—
denken wir, daß es zwiſchen dem unter-
würfigen Salaam des Hindu, der tiefen
Verbeugung, welche in Europa große Ehr—
furcht bezeugt, und der ſchwachen Neigung
des Kopfes als Ausdruck der Achtung ganz
unmerkliche Uebergänge giebt, ſo können wir
20
Er,
154
auch nicht bezweifeln, daß ſelbſt das ver—
trauliche und manchmal kaum wahrnehmbare
Kopfnicken nichts Anderes iſt, als die letzte
Spur der urſprünglichen Niederwerfung.
Dieſe verſchiedenen Abkürzungen, welche
wir eintreten ſehen, wo es ſich um Er—
weiſung ſtaatlicher und geſellſchaftlicher Ehren
handelt, kommen ebenſo auch bei den reli—
giöſen Ehrenbezeugungen vor. So erzählt
uns Baſtian von den Congo-Negern:
wenn fie mit einem Höhergeſtellten zu
ſprechen haben, jo... „knieen fie nieder,
wenden das Geſicht halb auf die Seite
und ſtrecken die Hände gegen die angeredete
Perſon aus, um ſie bei jeder neuen An—
rede zuſammenzuſchlagen. Sie hätten ſo
geradezu den ägyptiſchen Prieſtern Modell
ſitzen können, als dieſe ihre Darſtellungen
auf den Wänden ihrer Tempel machten,
ſo treffend iſt die Aehnlichkeit zwiſchen dem,
was dort abgemalt iſt und dem, was hier
thatſächlich vor ſich geht.“ — Und ähnliche
Analogien könnten wir den europäiſchen Reli—
gionsgebräuchen entnehmen. Da haben wir
das Niederſinken auf beide Kniee, auf ein
Knie und all die Verbeugungen und Ver—
neigungen in gewiſſen Ceremonien und
beim Ausſprechen des Namens Chriſtus.
Wie bereits erläutert wurde, iſt die
vollſtändige Ehrenbezeugung ein Akt, in
dem ſich nicht nur Unterwürfigkeit, ſondern
auch eine gewiſſe Befriedigung ausſpricht.
Um den Höheren auf möglichſt wirkſame
Weiſe zu verſöhnen, muß zu gleicher Zeit
ausgedrückt werden: „Ich bin dein Sclave“
und — „Ich liebe Dich“.
noch andere Belege.
der König von Karague „bis auf ſeinen
Einzelne der oben citirten Beiſpiele
haben bereits die Vereinigung dieſer beiden
Faktoren erkennen laſſen.
Wie wir dort
ſahen, pflegen die Batoka, wenn ſie die
Lage ergebenſter Unterthänigkeit annehmen,
zugleich mit ihren Händen in rhythmiſchen
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Schlägen auf die Schenkel zu klatſchen. In
anderen der aufgezählten Fälle wurde das
in die Hände Klatſchen, was gleichfalls
Freude andeutet, als eine in Afrika den Aus—
druck der Unterwürfigkeit begleitende Ceremo—
nie beſchrieben; und viele ähnliche könnten noch
beigefügt werden. Von den Adligen, welche
ſich dem König von Loango nähern, er—
zählt Aſtley: „Sie klatſchen zwei oder
dreimal in die Hände und werfen ſich dann
zu ſeiner Majeſtät Füßen in den Sand,
indem ſie darin zum Zeichen ihrer Ergeben—
heit hin und her rollen!“ und Speke
berichtet, wie die Diener des Königs von
Uganda „ſich in einer Reihe auf den
Bauch warfen und gleich Fiſchen ſich ſchlän—
gelten; . . . . und während ſie fortfuhren,
ſich hin und her zu wälzen, ſchlugen ſie
mit ihren Beinen um ſich, rieben ihre Ge—
ſichter und patſchten mit den Händen auf
den Boden.“ Wenn die Balonda vor
ihrem Vorgeſetzten auf die Kniee fallen „ſo
ſetzen ſie die Begrüßung durch Klatſchen
mit den Händen fort, bis die Großen
vorübergegangen ſind;“ und ein gleicher
Gebrauch der Hände findet ſich in Dahome.
— Noch eine andere rhythmiſche Beweg—
ung von gleicher Bedeutung muß erwähnt
werden. Wir ſahen bereits, daß das
Hüpfen als natürlicher Ausdruck der Freude
bei den Feuerländern für eine freundſchaft—
liche Begrüßung gilt und daß daſſelbe als
Zeichen der Ehrerbietung gegen den König
in Loango wiederkehrt. Afrika giebt aber
Grant erzählt, daß
Kopf ganz verdeckt im Thorweg ſeiner
größten Hütte ſaß und die Begrüßungen
ſeiner Leute entgegennahm, welche einer
nach dem andern aufſchrien und vor ihn
hin ſprangen, indem ſie ihm Treue ſchwu—
ren.“ Man denke ſich nun ſolche hüpfende
Bewegungen allmälig etwas mehr geregelt,
wie ſie es höchſt wahrſcheinlich im Laufe
der Entwickelung werden und ſie ſind zu
dem Tanz geworden, mit dem ſo oft ein
Herrſcher begrüßt wird; ſo in dem oben
erwähnten Beiſpiel vom Könige von Bo—
gota, ſo auch in dem Falle, deſſen Williams
in ſeinem Bericht über Fidſchi gedenkt, wo
ein niederer Häuptling und ſein Gefolge,
wenn ſie vor des Königs Angeſicht traten,
„einen Tanz ausführten, welcher damit
endigte, daß fie dem Somo-ſomo-König ihre
Keulen und ihre Oberkleider zum Geſchenk
machten.“
Von den übrigen vorgeblichen Zeichen
freudiger Erregung, welche gewöhnlich einen
Beſtandtheil der Ehrenbezeugung bilden,
iſt das Küſſen am auffälligſten. Daſſelbe
muß natürlich Formen annehmen, die ſich
mit der demüthigen Niederwerfung oder
ähnlichen Stellungen vertragen. In der
That finden wir auch, wie ſchon aus eini—
gen früheren Beiſpielen erſichtlich war, das
Küſſen der bloßen Erde, wo man nicht
nahe genug an den Höheren herankommen
kann oder darf, um ſeine Füße oder ſeine
Kleidung zu küſſen.
noch beigefügt. „In Eboe herrſcht die
Sitte, daß die vornehmen Leute, wenn der
König ausgeht, und ebenſo gut auch inner-
halb des Hauſes, auf die Erde niederknieen
und fie dreimal küſſen, während er vor⸗
und als die Geſandten der
übergeht;“
alten Mexicaner zu Cortez kamen, „be—
rührten ſie erſt den Boden mit den Händen
Dies galt im
und küßten ihn dann.“
alten Orient für ein Zeichen der Unterwerf—
ung des Beſiegten unter den Sieger; ja
es wird berichtet, dies ſei ſo weit getrieben
worden, daß man ſelbſt die Fußtapfen des
Pferdes eines Siegers küßte. Abyſſinien,
wo ein extremer Despotismus herrſcht und
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Einige andere ſeien
155
| die Ehrenbezeugungen ſehr kriechend find,
bietet uns eine andere Modification. In
Schoa iſt es ein Zeichen der Ehrfurcht
und Dankbarkeit, das nächſte beſte unbe—
lebte Ding, das einem Höheren oder einem
Wohlthäter gehört, zu küſſen. — Von
dieſen Formen gehen wir zum Lecken und
Küſſen der Füße über. Drury erzählt
uns, daß das Belecken der Knie unter
den Malagaſſen für ein Zeichen der Ehr—
erbietung gilt, jedoch nicht eine ſo tiefe
Erniedrigung andeutet, wie das Belecken
der Füße; und indem er die Rückkehr
eines malagaſſiſchen Häuptlings aus dem
Kriege beſchreibt, macht er die Bemerkung:
„Er hatte ſich kaum vor ſeiner Thüre nie—
dergeſetzt, als ſein Weib auf Händen und
Knien kriechend herauskam, bis ſie zu ihm
gelangte, worauf ſie ſeine Füße leckte; als
ſie dies gethan, wurde daſſelbe von ſeiner
Mutter wiederholt, und alle Weiber in
der ganzen Stadt begrüßten ihre Männer
auf die gleiche Weiſe.“ Sclaven u. ſ. w.
übten daſſelbe ihren Herren gegenüber. So
im alten Peru, wo ſchrankenloſe Unterord—
nung herrſchte: „Wenn die Häuptlinge
vor ihn (Atahuallpa) traten, erwieſen ſie
ihm große Ehren, indem ſie ihm Füße und
Hände küßten.“ Und daß dieſe höchſte
Huldigungsform im Orient allgemeiner
Brauch war und noch iſt, wird durch viele
Thatſachen bewieſen. In den aſſpriſchen
Urkunden erwähnt Sanherib, daß Men—
ſchen von Samaria heraufkamen, um ihm
Geſchenke zu bringen und ſeine Füße zu
küſſen. „Seine Füße zu küſſen“ gehörte
mit zu der Verehrung, welche Chriſto von
jenem Weibe mit der Büchſe voll Salbe
gezollt wurde; und daß das „ihn bei den
Füßen Faſſen“ von Seiten der Maria
Magdalena, was ſich unzweifelhaft mit
Küſſen derſelben verband, nichts Außerge—
156
wöhnliches war, erſehen wir aus der Schil—
derung einer ähnlichen Handlung von Seiten
des ſunamitiſchen Weibes gegen Eliſa.
Heutigen Tages noch küſſen bei den Ara—
bern Untergebene die Füße, die Knie oder
die Kleider ihrer Vorgeſetzten. Dem Schah
und dem Sultan die Füße zu küſſen, iſt gegen—
wärtig eine in Perſien und der Türkei übliche
Ehrenbezeugung; und Sir R. K. Porter
erzählt, wie ein Perſer aus Erkenntlichkeit
für ein Geſchenk „ſich auf den Boden warf,
meine Knie und Füße küßte und vor Freu—
den ſo laut weinte, daß der Ausdruck ſeines
Dankes dadurch erſtickt wurde.“
Das Küſſen der Hand iſt ein viel
weniger demüthigender Brauch als das
Küſſen der Füße, weil es eine minder voll—
ſtändige Niederwerfung nöthig macht. Dieſer
Unterſchied in der Bedeutung wird in weit
von einander entfernten Ländern anerkannt.
Wenn in Tonga Jemand einen höherge—
ſtellten Verwandten begrüßt, ſo küßt er der
Perſon die Hand, iſt es aber eine ſehr hoch—
ſtehende Perſon, ſo küßt er ihr die Füße.“
Und d' Arvieux berichtet, daß die
Frauen, welche den arabiſchen Prinzeſſinnen
zu dienen haben, ihnen die Hände küſſen,
wenn dieſe ihnen die Gunſt erweiſen, ſie
nicht die Füße oder den Saum des Gewan—
des küſſen zu laſſen. Ueberhaupt iſt dieſer
Brauch als Ausdruck liebender Unterwerf—
ung ſo allgemein verbreitet, daß jedes weitere
Beiſpiel überflüſſig wäre.
Was bedeutet es aber, wenn die eine
Verbeugung machende Perſon, ftatt des
Andern Hand zu küſſen, die eigene küßt?
Iſt das eine das Symbol des andern und
etwa ſo gemeint, daß es die unter den
vorliegenden Umſtänden größtmögliche An—
näherung an jenes iſt? Es ſcheint dies
ein etwas gewagter Schluß zu ſein; aber
mehrere Zeugniſſe ſprechen dafür. So ſagt
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
d'Arvieux in einer von Prof. Paxton
citirten Stelle: Ein Orientale erweiſt einer
Perſon von höherer Stellung ſeine Ehrfurcht,
indem er ihre Hand küßt und dieſelbe an
ſeine Stirne führt; iſt aber der Vornehme
in herablaſſender Stimmung, ſo zieht er
ſeine Hand weg, ſobald der Andere ſie
berührt hat; dann legt der Untergebene
ſeine eigenen Finger an die Lippen und
nachher an ſeine Stirne“. Dies macht es
meiner Anſicht nach unzweifelhaft, daß die
verbreitete Sitte, einem Andern eine Kuß—
hand zuzuwerfen, urſprünglich den Wunſch
oder die Geneigtheit ausdrückte, ſeine Hand
zu küſſen. Die Uebertragung aller dieſer
Ceremonien von den lebenden Gebieten
auf die Manen Verſtorbener, auf Götter,
Heilige und deren Statuen iſt unmittelbar
naheliegend.
Clavigero ſchildert uns die mexica—
niſche Ceremonie der Eidesleiſtung und
ſagt: „Indem ſie dann den höchſten Gott
oder irgend einen andern, den fie ganz be—
ſonders verehrten, anriefen, küßten ſie ihre
eigenen Hände, nachdem ſie damit die Erde
berührt hatten.“ In Peru wurde dieſer
Brauch noch mehr abgekürzt, indem der zu
küſſende Gegenſtand ganz wegfiel. D' Acoſta
ſagt: „Die Anbetung der Götter beſtand
darin, daß man die Hände ausbreitete, mit
den Lippen ein ſchwaches Geräuſch machte,
als ob man küſſen wollte, und ſie dann
frug, was ſie wünſchten, indem man zu
gleicher Zeit das Opfer darbrachte“; und
Garcilaſſo, welcher der Libation einiger
Tropfen gedenkt, die bei einer gewöhnlichen
Mahlzeit vor dem Genuß des Trankes der
Sonne geſpendet wird, fügt hinzu: „Zu
gleicher Zeit küßten ſie die Luft zwei- oder
dreimal, was . . . bei dieſen Indianern für
ein Zeichen der Verehrung gilt.“
Endlich ſtellen auch tanzende Bewegun—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
gen, die, wie wir geſehen haben, an ſich
ein natürlicher Ausdruck der Freude, zum
Höflichkeitsbeweis vor einem ſichtbaren Herr—
ſcher werden, ſpäterhin gleichfalls eine Ver—
ehrungsform des unſichtbaren Herrſchers dar.
Als Beiſpiel nenne ich nur das Tanzen Da—
vids vor der Bundeslade; und bei den Grie—
chen war das Tanzen ſogar urfprünglih
eine religiöſe Ceremonie: von den älteſten
Zeiten an war die „Verehrung Apollo's
mit einem religiöſen Tanz, Hyporchema ge—
nannt, verbunden“. Dann finden wir den
Bericht, daß König Pipin „gleich König
David, ſeines königlichen Purpurs ver—
geſſend, in ſeiner Freude die koſtbaren Ge—
wänder mit Thränen benetzte und vor den
Reliquien des heiligen Märtyrers hertanzte.“
Und endlich wiſſen wir, daß im ganzen
Mittelalter religiöſe Tänze in den Kirchen
gebräuchlich waren.
Um eine andere Reihe von verwandten
Gebräuchen erklären zu können, müſſen wir
auf die Niederwerfung in ihrer urſprüng—
lichſeen Form zurückgehen. Die Menſchen
können nicht vor ihrem Könige ſich im
Sande wälzen oder wiederholt ihren Kopf
gegen die Erde ſchlagen oder vor ihm krie—
chen, ohne ſich ſelbſt zu beſchmutzen. In
Folge deſſen wird der hängengebliebene
Staub oder die Erde als begleitendes Merk-
zeichen der Unterwerfung anerkannt, woraus
ſich der Brauch entwickelt, dieſe Betäubung |
willkürlich auf ſich zu nehmen und im eif—
rigen Beſtreben nach Begütigung dieſelbe
abſichtlich noch größer zu machen. Die
Verbindung dieſes Brauches mit dem Act
der Niederwerfung iſt uns bereits gelegent—
lich bei einigen Fällen aus Afrika entgegen—
getreten, und Afrika liefert noch andere
deutliche Beiſpiele. „In den Congo-Län—
dern,“ ſagt Burton, „wirft man ſich vor
jedem Banza oder Dorfhäuptling nieder, die
159
Erde wird gefüßt und Staub auf Stirn
und Arme geſtreut.“ Und derſelbe erzählt
uns, daß die Dahomeaniſche Begrüßung
aus zwei Handlüngen beſtehe: ſich nieder—
zuwerfen und Sand oder Erde auf das
Haupt zu ſtreuen. Ebenſo leſen wir, daß
„ſie (das Kakanda-Volk am Niger) ſich bei
der Begrüßung eines Fremden beinah bis
auf die Erde bücken und mehrmals Staub
auf ihre Stirne ſtreuen.“ Und indem Li—
vingſtone die peinliche Genauigkeit ſchil—
dert, welche die Balonda in ihren Sitten
zur Schau tragen, ſagt er:
„Wenn die Untergebenen auf der Straße
ihren Oberen begegnen, ſo fallen ſie ſofort
auf die Kniee und reiben Staub auf ihre
Arme und Bruſt. Während einer Anrede
an eine Reſpect verlangende Perſon griff
der Sprechende alle zwei oder drei Secunden
ein wenig Sand von der Erde auf und
rieb ſich die Oberſeite ſeiner Arme und
ſeiner Bruſt damit ein . . . Wenn ſie aber
ganz außerordentlich höflich ſein wollen, ſo
bringen fie eine Maſſe Aſche oder Pfeifen-
thon in einem Stück Haut herbei, nehmen
ganze Hände voll davon und reiben ſich
damit die Bruſt und die Vorderſeite ihres
Oberarmes ein.“
Ueberdies können wir beobachten, daß
hier ſo gut wie in allen andern Fällen die
Ceremonie allmälig einer Abkürzung unter—
liegt. Von denſelben Balonda berichtet Li-
vingſtone: „Die Häuptlinge führen das
Manöver, ſich Sand auf die Arme zu
reiben, ebenfalls aus, aber indem ſie blos
thun, als ob ſie etwas Sand aufhöben.“
Und am untern Niger bedecken ſich die Leute
lihre Köpfe], wenn ſie ihre Niederwerfungen
ausführen, wiederholt mit Sand oder we—
nigſtens machen ſie alle die Bewegungen,
als ob ſie ſolches thäten. Sobald eine Frau
eine ihrer Bekannten bemerkt, kniet ſie ſo—
158
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
fort nieder und thut, als ob ſie abwechſelnd chen bis zum äußerſten Extrem gingen,
Sand auf jeden Arm ſtreute.“ Daß dieſe
Ceremonie auch in Aſien in der gleichen
Abſicht befolgt wurde und noch wird, iſt
ebenfalls klar. So wurde ſie als Ausdruck
der ſtaatlichen Demüthigung von den Prie-
ſtern beobachtet, welche, als ſie Florus um
Schonung für die Juden anzuflehen kamen,
„Staub in großer Maſſe auf ihre Häupter
geſtreut hatten und die Bruſt mit nichts als
zerriſſenen Fetzen bedeckt zeigten.“ Und in
der Türkei kann man noch heutzutage Zeuge
dieſes Brauches in abgekürzter Form ſein.
Bei einer Truppenrevue pflegen ſelbſt die
zu Pferde ſitzenden Officiere, indem ſie
ihre Vorgeſetzten begrüßen, „der Form nach
die Vorſchrift zu erfüllen, ſich Staub aufs
Haupt zu ſtreuen“, und wenn gewöhnliche
Leute eine Carawane von Pilgern auf—
brechen ſehen, ſo „machen ſie wenigſtens
die Geberde, als ob ſie Staub auf ihren
Kopf würfen.“
Die Urkunden der Hebräer beweiſen,
daß dieſes vor ſichtbaren Perſonen übliche
Zeichen der Unterwerfung auch vor unſicht—
baren Perſonen gemacht wurde. Mit den
andern Begräbniß-Ceremonien verband ſich
auch das Beſtreuen des Hauptes mit Aſche.
Daſſelbe wurde aber auch gethan, um die
Gottheit zu verſöhnen, wie denn z. B.
„Joſua ſeine Kleider zerriß und vor der
Lade des Herrn auf ſein Angeſicht zur
Erde niederfiel bis zum Abend, er und
die Aelteſten von Iſrael, und ſie ſtreuten
Staub auf ihre Häupter.“ Auch heute
noch kommt ein ähnlicher Gebrauch unter
den Katholiken bei Gelegenheit ganz be
ſonderer Demüthigung vor.
Eine ähnliche Ableitung geſtattet auch
die Ceremonie des Händefaltens. Aus den
Gebräuchen eines Volkes, bei welchem die
Unterwürfigkeit und alle Zeichen einer ſol—
vollzogen wird.
wurde bereits ein Beiſpiel herausgegriffen,
welches die natürliche Entſtehung dieſer Halt—
ung andeutet. Im alten Peru galt es für
ein Zeichen demüthiger Unordnung, mit ge—
bundenen Händen und einem Strick um
den Hals zu erſcheinen, d. h. der Zuſtand
von Kriegsgefangenen wurde nachgeahmt.
Als der König von Uganda den Beſuch der
Capitäne Speke und Grant erwiderte,
„ſaßen ſeine Brüder, eine ganze Bande
kleiner Spitzbuben, einige mit Handſchellen,
hinter ihm. . . . Es wurde erzählt, der
König ſei, bevor er auf den Thron kam, ſtets
in Eiſen gefeſſelt herumgegangen, wie dies
jetzt ſeinen kleinen Brüdern widerfährt.“
Und von den Chineſen andrerſeits erzählt
uns Doolittle, daß „am dritten Tage
nach der Geburt eines Kindes . . . die Ce—
remonie der Feſſelung ſeiner Handgelenke
. . . Dieſe Dinger werden
getragen, bis das Kind vierzehn Tage alt
iſt . . . manchmal aber auch . . . mehrere
Monate oder ſogar ein Jahr lang . . . Sie
glauben, ein derartiges Binden der Hände
ſei geeignet, das Kind davor zu bewahren,
daß es in ſeinem ſpätern Leben ſtreitſüchtig
werde.“
Solche Hinweiſe auf den Urſprung des
Brauches, verbunden mit ſolchen Beiſpielen
davon abgeleiteter Sitten, drängen uns zu
dem Schluſſe, daß das Erheben der gefal—
teten Hände als Theil jener primitiven
Ehrenbezeugung, welche abſolute Unterwür—
figkeit ausdrücken ſoll, in der That ein Dar—
bieten der Hände war, auf daß ſie gebun—
den werden könnten.
Die oben beſchriebene Haltung des
Khonds zeigt uns den Act in ſeiner ur—
ſprünglichen Form; und wenn wir dann
bei Huc leſen, daß „der mongoliſche Jäger
uns begrüßte, indem er ſeine gefalteten
Hände zur Stirne erhob,“ oder bei Drury,
vornehmen Manne nähern, die Hände in
bittender Weiſe emporhalten, ſo können wir
nicht bezweifeln, daß dieſe Haltung der
Hände jetzt Ehrfurcht ausdrückt, weil ſie
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
daß die Malagaſſen, wenn ſie ſich einem
urſprünglich Unterwerfung bezeichnete. Von
den Siameſen, die in ihren ſtaatlichen Ver-
hältniſſen jo gedrückt und in ihren Gebräu-
chen jo ſervil find, ſagt La Soubere:
„Wenn Du Deine Hand einem Siameſen
entgegenſtreckſt, um ſie in die ſeinige zu
legen, ſo drückt er ſeine beiden Hände in
die Deine, als ob er ſich ganz und gar in
Deine Gewalt geben wolle.“ Daß aber
das Darbieten beider Hände die hier aus-
geſprochene Bedeutung hat, ergibt ſich aus
anderweitigen Belegen. In Unyanynembe:
„wenn Zwei von ihnen einander be—
gegnen, ſo legt der Wezee ſeine beiden
Hände mit der Innenfläche zuſammen und
dieſe werden dann von dem Watuſi (einem
Angehörigen einer mächtigeren Race) ſanft
gedrückt;“ und in Sumatra „beſteht die Be—
grüßung in einer Verbeugung des Körpers,
wobei zugleich der Untergebene ſeine gefal—
teten Hände zwiſchen diejenigen des Höher—
geſtellten legt und dieſelben hierauf zu ſeiner
Stirne emporhebt.“ Dieſe Beiſpiele er-
innern uns daran, daß ein ähnlicher Act
früher in Europa als Unterwürfigkeitszeichen
galt. Wenn der Vaſall ſeinem Lehensherrn
huldigte, ſo ſank er auf die Kniee und legte
ſeine gefalteten Hände zwiſchen diejenigen
des Letzteren.
Wie hier abermals eine als Ausdruck
ſtaatlicher Unterordnung dienende Haltung
zur religiöſen Verehrungsform wird, braucht
kaum noch erörtert zu werden. Wir finden
im Orient beim mahommedaniſchen Anbeter
dasſelbe Falten der Hände über dem Haupte,
was, wie wir geſehen haben, ebendaſelbſt
159
Ehrfurcht vor einem lebenden Oberherrn
bezeugt. Bei den Griechen „werden die
olympiſchen Götter in aufrechter Stellung
mit erhobenen Händen angebetet, die Mee—
resgötter mit horizontal, die Götter des
Tartarus mit nach unten gehaltenen Händen.
Und das Erheben der mit einander zuge—
wendeten Flächen gefalteten Hände, was
vormals in ganz Europa von dem gemeinen
Manne verlangt wurde, wenn er einen Vor—
nehmen ſeines Gehorſams verſichern wollte,
lehrt man bei uns noch den Kindern als
Haltung beim Gebet.
Ebenſowenig darf zu bemerken unter—
laſſen werden, daß ein ähnlicher Gebrauch
der Hände ſelbſt in den alltäglichen geſell—
ſchaftlichen Verkehr herabſteigt. Der Zu—
ſammenhang läßt ſich im fernen Oſten noch
heute deutlich verfolgen. „Wenn die Sia—
meſen einander begrüßen, ſo falten ſie die
Hände und erheben ſie vor's Geſicht oder
über den Kopf.“ Die erſte und am we—
nigſten unterthänige unter den acht Ab—
ſtufungen der Ehrenbezeugungen in China
beſteht darin, die Hände zuſammenzulegen
und vor die Bruſt zu erheben. Selbſt bei
uns laſſen ſich noch Reſte dieſer Form er—
kennen. An einem gefälligen Ladendiener
oder einem übereifrigen Wirth kann man
gelegentlich beobachten, wie er die etwas er—
hobenen Hände zuſammenlegt und loſe gegen
einander reibt, in einer Weiſe, die wohl
die Vermuthung über die Herkunft von
jenem primitiven Zeichen des Gehorſams er—
wecken kann.
Im Anſchluß hieran kommt eine andere
Gruppe von Ehrenbezeugungen, die etwas
verſchiedenen, wenn auch verwandten Ur—
ſprungs iſt, zur Behandlung. Die bisher
beſprochenen beeinflußen die Kleidung des
Unterworfenen nicht direkt; aber gerade aus
den Veränderungen der Kleidung, ſei es in
160
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
ihrer Anordnung, Beſchaffenheit oder Art,
entſpringt gleichfalls eine ganze Reihe cere—
monieller Gebräuche.
Der Beſiegte, vor ſeinem Beſieger in
den Staub hingeſtreckt und ſelbſt ſein Eigen—
thum geworden, verliert natürlich zugleich
den Beſitz alles deſſen, was er an ſich trägt.
Der geringere Verluſt ſeines Eigenthums
iſt an den größern ſeiner eigenen Perſon ge—
knüpft, und ſo liefert er nicht nur ſeine
Waffen aus, ſondern gibt auch dem Sieger,
wenn er es verlangt, jedes Stück ſeiner
Kleidung hin, daß des Nehmens werth iſt,
während letzterer dieſe Dinge oft aus demſel—
ben Grunde ſich aneignet, weshalb er auch
die Waffen nimmt: denn da das Gewand
manchmal die Haut eines grimmigen Thieres
oder ein mit Trophäen verzierter Mantel
iſt, liefert es gleich den Waffen eine neue
Zugabe zu den Beweiſen ſeiner Tapferkeit.
Auf jeden Fall iſt es klar, daß, auf wel—
chem beſonderen Wege auch der Gebrauch
entſtanden ſein mag, einem Beſiegten ſeine
Kleider zu nehmen, die theilweiſe oder voll—
ſtändige Nacktheit des Kriegsgefangenen die
Zeugniſſe für ſeine Unterjochung bekräftigt.
Daß dies die vor Alters im Orient herr—
ſchende Anſchauung war, erſehen wir
aus deutlichen Beweiſen. In Jeſaias,
Cap. XX 2—4 leſen wir: „Da ſprach
der Herr: Gleichwie mein Knecht Jeſaia
nackend und barfuß geht, drei Jahre lang
zum Zeichen .. . alſo wird der König zu
Aſſyrien hintreiben das gefangene Aegypten
und das vertriebene Mohrenland, beides
Jung und Alt, nackend und barfuß.“ Auch
fehlt es nicht an Zeugniſſen von andern
Raſſen, daß die Wegnahme und die Hin—
gabe der Kleidung dem entſprechend zum
Zeichen ſtaatlicher Unterwerfung und in
einigen Fällen ſogar zum Höflichkeitsgebrauch
geworden iſt. In Fidſchi, an dem für die
“
Bezahlung des Tributs feſtgeſetzten Tage
„ſtreifte der Häuptling von Somo-Somo
zuerſt ſeine Gewänder ab, ſetzte ſich dann
nieder und löſte ſogar die Schleppe oder
die Decke, welche von ungeheurer Länge
war, von ſeinem Leibe. Er gab ſie dem
Sprecher hin, welcher ihm dafür ein Stück
überreichte, das nur eben groß genug war,
um die Blöße zu bedecken. Alle übrigen
Somo-Somo⸗-Häuptlinge, welche ſämmtlich,
wenn ſie auf den Platz traten, eine Schleppe
von mehreren Ellen Länge hatten, entkleideten
ſich vollſtändig, ließen auch ihre Schleppen
zurück und gingen hinweg . . . indem fie
alſo nackend das ganze Somo-Somo Volk
verließen.“
Ferner leſen wir, daß während Cook's
Aufenthalt auf Tahiti zwei Männer von
höherem Range „an Bord kamen und ſich
Jeder feinen beſondern Freund auswählten ...
Dieſe Ceremonie beſtand darin, daß ſie
einen großen Theil ihrer Kleider ſich ab—
nahmen und ſie uns umhingen.“ Auf
einer andern polyneſiſchen Inſel, Samoa,
finden wir ſodann dieſen Höflichkeitsact er—
heblich abgekürzt: blos der Gürtel wird
abgenommen und als Geſchenk überreicht.
Wenn wir ſolche Thatſachen als Schlüſſel
verwenden, ſo kann kaum ein Zweifel da—
ran beſtehen, daß dieſe Auslieferung des
Gewandes es iſt, woraus jene, in mehr
oder weniger weit gehender Entblößung des
Körpers beſtehenden, Ehrenbezeugungen ent—
ſtanden ſind. Wir finden alle möglichen
Grade der Entblößung, die überall in
gleichem Sinne aufgefaßt wird. Aus Ibn
Batula's Bericht über ſeine Reiſe nach
dem Sudan im vierzehnten Jahrhundert
citirt Herr Tylor die Stelle, daß „Frauen
nur in unbekleidetem Zuſtand vor das An—
geſicht des Sultans von Melli treten dürfen
und ſelbſt des Sultans eigne Töchter ſich
dieſer Sitte fügen müſſen;“ und wenn wir
natürlich doch noch erhebliche Zweifel hin—
ſichtlich der Exiſtenz einer ſolchen Ehren—
bezeugung hegen, welche dergeſtalt bis zu
ihrem urſprünglichen Extrem getrieben wird,
ſo heben ſich auch dieſe, wenn wir in
Speke leſen, daß heutigen Tages noch
am Hofe von Uganda „ſplitternackte aus—
gewachſene Frauen als Diener fungiren.“
Andere Theile von Afrika zeigen uns un—
vollſtändige, wenngleich immer noch ſehr
erhebliche Entkleidung als Ehrenbezeugung.
In Abyſſinien müſſen die Untergebenen in
Gegenwart ihrer Oberen den Körper bis
auf den Gürtel herab entblößen; „ſolchen
gleichen Ranges gegenüber jedoch wird blos
der Zipfel des Kleides für kurze Zeit ge—
lüftet.“ Daſſelbe kehrt in Polyneſien wieder.
Die Tahitier entkleiden „den Körper bis
zu den Lenden in Gegenwart des Königs“,
und Forſter berichtet, daß auf den Ge—
ſellſchafts inſeln im Allgemeinen „die niedern
Volksklaſſen in Gegenwart ihrer höchſten
Häuptlinge aus lauter Ehrfurcht ihr Ober—
kleid ablegen.“ Wie dieſe Ehrenbezeugung
einer ferneren Abkürzung unterliegt und
ſich zugleich von den Herrſchern auf andere
Perſonen ausdehnt, erſehen wir deutlich bei den
Eingebornen der Goldküſte. Cruickſhank
ſchreibt: „Sie begrüßen auch die Europäer
und gelegentlich ebenſo einander, indem ſie
mit der rechten Hand ihr Kleid ein wenig
von der linken Schulter herabziehen und
ſich zu gleicher Zeit zierlich verbeugen.
Wenn ſie ſich ſehr ehrfurchtsvoll zu bezeigen
wünſchen, ſo entblößen ſie die Schulter
vollſtändig und halten das Gewand erſt
unterhalb der Arme, ſo daß der Körper
der Perſon von der Bruſt an aufwärts
unbekleidet bleibt.“
Und von denſelben Völkern bemerkt
Burton, daß „in ganz Yoruba-Land
Kosmos, Band III. Heft 2.
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
nehmen des Hutes.“
161 9
und an der Goldküſte das Entblößen der —
Schultern daſſelbe bedeutet wie bei uns
das Hutabziehen.“
Daß die Entblößung des Hauptes, hier
ſchon vermuthungsweiſe mit der Entblößung
des Oberkörpers verglichen, in der That
urſprünglich dieſelbe Bedeutung hatte, dürfte
kaum in Frage gezogen werden. Selbſt
in gewiſſen europäiſchen Gebräuchen iſt die
Verwandtſchaft zwiſchen den beiden Formen
erkannt worden; wie denn z. B. Ford be—
merkt, daß „in Spanien den Mantel Ab—
legen fo viel bedeutet wie . . . unſer Ab—
Sie iſt aber auch
in Afrika ſelbſt zu erkennen, wo in Dahome
beide mit einander verbunden ſind: „Die
Männer entblößten ihre Schultern, zugleich
ihre Mützen und großen Schirmhüte ab—
nehmend“, ſagt Burton in der Schilderung
ſeines Empfangs daſelbſt. Wir finden
daſſelbe in Polyneſien, wo auf Tahiti an-
geſichts des Königs nicht blos die Kleider
bis auf die Lenden herabgeſtreift, ſondern
auch der Kopf entblößt wird. Hiernach
ſcheint es, daß das bekannte Hutabziehen bei
den europäiſchen Völkern, das bei uns ſogar
häufig auf eine bloße Berührung des Hutes,
ja auf eine entſprechende Handbewegung zu—
ſammenſchrumpft, gleichfalls ein Ueberbleibſel
jener Formalität der Selbſtentkleidung iſt,
wodurch der Gefangene die Hingabe Alles
deſſen, was er hatte, ausdrücken wollte.
Auch das Entblößen der Füße iſt ein
Brauch von gleichem Urſprung, wie dies
bei den Eingebornen der Goldküſte deut—
lich zu erkennen iſt; denn während dieſe,
wie wir ſahen, zum Zeichen ihrer Ehrer—
bietung theilweiſe den Oberkörper entkleiden,
löſen ſie zugleich die Sandalen von ihren
Füßen „als Kundgebung ihrer Ehrfurcht“,
ſagt Cruickſhank: ſie fangen alſo den
Körper an beiden Enden ſeiner Hüllen zu
| 162
entledigen an. Ueberall im alten Amerika
hatte das Entblößen der Füße einen ähn—
lichen Sinn. In Peru „trat kein Herr,
ſo mächtig er auch ſein mochte, in reicher
Kleidung vor das Angeſicht des Ynca, ſon—
dern nur in demüthigem Anzug und barfuß;“
und in Mexico „beſtand für die Könige,
welche Vaſallen des Montezuma waren, das
ſtrenge Gebot, ihre Schuhe abzulegen, wenn
ſie ihm unter die Augen kamen;“ ja die
Wichtigkeit dieſes Aktes war ſo groß, daß,
da „Michoacan von Mexico unabhängig
war, der Herrſcher den Titel Cazonzi, d. h.
beſchuht, annahm“. Aehnliche Berichte
von aſiatiſchen Völkern haben uns längſt
mit dieſem Brauch bekannt gemacht. In
Burmah „iſt ein Europäer, wenn er dem
König begegnet oder mit ſeinem Gefolge
zuſammentrifft, ſelbſt in den Gaſſen und
auf den Landſtraßen verpflichtet, ſeine Schuhe
auszuziehen.“ Und ebenſo muß in Perſien
Jedermann, der vor das königliche Angeſicht
tritt, ſeine Füße entblößen.
Eine Beſtätigung aller dieſer Erklär—
ungen bietet die noch ſelbſtverſtändlichere
Auffaſſung gewiſſer Gebräuche, denen wir
abermals in jenen Geſellſchaften begegnen,
wo außerordentlich ſtarke Kundgebungen der
Unterwürfigkeit gefordert werden. Ich meine
das Gebot, vor dem Angeſicht des Herrſchers
in grober Kleidung — in der Kleidung
der Sclaven zu erſcheinen. So oft im
alten Mexico Montezuma's Hofleute, um
ihm zu dienen, „in ſeine Gemächer traten,
hatten ſie zuerſt ihre reichen Gewänder
abzulegen und gewöhnlichere Kleidung an—
zuziehen . . . und nur barfuß und mit ge—
ſenkten Augen war es ihnen geſtattet, vor
ſein Angeſicht zu treten.“ So war es auch
in Peru: Neben dem Geſetz, daß ein Unter—
than, ſo mächtig er auch ſein mochte, vor
dem Ynca nur mit einer Laſt auf dem
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Rücken erſcheinen durfte, zum Zeichen ſeiner
Knechtſchaft, und neben dem Geſetz, daß er
barfuß ſein müſſe, zum ferneren Zeichen
ſeiner Knechtſchaft, beſtand noch, wie wir
geſehen haben, das Geſetz, daß „kein Herr,
ſo vornehm er auch war, in reichen Kleidern
vor das Angeſicht des Anka treten durfte,
ſondern nur in beſcheidenem Anzuge“, aber—
mals Knechtſchaft ausdrückend. Ein ähn—
licher, obgleich nicht ſo weit gehender Brauch
herrſcht in Dahome, wo gleichfalls eine
ſtrenge Autokratie und uneingeſchränkte
Unterwerfung unter dieſelbe beſteht. Die
höchſten Unterthanen, des Königs Miniſter,
dürfen „auf Pferden reiten, ſich in Hänge—
matten tragen laſſen, ſeidene Gewänder
tragen und ein zahlreiches Gefolge halten
mit großen Sonnenſchirmen von eigner
Form, mit Fahnen, Trompeten und andern
muſikaliſchen Inſtrumenten. Aber beim Ein—
tritt in das königliche Thor werden alle
dieſe Inſignien bei Seite gelegt.“ Selbſt
im mittelalterlichen Europa wurde die Unter—
ordnung unter einen Sieger oder einen
Höherſtehenden durch ein ſolches Ablegen
der Theile der Kleidung und anderen Zu—
behörs ausgedrückt, die auf die Würde irgend
welchen Bezug hatten, und man erſchien
dem entſprechend in verhältnißmäßig ärm—
lichem Zuſtand, wie er mit der Knechtſchaft
übereinſtimmend war. So z. B. in Frank—
reich, wo im Jahre 1467 die Behörden
einer eroberten Stadt, die ſich einem ſieg—
reichen Herzog ergeben hatte, „mit ſich nach
ſeinem Lager dreihundert der angeſehenſten
Bürger im bloßen Hemde, barhäuptig und
barbeinig herausführten, welche ihm die
Schlüſſel der Stadt übergaben und ſich
ſelbſt ihm auf Gnade und Ungnade aus—
lieferten.“ Und ſogar die Leiſtung der
Lehnshuldigung war mit Gebräuchen von
ähnlicher Art verbunden. Saint Simon
beſchreibt eines der ſpäteſten Beiſpiele dieſer
Art und nennt unter andern dabei befolgten
Ceremonien die Hingabe des Schwertes,
der Handſchuhe und des Hutes, wozu er
bemerkt, daß dies geſchähe, „um den Vaſall
in Gegenwart des Oberherrn aller Zeichen
ſeiner Würde zu entkleiden“.
Verſöhnungsakte dieſer Art dehnen ſich
gleich ſolchen anderer Art von dem gefürch—
teten Weſen, das ſichtbar iſt, auch auf das
gefürchtete Weſen aus, das nicht mehr ſicht—
bar iſt — auf den Geiſt und den Gott.
Wir erinnern blos daran, daß bei den
Juden das Bußethun in Sack und Aſche
geſchah, um den Geiſt zu verſöhnen;
ſodann erfahren wir, daß dieſe Sitte noch
heute im Orient fortlebt, wie denn Herr
Salt von einer trauernden Frau ſchreibt,
daß ſie mit Sackleinwand bekleidet und mit
Aſche beſtreut geweſen, oder wie Burck—
hardt „die weiblichen Verwandten eines
geſtorbenen Häuptlings durch alle Haupt—
ſtraßen laufen ſah mit halbentblößtem
Köcper und das bischen Kleidung, was
ſie noch anhatten, aus Lumpen beſtehend,
während der Kopf, das Geſicht und die
Bruſt faſt ganz mit Aſche bedeckt waren.“
So ermahnt auch Jeſaias, der ſelbſt das Bei—
ſpiel dazu giebt, die widerſpenſtigen Iſrae—
liten, mit Jehovah Frieden zu ſchließen:
„Geißelt Euch, entblößet Euer Haupt und
gürtet Sackleinwand um Eure Lenden!“
Auch an Parallelen für das Entblößen der
Füße fehlt es nicht. Dieſer Brauch galt
bei den alten Juden für ein Zeichen der
Trauer, wie uns dies das Gebot in
Ezechiel, Cap. XXIV, 17 lehrt: „Heim⸗
lich magſt du ſeufzen, aber keine Todten—
klage führen; ſondern du ſollſt deinen
Schmuck anlegen und deine Schuhe an
deine Füße anziehen;“ und ebenſo war bei
den Hebräern das Ausziehen der Schuhe
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
ein Akt der Verehrung. Von den Peru—
anern, welche barfuß vor das Angeſicht des
Yuca traten, leſen wir, daß „Alle, ausge—
nommen der König, ihre Schuhe auszogen,
zweihundert Schritte bevor ſie die Thore
(des Tempels der Sonne) erreichten; aber
der König behielt ſeine Schuhe an, bis er
an die Thore kam.“ Endlich gilt daſſelbe
auch von der Entblößung des Hauptes.
Neben manchen anderen Ceremonien, zur
Verſöhnung des lebenden Herrſchers dienend,
wird dieſe letztere auch beobachtet, um den
Geiſt des gewöhnlichen und ebenſo den des
außergewöhnlichen Todten zu verſöhnen,
welcher vergöttert und dauernd verehrt
wird. Dahin gehört das Entblößen des
Hauptes am Grabe, wie es auch bei uns
noch Brauch iſt, während in manchen Län—
dern ſogar die den Hut abziehen, welche
nur einem Leichenbegängniß begegnen. Da—
hin gehört ferner das Abnehmen des Hutes
vor den Bildern von Chriſtus und der
Madonna draußen und im Hauſe, das
Niederknieen und Entblößen des Kopfes
in katholiſchen Ländern, wenn die Hoſtie
vorübergetragen wird, und das Abnehmen
der Kopfbedeckung beim Betreten geweihter
Stätten in allen Ländern.
Endlich dürfen wir auch den Umſtand
nicht übergehen, daß die Ehrenbezeugungen
dieſer Gruppe, welche man urſprünglich
nur den am meiſten gefürchteten höchſten
Perſonen, mit der Zeit aber auch den we—
niger Mächtigen erwies, ſich allmälig gleich-
falls weiter ausdehnen, bis ſie ganz allge—
mein werden. Einige der oben angeführten
Citate haben nebenbei ſchon gezeigt, daß in
Afrika theilweiſe Entblößung der Schulter
als Begrüßung zwiſchen Gleichgeſtellten
gilt und daß ein ähnliches Abnehmen des
Mantels in Spanien den gleichen Zweck
erfüllt. So entſteht denn auch aus der
164
Sitte, barfuß vor das Angeſicht eines
Königs und in einen Tempel zu treten,
ein ganz allgemeiner Höflichkeitsbeweis:
die Damaras legen ihre Sandalen ab, bevor
ſie das Haus eines Fremden betreten; ein
Japaneſe läßt ſeine Schuhe an der Thüre
ſtehen, ſelbſt wenn er nur in einen Laden
geht; „beim Eintritt in ein türkiſches Haus
gilt es als ſtändige Regel, die Ueberſchuhe
oder Galoſchen am Fuße der Treppe zu—
rückzulaſſen.“ Und in Europa ſodann, wo
das Entblößen des Hauptes eine Ceremo—
nie bei der Lehenshuldigung und bei reli—
giöſer Verehrung war, iſt dies gegenwärtig
zu einem Achtungsbeweis geworden, den
man ſogar einem Arbeiter beim Eintritt
in ſeine Hütte ſchuldet.
Auch die Zeichen vorgeblicher Freude
entwickeln ſich zu Höflichkeitsformen, wo
keine Rangesverſchiedenheiten beſtehen. So
berichtet Grant: „Wenn in dem Toorkee—
Lager eine Geburt vorkam ..... jo ver—
ſammelten ſich die Weiber vor dem Thore
der Mutter, um durch Händeklatſchen, Tan—
zen und Schreien ihre Freude auszudrücken.
Ihr Tanz beſtand darin, daß ſie in die
Luft ſprangen, ihre Beine in höchſt unge—
ziemender Weiſe von ſich warfen und mit
den Ellbogen ihre Seiten bearbeiteten.“
Und wo es die Umſtände geſtatten, werden
dann ſolche Achtungsbeweiſe gegenſeitig aus—
getauſcht: Bosman erzählt uns, daß,
wenn an der Sclavenküſte „zwei Perſonen
von gleicher Stellung einander begegnen,
alle Beide gleichzeitig auf ihre Knie nieder—
fallen, in die Hände klatſchen und ſich
gegenſeitig begrüßen, indem ſie einander
einen guten Tag wünſchen.“ Und es kommen
Fälle vor, wo ſolche Gegenſeitigkeit der
Complimente, ſogar in Form von Nieder—
werfung, ſelbſt zwiſchen Freunden beſteht.
Unter den Moskitos, jagt Bancroft,
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
„wirft ſich Einer dem Andern zu Füßen
und dieſer hebt ihn dann auf, umarmt ihn
und fällt ſeinerſeits nieder, um nun unter
des Erſteren Beiftund wieder aufzuſtehen
und von ihm herzlich umarmt zu werden.“
Solche extreme Beiſpiele liefern eine ſichere
Beſtätigung, wenn es deren überhaupt be—
darf, für den Schluß, daß die gegenſeitigen
Verbeugungen und Knixe und das Hutab—
ziehen, wie ſie bei uns gebräuchlich ſind,
nur Ueberbleibſel der urſprünglichen Nieder—
werfung und Beraubung des Kriegsgefan—
genen darſtellen. 0
Hinſichtlich des Handkuſſes unter Gleich—
geſtellten ſei noch aus Niebuhr eine
Aeußerung über einen nah verwandten Ge—
brauch citirt: „Wenn ſich zwei Araber
der Wüſte begegnen, ſo ſchütteln ſie ſich
mehr denn zehn mal die Hände. Jeder
küßt dann ſeine eigene Hand und wieder—
holt beſtändig die Frage: Wie geht es
Dir? ... In Yemen thut Jeder, als
ob er des Andern Hand zu ergreifen wünſchte,
während er die eigene zurückzieht, um das
Empfangen gleicher Ehre zu vermeiden.
Um ſchließlich dem Wettſtreit ein Ende
zu machen, geſtattet dann der ältere von
Beiden dem Andern, ſeine Finger zu
küſſen“.
Dürfen wir nun hierin nicht vielleicht
die Quelle des Händeſchüttelns erblicken? Je
mehr das Mißlingen des Beſtrebens Bei—
der, die Hand des Andern zu küſſen, das
im Voraus erwartete Reſultat iſt, wird
dieſe Bewegung allmälig einen regel—
mäßigeren und rhythmiſcheren Charakter
annehmen. Jedenfalls beſteht ein viel
größerer Unterſchied zwiſchen dem einfachen
Händedruck, auf welchen dieſe Begrüßung
oft reducirt erſcheint, und dem altväteriſchen
herzlichen Händeſchütteln, als zwiſchen die—
ſem und der Bewegung, welche zu Stande
—
kommen muß, wenn ſich ein Jeder beſtrebt,
die Hand des Andern zu küſſen.
Welcher Art alſo auch immer die Ehren—
bezeugung ſein mag, jedenfalls hat ſie die—
ſelbe Wurzel wie die Trophäen und Ver—
ſtümmelungen. Ganz in die Hände des
Siegers gegeben, welcher entweder einen
Theil ſeines Körpers zum Andenken an
den Sieg abhaut und ihn dadurch tödtet
oder aber ſich mit einem minder wichtigen
Theil begnügt und ihn nur als Unter—
worfenen kennzeichnet, liegt der beſiegte Feind
vor Jenem hingeſtreckt da, ſei es auf ſeinem
Rücken, ſei es mit deſſen Fuß auf ſeinem
Nacken, mit Staub oder Schmutz bedeckt,
waffenlos und mit zerriſſenen Gewändern
oder auch des trophäengeſchmückten Mantels
beraubt, der ſein Stolz war. Dadurch
werden die Niederwerfung, die Beſchmutzung
mit Staub und der Verluſt der Kleidung
als beiläufige Folgen der Beſiegung gleich
der Verſtümmelung zu anerkannten Beweiſen
derſelben, woraus dann zu allererſt die er—
zwungenen Unterwürfigkeitsbezeugungen von
Sclaven gegen ihre Herren, von Unterthanen
gegenüber ihren Gebietern, ſodann die frei—
willige Annahme einer unterthänigen Stell—
ung vor den Vornehmeren und endlich ſo—
gar jene Höflichkeitsbewegungen hervorgehen,
welche, obwohl Unterordnung ausdrückend,
doch unter Gleichgeſtellten beobachtet werden.
Daß alle ſolche Ehrenbezeugungen im
kriegeriſchen Weſen wurzeln, iſt eine Folge—
rung, die ganz mit der Thatſache überein—
ſtimmt, daß ſich dieſelben in der That in
gleichem Maße entwickeln, als der kriege—
riſche Typus einer Geſellſchaft ausgeprägt
iſt. Derartige Unterwerfung bezeugende
Haltung und Bewegung kommen nicht bei
führerloſen Stämmen und ſolchen mit noch
unbeſtimmter Häuptlingsmacht vor, wie es
die Feuerländer, die Andamaneſen, die Tas—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
165
manier und die Eskimos ſind; und die Be—
richte über Etiquetteformen bei den wan—
dernden und noch faſt gar nicht organiſirten
Gemeinſchaften von Nordamerika erwähnen
nichts oder nur Unbedeutendes von Hand—
lungen, welche Knechtſchaft oder Unterord—
nung ausdrücken ſollen. Allerdings giebt
es in Indien gewiſſe einfache und durch
Friedensliebe ausgezeichnete Geſellſchaften
ohne ſtaatliche Organiſation, bei denen de—
müthige Ehrenbezeugungen vorkommen, wie
z. B. die Todas. Bei der Hochzeit legt
eine Todabraut ihren Kopf unter den Fuß
des Bräutigams. Da aber Ausnahmen
von dieſer und von noch weniger ausge—
prägter Art nur bei ſeßhaften, Viehzucht
oder Ackerbau treibenden Stämmen zu be—
obachten ſind, deren Vorfahren jene Mittel—
ſtufen zwiſchen dem wandernden und dem
ſtationären Zuſtand, während welcher im
Allgemeinen kriegeriſche Thätigkeit vor—
herrſchte, bereits durchlaufen haben, ſo dürfen
wir wohl mit Recht vermuthen, daß dies
blos übriggebliebene Ceremonien ſind, die
ihre urſprüngliche Bedeutung verloren haben,
und dies um ſo mehr, als in dem ange—
führten Falle weder jene geſellſchaftliche,
noch jene häusliche Unterordnung beſteht
als deren Ausdruck ſie doch erſcheinen könn—
ten. Dagegen finden wir in den durch kriege—
riſche Ereigniſſe zur Verſchmelzung und in—
nerer Befeſtigung gebrachten Geſellſchaften,
welche den kriegeriſchen Organiſationstypus
erlangt haben, das ſtaatliche wie das ge—
ſellſchaftliche Leben ganz außerordentlich durch
unterthänige Ehrenbezeugungen charakteriſirt.
Fragen wir zunächſt, in welchen ſchwachent—
wickelten Geſellſchaften die kriechenden Nie—
derwerfungen und das ſich Ducken und
Winden vor den Vornehmen am meeſten
herrſcht, ſo iſt die Antwort nicht zweifel—
haft. Wir finden ſie in dem kriegeriſchen,
2
CE A
166
cannibaliſchen Fidſchi, wo die Gewalt des
Herrſchers über ſeine Unterthanen und ihr
Eigenthum unbeſchränkt iſt und wo das
Volk in einigen Sclavendiſtrikten ſelbſt der
Anſicht iſt, es ſei aufgezogen worden, um
verſpeiſt zu werden; wir finden ſie in Ugan—
da, wo beſtändig Krieg herrſcht, wo die
Einkünfte von der Plünderung benachbar—
ter Stämme wie der eigenen Unterthanen
herſtammen und wo von dem König, wenn
er um ſich ſchießt, geſagt wird: „da ſeine
Hoheit kein Wild fand, das er ſchießen
konnte, ſchoß er viele Leute nieder;“ und
wir finden fie in dem bluttriefenden Da-
home, wo die benachbarten Geſellſchaften
überfallen werden, um mehr Köpfe zur
Ausſchmückung des Königspalaſtes zu er—
halten, und wo Jedermann bis hinauf zum
höchſten Miniſter des Königs Sclave iſt.
Was etwas weiter vorgeſchriltene Staaten
betrifft, ſo kommen ſie in Burmah und
Siam vor, wo der aus früheren Zeiten
überlieferte kriegeriſche Typus wenigſtens
die Gewalt des Monarchen ebenfalls ohne
jede Einſchränkung gelaſſen hat; in Japan
ferner, wo, entſprechend einem während
der Kriege vergangener Zeiten entwickelten
und befeſtigten Despotismus, ſtets dieſe
kriechenden Ehrenbezeugungen jedes Stan—
des gegen den über ihm ſtehenden beobachtet
werden, und in China, wo bei einer ähn—
lichen Regierungsform von gleicher Abſtam—
mung immer noch das Geſetz in Kraft iſt,
daß man ſich vor dem höchſten Herrſcher
faſt platt auf die Erde werfen und mit
der Stirne auf den Boden aufſchlagen müſſe.
Gleiches gilt auch vom Küſſen der Füße
als Ehrenbezeugung. Dies war ſtehender
Gebrauch im alten Peru, wo das ganze
Volk unter der Organiſation und der Zucht
der Regierung ſtand. Es herrſcht in Ma
dagaskar, wo kriegeriſcher Aufbau und
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Thätigkeit der Geſellſchaft ſehr beſtimmt
ausgeprägt ſind. Und bei mehreren Völ—
kern des Oſtens, die heute noch wie von
jeher unter autokratiſcher Herrſchaſt leben,
beſteht auch dieſe ceremonielle Form gegen—
wärtig noch ſo ungeſchmälert wie in den
älteſten Zeiten. Nicht anders verhält es
ſich ſodann mit dem vollſtändigen oder
theilweiſen Abnehmen der Kleider. Die
extremſten Formen dieſes Brauches kommen,
wie wir ſahen, in Fidſchi und Uganda vor,
während für die etwas mildere Form, das
Entblößen des Körpers bis auf die Lenden
herab, Beiſpiele aus Abyſſinien und Tahiti
angeführt werden konnten, wo die könig—
liche Gewalt, wenn auch immer noch groß,
doch nicht mehr ſo rückſichtslos mißbraucht
wird. Und dies beſtätigt ſich endlich auch
hinſichtlich des Entblößens der Füße. Dies
war im alten Peru und im alten Mexico
eine dem König ſchuldige Ehrenbezeugung,
wie ſie es heute noch in Burmah und in
Perſien iſt: — alles Länder, deren despo—
tiſche Regierungsformen ſich aus kriegeriſchen
Verhältniſſen hervor entwickelt haben. Die—
ſelben Beziehungen laſſen ſich zum Schluß
auch in Betreff der übrigen extremen Ehren—
bezeugungen herausfinden: daß man Staub
aufs Haupt ſtreut, grobe Kleider anlegt,
mit einer Bürde belaſtet eintritt und ſich
die Hände bindet.
Vergleichen wir nun noch die Gebräuche
der europäiſchen Völker, wie ſie in früheren
Zeiten herrſchten, als der Krieg das Haupt—
geſchäft des Lebens war, mit denen, welche
wir gegenwärtig unter uns beobachten, wo
der Krieg aufgehört hat, dieſe große Rolle
zu ſpielen, ſo tritt dieſelbe Wahrheit zu
Tage.
Ueberdies läßt ſich beobachten, daß ſelbſt
zwiſchen den kriegeriſcheren und den weniger
kriegeriſchen Nationen von Europa entſpre—
—
tQ—— 8 è1 o —0—d——————
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
chende Verſchiedenheiten beſtehen: auf dem
Continent werden alle dieſe Ehrenbezeugun—
gen ausführlicher und eifriger befolgt als in
England. Dafür laſſen ſich Zeugniſſe bei—
bringen; denn von Seiten der höheren Stände,
welche eben jenen herrſchenden Beſtandtheil des
geſellſchaftlichen Baues bilden, der hier ſo gut
wie überall aus kriegeriſchem Weſen hervor—
gegangen iſt, wird dieſen Formen nicht blos
bei Hofe, ſondern auch im Privatverkehr
weit mehr Aufmerkſamkeit geſchenkt als von
Seiten der das induſtrielle Element bilden—
den Claſſen, bei denen gegenwärtig kaum
mehr als die Verbeugung und das Kopf—
nicken zu ſehen iſt. Und dann läßt ſich
die bezeichnende Thatſache beifügen, daß
bei den vorzugsweiſe kriegeriſchen Beſtand—
theilen unſerer Geſellſchaft, der Armee und
der Marine, nicht blos eine Menge vor—
geſchriebener Ehrenbezeugungen viel regel—
mäßiger und ſtrenger beobachtet wird als
bei irgend einem anderen Stande, ſondern
daß überdies bei dem einen von ihnen, der
Marine, die ſich ja ganz beſonders durch
die abſolute Herrſchaft ihrer höheren Offi—
ciere charakteriſirt, noch ein Brauch fort—
beſteht, der in gewiſſen Sitten barbariſcher
Geſellſchaften ſeine nächſte Parallele findet:
in Burmah iſt es geboten, „bei der An—
näherung an den Palaſt ſich mehrmals
niederzumerfen;“ die Dahomeaner führen
dieſe Ceremonie vor dem Thore des Pa—
laſtes aus; in Fidſchi iſt eine tiefe Ver—
beugung das vorgeſchriebene „Zeichen der
Ehrfurcht, das man einem Häuptling oder
ſeinem Gehöfte oder einer Häuptlings-Nie—
derlaſſung zu erweiſen hat;“ und geht man
an Bord eines engliſchen Kriegsſchiffes, ſo
iſt es Sitte, vor dem Hinterdeck den Hut
abzunehmen.
Be
167
Auf ein Minimum find diefe Ceremo—
nien in unſerem Begräbniß- und Kirchen—
Ceremoniell herabgedrückt. Hier ſind die
Ehrenbezeugungen für die Todten, abge—
ſehen von dem Entblößen des Hauptes am
Grabe, vollſtändig verſchwunden und ſo
ergeht es auch den im Cultus vorkommen—
den Ceremonien dieſer Art. Selbſt das
Niederknieen als religiöſe Verehrungsform
iſt bei uns ziemlich außer Gebrauch ge—
kommen; und die unkriegeriſchſte unter unſern
Secten, die Quäker, kennt überhaupt gar
kein religiöſes Ceremoniell mehr.
Der innere Zuſammenhang, den wir
hier für dieſe Erſcheinungen ebenſo wie
früher für ſo manche ähnliche aufdecken
konnten, ſtellt ſich endlich auch ſofort als
der allein naturgemäße dar, wenn wir be—
denken, daß kriegeriſche Verhältniſſe, an ſich
ſchon mehr gewaltſamer Natur, mit Noth—
wendigkeit den ſteten Gegenſatz von Befehlen—
den und Gehorchenden bedingen, und daß alſo,
wo ſolche Verhältniſſe herrſchen, ſprechende
Zeichen der Unterordnung gefordert werden
müſſen, während umgekehrt induſtrielle Ver—
hältniſſe, mögen ſie ſich in den Beziehungen
zwiſchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder
zwiſchen Verkäufer und Käufer ausprägen,
welche ja ſtets nur auf gegenſeitigem Ein—
verſtändniß beruhen können, in ſich nichts
Zwingendes haben, und daher, wo ſie vor—
herrſchen, blos auf Erfüllung der contract—
lich eingegangenen Verpflichtungen Nachdruck
gelegt werden kann; und daraus ergibt ſich
dann von ſelbſt eine immer mehr um
ſich greifende Abnahme im Gebrauche von
Zeichen der Unterordnung.
(Fortſetzung folgt.)
8
Kleinere Mittheilungen und Journallchau.
Der Mars und ſeine Monde.
ie Beobachtungen, zu denen
Mars während ſeiner außeror—
dentlichen Annäherung an die Erde
in den Monaten Auguſt, Septem—
der
| ſcheint, als Wagenlenker zu begleiten (Ilias
ber und Oktober vorigen Jahres den
Aſtronomen und den Aſtrophyſikern Ge—
legenheit bot, dürften nun ziemlich voll—
ſtändig der Oeffentlichkeit übergeben worden
der hauptſächlichſten Ergebniſſe derſelben
verſuchen.
monde.“) Der Vorſchlag, dieſelben Romu—
lus und Remus zu taufen, hat nicht den
Beifall des Entdeckers Prof. Aſaph Hall
Zunächſt noch einige Nachträge
zu der frühern Mittheilung über die Mars
gefunden, er hat ihnen vielmehr die Namen
photometriſche Vergleichung der relativen
zweier anderen Kinder des Kriegsgottes,
Deimos und Phobos (Schrecken und Furcht),
beigelegt. Von ihnen ſagt nämlich Heſiod:
. . . doch dem Ares,
Welcher die Schilde zerbricht, gab Schrecken
und Furcht Kythereia,
Gräßliche Kinder; ſie jagen der Männer ge—
dichtete Reihen,
In dem entſetzlichen Kampf mit dem ſtädte—
verheerenden Ares.
Die Benennung iſt inſofern nicht übel
u) Kosmos II. S. 159.
gewählt, als bei Homer Ares, im Augen—
blicke, wo er ſich anſchickt, zur Erde herab—
zuſteigen, dieſen ſeinen Kindern aufträgt,
die Pferde anzuſchirren und ihn, wie es
N19)
Einer Publication”) des Profeſſor
Eduard C. Pickering in Cambridge ent—
nehmen wir, daß der auf der Sternwarte
des Harward-College angeſtellte Verſuch,
die Durchmeſſer dieſer kleinſten aller be—
fein und wir können eine Zuſammenfaſſung kannten Himmelskörper nach ihrer Lichtſtärke
zu ſchätzen, für den äußern Mond (Dei—
mos) einen Durchmeſſer von 5,9—6 eng—
liſchen Meilen und für den inneren Mond
(Phobos) von 6,5—7 engliſchen Meilen,
alſo ein Verhältniß von 9: 10 ergeben
hat. Dieſe Schätzungswerthe ſind, da es
ein andres Mittel nicht gab, durch eine
Lichtſtärken der Monde mit der des Planeten
ſelbſt bewerkſtelligt worden, und es wurde
dabei angenommen, daß den Trabanten ein
gleiches Vermögen, das Sonnenlicht zurück—
zuſtrahlen, zukomme, wie der Oberfläche
des Planeten ſelbſt.
Die Dauer einer
Rotation des Mars beſtimmte Luiz Cruls
auf dem Obſervatorium von Rio Janeiro
I
*) American Journal of Science V. XV.
Jan. 1878.
aus der Bewegung der in dieſer Zeit
ausgezeichnet genau zu verfolgenden Flecken
zu 24 Stunden 37 Minuten und 34
Secunden, alſo 12 Secunden mehr, als
Beer und Mädler früher gefunden
hatten.“)
Mannigfacher als die rein aſtronomiſchen
ſind die aſtrophyſiſchen Ergebniſſe geweſen,
für deren Zuſammenſtellung wir hauptſäch—
lich einigen Berichten der Monthly Notices
of the Royal Astronomical Society
(Vol. XXVIII. 1 und 2) verpflichtet ſind.
Die Spektral-Analyſe wurde von Maunder
in Greenwich angewendet, um die Beſchaffen—
heit der Mars-Atmoſphäre zu ergründen
und am 23. Auguſt und 26. September
konnte das Spektrum mit dem des in
gleicher Höhe ſtehenden Mondes verglichen
werden. Es zeigten ſich beide Male neben
den Fraunhofer'ſchen Linien ſchwache ver—
waſchne Streifen, die um ſo beſtimmter
auf das Vorhandenſein einer dünnen
Atmoſphäre gedeutet werden können, als
von den acht, im Marsſpektrum beobachteten
Streifen nur drei im Mondſpektrum vorkom—
men. Die verſchiedenen Theile des Planeten
gaben ein in der Intenſität der Farben—
abtheilungen wechſelndes Spektrum, wäh—
rend die Streifen dabei völlig oder beinahe
dieſelben blieben. So erſchien im Spektrum
der Randtheile das rothe Ende blaſſer,
während das Violet ſich von allen Theilen
gleich ſtark erwies und ſich ebenſo weit
erſtreckte wie im Spektrum des Mondes.
Die dunklen Flecken, z. B. der große
„Dawes-Ocean“, ergaben ein dunkleres
Spektrum, namentlich im rothen und gelben
Theile. Im Uebrigen blieben dieſe Flecke
ſich außerordentlich gleich, ſo daß man an—
nehmen muß, Wolkenbildungen und andre
Urſachen, ſachen, welche die Klarheit der Mars⸗
) Comptes Comptes rendus T. LXXXV. p. 1060.
Kosmos, Band III. Heft 2.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
169
atmoſphäre ſtören könnten, müßten verhält—
nißmäßig ſehr ſelten ſein. Auf der Green—
wicher Sternwarte hat man in allen klaren
Nächten der Oppoſitions-Periode Zeich—
nungen der Flecken und ſonſtigen Erſchein—
ungen vorgenommen und dabei nur ſo
geringe Aenderungen bemerkt, daß man
nicht ſicher iſt, ob dieſelben nicht von ge—
ringen Trübungen unſerer eigenen Atmo—
ſphäre, welche die zarteren Details ver—
wiſchen, herrühren könnten.
Nur gegen den Rand des Planeten
ſchienen ſich geringe Aenderungen der Mars—
Atmoſphäre bemerkbar zu machen. Etwa
4“ vom Rande verſchwinden die Zeichnungen,
die man auf Oberflächen-Bildungen des
Planeten bezieht, in der Regel gänzlich,
und der Rand erſcheint als hellerer Ring,
deſſen Glanz ſich aber an einigen Tagen
bis zum gänzlichen Verſchwinden mäßigte.
Ein leichter Wechſel der Atmoſphären—
Durchſichtigkeit ließ ſich auch aus dem ver—
ſchiedenen Anſehen der Farbe, ſowohl der
dunkleren Flecken als der helleren Partieen,
erkennen. Die Farbe der dunklen Flecke
wechſelte zwiſchen blaugrau, olivengrün und
kobaltblau, die der helleren Theile zwiſchen
orange, gelb und ſcharlach. Zuweilen
ſchienen kleinere helle Flecken neu aufzu—
treten, die möglicherweiſe auf Wolkenbild—
ungen gedeutet werden können.
Ganz übereinſtimmende Ergebniſſe lie—
ferten die unter viel günſtigeren Beding—
ungen von Nacht zu Nacht entworfenen
Zeichnungen der unter Green's Leitung
ſtehenden Sternwarte von Madeira. Die
nach dem Rande und nach den Polen hin
allmälig erblaſſenden Details blieben ſich
durch vierzig Nächte, wie die Zeichnungen
beweiſen, mit geringen Abweichungen gleich.
Die beiden Pole ſind bekanntlich ſtets mit
einer mehr oder weniger ſchimmernden Decke
umgeben, deren weißer Glanz ſich deutlich
von dem vorwiegend rothen Lichte der
Scheibe abhebt, und deshalb auf ziemlich
weit ſich erſtreckende Maſſen von Polareis
bisher gedeutet wurde. Dieſe blendend
weiße Maſſe erlitt am Südpol während der
vorjährigen Beobachtungs-Periode eine be—
trächtliche Verminderung, ſo daß ſie nach den
Beobachtungen Cruls in Rio de Janeiro
am 13. October nicht mehr die Hälfte
ihrer früheren Ausdehnung beſaß und nicht
mehr den Rand des Planeten erreichte.
Dieſe auch auf den andern Sternwarten
beobachtete Verminderung der weißen Maſſen,
mögen dieſelben aus Eis, Schnee, oder nur
aus Wolken beſtehen, iſt ſehr erklärlich, da
in dieſer Zeit der betreffende Pol vor—
wiegend von der Sonne erwärmt wurde,
d. h. ſeinen Sommer hatte. Am Rande
dieſer weißen Polarzone zeigten ſich öfter
auch einige iſolirte weiße Flecke, wie Eis—
berge oder an hohen Bergen haftende Wolken,
und andrerſeits bemerkte man Zerklüftungen
des Randes der weißen Zone, als ob dort
dunklere Thäler oder Fjorde ſich hinein—
erſtreckten, während zugleich vorgeſchobene
und ſelbſt ganz getrennte weiße Maſſen
am Rande ſichtbar wurden. 6
Am 21. Auguſt machte man auf Ma—
deira eine ſehr intereſſante Beobachtung,
die auf lebhafte meteorologiſche Proceſſe
in der Mars-Atmoſphäre hindeutete. Man
bemerkte nämlich eine Reihe von Linien,
die eine Meridian-Richtung zeigten und
dem Pole zuſtrebten; dieſelben laſſen ſich
vielleicht auf das Hinfließen kalter Luft—
wegungen alſo, die unſern Paſſaten ver—
gleichbar geweſen wären.
ſtröme nach dem Aequator deuten, Luftbe-
Alle dieſe Beobachtungen führen zu
kosmologiſchen, noch mit phyſikaliſchen Grün-
Schlüſſen, die im Allgemeinen nicht erheblich
| von den bisherigen Anſichten abweichen. In
den leicht in Einklang bringen laſſen. Auch
170 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
einem hohem Maße iſt dies indeſſen der
Fall hinſichtlich der Beobachtungen und
Folgerungen des Herrn John Brett, dem
ein ausgezeichneter Reflector zur Verfügung
ſteht. Dieſer Beobachter bemerkte zuerſt am
28. September, daß die weiße Kuppe des
Poles einen deutlichen Schatten nach Oſten
auf den Planeten warf, und damit ſtimmt
die ältere Beobachtung, die man bisher für
eine Augentäuſchung (durch ſogenannte Irra—
diation) gehalten hat, daß dieſe weiße Maſſe
ſich beiderſeits, im Profil geſehen, über den
Rand des Planeten erhebt. Brett ver—
muthet nunmehr, daß dieſe weiße Maſſe
mit der Veſte des Planeten gar nicht zu—
ſammenhänge, ſondern über derſelben ſchwebe,
er nimmt an, daß ſie aus Dunſt- oder
Wolkenmaſſen beſtehe, die ſich darum einzig
an den Polen zeigen, weil dieſe vielleicht
die einzigen Regionen des Planeten dar—
ſtellen, die kühl genug ſind, um eine an—
ſehnlichere Verdichtung des Waſſerdampfes
der Mars-Atmoſphäre zu geſtatten. Da
man den Mars wegen der gleichbleibenden
Zeichnung ſeiner Oberfläche für einen feſten
Weltkörper halten muß, ſo nimmt Brett
wenigſtens an, daß er ſich noch in Roth—
gluth befinde, und erklärt ſich ſo den tief—
rothen Schein der centralen Theile. Die
ihre Form beibehaltenden dunklen Flecken
müßten dann natürlich für alles andere eher,
als für Meeresbecken angeſehen werden.
Die zwar andauernde aber keineswegs ſehr
vollkommene Durchſichtigkeit der Atmoſphäre
erklärt er ſich durch die höhere Temperatur
derſelben, welche eine Verdichtung des Waſſer—
dampfes, außer an den Polen, nirgends
geſtatten möge.
Dieſe Annahmen würden ſich aber, wie
dem Referenten ſcheinen will, weder mit
erſcheint eine viel wahrſcheinlichere Deutung
dieſer neuen Forſchungsergebniſſe naheliegend
genug. Wenn man nämlich im Gegentheile
annimmt, daß die Atmoſphäre des Mars
nur verhältnißmäßig wenig Waſſerdampf
enthält, ſo wird die Wolkenbildung faſt ganz
auf die Polargegenden beſchränkt werden,
welche letzteren unter ihrer ſelten ſchwinden—
den Wolkendecke mit ewigem Eiſe bedeckt
ſein mögen. Der beobachtete Farbenwechſel
ſowohl der dunklen, als der hellen Flecke
deutet unverkennbar auf einen Zuſammen—
hang mit atmoſphäriſchen Aenderungen.
Wahrſcheinlich haben wir hier überhaupt at—
moſphäriſche Farben, wie Himmelbläue und
Morgenroth. Die helleren Theile der Mars—
oberfläche ſchimmern gelblich oder röthlich,
die dunkleren bläulich durch das trübe Mittel.
Daß die rothe Färbung nicht etwa dem
Geſtein des Mars eigenthümlich iſt, wird
durch den Umſtand widerlegt, daß die
Marsmonde (obwohl aus gleicher Maſſe
beſtehend?) kein rothes, ſondern rein weißes
Licht zurückwerfen, eben weil ſie wahrſchein—
lich keine Atmoſphäre beſitzen. Es läßt
ſich ſogar annehmen, daß die Erde vom
Mars aus an vielen Tagen ein ähnliches
Ausſehen darbieten wird, wie dieſer uns,
nämlich Wolkenmaſſen, die ſich im Winter
von den Polen bis in die gemäßigte Zone
erſtrecken, gleichbleibende Klarheit dagegen
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
giebt es in der ſüdeuropäiſchen und orien—
171
Die geſchlechtliche Zuchtwahl
im Pflanzenreiche.
Die meiſten Schriftſteller, welche ſich
über die Entſtehung der Pflanzenarten aus-
geſprochen haben, ſcheinen der Anſicht
geweſen zu ſein, daß die Bildung neuer
Typen verhindert werde, ſo lange die
Möglichkeit freier Kreuzung zwiſchen den
beginnenden Abänderungen beſtehe. Sie
haben daher angenommen, daß eine
räumliche oder zeitliche Trennung der ver—
ſchiedenen Formen ſtattfinden müſſe, wenn
ſich aus denſelben neue Arten herausbilden
ſollen, da nur in dieſem Falle eine jede
von ihnen ungeſtört ihren eigenthümlichen
Entwickelungsgang verfolgen könne. Daß
eine räumliche Trennung die Einwirkung
zweier Pflanzenformen auf einander ver—
hütet, verſteht ſich von ſelbſt. Denſelben
Erfolg muß indeß auch eine zeitliche Trenn—
ung, d. h. eine Verſchiedenheit der Blüthe—
zeiten, haben. Von beſonderer Wirkſam—
keit iſt natürlich die Einſchiebung einer
Ruheperiode oder Vegetationspauſe zwiſchen
die urſprünglich nahe bei einander liegen—
den Blüthezeiten verwandter Formen. So
taliſchen Flora einige Gattungen (Crocus,
Bulbocodium, Erica), deren Arten theils
im Herbſte, theils im Frühjahr blühen.
nur in den Aequatorial-Gegenden. Freilich
dürften dabei Trübungen der Erdkarte auch
in den Aequatorialgegenden häufiger vor-
kommen, aber dies kann recht wohl auf
einen durchſchnittlich größeren Waſſergehalt
unſerer Atmoſphäre bezogen werden. Auch
auf dem Erdbilde wird ſich im Polarſommer
die weiße Wolkenſchicht dieſer Zonen ver-
kleinern.
In dieſem Falle iſt offenbar die Einwirk—
ung der frühen und ſpäten Arten auf
einander vollſtändig unmöglich. Die Blüthe—
zeiten nahe verwandter Arten oder ver—
ſchiedener Exemplare einer und derſelben
Art rücken übrigens auch mitten im Som—
mer manchmal beträchtlich aus einander.
Unter Umſtänden keimen die früh gereiften
Samen einer Pflanze eher als die ſpät
gereiften, ſo daß die aus erſteren hervor—
gehenden Keimpflanzen vor Eintritt des
172 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau
Winters bereits ſehr kräftig entwickelt ſind
und daher im nächſten Jahre auch eher
zur Blühreife gelangen. Frühes Blühen
kann ſomit manchmal erblich werden, ohne
daß ſich die Conſtitution der Pflanze ſelbſt
irgendwie verändert. Bei einer wirklich ho—
mogenen Art wird dies Verhalten an und
für ſich zu keinen Abänderungen führen;
dagegen kann es bei variablen Formen mit
beginnender Sonderung der Raſſen von
großer Bedeutung werden und die Ent—
wickelung ſelbſtſtändiger Typen weſentlich
begünſtigen. Die Erſcheinung der Ver—
frühung oder Verſpätung der Blüthezeit
iſt beſonders durch A. Kerner näher
gewürdigt und als Aſyngamie bezeichnet
worden. Es iſt indeß wichtig, verſchiedene
Reihen von Thatſachen aus einander zu
halten. So giebt es z. B. von allen
Getreidearten klimatiſche Varietäten, welche
den Lebenskreislauf von der Keimung bis
zur Fruchtreife in ungewöhnlich kurzer Zeit
vollenden. In Gegenden mit rauhem Klima
(Gebirgslagen, nordiſche Länder) entſtanden,
behalten ſolche Varietäten die Schnellwüchſig—
keit wenigſtens durch eine Reihe von Ge—
nerationen auch unter milderen Himmels—
ſtrichen bei. Entſprechende Erfahrungen
machte Kerner bei Alpenpflanzen aus
höheren Lagen. Solche unter klimatiſchem
Einfluſſe erworbene Unterſchiede in der
Blüthezeit ſtehen im Allgemeinen nicht im
Zuſammenhange mit einer Neigung zu
morphologiſcher Abänderung. Dagegen
pflegen conſtante und erbliche Unterſchiede
in der Blüthezeit bei Pflanzen, die unter
gleichen Verhältniſſen wachſen, untrennbar
verbunden zu ſein mit Eigenthümlichkeiten
der äußeren Bildung. Es läßt ſich in ſolchen
Fällen nicht entſcheiden, ob die Verſchiebung
der Blüthezeit als Urſache oder als Symp- |
tom einer beginnenden Abänderung aufzu—
=
faffen iſt. Vielleicht ift fie manchmal beides
zugleich; jedenfalls kann auch das Symptom
oder die Eigenſchaft für die raſchere Aus—
prägung und Fixirung einer neuen Form
beſonders wichtig werden.“
So treffend viele Bemerkungen Ker—
ner's über die Bedeutung der Aſyngamie
auch ſind, ſo geht dieſer Autor doch gewiß
zu weit, wenn er glaubt, daß Variationen,
welche nicht räumlich oder zeitlich iſolirt
ſeien, ſchwer zu Ausgangspunkten neuer
Arten werden könnten, weil ſie durch Kreuz—
ungen mit den Stammformen zuſammen—
fließen müßten. Dieſe Meinung kann ich
nicht theilen. Als Beiſpiel führt Kerner
die Gattung Rubus an, in welcher es
keine aſyngamiſchen Individuen gebe. Allein
die Formenkreiſe der Rubi verhalten ſich
nicht anders als die der Gattung Hiera-
cium, aus welcher Kerner gerade die
erſten Beiſpiele von Aſyngamie entnommen
hat. Weit entfernt, die Bedeutſamkeit der
Aſyngamie für die Bildungsgeſchichte der
Arten in Abrede ſtellen zu wollen, bin ich
doch der Anſicht, daß die Natur ein noch
einfacheres Mittel beſitzt, um einer Ver—
miſchung beginnender Arten entgegen zu
wirken. Viele Beobachter haben ſich dar—
über gewundert, daß man verhältnißmäßig
ſelten Miſchlinge zwiſchen den nächſtver—
wandten Formen antrifft, ja man hat aus
ſolchen Wahrnehmungen die Regel ableiten
wollen, daß ein gewiſſer Betrag von ſpe—
cifiſcher Verſchiedenheit die Baſtardbildung
begünſtige. Beſonders nachdrücklich iſt dieſe
Behauptung durch Alexis Jordan aus—
geſprochen worden, ohne Zweifel den beſten
Kenner der engſten Formenkreiſe. Die
Regel hat indeß auch ihre Ausnahmen,
da z. B. Phyteuma spieatum und Ph,
nigrum, ſowie die verſchiedenen Taraxacum-
Raſſen beim Zuſammentreffen an denſelben
— ͤ ß . W-
Standorten faſt immer deutliche Miſch—
formen liefern. Auch bei vielen Kultur—
pflanzen iſt nach den Erfahrungen der
Gärtner Reinzucht und IJſolirung noth-
wendig, wenn man die Raſſen beſtändig
erhalten will. Jene Regel hat ſomit nur
eine beſchränkte Gültigkeit und geſtattet
zahlreiche Ausnahmen; die Thatſachen, auf
welche ſie ſich bezieht, werden ſich ferner
bei näherer Unterſuchung wahrſcheinlich ſehr
wohl erklären laſſen, ohne daß man nöthig
hat, eine ebenſo myſteriöſe wie capriciöſe
Regel zu Hilfe zu nehme. Unmittelbarer
Umſchlag der einen Form in die andere,
ſowie Fortpflanzung durch Selbſtbefruchtung
ſind gewiß als häufige Urſachen des Fehlens
von Zwiſchenformen anzuſehen.
Weitere Fingerzeige für die Beurtheil—
ung dieſer Thatſachen giebt die Beobachtung
der zufällig entſtandenen Baſtarde zwiſchen
je zwei nicht allzu nahe verwandten Arten.
Wer nach Hybriden ſucht, wird dieſelben
verhältnißmäßig ſelten an ſolchen Plätzen
antreffen, wo zwei zur Kreuzung geneigte
Arten in großer Menge durch einander
wachſen. Viel leichter erfolgt die Baſtard—
bildung dort, wo die eine der Stammarten
häufig, die andere ſparſam vorhanden iſt.
Die Erklärung dieſer Erſcheinung iſt nicht
ſchwierig. Läßt man den eigenen Blüthen—
ſtaub des betreffenden Exemplars unberück—
ſichtigt, ſo wird bei dichtem Durcheinander—
wachſen und gleicher Häufigkeit beider Arten
jede Narbe durchſchnittlich ebenſo viel frem—
den Blüthenſtaub der eigenen Art wie der
fremden Art erhalten. Von der iſolirt
wachſenden Pflanze wird dagegen jede Narbe
außer dem Blüthenſtaub des eigenen Exem⸗
plars nur ſolchen der fremden Art em—
pfangen. Offenbar ſind in dieſem letzten
Falle die Ausſichten für die Baſtardbild—
ung viel günſtiger. Es verſteht ſich übri—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Art Anwendung, ſobald für jede der
gens von ſelbſt, daß auch in Bezug auf
die Wahrſcheinlichkeit von Hybridiſationen
eine zeitliche Iſolirung ebenſo wirkt wie
eine räumliche. Einzelne verfrühte oder
verſpätete Blüthen der einen Art können
natürlich leicht hybridiſirt werden, wenn
die andere Art noch in vollem Flor ſteht.
Alles was von dem Verhalten ver—
ſchiedener Arten zu einander gilt, findet
auch auf zwei verſchiedene Raſſen derſelben
Blüthenſtaub der eigenen Raſſe eine größere
Befruchtungsfähigkeit beſitzt als der der
fremden. Falls dieſe Vorausſetzung zu—
trifft, können zwei gleichzeitig blühende
nächſtverwandte Pflanzenformen in größter
Menge durch einander wachſen, ohne daß
eine nennenswerthe Zahl von Blendlingen
entſteht. Für jede der Raſſen kann der
Blüthenſtaub der anderen durchaus geeignet
zu vollkommener Befruchtung ſein, ohne
daß in Wirklichkeit Kreuzung ſtattfindet;
der Grund dieſer Erſcheinung liegt einfach
darin, daß für jede Raſſe der eigene
Blüthenſtaub den fremden an Wirkſamkeit
noch übertrifft. Jedes Inſekt, welches eine
Blüthe beſucht, wird in derſelben gewöhn—
lich einige Pollenkörner aus mehreren früher
beſuchten Blüthen auf der Narbe zurücklaſſen;
von dieſen gleichzeitig zugeführten Pollenkör—
nern verſchiedener Abſtammung werden nur
die geeignetſten die Befruchtung wirklich voll—
ziehen. Es findet daher auf der Narbe
ein Wettkampf zwiſchen den verſchiedenen
Pollenſorten ſtatt und der Ausgang dieſes—
Wettkampfes hängt von der geſchlechtlichen
Anpaſſung zwiſchen Blüthenſtaub und weib—
lichen Organen ab. Für jede Modification
im Bau und im Chemismus eines Stem-
pels und einer Narbe muß eine beſtimmte
Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes die denk—
bar größte Befruchtungsfähigkeit 3
174
Es gründet ſich dieſe Behauptung aller—
dings auf eine bisher nicht mit voller
Schärfe zu beweiſende Annahme, nämlich
darauf, daß in der That merkliche Unter—
ſchiede in der Wirkſamkeit verſchiedener
Pollenſorten, die den Formen einer und
derſelben Art entſtammen, vorhanden ſind.
Solche Unterſchiede ſind bisher nur in
wenigen Fällen beſtimmt nachgewieſen wor—
den, aber alle bekannten Thatſachen ſprechen
dafür, daß ſie ganz allgemein vorhanden
ſind. Es genügt, an einige bekannte Er—
fahrungen zu erinnern. Der Blüthenſtaub
der eigenen Art iſt im Allgemeinen ſtets
wirkſamer als der einer fremden. Auch
in Fällen, in welchen bei Ausſchluß des
eigenen Pollens eine Hybridiſation leicht
und ſicher erfolgt, findet eine ſolche doch
niemals ſtatt, ſobald fremder Blüthenſtaub
der eigenen und der fremden Art gleich—
zeitig auf die Narbe gelangen. Anderer—
ſeits giebt es eine Anzahl Pflanzen, deren
Stempel durch den Blüthenſtaub der eigenen
Blüthe oder ſelbſt des eigenen Exemplars
entweder gar nicht oder doch nur ſchwierig
befruchtet werden können. In ſolchen Fällen
erfolgt nicht ſelten Hybridiſation leichter als
Selbſtbefruchtung. Aus dieſen Thatſachen
erhellt, daß ſowohl zu ferne, als auch in
geſchlechtliche Verbindung erſchwert oder
ſelbſt ganz verhindert. Ein anderer be—
achtenswerther Umſtand iſt, daß bei Ge—
wächſen mit dimorphen oder trimorphen
Blüthen die größeren Pollenkörner ſtets
zur Befruchtung der längeren Griffel be—
ſtimmt ſind, die kleineren zur Befruchtung
der kürzeren. Auch durch Vergleichung der
betreffenden Organe bei nahe verwandten
Arten findet man, daß größere Pollenkörner
und längere Griffel einander zu entſprechen
pflegen. Da in dieſen Fällen nur die ab—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
ſolute Griffellänge in Betracht kommen
kann, ſo iſt es z. B. auch in hohem
Grade wahrſcheinlich, daß ein üppiges,
großblumiges, daher auch langgriffliges
Exemplar einer beſtimmten Art leichter
durch etwas größere Pollenkörner derſelben
Art befruchtet werden wird, als durch die
normalen. Es handelt ſich in dieſen Fällen
offenbar um ein rein mechaniſches Moment;
weit ſchwieriger iſt es, die chemiſche oder
conſtitutionelle Affinität zwiſchen den Sexual—
organen zu beurtheilen. Da jedoch, wie
gezeigt, derartige Verſchiedenheiten beſtehen,
ſo iſt an der Richtigkeit der oben gemachten
Vorausſetzung nicht zu zweifeln: Für jede
Abänderung in den weiblichen Organen
muß eine entſprechende Abänderung im
Blüthenſtaube die größtmögliche Befrucht—
ungsfähigkeit beſitzen.
Kehren wir zu dem Ausgangspunkte
unſerer Betrachtungen zurück, ſo wird nach
den vorſtehenden Auseinanderſetzungen die
Fixirung der Varietäten einer variabeln
Art nicht nur durch räumliche oder
zeitliche Trennung ihrer Blüthen erfol—
gen können, ſondern auch durch geſchlecht—
liche, alſo dadurch, daß jede einen ihr
beſonders angepaßten Blüthenſtaub erwirbt.
Daß ſich innerhalb plaſtiſcher Arten unter
manchen Fällen zu nahe Verwandtſchaft die
den zahlloſen Abänderungen derartige in—
timere Anpaſſungen zwiſchen den Sexual-
organen einzelner Varietäten herausbilden
können, wird man gewiß nicht für un—
wahrſcheinlich halten. Daß ſich ſolche An—
paſſungen wirklich herausgebildet haben,
wird man glaublich finden, wenn man die
oben angeführte Erfahrung berückſichtigt,
Seelſtbefruchtung und Kreuzbefruchtung geben
daß fo viele nahe verwandte Formen jo
wenig Neigung zu gegenſeitiger Hybridiſa—
tion zeigen.
Die Erfahrungen Darwin's über
der Hoffnung Raum, daß es gelingen wird,
durch richtig geleitete Verſuchsreihen be—
ſtimmte Aufſchlüſſe über die Wirkſamkeit
verſchiedener Pollenſorten auf die weiblichen
Organe verſchiedener Raſſen derſelben Art
zu gewinnen. Ein wiſſenſchaftlicher Ver—
ſuchsgarten würde höchſt fruchtbare Forſch—
ungen über dieſe Fragen ermöglichen.
Wenn die obigen Erwägungen richtig
ſind, ſo laſſen ſich aus denſelben noch einige
Folgerungen ableiten. Es läßt ſich näm—
lich daraus ſchließen, daß geſellig entſtan—
dene Raſſen nicht leicht durch einander hy—
bridiſirt werden können und zwar deshalb
nicht, weil eine ſexuelle Sonderung zu ihrer
Entwickelung nothwendig war. Haben ſich
jedoch zwei Formen unter dem Schutze der
Aſyngamie oder ſtandörtlicher Trennung
zu beſonderen Raſſen entwickelt, ſo iſt es
nicht nothwendig, daß ſie den eigenen Blü—
thenſtaub unbedingt dem fremden vorziehen.
Es iſt z. B. der Fall denkbar, daß der
Blüthenſtaub der einen Form dem der
anderen entſchieden überlegen iſt und zwar
nicht nur für die eigene, ſondern auch für
die fremde Raſſe. Vielleicht bieten uns
die beiden Weidenarten Salix fragilis und
8. alba ein Beiſpiel dieſer Art. Die in
Bergthälern Europas heimiſche Knackweide
(S. fragilis) wird häufig durch Flüſſe,
gelegentlich auch durch Menſchen, in die
Ebenen hinabgeführt und trifft dort mit
der wahrſcheinlich Anfangs durch Anbau
verbreiteten weißen Weide (S. alba) zu—
ſammen, durch welche ſie in ausgedehnteſtem
Maße Hybridifirt wird. Die echte Knack—
weide würde in den Ebenen allmälig ver—
ſchwinden, wenn ſie nicht durch Zuzug aus
den Bergthälern erſetzt würde.
Die organiſche Lebensthätigkeit richtet
ſich auf zwei Zwecke: Selbſterhaltung und
Fortpflanzung.
Da von jeder Species
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
173
nur ein Theil der möglichen Nachkommen—
ſchaft zur Entwickelung gelangen kann und
da bei den ſexuell differenzirten Organis—
men ſtets ein Ueberſchuß von männlicher
Befruchtungskraft vorhanden iſt, ſo muß
nothwendig ſowohl ein Kampf ums Daſein
als auch ein Kampf um die Fortpflanzung
ſtattfinden. Der Kampf um die Fort—
pflanzung nimmt ſehr verſchiedene Formen
an. Im Pflanzenreiche tritt er in zweier—
lei Geſtalt auf, nämlich als Wettkampf um
die Transportmittel, die den Blüthenſtaub
auf die Narbe bringen, und als Wettkampf
um die Vollziehung der Befruchtung zwi—
ſchen den auf die Narbe gelangten Pollen—
körnern. Der Wettkampf um die Trans—
portmittel iſt vielfach ſtudirt worden; die
Blüthen haben durch ihn Geſtalt, Farbe,
Nectar und Duft erhalten. Der Wett—
kampf auf der Narbe kann direct nur
auf den Blüthenſtaub und allenfalls auf
die weiblichen Organe von Einfluß ſein.
Da er aber dahin führt, daß die Befrucht—
ung zwiſchen den einander am beſten ange—
paßten Organen ſtattfindet, ſo begünſtigt
er diejenigen Exemplare und diejenigen
Raſſen, welche Inhaber ſolcher gut ange—
paßten Organe ſind, und hindert deren
Vermiſchung mit anderen Raſſen. Im
Thierreiche herrſchen ganz analoge Verhält—
niſſe. Gleich wie der Kampf um das
individuelle Daſein die natürliche Ausleſe
und dadurch die natürliche Züchtung zur
Folge hat, ſo bedingt der Kampf um die
Fortpflanzung die geſchlechtliche Ausleſe und
geſchlechtliche Züchtung. Der Begriff der
geſchlechtlichen Zuchtwahl iſt bisher weit
enger gefaßt worden, weil man zunächſt
namentlich die Entwickelung der ſexuellen
Charaktere ins Auge gefaßt hatte. Die
Herausbildung der acceſſoriſchen Geſchlechts—
merkmale iſt jedoch nur eine einzelne Wirk—
176
ung des Kampfes um die Fortpflanzung,
ſo daß ſich meiner Anſicht nach die hier
vorgeſchlagene Erweiterung des Begriffes
der geſchlechtlichen Züchtung von ſelbſt
rechtfertigt. Die in vorſtehenden Zeilen
näher betrachtete Erſcheinung des Wett—
kampfes der Pollenkörner auf derſelben
Narbe iſt indeß der geſchlechtlichen Zucht—
wahl in engerem Sinne, wie ſie bei den
höheren Thieren ſtattfindet, durchaus ana—
log, allerdings abgeſehen von dem Um—
ſtande, daß bei den Thieren oft ein activer
Kampf ſtattfindet und daß der Wettkampf
unter ihnen oft durch ein äſthetiſches, alſo
ein pſychiſches Moment entſchieden wird.
Der weibliche Theil nimmt bei Thieren
wie bei Pflanzen nur dadurch am Wett—
kampfe theil, daß er gewiſſe Nebenbuhler
begünſtigen kann. Dies mehr paſſive Ver—
halten des weiblichen Elements läßt einen
Vergleich zu, der freilich nur einſeitig iſt,
aber einen Theil der betreffenden That—
ſachen ſcharf beleuchtet. Der Wettkampf
der verſchiedenartigen Pollenkörner auf den
verſchiedenen Narben läßt ſich nämlich ver—
gleichen mit dem Wettkampfe zwiſchen ver—
ſchiedenen Sämereien auf verſchiedenen
Bodenarten. Wie die beſondere Beſchaffen—
heit eines jeden Bodens beſtimmte Säme—
reien und die daraus hervorgehenden Pflan—
zen begünſtigt oder ausſchließt, ſo begünſtigt
oder hindert auch die Beſchaffenheit der
Griffel und Narben die Keimung und die
Wirkſamkeit gewiſſer Pollenſorten. Die
nothwendige Folge davon iſt eine genaue
geſchlechtliche Anpaſſung, wie im anderen
Falle die Anpaſſung zwiſchen den verſchie—
denen Bodenarten und den eigenthümlichen
Floren, welche auf ihnen gedeihen.
Bremen. W. O. Focke.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Die Vorkeime von
Gymnogramme leptophylla Desv.
Am Schluſſe einer längeren Arbeit über
die Entwickelungsgeſchichte der Gymno-
gramme leptophylla, eines Mittelmeer-
Farns, der jedoch auch verſprengt im üb—
rigen Europa z. B. in Meran und in
Jerſey vorkommt, und ſich dadurch aus—
zeichnet, daß ſeine Vorkeime durch adventive
Sproſſungen ausdauernde krauſe Raſen
bilden, während die Wedel (dev ſonſt aus—
dauernde Theil der Farnkräuter) nach der
Sporenbildung alsbald abſterben, macht
Dr. Carl Goebel einige für die Stamm—
geſchichte der Farne intereſſante Bemerkungen,
die wir in faſt wortgetreuem Auszuge mit—
theilen wollen:
„Man hat bisher die Vorkeime ledig—
lich als Träger der Sexualorgane der
Farne aufgefaßt. Die Beobachtung der
Vorkeime von Gymnogramme leptophylla
(und Osmunda regalis) zeigt aber, daß
dem Prothallium unter Umſtänden auch
eine ganz ſelbſtſtändige Vegetation zukommt.
Daß dieſe unterbleibt, wenn ein Embryo
entwickelt wird, das hat ſeinen einfachen
phyſiologiſchen Grund darin, daß dieſer
jetzt alle Nährſtoffe, welche vom Prothallium
aſſimilirt werden, in Anſpruch nimmt. Es
iſt dies ein ähnliches Verhältniß, wie das,
welches eintritt, wenn das Wachsthum
einer phanerogamiſchen Blüthenachſe durch
eine Terminal-Blüthe beendigt wird ...
Es iſt nicht zu verkennen, daß das
Verhältniß zwiſchen geſchlechtlicher und un—
geſchlechtlicher Generation bei dem be—
ſprochenen Farn ein andres iſt, als bei
den meiſten andern Farnen. Die geſchlecht—
liche Generation iſt es hier, die eigentlich
dauernd vegetirt, auf ihr erſcheint die un—
geſchlechtliche, wie das Moosſporogonium
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
auf dem Moospflänzchen. Dieſe unge—
ſchlechtliche Generation hat einen ſehr ein—
fachen Bau und eine ſehr begrenzte Exiſtenz.
Die zarten durchſcheinenden Wedel beſtehen
aus drei Zellſchichten. Die Blattfläche wird
von der beſchreibenden Botanik als kahl be⸗
zeichnet, ſie zeigt aber, namentlich auf der
Oberfläche, außer den bei den Farnen ſo
häufigen Drüſenhaaren, lange ſpitze, ein—
bis zweizöllige Haare ...
chen iſt kaum angedeutet . . . und erreicht
ſelten eine größere Länge als 5 Millime—
ter .. . die ganze ſporenbildende Generation
bei Meran im October nur Prothallien
Das Stämm⸗
und im Mai iſt die Pflanze abgeſtorben.
An kräftigen Herbarien-Exemplaren tragen
ſchon die allerunterſten Blättchen, die un—
getheilt, rundlich ſind, einzelne Sporen—
häufchen; die ganze Farn-Pflanze geht alſo
hier in der Sporenbildung auf. Es er—
innert dieſes Verhältniß an das bei den
Mooſen vorkommende Verhältniß zwiſchen
geſchlechtlicher und ungeſchlechtlicher Gene-
ration. Iſt es doch gerade der Umſtand
daß bei den Mooſen die geſchlechtliche Gene-
ration das eigentlich Vegetirende, die un-
geſchlechtliche dagegen ein vorübergehendes,
nur zur Sporenbildung beſtimmtes Glied
iſt, was die Kluft zwiſchen Mooſen und
Gefäßkryptogamen als eine ſo tiefe erſcheinen
läßt. Auf der Seite der Mooſe zeigt An-
thoceros allein eine Annäherung an die bei
den Gefäßkryptogamen (d. h. den Farnen
und Bärlapp-Gewächſen) ſtattfindenden Ver— |
hältniſſe. Das Sporogonium von Antho-
ceros nämlich wächſt in feiner baſalen Partie
fort und bildet hier neue Sporen, während
1.
zeitig. Hat ſo bei Anthoceros die ungeſchlecht—
liche Generation eine Eigenthümlichkeit, die
an das lange andauernde Wachsthum der—
ſelben Generation bei den Gefäßkrypto—
gamen erinnert, jo hat andererſeits Gymno-
gramme leptophylla eine ungeſchlechtliche
Generation, die faſt ausſchließlich der Pro—
duction von Sporen dient. Dagegen iſt
hier wie bei Anthoceros und den Mooſen
im Allgemeinen die geſchlechtliche Generation
das eigentlich Vegetirende, die geſchlechtliche
Generation iſt es, die perennirt. Außer-
dem aber zeigt dieſelbe auch eine höhere
vegetirt nur wenige Monate; Milde ſah
morphologiſche Differenzirung, als ſonſt von
Farnprothallien bekannt iſt, eine Differen-
zirung, die an diejenige der Vorkeime von
Osmunda regalis erinnert. Will man auch
keinen Werth darauf legen, daß Gymno-
gramme flächenbürtige Adventivpſproſſen be—
ſitzt, wie Anthoceros punctatus, betrachtet
man ferner das Auftreten einer beſondern,
Archegonien tragenden Sproſſung bei ymno—
gramme als reine Anpaſſungserſcheinung
(an die Scharf geſchiedenen Herbſt- und Früh—
jahrs-Vegetationsperioden der Mittelmeer—
länder), ſo iſt doch nicht zu verkennen, daß
die bei Gymnogramme und Osmunda auf-
tretende Verzweigung des Prothalliums
ein Merkmal höherer morphologiſcher Dif—
ferenzirung iſt. Durch dieſe ſchließen ſich
dieſe Prothallien, wie ſchon in ihrem Habitus
an die ſogenannten Lebermooſe, ſpeciell
an Anthoceros und Pellia an ... In der
That gleichen die dichotom verzweigten
Osmunda-Vorkeime ganz einem Thallus
von Pellia epiphylla.
Allerdings iſt das Prothallium gewöhn—
lich nur der Träger der Geſchlechtsorgane.
die des oberen Theiles längſt gereift ſind.
Bei den übrigen Mooſen dagegen wird das
Sporogonium ein für alle Mal fertig ge |
Faßt man aber in's Auge, wie in der Reihe
der Archegoniaten die geſchlechtliche Gene—
ration, die bei den Mooſen noch relativ hoch
bildet und entwickelt ſeine Sporen gleich- differenzirt iſt, immer mehr zurücktritt, je
8
Kosmos, Band III. Heft 2.
23
zu >
178
höher die ungeſchlechtliche Generation aus—
gebildet iſt — ein Verhältniß, welches man
ſich durch eine Rückbildung der geſchlecht—
lichen Generation erklären kann —, ſo wird
es kaum zweifelhaft ſein, daß man auch die
Farnprothallien in ihrer jetzigen Form als
theilweiſe rückgebildete Nachkömmlinge einer
lebermoosähnlichen Stammform wird auf—
zufaſſen haben. In den oben beſchriebenen
Fällen aber ſehen wir, daß es Farnpro—
thallien giebt, die in der That noch eine
lebermoosähnliche Differenzirung zeigen.
(Botaniſche Zeitung, 35. Jahrgang
Nr. 42, 43, 44. — 1877.) Zum Schluſſe
wollen wir nicht unterlaſſen, darauf auf-
merkſam zu machen, daß dieſe Beobachtungen
eine gute Unterſtützung bilden für die unſres
Wiſſens zuerſt von Dr. Hermann Müller |
könnten. In der That giebt es ein ſolches
ausgeſprochene Anſicht über das genealo—
giſche Verhältniß der Farne zu den Leber-
ſchwach duftender Blume. Allein auch dieſe
mooſen. (Kosmos I. S. 104.)
In Blumen gefangene Schwärmer.
Die Arten der im wärmeren Aſien
heimiſchen Gattung Hedychium werden
ausſchließlich durch Schmetterlinge befruchtet,
wie ihre lange enge Blumenröhre beweiſt.
Eine der hier eingeführten Arten, mit |
leuchtend rothen geruchloſen Blumen, hat,
ſich in wunderbar vollkommener Weiſe der
Uebertragung des Blüthenſtaubes durch die
Flügel langrüſſelicher Tagfalter angepaßt;
ſie iſt bis jetzt die einzige Pflanze, bei der
man dieſe eigenthümliche Art der Beſtäub—
ung beobachtet hat. *)
Eine zweite Art, mit größeren, rein
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
das Maß der Tagfalterrüſſel weit über—
ſteigender Blumenröhre, wird fleißig beſucht
von Schwärmern mit entſprechend langem
Rüſſel. Doch wird dieſen Schwärmern
der Zugang zum Honig nicht ſelten ver—
ſperrt durch unberufene Gäſte. Ein ſchmales
kurzflügliges, ſchwarzes Käferchen, das ſich
in Menge auf allen möglichen Blumen
einzufinden pflegt, dringt häufig auch in
die Blumenröhre des weißen Hedychium
und neben ihm bleibt dann kein Raum für
den Rüſſel der Schwärmer.
Falls in der Heimat der Hedpchien
ein ähnlicher Käfer gleich häufig die Arbeit
der die Beſtäubung vermittelnden Schwär—
mer ſtört, würde die natürliche Ausleſe die
Entſtehung engerer Blumenröhren begünſti—
gen, in denen keine Käfer ſich feſtſetzen
engröhriges Hedychium mit hellgelber,
für Käfer unzugänglichen Blumenröhren
haben ihre Gefahren, — für die Schwär—
mer, wie für die Blumen. Ineidit in Seyllam,
qui vult evitare Charybdim. Größere
Schwärmer mit langem und verhältnißmäßig
dickem Rüſſel vermögen dieſen in die enge
Röhre wohl einzuführen, aber nicht — oder
doch nicht immer — wieder herauszuziehen
und ſind dann einem langſamen Hunger—
tode preisgegeben. Macrosilia rustiea und
Antaeus ſcheinen nicht ſelten dieſem Schick—
ſale zu erliegen; andere Schwärmer habe
ich noch nicht als Gefangene des Hedychium
getroffen. Einer meiner Freunde fand ein—
mal in ſeinem Garten die eiförmigen Blü—
tenähren dieſes Hedychium ringsum be—
weißen, beſonders Abends ſtark duftenden
Blumen und etwa 0,1 Meter langer, alſo
Vergl. Hermann Müller in: Nature,
Vol. XIV. p. 173. — 1876.
hangen mit gefangenen, zum Theil ſchon
todten Schwärmern. Ich ſelbſt ſah noch
vor Kurzem (am Morgen des 30. Januar)
ein Männchen von Maerosilia Antaeus
zwiſchen den Blumen des gelben Hedychium
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
hangen; es ſchien todt; doch als ich die
Blütenähre abſchnitt, begann es wieder zu
ſchwirren und, anſehnliche Duftpinſel am
Grunde des Hinterleibes entfaltend, einen
ſtarken Geruch zu verbreiten, der mehr an
den der Beutelratten als an Moſchus er-
Welche vergeblichen Anſtrengungen
innerte.
das Thier ſchon gemacht hatte, um ſich zu
befreien, dafür zeugte der Zuſtand der
Blume, in deren Röhre fein Rüſſel feſtſaß.
Blumenblätter, Staubbeutel, Narbe waren
vollſtändig zerſtört und nichts übrig ge—
blieben, als die dickwandige und durch feſte
Deckblätter geſchützte Blumenröhre. Alle An—
I
|
|
|
|
|
|
|
|
|
ſtrengungen aber ſchienen nur dazu gedient zu |
haben, den Rüſſel immer tiefer in die enge
Röhre hineinzuzwängen; denn es war der
90 Millimeter lange Rüſſel nicht nur bis
zum Grunde der 65 Millimeter langen
Blumenröhre vorgedrungen, ſondern ſeine
Spitze hatte ſich ſogar von da in einer
Länge von 8 bis 10 Millimeter wieder
aufwärts gebogen. —
Während ſonſt ſüßer Nectar die Kerfe
lohnt, die als Liebesboten den befruchtenden
Staub von Blume zu Blume tragen, führt
hier die Begegnung von Schmetterling und
Blume zu gegenſeitigem Verderben. Wie
mag es in der Heimat des Hedychium
ſein? Ob auch dort in gleicher Weiſe ge—
fährdete Schwärmer leben und ob dieſe etwa
die Gefahr kennen und meiden gelernt haben?
Ich empfehle dieſes Beiſpiel der an den
Honig ſpendenden Blumenröhren zum Ver—
derben der Blume und zu eigenem lang—
ſamen Hinſterben aufgehängten Schwärmer
zur Beachtung erſtens frommen Gemüthern,
die auch in den Wechſelbeziehungen zwiſchen
Blumen und Kerfen das Walten einer all—
weiſen, allgütigen Vorſehung zu bewundern
lieben, und zweitens Freunden des nie irrenden
Unbewußten, denen zufolge „das Hellſehen
11708,
des Inſtinktes ja gerade immer ſolche Punkte
betrifft, welche die bewußte Wahrnehmung
überhaupt nicht zu erreichen vermag“. “) Hier
wäre ein ſolcher Punkt, „für welchen der
Mechanismus der ſinnlichen Erkenntniß nicht
ausreicht“; die todtbringende Enge der Blu—
menröhre, zu der ein einladend weiter Ein—
gang führt, iſt von außen nicht zu erkennen;
aber kein unbewußtes Hellſehen warnt den
Schwärmer und kein Gott erlöſt mitleidig
die nutzlos verſchmachtenden Opfer.
Itajahy, 28. Februar 1877.
Fritz Müller.
Die Ackerbau treibenden Ameiſen
in Texas.
Herr H. C. MeCook hat der Aka—
demie der Naturwiſſenſchaften in Philadel—
phia über die Gewohnheiten dieſer höchſt
ſonderbaren und intereſſanten Ameiſen
(Myrmica molefaciens Buckley M. bar-
bata Smith) eine Arbeit eingereicht, aus
der die nachſtehenden Einzelheiten entnommen
ſind. Der Verfaſſer hatte im Sommer
1877 an einem Orte unweit Auſtin in
Texas auf dem Tafellande im Südweſten
des Colorado-River und ſeines Nebenfluſſes
Barton-Creek inmitten einer großen Anzahl
der Hügel dieſer Ameiſen Aufenthalt ge—
nommen, um ihre Gewohnheiten ſorgſam
zu ſtudiren. Aus der ſchwarzen und zähen
Bodenſchicht, deren Tiefe von wenigen Zoll
bis zu drei Fuß ſteigt, tritt hier und da
Kalkſteinfelſen hervor. Die Anſiedlungen
der Ameiſen waren ſehr zahlreich und längs
der Wege auf den Feldern, ſowie auch auf
den Straßen und Fußpfaden, ſelbſt in den
Gärten und Höfen von Auſtin; ja eine
* Hartmann, Philoſ. des Unbewußten.
VI. Aufl. S. 368.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
180
derſelben wurde ſogar auf dem ſteinge—
pflaſterten Hofraume eines dortigen Hotels
beobachtet. Es ſind gewöhnlich flache, kreis—
förmige Landſtücke, mit hartem oder locke—
rem Boden, von denen einzelne in ihrem
Centrum niedrige Hügel aufweiſen, die aus
Kieskörnchen von 2—3 Gran Gewicht
aufgeſchichtet ſind. Die Feldſtücke wechſeln
in der Ausdehnung, gewöhnlich haben ſie
einige Fuß Durchmeſſer. Drei bis ſieben
Wege ſtrahlen von ihnen aus und führen
in das umgebende Pflanzendickicht. Dieſe
Straßen ſind oft von beträchtlicher Länge
und während der Werkſtunden mit einem
Gewimmel kommender und gehender Ameiſen
bedeckt. Die Letzteren halten während der
Mittagshitze Sieſta, indem ſie allgemein
gegen zwölf Uhr ihre Arbeit abbrechen
und nicht vor zwei oder drei Uhr Nach—
mittags zu derſelben zurückkehren. Die
geſammelten Samen wurden ſtets von der
Erde aufgenommen, es waren hauptſächlich
die Samen kleiner Wolfsmilchgewächſe,
Rubiaceen und Gräſer. Die Ameiſen
bewährten ſich als echte Schnitter. Die
Samen wurden durch die Centralpforten
in die Speicher eingeführt. Sie werden
dort geſchält und die Hülſen herausgebracht,
um in abgeſonderten Haufen aufgeſchichtet
zu werden, die auch bei der ſorgfältigſten
Unterſuchung keinen Samen mehr finden
ließen. Am meiſten ſcheinen ſie ein Gras,
Aristida stricta, zu bevorzugen und es
ſcheint ſogar, daß ſie dies für ihren Bedarf
anſäen, obwohl dies der Berichterſtatter
nicht ſelbſt beobachtet hat. (Andere Natur—
forſcher haben nicht nur die Ausſaat,
ſondern auch das Reinhalten und Jäten
der Getreidefelder beobachtet. Red.) Da—
gegen hat Mr. MeCook die innere Ein—
theilung des Hügels in Wohn- und Spei—
cherräume genau beſchrieben. Es mag noch
So
bemerkt werden, daß dieſe Ameiſen im
Kriege ſehr geſchickt und daß ihre Angriffs—
mittel faſt ſo ſchlimm als diejenigen der
Wespen ſind. Auch erwieſen ſie ſich trotz
ihrer friedlichen Beſchäftigung ſo wohl be—
wandert in den Kriegswiſſenſchaften, daß
Herr MeCook mehr als eine Nieder—
lage von ihnen erlitten haben würde, wenn
er nicht eine kleine Armee (von zwei Mann)
ins Feld geführt hätte, welche mit den
Angriffsluſtigen kämpfte, während er ihre
Speicher, Ammenſtuben und den Palaſt
ihrer Königin verwüſtete, um uns Kund—
ſchaft darüber zu verſchaffen. Herr Pro—
feſſor Leidy fügt dieſer in den Denk—
ſchriften der Akademie erſchienenen Arbeit
die Bemerkung hinzu, daß er während
eines früheren Sommers die Gewohnheiten
einer verwandten Art (M. occidentalis) in
den Felſengebirgen ſtudirt und ſie ganz
den hier beſchriebenen entſprechend gefunden
habe, nur daß jene Art auch Hausthiere
hielt und eine ſchöne große Schildlaus
wegen ihrer Zucker-Produktion pflegte.
(Nature No. 439 March 1878.)
Das Embryonalkleid der Fußhühner.
In einer werthvollen Arbeit über die
Entwickelungsgeſchichte der Vogel—
feder“) veröffentlicht Prof. Dr. Theodor
Studer aus Bern ſeine bei Gelegenheit
der „Gazellen“- Expedition auf der Inſel
Neu - Britannien gemachten Beobachtungen
über die Entwickelung der Fußhühner. Die
eigenthümliche Gruppe der Megapodier oder
Fußhühner, deren Verbreitung ſich auf die
auſtraliſche Region beſchränkt, zeichnet ſich
bekanntlich durch die eigenthümliche Brut—
*) eitfcheift für wiſſenſchaftliche Zoologie.
Band XXX. Heft 3. 1878,
—
pflege aus, die von derjenigen der übrigen
Carinaten?) beträchtlich abweicht. Während
dieſe in einem mehr oder weniger geſchütz—
ten Neſt durch ihre Körperwärme, die ſie
dem Ei mittheilen, den Embryo lebens—
und entwickelungsfähig erhalten, überlaſſen
die Megapodier dieſes Geſchäft bald der
durch die Gährung faulender Subſtanzen,
in die ſie die Eier hüllen, hervorgebrachten
Wärme, bald dem von den Strahlen der
tropiſchen Sonne durchglühten Sande. So
ſcharrt Megacephalon Maleo Tem. und
Leiopa ocellata Tem. Haufen von Blät—
tern, Humus, faules Holz und ähnlichen
Stoffen zuſammen, um in Gemeinſchaft die
Eier hineinzulegen, während Megapodus
Freyeinetti Tem. Löcher in den Sand
ſcharrt, um dort die hineingelegten Eier
ſich ſelbſt zu überlaſſen. Sie nähern ſich
alſo darin den Gewohnheiten der Reptilien,
während ſogar die Strauße, die im Körper—
bau denſelben unter allen Vögeln entſchieden
am nächſten ſtehen, wenigſtens zeitweiſe dem
Brutgeſchäfte obliegen.
Durchgängig ſind die Eier der Fuß—
hühner im Verhältniß zu ihrer Körper—
größe enorm groß und enthalten ein Dotter—
material, welches dem Embryo erlaubt, ſich
noch im Ei bis zu einer hohen Stufe zu
entwickeln. Während, ſo weit bekannt, die
Jungen aller übrigen Vögel beim Verlaſſen
des Eies mit einem eigenthümlichen gleich—
artigen Dunengefieder, dem Embryonal—
gefieder, bekleidet ſind, tragen die Mega—
podier ſchon vom erſten Tage an ihr de—
finitives Gefieder, deſſen Beſtandtheile in
) Carinaten oder kielbrüſtige Vögel wird
die größere Abtheilung der lebenden Vögel
im Gegenſatze zu den Ratiten oder Strauß⸗
vögeln genannt.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
181
Jungen ſchon vom Ei weg zu fliegen im
Stande ſind. Es fragt ſich nun, ob das
embryonale Dunenkleid, das ſich, wie ge—
ſagt, ſonſt bei den Neſtjungen aller Vögel
findet, hier gar nicht zur Entwickelung
kommt, oder ob daſſelbe noch im Ei ſich
entwickelt und abgeworfen wird, bevor der
Vogel das Ei verläßt. Im letzteren Falle
würde die Anſicht von der großen phylo—
genetiſchen Bedeutung des Embryonalgefie—
ders, welche Prof. Studer ſchon früher
ausgeſprochen hat, erheblich verſtärkt wer—
den, denn man hätte es dann mit einem
Gebilde zu thun, welches eine phy—
ſiologiſche Bedeutung nicht haben
kann.
Während des Aufenthalts Sr. Maj.
Corvette Gazelle auf der Inſel Neu-Bri—
tannien im Norden von Neu-Guinea hatte
Herr Prof. Studer Gelegenheit, den Em—
bryo von Megapodius Freyeinetti zu be—
obachten und an dieſem die angeregte Frage
zu prüfen. Die Gazelle ankerte am 12.
Auguſt 1875 in Greatharbour, einer Seiten—
bucht der Blanchebay im Nordoſten der
Inſel. Die Umgebung des faſt kreisrunden
Hafens iſt vulkaniſchen Urſprungs, im Weſten
erheben ſich drei Vulkankegel, von denen alte,
mit Gras und Buſchwerk bewachſene Lava—
ſtröme nach dem Ufer ziehen, an dem
überall aus Spalten heißes Waſſer und
Schwefelwaſſerſtoffgaſe dringen. Im Norden
dehnt ſich eine Ebene mit Untergrund von
ſchwarzem Augitſand und mit hohem Gras
und vereinzelten Palmen beſtanden, aus.
Hier war der Hauptaufenthalt der Mega—
Deck-, Schwung- und Steuerfedern nebſt
Unterdunen differenzirt ſind, ſo daß die
podier. Dieſelben, meiſt ein Hahn begleitet
von zwei bis drei Hennen, trieben ſich im
hohen Graſe herum und flogen nur auf—
geſcheucht kurze Strecken weit, um bald
wieder auf niederen Bäumen ſich nieder—
zulaſſen.
182 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Beim Betreten des Landes fielen bald
Löcher im Sande auf, welche in einen kurzen
1—2 Fuß langen Gang führten, jo weit,
daß man bequem die Hand einführen konnte.
Im Grunde deſſelben fanden ſich, loſe im
Sande verſcharrt, 2 — 3 große, länglich
ovale Eier von gelblich brauner Farbe.
Einzelne waren friſch gelegt, andere ent—
hielten Embryonen, die leicht als zu Me—
gapodius gehörend zu erkennen waren.
Der von der Sonne durchwärmte ſchwarze
Lavaſand hatte die hohe Temperatur von
38-40 C. und kühlte ſich während der Nacht
nur wenig ab. Das Ei iſt im Verhältniß zum
Vogel, der vom Schnabel bis zur Schwanz—
ſpitze 40 Centimeter mißt, ſehr groß. Sein
Längsdurchmeſſer beträgt 85 Millimeter,
der größte Querdurchmeſſer in der Mitte
50 Millimeter.
Friſch ausgekrochene Junge fanden ſich
am 16. Auguſt. Die Thierchen waren
mit dem Federkleid der Alten bis auf die
Steuerfedern bedeckt, liefen raſch im hohen
Graſe umher und waren im Stande, auf—
geſcheucht eine kurze Strecke zu fliegen.
Keine Spur von Embryonaldunen war an
ihnen zu entdecken. In einigen Eiern fan—
den ſich Embryonen von 60 — 70 Milli—
meter Länge, alle Beobachteten im gleichen
Entwickelungsſtadium. Ihre Form war voll—
kommen ausgebildet, der ganze Kör—
per bedeckt mit haarartigen,
ſchwarz pigmentirten Gebilden,
von 0,5 — 1 Centimeter Länge, die
mit den Federkeimen, welche das
Hühnchen beim Ausſchlüpfen zeigt,
die größte Analogie darboten.
Dieſe Gebilde ſtaken nur loſe in der Haut
und fielen ſchon bei etwas derber Berühr—
ung aus.. Die anatomiſche Unter—
ſuchung ergab durchweg Uebereinſtimmung
mit dem Bau der Embryonaldunen und
zwar ſpeciell derjenigen der Hühnervögel. . .
Alſo auch bei den Megapodiern ſehen wir
ein vorläufiges Embryonalgefieder auftreten,
das aber phyſiologiſch nicht mehr zur Gelt
ung kommt, ſondern noch im Ei abgeſtoßen
wird, um dem definitiven Gefieder Platz
zu machen, mit dem der Vogel das Ei
verläßt. Bei der Conſtanz, mit welcher
bei den Vögeln ein überall gleichartiges
Embryonalgefieder auftritt, kann man ſich
der Vermuthung nicht enthalten, daß das—
ſelbe einen Zuſtand der Hautbedeckung
repräſentirt, welcher vielleicht den Vorläu—
fern unſerer Vogelwelt in früheren Perioden
eigen war. .
Hinſichtlich der Pinguinfedern bemerkt
der Verfaſſer in derſelben Arbeit: „Iſt ſo—
mit die Uebereinſtimmung der Pinguin—
federn mit anderen Vögeln anzunehmen, fo
bietet doch die Befiederung des Pinguins
Verhältniſſe dar, die mehr einen embryo—
nalen Charakter tragen und vielleicht dieſe
eigenthümliche Vogelform als einen ältern Ty—
pus dürfen beanſpruchen laſſen. Erſtens iſt
das Federkleid noch gleichmäßig über den gan—
zen Körper verbreitet, ohne in beſtimmten
Formen angeordnet zu ſein. Dieſes findet ſich
in der übrigen Vogelwelt nur bei gewiſſen
Ratiten, dem Apteryx, Dromaeus und bei
den jungen Vögeln mit Embryonaldunen.
Zweitens ſind mit Ausnahme der Steuer—
und Schmuckfedern bei gewiſſen Arten
ſämmtliche Federn blos mit lockern Fahnen
nach Art der Dunen verſehen, und nicht
in verſchiedene Federformen geſondert, wie
ſolche bei anderen Vögeln eine Sonderung
in Deck- und Dunenfedern bedingen.
Wichtig iſt in Hinſicht auf die Ver—
hältniſſe der Ruderſchwingen der Fund
eines foſſilen Pinguins, Palaeeudyptus
antarcticus Huxl., in tertiären Sandſteinen
Neuſeelands (Hector, on the remains of
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
a gigantie Pinguin, Transactions and
Proceed. of the New-Zealand Instit.
Vol. IV. 1871.) Es iſt intereſſant, daß
bei dieſer gigantiſchen Form der Humerus
noch nicht die Verkürzung und Verbreiter—
ung beſitzt, wie bei unſeren jetzt lebenden
Pinguinen. Während bei dieſen der Hu—
merus flach und nach dem diſtalen Ende
zu verbreitert iſt, dabei die Länge des Fe—
mur nicht erreicht, iſt er bei jenem ein
Sechstheil länger als der Femur und nach
dem diſtalen Ende der Diaphyſe verſchmä—
lert. Wir dürfen daraus vielleicht den Schluß
ziehen, daß die Anpaſſung der vordern
Extremität als Ruderwerkzeug noch nicht
ſo weit gediehen war, wie bei den jetzigen
Arten, und damit die Federbedeckung der—
ſelben noch nicht ſo ſchuppenartig knapp
anliegend war, wie dies zur Ueberwindung
des Widerſtandes im Waſſer nothwendig iſt,
alſo dieſe Modification des Körpergefieders
erſt als eine ſpäter erworbene betrachtet
werden dürfte.“
Darwinismus und Talmud.
In einer Reihe leſenswerther Artikel,
die im laufenden Jahrgange des „Jüdi—
ſchen Literaturblattes““) erſchienen
ſind, hat Herr Dr. Placzek in Brünn
eine Reihe merkwürdiger Stellen aus der
Agada und andern Theilen des Talmud
hervorgehoben und commentirt, welche be—
weiſen, daß das jüdiſche Gelehrtenthum
— wie andererſeits auch von den Arabern
bekannt iſt — ſchon ſehr früh ein allmä—
liges Werden des Menſchen und der ge—
ſammten Natur, ſowie eine Anpaſſung an
) Herausgegeben von Rabbiner Dr.
Moritz Rahmer. Robert Frieſe, Leipzig.
1878. No. 1, 6, 7, 9 und folg.
.
verſchiedene Lebensbedingungen, alſo eine
allmälige Veränderung derſelben ins Auge
gefaßt hat. Wir heben aus der ausführ—
lichen und gedankenreichen Arbeit in Kürze
einige der Sätze hervor, die uns am merk—
würdigſten erſchienen find. Das biogenetiſche
Grundgeſetz auf den Menſchen angewendet,
kann in einer noch allgemeineren Faſſung
in dem Satze gefunden werden: .
„Alle Formen der Schöpfung, der or—
ganiſchen und unorganiſchen, wiederholen
ſich bei der Bildung des Menſchen.“ (Aboth.
d. R. N. 31; ähnlich Jalkuth Reu-
beni 9. a.)
Der Blick der Agadiſten errieth ſchon
in der ganzen Schöpfung eine Stufenfolge
vom Niedern zum Höhern. (Ber. Rabba
19; Bechai zu P. Wajakhel; Pardess
180a.) Die Ahnung, daß die geiſtige Ent—
wickelung des Menſchengeſchlechts unermeß—
liche Zeiträume durchzumachen hatte, bis
ſie bei einem Abraham oder einem Moſes
anlangen konnte, ſpricht aus der Midraſch—
Erklärung des Pſalmverſes 105, 8: „das
Wort gebot er dem tauſendſten Geſchlechte.“
Nach der bibliſchen Chronologie war es
jedoch das 26ſte; die Lücke wird durch die
ſeltſame Bemerkung ausgefüllt: „974 Gene—
rationen wurden vernichtet“ (Ber. Rabba
28), oder nach der Verſion des Talmud
(Chagiga 13b) „hätten fo viele Geſchlech—
ter erſchaffen werden ſollen“. Nach einem
Andern wird unter dem „tauſendſten Ge—
ſchlechte“ Abraham gemeint. Dann wären
980 Generationen der Vernichtung anheim—
gefallen oder — der Vergeſſenheit.
Dem Adam theilt der Talmud thie—
riſches Weſen und einen Schweif zu (Bera-
choth 61a. Erubin 18. a) Nav Je—
huda jagt: „Der Menſch ward zu einem
thieriſchen Weſen, d. h. anfangs hatte der
Menſch einen Stumpf oder Schweif, wie
E
184
ein Thier; doch Gott nahm ihm dann
denſelben der menſchlichen Würde wegen.“
An einer andern Stelle heißt es: Adam
wurde aus dem von allen Weltgegenden
zuſammengeleſenen Staube erſchaffen (damit
er ſich überall acclimatiſiren könne.) (Synh.
38. n.) In Beziehung auf die Farbe der
Urmenſchen waren die Talmudiſten nicht der
Anſicht Prichard's, daß Adam vielleicht
oder gar wahrſcheinlicherweiſe ein Neger
geweſen ſei, ſondern ſie theilten die Anſicht
der meiſten Darwiniſten, daß die dunkel—
farbigen Stämme Abkömmlinge hellfarbiger
Menſchen ſeien. Es gibt dafür manche
Gründe, unter denen ſich auch der befin—
det, daß die neugebornen Negerkinder bei—
nahe dieſelbe Hautfarbe aufweiſen, wie neu—
geborne Kaukaſier. So meint denn auch
der Talmud, Cham ſei zu Anfang von
ähnlicher Hautfarbe geweſen, wie ſeine Brü—
der und habe erſt ſpäter die ſchwarze Farbe
angenommen. Zum Belege nachfolgende
Stellen:
„Nach dem Fluche Noachs erſt ward
Cham jo mißgeſtaltet.“ (Ber. Rabba 36.)
„Cham ward geſtraft an ſeiner Hautfarbe.“
(Synhedrin 108 b; Tanchuma 12.) Die
Schriftſtelle: „Verändert der Kuſchite ſeine
Haut?“ (Jerem. 13, 23) deutet der Tal-
mud (Sabbat 107 b) dahin: „Die Haut
des Kuſchiten kehrt nicht zurück,“ d. h. zu
ihrer urſprünglichen hellen Farbe — ein
Beweis alſo für die rabbiniſche Anſchauung
von einer erfolgten Umbildung der chami—
tiſchen Race. Die Abſonderlichkeit der Ku—
ſchiten wird übrigens auch auf die Depra—
virung der Sitten bezogen. (Ber. Rab. 36.
M. Schocher Tow zu Psalm 7.)
Einen beſonders lebhaften Ausdruck ge—
winnen die Anſichten von dem Anpaſſungs—
ver mögen der lebenden Weſen an ihre Um—
gebung in dem Zwiegeſpräche zwiſchen Rabbi
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.“
Hillel und jenem Wichte, der eine Wette
um 400 S. eingegangen war, den ſanften
Rabbi in Ungeduld oder Zorn zu verſetzen.
(Sabbat 31 a.) Es war vor einem Sab—
bat, und Hillel gerade beſchäftigt, zu
deſſen Empfange ſich vorzubereiten, als
jener Spötter ihn mit frechem Wort meh—
reremal aus dem Hauſe rief und in der
Abſicht, ihn zu reizen, die nach ſeiner Mei—
nung geringfügige Frage an ihn richtete:
„Warum ſind die Köpfe der Babylonier ſo
ſeltſam rund?“ Hillel antwortete ruhig:
„Eine hochwichtige Frage, haft du da, mein
Sohn, gethan. Wiſſe, die Köpfe der Ba—
bylonier ſind ſo geſtaltet, weil ſie keine
klugen Hebammen haben“ (d. h. entweder
weil dieſe die Köpfe der Kinder nicht mit
der nöthigen Vorſicht behandeln, oder weil
ſie die weichen Schädelknochen der Kinder
durch künſtliche Preſſungen umgeſtalten).
„Warum ſind die Augen der Tarmudier
(Steppenbewohner) eng geſchlitzt?“ „Auch
das iſt eine gar wichtige Frage, entgegnet
Hillel. Ihre Augen ſind ſo eng geſchlitzt,
weil fie in ſandiger Gegend leben.“ („Ihr
Wohnort hat, erklärt Raſchi, eine ſolche
Veränderung bei ihnen hervorgebracht, daß
die Spalte ihrer Augenlider nicht ſo groß
iſt, als bei uns, damit der Flugſand ſie
nicht beläſtige.“) „Warum ſind die
Füße der Afrikaner ſo breit und platt?“
fragte jener endlich. „Du haſt wieder, meint
Hillel, eine ſehr bedeutſame Frage an
mich gerichtet: weil ſie in ſumpfigen Ge—
genden wohnen.“ („Sie waten barfuß im
Waſſer, und daher breiten ſich ihre Füße
immer mehr aus, damit ſie nicht in den
Tümpeln verſinken,“ bemerkt Raſchi zu
dieſer Stelle). Prägnanter als Rabbi
Hillel und der gelehrte Commentator des
11. Jahrhunderts kann man die Anpaj-
ſung an beſondere örtliche Verhältniſſe durch
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
vortheilhafte Abänderungen des Körperbau's
in der That kaum ausdrücken. Und es
ſteht dem Manne, von dem es heißt: „Es
gab keine Wiſſenſchaft, die er nicht betrieben,
ſogar alle Sprachen; er verſtand, was
Berge, Hügel und Thäler künden, was ſich |
Bäume und Kräuter, wilde und zahme
Thiere erzählen“ (Soferim 16. 9.), dem
naſeweiſen Jungen gegenüber, vorzüglich,
alle dieſe Fragen für hochwichtig zu erklä—
ren Auch die beſonderen Körperbeſchaffen—
heiten der Thiere werden im Talmud von
gleichem Geſichtspunkte aus erklärt. „Wa—
rum hat das Kameel einen kurzen Schweif?“
„Weil es von Dornen ſich nährt.“ „Zwi-
boldt's und Ritter's Verdienſt iſt es,
ſchen Dornengeſtrüpp umherſtreifend, würde
ein längerer Schweif an den Dornen hän- |
gen bleibend, es arg beläſtigen.“ Raſchi.
„Warum hat das Rind
Schweif?“
lebend, die Mücken ſich vom Leibe halten
muß.“ „Warum zieht das Huhn, wenn
es die Augen ſchließt, das untere Augen-
lid über das obere?“ „Weil es auf dem
uud darüber.
Dachgebälke ſchläft. Der aufſteigende Rauch
einen langen
„Weil es an feuchten Orten
0
würde es ſonſt blenden.“ (Sabbat 77 b.)
Das klingt zum Theil ſehr im Sinne
Lamarck's, obwohl, wie der Verfaſſer
zugiebt, alle dieſe Citate auch zu Gunſten
einer teleologiſchen Theologie verſtanden
werden können. N
Land und Leute.
Ein ganz ähnliches Thema, wie das in
den vorſtehend angezogenen Talmudſtellen
behandelte, lag einem Vortrage zu Grunde,
den Prof. Dr. Kirchhoff aus Halle gegen
Ende Februar 1878 in Berlin gehalten
hat, und „das deutſche Land als Mitbildner
des deutſchen Volkes“ betitelt hatte. Wir
Kosmos, Band III. Heft 2.
entnehmen einem Zeitungsreferate einige
kurze Andeutungen über den Gedankengang
des Vortrages.
„Auf dem Zuſammenwirken von Ab—
ſtammung, Bodenbeſchaffenheit und geſchicht—
licher Entwickelung“ begann der Vortragende,
„baſirt die körperliche und geiſtige Aus—
ſtattung der Stämme und der Nationen.
Zwei dieſer Faktoren entziehen ſich der er—
ſchöpfenden wiſſenſchaftlichen Betrachtung.
Von dem Daſein des Menſchen kennen wir
nur wenig, vollkommen überblicken wir da—
gegen die Beſchaffenheit des Grund und
Bodens und die damit vielfach zuſammen—
hängenden klimatiſchen Einflüſſe. Hum—
die engen Beziehungen der Geographie zur
Völkerkunde erkannt zu haben. Sehen wir
darauf hin die Stammes ⸗-Unterſchiede in
Deutſchland an, ſo ſpringt zuerſt der Gegen—
ſatz zwiſchen den Bewohnern der Ebene und
denen der Berge in's Auge. In den Alpen
wohnt ein Hünengeſchlecht. Jeder vierte
Rekrut im Militairbezirk Tölz mißt 6 Fuß
Soweit die Wetterzone der
Berge reicht, wohnen Rieſen. In der ganzen
Münchener Hochebene iſt außergewöhnliche
Körpergröße zu Hauſe. Aber auch der
ſandige Boden der Ebene iſt dem körper—
lichen und geiſtigen Gedeihen ſeiner Be—
wohner zuträglich. Der Menſchenſchlag der
ſandigen Geeſt und der fetten Marſch unter—
ſcheidet ſich erheblich. Hier große und hagere,
dort unterſetzte und gedrungene Geſtalten.
In den Städten pflegen die Körper ſich
länger zu ſtrecken, als auf dem platten
Lande, Auge und Haar der Städter dunkeln
im Verlauf der Generationen. Auch ende—
miſche Krankheiten bringt die Bodenbeſchaffen—
heit mit ſich. Die ſumpfreichen Niederungen
an den Ufern der Nordſee ſind die Heimath
des Marſch- oder Wechſel-Fiebers, welches
24
186
ſich, dem Laufe der größeren Ströme fol—
gend, auch noch weit in das Land hinein—
ſtreckt. Kropf und Cretinismus ſind die
Plagen des Gebirges. Sie ſind im Hima—
laya nicht minder verbreitet als in den
Alpen, wo Juvenal ſie ſchon kennt. Nur
Mangel an Luft und Licht ſind die Ur—
ſachen des Cretinismus, wie ſie in den
dumpfen Thälern der mittleren Bergregio—
nen vorhandeu ſind. In den höheren Re—
gionen, wo ein friſcher Luftzug herrſcht,
findet ſich dieſe körperliche und geiſtige Ver—
krüppelung nicht. Die Natur des Bodens
übt einen tiefgreifenden Einfluß auf die
ganze Geſtaltung des Lebens aus. Wohn—
ung, Nahrung, Kleidung, geiſtige Thätigkeit
ſtehen mit ihr in engem Zuſammenhange. In
den Bergen blüht die Viehzucht, in der Ebene
der Ackerbau, in den Flußniederungen der Han—
del. Die Kunſt gedeiht nur kümmerlich an
den Ufern des deutſchen Meeres, wo dagegen
die Rebe an den Berglehnen emporſteigt, da
haben ſtets Dichtung und Geſang geblüht.“
Aehnliche Beziehungen, zwiſchen Körper—
geſtalt und Lebensweiſe, wie ſie Herr Prof.
Kirchhoff in feiner Rede erwähnte, hat
man ſehr oft zu bemerken geglaubt, aber
ſchon Montaigne hat darauf hingewieſen,
wie vorſichtig man in ſolchen Schlüſſen ſein
muß, wenn ſie nicht dem Schuh des The
ramenes (der auf alle Füße paßte), glei—
chen ſollen. Der genannte ausgezeichnete
Kritiker verweiſt zur Illuſtration (Essais
III. 9) auf zwei Aeußerungen über die
Urſachen einer und derſelben Körperbildung,
in denen ſich zwei berühmte Autoren ſtark
widerſprechen. Torquato Taſſo ſagt
nämlich in ſeiner Vergleichung Italiens mit
Frankreich („Paragone dell' Italia alla
Francia,“ nella parte prima delle Rime
e Prose. Ferrara 1585. p. 11). „Die
franzöſiſchen Edelleute haben im Allgemeinen
Nur und Dinku).
(Im Herzen Afrikas.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
ziemlich ſchmächtige Beine im Vergleiche zu
dem übrigen Körper, aber man muß die
Urſache hiervon nicht auf's Gerathewohl der
Eigenthümlichkeit des Klimas (del eielo)
zuſchreiben, ſondern der Art ihrer Leibes—
übung: Da ſie nämlich faſt fortwährend zu
Pferde ſitzen, ſtrengen ſie die untern Theile
nur wenig an, ſo daß die Natur dorthin
auch nicht viel Nahrungsſtoff gelangen
läßt. Im Gegenſatze hierzu ſagt aber
Sueton (Caligula c. 3): „Zu der
übrigen Wohlgeſtalt des Germanieus
paßten ſeine dünnen Beine nicht recht, doch
gewannen dieſelben allmälig an Kraft und
Fülle durch tägliches Reiten nach dem Früh—
ſtück.“ Man würde dieſe direkt entgegen—
ſtehenden Meinungen allenfalls vereinen
können, wenn man annehmen dürfte, daß
der eine den Oberſchenkel, der andere den
Unterſchenkel gemeint hätte, aber beide be—
zeichnen ausdrücklich den letzteren (gamba
und erus). Daher kann man es dem alten
Montaigne nicht verübeln, wenn er die
Geſchmeidigkeit des menſchlichen Geiſtes be—
wundert, durch die er ſich allen Erſchein—
ungen anpaßt, überall eine Erklärung findet.
Zu der Bemerkung des Profeſſor Kirch—
hoff, daß die Bewohner der fetten Marſch—
gegenden hager und groß ſeien, ſtimmt ſehr
wohl eine Beobachtung Schweinfurth's,
auf die ich um ſo lieber in dieſem Zuſam—
menhange hinweiſen will, weil ſie die vor—
hin mitgetheilte Talmud-Bemerkung über
afrikaniſche „Sumpffüße“ erläutert. „Nir—
gends in der Welt“ ſagt Schweinfurth
Leipzig 1874. S.
128) „ſcheint ſich das Geſetz der Natur,
demzufolge gleiche Exiſtenzbedingungen ana—
loge Formen unter den verſchiedenſten Thier—
arten hervorbringen, mehr zu bewahrheiten,
als hier (nämlich im Lande der Schilluk,
„Daß Menſchen und Thiere in vielen
Gebieten, deren phyſikaliſche Beſchaffen—
heit ſie in grellen Gegenſatz zu den
Nachbarländern ſtellt, etwas Gemeinſchaft—
liches in der Summe ihrer Merkmale
und eine gewiſſe Harmonie in ihrem Cha-
rakter darbieten, läßt ſich nicht bezweifeln.
Eines der frappanteſten Beiſpiele für einen
derartigen Parallelismus bieten im Gegen—
ſatze zu dem ſteinigen und felſigen Innern
des Gebietes, die Völker, welche an dieſen
ſumpfigen Flußniederungen anſäſſig find:
Schilluk, Nuer und Dinku. Als Menſchen,
ſagte ſchon früher Heuglin, machen fie
den Eindruck des Flamingo unter den Vö—
geln und gewiß, er hat Recht: es ſind
Sumpfmenſchen, die vielleicht auch eine An—
deutung von Schwimmhaut zwiſchen den
Zehen zeigen würden, erſchienen dieſe nicht
durch den Plattfuß erſetzt und die ebenſo
bezeichnende Verlängerung der Ferſe. Da—
zu kommt noch ihre ſonderbare Gewohn—
heit, nach Art der Sumpfvögel auf einem
Beine zu ſtehen und das andere mit dem
Knie zu unterſtützen. So pflegen ſie in
dieſer Stellung bewegungslos ſtundenlang
zu verharren. Ihr gemeſſener, langer Schritt
im hohen Schilf iſt dem des Storches zu
vergleichen. Dürre und langſchüſſige Glied—
maßen, ein ebenſo verlängerter dürrer Hals
auf dem ein kleiner und ſchmaler Kopf
ruht, vervollſtändigen dieſe Uebereinſtimm—
ung.“ Daß das Sumpfland mit ſeinem
decimirenden Einfluß ſich bald einen aus—
geprägten, dem Miasma entwachſenen Typus
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
187
erzieht, iſt leicht verſtändlich; in der von
den Menſchen mit Vorliebe gewählten Stell—
ung der Sumpfvögel, die den letzteren durch
den beſonderen Mechanismus des Vogel—
beins ſehr erleichtert wird, dürfte indeſſen
wohl nur die zur Gewohnheit gewordene
Nachahmung eines alltäglichen Vorbildes
zu erkennen ſein.
„Blumen der Luft.“
Mit Bezug auf dieſen von Jean
Paul ihrer glänzenden Farben wegen den
Tag- Schmetterlingen beigelegten Namen
(Vergl. Kosmos I. S. 260) ſchreibt Herr
Dr. Fritz Müller aus Itajahy in einem
Privatbriefe vom 1. März c.:
„Im vergangenen Monat machte ich
einen mehrwöchentlichen Ausflug nach dem
Hochlande im Norden unſerer Provinz,
Sao Bento im Quellgebiete des Rio negro,
der mir recht hübſche Ausbeute, aber faſt
nur von ſpeciell lepidopterologiſchem Inter—
eſſe lieferte. Häufig war dort der von
Boisduval als très rare bezeichnete
Papilio Grayi, deſſen Männchen wirklich
auch in Betreff des Geruches als „Blume
der Luft“ bezeichnet werden kann. Der
von den Hinterflügeln ausgehende Duft iſt
ſo ſtark und ſo würzig, daß ich den
Schmetterling wie eine Blume, zum ge—
legentlichen Daranriechen in der Hand ge—
tragen habe.“
Carl Mägeli
über die Speciesfrage der Spalt—
pilze, über den Kampf um's Daſein
bei den letztern und über die natür—
liche Zuchtwahl bei der Differen—
zirung des Menfchengeſchlechts.
mutations-Theorie mehr als eines
und
geben
Sachen der Abſtammungslehre ſich ent—
ſchieden die größten Verdienſte erworben
hat, wird ſeit langer Zeit von ſchlecht⸗
unterrichteten Gegnern der Darwin'ſchen
auf botaniſchem Gebiet in
Lehre nichts deſto weniger mit großem
Pathos zu den ihrigen gezählt. Aller—
dings geſteht Nägeli dem Darwin
ſchen Zuchtwahl-Princip nicht die ganze
hohe Bedeutung zu, wie ſie Darwin in
den erſten Auflagen ſeiner „Entſtehung der
Arten“ betont hat. Es iſt ja bekannt,
daß Darwin ſelbſt — nachdem er die
Nägeli'ſchen Abhandlungen geleſen —
ſich zu einer Conceſſion herbei ließ, obſchon
gerade unter ſeinen deutſchen Anhängern
ſich wenig Luſt zeigte, der Nägeli'ſchen
„Vervollkommnungs-Theorie“
er bewährte Pflanzen-Phyſiologe,
welcher im Streit um die Trans-
Literatur und Kritik.
der ſchwerwiegendſten Voten abge⸗
Darwins behaupten — die Zuchtwahllehre
des Engländers in Frage ſtellen könnte.
Auch in der neueſten Arbeit Nägeli's“)
ſind wiederum für die Descendenzlehre und
Zuchtwahl-Theorie einige ſehr intereſſante
Geſichtspunkte enthalten. Der Verfaſſer,
welcher ſich zehn Jahre lang mit der Unter—
ſuchung der Spaltpilze beſchäftigte, ehe er
ſeine epochemachende Theorie von den nie—
dern Pilzen und den Infektionskrankheiten
der Oeffentlichkeit übergab, beſpricht ge—
legentlich auch die in neueſter Zeit mit
Lebhaftigkeit ventilirte Speciesfrage der
Spaltpilze. Er gelangte zu folgendem
Reſümé:
Die Frage von der ſpecifiſchen Ver—
ſchiedenheit der Spaltpilze gewährt ſchon
deshalb ein hohes Intereſſe, weil dieſe
Organismen ſehr verſchiedenartige Zer—
ſetzungen bewirken; dieſe Frage ſteigert ſich
aber zur höchſten Bedeutung, wenn wir
— wie das jetzt in den wiſſenſchaftlichen
Kreiſen geſchieht — annehmen, daß die
Contagien und Miasmen ſelbſt nichts An—
deres ſind, als Spaltpilze. Gegenüber der
Anſicht Cohn's, welche auch diejenige vieler
Aerzte geworden iſt, und wonach jede
) Die niedern Pilze in ihren Be—
ziehungen zu den Infektionskrankheiten und
inſoweit der Geſundheitspflege (München, bei Olden—
| beizupflichten, daß fie — wie die Gegner burg 1877).
Literatur und Kritik.
Function der Spaltpilze durch eine
beſondere Species vertreten ſei,
verhält ſich das aus zahlreichen Experi⸗
menten gewonnene Reſultat eher ablehnend
als zuſtimmend. „Ich habe ſeit 10 Jahren
wohl tauſende von verſchiedenen Spalthefe—
formen unterſucht und ich könnte (wenn
ich Sarcine ausſchließe) nicht behaupten,
daß auch nur zur Trennung in zwei ſpecifiſch
verſchiedene Formen Nöthigung vorhanden
ſei“ (S. 20). Wir laſſen Nägeli in
der Folge ſelbſt reden.
„Alle Spaltpilze ſind kurze Zellen (vor
der Theilung etwa 1½ mal, nach derſelben
3/4 ſo lang als breit); fie zeigen fi) bald
ſchwärmend, bald ruhend; die Verſchieden—
heiten beſtehen bloß in der ungleichen Größe
und darin, daß die Zellen ſich nach der
Theilung von einander lostrennen oder daß
ſie zu Stäbchen und Fäden verbunden
bleiben, welche bald gerade, bald mehr oder
weniger ſchraubenförmig gewunden ſind.
Nun habe ich bei der nämlichen Zer—
ſetzung oft einen ziemlich weiten Formen-
kreis der anweſenden Spaltpilze oder, mit
andern Worten, ein Gemenge von mehreren
Formen, die man gewöhnlich ſpecifiſch oder
ſelbſt generiſch trennt, beobachtet, anderſeits
bei ganz verſchiedenen Zerſetzungen dem
Anſcheine nach durchaus die gleichen Spalt
pilze gefunden. Dieſe Thatſache iſt der
Behauptung, daß jeder Zerſetzung eine
ſpecifiſche Pilzform zukomme, durchaus un—
günſtig. £
Eine andere ſehr beachtenswerthe That—
ſache iſt die, daß die Spaltpilze auch Ver—
bindungen zerſetzen, welche in der Natur
entweder nicht, oder doch nur in der Art
vorkommen, daß eine Zerlegung durch Spalt—
pilze dort nicht ſtattfindet. Eine ſolche Ver⸗
bindung iſt das Glycerin, welches zwar
beim Keimen von fetthaltigen Samen ent—
— —
189
ſteht, aber das Zellgewebe nicht verläßt
und im Naturzuſtande vielleicht nie Ver—
anlaſſung zu einem beſondern Gährungs—
proceß gibt. Wo kamen nun, als zum
erſten Mal künſtlich dargeſtelltes Glycerin
in Gährung gerieth, die Spaltpilze her,
wenn dieſelben ſpecifiſch verſchieden ſind?
Ich bin überzeugt, daß es unter den vielen
Kunſtprodukten der organiſchen Chemie noch
manche giebt, welche durch die gewöhulichen
Spaltpilze eigenthümliche Zerſetzungen er-
leiden.
Endlich iſt noch eine äußerſt wichtige
Thatſache zu erwähnen, nämlich die Um⸗
wandlung der beſtimmten Hefennatur eines
Pilzes in eine andere. Dieſelbe iſt zwar
ſchon längſt den Hausfrauen bekannt, welche
wiſſen, daß gekochte Milch nicht ſauer, ſondern
bitter wird; fie wurde aber in der Wiffen-
ſchaft nicht beachtet. Man kann den ſäure—
bildenden Spaltpilzen durch verſchiedene
Behandlung (Erwärmen, Austrocknen, Züch—
ten in ſchlechterer Nährlöſung) das Ver—
mögen, Säure zu bilden, ganz oder theil—
weiſe nehmen, ſo daß ſie eine zuckerhaltige
Nährlöſung nur noch ſchwach ſauer machen
oder dieſelbe auch vollkommen neutral laſſen.
Man kann dann dieſen umgeſtimmten For—
men durch Cultur das urſprüngliche Ver—
mögen wieder anzüchten.
Wenn ich ſage — fährt Nägeli fort
— daß die uns bekannten morphologiſchen
Eigenſchaften der Spaltpilze und ihr Ver—
mögen, verſchiedene Zerſetzungen zu be—
wirken, eine generiſche und ſpecifiſche Unter—
ſcheidung nicht rechtfertigen, und daß ſelbſt
die Möglichkeit vorliege, alle Formen in
eine einzige Species zu vereinigen, ſo liegt
es mir doch fern, dieſe Behauptung wirk—
lich auszuſprechen. — — — So ſehr ich
auf der einen Seite überzeugt bin, daß
die Spaltpilze ſich nicht nach ihren Hefen—
er
190
wirkungen und ihrer Formbildung ſpeeifiſch
gliedern, und daß man viel zu viele Arten
unterſchieden hat, ebenſowenig iſt es mir
auf der andern Seite wahrſcheinlich, daß
alle Spaltpilze eine einzige naturhiſtoriſche
Art darſtellen. Ich möchte vielmehr ver—
muthen, daß es einige wenige Arten
giebt, die aber mit den jetzigen
Gattungen und Arten wenig ge—
mein haben und von denen jede einen be—
ſtimmten, aber ziemlich weiten Formenkreis
durchläuft, wobei verſchiedene Arten in ana—
logen Formen und mit gleicher Wirkung
auftreten können“ (S. 22).
Nägeli iſt der Anſicht, daß jede der
wirklichen Spaltpilz-Species nicht blos
als Micrococeus und als Bacterium, als
Vibrio und als Spirillum auftreten kann,
ſondern daß jede wirkliche „Art“ auch ver—
ſchiedene Zerſetzungen, wie Milchſäurebil—
dung, Fäulniß und verſchiedene Krankheits—
formen des menſchlichen und thieriſchen
Körpers zu bewirken vermag. Er hält es
für denkbar, daß dieſe kleinen, der wiſſen—
ſchaftlichen Forſchung ſo ſchwer zugänglichen
Organismen durch Anpaſſung einen mehr
oder weniger ausgeſprochenen Character er—
halten, indem ſie während vieler Genera—
tionen die gleichen Nährſtoffe aufnehmen
und die gleiche Gährwirkung ausüben oder
indem ſie keine Gelegenheit finden, irgend
eine Gährung zu vollbringen. Dabei wür
den die verſchiedenen, aber ſehr veränder—
lichen Spaltpilzarten morphologiſch doch
eine beſtimmte Form (Mierococeus, Bac-
terium 2c.) bevorzugen, indeß fie phyſio—
logiſch für die eine Gährungs- oder Zer—
ſetzungsform tauglicher würden, als für
andere Funktionen. Den verſchiedenen äu—
ßern Verhältniſſen entſprechend würden ſich
ſonach Spaltpilzformen von ungleich ſtar—
kem Gepräge und ungleicher Conſtanz aus—
Literatur und Kritik.
bilden. Der nämliche Spaltpilz würde ein—
mal in der Milch leben und Milchſäure
bilden, dann auf Fleiſch und hier Fäulniß
bewirken, ſpäter im Wein und daſelbſt
Gummi erzeugen, nachher in der Erde, ohne
Gährung hervorzubringen, endlich im menſch—
lichen Körper, um hier bei irgend einer
Erkrankung ſich zu betheiligen. Er würde
an jedem Ort ſeine Natur den neuen Ver—
hältniſſen nach und nach anpaſſen.
Da die Wiſſenſchaft zur Bezeichnung
verſchiedener Formen und Vorgänge ver—
ſchiedener Namen bedarf, ſo wird es trotz
der Wahrſcheinlichkeit, daß die verſchiedenen
Spaltpilzſpecies die Fähigkeit beſitzen, ganz
ähnliche Geſtalten anzunehmen, doch zweck—
mäßig fein, auch fürderhin von Micrococcus—
formen, von einer Vibrionenform, einer Bac—
terienform, einer Spirillenform u. ſ. w.
zu reden. Es darf dabei nur nicht über—
ſehen werden, daß die mit dieſen Namen
belegten Objekte ſehr veränderlich ſind und
fortwährend ſich in einander verlieren.“
Das Hauptgewicht des Nägeli'ſchen
Buches liegt in ſeiner praktiſchen Bedeutung
für die Geſundheitspflege; denn wenn ſeine
Anſicht über die Natur der Spaltpilze rich—
tig iſt, ſo nimmt die gleiche Pilzart im
Laufe der Generationen abwechſelnd ver—
ſchiedene, morphologiſch und phyſiologiſch
ungleiche Formen an, welche im Verlaufe
von Jahren und Jahrzehnten bald die Säu—
erung der Milch, bald die Butterſäure—
bildung im Sauerkraut, bald das Lang—
werden des Weines, bald die Fäulniß der
Eiweißſtoffe, bald die Zerſetzung des Harn—
ſtoffes, bald die Rothfärbung ſtärkemehl—
haltiger Nahrungsmittel (blutende Hoſtien“
und „blutendes Brod“) bewirken und bald
Diphterie, bald Typhus, bald recurri—
rendes Fieber, bald Cholera, bald Wech—
ſelfieber, bald Gelbfieber erzeugen.
3
Literatur und Kritik.
Dieſer ungeheuren Veränderlichkeit in
Form und Funktion der Spaltpilze kommt
namentlich auch der Umſtand zu ſtatten,
daß ſich dieſe Organismen mit einer bei—
ſpielloſen Energie vermehren; denn es iſt
conſtatirt, daß ſich ein Spaltpilzchen in
ſehr günſtiger Nährlöſung bei einer
Temperatur von 37 Grad alſo bei der
menſchlichen Körperwärme, jeweilen inner—
halb 20—25 Minuten zu theilen vermag,
ſo daß unter den günſtigſten Verhältniſſen
in Zeit von 24 Stunden 58 — 72 Gene⸗
rationen auf einander folgen können.
Iſt das Abänderungs- und Anpaſſungs—
vermögen, wie es bei der einzelnen Gene—
ration zum Ausdruck gelangt, auch nur
ſehr klein, ſo ſummirt ſich der Erfolg des—
ſelben in kurzer Zeit durch zahlloſe Gene—
rationen eben doch zu einer enormen Größe.
Nägeli führt dieſen Punkt nicht aus;
aber es ergibt ſich für den Anhänger der
Descendenz-Theorie von ſelbſt die Wahr
ſcheinlichkeit, daß ſich bei den niedern Pil-
zen der Schizomyceten -Gruppe das, was
man im höhern Pflanzenreich eine neue
„Art“ nennen würde, in viel kürzerer Zeit
bilden wird, als bei den höhern Gewächſen.
Wenn letztere zur Bildung einer neuen Art
Spaltpilze befähigt ſein, in wenig Jahren
oder in wenig Jahrzehnten „neue Species“
zu bilden.
Dauer der Spaltpilz-Species eine viel kür—
zere ſein, als die Dauer einer Pflanzen-Art
höherer Ordnung. Will man aber ſolchen
kurzdauernden Spaltpilz-Species den Na—
men „Art“ nicht zuerkennen, ſo kämen wir
zu dem Schluß, daß alle dieſe Spaltpilz—
formen in ewiger Abänderung begriffen
ſind und daß hier die naturhiſtoriſche Spe—
cies im gewöhnlichen Sinne uns wie
| Queckſilber zwiſchen den Fingern entſchlüpft.
191
Bei Anlaß der Beſprechung aller Lebens—
bedingungen der niedern Pilze kommt
Nägeli unter Nr. 6 zu einem Moment,
das „bis jetzt faſt gar nie berückſichtigt
wurde.“ Und doch iſt die Kenntniß des—
ſelben zur Erklärung einer Menge von
Thatſachen unbedingt nothwendig. Es iſt
die Mitwirkung von Pilzen aus andern
Gruppen, die auf analoge Lebensbedingun—
gen angewieſen ſind. Kaum iſt — ſeit die
Darwin'ſche Lehre von der natürlichen Zucht—
wahl beſteht, der „Kampf um's Da—
ſein“ mit dem Wohlbefinden, dem Ge—
ſundsheitszuſtand des Menſchen in ſo nahe
Beziehung gebracht worden, wie in Nägeli's
Buch von den niedern Pilzen, das ja nicht
verfehlen wird, wegen ſeiner eminent prak—
tiſchen Bedeutung auch den Weg zu jenen
Gegnern Darwin's zu finden, die Nägeli
als ihren Mitkämpfer betrachteten. „Der
Kampf ums Daſein wird bei den
niedern Pilzen ebenſo heftig und
wie der Erfolg zeigt, mit viel ener—
giſcheren Mitteln geführt, als bei
allen andern Pflanzen.“ (S. 31.)
Nägeli weiſt zuerſt an einigen Bei—
ſpielen aus der höhern Pflanzenwelt nach,
wie dort im Kampf ums Daſein die eine
Jahrtauſende beanſpruchen, ſo dürften die
von zwei verwandten Pflanzen je nach
Standort und anderweitigen Verhältniſſen
über die andere den Sieg davon trägt oder
Dementſprechend dürfte die
unterliegt. (Rhododendron ferrugineum
und ‘Rh. hirsutum auf kalkarmem und
kalkreichem Boden, Primula officinalis und
Primula elatior auf trockenem und feuch—
tem Standort.) „Das gleiche Geſetz be—
herrſcht das Gebiet der niedern Pilze. Eine
Gattung, die unter beſtimmten Verhält—
niſſen ganz gut gedeiht, wird durch eine
andere Gattung, die hier als die bevor—
zugtere erſcheint, verdrängt, während
die erſtere unter andern Verhältniſſen im
Rn
192
Gegentheil die letztere zu verdrängen ver—
mag.“ — Hiefür wird vom Verfaſſer ein
ſchlagender Beleg in's Feld geführt: Wenn
von den drei niedern Pilzgruppen der
Spalt-, Sproß- und Schimmelpilze Keime
in eine beſtimmte zuckerhaltige, neutral rea—
girende Nährlöſung gebracht werden, ſo
nehmen allein die Spaltpilze in ausgiebiger
Weiſe überhand und veranlaßen Milch—
ſäuregährung. Wird dagegen der nämlichen
Nährlöſung ½% Weinſäure zugeſetzt, ſo
werden die Sproßpilze Sieger über die
beiden andern Pilzgruppen und veranlaſſen
weingeiſtige Gährung. Verſetzt man endlich
die gleiche Nährlöſung mit 4 oder 5%
Weinſäure, ſo ſiegt die Schimmelpilzgruppe
über die beiden andern. In allen drei
Fällen ſind es die Keime von mindeſtens
zwei verſchiedenen Pilzgruppen, die ſich je—
weilen in der betreffenden Nährlöſung zu
entwickeln und zu vermehren im Stande
wären, wenn man ſie der Concurrenten
entledigte. Das Experiment beweiſt alſo
auch bei den niedern Pilzen die Exiſtenz
des struggle for life.
Ein dritter Punkt von entwicklungs—
geſchichtlichem Intereſſe, auf den Nägeli
in ſeinem Buch von den niedern Pilzen
im Vorübergehen eingeht, betrifft die Diffe—
renzirung unſeres eigenen Geſchlechtes.
Da und dort ſpricht der Verfaſſer von
einer Anpaſſung unſeres Organismus an
die Einwanderung dieſer und jener in unſern
Körper gelangenden niedern Pilze. Letztere
treten unter Umſtänden mit den lebenden
thieriſchen Zellen unſeres Körpers in Con—
currenz; ſiegen die lebenden Gewebe über
die eingewanderten Spaltpilze, ſo bleibt
unſer Organismus vor Erkrankung ver—
ſchont; dies findet in den meiſten Fällen
wirklich ſtatt, da wir annehmen müſſen,
daß fortwährend auf den verſchiedenſten
Literatur und Kritik.
Wegen Spaltpilze in unſern Körper ge—
langen und dort zu vegetiren und ſich zu
vermehren ſtreben. Da unſer Organismus
alſo den meiſten Spaltpilzformen gegenüber
Sieger bleibt, ſo dürfen wir wohl von
einer Anpaſſung in dieſem Sinne reden.
Allein in gewiſſen Fällen, wo unſere
Conſtitution gegenüber beſtimmten Spalt—
pilzformen geſchwächt erſcheint, werden
die letztern Sieger, und die Concurrenz
zwiſchen Spaltpilz und lebendem thieriſchem
Gewebe ſchlägt in dem Sinne aus, daß
Erkrankung erfolgt‘, z. B. Ausbruch von
Wechſelfieber, Typhus, Cholera, Gelbfieber,
Diphtherie, Blattern, Maſern ze. Je nach—
dem die eingewanderten Spaltpilze, welche
Anſteckung zu verurſachen vermochten, im
ſumpfigen Boden entſtanden ſind oder von
einem mit einer anſteckenden Krankheit be—
hafteten thieriſchen Organismus herrühren,
ſpricht man von Miasmenpilzen (Boden—
pilzen) und von Contagienpilzen (Kranken—
pilzen). Nun ſucht der Phyſiologe die höchſt
praktiſche Frage zu beantworten: Können
wir mit unſern Sinnen die inficirende Luft,
welche uns die Spaltpilze zuführt, an ge—
wiſſen Merkmalen erkennen? — Die Ant-
wort fällt verneinend aus; denn das Ge—
ſicht, unſer menſchliches Auge gibt uns
wegen der Kleinheit der Miasmen- und
Contagienpilze keinen Aufſchluß darüber, ob
in einer Atmoſphäre Spaltpilze vorhanden
find oder nicht. Von den andern Sinnes-
organen kann nur noch das Geruchsorgan
in Frage kommen, und von dieſem weiſt
Nägeli nach, daß es uns ebenfalls über
die Spaltpilze der Luft keinen Aufſchluß
gibt; denn die Miasmen- und Contagien—
pilze können nur im trockenen Zuſtand durch
die Luft fortgetragen und in unſern Körper
verſchleppt werden, alſo als Staub zur
Anſteckung Veranlaſſung geben. Trockener
Literatur und Kritik.
Staub riecht aber nicht.
Die Miasmen |
und Contagien find durchaus geruchlos;
die Malaria iſt mit dem Geruchsſinn nicht |
wahrnehmbar und Contagienpilze, welche
in übelriechenden Subſtanzen vorhanden
ſein können, wie ſie es wirklich ſind, z. B.
in Choleraſtühlen u. ſ. w., vermögen
ſo lange nicht in die Luft zu gelangen,
als jene übelriechende Subſtanz feucht iſt;
mit dem Austrocknen der letztern ver—
ſchwindet aber der üble Geruch, ſo daß
die wirkliche Gefahr der Anſteckung —
entgegen der landläufigen Meinung —
erſt dann eintritt, wenn keine übeln Ge—
rüche mehr von der inficirenden Subſtanz
aufſteigen. Nägeli zeigt ganz überzeugend,
daß die Miasmen- und Contagienpilze
wohl meiſtens in kurzer Zeit von den
Fäulnißpilzen verdrängt werden, daß ſie
in faulenden, übelriechenden Subſtanzen
alsbald in unſchädliche gewöhnliche Fäulniß—
pilze übergehen, daß alſo gerade ſtark faulende
Subſtanzen am wenigſten verdächtig ſind.
Das widerſpricht aber der bisherigen An—
ſchauung von Aerzten und Laien.
es iſt nicht das erſte Mal, daß die Wiſſen—
ſchaft ein landläufiges Vorurtheil als ver—
nunftwidrig unmöglich gemacht hat. Und
wenn die Gegner der Nägeli'ſchen Theorie
den Einwand in's Feld führen, daß der
Menſch doch von Natur einen inſtinctiven
Widerwillen gegen übelriechende Subſtanzen
beſitze und daß dieſer Widerwille ſtark für
einen berechtigten Verdacht gegen ſtinkende,
faulende Stoffe ſpreche, ſo begegnet Nä—
geli dieſem Einwand folgendermaßen:
Gegen den ſowohl von der Theorie als
der Erfahrung bewieſenen Satz, daß die
Gefährlichkeit einer Atmoſphäre unabhängig
iſt von dem Geruche, den ſie verbreitet,
und daß die hauptſächlichſte Wirkung einer
ſt inkenden Luft in der Beleidigung unſerer
Allein
Naſe und unſeres äſthetiſchen Gefühles be—
ſteht, — gegen dieſen Satz könnte man
einen phyſiologiſchen Einwurf machen, der
nicht mit Stillſchweigen übergangen werden
kann. Unſere Sinne ſind ohne Zweifel
gewiſſermaßen als die Wächter der Geſund—
heit zu betrachten; ſie zeigen uns im Allge—
meinen an, was für den Organismus vor—
theilhaft oder nachtheilig iſt. Man könnte
nun daraus den Schluß ziehen wollen, daß
der Geſtank faulender Stoffe, weil er uns
widrig iſt, eben deshalb nothwendig auch
ſchädlich ſei.
Wir müſſen hier zuvörderſt eine nicht
hierher gehörige Seite der Frage von der
Beſprechung ausſchließen, nämlich den un—
beſtreitbaren Umſtand, daß Alles, was auf
unſere Sinne unangenehm einwirkt und
dadurch das Nervenſyſtem afficirt, in gleichem
Maße auch das allgemeine Wohlbefinden
beeinträchtigt. Darum handelt es ſich jetzt
nicht, ſondern um die Frage, ob über dieſe
ſelbſtverſtändliche Wirkung hinaus eine übel—
riechende Luft noch in ſpecifiſcher Weiſe der
Geſundheit Schaden bringe.
Zunächſt iſt zu bemerken, daß jener
Grundſatz, unſere Sinne bezeichneten durch
ihr Wohlbehagen oder Mißbehagen, was
uns zuträglich oder ſchädlich ſei, doch in
ſeiner Allgemeinheit auf ziemlich ſchwachen
Füßen ſteht. Wir ſehen dies deutlich am
Geſchmacksorgan und theilweiſe auch am Ge—
ruchsorgan. Mit wohlſchmeckenden Speiſen
und Getränken macht man ſich krank und
mit bittern und widrigen Medicinen kurirt
man ſich wieder. Gewiſſe Speiſen werden
erſt gegeſſen, nachdem ſie Zerſetzungsproceſſe,
bei denen fi) viele Spaltpilze bilden, durd-
gemacht haben und dadurch gewiß nicht
zuträglicher, wenn auch nicht ſchädlich,
geworden find. Der Feinſchmecker ver—
langt, daß am Wildpret und an einigen
8
Kosmos, Band III. Heft 2.
25
194
Käſeſorten die begonnene Fäulniß bemerk—
lich ſei.
Dennoch hat die Ausbildung unſeres
Geſchmacks- und Geruchsorgans im Großen
und Ganzen gewiß die Bedeutung, die man
ihr zuſchreibt. Aus den Forſchungen der
neuern Zeit auf phylogenetiſchem Gebiet,
welche wir vorzüglich Darwin verdanken,
geht unbeſtreitbar hervor, daß die Sinnes—
organe ſich als nützliche Einrichtungen aus—
gebildet haben. Demnach muß auch der
ſo allgemein vorhandene Abſcheu vor
Stoffen, welche nach Fäulniß riechen
und ſchmecken, und die Vorliebe für wohl—
ſchmeckende und wohlriechende Subſtanzen
eine naturgeſetzliche Urſache haben. Es ſind
nützliche Inſtinkte, welche ſich in
der langen Geſchichte des Men—
ſchengeſchlechts unter einfachen
Verhältniſſen durch Anpaſſung
ausgebildet haben, die aber für
unſere complicirten, durch Cul—
tur vielfach veränderten
hältniſſe nicht mehr ausreichen
und in manchen Beziehungen mit
denſelben ſelbſt in Widerſpruch
gerathen ſind.
Nägeli fügt hier in Form einer
Anmerkung bei, daß dieſes Nicht-mehr-aus-
reichen und In-Widerſpruch-gerathen das
Schickſal aller natürlichen Anpaſſungen ſei,
„aller jener Eigenſchaften, die ſich unter
dem Einfluß von beſtimmten Umſtänden
durch eine unendlich lange Generationsreihe
ausgebildet haben und conſtant geworden
ſind. Unter veränderten Verhältniſſen wer—
theilig, — vererben ſich aber vermöge der
erlangten Conſtanz noch durch eine lange
Zeitperiode.“ Gewiß dürfte es ein Leichtes
ſein, dergleichen Inſtinkte, die unſerm Ge—
1 ſchlechte als ſchädliche Erbtheile noch an—
Literatur und Kritik.
Ver⸗
den fie überflüſſig, zuweilen ſelbſt nach-
haften, zu mehreren namhaft zu machen.
Nach jeder großen Anſtrengung, welche
unſere Körperkräfte bis zur höchſten Er—
hitzung in Anſpruch nimmt, drängt unſer
Organismus inſtinktiv nach plötzlicher Ab—
kühlung und doch bekommt uns dieſe in
der Regel ſehr ſchlecht, ja in vielen Fällen
führt ſie plötzlichen Tod herbei, während
der Hund, der Affe und andere höhere
Säugethiere die plötzliche Abkühlung ſehr
leicht ertragen. Die Natur hat bei der
Differenzirung des Menſchengeſchlechtes aus
behaarten Vorfahren uns das natürliche
Haarkleid abgeſtreift; das inſtinktive Drän—
gen nach plötzlicher Abkühlung bei jedes—
maliger Erhitzung iſt uns aber geblieben,
eine beſtändige Gefahr für den Unvorſich-
tigen und Unbedachtſamen.
Nägeli findet für unſern Widerwillen
gegen übelriechende Stoffe folgende vein-
darwiniſtiſche Erklärung:
Der Abſcheu vor dem Fäulnißgeſchmack
hat ſich ohne Zweifel dadurch ausgebildet,
daß die Lebensmittel im Allgemeinen mit
der zunehmenden Fäulniß immer mehr die
Eigenſchaft verlieren, den Körper zu nähren
und ihn als Genußmittel anzuregen. Indi—
viduen, die gegen den Fäulnißgeſchmack
gleichgültig ſich verhielten oder denſelben
gar liebten, mußten als weniger leiſtungs—
fähig zu Grunde gehen und hatten ſomit
keine Nachkommen, die ihre Geſchmacks—
eigenthümlichkeit erbten. Würden die Lebens—
mittel durch die Fäulniß an Nähr- und
Genußwerth gewinnen, fo hätte ſich noth—
wendig der Geſchmack des Menſchen ſo
ausgebildet, daß er ein faules Ei als De—
licateſſe betrachtete.
Aus dem gleichen Grunde iſt uns der
Fäulnißgeruch widerwärtig; das Geruchs—
organ zeigt uns die Gefahr an und warnt
das Geſchmacksorgan. Individuen mit einer |
für die Fäulniß empfindlichen Naſe mußten
unter übrigens gleichen Umſtänden die beſſer
genährten ſein. Dieſer Erklärungsgrund
reicht vollfommen aus, um unſern Abſcheu
vor dem Geſtank begreiflich zu machen.
Es iſt aber möglich, fährt Nägeli
fort, daß noch eine andere Urſache einwirkte,
um das Geruchsorgan in dieſer Richtung
auszubilden. Die Fäulnißpilze ſind zwar
viel weniger gefährlich, als die Miasmen—
und Contagienpilze; in größerer Menge
aber verurſachen ſie ebenfalls krankhafte
Störungen. Der Aufenthalt an Orten,
wo fortwährend Fäulnißproceſſe ſtatthaben,
wo ſtets auch ausgetrocknete Fäulnißſtoffe
ſich befinden, wo vielleicht auch Miasmen
ſich bilden, iſt demnach ungeſund. Solche
Stätten mochte es im Urzuſtande wohl
geben, wo die noch halbwilden Menſchen
die Jagdthiere verzehrten und wo ſich Ab—
fälle und Auswurfsſtoffe anhäuften. Die
Luft an dieſen Orten war nicht nur mit
übelriechenden Gaſen, ſondern auch mit
ſchädlichen Keimen beladen. Diejenigen In
dividuen, welche durch ihr Geruchsorgan
veranlaßt wurden, ſolche Stätten bald zu
verlaſſen, mußten im Vortheil ſein gegen—
über denjenigen, denen ihre Naſe erlaubte,
ſich daſelbſt aufzuhalten und ſich zur Ruhe
hinzulegen.
Aber wenn auch der Widerwille vor
dem Fäulnißgeruch aus dem zuletzt ge—
nannten Grunde entſtanden iſt, ſo folgt
daraus keineswegs, daß eine übelriechende
Luft die Trägerin von ſchädlichen Keimen
ſein müſſe. Es folgt daraus blos, daß in
der Urzeit des Menſchengeſchlechtes unter
urſprünglichen und natürlichen Verhältniſſen
Fäulnißgeruch und Anſteckungsſtoffe nicht
ſelten zugleich auftraten. Der Widerwille
vor dem Fäulnißgeruch erklärt ſich dann
aus dem auch anderweitig conſtatirten Um—
Be...
Literatur und Kritik.
ſelbe Schlachtfeld betritt.
ſtande, daß es dem Menſchen an einem
Sinnesorgan für die Wahrnehmung der
Infektionsſtoffe mangelt und daß deswegen
der Organismus ſich bei der Anpaſſung
der Sinnesorgane daran gewöhnte, die—
jenigen wahrnehmbaren Verhältniſſe zu
verabſcheuen, welche einſt am häufigſten mit
den Infektionsſtoffen vergeſellſchaftet waren.
In unſerer Zeit könnte die Lage der Dinge
eine ganz andere, ſelbſt entgegengeſetzte ge—
worden ſein; es könnte in Folge veränder—
ter Einrichtungen der Fäulnißproceß (der
an und für ſich in Sachen der Anſteckung
durch Infektionsſtoffe ganz gefahrlos iſt)
zeitlich von dem Austrocknungsproceß (der
allein gefahrbringend werden kann) ge—
trennt ſein, ſo daß ſtinkende Luft immer
unſchädlich, die geruchloſe dagegen mehr
oder weniger gefährlich und unſer nicht
vortrefflich angepaßtes Geruchsorgan jetzt
in dieſem Punkte ein falſcher Rathgeber
geworden wäre. (S. 150.)
In der That iſt das Nägeli'ſche
Buch, deſſen Schwerpunkt im mediciniſchen
und hygieniſchen Intereſſe liegt, reich an
Erfahrungsſätzen, welche dieſe letztere Aus—
einanderſetzung als die wiſſenſchaftlich wahr—
ſcheinlichſte erſcheinen laſſen. So weiſt der
Verfaſſer an anderer Stelle nach, daß es
eine durchaus verkehrte Praxis iſt, Schlacht—
felder mit vielen verſcharrten Menſchen—
und Thierleichen nur ſo lange als gefährlich
betrachten, zu als ſich der üble Leichengeruch,
den man ganz irrig einen „verpeſtenden“
nennt, geltend macht, während man kurz
nachher, wenn die Gerüche ſchweigen und
die Luft „rein“ iſt, ganz unbeſorgt das—
Die Miasmen
entwickeln ſich erſt nach vollendeter Fäul—
niß und können erſt dann die Luft wirklich
verpeſten, wenn der Fäulnißproceß und die
Entwickelung ſtinkender Gaſe in Folge der
196
Literatur und Kritik.
Austrocknung aufgehört haben. Nach der | zu gelangen. Das Buch verliert dadurch
Nägeli'ſchen
kende Luft ev. weit verdächtiger, als die
ihr an gleicher Stelle vorangegangene übel—
riechende Atmoſphäre.
Zürich. Dr. Arnold Dodel-Port.
Entwickelungsgeſchichte des Welt—
und Erdgebäudes und der Orga—
nismen. Im Sinne einheitlicher Welt—
anſchauung nach dem heutigen Stande
der Naturerkenntniß, leicht faßlich dar—
geſtellt von J. Aug. Piväny. Plauen
im Vgtl. A. Hohmann 18 77.
Unter den Büchern über Darwinismus
und Entwickelungsgeſchichte, die in neuerer
Zeit wie Pilze aus dem Boden ſchießen,
gehört das vorliegende Werk zu der leider
großen Zahl derjenigen, welche der neuen
Lehre mehr ſchaden als nützen werden. Wir
verkennen keineswegs die guten Abſichten
und den Fleiß des Verfaſſers, der auf
noch nicht dreihundert Dftavfeiten eine ge—
drängte Ueberſicht deſſen zu geben verſuchte,
was in den Werken von Lyell, Vogt,
Büchner, Darwin, Häckel, Jäger
und anderer Vertreter der neuen Weltan—
ſchauung enthalten iſt, aber wir können
diesmal keine günſtige Löſung der Aufgabe
conſtatiren. Was zunächſt abſtößt, iſt die
ungemeine Trockenheit der Aufzählung, wir
hören eine Maſſe Thatſachen, aber der
Darſtellung fehlt Individualität und Leben.
Sodann können wir der Eintheilung keinen
Beifall zollen, da faſt die Hälfte des kleinen
Buches ausſchließlich der Entwickelung der
unorganiſchen Welt gewidmet iſt, während
die Entwickelung der Pflanzen- und Thier—
welt auf wenigen Seiten abgethan wird,
um raſch zum Menſchen und zur Aufzähl—
ung der ſogenannten Entwickelungsgeſetze
Theorie iſt die nicht ſtin- alle Anſchaulichkeit und Wirkung, zumal
es auf jede erläuternde Illuſtration ver—
zichtet hat. Indeſſen würde dieſe Eintheil—
ung an ſich einen ernſten Tadel nicht her—
ausfordern, wenn nicht alle die Hypotheſen
und Schlüſſe der vorgenannten und andrer
Autoren als ſichere Thatſachen geſchildert
würden, die genau ſo ſich vollzogen haben
ſollen, wie die Gewährsmänner den Her—
gang als möglicherweiſe oder ſehr wahr—
ſcheinlich geſchehen, darſtellten. Dem Autor
derartiger Werke liegt die ernſte Pflicht ob,
immer durchblicken zu laſſen, daß das
Meiſte, was wir zu wiſſen glauben, nur
Hypotheſe, wenn auch Hypotheſe von oft
ſolcher Wahrſcheinlichkeit iſt, daß ſich alle
andren Anſichten daneben wie Hallucina—
tionen darſtellen. Aber der Verfaſſer geht
jo weit, ſogar Anſichten wie die Bolger’-
ſchen über Vulkanismus, mit eben der
Sicherheit als Thatſachen darzuſtellen, wie
etwa die Kant-Laplace'ſchen Welt—
bildungshypotheſen u. A. Solche Werke
müſſen nothwendig auf das große Publi—
kum irreführend, auf den Unterrichteten
verſtimmend wirken, und ſie ſind es zum
guten Theil, welche bei einer großen An—
zahl gebildeter Laien die Mißſtimmung
gegen die neuen Lehren unterhalten. Die
Selbſtgewißheit des Verfaſſers ſteigert ſich
an zahlloſen Stellen ſeines Werkes zu
Rechnungen über die Dauer beſtimmter kos—
miſcher Vorgänge, Rechnungen, die faſt
immer das Ergebniß von Mißverſtändniſſen,
willkürlicher Annahmen, und das verräthe—
riſche Zeichen mangelnder Vorſicht und
Selbſtkritik ſind. So leſen wir z. B. auf
S. 59 mit geſperrter Schrift: „Es be—
durfte daher eines Zeitraumes von 114
Millionen Jahren, bis das ſalzloſe Urmeer
durch den Zufluß von Süßwaſſer zu ſeinem
Literatur und Kritik.
jetzigen Kochſalzgehalte gelangen konnte.“
Was ſoll uns nun dergleichen?
erſtens iſt es ſehr fraglich, ob ein ſalzfreies
Urmeer überhaupt exiſtirt hat, da mög—
Denn
licherweiſe der Erdball ſich vorher mit einer
Kruſte flüchtiger Salze bedeckt hatte, ehe
ſich die Waſſerdampfmaſſen in flüſſiger
Geſtalt auf ihm niederſchlugen, zweitens iſt
jene überflüſſige Rechnung auf den Salz—
gehalt der jetzigen Flüſſe geſtützt, und
drittens vermögen wir den beſtändigen Salz—
verluſt der Meere nicht in beſtimmten Zah—
len ausdrücken. Eine Rechnung aber, bei
der man von vornherein ſagen muß, daß
das Reſultat vielleicht mit zehn multiplicirt,
oder durch hundert dividirt werden muß,
um der Wahrheit näher zu kommen, die
iſt mehr als überflüſſig.
ſagt uns in der Vorrede, daß das Werk
keineswegs eine bloße Compilation ſei,
ſondern daß es auch beſonders wichtige
eigene Ergänzungen der kosmiſchen Theorie
bringe, und er macht uns insbeſondere auf
zwei derſelben im Voraus aufmerkſam, die
wir deshalb kurz betrachten wollen. Auf
Seite 32 glaubt er der Mehrzahl der
heute lebenden „Phyſiker und Natur—
philoſophen“ ein Licht darüber aufſtecken
Der Verfaſſer
zu ſollen, wie ſie ſich die im Weltall zer— |
ſtreute Urmaterie, ehe fie ſich zu Welt- |
körpern ballte, zu denken haben. Der Ver⸗
daß die
faſſer bildet ſich nämlich ein,
Männer der Wiſſenſchaft in dem Irrthum
befangen wären, der Weltſtoff ſei ehemals
durch eine ungeheure Glut in dem dünnſten
Dampf aufgelöſt geweſen. Referent muß
geſtehen, daß er dieſe Anſicht zum erſten
Male in dem Pivany'ſchen Buche ge—
funden hat, daß der Verfaſſer ſomit wohl
ein Hirngeſpinnſt bekämpft, deſſen alleiniger
Urheber er ſelber iſt. Die zweite große
Entdeckung finden wir auf S. 122 mit
197
geſperrter Schrift wiedergegeben, wie es
denn der Verfaſſer liebt, halbe und ganze
Schriftſeiten durch geſperrten Druck hervor—
zuheben. „Ich behaupte“, ſagt der Ver—
faſſer emphatiſch, „daß die Lebenserſchein—
ungen (im eben verſtorbenen Organismus)
nur deshalb aufgehört haben, ſich zu mani—
feſtiren, weil eben das Eiweiß des leben—
digen Organismus nicht mehr das Eiweiß
des todten Organismus iſt, weil es eine
Veränderung ſeiner chemiſchen Conſtitution
erlitten hat, weil es in einen andern
allotropen, muthmaßlich in einen polymeren
Zuſtand übergegangen iſt.“ Dieſem wohl auf
Mißverſtändniſſen der Jäger'ſchen Auf—
ſtellungen beruhenden Orakelſpruche gegen—
über, müſſen wir bemerken, daß ein Orga—
nismus jedenfalls bereits in Folge viel
geringerer Umſetzungen ſeiner Beſtandtheile
zu Grunde gehen müßte, als durch eine
ſo totale Umſetzung, wie ſie der Begriff
der Polymerie oder der Allotropie verlangt.
Solche Divinationen in geſperrter Schrift
verſtimmen unſäglich und bieten dem Geg—
ner beſtändigen Stoff zu höhniſchen Apo—
ſtrophen. Zum Unglücke häufen ſich der—
artige Mißverſtändniſſe in Cardinalfragen.
Auf S. 138 leſen wir, natürlich wieder in
geſperrter Lapidarſchrift: „Wenn wir in
zwei Individuen, die nicht von einander
abſtammen, Aehnlichkeiten und Verſchieden—
heiten in dem Baue ihres Körpers wahr—
nehmen, ſo ſind die erſteren von einem
gemeinſchaftlichen Vorfahren ererbt, die
letzteren während des Lebens der beider—
ſeitigen Ahnenreihe bis zurück zu dem ge—
meinſchaftlichen Vorfahren durch Anpaſſung
erworben worden.“ Laſſen wir den mehr
als ſonderbaren Eingangsſatz dieſes „Ge—
ſetzes“ unkritiſirt, und verſuchen wir uns
darnach z. B. die Aehnlichkeit aller Waſſer—
thiere und aller Waſſerpflanzen unter ein—
*
198
Literatur und Kritik.
ander zu erklären.
iſt hier umgekehrt die Aehnlichkeit durch
Anpaſſung erworben; der Verfaſſer hat
keinen Unterſchied zwiſchen Homologie und
Analogie zu machen verſtanden. So ſehen
wir ihn leider nur allzu oft ſeine Autori—
täten übertrumpfen und über das Ziel
hinwegſchießen. Gleich im Eingange finden
wir behauptet, daß ſich auf keinem aus
dem Alterthume ſtammenden Gemälde auch
nur eine Spur von violetter Farbe befinde.
Eine ſolche Behauptung hat weder Geiger,
noch Gladſtone oder Magnus auf—
geſtellt, im Gegentheile man kennt ſolcher
Gemälde in großer Zahl, und nicht etwa
blos ein einziges, wie der Verfaſſer ſich
nachträglich verbeſſernd, hinzuſetzt. Auch
liegt darin nicht der Schwerpunkt der Frage,
denn ein Maler der blau- oder violettblind
wäre, könnte recht gut blaue und violette
Pigmente verwenden, ſobald ſie ihm einen
ähnlichen Eindruck verurſachen, wie die
entſprechenden Naturgegenſtände. Wir wiſſen
z. B., daß ältere Maler in Folge einer
Gelbfärbung der Augenflüſſigkeiten und
weil fie dann Blau und Voolett weniger
deutlich empfinden, nun erſt recht anfangen,
dieſe Pigmente in den grellſten Nüancen
zu verwenden, und von dem engliſchen
Genremaler Mulready iſt es bekannt,
daß er in ſeinem Alter die Vegetation blau,
den menſchlichen Körper violett malte,
eben weil er den violetten Farbſtoff nicht
ſo ſah, wie die Mehrzahl der geſunden
Menſchen. — — — Unſere Beurtheilung
ſeines Buches wird dem Verfaſſer und
vielleicht auch manchem unſrer Leſer ſehr
Wie wir leicht ſehen,
hart erſcheinen. Wenn ein Parteiorgan fo
ſtreng urtheilt, was ſollen dann die Gegner
ſagen? Indeſſen die Sache iſt die, daß
wir hier nicht mit kleinen Fehlern und
Mißgriffen zu rechten haben, denen jeder
Autor mehr oder weniger unterworfen iſt,
ſondern mit Grundſchäden, die unſerer
Sache mehr Nachtheil bringen als man
wohl glaubt. i
Andachten von Wilhelm Jordan.
Frankfurt a. M. Selbſtverlag von W.
Jordan. 1877. (In Commiſſion bei F.
Volckmar. Leipzig.)
Der „ſo weit die deutſche Zunge klingt,“
rühmlichſt bekannte Rhapſode und Wieder—
erneuerer der Nibelunge bietet in dieſem
elegant ausgeſtatteten Bande eine Reihe
didactiſcher Gedichte, meiſt epiſcher Form,
welche die darwiniſtiſche Weltanſchauung
poetiſch zu verklären beſtimmt ſind. Die
Grundſtimmung der Gedichte iſt eine reli—
giöſe und alſo ihrem Titel entſprechend:
Der Gedanke des Verfaſſers vom „alten
und neuen Glauben“, daß Kunſtformen
einen Erſatz für Ideale bieten könnten, die
in andrer Form verloren gegangen ſind,
ſcheint als Leitmotiv darin nachzuwirken.
Die Gedichte bergen in kerniger, edler
Sprache einen Schatz erhebender und ver—
ſöhnender Gedanken, die auf den Leſer,
wenn er ſich nur erſt an die Neigung des
Verfaſſers, unſre Sprache zu bereichern, ge—
wöhnt hat, vollauf die beabſichtigte Wirkung
hervorbringen. Wir empfehlen das Buch
unſern Leſern angelegentlichſt.
Offene Briefe und Antworten,
Profeſſor Frohſchammer und die
Freiheit der Wiſſenſchaft.
ni
|
it Bezug auf meinen Auffag über
die Virchow 'ſche Rede an der letzten
Naturforſcherverſammlung zu Mün—
chens) erhalte ich von Herrn Profeſſor
Dr. J. Frohſchammer ein berichtigendes
Schreiben, welches ich mit um ſo größerem
Vergnügen hier zum Abdrucke bringe, als
daſſelbe einen vermeintlichen Gegner in
einen nüchteren, objektiven Beurtheiler, ja
zum Theile ſogar in einen Anhänger der
Ideen umſtempelt, welche in dieſem Organe
ſelbſt vertreten werden. Daß damit auch
alle Folgerungen hinfällig ſind, die ich an
den vermeintlichen Standpunkt des gedachten
Herrn Profeſſors knüpfte, iſt ſelbſtver—
ſtändlich. Ich laſſe alſo das fragliche
Schreiben hiermit folgen.
Friedrich v. Hellwald.
München, den 23. Febr. 1878.
Hochgeehrter Herr!
Erſt jetzt iſt mir das Quartal-Heft
der Zeitſchrift „Kosmos“ Okt — Dez. 1877
zugekommen und ich finde darin von Ihnen
einen Artikel, betreffend die Freiheit der
Wiſſenſchaft und Virchow's Vortrag bei
Kosmos, Band II. S. 172.
der Münchner Naturforſcher-Verſammlung.
Daſelbſt heißt es: „Leute, welche z. B.
tagtäglich gegen den römiſchen Jeſuitismus
donnern wie Joh. Huber, Frohſchammer
und der ganze Reſt der lebensunfähigen
altkatholiſchen Sekte ſcheinen ſich gar nicht
bewußt zu ſein, daß ſie ſelbſt in ihrem
Kampfe gegen Darwin und ſeine Schüler
in vollſtem Maße einem wiſſenſchaftlichen
Jeſuitismus huldigen ꝛc.“ Sie erklären
mich hier alſo für einen Altkatholiken und
für einen Bekämpfer Darwins. Beides iſt
durchaus unrichtig und unberechtigt. Ich
habe den Altkatholicismus ebenſo für lebens—
unfähig und für ſchwächliche Halbheit er—
klärt wie Sie und zwar nicht erſt jetzt,
ſondern ſchon bei ſeinem Entſtehen, im Jahre
1871 in der „Augsb. Allg.-Ztg.“ und
anderwärts, wie Sie leicht aus meinem
Buche: Ueber die religiöſen und kirchenpoli—
tiſchen Fragen der Gegenwart erſehen könnten.
Die Altkatholiken reſp. die Führer derſelben
Huber, Friedrich, Zirngiebl x.
haſſen daher kaum Jemanden ſo ſehr, wie
mich und zeigen ihre gehäſſige, erbitterte
Geſinnung ſo oft es nur möglich. Man
mag meine Schriften und mein Streben
kritiſiren und beurtheilen, wie es beliebt,
aber Niemand hat das Recht mich als
Altkatholiken zu bezeichnen — ſei es zu
Lob oder Tadel.
5
200
Offene Briefe und Antworten.
Was die Darwin'ſche Lehre betrifft,
ſo war ich (was freilich ignorirt wird) der
erſte in Deutſchland, der davon eine ein—
gehende Darſtellung und Kritik publicirt
hat (in meiner philoſophiſchen Zeitſchrift
„Athenäum“ 1862). Damals gab es noch
keine unermeßliche Darwin-Literatur und
es war noch nicht möglich aus 99 Schriften
mit Leichtigkeit eine hundertſte zu fabriciren
wie jetzt. Darwin ſelbſt nahm Kennt—
niß von meiner ausführlichen (mehr als
100 Seiten umfaſſenden) Abhandlung und
ſchrieb mir im Herbſte 1862 einen freund—
lichen Brief, in welchem er ausdrücklich die
Richtigkeit meiner Darſtellung ſeiner Lehre
anerkannte und mir ſeinen Dank dafür
ausſprach, daß ich trotz meiner kritiſchen
Bemerkungen doch ſo vielfach die Größe
und das Verdienſt ſeines Werkes anerkannt
habe. Seitdem hat ſich meine Anſicht nicht
ungünſtiger, ſondern eher günſtiger geſtaltet.
Als Hypotheſe habe ich allerdings Darm in's
Lehre bezeichnet — aber ſo bezeichnen Sie
dieſelbe doch auch ſelbſt noch immer —
ſogar in dem in Frage ſtehenden Artikel.
Darwin ſelbſt kann Kritik ganz wohl ver—
tragen, er verlangt nicht blinde kritikloſe
Annahme ſeiner Anſichten, als ſeien dieſe
ein neues Glaubensſyſtem. Ein princi—
pieller Bekämpfer der Descendenzlehre und
ſelbſt der Darwin'ſchen Form der—
ſelben war ich nie, wenn ich auch nicht
Würden
Alles ohne Weiteres annahm.
oder wollten Sie mein neueſtes Werk:
1
Die Phantaſie als Grundprincip des Welt—
proceſſes, 1877, kennen, ſo würden Sie
auch wiſſen, daß dieſem Verſuche eines
philoſophiſchen Syſtems durchaus die Des—
cendenzlehre zu Grunde liegt und eine um—
faſſende Ausführung derſelben iſt.
Unter dieſen Umſtänden darf ich von
Ihrer Gerechtigkeitsliebe wohl erwarten,
daß Sie das Unrecht, welches Sie mir in
Ihrem Artikel öffentlich zugefügt haben,
bei nächſter Gelegenheit auch öffentlich gut
zu machen ſuchen werden.
Unter die Gegner der Freiheit der
Wiſſenſchaft werden Sie mich aber wohl’
nicht deshalb ſchon zählen, weil ich nicht
alle Ihre Anſichten theile. Ich habe für
die Freiheit der Wiſſenſchaft in München
gekämpft durch meine Schrift: Ueber die
Freiheit der Wiſſenſchaft, 1861, als dies
noch gefährlich war und man noch nicht con
amore eine Cauſerie darüber vor einem
dankbaren Publicum veranſtalten konnte,
wie Virchow gethan. Die Schrift hat
mir Verfolgungen genug zugezogen, Opfer
genug gekoſtet und mich nahezu um
meine Stelle gebracht. Zum Dank dafür
wird dieſelbe jetzt ignorirt und ich ſelbſt gar
noch als Gegner der freien Wiſſenſchaft
hingeſtellt!
Genehmigen Sie die Verſicherung
beſonderer Hochachtung, mit der ich bin
Ihr ergebener e
Prof J. Frohſchammer.
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
Zur Experimental-Achhetik,
Bon
Ruclolf Nedtendacher.
uftad Theodor Fechner
hat zum erſten Male in ſei—
Zi nem Schriftchen „Zur experi—
A mentalen Aeſthetik“ (Leipzig,
Hirzel, 1871) und in ſeiner „Vorſchule
der Aeſthetik“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel,
1876) eine ſowohl für den Philoſophen
wie für den Künſtler bedeutungsvolle Car—
dinalfrage, von neuen Geſichtspunkten aus—
gehend, zu löſen verſucht, die Frage näm—
lich: Ob es möglich ſei, eine Grundform
der Schönheit aufzuſtellen; ob es ein
Größenverhältniß gebe, welches in der
Anſchauung als ein an ſich äſthetiſch Werth—
vollſtes vor Anderen vorzuziehen ſei; ob
mit einem Wort eine Schönheit an ſich,
eine Schönheit à priori exiſtire?
Die Künſtler ſtellten meiſtens als einen
Fundamentalſatz die Behauptung auf, ab—
geſehen von Rückſichten der Verwendung
ſei jedes Verhältniß äſthetiſch gleichgültig;
Kant, Schiller, Herbart dagegen
glaubten die Schönheit gerade von jeder
Rückſicht auf die Verwendung der Verhält—
niſſe befreien zu müſſen, um ſie in ihrer
vollen Reinheit zu gewinnen. Fechner
nun iſt der Ueberzeugung, dieſe Kernfrage
müſſe auf experimentellem Wege der Löſung
näher gebracht werden. Fechner verwirft
die früheren Verſuche, eine ſolche abſolute
Schönheitsform, Schönheitslinie, ein Schön—
heitsverhältniß feſtzuſtellen, indem fie auf
Grund falſcher Vorausſetzungen gemacht
worden ſeien.
Daß der Kreis die Linie abſoluter
Vollkommenheit, die Kugel die abſolute
Schönheitsform, Quadrat und gleichſeitiges
Dreieck die ſchönſten Figuren, die fünf
ſtereometriſch regelmäßigen die ſchönſten
Körper ſeien, daß endlich das Verhältniß
1:1 oder 1: 2 allen anderen vorgezogen
werden müſſe, wird ſtets denen am ein—
leuchtendſten ſein, welche von dem Vor—
urtheil befangen ſind, die Schönheit müſſe
in der Einfachheit liegen; die genaunten
Formen, Figuren, Verhältniſſe entſprechen
dieſer Anforderung an die Schönheit voll—
ſtändig. Wer hingegen die Schönheit durch
die Einheit in der Mannigfaltigkeit for—
mulirt wiſſen will, dem werden die Ellipſe,
die Spirale, ein dreiachſiges Ellipſoid, ein
complicirteres Verhältniß, wie z. B. das—
Kosmos, Band II. Heft 3.
—
EUR
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
202
jenige des goldenen Schnittes, als voll—
kommenſte Principien der Schönheit gelten
können.
anſichten gegründeten Hypotheſen über das
allgemeine Schönheitsprincip wendet ſich
Fechner, indem er durch das Experiment
erſt die Gültigkeit dieſer Hypotheſen be—
wieſen haben will.
klar, daß, wenn es ein ſolches abſolutes
Princip der Schönheit gäbe, daſſelbe über-
all dann nachweisbar ſein müßte, wenn
wir ein äſthetiſches Urtheil durch das Prä—
dicat ſchön fällen; in der Natur- wie in
der Kunſtſchönheit müßte dieſes Grund—
princip ſich entdecken laſſen und Zeiſing
glaubte, in dem Verhältniß des goldenen
Schnittes dieſes geheimnißvolle Grundprin-
Das Ber- |
cip wirklich entdeckt zu haben.
hältniß vom goldenen Schnitt, welches wir
zukünftig, wie Fechner gethan, durch das
Zeichen © abkürzungshalber ausdrücken
wollen, bedeutet bekanntlich, daß ſich der klei
nere Theil (minor) einer Ausdehnung zum
größeren (major) verhalten ſolle wie dieſer zur
Summe beider; in eine Formel ausgedrückt
b
würden wir jagen; — =, in
en 1 jagen: , ap: in
Zahlen 1 11803 Zeiſing
legt dieſem Verhältniß einen wahrhaft un—
endlichen Werth bei und ſucht in der Kunſt
aller Zeiten und Völker, in den Natur—
gebilden und Naturwiſſenſchaften, in der
Geſtaltung der Erde und der Bewegung
der Sterne nach Beiſpielen der Verwend—
ung dieſes Princips. Wo die Wirklichkeit
einmal nur in grober Annäherung auf
das Verhältniß vom goldenen Schnitt paßt,
da nimmt Zeiſing zu dem, wie Fech—
ner ſagt, bis zu gewiſſen Grenzen freilich
zuzugeſtehenden Satze ſeine Zuflucht: „Daß
überhaupt die realen Erſcheinungen die Idee
nie ganz erreichen und gewiſſe Abweichun—
So viel iſt jedenfalls
gen ſogar nothwendig werden, wenn der
Gegen dieſe auf theoretiſche Vor-
innere Reichthum der Idee in mannigfacher
Erſcheinung zu Tage treten ſoll.“
Fechner ſagt dagegen: Wie kann ein
Verhältniß überhaupt noch als ein Ideal—
Verhältniß der Wohlgefälligkeit gelten, wenn
Abweichungen von ihm es an Wohlgefäl—
ligkeit übertreffen? Fechner ſagt ferner,
es ſei ſehr zu verwundern, daß ein Prin—
cip, welchem Zeiſing eine ſo außerordent—
liche Bedeutung zuſchreibt, ſeither Jeder—
mann verborgen bleiben konnte. Fügen
wir bei, wenn Zeiſing Recht hätte be—
halten wollen, ſo hätte er doch alle anderen
denkbaren Verhältniſſe von 1 zu einer an—
deren Größe, als eben im Weltall weniger
oft vorkommend als das Verhältniß vom
goldenen Schnitt, nachweiſen müſſen, und
das wäre ihm wohl ebenſo wenig gelungen,
als das Problem, den goldenen Schnitt
als in den meiſten Fällen verwendet zu
conſtatiren.
Fechner verlangt mit Recht, daß man
das Grundprincip der Schönheit zunächſt
nur auf die Schönheit in der Anſchauung
beziehen ſolle, denn man dürfe nicht a priori
ein muſikaliſch als wohlgefälligſt erklärtes
Schwingungsverhältniß auch als ein in der
Anſchauung am günſtigſten Erſcheinendes an—
nehmen. Selbſtverſtändlich darf die Er—
forſchung dieſes Grundprincips der Schön—
heit nicht auf den Vergleich von Qualitäten
und Intenſitäten der Temperatur, des Ge—
ruchs, Geſchmacks und Taſtgefühls ausge—
dehnt werden, die wir ja an und für ſich
aus dem Bereich des Schönen in das des
Angenehmen verweiſen. Auch geſteht Fech—
ner höheren philoſophiſchen Geſichtspunkten
kein Recht zu, ohne Weiteres als Ausgangs—
punkte zur Auffindung des geſuchten Schön—
heitsprincips zu dienen.
Was nun die Feſtſtellung des Schön—
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 203
heitsprincips mittelſt praktiſcher Verſuche
anbelangt, ſo läßt ſich an einem concreten
Fall am beſten erläutern, worin ſeither
Fehler gemacht wurden; man ſuchte z. B.
das Princip der formalen Wohlgefälligkeit
vom menſchlichen Körper abzuleiten, wählte
alſo als Unterſuchungsobjekt ein zu Com—
plicirtes, welches nicht blos durch die
Erſcheinung der Form, ſondern auch aus
anderen, außerhalb der Form liegenden
Gründen wohlgefällig erſcheint. Man
wählte anſtatt des rein formellen menſch—
lichen Körpers, wie er uns in den Werken
der Plaſtik vor Augen tritt, als Unter—
ſuchungsobjekt den wirklichen Menſchen, alſo
die nicht unter den einfachſten Bedingungen
angeſchaute Form. Der menſchliche Körper
iſt an und für ſich ungeeignet zur Ableit—
ung eines einfach formulirten Schönheits—
princips, weil ſeine Abtheilungen zu wenig
Beſtimmte ſind, um ihre Dimenſionen mit
Ausſchluß jeder Willkür oder Anlegung
eines Maßſtabes genau zu gewinnen und
auf Grund ſicherer Maße die Verhältniſſe
zu prüfen.
Will man von Erfahrungsreſultaten
das Schönheitsprincip ableiten, ſo muß
man die Verſuche 1) mit einfachen Objekten
vornehmen, z. B. mit einem Rechteck oder
Parallelepipedon, 2) man muß das Objekt
als reine Form der Unterſuchung zu Grunde
legen, d. h. alſo von jedem Zweck abſtra—
hiren, dem es im Leben dienen ſoll und
kann, von jedem Stoff, in welchem wir
es anzuſchauen gewohnt ſind; man muß
mit einem Worte die direkte Wohlgefällig—
keit des Unterſuchungsobjekts im Auge ha—
ben und von jeder Steigerung oder Min—
derung derſelben durch aſſociative Vorſtell—
ungen ganz abſehen. Will man die reine
Wohlgefälligkeit des Verhältniſſes
Rechteckes im Vergleich mit anderen prüfen,
eines
ſo darf man demnach nicht an ein Buch
oder eine Thür denken, zu welchem wir es
verwendet, nicht daſſelbe als eine Platte
von Gold, Holz, Marmor unterſuchen, in
welchen Stoffen es zur Erſcheinung kommt,
ſondern man muß auf die reine Form oder
das Verhältniß ſeine Aufmerkſamkeit richten.
Man muß drittens ohne Vorurtheil und
Vorausſetzung den Verſuch beginnen, man
darf nicht experimentiren, um das ſchon
zum Voraus angenommene Princip bewei—
ſen zu wollen, ſondern das Princip ſoll
ſich erſt aus der Unterſuchung ergeben. 5
Nach Aufſtellung dieſer Grundſätze,
nach welchen die Experimente vorgenommen
werden ſollen, beſpricht Fechner in ſeiner
Vorſchule der Aeſthetik die Einwürfe, welche
gegen die Nützlichkeit ſolcher Experimente
erhoben werden können.
Den Einwurf, daß ſelbſt die iſolirt
vorgeſtellten oder angeſchauten Verhältniſſe
und Formen, welche in dieſer Weiſe äſthe—
tiſch am vortheilhafteſten erſcheinen, in ihrer
Verwendung, in ihrer relativen Lage zu
anderen Verhältniſſen und Formen dieſes
Vortheils verluſtig werden könnten, daß
ſomit die an ſich wohlgefälligſten Formen
und Verhältniſſe in ihrer Anwendung ſich
nicht feſthalten ließen, widerlegt Fechner
nach Vorausſchickung einiger Beiſpiele in
vier Sätzen.
Als Belege für obigen Einwurf führt
er an, ein Kreis in einem Quadrat ge—
zeichnet ſei wohlgefälliger, als ein um ein
Quadrat gezeichneter; ein Kreis paſſe beſſer
wie eine Ellipſe in ein Quadrat, eine
Ellipſe beſſer als ein Kreis in ein Rechteck.
Wenn Fechner aber von dieſen Beiſpielen
ausſagt (Experimental-Aeſthetik), dieſes
Mehr oder Weniger der Wohlgefälligkeit
ſei ganz unabhängig von Nebenvorſtellungen
und ergäbe ſich aus der reinen Anſchauung,
204 Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
ſo ſcheint er unſeres Erachtens zu irren.
An dieſe einfachen Figuren des Kreiſes
oder Quadrats, der Ellipſe oder des
Rechtecks knüpfen ſich bei ihrer Zuſammen—
ſtellung neue Vorſtellungen des Berührens
und Durchſchneidens, alſo ſolche, welche
Fechner als aſſociative Faktoren im Ge—
ſammteindruck bezeichnet. Die Tangente hat
in ihrem Berührungspunkt mit einer Curve
auf einen Moment, in einem keeinſten
Theil der Linie, eine Gemeinſamkeit mit
dem Bildungsgeſetze der Curve, die Stetig—
keit der Krümmung geht hier in eine an—
dere von unendlich großem Radius über.
Anders die Linie, welche die Stetigkeit der
Curve unterbricht, momentan hemmt, ihrem
Bildungsgeſetz alſo widerſpricht. Drei Punkte
der Curve fallen mit drei Punkten der
Tangente faſt zuſammen, wenn die Abſtände
der Punkte unendlich klein ſind; ſie fallen
ganz zuſammen, wenn der Krümmungs—
halbmeſſer der Curve unendlich groß wird.
Das Quadrat, welches vom Kreis um—
ſchrieben iſt, trifft deſſen durch die Eckpunkte
gezogene Tangenten unter Winkeln von
450, daran wird nichts geändert, wenn
man auch den Halbmeſſer des Bogens un—
endlich klein oder groß annimmt.
Der oben erwähnte Einwurf, ſowie
ein anderer, welcher Fechner gemacht
wurde, daß nämlich Bildungszuſtand, Alter,
Geſchlecht und Individualität das äſthetiſche
Urtheil beeinfluſſen werden, ſomit alle Ex—
perimentirungsverſuche in Frage ſtellen
müſſen, iſt ihm nur ein Sporn, die Sache
ſelbſt möglichſt zu klären, um das Princip
reiner zu gewinnen.
Blicken wir uns in dem Zimmer um,
in welchem wir uns gerade befinden, ſo
ſehen wir bei Allem, was zur Verwendung
gekommen, gewiſſe Formen und Verhältniſſe
dominiren, indem ſie die Hauptgeſtalt, das
Hauptverhältniß der Objekte beſtimmen: ſie
veranlaſſen uns, unſere Aufmerkſamkeit vor
Allem auf das Ganze zu richten und die
Einzeltheile zunächſt außer Acht zu laſſen,
ebenſo wie die nicht zum Gegenſtand ge—
hörige Umgebung. Bald ſehen wir die
Gegenſtände von dieſer losgetrennt, wie die
Bilder und Spiegel durch einen Rahmen,
bald ſehen wir ſie als Mobilien ihren
Platz und damit ihre Umgebung ändern,
bald ſchaffen wir ihnen, z. B. den Kunſt—
werken, eine gleichgültige Umgebung, damit
die Sache ſelbſt deſto reiner zur Wirkung
komme. Da die Wohlgefälligkeit durch den
Einfluß der Umgebung auf die Zuſammen—
ſtellung von Formen und Verhältniſſen
geändert wird, ſo werden wir gezwungen,
ſtets die größtmögliche Wohlgefälligkeit her—
zuſtellen, alſo unter der unendlichen Anzahl
möglicher Combinationen von Formen und
Verhältniſſen die günſtigſten auszuſuchen;
daraus ergiebt ſich aber die Aufgabe, nach
den Urſachen und Bedingungen zu forſchen,
welche das Endreſultat, die wohlgefälligſte
Wirkung, hervorgebracht haben; wir ent—
decken damit die Geſetze des Wohlgefälligſt—
wirkenden, wir lernen den äſthetiſchen
Mittelpunkt ſo zu ſagen kennen, in wel—
chem ſich, dem Schwerpunkt einer Maſſe
vergleichbar, die Fähigkeit einer Combina—
tion von Formen und Verhältniſſen, äſthe—
tiſch zu wirken, concentrirt. Oder anders
ausgedrückt, wir finden gleichſam die Aſſym—
ptote als einer Grenzlinie, das Ideal,
welchem ſich die Schönheit der zu unter—
der Schönheit in der Anſchauung deſto ſuchenden Combinationen nähert, oder von
welchem ſie ſich entfernt, wir finden die
Maxima und Minima, die höchſten und
niedrigſten Grade ihrer äſthetiſchen Werthe
in Bezug auf eine feſte Norm ihrer Be—
urtheilung. Der Erwachſene von höherer
i )
::.. — A a nn
und mittlerer Bildung wird uns bei der
Unterſuchung ſolcher Verhältniſſe im All—
gemeinen als der Urtheilsfähigſte gelten.
Das etwa ſind Fechner's Einwend—
ungen zur Widerlegung der Widerſprüche
gegen den Werth der äſthetiſchen Experi—
Controlirens mancher äſthetiſcher Anſichten,
Behauptungen, Theorien zuertheilen will,
als daß er ſich von ihnen einen beſondern
praktiſchen Gewinn verſpricht; denn dem
Gefühl des Künſtlers traut er unter allen
Umſtänden die größte Sicherheit in der
Beurtheilung einzelner Fälle zu.
Sehen wir nun einmal zu, wie Fech—
ner experimentirt und was ſich aus den
Experimenten ergab. Nach ihm ſind drei
verſchiedene Methoden des Experimentirens
möglich: Entweder man läßt viele Perſonen
zwiſchen den hinſichtlich ihrer Wohlgefällig—
keit zu vergleichenden Formen oder Form—
verhältniſſen wählen, oder man läßt das
nach ihrem Geſchmack Wohlgefälligſte durch
ſie ſelbſt herſtellen, oder endlich, man mißt
im Gebrauch vorkommende Formen und
Verhältniſſe und ſucht die Gründe ihrer
Wohlgefälligkeit im Vergleich mit den ge—
wonnenen Zahlenwerthen zu erforſchen.
Fechner dehnte ſeine Unterſuchungen
zunächſt auf drei einfache und zugleich
leichtverſtändliche Beiſpiele von Formen
und Verhältniſſen aus:
1. Auf die Theilung einer geraden
Linie in zwei Theile;
Auf die Figur des Kreuzes;
3. Auf das Rechteck und deſſen eigen—
thümlichſtes Specimen, das Quadrat.
Die Frage iſt im erſten Falle: Iſt die
Gleichtheilung der Geraden vortheilhafter
oder äſthetiſch weniger günſtig als jede
andere, und wenn das Letztere der Fall
iſt, wo liegt das äſthetiſch Centrum, wel—
1
.
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
mente, welchen er mehr die Rolle des
205
ches Theilungsverhältniß iſt das günſtigſte?
Im zweiten Falle handelt es ſich um das
gleicharmige oder ungleicharmige Kreuz; iſt
das zweite äſthetiſch günſtiger wie das erſte?
und, falls man bejahend antwortet, welches
ungleicharmige Kreuz iſt das Schönſte?
Endlich drittens, iſt das Quadrat oder
ein anderes Rechteck das Schönſte, und
zwar, welches iſt das Wohlgefälligſte?
Die Endergebniſſe von Fechner's
Unterſuchungen ſind, kurz geſagt, folgende:
1. Die horizontale Gerade ſieht ſym—
metriſch getheilt, alſo halbirt, am vortheil-
hafteſten aus. Die Theilung der Verti—
calen konnte nicht ſo vorgenommen werden,
daß ſich ein äſthetiſches Maximum ergeben
hätte, die Beantwortung der Frage blieb
unbeſtimmt in Bezug auf die Verticale.
2. Ueber das gleicharmige Kreuz ſpricht
ſich Fechner nicht aus; bei dem ungleich—
armigen iſt dasjenige Verhältniß das beſte,
bei welchem der Querbalken ſich zum Längs—
balken wie 1: 2 verhält.
3. Unter den Rechtecken iſt das Qua—
drat das ungünſtigſte von allen; ebenſo
ſind die ſehr langen Rechtecke äſthetiſch un—
vortheilhaft. Ja ſogar ſcheint es, daß das
Quadrat ſelbſt von den ihm zunächſt ſtehen—
den Verhältniſſen an Schönheit überboten
wird.
Das günſtigſte Verhältniß iſt beim
Rechteck dasjenige des goldenen Schnittes,
bei welchem ſich alſo die kleinere Seite zur
größeren verhält wie dieſe zur Summe beider.
Ein weiteres Ergebniß der Unterſuch—
ungen Fechner's war dasjenige, daß
unter allen Vierecken das Rechteck am
wohlgefälligſten iſt, und daß jedes geringe
Abweichen vom Parallelismus der Seiten
unvortheilhafter iſt als ein noch beträcht—
licheres Abweichen vom goldenen Schnitt—
Verhältniß.
Mit der Unterſuchung der Rechtecke
verfuhr Fechner auf folgende Weiſe:
Um ſtets die relative Lage der Nedt-
ecke zu einander wechſeln zu können, ſchnitt
er zehn Cartonblätter aus; damit die Farbe
keinen Einfluß auf die Wahl ausüben könne,
damit ferner jede ſonſtige Täuſchung ver—
mieden werde, verwendete Fechner weißen
Carton und gab den Blättern genau den—
ſelben Flächeninhalt, welcher einem Quadrat
von 80 Millimeter Seite entſprach. Dieſe
den Experimenten zu Grunde gelegten Recht—
ecke hatten die Seiten-Verhältniſſe: 1:1
(Quadrat), 6: 5; 5: 4; 4: 3; 29:20;
32% O % 1% (
Das goldene Schnitt-Rechteck würde
nahezu dem Werthe 34: 21 entſprechen.
Mit dieſen Rechtecken wurde während
mehrerer Jahre in der Weiſe operirt, daß
verſchiedenen Perſonen die in beliebiger und
bei jedem Verſuch wechſelnder Lage auf einer
ſchwarzen Tafel ausgebreiteten Rechtecke zur
Auswahl vorgelegt wurden mit dem Er—
ſuchen, ſich über das ihnen am wohlgefäl—
ligſten oder häßlichſten erſcheinende Verhält—
niß auszuſprechen.
Da es Fechner um ein Durchſchnitts—
urtheil als desjenigen der Wahrheit ſich
wohl am meiſten nähernden zu thun war,
ſo wurden die Rechtecke nur Perſonen aus
den gebildeten Ständen und von reiferem
Alter aber von verſchiedenſtem Geſchmack,
verſchiedenſtem Charakter und verſchieden—
ſtem Lebensberuf vorgelegt; die Urtheile
ſeitens des männlichen und weiblichen Ge—
ſchlechts wurden getrennt verzeichnet und
ſummirt, um die Verſuchsergebniſſe in Pro—
centſätzen auszudrücken.
Fechner theilt in einer Tabelle die
ſehr merkwürdigen Reſultate ſeiner Expe-
rimente mit, zugleich berichtet er aber auch
über das Verhalten der Perſonen den Ver—
206 Redtenbacher, Zur Elementar -Aeſthetik.
ſuchen gegenüber, welches mir zum Voraus
entſcheidender zu fein ſcheint als die Zahlen—
werthe der Tabelle ſelbſt: „Die Meiſten
erklärten von vornherein, je nach der Ver—
wendung könne dieſes oder jenes Rechteck
das wohlgefälligſte ſein.“
Dieſes erſte Majoritätsurtheil ſpricht
ſomit ganz entſchieden gegen die Bevorzug—
ung des goldenen Schnitt-Verhältniſſes.
Auch auf die von Fechner geſtellte
Frage, ob die Perſonen nicht, ganz abge—
ſehen von jeder Rückſicht auf Zweck und
Bedeutung, eines dieſer Rechtecke wegen ſeiner
Seitenverhältniſſe bevorzugen würden, lau—
tete das Majoritätsurtheil im gbeichen Sinne
wie das frühere: „Entweder Alle oder
die größere Mehrzahl verweigerten hienach
ein Urtheil, weil kein Unterſchied zu finden
ſei.“
Alſo iſt das Durchſchnittsurtheil auch
bei der Gegenprobe zu Ungunſten der An—
nahme gefällt worden, daß es ein abſolut
wohlgefälligſtes Verhältniß gäbe, und die
Verweigerung eines Urtheiles oder die Be—
hauptung, die Verwendung des Rechteckes
entſcheide über ſeine Wohlgefälligkeit, be—
ruhte ohne Zweifel nicht auf einer Vor—
eingenommenheit zu Gunſten eines Dogma,
ſondern ſie war eben die naturgemäßeſte
Antwort auf die geſtellte Frage.
Wie konnte nun Fechner zu den früher
angegebenen Verſuchsreſultaten gelangen,
nachdem doch die Majorität ſich ganz an—
ders entſchieden hatte, als er dort ſagte?
Fechner theilt mit, der Reſt der Per—
ſonen, welcher ein beſtimmtes Bevorzugungs—
urtheil zu Gunſten eines der zehn Rechtecke
gefüllt habe, habe ſich ihnen gegenüber ſo
eigenthümlich verhalten, daß die Ordnung
in der Reihenfolge der Bevorzugungen keine
zufällige ſein könne. Uns will nun ſcheinen,
als ſeien die Experimente nicht vollſtändig
— — T
Redtenbacher, Zur Elementar-Aeſthetik.
genug gemacht worden, und als ließe ſich
aus Fechners Tabelle gerade das Gegen—
theil von dem herausleſen, was er gefunden
haben will. Er müßte das Gegenexperiment
machen und tauſenden von Perſonen das
Rechteck vom goldenen Schnitt mit der Be—
hauptung vorlegen, es ſei von allen Recht—
ecken das Schönſte; das Ergebniß der
Zuſtimmung oder des Widerſpruchs müßte
mit entſcheiden, ob die erſten Verſuche richtig
waren.
Geſetzt den Fall, daß die Summe der
Vorzugsurtheile bei weiblichen wie männ—
lichen Perſonen unbedingt dem goldenen
Schnitte ſich zuwende, die Summe, der Ver—
werfungsurtheile dem Verhältniß 1: 1 oder
5: 6 entſpräche, wer bürgt uns denn dafür,
daß unſer ſo gewonnenes Reſultat ein ſolches
von abſoluter Giltigkeit ſei? Denkbar wäre
es ja an ſich ſchon, daß, die Möglichkeit
vollſtändiger Experimente vorausgeſetzt, für
verſchiedene Zeiten und Völker ſich ver—
ſchiedene Geſchmacksnormen ergäben; viel—
leicht würde für verſchiedene Städte eines
Landes, für verſchiedene Berufsleute in einer
Stadt, für verſchiedene Arbeiter eines Be—
rufs ein anderes Normalrechteck als das
ſchönſte gelten, und das wäre um ſo eher
möglich, da ja eine abſolute Abſtraktion
der Anſchauung von Nebengedanken kaum
gefordert werden kann. Fechner theilt
ja ſelbſt in ſeiner Experimentaläſthetik mit,
die Leute hätten ſtets bei Auswahl eines
Rechteckes an ein Buch, eine Thür, ein
Kartenblatt, einen Pfefferkuchen ꝛc. gedacht,
und es ſei ihnen ſchwer gefallen, die reine
Form zu prüfen, von jeder Verwendung
derſelben zu abſtrahiren. Auch ſcheinen
mir gerade die nebenſächlichen Ergebniſſe
von Fechners Verſuchen ſehr ſchwer—
wiegend zu ſein, um den Werth der Tabelle
zweifelhaft zu machen oder beſſer geſagt,
207
ihr eine andere Auslegung aufzunöthigen.
Die Nebenreſultate feiner Experimente faßt
Fechner mit folgenden Worten zuſammen:
„Fräulein A. V., von ſehr gutem Ge—
ſchmack nannte unter Bevorzugung von O
die beiden längſten Rechtecke 2:1 und 6:5
„„leichtſinnige Formen““ und erklärte das
kurze 6: 5, indem fie es ſolidariſch mit
jenem verwarf, für „„gemein.““ An dem—
ſelben Rechtecke wurde mehrfach getadelt,
daß es faſt wie ein Quadrat ausſehe und
doch keins ſei; ja der blinde Herr von
Ehrenftein nannte es nach Anleitung des
Taſtgefühls eine „„heuchleriſche Form““.
Was nun das Urtheil des Fräuleins von
ſehr gutem Geſchmack anbelangt, ſo iſt das—
ſelbe zwar recht geiſtreich, aber wer kann
verſtehen, was das Fräulein eigentlich ſagen
wollte? Oder ſollte ich der Einzige ſein,
dem es nicht gegeben iſt, den Sinn dieſer
dunkeln Worte zu errathen?
Das Urtheil des Herrn von Ehren—
ſtein iſt kein Geſchmacks-, ſondern ein Taſt—
urtheil, welches hier gar nicht in Betracht
kommt; für das Taſtgefühl beiſpielsweiſe
wird vielleicht die Formvollendung eines
dreiachſigen Ellipſoides auf einem anderen
Achſenverhältniß beruhen, als für die An—
ſchauung.
Was das mehrfach getadelte Rechteck
5: 6 anbelangt, ſo pflegen wir ferner
allerdings das Ideal über jede Annäherung
an daſſelbe zu ſtellen; in der Kunſt ſind
ſolche Annäherungswerthe wie 5: 6 anſtatt
1:1 indeſſen kaum entbehrlich, ja ſogar
oft willkommen, um beſondere Wirkungen
zu erzielen; ſo z. B. paßt ein Spitzbogen,
der ſich ſehr ſtark dem Halbkreis nähert, für
ein Feſtungsthor oder einen Tunnel ſehr gut
und ſieht pikanter aus, als der Rundbogen.
Stichbogen, welche faſt dem Halbkreis gleich—
kommen, wirken in der Architektur ſehr un—
‚•I/ r m
günſtig, ſehr flache dagegen, welche ſich wenig
von der geraden Linie entfernen, können einem
Brückenbogen, einer Fenſterüberdeckung den
Charakter elaſtiſchſter Spannung verleihen.
Die feineren Nuancen von einfachen Formen
und Verhältniſſen ſpielen bei den Maß—
werken des gothiſchen Bauſtiles eine ſehr
wichtige Rolle, und an ſolchen wie anderen
Architekturformen läßt ſich ſo recht erkennen,
wie gefährlich für das äſthetiſche Urtheil
| jedes eigenſinnige Feſthalten an einem Dogma
wird.
Wie Fechner weiter mittheilt, ſagte
Buchbinder Wellig, unter ſchwankendem
Vorzug zwiſchen O und 23: 13, von den
kürzeſten Formen 1: 1, 6: 5, 5:4, 4: 3,
„ſie hätten kein Verhältniß.“ Dieſer Mann
hat ohne Zweifel an Bücher gedacht, als
er ſein Geſchmacksurtheil fällte; quadratiſche
Bücher find häßlich; 6: 5, 5: 4, 4:3
eignen ſich für Salonwerke, die auf den
Tiſch gelegt werden, nicht ſchlecht. Goldener
Schnitt und 23: 13 paſſen ſicherlich ſehr
gut zu Oktavbänden; Wellig hatte es
wohl meiſtentheils mit ſolchen zu thun.
„Eine Dame zog das Verhältniß 2: 1 vor,
„„weil es ſo ſchön ſchlank ſei““. Der
goldene Schnitt wurde von mehreren Per—
ſonen bei der Bevorzugung für das „„no—
belſte““ Verhältniß erklärt.“ Soweit
Fechner.
2: 1 ſchlank zu nennen, will mir nicht
ganz behagen; offenbar hätte dieſelbe dann
dieſes Verhältniß zu „corpulent“ genannt,
wenn man ihr auch Rechtecke von größeren
Verhältniſſen vorgelegt hätte als 2
e n . f.
Zu Notizbüchern und Viſitenkarten paßt
das goldene Schnittverhältniß recht gut;
Letztere mögen mehrere Perſonen wohl im
Auge gehabt haben, als ſie O für „nobel“
erklärten. Eine Viſitenkarte von 6400 U
% .
Redtenbacher, Zur Elementar -Aeſthetik.
Millimeter Flächeninhalt und dem O Ver—
hältniß hat allerdings etwas ſehr Nobles,
beſonders wenn eine hübſche Grafenkrone und
ein langer Name mit allerlei Prädicaten
daraufſteht.
Alle dieſe, von Fechner mitgetheilten
und einigermaßen ſeitens der gefragten Per—
ſonen begründeten Urtheile ſcheinen doch
darauf hinzudeuten, daß die betreffenden
Leute ſich von allerlei Nebengedanken nicht
frei zu machen wußten.
Um noch einmal auf meine frühere
Behauptung zurückzukommen, Fechners
Verſuche ſeien nicht vollſtändig genug ge—
weſen, um ein die Kernfrage entſcheidendes
Endergebniß zu gewinnen, ſei doch noch
daran erinnert, daß Fechner über das
Verhältniß 2: 1 nicht hinausging.
Die Experimentaläſthetik müßte, um
ganz ſicher zu ſein, unterſuchen, ob unter
den Rechtecken, welche über dem Verhältniß
2:1 liegen, noch bedeutende Bevorzugungen
möglich ſind, welche, ähnlich wie es beim
goldenen Schnitt-Verhältniß der Fall iſt,
ſich durch eine einfache Formel ausdrücken
laſſen.
Was würde man denn gegen die Auf—
faſſung einwenden können, daß das Quadrat
und das O Rechteck als Grenzwerthe zu
betrachten ſeien, jenes als ein Minimum,
dieſes als das erſte Maximum unter einer
Reihe Anderer, welche ſich zwiſchen dem
Verhältniß 1: 1 und unendlich: 1 auf—
finden ließen? Wäre es nicht möglich,
daß dem 1: 1 und dem Verhältniß
a 777
ee drittes äſthetiſch günſtigſtes
Verhältniß entſpräche nach der Formel
amt 5 alſo — 3 wo 7 die
TU Tr TU T
&
Ludolph'ſche Zahl bedeutet; ein Rechteck,
3
Redtenbacher, Zur Elementar = Vejthetif.
deſſen größere Seite, verglichen mit der
Kleinere, ſich wie 1415. 1 .ver-
hält, könnte ja ſehr wohl als äſthetiſch
vortheilhafter erſcheinen als ein anderes
vom Verhältniß 3: 1. Dieſe Gleichung
hätte ja eben ſoviel Eigenartiges wie die
Gleichung vom goldenen Schnitt.
Frägt man ſich einmal, ob denn Fech—
ners ſo einfache Unterſuchungsbeiſpiele wirk—
lich ſolche ſind, welche mit Ausſchluß irgend
welcher Nebengedanken eine äſthetiſche Be—
urtheilung erfuhren; frägt man ſich, ob ſie
nicht ſchon von ſelbſt zu Vorurtheilen ver—
leiten, die das äſthetiſche Urtheil beeinfluſſen,
ſo ſteigen gar bedenkliche Zweifel in die
Zuverläſſigkeit der Experimente und ihre
Ergebniſſe auf.
Wenn wir auf dem Papier eine horizon—
tale Linie halbiren, ſo theilen wir ſie ſo,
daß die Vorſtellung eines Gleichgewichtes
der Theile in Bezug auf den Theilungs—
punkt durch eine Figur veranſchaulicht wird.
Wir können zwar dieſe zweite Vor—
ſtellung eines Gleichgewichtes von der erſten
einer Gleichtheilung der geraden Linie im
Geiſte trennen, nicht aber in der Anſchau—
ung; die unvortheilhafte Erſcheinung der
ungleichen Theilung einer Linie wird ferner
ebenſo aufgehoben, ſobald wir uns an
ihren Enden verticale Linienkräfte verſinn—
bildlichen, welche das Gleichgewicht in Be—
ziehung auf den Theilungspunkt herzuſtellen
im Stande ſind, wie wir ja auch in der
Architektur keine abſolute Symmetrie, wohl
aber ein Gleichgewicht der Maſſen verlan—
gen, um dem äſthetiſchen Urtheil zu genügen.
Die ungleiche Theilung einer Verticalen
wird uns ſtets als das Bild eines Stabili—
lätsverhältniſſes erſcheinen und dann beſſer
wirken als die indifferente Gleichtheilung,
falls nicht durch das Ueberwiegen des Ober—
theiles die Vorſtellung von einem Ueber—
a
209
gewicht, einem labilen Zuſtand hervorge—
rufen wird, was in der Kunſt auch berechtigt
ſein kann. Wird ein Kreuz unrichtig ge—
theilt, ſo geht eben die ganz beſtimmte
Vorſtellung eines Kreuzes verloren, und
deshalb verwerfen wir dieſe Figur.
Fechner ſtellte ſich die Aufgabe, in
ein Rechteck von beliebigem Verhältniß drei
ſich rechtwinklich oder unter 45 ſchneidende
Linien ſo zu verzeichnen, daß ſie ein richti—
ges Verhältniß haben; um eine direkte An—
wendung des Problems zu geben, möge
es in die Form gefaßt ſein: ein Steinmetz
von künſtleriſch gebildetem Auge wolle ſein
Steinmetzzeichen auf einem Quaderſtein ſo
anbringen, daß es am wohlgefälligſten er—
ſcheine. Hier richtet ſich das Theilungs—
verhältniß vollſtändig nach der Figur des
Rechteckes; die Abſtände der Endpunkte der
Linien von der Contour desſelben ſpielen eine
ebenſo wichtige Rolle wie ihr Theilungs—
verhältniß. Läßt man den einen Quer-
balken rechtwinklig, den anderen unter 45°
den Verticalbalken ſchneiden und zeichnet
das Rechteck parallel zu den normal ſtehenden
Balken, ſo beurtheilt das Auge nicht nur
die Theilungsverhältniſſe, ſondern auch die
getheilte Figur des Rechtecks ſelbſt, und es
kann der Fall eintreten, daß man, unzu—
frieden mit dieſer, durch einen an der
richtigen Stelle angebrachten Punkt das
mangelhafte Verhältniß corrigirt; der Stein—
metz von geübtem Auge hätte vielleicht ſtatt
eines Punktes den Anfangsbuchſtaben ſeines
Namens auf der Quaderfläche angebracht.
Setzt man dieſelbe Figur des ebengenannten
Steinmetzzeichens nicht parallel mit dem
Rechteck, ſondern ſchief zu demſelben, jo
verlangt das Auge vielleicht die Markirung
zweier iſolirter Punkte in der getheilten
Fläche, damit ein Gleichgewicht der Maſſen
entſtehe. Läßt man das Rechteck ganz weg,
Kosmos, Band III. Heft 3.
210
jo iſt die Figur des Steinmetzzeichens dann
am wohlgefälligſten, wenn eine Harmonie
der Längen der Theile und der Winkel
(45 9 ſieht etwas zu ſpitzig aus) in Bezug
auf eine ſichtbare oder ideale Achſe erzielt
wird, die durch den Schwerpunkt der Figur
geht. Bei dieſem Beiſpiel, welches gewählt
wurde, um von der uns gewohnten Figur
des Kreuzes ganz zu abſtrahiren, erkennt
man ſehr bald, ſowie man einige Verſuche
macht, daß das äſthetiſche Maximum unter
allen Umſtänden mit den Gleichgewichts—
verhältniſſen der Maſſen einer abgetheilten
Figur in Bezug auf eine Axe, beſſer geſagt
ihren Schwerpunkt, zuſammenfällt.
An anderen Orten hat Fechner über
ſeine Verſuche, unter allen möglichen
Ellipſen diejenige herauszufinden, welche
uns als äſthetiſch am vollkommenſten gilt, be—
richtet. Im erſten Augenblick giebt man nur
zu leicht zu, daß ſehr flachgedrückte Ellipſen
ſowie ſolche, welche ſich dem Kreis nähern,
ungünſtiger wirken als eine gewiſſe normale
Ellipſe, deren Krümmungsänderung ſtetiger
erſcheint, wie bei jenen. Hier iſt es nun
offenbar ſehr fraglich, ob denn die Figur
einer Ellipſe uns in der Anſchauung ohne
alle Nebenvorſtellungen, als eine reine An—
ſchauung vorſchwebe, oder ob wir ſie uns
nicht vorſtellen als Veranſchaulichung eines
Bewegungsgeſetzes. Denken wir uns zwei
leuchtende Punkte elliptiſche Bahnen be—
ſchreiben, welchen verſchiedene Axenverhältniſſe |
bis dahin und ſpäter ſoviel mit meiner
entſprechen, und nehmen wir an, daß die
Wege, welche jeder Punkt in jeder Zeiteinheit
zurücklegt, alſo die Geſchwindigkeit bei beiden
Ellipſen und auch bei jeder einzelnen von
ihnen, conſtant bliebe; würde uns dies
leuchtende Linienſpiel wohl bei einer flachen
Ellipſe weniger ſchön erſcheinen, als bei
der Normalellipſe oder bei einer ſchwachen
Abweichung vom Kreis?
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
Können wir uns die Ellipſe und ihr
Spezimen, den Kreis, überhaupt als reine
Anſchauung vorſtellen oder haben wir nicht
vielmehr ſtets dieſelben als entſtanden durch
die Bewegung eines Punktes um einen an—
deren nach einem beſtimmten Geſetz, als
entſtanden aus der Durchdringung zweier
Cylinder, Kegel, Ellipſoide ꝛc. im Auge?
Die erſte Definition des Kreiſes, welche
das Centrum als nicht gehörig zu der
Curve umgeht, die Definition, daß der
Kreis eine Curve von ſtets conſtant bleiben—
der Krümmung ſei, enthält ja ſchon die
Vorausſetzung einer Bewegung. Und können
wir uns ein Rechteck, um auf dieſes endlich
zurückzukommen, anders denken als con—
ſtruirt aus zwei Linienpaaren, welche ſich
rechtwinklig ſchneiden?
Reine Anſchauungen, mit welchen die
Geometrie operirt, beſtehen doch wohl nur
in der Vorſtellung, aſſociiren ſich aber mit
anderen, ſowie wir ſie mit dem Bleiſtift
auf Papier oder in weißem Carton fixiren
wollen.
Im Jahre 1872 zeichnete ich zum erſten—
mal das Rechteck vom goldenen Schnitt auf,
nachdem mir die Zeiſing'ſche Behauptung,
dasſelbe ſei principiell das äſthetiſch werth—
vollſte, ſchon 1868 durch Lotze's Ge—
ſchichte der Aeſthetik bekannt war. 1868
hatte ich gerade meine nach allen Richtungen
hin und bei den beſten Lehrkräften gepflo—
genen Architekturſtudien beendet, hatte mich
Kunſt und der Praxis beſchäftigt, daß ich
mir ſchon einiges Urtheil über das goldene
Schnitt-Rechteck zutrauen durfte, als ich
mit ſeiner Conſtruction durch Fechners
Experimentaläſthetik bekannt wurde.
Nicht wenig war ich im erſten Augenblick
über dieſe Figur betroffen, ſie war mir
ganz neu und ich wußte keine rechte Ver—
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 211
wendung für ſie, ſie war mir zu neutral.
Als Verhältniß für Thür oder Fenſter
war mir das Rechteck nicht ſchlank genug,
quergelegt als Form eines Atlas oder Oel—
bildes zu lang, als Zeitungsformat zu
hoch oder zu niedrig, je nachdem, kurzum
ich wußte kein Beiſpiel ſeiner direkten Ver—
wendung, und, ich mochte abſtrahiren von
Nebenvorſtellungen, ſoviel ich nur wollte,
es gefiel mir gar nicht. Heute kann ich
in ihm ebenſowenig als im Quadrat mehr
als ein neutrales Verhältniß erblicken, ich
möchte Beide, wenn der Vergleich nicht zu
gewagt iſt, als Knotenpunkte in einer Reihe
möglicher anderer Verhältniſſe betrachten,
die man bei Fechners Experimenten nicht
als äſthetiſch Vortheilhafteſte betonte, ſon—
dern eben, wie Fechner verlangt, als
ſolche, bei welchen Nebenvorſtellungen nur
in ſehr geringem Maaße ſich geltend machten.
Es ſei auch mir geſtattet, einige Ver—
ſuchsreſultate anzuführen. Vor mir liegen
vier Briefkarten auf dem Tiſch. Die
holländiſche mißt 122: 87, die franzö—
ſiſche 120: 80, die ruſſiſche 128 : 86, die
deutſche 146: 90 mm.
gefällt mir entſchieden am beſten, die anderen
ſind mir für eine Briefkarte zu lang im
Verhältniß zur Breite. Die deutſche Karte
gefällt mir weniger wie die franzöſiſche
und die ruſſiſche; zwiſchen dieſen Beiden
kann ich eine oder keine Entſcheidung treffen,
je nachdem ich die Vorder- oder Rückſeite
betrachte.
Suche ich nach Gründen über
mein augenblickliches Geſchmacksurtheil, ſo
muß ich vor Allem entſchieden ſagen, daß
mir die holländiſche Briefkarte unbedingt
beſſer gefällt, wie die anderen. Die Karten
ſind alle beſchrieben, und zwar die hollän—
dieſes
diſche und die deutſche der Quere, die an-
deren der Länge nach.
Die holländiſche
Die deutſche Karte iſt aus Mainz zu—
geſendet; eine Zweite, die ich hier kaufte,
mißt 91: 144 mm. und gefällt mir auf-
fallend viel beſſer als die erſtere, ja ſie
rangirt direkt nach der holländiſchen. Be—
trachte ich ihre unbeſchriebene Rückſeite, ſo
kommt mir das Verhältniß unvollkommener
vor, als das der bedruckten Vorderſeite.
Die bedruckte, beſchriebene und abgeſtempelte
Vorderſeite der franzöſiſchen Karte gefüllt
mir entſchieden beſſer, als die äquivalente
ruſſiſche, die Rückſeiten derſelben gefallen mir
beide nicht, ich kann keiner den Vorzug geben.
Eine Hinneigung zu einem der vier
Länder kann meine Wahl nicht beeinflußt
haben, ebenſowenig kann meine Bevorzugung
aus der Erinnerung an die Adreſſanten
entſprungen ſein, da ſie mir als Freunde
ziemlich gleich werth ſind.
Unterſuche ich, in wie weit ſich die Karten
dem Verhältniß des goldenen Schnitts
nähern, ſo ergiebt ſich, daß gerade die
Karte mir am beſten gefällt, welche ſich
am weiteſten von ihm entfernt; denn das
Verhältniß der Karten iſt folgendes:
holländiſche Karte 122:87 1,42
ruſſiſche „
franzöſiſche „„ 5
zweite deutſche „ = 141:90 1,56
erſte deutſche „ 146: 90 1,62
Die erſte deutſche Karte, welche den
O nur wenig überſchreitet, gefiel mir weniger
als die ruſſiſche und die franzöſiſche, welche
nach der andern Seite hin ſtärker von O
abweichen; die zweite deutſche Karte gefiel
mir immer noch beſſer als der goldene
Schnitt. Der Unterſchied der Vorder- und
Rückſeite einer und derſelben Karte kommt
offenbar auf Rechnung einer optiſchen Täu-
ſchung, inſofern die Linien, die gedruckte
Aufſchrift und die Briefmarke der Karte
alſo als aſſo—
die Anſchauung beeinflußen,
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
ciative Faktoren das Urtheil mit beſtimmen; jo müßte ihre Größe und Dicke eine an—
ſonſtige angeführte Differenzen meines Ge—
ſchmackurtheils wurden theilweiſe durch die
gedruckten Rändchen hervorgerufen, welche
der deutſchen Karte fehlen. Ich habe mir
nachträglich noch eine Briefkarte aus Trieft |
mit italieniſchem Druck und öſterreichiſchem
Wappen verſchafft; fie hat faſt daſſelbe
Format wie die holländiſche Karte, gefällt
mir aber beſſer wie dieſe; Trieſter-Karte
os Fe
Aus dieſen Experimenten folgere ich
zunächſt, ohne die Unumſtößlichkeit dieſer
Folgerung behaupten zu wollen:
1. Daß jede verwendete Grundfigur,
jedes Größenverhältniß gleichgültig iſt.
2. Daß ſie eine äſthetiſche Bedeutung
|
|
erſt gewinnen durch einen Zweck, dem fie
dienen. Dieſer Zweck iſt Fechners aſſo—
ciatiwer Faktor.
3. Daß ein Zweck (in unſerem Falle
bei einer Poſtkarte verwendet zu werden)
am vollſtändigſten erreicht wird, wenn die
Grundfigur, alſo unſer Rechteck, ſich dem
Flächeninhalt nach einer beſtimmten Grenze
nähert, die ſich ganz aus dem praktiſchen
Gebrauch ergiebt. Je nach dem Flächen—
inhalt muß das Verhältniß des Rechteckes
ſich ändern.
4. Daß dieſer zweckmäßigſten Größe
ein ganz beſtimmtes Verhältniß als äſthetiſch
Vollendetſtes entſpricht.
Wir haben auf das Material gar keine
Rückſicht genommen; anſtatt des Kartons
könnte man eben ſo gut matt emaillirtes
dünnes Stahlblech, mit Kreidegrund über—
zogenes Pergament, dünnes Holz ec. zur
Anfertigung von Briefkarten verwenden.
Das Stahlblech würde elaſtiſcher und ſchwerer
ſein, als der Carton, der dünne Holzſpan
leicht und zerbrechlich; wollten ſolche Poſt—
karten dem Zweck vollſtändig entſprechen,
dere ſein, als diejenige der gewöhnlichen
| Briefkarten, und damit würde das äſthetiſch—
günſtige Verhältniß ſich ebenfalls ändern.
Wollte man die Karten mit einem gedruck—
ten Rand oder einer Umrahmung verſehen,
ſo müßte deren Breite ſich nach der Größe
und dem Verhältniß der Fläche richten.
Ich folgere ſomit:
5. Daß das äſthetiſche Centrum ſich
mit der Anzahl der aſſociativen Faktoren
ändert. Die Schönheit iſt ſomit eine Funk—
tion F einer Grundform oder Grundan—
chauung A, welche unter den verſchiedenſten
Bedingungen a, b, c, d . . . als aſſociativer
Faktoren, zu einem Zweck 2 angewendet
wird. Faßt man die aſſociativen Faktoren
a, b, c, d.. . zuſammen zu einer gemein—
ſchaftlichen Reſultante R, ſo iſt der Aus—
druck der Schönheit 8 = F (A, R, 2).
Man wird zugeben müſſen, daß dieſe For—
mulirung der Schönheit beſſer auf jeden
einzelnen, der Unterſuchung zu unterwer—
werfenden Fall paßt, als das Dogma vom
goldenen Schnitt. Was ſoll ein ſolches
Dogma überhaupt bedeuten? Das Ding
an ſich, die Schönheit an ſich, die in
unſerem Menſchenleben ebenſoviel Sinn hat,
als die ſittliche That an ſich oder das
Lebensglück an ſich, die Wahrheit an ſich,
die kein Menſch gethan, genoſſen, erkannt hat.
Sollte Fechner, der Freund des
Paradoxon, welcher gerade mit Vorliebe
falſche Theorien ad absurdum zu führen
ſucht, wirklich an dem Dogma vom goldenen
Schnitt feſthalten und uns nicht vielmehr
mit ſeiner Experimentaläſthetik zu täuſchen
geſucht haben?
Als Objekte, welche ſich beſonders für
die Experimentaläſthetik eignen, möchte ich
die Kryſtallformen halten; bei ihnen denken
wir kaum an einen Zweck, dem ſie dienen
ſollen, und die aſſociativen Faktoren kommen
nur inſofern in Betracht, als die nicht
zur reinen Anſchauung der Form gehörigen
Eigenthümlichkeiten wirklicher Kryſtalle, der
Glanz und die Durchſichtigkeit, die Farbe
und das Lichtbrechungsvermögen, eher die
reine Auſchauung zu verſtärken als zu
ſchwächen im Stande ſind.
Verzerrte Kryſtallformen ſehen unvor—
theilhafter aus, als regelmäßig geſtaltete.
Die kryſtalliniſche Wirkung kommt am voll—
ſtändigſten zur Geltung, wenn die Kryſtalle
durchſichtig und glänzend, ſchwarz und glän—
zend, undurchſichtig-metallglänzend find.
Dieſe Eigenſchaften gehören eigentlich zur
Grundvorſtellung, welche wir uns vom
Weſen des Kryſtalles machen, wie ja ſchon
der Sprachgebrauch in kryſtallklar, kryſtall—
hell, kryſtallglänzend zu erkennen giebt.
Bei den modernen, in Kryſtallform aus
Glas geſchliffenen Briefbeſchwerern dient
nicht die Form derſelben einem Zweck, ſondern
blos das Gewicht des Stoffes; ihre Er—
ſcheinung iſt rein auf die Wohlgefälligkeit
in der Anſchauung berechnet, ebenſo wie
diejenige geſchliffener Edelſteine.
Dftaöder und Würfel find als End—
punkte einer Reihe von unendlich vielen
Combinationen zwiſchen Beiden zu betrach—
ten, deren Mittelpunkt die bekannte, aus
ſechs Quadraten und acht gleichſeitigen Drei—
ecken beſtehende Combination bildet, welche
weder den Würfel noch das Dftaöder vor—
herrſchen läßt.
Bei dem Kryſtall ſpielen nach den
Flächen die Ecken die Hauptrolle, in zweiter
Linie kommen die Kanten in Betracht.
Daher ſehen enteckte Oktaßder und Würfel
weniger günſtig aus als entkantete. Im
Dftaöder, treffen die Achſen mit den Ecken
zuſammen; die Dftaödereden find wichtiger
als die Würfelecken, daher ſehen enteckte
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
Dftaöder weniger vortheilhaft aus als
enteckte Würfel. Die Dodefaöder, Ikoſite—
traöder ſehen enteckt weniger gut aus, als
entkantet. Zuſchärfung der Kanten durch
doppelſchneidige Flächenpaare, Zuſpitzungen
der Ecken durch die Flächengruppen der
Ikoſitetraßder wirken ſchöner als die Ent-
eckungen und Entkantungen, weil ſie die
reine Anſchauung der Grundform weniger
ſtören. Combiniren ſich die letzteren mit
den erſteren, ſo kann die reine Anſchauung
ſehr gehoben werden, da die Ecken und
Kanten, erſt wenn ſie durch Flächen er—
ſetzt werden, überhaupt zur Anſchauung
in der Wirklichkeit kommen. Ein ofta-
driſcher Diamant kann durch ſeine lebhafte
Strahlenbrechung ſehr gefällig wirken (ſo
die Berühmtheit des Limburger Domſchatzes),
ſchwarz dagegen wird er der Enteckung und
Entkantung bedürftig ſein. Ein Würfel
oder Dftaöder von durchſcheinendem Stoff
kann ganz bleiben, weil das Durchſcheinen
des Lichtes an den Ecken und Kanten ſchon
die Anſchauung hebt. Schwach kryſtalliniſch
eingeſenkte oder erhöhte Flächen vermehren
die plaſtiſche Wirkung der Grundform oder
auch den Glanz und die Reflexwirkungen
(beſonders bei Metallglanz), können daher
die reine Anſchauung verſtärken.
Sowie aber alle dieſe Zuthaten die
Grundgeſtalt vollſtändig aufheben, ſo daß
die Kryſtallform der Kugel ſich nähert,
jo wird die Grundanſchauung verwiſcht.
Daher wird man den Facettenſchliff, welcher
dem natürlichen Vorkommen des Diamants
in der Form des Achtundvierzigflächners
entſpricht, nur bei ſtark glänzenden und
lichtbrechenden Stoffen anwenden wollen.
Das Thema „Aeſthetik der Kryſtallformen“
ließe ſich weiter verfolgen; dieſe Grund—
principien ihrer Wohlgefälligkeitsverhält—
niſſe mögen hier genügen. Wollte man
214
fragen, welche Combination aller ganzen
Grundformen des regulären Syſtems (aljo
abgeſehen von den Hälften des Dftaöders
und der Vierundzwanzig- reſp. Achtundvier—
zigflächner) als ein äſthetiſches Maximum
zu betrachten wäre, ſo würde man wohl
eine Rangſtufe dieſer Kryſtallformen in
Bezug auf das Vorherrſchen der einzelnen
Elemente in der Combination annehmen
müſſen, bei welcher das Dftaöder vorzu—
herrſchen hätte. Ein Diamant, in dieſer
Weiſe geſchliffen, würde ſich dem Brillant—
ſchliff nähern, ein ſchwarzer Diamant würde
zur Erhöhung ſeiner Erſcheinung wahr—
ſcheinlich eine andere Rangſtufenreihe der
genannten Grundformen erfordern.
Von den Kryſtallformen ſei geſtattet
auf mehrere andere, in der Baukunſt ihre
Rolle ſpielenden Formen überzugehen und
über ſie einige Bemerkungen zu machen.
Ich behauptete, die reine Anſchauung des
Würfels als durchſichtigen, lichtbrechenden,
farbloſen Kryſtalles würde verſtärkt durch
ſchwache Zuſchärfung und Abſtumpfung
der Kanten und Ecken, wobei die Zuſchär—
fung in erſter, die Abſtumpfung in zweiter
Linie ſtehe; die Verſtärkung der reinen
Anſchauung beruhe darauf, daß anſtatt der
immateriellen Ecken und Kanten reflektirende
und die Lichtbrechung verſtärkende Flächen
aufträten, ſomit alſo außer den glänzenden
Flächen des Kryſtalles auch die wichtigſten
geometriſchen Punkte ſeiner Geſtalt hervor—
gehoben würden, in welchen das Zuſam—
mentreffen ſeiner Flächen ſtattfindet.
Dieſer Verſtärkung der reinen An—
ſchauung dagegen würde nun jede Abrun—
dung der Kanten und Ecken entgegenwirken,
als dem Weſen des Kryſtalles wider—
ſprechend. Ein Steinquader, welcher un—
durchſichtig, ſchwach lichtbrechend und reflek—
Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik.
tirend iſt, wird anders behandelt werden
müſſen, als der durchſichtige Stoff, will
man die reine Anſchauung verſtärken. Bei
glänzendem Metall ſind ſchwache Abrun—
dungen von Ecken und Kanten zuläſſig, weil
die durch ſie hervorgerufenen Glanzlichter
und die Reflexe im Halbſchatten im Verein
mit den ſpiegelnden Flächen die Immate—
riellität der reinen Form tilgen; davon
macht man in den verſchiedenſten Zweigen
der Kunſtinduſtrie bekanntlich Gebrauch.
Die ganze Behandlungsweiſe von weißem
Marmor richtet ſich nach dem Grade ſeiner
Transparenz; die feinſten Nuancen ſeiner
Geſtaltung kommen zur Wirkung; nicht
ebenſo verhält es ſich mit gewöhnlichem
Hauſtein, mit Holz und Backſtein. Will
man die Ecken und Kanten von Quadern,
Balken, Backſteinverbindungen beſonders her⸗
vortreten laſſen, ſo genügen die Abſtumpfun—
gen, Abrundungen und Enkkantungen durch
einfaches Schrägen nicht, es werden vielmehr
erſt durch Hohlkehlen in Verbindung mit
convexen Formen die gewünſchten Effekte
erzielt. Der romaniſche und gothiſche Bau—
ſtil macht, wie von den Hohlkehlen, ſo auch
von den Abſchrägungen verſchiedenſter Nei—
gungsverhältniſſe reichlicheren Gebrauch, als
die in ſüdlichen Ländern entſtandenen übrigen
Bauweiſen, in denen, Dank der um die Hälfte
ſtärkeren Intenſität des Sonnenlichts, man
mit einfacheren Mitteln ſein Ziel erreichen
kann.
Das ſind nun längſt bekannte Dinge,
welche indeſſen immer nur ein und daſſelbe
bezeugen: daß es keine abſolut wohlgefäl—
ligen Formen, Verhältniſſe ꝛc. giebt, ſondern
daß die Wohlgefälligkeit ebenſo ſtets von
anderen Faktoren abhängig iſt, wie der
Schatten eines Gegenſtandes von ſeiner
relativen Stellung zum Licht.
Rs
. 2 Hafen, die 05 oft zu den
i N Wurzelfüßlern gerechnet wird,
bilden die ſogenannten Schleim—
pilze oder Myxomyceten, von Anderen
auch Pilzthiere oder Mycetozoen
genannt. Schon dieſer doppelte Name be—
zeichnet ihre zweifelhafte Protiſten-Natur.
Sie leben in zahlreichen verſchiedenen Arten
an feuchten Orten, im abgefallenen Laube
der Wälder, zwiſchen Moos, auf faulendem
Holze und dergl. Früher galten ſie all—
gemein als Pflanzen, und zwar für Pilze,
weil ihr reifer Fruchtkörper täuſchend dem
blaſenförmigen Fruchtkörper der Gaſtro—
myceten oder Blaſenpilze ähnlich iſt (Fig.
43 B). Dieſer Fruchtkörper bildet kugelige
oder länglich runde, oft auf einem Stiele
feſtſitzende Blaſen, meiſt von der Größe
eines Stecknadelkopfes oder eines Hanf—
kornes, bisweilen aber auch von mehreren
Zoll Durchmeſſer. Die derbe äußere Hülle
der Fruchtblaſen umſchließt ein feines Mehl,
das aus Tauſenden von mikroſkopiſchen
Zellen beſteht. Dies ſind die Fortpflanz—
ungszellen oder Sporen.
Das Protiſtenreich.
Von
Ernſt Haeckel.
IM.
Während aber bei den Blaſenpilzen,
wie bei allen anderen echten Pilzen, ſich
aus dieſen Sporen die charakteriſtiſchen
Pilzfäden oder Hyphen, lange dünne Faden—
ſchläuche entwickeln, entſtehen daraus bei
den Myxomyceten ganz andere Keime. Aus
der feſten Zellmembran einer jeden Spore
ſchlüpft nämlich, ſobald dieſe ins Waſſer
gelangt, eine nackte, lebhaft bewegliche Zelle
aus (Fig. 42, 1—3). Anfangs ſchwimmt
dieſe Zelle mittelſt eines langen Geißel—
fadens, den ſie peitſchenförmig nach Art
der Geißelſchwärmer hin und her ſchwingt,
frei im Waſſer umher (Fig. 42, 4, 5).
Später ſinkt ſie zu Boden und nimmt die
Form einer Amoebe an (Fig. 46, 6, 7).
Ganz gleich einer echten Amoebe kriecht ſie
umher, indem ſie veränderliche Fortſätze
ausſtreckt und wieder einzieht. Auch nimmt
ſie nach Art der Amoeben ihre Nahrung auf.
Viele ſolcher amoeboiden Zellen können
nun ſpäterhin zuſammenfließen und mit
einander verwachſen (Fig. 42, 8 11).
Dadurch entſtehen große Protoplasma -Netze
mit vielen Kernen (Syncytien, Fig.
42, 12). Indem ihre Kerne ſich auflöſen,
216 Haeckel, Das
werden ſie zu kernloſen Plasmodien
(Fig. 43 4). Solche große Plasmodien,
oft ganz coloſſale Protoplasma Netze, kriechen
7
+
Fig. 42.
Fig. 43. Myrompceten.
die glänzend gelben (oft mehrere Fuß großen)
Protoplasma -Geflechte von Aethalium,
Zu den größten Plasmodien gehören
Protiſtenreich.
gleich einem rieſigen Rhizopoden langſam
umher und ändern beſtändig ihre unbe—
ſtimmte Geſtalt.
Keimung einer Myxomyceete (Physarum album). 1. Eine Keimzelle oder
Spore. 2. Aus der dunkeln Hülle der Spore tritt die nackte Zelle hervor (3). Dieſe ver—
wandelt ſich in eine Geißelzelle (4, 5) und darauf in eine Amoebe (6, 7). Mehrere Amoebeu
fließen zuſammen (8, 9, 10, 11) und bilden
ſo ein Plasmodium (12).
RER
A. Ein größeres Plasmodium (von Didymium leucopus).
B. Eine reife Frucht (von Areyria incarnata).
geplatzt und das Haarfaden-Geflecht (Capillitium, ep) hervorgetreten iſt.
C. Dieſelbe, nachdem die Wand (p)
welche die Lohbeete der Gerbereien durch—
ziehen und unter dem Namen „Loh—
blüthe“ allen Gerbern bekannt ſind.
Haben die Plasmodien durch Wachsthum
und Nahrungsaufnahme eine gewiſſe Größe
erreicht, ſo ziehen ſie ſich auf einen kuge—
ligen, birnförmigen oder kuchenförmigen
Haufen zuſammen, umgeben ſich mit einer
Hülle und das ganze Protoplasma zerfällt
in zahlloſe kleine Sporen, zwiſchen welchen
ſich meiſtens (jedoch nicht immer) ein Ge—
flecht von äußerſt feinen Haarfäden aus—
breitet (Capillitium, Fig. 43 cp). Wenn
dieſe Fruchtkörper (Fig. 43 B) ganz reif
ſind, platzt die äußere Hülle (Fig. 43 0);
das Capillitium wird vorgetrieben und das
feine Sporen-Pulver zerſtreut.
Obgleich nun dieſe blaſenförmigen
Fruchtkörper mit ihrem Sporenpulver und
Capillitium die größte Aehnlichkeit mit den—
jenigen von gewiſſen echten Pilzen beſitzen,
haben ſie doch mit dieſen letzteren keine
Spur von Verwandtſchaft, wie ihre gänz—
lich verſchiedene Entwickelung zeigt. Will
man überhaupt die Myxomyceten in nähere
Beziehung zu irgend einer anderen Orga—
nismen-Gruppe bringen, ſo bleiben nur die
Rhizopoden übrig. In der That glei-
chen die kriechenden negfürmigen Plasmodien
dev Myxomyceten jo ſehr gewiſſen nackten
Wurzelfüßlern (Lieberkühnia), daß man
ſie gar nicht unterſcheiden kann. Es giebt
kein paſſenderes Objekt, um ſich die merk—
würdigen Strömungen in dem kriechenden
nackten Protoplasma unmittelbar vor Augen
zu führen, als die Plasmodien der gemeinen
Lohblüthe, die im Frühjahr auf den Loh—
beeten der Gerbereien ſehr leicht zu haben
iſt und die Lohe in Form von gelben,
rahmähnlichen Schleimhäuten durchzieht.
Bringt man ein wenig von dieſem gelben
Protoplasma in einer feuchten Kammer
auf ein Glasplättchen, ſo iſt letzteres ſchon
nach 10 — 20 Stunden von einem feinen
Faden⸗Netz überſponnen, in deſſen Fäden
—
Kosmos, Band III. Heft 3.
Haeckel, Das Protiſtenreich.
hat.
217
man unter dem Mikroſkop die lebhafte
Protoplasma-Strömung prächtig verfolgen
kann.
Im Anſchluß an die Myxomyceten
müſſen wir hier auch auf die echten Pilze
(Fungi) einen Blick werfen, mit welchen
man die erſteren früher irrthümlich vereinigt
Die echten Pilze, welche in ſo zahl—
reichen, anſehnlichen und mannigfaltigen
Formen in unſern Wäldern und Feldern,
auf Pflanzen- und Thierkörpern ſchma—
rotzend leben, werden oft auch als Schwämme
bezeichnet. Sie haben aber mit den echten
Schwämmen oder Spongien gar nichts zu
thun; denn dieſe letzteren, wozu der ge—
wöhnliche Badeſchwamm gehört, und welche
ſämmtlich — mit einziger Ausnahme des
Süßwaſſer-Schwammes, Spongilla, — im
Meere leben, ſind echte Thiere und be—
ſitzen ein Darmrohr mit Mundöffnung
u. ſ. w. Die Pilze dagegen bilden eine
gänzlich verſchiedene und ſehr eigenthümliche
Klaſſe von niederen Organismen. Zwar
gelten ſie heute noch allgemein als echte
Pflanzen. Allein in den wichtigſten
anatomiſchen und phyſiologiſchen Beziehun—
gen weichen ſie ſo ſehr von allen übrigen
Pflanzen ab, daß es wohl richtiger iſt, ſie
als eine ſelbſtſtändige Klaſſe von Pro-
tiſten zu betrachten. Ernährung und
Stoffwechſel der Pilze iſt thieriſch, nicht
pflanzlich. Sie bilden kein Protoplasma,
kein Chlorophyll, kein Stärkemehl, keine
Celluloſe, wie die echten Pflanzen. Viel—
mehr bedürfen ſie wie die Thiere, zu ihrer
Exiſtenz und Ernährung vorgebildetes Pro—
toplasma, welches ſie aus dem Körper an—
derer Organismen, lebender und todter
Thiere, Pflanzen und Protiſten, entnehmen.
Die Fortpflanzung der Pilze iſt meiſtens
ungeſchlechtlich, und auch da, wo ſie ge—
ſchlechtlich erſcheint, ganz eigenthümlich. Das
5 218 Haeckel, Das Protiſtenreich.
Form-Element, aus dem fi der Körper kernloſe Cytode, die ſogenannte Hyphe
aller Pilze aufbaut, iſt nicht eine echte, oder der „Pilzfaden“. Durch ſeitliche
kernhaltige Zelle, wie bei allen Thieren [Sproſſung und fortgeſetzte Theilung in
und Pflanzen, ſondern eine fadenförmige, einer Axe, bilden ſie verzweigte gegliederte
,
5.
a]
Fig. 44. Ein Champignon, aus der Ord— Fig. 45. Eine Diatomee oder
nung der Hutpilze (Hymenomycetes). Bacillarie (Surirella
A. Das Fadengeflecht Mycelium), aus ver- dentata). Die Schachtelzelle
äſtelten und netzförmig verbundenen Reihen iſt vom Rande geſehen, ſo
von Pilzfäden (Hyphen) gebildet (m). Aus daß man ſieht, wie die bei—
dem Myeelium ſproßen ſolide birnförmige den Schalenklappen (s u. d)
Fruchtkörper hervor (I), in welchen ſich ein über einander greifen, gleich
ringförmiger Luftraum bildet (II, III, . einer Schachtel (s) und ihrem
Unterhalb ſondert ſich der Stiel (IV, st), Deckel (d). In der Mitte
oberhalb der Schirm des Hutes (), von der Kern (n), p Protoplasma.
welchem die Hymenium Rippen in den Luft⸗
raum hineinwachſen (V. 1); der untere Boden
des Luftraums platzt ſpäter und hängt als
Schleier (Velum) vom Rande des Hutes herab.
Fäden, und zahlloſe ſolche Pilzfäden, in | geſtielte „Hut“ oder Schirm unſerer großen
langen Ketten an einander gereiht, fi ver- Hutpilze, z. B. vom Champignon
äſtelnd und netzartig verbindend, ſetzen alle (Fig. 44), iſt blos der Fruchtkörper,
Organe der Pilze zuſammen. Der bekannte welcher ſich zur Zeit der Reife aus einem
= — ar — = > — rennen)
unſcheinbaren Fadengeflechte, dem Mycelium
(Fig. 44, I m) entwickelt; die ſtrahligen,
Haeckel, Das Protiſtenreich.
|
f
|
blattförmigen Rippen, welche ſich an der
Unterſeite des regenſchirmähnlichen Hutes
bilden, ſind von der Fruchthaut (Hyme—
nium) überzogen, in welcher ſich ungeſchlecht—
lich die Fortpflanzungs-Cytoden („Sporen“)
bilden. Je genauer man die eigenthümliche
Anatomie und Keimungsgeſchichte der Pilze
verfolgt, je unbefangener man ſie vergleicht,
deſto mehr überzeugt man ſich, daß dieſe
merkwürdigen Organismen keine echten
Pflanzen ſind, ſondern eine ganz ſelbſt—
ſtändige Klaſſe von neutralen Protiſten
darſtellen.
Daſſelbe gilt von der formenreichen
Klaſſe der Kieſelzellen (Diatomeae
oder Bacillariae), die auch gewöhnlich zu
den Pflanzen gerechnet werden. Dieſe zier—
lichen kleinen Organismen bevölkern in un—
geheuren Maſſen die ſüßen und ſalzigen
Gewäſſer unſeres Erdballs. In großen
Mengen angehäuft, bilden ſie gewöhnlich
einen gelben oder gelbbraunen Schleim, der
Steine, Waſſerpflanzen u. ſ. w. überzieht.
Bald ſind die Diatomeen einzeln lebende
Einſiedlerzellen, bald Colonien oder Ge—
ſellſchaften (Coenobien), welche aus vielen
gleichartigen, locker verbundenen Zellen zu—
ſammengeſetzt erſcheinen.
Viele Diatomeen ſitzen feſt; die meiſten
aber bewegen ſich in ganz eigenthümlicher
Weiſe, langſam ſchwimmend oder fort—
rutſchend, im Waſſer umher. Die Organe
dieſer Ortsbewegung ſind noch gänzlich un—
bekannt, vielleicht feinſte Wimperreihen.
Das Charakteriſtiſche an dem Zellen—
körper der Diatomeen iſt die eigenthümliche
Kieſelſchale, in welcher ihr Zellenleib
eingeſchloſſen iſt. Dieſe Schale iſt aus
zwei Hälften zuſammengeſetzt, welche ſich zu
wie
einander genau ſo verhalten, eine
todten
219
Schachtel zu ihrem Deckel (Fig. 45).
Die kernhaltige Zelle, welche in dieſer
Schachtel lebt, theilt ſich in zwei Hälften,
und jede Hälfte bildet ſich zu ihrem
Schachteldeckel eine neue Schachtel. Dieſer
Proceß wiederholt ſich mehrfach, wobei na—
türlich jede folgende Generation kleiner
wird. Schließlich aber entſteht eine Gene—
ration, welche beide Schalenhälften abwirft,
wieder bis zur Größe der erſten, größten
Generation heranwächſt, und ſich nun mit
einer neuen Kieſelſchachtel erſter Größe um—
giebt. Wegen der unendlich mannigfaltigen
und zierlichen Geſtalt dieſer Kieſelſchale,
ſowie wegen ihrer äußerſt feinen Skulptur,
ſind die Diatomeen ſehr beliebte Unter—
haltungs-Objekte für mikroſkopiſchen Form—
genuß. Wenn ſich die Kieſelſchalen der
Diatomeen maſſenhaft auf dem
Grunde der Gewäſſer anſammeln und zu
Stein verkitten, können ſie ganze Gebirgs—
ſchichten zuſammenſetzen, ſo z. B. den Po—
lirſchiefer, das Bergmehl u. ſ. w.
Während die meiſten, bisher von uns
betrachteten Protiſten-Gruppen große und
formenreiche Klaſſen darſtellen, giebt es
nun noch eine Anzahl von kleineren, iſolir—
ten, bisweilen nur durch eine oder wenige
Formen repräſentirten Protiſten, deren Ein—
reihung in das Syſtem ſehr ſchwierig iſt.
Dies gilt z. B. von den ſonderbaren La—
byrinthulen, Geſellſchaften von locker
verbundenen, einfachen, ſpindelförmigen, gel—
ben Zellen, die in einer eigenthümlichen
Fadenbahn umherrutſchen. Eine andere
Gruppe, intereſſant wegen ihrer Mittel—
ſtellung zwiſchen verſchiedenen Protiſten—
Klaſſen, bilden die Catallakten, durch
die Gattungen Synura und Magosphaera
repräſentirt. Sie bilden ſchwimmende Gallert—
kugeln, zuſammengeſetzt aus einer Anzahl
birnförmiger gleichartiger Zellen, welche mit
220
ihren ſpitzen inneren Enden im Centrum der
Gallertkugel vereinigt ſind. Später löſen
ſich dieſe Zellgeſellſchaften oder Coenobien
auf. Die einzelnen iſolirten Zellen ſchwim—
men noch eine Zeit lang ſelbſtſtändig um—
her und können jetzt mit Ciliaten verwech—
ſelt werden. Dann aber ſinken ſie auf
den Meeresboden
A
Fig. 46.
Küſte.
Fig. 47.
einer Amoebe.
erhalten bewegliche Wimpern und verbinden
ſich wieder zu einer Flimmerkugel.
dreht ſich die Kugel rotirend um ihren
Mittelpunkt, ſprengt ihre Hülle und ſchwimmt
wieder frei in der Form umher, von wel—
cher wir ausgegangen ſind (Fig. 46). Das
Intereſſe dieſer merkwürdigen Protiſten liegt
alſo weniger in beſonderen Eigenthümlich—
Haeckel, Das Protiſtenreich.
nieder und verwandeln
Magosphaera (planula), eine ſchwimmende Flimmerkugel von der norwegiſchen
A von der Oberfläche, B im Durchſchnitt.
Nun
ſich in amoebenähnliche Zellen. Gleich
echten Amoeben kriechen dieſe umher, freſſen,
wachſen und kapſeln ſich ſchließlich ein; der
Zellenkörper zieht ſich kugelig zuſammen
und umgiebt ſich mit einer Gallerthülle.
Innerhalb derſelben theilt ſich die Zelle
ſpäter wiederholt in 2, 4, 8, 16, 32
Zellen u. ſ. w. Dieſe werden birnförmig,
B.
Protamoeba (primitiva), ein Moner mit lappenförmigen Pſeudopodien, gleich
A kriechend, B in Theilung begriffen, Ca, Ob in zwei Hälften getheilt.
| keiten, als vielmehr in der neutralen Mittel—
ſtellung, welche ſie zwiſchen Amoeben, In—
fuſorien und Volvocinen einnehmen, und
wodurch ſie dieſe verſchiedenen Protiſten—
Klaſſen verknüpfen. Wir nennen ſie daher
„Mittlinge oder Vermittler“ (Catal-
lacta).
Werfen wir einen vergleichenden Rück—
blick auf alle bisher betrachteten Protiſten—
Klaſſen, ſo ſehen wir, daß darin die orga—
niſche Zelle bald ganz ſelbſtſtändig auftritt,
und als Einſiedler-Zelle (Monoeyta)
den ganzen Organismus repräſentirt, bald
mit ihresgleichen ſich zu lockern Geſellſchaf—
ten verbindet und einfache Zellen-Ge—
meinden oder Zellen-Horden (Coenobia)
3 4 / U ö j
5 . f' 1
.
nismen ohne Organe“. Ihr ganzer leben—
diger Leib beſteht in völlig entwickeltem
Zuſtande nur aus einem einfachen Proto—
plasma-Stückchen, welchem ſelbſt der Kern,
der Charakter der echten Zelle, noch fehlt.
Bezüglich ihrer Bewegungen gleichen dieſe
denkbar einfachſten Organismen bald den
Amoeben (Fig. 47), bald den Wurzel—
füßlern (Fig. 48), bald den Geißelſchwär—
mern (Fig. 50). Sie vermehren ſich in
einfachſter Weiſe durch Theilung. Von der
größten theoretiſchen Bedeutung ſind ſie für
Haeckel, Das Protiſtenreich.
76 N 779 HI
} 1
40
1 1
Fig. 48. Protomyxa aurantiaca, ein Moner mit wurzelförmig veräſtelten, fadenartigen
Pſeudopodien, gleich einem Rhizopoden.
darſtellt. Nun iſt aber hiermit keineswegs
die tiefſte Stufe der Organiſation erſchöpft,
welche uns die organiſche Welt darbietet.
Vielmehr treffen wir noch unterhalb dieſer
einzelligen Protiſten jene niedrigſte und un—
vollkommenſte Klaſſe von Organismen an,
die wir als Moneren bezeichnen (Fig.
47, 48).
Nee
\\
Die Moneren find wahre „Orga- die dunkle Frage von der erſten Entſtehung
des Lebens auf unſerer Erde. Denn nur
Moneren können im Beginn des organiſchen
Lebens auf unſerm Planeten durch Urzeug—
ung entſtanden ſein; nur Moneren können
die älteſten Stammeltern aller übrigen Or—
ganismen ſein. Gerade in dieſer Beziehung
ſind die Moneren des Tiefſeegrundes, und
vor Allem der berühmte Bathybius
(Fig. 49) vom höchſten Intereſſe.
Eine ſehr wichtige und intereſſante
Monerengruppe bilden die Zitterlinge
(Vibriones oder Bacteria, Fig. KR
Haeckel, Das
Obgleich dieſe winzigſten Körperchen, die
zu den allerkleinſten Organismen gehören,
meiſtens von den Botanikern zu den Pflan—
zen gerechnet und als „Spaltpilze
(Schizomycetes)“ den echten Pflanzen an—
gereiht werden, geſchieht das doch ohne jeden
genügenden Grund. Mindeſtens haben die—
jenigen Zoologen, welche ſie als einfache
Thiere betrachten, ebenſo viel Recht dazu.
Die Bakterien ſind eben echte Proti—
ſten, und zwar kleinſte Moneren, deren
höchſt einfache Organiſation und ganz neu—
Fig. 49. Bathybius (Haeckelii). Ein
Plasmodium aus den Tiefen des Oceans.
Die veräſtelten Plaſſon-Ströme, durch deren
Verbindung das Netz entſteht, ändern ſich
beſtändig.
Die Bewegung der Bakterien iſt meiſtens
ſehr lebhaft, zitternd oder wimmelnd, viele
ſind korkzieherartig gedreht und ſchrauben
ſich im Waſſer fort (Fig. 50, 3). In
einem einzigen Waſſertröpfchen können Mil
lionen ſolcher kleinſten Organismen vereinigt
ſein. Irgend welche Organiſations-Ver—
hältniſſe, namentlich ein Zellkern, find an
denſelben nicht nachzuweiſen; ſie ſind daher
auch nicht wirkliche Zellen, ſondern kern—
loſe Cytoden, gleich den anderen Mo
neren. Ihre Fortpflanzung geſchieht in
Protiſtenreich.
traler Charakter ſie weder dem Thierreich,
noch dem Pflanzenreich anzuſchließen geſtattet.
Die Bakterien ſind meiſtens ſtabförmige
Körperchen, die ſich lebhaft im Waſſer be—
wegen. Als Organe der Bewegung iſt bei
einigen größeren Formen eine äußerſt feine,
ſchwingende Geißel erkannt, die an beiden
Enden des Stäbchens vortritt, ſo bei Spi—
rillum (Fig. 50, 4). Wahrſcheinlich iſt
eine ſolche auch bei den kleineren Vibrionen
vorhanden und nur wegen ihrer außer—
ordentlichen Zartheit nicht wahrzunehmen.
>
SE)
Fig. 50. Zitterlinge (Bacteria), ſehr
ſtark vergrößert. 1. Sarcine, eine ein⸗
fachſte Cytode, im menſchlichen Magen
ſchmarotzend, welche ſich durch kreuzförmige
Theilung vermehrt. 2. Bacillus, gerade
Stäbchen. 3. Vib rio, korkzieherartig ge—
wundene Stäbchen. 4. Spirillum, eben
ſolche Spiralſtäbchen, die aber an beiden
Enden eine äußerſt feine, ſchwingende
Geißel tragen.
einfachſter Weiſe durch Theilung. Oft zer—
fällt jedes Stäbchen in eine große Anzahl
hinter einander gelegener Stückchen.
Die große Bedeutung der Bakterien
beſteht darin, daß ſie die Zerſetzung und
Fäuluiß der organiſchen Flüſſigkeiten be—
wirken, in welchen ſie ſich aufhalten. Sie
ernähren ſich von den organiſchen Subſtan—
zen (namentlich eiweißartigen Körpern), die
in ſolchen Flüſſigkeiten aufgelöſt ſind.
Wahrſcheinlich ſind ſie die Urſache vieler
der ſchlimmſten, anſteckenden und epidemiſchen
2
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Krankheiten. So iſt es neuerdings nament—
lich vom Milzbrand und den Blattern feſt—
ohne willkürlichen Zwang weder zum Thier—
geſtellt, daß nur Bakterien, die im Blute
der milzbrandkranken und blatternkranken
Thiere leben, die Uebertragung dieſer tödt—
lichen Krankheiten bewirken.
Ueberblickt man unbefangen prüfend
und vergleichend die Maſſe von verſchieden-
artigen Urweſen, die wir in unſerem Protiſten—
reiche vereinigt haben, ſo ſcheint die Selbſt—
ſtändigkeit dieſes letzteren keines weiteren
Beweiſes zu bedürfen. Denn es exiſtirt
noch heute eine ungeheure Menge von for—
menreichen, mikroſkopiſchen Weſen, die wir
N
Fig. 51.
fläche. B im Längsſchnitt.
Uebrigens ſcheint gegen das Thierreich
hin eine feſte und klare Abgrenzung des
Protiſtenreiches ſchon jetzt ſicher gewonnen
zu ſein. Denn bei allen echten Thieren
entwickelt ſich der Leib aus zwei urſprüng—
lichen Zellenſchichten, die unter dem Namen
der Keimblätter bekannt ſind.
Aus dem äußeren oder animalen (Exo—
derma oder Hautblatt, Fig. 51) ent-
ſtehen die Organe der Empfindung und
Bewegung; aus dem innern oder vegeta—
reich noch zum Pflanzenreich rechnen können.
Aber das natürliche Verhältniß dieſer bei—
den großen Lebensreiche zu jenem neu—
tralen, zwiſchen Beiden mitten inne
ſtehenden Protiſtenreiche wird noch
Gastrula (Darmlarve) eines Kalkſchwammes, Olynthus.
e äußeres Keimblatt (Hautblatt oder Exoderm).
Keimblatt (Darmblatt oder Entoderm).
vielfacher Durchforſchung und Klärung be—
dürfen. Insbeſondere wird die Ent—
wickelungsgeſchichte der Protiſten noch
viel genauer und umfaſſender zu erforſchen
ſein. Denn vor allem die Entwickelungs—
geſchichte wird hier, wie überall, der „wahre
Lichtträger“ für das Verſtändniß der bio—
logiſchen Erſcheinungen ſein.
A von der Ober—
i inneres
o Urmund. g Urdarmhöhle.
tiven Keimblatte (Entoderma oder Darm—
blatt, Fig. 51) die Organe der Ernähr—
ung. Das letztere umſchließt eine ernäh—
rende Höhle, die erſte Anlage des Magens
oder den Urdarm (g), und dieſer öffnet
ſich nach außen durch eine einfache Mund—
öffnung, den Urmund (o). Die bedeut—
ungsvolle Keimform, welche uns den Thier—
leib dergeſtalt, blos aus zwei Keimblättern
gebildet, vor Augen führt, iſt die Gaſtrula
(Darmlarve oder Becherkeim).
Dieſe Gaftrula ift das wahre
Thier in einfachſter Form. Denn
Haeckel, Das Protiſtenreich. f
(Fig. 53), die Gliederthiere (Fig. 54),
|
|
bei allen echten Thieren fängt die Ent-
wickelung des Eies zur verſchiedenartigen
Thierform mit der gleichartigen Bildung
dieſer Gaſtrula an. Die niederſten Pflan—
zenthiere, die Phyſemarien (Fig. 56), wie
die Schwämme (Fig. 51), die niedrigſten
Würmer (Fig. 52), ebenſo die Sternthiere
|
|
|
|
ebenfo wie die Weichthiere (Fig. 55), ja
ſogar die niedrigſten Wirbelthiere (Fig. 57),
durchlaufen in früheſter Jugend dieſe Ga—
ſtrula-Keimform; die anderen Thiere
bilden zweiblättrige Keimformen, die nur
als abgeänderte Gaſtrula-Keime betrachtet
werden können; ſo auch die Säugethiere,
mit Inbegriff des Menſchen (Fig. 58);
Fig. 52—57. Gaſtrula von ſechs verſchiedenen Thieren. Fig. 52. (B) Wurm (Sagitta)-
Fig. 53 (0) Seeſtern (Uraster). Fig. 54 (D) Krebs (Nauplius). Fig. 55 (E) Schnecke
(Lymnaeus). Fig. 56 (A) Pflanzenthier (Gastrophysema). Fig. 57 (F) Wirbelthier
(Amphioxus). — Ueberall bedeutet: e Hautblatt (Exoderm). i Darmblatt (Entoderm).
d Urdarm. o Urmund.
überall baut ſich der echte Thierleib ur—
ſprünglich aus zwei Keimblättern
auf. Hingegen erhebt ſich kein einziges
Protiſt zur Produktion von Keimblättern
und zur Bildung einer Gaſtrula.
Weniger klar und ſcharf läßt ſich unſer
Protiſtenreich gegen das Pflanzeureich
hin abgrenzen. Doch dürften auch hier die
Verhältniſſe der individuellen Entwickelung
und des feineren Baues die Handhabe
liefern, mit deren Hülfe wir die Grenz—
linie ziehen können. Auch bei den echten
Pflanzen ordnen ſich die Zellen, welche den
Körper zunächſt aufbauen, in beſtimmter
Weiſe zu Zellenreihen oder Zellenſchich—
ten: und die charakteriſtiſche einfachſte
Pflanzenform der Art bildet den ſogenann—
ten Thallus oder das „Zellenlager“.
— —— — —— — ——2 ne
Haeckel, Das Protiſtenreich.
Bei den niederen Pflanzen bleibt der Thal—
lus als ſolcher zeitlebens beſtehen, bei den
höheren ſondert oder differenzirt er ſich in
Stengel und Blätter. Auch vermehren ſich
alle echten Pflanzen auf geſchlechtlichem Wege,
während dies bei den Protiſten nicht der
Fall iſt.
Eine abſolute Grenze freilich zwi-
ſchen den drei organiſchen Reichen können
und wollen wir nicht feſtſtellen. Denn
auch die echten Pflanzen, wie die echten
Thiere, durchlaufen in
ihrer früheſten Ent—
wickelung, als einzel—
liges Ei, als einfacher
Zellenhaufen u. ſ. w.
niedere Formzuſtände,
welche gewiſſen Pro-
tiſten gleichen. Nach
unſerem biogenetiſchen
Grundgeſetze müſſen
wir daraus den Schluß
ziehen, daß ſämmtliche
Organismen, Thiere,
Protiſten und Pflan⸗
zen, von höchſt ein—
fachen einzelligen Or⸗
ganismen abſtammen;
und wenn wir dieſe
älteſten Stammformen
heute lebend vor uns hätten, würden wir
ſie jedenfalls für neutrale Protiſten
erklären. a
Eine gute negative Charakteriſtik der
Protiſten, gegenüber den echten Thieren und
den echten Pflanzen, läßt ſich darauf grün-
den, daß ſie weder eine Gaſtrula mit
zwei Keimblättern bilden, wie die erſteren,
noch einen Thallus oder ein Prothal-
lium, wie die letzteren. Damit in Zu—
ſammenhang ſteht der Umſtand, daß die
Protiſten niemals wirkliche (aus vielen
(Kaninchen).
höhle ausfüllt.
.
Fig. 58. Gaſtrula eines Säugethieres
e Hautblatt (Exoderm).
i Darmblatt (Entoderm). d eine centrale
Entoderm-Zelle, welche die enge Urdarm—
o eine Entoderm-Zelle,
welche die Urmundöffnung verſtopft.
Ebenſo wie beim Kaninchen verhält ſich
wahrſcheinlich auch die Gaſtrula beim
Menſchen.
Erfahrung bleibt uns für die Erkenntniß
Zellen zuſammengeſetzte) Gewebe und
Organe bilden, wie alle echten Thiere
und Pflanzen. Auch iſt es ſicher von
großer Bedeutung, daß die große Mehr-
zahl aller Protiſten ſich ausſchließlich auf
ungeſchlechtlichem Wege fortpflanzt
(durch Theilung, Knospenbildung, Sporen—
bildung). Aber ſelbſt bei den wenigen
Protiſten, welche ſich bereits zur geſchlecht—
lichen Zeugung in einfachſter Form erheben,
geht der Gegenſatz zwiſchen männlichen und
weiblichen Theilen nie—
mals ſo weit, wie es
bei allen echten Thieren
und Pflanzen der Fall
iſt. Sie repräſentiren
in jeder Beziehung
jene niedere älteſte
Bildungsſtufe, welche
jedenfalls der Ent-
wickelung echter Thiere
und echter Pflanzen
vorausgegangen ſein
muß.
Dieſe Betrachtungen
führen uns auf den-
jenigen Weg, auf
welchem allein eigent—
lich das Verhältniß
der drei organiſchen
Reiche zu einander entſcheidend aufgeklärt
werden kann, auf den Weg der Stam—
mesgeſchichte oder Phylogenie. Wenn
wir ganz genau wüßten, wie ſich das or—
ganiſche Leben auf unſerem Erdball von
Anfang an entwickelt hat, wie die Thiere,
Protiſten und Pflanzen urſprünglich ent—
ſtanden ſind, dann würden wir auch das
Verhältniß der drei Reiche zu einander
klar und unzweideutig beurtheilen können.
Aber der ſichere Weg der unmittelbaren
Kosmos, Band III. Heft 3.
29
226 Haeckel, Das Protiſtenreich.
dieſes wichtigen Verhältniſſes auf ewig ver—
ſchloſſen. Kein lebendes Weſen und keine
Schöpfungsurkunde kann uns erzählen, wie
jener älteſte Entwickelungsgang des orga—
niſchen Lebens vor vielen Millionen von
Jahren begonnen und wie er ſich weiter—
hin zunächſt geſtaltet hat. Tauſende von
Arten und Gattungen, Millionen von Ge—
nerationen ſind ins Grab geſunken, ohne uns
ſichtbare Spuren ihrer Exiſtenz hinterlaſſen zu
haben. Und gerade die wichtigſten von
Allen, die älteſten und einfachſten Formen,
konnten wegen des Mangels harter Körper—
theile keine Verſteinerungen zurücklaſſen.
Aber wenn uns auch der ſtreng empi—
riſche Weg der Erkenntniß in dieſer hoch—
wichtigen Urſprungsfrage unwiderruflich ver—
ſchloſſen iſt, ſo bleibt uns doch hier, wie
überall, zur Ausfüllung unſerer Erkenntniß—
lücken der Weg der wiſſenſchaftlichen Hy—
potheſe offen. Wenn dieſe hiſtoriſche
Hypotheſe ſich in umfaſſender Weiſe
Geſellſchaften von gleichartigen Zellen.
auf die bisher erkannten wiſſenſchaftlichen
Thatſachen ſtützt, jo iſt fie in der Natur-
geſchichte der Lebeweſen ebenſo berechtigt,
Wiſſenſchaften. Und wie uns die allgemein
anerkannten geologiſchen Hypotheſen dazu
geführt haben, eine befriedigende Einſicht
in den Entwickelungsgang unſeres Erdballs
zu gewinnen, ſo werden auch die phylo—
gründen, Licht über den Entwickelungsgang des
Wir können hier nicht auf eine Be—
gehen, welche über dieſen Entwickelungsgang
aufgeſtellt worden ſind. Nur auf diejenige
Vorſtellung wollen wir ſchließlich noch einen
wie in der Geologie, in der Archäologie,
der Culturgeſchichte und anderen hiſtoriſchen |
genetiſchen Hypotheſen, die wir auf die von
Darwin reformirte Descendenz-Theorie
organiſchen Lebens auf der Erde verbreiten.
leuchtung und Begründung aller der ver-
ſchiedenen phylogenetiſchen Hypotheſen ein-
flüchtigen Blick werfen, welche heut zu tage
am meiſten innere Wahrſcheinlichkeit für
ſich hat. Danach müſſen wir annehmen,
daß das Leben auf unſerem Planeten mit
der ſelbſtſtändigen Entſtehung der allerein—
fachſten Protiſten aus anorganiſchen Ver—
bindungen begonnen hat. Dieſe älteſten
Lebeweſen der Erde werden den noch heute
exiſtirenden Moneren ähnlich geweſen
ſein: einfachſte lebende Protoplasma-Stück—
chen ohne jegliche Organbildung. Daraus
werden ſich zunächſt durch Sonderung eines
Kernes im Innern einzellige Protiſten
gebildet haben, und zwar hüchſt einfache,
formloſe und indifferente Zellen, gleich
den Amoeben. Indem einige von die—
ſen einzelligen Protiſten, von geſelligen
Neigungen getrieben, ſich daran gewöhnten,
in kleinen Geſellſchaften vereinigt zu leben,
werden die erſten vielzelligen Organismen
entſtanden ſein, und zwar zunächſt auch
nur wieder einfache Zellenhorden, lockere
Nun iſt es wohl wahrſcheinlich, daß
dieſe älteſten und einfachſten Entwickelungs—
vorgänge des organiſchen Lebens ſich an
zahlreichen verſchiedenen Stellen des jugend—
lichen Erdballs gleichzeitig und unabhängig
von einander wiederholt haben. So können
alſo verſchiedene und vielleicht zahlreiche
Formen von Protiſten unabhängig von
einander entſtanden ſein; zuerſt einzellige,
ſpäter vielzellige. Durch den allgemeinen
Kampf ums Daſein, der auch unter dieſen
Protiſten frühzeitig ſich geltend machte,
werden dieſelben allmälig zu höherer Son—
derung und Vervollkommnung angetrieben
worden ſein. Als wichtigſter Vorgang iſt
ſicher die gegenſätzliche Sonderung von
thieriſchen und pflanzlichen Lebensproceſſen
hervorzuheben. Die einen Protiſten began—
nen mehr an thieriſche, die andere an
pflanzliche Lebensweiſe ſich anzupaſſen, und
mit der Lebensweiſe in Wechſelwirkung ent—
ſtand die charakteriſtiſche Körperform. Eine
dritte, conſervative Gruppe von Protiſten
behielt den urſprünglichen neutralen Cha-
rakter bei. Indem jene Anpaſſungen ſich
im Laufe der Zeit durch Vererbung befeſtig— |
ten, bildeten ſich neben einander die drei
großen organiſchen Reiche aus.
Mit Beziehung auf den Stoffwechſel
und die Ernährung würden wir freilich
ſagen können, daß dieſe älteſten Bewohner
unſeres Planeten Pflanzen waren, —
richtiger: Protiſten mit pflanzlichem Stoff—
wechſel; Protiſten, welche gleich echten Pflan—
zen aus Waſſer, Kohlenſäure und Ammo-
niak die wichtigſte „Lebens-Baſis“, das
und dieſes
Plaſſon ſonderte ſich ſpäter in Protoplas— |
Plaſſon, zuſammenſetzten,
ma und Nucleus.
Die älteſten Thiere hingegen — oder
richtiger: die älteſten Protiſten mit thieri—
ſchem Stoffwechſel, waren Paraſiten,
ſchmarotzende Protiſten, welche es bequemer
fanden, fi” das von anderen Protiſten
gebildete Protoplasma anzueignen, als ſelbſt
ſolches zu bilden. Da eben urſprünglich
viele Protiſten-Stämme ſich unabhängig
von einander entwickelt haben können, von
verſchiedenen autogonen Moneren abſtam—
mend, ſo können auch dieſe Anpaſſungen ſich
mehrmals (polyphyletiſch) wiederholt haben.
Aber auch wenn wir dieſe viel—
ſtämmige (polyphyletiſche) Hypotheſe ver—
werfen und wenn wir mehr zu der ein—
ſtämmigen (monophyletiſchen) Annahme hin—
neigen, daß der Urſprung aller lebenden
Weſen auf eine einzige gemeinſame Stamm—
form zurückgeführt werden muß, auch dann
werden wir doch im Ganzen wieder zu
ähnlichen Vorſtellungen über das Verhält—
niß der drei Reiche gelangen. Auch in
Haeckel, Das Protiſtenreich.
ten.
227
dieſem Falle werden wir annehmen müſſen,
daß jene älteſte urſprüngliche Stammform
eine einfachſte Cytode, ein Moner war,
und daß ſich aus den Nachkommen jenes
Moners zunächſt einfache Zellen entwickel—
Dieſe Zellen werden ſich wieder in
thieriſche und pflanzliche geſondert haben,
und ſo wird ſich nach einer Richtung hin
das Thierreich, nach einer anderen das
Pflanzenreich ausgebildet haben, zwei ge—
waltigen, weit verzweigten Stämmen ver-
gleichbar. Aber aus der gemeinſamen Wurzel,
in der dieſe beiden großen Stämme zuſam—
menhängen, haben ſich außerdem noch zahl—
reiche niedere und indifferente Wurzelſchöß—
linge ſelbſtſtändig entwickelt; und dieſe bilden
zuſammen unſer Reich der Protiſten.
Jedenfalls bleibt ſo viel ſicher, daß Thier—
reich und Pflanzenreich nur in ihren voll—
kommeneren Formen ſich ſchroff gegenüber
ſtehen, in ihren niederen Formen dagegen durch
das Protiſtenreich untrennbar zuſammenhän—
gen. Die wiſſenſchaftliche Begründung dieſer
wichtigen Anſchauung iſt uns erſt durch die
großartigen Fortſchritte der letzten 40 Jahre
möglich geworden. Aber mit dem Genius des
Propheten hat ſchon vor 70 Jahren einer unſrer
tiefblickendſten Naturphiloſophen, Deutſch—
lands genialſter Dichter, dieſelbe Anſchauung
ahnungsvoll ausgeſprochen. In Jena ſchrieb
Goethe 1806 den merkwürdigen Satz
nieder: „Wenn man Pflanzen und Thiere
in ihrem unvollkommenſten Zuſtande be—
trachtet, ſo ſind ſie kaum zu unterſcheiden.
So viel aber können wir ſagen, daß die
aus einer kaum zu ſondernden Verwandt—
ſchaft als Pflanzen und Thiere hervortre—
tenden Geſchöpfe nach zwei entgegengeſetzten
Seiten ſich vervollkommnen, ſo daß die
Pflanze ſich zuletzt im Baume dauernd und
ſtarr, das Thier im Menſchen zur höchſten
Beweglichkeit und Freiheit ſich verherrlicht.“
— — . — —
Die Königinnen der Meliponen.
Von
Dr. Fritz Müller.
ie ſchönſte unter den ſtachelloſen
Honigbienen des ſüdlichen Bra-
ſiliens iſt die Coyrepü oder
große Mandacaia. Sie hat
etwa die Größe einer europäi—
ſchen Honigbiene; ihre etwas geringere
Länge wird durch größere Breite auf—
gewogen. Kopf und Bruſt ſind glänzend
ſchwarz, der oben unbehaarte Hinterleib
rothbraun, mit vier dottergelben Quer—
binden geziert. Im April 1873 entnahm
ich einem hohlen Baumſtamme ein Volk
dieſer ſchönen Biene, um es in meinem
Garten lebend zu beobachten. Nachdem ich
Brutwaben und Honigtöpfe und mit ihnen
die größte Zahl der Bewohner herausge—
nommen hatte, bemerkte ich zwiſchen den
in der Höhle des Baumes zurückgebliebenen
bunten Erbauern des Neſtes etwas kleinere
Bienen, deren einfarbiger, glänzend brauner
Hinterleib mit eigenthümlich ſeidenartig
glänzenden, bräunlichen, hinterwärts gerich—
teten Haaren bekleidet war. Sie waren
im ganzen Ausſehen ſo verſchieden, daß ich
gar nicht an die Möglichkeit dachte, ſie
öknnten derſelben Art angehören. Ich fing
|
neun dieſer Bienen; alle waren Weibchen,
wie die zwölfgliedrigen Fühler und die
einfachen Fußklauen bewieſen (bei den Männ—
chen der Meliponiden ſind die Fußklauen
geſpalten); allein ihre Hinterſchienen beſaßen
nicht die nackte, glänzende, vertiefte Außen—
fläche, das „Sammelkörbchen“, in welchem
die Arbeiter der Meliponen den Blüthen—
ſtaub heimtragen. Die Außenfläche der
Hinterſchienen war gewölbt und behaart,
zum Blüthenſtaubſammeln kaum tauglich.
Dies legte den Gedanken nahe, es ſeien
„Kukuksbienen“, die ihre Eier in die mit
Futterbrei gefüllten Brutzellen ihrer Ver—
wandten einſchmuggeln. Unter den Hum—
meln kennt man ja eine ganze Anzahl ſolcher
ſchmarotzenden Arten.
Bald darauf erhielt ich ein Volk einer
zweiten Melipona-Art, der Gurupü. Sie
iſt ſo groß wie die vorige Art, matt ſchwarz
und auf der ganzen Oberſeite, auch des
Hinterleibes, mit dichter, ſenkrecht abſtehen—
der, bräunlicher oder ſchwärzlicher Behaar—
ung bekleidet. Nach wenigen Wochen ging
dieſes Volk zu Grunde, wahrſcheinlich weil
wegen Weiſelloſigkeit die älteren Arbeiter
Müller, Die Königinnen der Meliponen.
ſich zerſtreut hatten; die zurückgebliebenen
Drohnen und jüngeren Arbeiter mußten
dann Hungers ſterben, nachdem ſie die vor—
handenen Vorräthe aufgezehrt hatten. Eines
Tages vermißte ich die Wache am Flug—
loche, es flogen keine Bienen mehr, dagegen
liefen zahlreiche Ameiſen aus und ein. Ich
fand bei Unterſuchung des Stockes todt
oder ſterbend 294 meiſt noch nicht ausge—
färbte Arbeiter, 59 Drohnen, die dagegen
faſt alle ſchon ausgefärbt waren, und 21
zum Theil noch in den Brutzellen einge⸗
ſchloſſene Weibchen, täuſchend ähnlich den
bei den Coyrepü gefundenen, wie ſie
durch die außen gewölbten und behaarten
Hinterſchienen von den Arbeitern, und höchſt
augenfällig durch die braungelbe, ſeiden—
glänzende, hinterwärts gerichtete Behaarung
des Hinterleibes von allen übrigen Be—
wohnern des Stockes ſich unterſcheiden.
Eine eingehendere Unterſuchung, die
mein Bruder Hermann Müller vor—
nahm, ergab, daß dieſe abweichenden Weib—
chen der beiden Stöcke verſchiedenen Arten
angehörten, von denen jede trotz des ganz
verſchiedenen Ausſehens in vielen Punkten
ſich eng anſchloß an die Arbeiter, in deren
Geſellſchaft ſie gefunden worden war.
Im Freien habe ich nur einmal ein
ſolches Weibchen gefangen, ſo ähnlich den
früher geſehenen, daß mir bei oberflächlicher
Betrachtung kein Unterſchied auffiel; indeß
wollte ein glücklicher Zufall, daß daſſelbe,
wie mein Bruder feſtſtellte, einer dritten
Art angehörte, und ſich ebenſo an unſere
dritte größere Melipona-Art, die Mondury
(Melipona Mondury Smith = Fulva
Lep.) anſchloß, wie die beiden erſteren an
die große Mandagaia und die Gurupn.
Häufiger als die genannten drei größe—
ren iſt hier eine vierte, kleinere (6 bis 7,5
eillimeter lange) Melipona-Art, die eben—
—
229
falls den Namen Mandacaia führt und
beſonders durch ihre außergewöhnliche Ver—
änderlichkeit merkwürdig iſt. Kopf und
Bruſt ſind matt ſchwarz, der oberſeits un—
behaarte, glänzende Hinterleib iſt bald
ganz ſchwarz, bald ſchwarz mit röthlichem
Grunde, bald braunroth, bald röthlich, und
auf dem Rücken mit vier, ſeltener fünf,
gelben oder auch weißlichen, ununterbroche—
nen oder mehr oder weniger breit unter—
brochenen Querlinien gezeichnet. Das Schild—
chen iſt bald glänzend ſchwarz, bald gelb.
Die Kinnbacken (Mandibeln) ſind bald ganz—
randig, bald mehr oder minder deutlich ge—
zähnt, ſo daß nach dieſem Merkmal, durch
welches Latreille die Gattungen Meli-
pona und Trigona unterſchied, von den
Arbeitern dieſer Art einige zu Melipona,
andere zu Trigona gehören würden. Von
dieſer Art beſaß ich gegen Ende des Jahres
1874 drei Völker, alle mit ſchwarzem,
quergeſtreiftem Hinterleib, zwei auch mit
ſchwarzem Schildchen, während bei dem
dritten gelbe und ſchwarze Schildchen in
ungefähr gleicher Häufigkeit vorkamen.
Am 31. Oktober 1874 ſah ich zum
erſten Male auch bei dieſer Art ein Weib—
chen, welches durch einfarbig braunen Hinter-
leib mit hinterwärts gerichteter, ſeidenglän—
zender, gelbbrauner Behaarung in dem Ge—
wimmel der Arbeiter ſich bemerklich machte;
es war etwas kleiner als dieſe. Bald fand
ich dieſe Weibchen auch in den beiden an—
deren Stöcken, und zwar in der Farbe des
Schildchens übereinſtimmend mit den Ar—
beitern des betreffenden Volkes. Unter dem
Volke, deſſen Arbeiter bald ſchwarze, bald
gelbe Schildchen trugen, fing ich fünf ſol—
cher Weibchen mit ſchwarzem und ebenfalls
fünf mit gelbem Schildchen.
Nach dieſem Funde war natürlich nicht
mehr daran zu denken, daß dieſe Weibchen
230
fremde Eindringlinge, daß ſie Kukuksbienen
fein könnten; es waren ohne Frage Weib- |
chen der Art, bei welcher ſie lebten. Ob
jungfräuliche Königinnen oder ob etwa ein
beſonderer Stand heiliger Jungfrauen),
die, ohne von einem Manne zu wiſſen,
Drohneneier legen, wie die von Vogel
beobachteten „Drohnenmütterchen“ der ägyp—
tiſchen Bienen, kann ich noch nicht endgültig
entſcheiden; da jedoch bis auf den rieſig
angeſchwollenen Hinterleib mein Bruder die
Königin der Coyrepu völlig übereinſtim—
mend fand mit den kleinen Weibchen des—
ſelben Volkes, ſo iſt das Erſtere mir wahr—
ſcheinlicher
So haben wir denn hier vier Melipona—
Arten, deren fruchtbare Weibchen, ſeien es
Königinnen oder heilige Jungfrauen, über—
raſchend ähnlich ſind, während die unfrucht—
baren Weibchen (Arbeiter) und die Männ—
chen (Drohnen) jeder Art ſich weit von
denen der übrigen Arten und von den frucht—
baren Weibchen der eigenen Art entfernen.
ſein?
Daß die Weibchen mehrerer verwandten
Arten einander ſehr ähnlich, die Männchen
dagegen von einander und von den eigenen
Weibchen ſehr verſchieden ſind, kommt auch
bei den Schmetterlingen vor, und man
darf in dieſem Falle annehmen, wie Dar—
win überzeugend nachgewieſen hat, daß die
unanſehnlicheren Weibchen die urſprüngliche
Zeichnung und Färbung bewahrten, wäh—
rend die Männchen ihr glänzendes Kleid
der von den Weibchen geübten geſchlecht—
lichen Ausleſe verdanken. Auch bei unſeren
) Ich ſchlage dieſe in der chriſtlichen
Mythologie ſeit lange in gleichem Sinne üb—
langathmigen Fremdwortes: „parthenogene—
tiſche Weibchen“.
Müller, Die Königinnen der Meliponen.
Wie mag dieſes Verhalten zu erklären:
liche deutſche Bezeichnung vor an Stelle des
Meliponen wird man die übereinſtimmende
Tracht der fruchtbaren Weibchen als Erb—
theil einer gemeinſamen Stammform an—
ſprechen dürfen, und man würde ebenſo die
Bedenken der geſchlechtlichen Ausleſe zu—
ſchreiben, wenn es ſich eben nur um die
Männchen handelte. Das Auffallendfte aber
in dieſem Falle iſt nicht die Verſchiedenheit
der Männchen, ſondern daß die unfrucht—
baren Weibchen das Gewand der Männ—
chen und nicht das der fruchtbaren Weib—
chen tragen. Drohnen und Arbeiter ſtim—
men in Größe, Geſtalt und Färbung faſt
vollſtändig überein; nur die Farbe des Ge—
ſichtes iſt bisweilen abweichend; außerdem
fehlen den Drohnen die Sammelkörbchen
der Hinterſchienen, ihre Fußklauen ſind
geſpalten, ihre Fühler dreizehngliedrig.
Leider iſt — und damit fehlt jedem
bei ſtachelloſen Honigbienen noch nicht feſt—
geſtellt, wodurch die Entſtehung der drei
verſchiedenen Stände bedingt iſt, und ſie
ſtehen in ihrem Bau und namentlich auch
in ihrer Brutpflege den ſtachelbewehrten
Honigbienen der alten Welt nicht nahe ge—
nug, um ohne Weiteres das bei letzteren
Erforſchte auf ſie übertragen zu dürfen.
Die in einſchichtigen wagerechten Waben an—
geordneten Brutzellen ſind bei den Meli—
ponen ſämmtlich von gleicher Größe, mögen
ſie für Männchen, fruchtbare oder unfrucht—
bare Weibchen dienen (bei den nahe ver—
wandten Trigonen kommen beſondere, ſehr
große „Weiſelwiegen“ vor). Die Brut⸗
zellen werden mit Futterbrei gefüllt, bevor
das Ei gelegt wird, und ſobald dies ge—
ſchehen, ſofort geſchloſſen. Wenn alſo aus
den Eiern Weibchen oder Männchen her—
vorgehen, je nachdem ſie befruchtet werden
oder nicht, ſo kann wenigſtens die Königin
Verſchiedenheit der Männchen ohne große
Erklärungsverſuche der ſichere Boden —
*
nicht durch verſchiedene Größe der Zellen
veranlaßt werden, die Befruchtung zu voll—
ziehen oder zu unterlaſſen, und wenn die
Entwickelung der Weibchen zu Königinnen
oder Arbeitern bedingt iſt durch verſchiedene
Ernährung der Larve, ſo könnte dabei nur
die Beſchaffenheit, nicht aber die Menge
des Larvenfutters in Betracht kommen.
In einem wichtigen Punkte ſtimmen übri—
gens die Meliponen mit den europäiſchen
Bienen überein: Die fruchtbaren Weibchen
entwickeln ſich raſcher, die Drohnen lang—
ſamer als die Arbeiter, und dieſe Ueber—
einſtimmung ſpricht allerdings zu Gunſten
der Annahme, daß auch die Urſachen, welche
die Entſtehung des einen oder des anderen
der drei Stände bedingen, dieſelben ſein
mögen. Iſt dies aber der Fall, ſo muß
es um ſo befremdender erſcheinen, daß die
von den Drohnen gezeugten fruchtbaren
Töchter das Gewand des Vaters nicht erben,
während die von der Königin vaterlos er—
zeugten Söhne es erhalten.
Es iſt kaum denkbar, daß Arbeiter und
Drohnen unabhängig von einander daſſelbe
von dem der Königin ſo weit verſchiedene
Ausſehen erlangt haben; vielmehr wird
daſſelbe von einem der beiden Stände er—
worben und dann auf den andern über-
tragen worden ſein.
———ů — — ä ——U—— —— —— ——— — ů — —— ——!
Müller, Die Königinnen der Meliponen.
231
Die Annahme, daß die Arbeiter zuerſt
die alterthümliche, von der Königin ziemlich
treu bewahrte Tracht ablegten, und daß
von ihnen aus die neue Tracht auf die
Drohnen überging, würde die weitere, durch
nichts zu ſtützende Annahme fordern, daß
nicht nur in ſeltenen Ausnahmefällen, wie
bei der europäiſchen Biene, ſondern regel—
mäßig die Arbeiter der Meliponen Drohnen-
eier legen.
Bei weitem wahrſcheinlicher ſcheint es,
daß, wie bei vielen Schmetterlingen, zu—
nächſt die Männchen der verſchiedenen Arten
durch geſchlechtliche Ausleſe ſich immer weiter
von einander und von ihren Müttern ent—
fernten. Die ganz eigenthümliche und bis
jetzt wohl beiſpielloſe Weiſe der Vererbung,
durch welche dieſe allmälig anwachſende Ver—
ſchiedenheit der Männchen in gleichem Grade
auch auf die unfruchtbaren, aber gar nicht
auf die fruchtbaren Weibchen übertragen
wurde, dürfte vielleicht damit in Zuſammen⸗
hang ſtehen, daß Drohnen und Arbeiter
daſſelbe, die Königinnen aber ein anderes
Larvenfutter erhalten.
Doch ſtatt weitere unbeweisbare Mög—
lichkeiten aufzuſuchen, will ich lieber einfach
geſtehen, daß ich eine befriedigende Erklär—
ung bis jetzt nicht zu geben weiß.
f
Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Von
Herbert Spencer.
VI.
Anredeformen.
/ 5 as die Verbeugung durch eine
3 Handlung, das drückt die An—
5 redeform durch Worte aus.
Wenn beide gemeinſamer Ab—
fa ſind, ſo durfte man dies ſchon
im Voraus annehmen, und daß erſteres
der Fall iſt, läßt ſich in der That nach—
weiſen. Es treffen ſich Beiſpiele, wo beide
Formen unterſchiedslos gebraucht werden,
da eben die eine das Aequivalent der
andern darſtellt. So bemerkt Capitän
Spencer von den Polen und ſlaviſchen
Schleſiern:
„Keine Eigenthümlichkeit im Auftreten
kennzeichnet vielleicht dieſe beiden Völker
beſſer, als ihre unterwürfige Art, irgend
eine Freundlichkeit anzuerkennen; denn ihr
Ausdruck des Dankes iſt das ſervile „Upa—
dam do nög* (ich falle zu Euren Füßen),
was keineswegs eine bloße Redensart ſein
ſoll: man braucht ihnen die Kleinigkeit von
ein paar Pfennigen zu ſchenken, und ſie
fallen buchſtäblich nieder und küſſen einem
und zum König:
die Füße.“
Hier wird alſo die Stellung des Be—
| fiegten vor feinem Sieger entweder that—
ſächlich angenommen, oder er bekennt ſich
in Worten dazu, und gegebenen Falls kann
die wörtliche Darſtellung als Erſatz für
die wirklich ausgeführte Handlung gelten.
Andere Zeugniſſe führen uns Worte und
Handlungen in ähnlicher Verknüpfung vor,
ſo z. B. wenn ein türkiſcher Höfling, über—
haupt gewöhnt, unterwürfige Verbeugungen
zu machen, den Sultan anredet: „Mittel—
punkt des Weltalls! Deines Sklaven Haupt
liegt zu Deinen Füßen!“ — oder wenn
ein Siameſe, der ſich alltäglich den kriechend—
ſten Niederwerfungen unterzieht, zu ſeinem
Vorgeſetzten ſagt: „Herr und Wohlthäter,
zu deſſen Füßen ich liege,“ zu einem Für—
ſten aber: „Ich, die Sohle Deines Fußes,“
„Ich, ein Stäubchen an
Deinen geheiligten Füßen.“ Oder noch
beſſer, wenn ein Siameſe aus dem Gefolge
des Königs ſagt: „Hoher und vortrefflicher
Herr, ich, Dein Sklave, bitte darum, die
königlichen Befehle entgegennehmen und ſie
auf mein Gehirn, auf den Scheitel meines
Kopfes legen zu dürfen,“ womit abermals
in Worten jene abſolut unterwürfige Stell—
ung angedeutet wird, bei der das Haupt
unter dem Fuße des Siegers liegt.
Es mangelt aber auch aus näher ge—
legenen Ländern nicht an Beiſpielen, welche
dieſe Erſetzung wirklich ausgeführter Ehren—
bezeugungen durch ein bloßes Bekenntniß
der Bereitwilligkeit dazu beleuchten. In
Rußland muß ſelbſt in der gegenwärtigen
Zeit eines gemäßigten Despotismus eine
Petition ſtets mit den Worten beginnen:
„Der und der ſchlägt ſeine Stirn“ (auf
die Erde), und Bittende werden deshalb
„Stirnſchläger“ genannt. Am Hofe von
Frankreich war es bis zum Jahre 1577
noch Sitte, daß die Einen ſagten: „Ich
küſſe die Hand Euer Gnaden,“ Andere aber
ſogar: „Ich küſſe Euer Herrlichkeit Füße.“
Und in Spanien, wo mancherlei aus ver—
gangenen Zeiten überkommene orientalijche
Gebräuche noch fortbeſtehen, können wir
ſelbſt heutigen Tages noch hören: „Wenn
man aufſteht, um Abſchied zu nehmen, ſo
muß man einer Dame gegenüber ſagen:
„Meine Dame, ich lege mich zu Ihren
Füßen,» worauf fie entgegnen wird: „Ich
küſſe Ihre Hand, Herr.»“
Uebrigens ließ ſich ſchon aus dem, was
vorher gegangen iſt, in der That entnehmen,
daß die Anredeformen ſolchen Urſprungs
und Charakters ſein würden. Neben an—
dern Mitteln, um den Sieger, den Herrn
oder den Beherrſcher zu verſöhnen, werden
natürlich auch Anreden verſucht werden,
welche mit dem Bekenntniß der Beſiegung,
d. h. mit der wörtlichen Wiederholung der
um ſich dann zu den verſchiedenartigſten
Redeweiſen zu entwickeln, welche alle den
Zuſtand der Knechtſchaft laut anerkennen.
Die Folge davon wird alſo ſein, daß die
mit derſelben verbundenen Lage beginnen,
m
Spencer, Die Herrſchaft des Cęremoniells. 233
Anvedeformen im Allgemeinen, da fie von
ſolchen Originalen abſtammen, ſämmtlich
die Angehörigkeit oder Unterwerfung unter
die angeredete Perſon mehr oder weniger
deutlich ausdrücken werden.
Unter den begütigenden Redeweiſen giebt
es einige, welche, ſtatt die natürliche Folge
einer Niederlage, die Niederwerfung, dar—
zuſtellen, vielmehr den damit verbundenen
Zuſtand ausdrücken, in welchem der Be—
ſiegte der Barmherzigkeit des Angeredeten
anheimfällt. Eine der ſeltſamſten Formen
dieſer Art kommt bei den cannibaliſchen
Tupis vor. Während einerſeits ein Krieger
ſeinen Feind anſchreit: „Möge jegliches
Unglück über Dich, mein Fraß, kommen,“
wurde andererſeits von dem gefangenen
Hans Stade bei der Annäherung an eine
Behauſung verlangt, daß er die Worte
ſpreche: „Ich, Eure Speiſe, bin gekommen.“
An anderen Orten nimmt dieſe wörtliche
Hingabe des Lebens wieder andere Formen
an. So wird verſichert, daß in Rußland
während früherer Jahrhunderte die Bitt-
ſchriften an den Czaar mit den Worten
anfingen: „Laß unſere Köpfe nicht abhauen,
o mächtiger Herr, weil wir es gewagt haben,
Dich anzureden, ſondern höre uns!“ Und
obwohl ich keine direkte Beſtätigung dieſer
Aeußerung habe finden können, ſo erhält
ſie doch eine indirekte Stütze in der heute
noch gebräuchlichen Redensart: „Wer zum
Czaar geht, der wagt ſeinen Kopf,“ und
nicht minder in dem Verschen:
„Meine Seele Gott,
Mein Land gehört mir,
Mein Kopf dem Czaar,
Mein Rücken Dir!“
Statt des Bekenntniſſes ſodann, daß
der Redende nur von dem wirklichen oder
vorgeblichen Oberherrn geduldet fortlebe,
finden wir die Verſicherung des Sprechen—
Kosmos, Band III. Heft 3.
30
234
den, daß er ſich perſönlich als Eigenthum
des Angeredeten betrachte, oder ſeinen Beſitz
zu deſſen Verfügung ſtelle, oder beides.
Afrika, Polyneſien und Europa liefern
Zeugniſſe hierfür.
Haus eines Serracolet (Binnenlandnegers)
betritt, ſo kommt dieſer heraus und ſagt:
„Weißer Mann, mein Haus, mein Weib, |
ſache jo gut wie verdunkelt, daß das Wort
meine Kinder gehören Dir.“ Auf den
Sandwichinſeln pflegt ein Häuptling, den
man frägt, wem das Eigenthumsrecht über
ein ihm angehöriges Haus oder Canoe zu—
ſtehe, zu antworten: „Es gehört Euch und
iſt. Wenn alſo, wie dies in der Bibel ſo
mir.“ In Frankreich lautete die höfliche
Anrede, welche im fünfzehnten Jahrhundert
ein Abbé auf ſeinen Knieen liegend an die
Königin richtete, wenn dieſelbe ſein Kloſter
beſuchte: „Wir übergeben und opfern Dir
die Abtei mit allem, was darinnen iſt,
unſere Leiber wie unſer Eigenthum.“ Und
gegenwärtig gilt in Spanien, wo die Höf—
lichkeit erfordert, daß alles, was ein Gaſt
bewundert, ihm ſogleich angeboten werde,
folgende Regel: „Der Ort, von welchem
man (einen Brief) datirt, ſoll von rechts—
wegen bezeichnet werden als . . . . dies
Euer Haus, wo es auch immer ſein mag;
man darf nicht ſagen: dies mein Haus,
da man eben ausdrücken will, daß man es
auch ſeinen Vater „Saul's Knechte“ nennt.
ſeinem Correſpondenten zur Verfügung ſtelle.“
Allein dieſe Formen, einen wirklichen
oder vorgeblichen Höhern anzureden, indem
man denſelben indirekt der Unterordnung
unter ihn mit ſeinem Körper und ſeiner
Habe verſichert, ſind nur von nebenſächlicher |
Bedeutung im Vergleich zu den direkten
Verſicherungen der Sklaverei und Knecht—
ſchaft, welche, obgleich in barbariſchen Zeiten
in Gebrauch gekommen, doch durch die
Jahrhunderte der Civiliſation bis auf die
gegenwärtige Zeit herab fortbeſtanden haben.
Die bibliſchen Erzählungen haben uns
Wenn ein Fremder das
ſpricht.
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
damit vertraut gemacht, daß das Wort
„Knecht“ ganz gewöhnlich von Seiten eines
Unterthanen oder eines niedriger Stehenden
auf ſich ſelbſt angewendet wird, wenn er
mit einem Herrſcher oder einem Höhern
In unſern Zeiten der Freiheit
haben die durch tägliche Gewöhnung feſt—
geſetzten Gedankenverbindungen die That—
„Knecht“, wo es in der Ueberſetzung alter
Geſchichten gebraucht wird, „Sklave“ be—
deutet, geradezu das Verhältniß bezeichnet,
in welches ein Kriegsgefangener gerathen
häufig vorkommt, die Ausdrücke „Dein
Knecht“ oder „Deine Knechte“ einem König
gegenüber gebraucht werden, ſo ſind die—
ſelben von Rechts wegen als Bezeichnung
für denſelben Zuſtand der Unterjochung
zu nehmen, welcher etwas weitläufiger
durch die im letzten Kapitel angeführten
Wendungen angedeutet wird. Offenbar
pflegten dieſes ſelbſterniedrigende Wort nicht
blos die eigentlichen Diener zu gebrauchen,
ſondern auch ganze beſiegte Völker und
ſelbſt Unterthanen im Allgemeinen, wie dies
z. B. daraus erſichtlich iſt, daß der dem
König Saul noch unbekannte David, als
er mit dieſem redet, ſowohl ſich ſelbſt als
Und ähnliche Verwendungen des Wortes
dem Herrſcher gegenüber haben ſich bis in
die jüngſten Zeiten herab erhalten.
Schon ſehr frühe aber kam es dazu—
daß ſolche Betheuerungen der Knechtſchaft,
die man urſprünglich nur vor dem einen
Inhaber der höchſten Gewalt ausſprach, auch
ſolchen von untergeordneter Macht gewid—
met wurden. Als die Brüder Joſephs in
Aegypten vor dieſen gebracht wurden und
ſich vor ihm fürchteten, nannten ſie ſich ſelbſt
ſeine Knechte oder Sklaven; und nicht blos
—
dies, ſondern ſie ſprachen auch von ihrem
Vater ſo, als ob er in demſelben Verhält—
niß zu ihm ſtünde. Ueberdies finden ſich
Zeugniſſe, daß dieſe Anredeform ſogar in
den Verkehr zwiſchen Gleichgeſtellten über—
ging, wo es ſich um Erlangung einer
Gunſt handelte, wofür wir z. B. auf Buch
der Richter, Cap. XIX, 19 verweiſen. Wie
unter den europäiſchen Völkern eine ähn
liche Unterwürfigkeit Platz gegriffen hat,
braucht wohl kaum näher erörtert zu wer—
den; Beiſpiele für einige der durchlaufenen
Stufen werden genügen. Unter den fran—
zöſiſchen Höflingen war im ſechszehnten
Jahrhundert die Redensart gebräuchlich:
„Ich bin Ihr Knecht und der beſtändige
Sklave Ihres Hauſes,“ und bei uns ſelbſt
waren in früheren Zeiten viele derartige
Betheuerungen der Knechtſchaft im Schwange,
wie z. B.: „Ganz zu Ihrem Befehl,“
„Stets zu Ihrer Hochehrwürden Verfüg—
ung,“ „In vollkommenſter dienſtbarer Un—
terthänigkeit“ u. ſ. w., während in un—
ſeren Tagen dieſe Formen nur ſelten und
dann meiſtens in ironiſchem Sinne wirklich
ausgeſprochen werden und ihre Vertreter
nur noch im ſchriftlichen Verkehr hinter—
laſſen haben: „Ihr gehorſamer Diener,“
„Ihr unterthäniger Diener“ — und ſelbſt
dieſe finden in der Regel nur dann An—
wendung, wenn es ſich darum handelt,
einen gewiſſen Abſtand aufrecht zu erhalten,
weshalb fie dann oft im Grunde eine ges
rade entgegengeſetzte Bedeutung bekommen.
Daß dieſelben verſöhnenden Worte auch
für religiöſe Zwecke im Gebrauch waren,
iſt eine allbekannte Wahrheit. In der
jüdiſchen Geſchichte werden die Menſchen
ebenſo gut als Knechte Gottes wie als
Knechte des Königs dargeſtellt. Von den
benachbarten Völkern wird dort berichtet,
daß ſie ihren verſchiedenen Gottheiten ganz
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
235
auf dieſelbe Weiſe dienen, wie die Sklaven
ihren Herrn Verehrung zollen. Und es
finden ſich manche Beiſpiele, wo dieſe Be—
ziehungen zum ſichtbaren und zum unſicht—
baren Herrſcher auf ganz gleichlautende
Weiſe ausgedrückt werden; ſo wenn wir
leſen: „Der König hat die Bitte ſeines
Knechtes erfüllt,“ an einer andern Stelle:
„Der Herr hat ſeinen Knecht Jacob erlöſt.“
Somit hat der Ausdruck „Dein Knecht“,
wie er jetzt bei uns im Gottesdienſt ge—
braucht wird, eine ganz analoge Geſchichte
gehabt, wie alle anderen Elemente des re—
ligiöſen Ceremoniells.
Hier dürfte es denn auch beſſer als
irgend anderswo am Platze ſein, darauf
aufmerkſam zu machen, daß das Wort
„Dein Sohn“, einem Herrſcher, einem
Höhergeſtellten und ſonſt einer Perſon ge—
genüber angewendet, urſprünglich durchaus
für gleichbedeutend mit „Dein Knecht“ gilt.
Wenn wir bedenken, daß in den roheſten
Geſellſchaften die Kinder blos unter Duld—
ung der Eltern leben, und daß in den
patriarchaliſchen Gemeinweſen, von denen
die civiliſirten Geſellſchaften Europas ab—
ſtammen, der Vater volle Gewalt über
Leben und Tod ſeiner Kinder beſaß, ſo
wird uns ſofort einleuchtend, daß die Be—
theurung, eines Andern Sohn zu fein, nichts
Anderes bedeutet, als daß man ſein Knecht
oder Sklave ſei. Wir kennen Beiſpiele aus
der alten Zeit, welche uns die Gleichwer—
thigkeit beider Ausdrücke bezeugen, wie
wenn Ahas Boten zu Tiglath-Pileſar, dem
Könige von Aſſyrien, ſandte und ihm ſagen
| ließ: „Ich bin Dein Knecht und Dein
Sohn; komm herauf und rette mich.“ Und
es mangelt nicht an neueren Zeugniſſen,
die wir jenen mittelalterlichen Zeiten ent—
nehmen können, wo, wie wir ſchon früher
ſahen, ein Herrſcher oft ſich ſelbſt einem
236
mächtigeren Herrſcher zur Adoption anbot,
wodurch er zu ihm in das Verhältniß
kindlicher Knechtſchaft trat und ſich ſeinen
Sohn nannte. Dies thaten z. B. Theo—
debert I. und Childebert II. den Kaiſern
Juſtinian und Mauritius gegenüber. —
Endlich erfahren wir auch, daß an einigen
Orten dieſer Ausdruck der Unterordnung
gleich wie alle übrigen ſich ausgebreitet hat,
bis er zu einer gewöhnlichen Höflichkeits—
form wurde. „Ein Samoaner kennt kaum
eine eindringlichere Redeweiſe, als wenn er
ſich ſelbſt den Sohn des Angeredeten nennt.“
Von dieſen Höflichkeitsphraſen, welche
Erniedrigung des Sprechenden ausdrücken,
gelangen wir zu ſolchen, die eine andere
Perſon erhöhen ſollen. Jede Art für ſich
allein iſt ſchon ein Bekenntniß relativer
Unterordnung, aber noch viel nachdrücklicher
wird dieſe Betheuerung, wenn beide Arten ver—
bunden werden, wie es gewöhnlich geſchieht.
Auf den erſten Blick erſcheint es keines—
wegs ſehr einleuchtend, daß auch Lobesreden
gleich den übrigen Verſöhnungsmitteln ſich
auf das Verhalten des Beſiegten gegen den
Sieger zurückführen laſſen ſollten; aber es
fehlt uns nicht an Beweiſen, daß ſie in
der That auf dieſe Weiſe entſtanden ſind,
ſicherlich wenigſtens in vielen Fällen. Die
geſchlagenen Feinde des ſiegreichen Ramſes II.
ſchicken ihren Bitten um Gnade die lob—
preiſenden Worte voraus: „Fürſt, der Du
Dein Heer ſchützeſt, tapfer mit dem Schwerte,
Bollwerk Deiner Truppen am Tage der
Schlacht, König, gewaltig an Kraft, großer
Sovran, Sonne, mächtig in Wahrheit,
Liebling des Ra, gewaltig in Siegen, Ram—
ſes Miamon.“ Offenbar beſteht dann auch
kein Unterſchied zwiſchen ſolchen von den
denjenigen, welche ſpäter von denſelben
Leuten im Zuſtand eines dauernd unter—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
jochten Volkes ausgehen, oder auch den ge—
wöhnlichen Lobreden der Unterthanen vor
ihren kriegeriſchen und despotiſchen Herr—
ſchern. So gelangen wir unmittelbar zu
den rühmenden Redensarten, wie ſie an
den König von Siam gerichtet werden:
„Mächtiger und heiliger Herr!“ „Gött—
liche Barmherzigkeit!“ „Göttliche Ord—
nung!“ „Herr des Lebens!“ „Beherr—
ſcher der Erde“ u. ſ. w., oder wie ſie vor
dem Sultan gebräuchlich ſind: „Der
Schatten Gottes!“ „Glorie des Univer—
ſums!“ oder vor dem chineſiſchen Kaiſer:
„Sohn des Himmels!“ „Herr von zehn—
tauſend Jahren!“ oder wie ſie vor ungefähr
zwei Jahren die Bulgaren an den Kaiſer
von Rußland richteten: „O geſegneter
Car!“ „Glückſeliger Czar!“ „Rechtgläu—
biger, mächtiger Czar!“ oder endlich wie
diejenigen, mit denen in früheren Zeiten
jede Anrede an den franzöſiſchen Monarchen
begann: „O Hochgnädiger! o Großmäch—
tiger! o ſehr Barmherziger!“ Und mit
dieſer Verſöhnung durch direkte Schmeichelei
verbinden ſich zumeiſt auch andere Formen,
in denen die Schmeichelei indirekt ausge—
ſprochen iſt, indem Bewunderung alles deſſen
geheuchelt wird, was der Herrſcher ſagt.
Die Höflinge des Königs von Delhi hielten
ihre Hände empor und ſchrieen: „Wunder,
Wunder!“ nach jeder gewöhnlichen Rede;
oder wenn er am hellen Tage ſagte, es ſei
Nacht, ſo antworteten ſie: „Schauet den
Mond und die Sterne!“ Und in früheren
Zeiten pflegten die Ruſſen auszurufen:
„Gott und der Fürſt haben es gewollt!“
„Das kann nur Gott und der Fürſt wiſſen!“
Wurden demnach ſolche Lobreden ur—
ſprünglich nur vor den Höchſten gebraucht,
Beſiegten dargebrachten Lobpreiſungen und
|
fo ſtiegen fie doch natürlich bald zu Men—
ſchen von geringerer Gewalt und von da
immer tiefer hinab. Einen Beleg dafür
—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
finden wir in den Anredeformen, welche
um das ſechszehnte Jahrhundert in Frank—
reich gebräuchlich waren: vor einem Cardi—
nal „Hochberühmter und Hochzuverehren—
der“; vor einem Biſchof „Hochwürdiger
und Hochberühmter“; vor einem Herzog
„Hochberühmter und hochzuverehrender Herr,
mein vielgeehrter Meiſter“; vor einem Mar—
quis „mein hochberühmter und vielgeehrter
Herr“; vor einem Doktor „Tugendreicher
und Ausgezeichneter“. Und aus der Ver—
gangenheit unſers eigenen Volkes laſſen ſich
ja genug ſolcher höflicher Redensarten auf—
zählen, welche auch von Leuten niedern
Ranges beanſprucht wurden: „Hochehrwür—
diger“ galt für Ritter und manchmal auch
für Barone, „Hochedler“ oder „Ehren—
feſter“ für Edelleute; und ſelbſt bei Raths—
herren und bei gewöhnlichen mit „Herr“
angeredeten Leuten waren ähnliche Lobes⸗
titel, wie z. B. „der Hochwerthe und Ehr—
würdige,“ „der Ehrwürdige, Tugendſame
und Hochwerthe“ gebräuchlich. In Ver—
bindung mit ſolchen ſchmeichelhaften Bei-
namen verbreiteten ſich aber auch Schmei—
cheleien von ausführlicherer Form, ganz be—
ſonders im Orient, wo ja beides bis zum
Aeußerſten getrieben wird. Auf einer chi—
neſiſchen Einladungskarte iſt das in vollem
Ernſte an eine ganz gewöhnliche Perſon
gerichtete Compliment zu leſen: „Zu wel—
cher Höhe des Glanzes wird Ihre Gegen—
wart uns emporſteigen laſſen!“ Taver—
nier, welchem ich das oben erwähnte Bei—
ſpiel einer kaum glaublichen Schmeichelei
vom Hofe von Delhi entnommen habe,
fügt hinzu:
das gemeine Volk über;“ und nachdem er
geſchildert, auf welche Weiſe er ſelbſt mit
Menſchen des Alterthums von ganz über—
menſchlicher Macht verglichen worden ſei,
erwähnt er noch, daß ſogar ſein militäri—
„Dieſes Laſter geht ſogar in
ſcher Begleiter den größten Eroberern gleich—
geſetzt und von ihm geſagt worden ſei, er
mache die Welt erzittern, wenn er ſein
Pferd beſteige, — eine Redeweiſe, die un—
gefähr auf gleicher Stufe ſteht wie das
Beiſpiel, welches Herr Roberts aus dem
Orient von der einer gewöhnlichen Perſon
gegenüber beobachteten Höflichkeit anführt:
„Mein Herr, es giebt nur zwei Weſen,
welche etwas für mich thun können; das
erſte iſt Gott und das zweite ſind Sie.“
Wenn wir dann ferner leſen, daß zu
Tavernier's Zeiten im ganzen Orient
die Redensart gebräuchlich war: „Des
Königs Wille geſchehe!“ — was unmittel—
bar an unſer Wort erinnert: „Gottes
Wille geſchehe!“ — ſo lenkt dies unſere
Aufmerkſamkeit darauf, wie durchaus über—
einſtimmend viele der an die Könige und
an die Gottheiten gerichteten Verherrlich—
ungsreden lauten. Wo der kriegeriſche
Geſellſchaftstypus hoch entwickelt iſt und
dem Monarchen nicht blos erſt nach ſeinem
Tode, ſondern ſchon lange vorher Göttlich—
keit beigelegt wird, wie vor Alters in
Aegypten und Peru und gegenwärtig noch
in Japan, China und Siam, da kommt
es natürlich ganz von ſelbſt dazu, daß die
lobpreiſenden Redewendungen, die man an
den ſichtbaren Herrſcher und nachher an
den unſichtbar gewordenen Herrſcher richtet,
im weſentlichen dieſelben ſind. Und haben
ſie die äußerſte Grenze der Ueberhebung
mit Bezug auf den König ſchon zu deſſen
Lebzeiten erreicht, ſo können ſie ſelbſtver—
ſtändlich kaum noch weiter gehen, wenn
dieſer geſtorben und vergöttert worden iſt.
Die auf ſolche Weiſe bedingte weſentliche
Uebereinſtimmung aber erhält ſich dann
auch auf ſpäteren Entwickelungsſtufen fort,
wo ſich der Urſprung der Gottheiten längſt
nicht mehr unmittelbar nachweiſen läßt.
238
In der vollſtändigen Ehrenbezeugung
vermiſchen ſich, wie wir ſahen, zwei Ele—
mente, von denen das eine Unterwerfung,
das andere Zuneigung ausdrücken ſoll;
und zwei ganz entſprechende Elemente treten
auch in der vollſtändigen Anredeform zu—
ſammen. Mit den Worten, welche auf
Verſöhnung abzielen, indem ſie den Sprechen—
den erniedrigen oder den Angevedeten er—
höhen oder beides zugleich, werden Worte
verflochten, die Anhänglichkeit an die be
treffende Perſon kundgeben Glück—
wünſche für ihr Leben, ihre Geſundheit
und ihr Wohlergehen.
Betheuerungen der Theilnahme an der
Wohlfahrt und dem Glück eines Anderen
ſind natürlicherweiſe noch früher entftanden
als Betheuerungen der Unterwerfung. Eben—
ſo wie jenes Herzen, Küſſen und Lieb—
koſen, wodurch ſich die Zuneigung kund—
giebt, auch als Höflichkeitsgebräuche ſelbſt
bei Wilden ohne jede Regierung oder gegen—
jeitige Unterordnung vorkommt, ſo gehen
auch freundliche Anreden der Zeit nach
ſolchen voraus, die das Bekenntniß der
Unterwerfung enthalten.
genindianern - in
Bei den Schlan—
Nordamerika wird ein
Fremder mit den Worten bewillkommnet:
„Es iſt mir ſehr angenehm, ich bin
ſehr erfreut“; und in Südamerika finden
wir die Araucanier, deren geſellſchaftliche
Organiſation noch nicht durch kriegeriſche
Verhältniſſe zum Zwangstypus entwickelt
worden iſt, bei die Formalität
bei einer Begegnung, welche „10—15 Mi—
nuten in Auſpruch nimmt“, aus eingehen—
den Nachfragen nach dem Wohlergehen, aus
mancherlei Beglückwünſchungen und Bei
leidsbezeugungen beſteht.
Dieſes Element in der Begrüßung er
hält ſich dann ſelbſtverſtändlich fort, wäh—
rend die zum Ausdruck der Unterwerfung
denen
Erde herab zu machen.“
lichen Völkern,
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
dienenden Handlungen und Redeweiſen in
Gebrauch kommen. Wir ſahen bereits, daß
in Verbindung mit knechtiſchen Ehrenbezeug—
ungen gute Wünſche und Gratulationen an
einen Höhergeſtellten gerichtet werden bei
verſchiedenen Negervölkern, an der Küſte
wie im Innern; unter den Fulahs und
Abyſſiniern finden wir kunſtreich aus—
gedachte Erkundigungen über das perſön—
liche Wohlergehen des Angeredeten und das
Befinden ſeiner Angehörigen. Aſien aber,
wo ſich der kriegeriſche Geſellſchaftstypus
weit höher entwickelt hat, iſt es vor Allem,
das uns auch die höchſte Entwickelungsſtufe
dieſer Redeformen darbietet. Von ganz
hyperboliſchen Redeweiſen ausgehend, wie
„O König, mögeſt Du ewig leben!“
gelangen wir zu Begrüßungen von Gleich—
geſtellten, welche in ähnlicher Weiſe das
lebhafteſte Mitgefühl ausdrücken; ſo bei
den Arabern, welche ihren Eifer kundzu—
geben ſuchen, indem ſie raſch nach einander
mehrere Minuten lang wiederholen: „Gott
ſei Dank, wie geht es Euch?“ und die
zum Beweis ihrer guten Erziehung gelegent—
lich das ſich anſchließende Geſpräch durch
3. B.:
. Bez
die abermalige Frage unterbrechen: „Wie
geht es Euch?“ — So auch bei den
Chineſen, welche auf einer gewöhnlichen
Viſitenkarte, die zur Anmeldung des Be—
ſuches dem Portier abgegeben wird, fol—
gendermaßen ganz direkt ihre Zuneigung
ausſprechen: „Der zärtliche und aufrichtige
Freund Eurer Herrlichkeit und der un—
ermüdliche Schüler Eurer Lehre ſtellt ſich
hiermit vor, um ſeinen Beſuch abzuſtatten
und ſeine Verbeugung ſelbſt bis auf die
Unter den weſt—
in deren geſellſchaftlicher
Organiſation die perſönliche Macht niemals
eine ſolche Höhe erreicht hat, ſind auch die
Betheuerungen der Zuneigung und ängſt—
er.
N
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. =.
lichen Fürſorge zu weniger ſtarken Ueber— | tikaliſchen und ſonſtigen Abänderungen der
treibungen gelangt, und je mehr die Frei—
heit zunahm, deſto mehr traten jene zurück.
Im vierzehnten Jahrhundert pflegte in
Frankreich an der königlichen Tafel „jedes—
mal, wenn der Herold ausrief: «Der König
trinkt!» die ganze Geſellſchaft ihre Wünſche
auszuſprechen und zu rufen: „Lang lebe
der König !?“. Und obſchon in andern
Ländern ſo gut wie bei uns dieſelbe oder
eine ähnliche Form des Wunſches jetzt noch
gebräuchlich iſt, ſo kehrt ſie doch bei weitem
nicht mehr ſo häufig wieder. Gleiches gilt
auch von den im geſellſchaftlichen Verkehr
Vornehmeren den Rücken zuzukehren. Ebenſo
ausgeſprochenen guten Wünſchen.
Es iſt dabei intereſſant, zu beachten,
wie neben dieſen ganz allgemein ver—
breiteten Redeformen, in welchen die
göttliche Hülfe zu Gunſten der begrüß—
ten Perſon angerufen wird — wie z. B.
in dem „Möge Gott Euch ſeine Gunſt
erweiſen!“ der Araber, in dem „Gott er—
halte Euch geſund!“ der Ungarn, oder in
dem „Gott ſchütze Euch!“ der Neger und
neben ſolchen, die durch Erkundigungen nach
dem Geſundheitszuſtand, dem Wohlergehen
und dem Glück des Betreffenden die Theil—
nahme bezeichnen ſollen und die gleichfalls
weit verbreitet ſind, noch gewiſſe andere
vorkommen, deren Eigenthümlichkeit von
den Verhältniſſen des Orts hergenommen
iſt. Dahin gehört das orientaliſche „Friede
ſei mit Euch!“ das aus jenen ſtürmiſchen
Zeiten herſtammt, wo Friede das große
Deſideratum war; ein anderes iſt das:
„Wie ſchwitzt Ihr?“ das die Aegypter
gebraucht haben ſollen, und noch wunder—
licher iſt die Frage: „Wie haben Euch die
Mosquitos zugeſetzt?“ welche nach Hum—
boldt am Orinoco die Morgenbegrüßung
bildet. f
Es bleiben endlich noch jene gramma—
Sprache zu erörtern übrig, welche gleichſam
auf Umwegen den Angeredeten erhöhen
oder den Sprechenden erniedrigen. Die—
ſelben zeigen gewiſſe Analogien mit andern
Theilen des Ceremoniells. Wir haben ge—
ſehen, daß, wo außerordentliche Unterwürfig—
keit herrſcht, der Gewalthaber, ſofern er
ſich nicht ganz unſichtbar hält, bei Strafe
des Todes nicht angeblickt werden darf;
und aus dieſer Vorſtellung, daß es eine
unverzeihliche Frechheit ſei, eine höherſtehende
Perſon anzuſchauen, iſt jedenfalls in man—
chen Ländern der Gebrauch entſtanden, einem
giebt der Gebrauch, vor einem verehrten
Menſchen den Boden oder irgend einen
Jenem gehörenden Gegenſtand zu küſſen,
eigentlich zu verſtehen, daß die untergeord—
nete Perſon ſo tief unter Jenem ſtehe, daß
ſie ſich nicht einmal die Freiheit nehmen
dürfte, ihm auch nur die Füße oder das
Gewand zu küſſen. In ganz ähnlichem
Sinne nun zeigen die als Höflichkeitsaus—
druck verwendeten Sprachformen theilweiſe
die Eigenthümlichkeit, daß ſie eine direkte Be—
ziehung zu der angeredeten Perſon vermeiden.
Beſondere Modificationen der Sprache,
als deren gemeinſames Reſultat ſich die
Aufrechterhaltung eines beſtimmten Abſtandes
zwiſchen Höhern und Niedern ergiebt, ſind
weit verbreitet und kommen ſchon auf eini—
gen verhältnißmäßig ſehr frühen Entwickel—
ungsſtufen vor. Von dem herrſchenden
Volke unter den Abiponen leſen wir, daß
„die Namen der zu dieſer Claſſe gehörenden
Männer alle mit „in“ endigen, und die—
jenigen der Frauen, welche gleichfalls dieſer
Ehre theilhaftig ſind, mit „en“. Dieſe
Sylben muß man ſelbſt den Hauptwörtern
und Zeitwörtern anhängen, wenn man mit
ihnen ſpricht.“ Ferner „enthält die Sprache
240
der Samoaner «ein beſonderes und unver—
änderliches Vocabular von Wörtern, welche
die Höflichkeit im Verkehr mit Höhern anzu⸗
wenden gebietet.“ Bei den Javanern „iſt es
unter keinen Umſtänden irgend Jemand, von
welchem Rang er auch ſein mag, geſtattet,
ſeinen Vorgeſetzten in der gewöhnlichen oder
Volksſprache des Landes anzureden“. Und
hinſichtlich der alten mexicaniſchen Sprache
erfahren wir durch Gallantin, daß es
„eine beſondere Form derſelben giebt, die
Ehrfürchtige genannt, welche die ganze
Sprache durchdringt und in keiner anderen
gefunden wird ... Dies hält man für
die einzige (Sprache), in welcher jedes von
einem Niedrigeren geäußerte Wort ihn an
ſeine ſociale Stellung erinnert“.
Die allgemeinſte unter den indirekten
Sprechweiſen, welche durch die Etiquette
in die Redeformen eingeführt worden ſind,
ſcheint ihre Wurzel in dem primitiven Aber⸗
glauben hinſichtlich der Eigennamen zu
haben. Von der Vorſtellung ausgehend,
daß der Name eines Menſchen einen Be-
ſtandtheil ſeiner Individualität bilde und
daher der Beſitz ſeines Namens irgend
welche Gewalt über ihn verleihe, zeigen die
Wilden beinahe überall ein Widerſtreben
gegen die Mittheilung ihrer Namen und
vermeiden in Folge deſſen auch in der Unter-
haltung den Gebrauch derſelben, wodurch
fie einem Zuhörer verrathen werden könn—
ten. Mag dies nun die einzige Urſache
ſein oder außerdem noch das Gefühl mit⸗
wirken, daß man ſich, indem man den
Namen eines Menſchen ausſpricht, eine
gewiſſe Freiheit gegen dieſen herausnehme,
jedenfalls iſt es eine Thatſache, daß bei
1 0 5
allen Völkern die Namen eine Art von
Heiligkeit erlangen und einen Namen un—
und in China,
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Höheren. Eine wunderliche Folge davon iſt
die, daß, da auf früheren Stufen die Perſo⸗
nennamen von Gegenſtänden hergenommen
wurden, die Namen ſolcher Gegenſtände
außer Gebrauch geſetzt und andere dafür
eingeführt werden müſſen. Bei den Kaffern
„darf eine Frau das I-gama (dem bei
der Geburt gegebenen Namen) ihres Mannes
oder eines ſeiner Brüder nicht öffentlich
ausſprechen, noch darf ſie das verbotene
Wort in ſeinem gewöhnlichen Sinne brau-
chen ... Das I-gama des Häuptlings
wird ganz aus der Sprache des Volkes
ausgeſchieden“. Ferner: „Da der erbliche
Name des Häuptlings von Pango-Pango
(in Samoa) jetzt Maunga oder Berg
heißt, ſo darf in ſeiner Gegenwart dies
Wort nie zur Bezeichnung eines Berges
gebraucht werden, ſondern man muß dafür
einen höfiſchen Ausdruck ... an die Stelle
ſetzen.“ Aber auch da, wo Eigennamen
von weiter entwickelter Art in Gebrauch
ſind, finden ſich immer noch ähnliche Ein⸗
ſchränkungen in der allgemeinen Anwendung
derſelben; ſo in Siam, wo „der Name
des Königs von keinem Unterthan aus⸗
geſprochen werden darf; derſelbe wird ſtets
durch irgend eine Umſchreibung bezeichnet,
wie etwa «der Meiſter des Lebens», «der
Herr des Landesd, «das Oberhaupt?“ —
wo „eder alte Mann des
Hauſesd, «der Vorzügliche Ehrwürdige >
und verehrter großer Fürſts die Aus-
drücke ſind, mit denen ein Beſucher den
Vater ſeines Wirthes benennt“.
In Verbindung mit dem Vermeiden
des Eigennamens beim Verkehr mit einem
Höhern findet ſich, wie ſchon einige der
obigen Beiſpiele zeigen, ein Vermeiden der
nöthig zu nennen für verboten gilt, ganz
perſönlichen Fürwörter, welche gleichfalls
eine allzu direkte Beziehung mit dem an-
beſonders dem Niedrigeren im Verkehr mit geredeten Individuum herſtellen würden,
W
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
als daß ſie zuläſſig wären, wo es auf
Beobachtung eines beſtimmten Abſtandes
ankommt. Wie bereits angeführt wurde,
wird in Siam, wenn man nach des Königs
Befehlen frägt, die Pronomialform ſo viel
als möglich vermieden, und daß dieſer
Gebrauch bei den Siameſen ganz allgemein
iſt, geht aus der Bemerkung des Paters
Bruguiere hervor, daß fie „zwar per—
ſönliche Fürwörter haben, dieſelben aber
ſelten brauchen“. Auch bei den Chineſen iſt
dieſer Styl in der Anrede in den alltäg- |
lichen Verkehr herabgeſtiegen. „Wenn ſie
nicht intime Freunde ſind, ſo ſagen ſie nie—
mals «Ih» und «Ihr», was eine grobe
Unhöflichkeit wäre. Statt z. B. zu ſagen:
Ich anerkenne ſehr den Dienſt, den Ihr
mir erwieſen habts, pflegen fie vielmehr zu
ſagen: «der Dienſt, welchen der Herr oder
der Doktor für ſeinen geringſten Diener
oder Schüler gethan, hat mich außerordent—
lich gerührt ).“
Endlich kommen wir noch zu jenen
Abänderungen im Gebrauche der Fürwörter,
welche dazu dienen, den Höhern zu erheben
und eines iſt auf die Frauen beſchränkt. ..
und den Niedrigen herabzudrücken. „Ichs
und «mich werden im Siameſiſchen durch
verſchiedene Wörter ausgedrückt, je nachdem
es ſich um den Verkehr erſtens zwiſchen
einem Herrn und ſeinem Sclaven, zweitens
zwiſchen einem Sclaven und ſeinem Herrn,
* 7 „ . |
drittens zwiſchen einem gemeinen Mann und |
einem Adligen und viertens zwiſchen Per-
ſonen gleichen Ranges handelt, und ſchließ—
lich gibt es noch eine Anredeform, die nur
von den Prieſtern angewendet wird.“ Noch
weiter iſt dies Syſtem bei den außerordent—
lich ceremonienreichen Japaneſen ausgebildet.
„In Japan hat jeder Stand ſein ihm
eigenthümliches „Ich?, das kein anderer
Stand brauchen darf, und ein anderes
gehört ausſchließlich dem Mikado an .
241
Es gibt acht Fürwörter der zweiten Perſon,
welche ſpeciell für Dienſtboten, Schüler und
Kinder gelten.“ Wenn auch im Weſten die
durch veränderte Anwendung der Pronomial—
formen ausgedrückten Unterſchiede nie jo
weit gegangen ſind, ſo waren ſie doch deut—
lich genug zu erkennen. In Deutſchland
„wurden in frühern Zeiten .. . alle Unter—
gebenen nur in der dritten Perſon Sing.
mit «Er» angeredet“, d. h. alſo: eine ab—
weichende Form, durch welche der Unter⸗
gebene nicht direkt angeſprochen, ſondern
nur erwähnt wurde, als ob man mit einer
andern Perſon ſpräche, diente dazu, um
ihn von dem Sprechenden entfernt zu halten.
Und daneben finden wir die umgekehrte
Thatſache, daß „die Untergebenen ohne Aus—
nahme die dritte Perſon Plur. gebrauchen,
wenn ſie ihre Vorgeſetzten anreden“: eine
Form, die einerſeits dem Vorgeſetzten durch
Anwendung der Mehrzahl höhere Würde
beilegt, zugleich aber auch durch ihre ver—
hältnißmäßige Indirectheit den Abſtand vom
Untergebenen vergrößert, und welche, nach—
dem ſie als Verſöhnungsmittel der Gewalt—
haber angefangen, gleich allen übrigen ſich
immer weiter verbreitet hat, bis ſie zum
allgemeinen Begütigungsmittel geworden
iſt. In der engliſchen Sprache, welche
einer derartigen mißbräuchlichen Anwen—
dung von Fürwörtern, die zur Erniedrig—
ung dienen ſollen, entbehrt, findet ſich
nur die Einführung des „Ihr“ ſtatt des
„Du“, welche, einſtens eine aus Höflichkeit
angebrachte Uebertreibung, gegenwärtig in
Folge ihrer Ausbreitung durch alle Stände
die ceremonielle Bedeutung vollſtändig ver—
loren hat. Offenbar aber hing ihr noch
etwas von dieſer Bedeutung an zu der
Zeit, als die Quäker daran feſthielten, aus-
ſchließlich das „Du“ zu brauchen; daß jenes
Kosmos, Band III. Heft 3.
242
in noch frühern Zeiten aber dazu diente,
Anſpruch auf äußerlichen Reſpekt verleihen
eine beſtimmte höhere Würde beizulegen,
läßt ſich aus der Thatſache erſchließen, daß
während der merovingiſchen Periode in
Frankreich, als ſich dieſer Gebrauch nur
erſt theilweiſe feſtgeſetzt hatte, die Könige
den Befehl erließen, daß man ſie nur im
Plural anrede. Wer ſich aber gar nicht
denken kann, daß, wenn er mit „you“
(Ihr) angeredet wird, dies einſt den Sinn
hatte, die angeredete Perſon zu erhöhen,
der wird genügenden Anhalt dazu finden,
wenn er dieſe Verkehrung der Sprache in
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. |
Solche anreden, deren Stellung ihnen den
würde.“ Dieſe Fälle weiſen ſchon deutlich
genug auf die allgemeine Thatſache hin,
daß, wo keine Unterordnung beſteht, auch
nicht jene Redeformen ſich ausbilden, welche
die angeredete Perſon erhöhen und die
ihrer primitiven und noch ausdrucksvolleren
Geſtalt in's Auge faßt, wie ſie z. B. in
Schranke kennt und wo zugleich die Phraſen
voll Schmeichelei und Unterwürfigkeit, welche
Samoa vorkommt, wo man zu einem Häupt—
ling ſagt: „Seid Ihr beide gekommen?“
oder: „Geht Ihr beide fort?“
Da die Anredeformen in Worten aus—
drücken, was die Ehrenbezeugungen durch
Handlungen andeuten, ſo werden ſie natür—
ſprechende erniedrigen. Wo ſich dagegen eine
abſolute perſönliche Herrſchaft findet, da
nehmen auch die Selbſtdemüthigungen und
die Erhöhungen Anderer durch Worte ganz
übertriebene Formen an.
Geſellſchaftliche Organismen wie der—
jenige von China ſind es beſonders, wo
die Gewalt des „Kaiſerlichen Höchſten“ keine
zuerſt im Verkehr mit den Herrſchern ge—
braucht wurden und ſpäter ſich allgemeiner
lich auch dieſelben allgemeinen Beziehungen
zu den verſchiedenen Geſellſchaftstypen zeigen.
Dieſer Parallelismus ſoll hier noch kurz
dargelegt werden.
Burton ſagt in ſeiner Schilderung
der Dakotahs, welche jeder ſtaatlichen Or—
ganiſation entbehren und nicht einmal dem
Namen nach Häuptlinge kannten, bevor
die Weißen anfingen, Standesunterſchiede
zwiſchen ihnen zu machen: — „Ceremonien
und Gebräuche in unſerem Sinne des
Wortes haben ſie nicht;“ und er führt als
Beiſpiel an, daß ein Dakotah das Haus
eines Fremden mit einem einfachen Ausruf
betrete, der nichts weiter als „Gut!“ bedeute.
Bailey bemerkt von den Veddahs, daß
ſie „beim Anreden Anderer keine der Höflich—
keitsformen brauchen, die im Singaleſiſchen
ſo außerordentlich verbreitet ſind: das Für—
wort «to», Du, kommt allein in Anwen—
dung, mögen ſie mit einander ſprechen oder
verbreiteten, ſoweit in's Extrem getrieben
worden ſind, daß man, um ſich nach dem
Namen eines Andern zu erkundigen, die
Form anwendet: „Dürfte ich es wagen, zu
fragen, welches Euer edler Vorname und
Euer erhabener Name iſt?“ worauf die
Antwort lautet: „Der Name meiner kalten
(oder armen) Familie iſt — —, und mein
unedler Name iſt — —.“ Und fragen wir
ferner, wo die am meiſten ausgekünſtelten
Abänderungen im Gebrauche der Fürwörter
vorkommen, welche durch das Ceremoniell
veranlaßt werden, ſo finden wir ſie bei den
Japaneſen, bei denen unaufhörliche Kriege
vor langen Zeiten ſchon einen Despotis—
mus feſt eingewurzelt haben, der göttliches
Anſehen erlangte.
Auch wenn wir nun noch das Europa
der Vergangenheit, das ſich durch ſociale
Gebilde charakteriſirt, welche durch fort—
währende Kämpfe entwickelt und dieſen an—
gepaßt waren, mit dem modernen Europa
vergleichen, in welchem zwar noch Kämpfe
in großem Maaßſtab vorkommen, die aber
doch viel mehr nur eine zeitweilige als eine
dauernde Form der geſellſchaftlichen Thätig—
keit bilden, ſo bemerken wir, daß die Höf—
lichkeitsausdrücke gegenwärtig nicht nur viel
ſeltener gebraucht werden, ſondern auch ſelbſt
viel weniger übertrieben ſind. Nicht minder
tritt dieſer Gegenſatz hervor, wenn wir die
modernen europäiſchen Geſellſchaften, welche
in höherm oder geringerem Grade für
Kriegszwecke organiſirt ſind, neben einander
ſtellen, oder wenn wir innerhalb der letzteren
die regulativen Beſtandtheile, welche kriege—
riſchen Zuſtänden ihre Entwickelung ver—
danken, mit den induſtriellen Beſtandtheilen
vergleichen.
So ſehr auch der Gebrauch einer unter—
thänigen Höflichkeitsſprache bei unſern herr—
ſchenden Claſſen in der neueren Zeit abge—
nommen hat, ſo bleibt derſelbe doch noch viel
erheblicher als bei den induſtriellen Claſſen,
ganz beſonders bei denjenigen, welche keine
direkten Beziehungen mit den herrſchenden
Claſſen beſitzen.
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 243
Dieſer Zuſammenhang iſt offenbar in
dieſem Fall ſo gut wie in den früheren
nothwendig bedingt. Wollte man behaupten,
daß in Verbindung mit dem erzwungenen
Gehorſam, den eine kriegeriſche Organiſation
fordert und der überhaupt alle Theile einer
auf kriegeriſche Thätigkeit eingerichteten Geſell⸗
ſchaft durchdringt, ganz naturgemäß Anrede⸗
formen vorkämen, welche nicht Unterwerfung
ausdrückten, und wollte man gar umgekehrt
behaupten, daß mit dem lebhaften und un-
gezwungen vor ſich gehenden Austauſch von
Erzeugniſſen, Geld, Arbeitsleiſtungen u. ſ. w.,
welcher das Leben einer induſtriellen Geſell—
ſchaft charakteriſirt, naturgemäß allerhand
übertriebene Lobpreiſungen Anderer und
knechtiſche Herabwürdigung der Sprechenden
ſelbſt ſich verbänden, ſo läge die Ungereimt—
heit einer ſolchen Behauptung klar zu Tage.
Die Ueberzeugung von der Unrichtigkeit dieſer
hypothetiſchen Behauptung aber wird ander—
ſeits dazu beitragen, uns die Richtigkeit der
entgegengeſetzten, hier verfochtenen Anſicht
deutlich vor Augen zu führen.
(Fortſetzung folgt.)
DIE —
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Das Relief der Gebirgsſtöcke und
die Grundform der Erofions-Chäler.
9 60
‚ine vielfach, beſonders unter den
fi
85
8
AH frage dreht ſich darum, ob das
Relief der bergigen Gegenden mehr
durch Eruption und Aufſchüttung der Maſſen
neben einander, oder mehr durch nachträg—
liche Ausſpülung und Auswaſchung be—
dingt ſei. Man nimmt wohl jetzt allge—
mein an, daß die große Mehrzahl z. B.
der Alpenthäler ihre Geſtalt hauptſächlich
den Eis- und Waſſerſtrömungen verdanken,
die wir noch jetzt, wenn auch in wahrſchein—
7
\9
Furchungen folgen ſehen. Es iſt merk—
würdig, daß man bei einer ſo vielfachen
Beſchäftigung mit dem Gegenſtande über
die Reliefform dieſer Thäler ziemlich all—
gemein Anſichten verbreitet findet, die, wie
Herr Dr. Theodor Fuchs kürzlich ge—
|
|
|
|
ihrer Aufgabe in der Weiſe, daß ſie die
Eroſionsfurche ſpitz beginnen und in dem
Maße, als die Waſſermaſſe zunimmt, immer
breiter werden laffen. In der Wirklichkeit
iſt die Sache aber gerade umgekehrt, denn
engliſchen Geologen erörterte Streit-
jedes Eroſionsthal iſt oben in ſeinem An—
fange breit und wird nach unten zu ſchmäler.
Ein Jeder vermag ſich leicht zu überzeugen,
daß dieſer birnförmige Typus nicht nur
den kleinen Regenriſſen der Wände eines
Bahndurchſtichs, ſondern auch den Alpen-
thälern zukommt, in denen er ſeine Sommer-
friſche ſucht. Alle beginnen ſie oben mul—
den- oder keſſelförmig und werden immer
ſchmäler, um oft durch eine ſchmale Spalte
in ein weiteres Thal oder in die Ebene zu
lich ſehr vermindertem Umfange, ihren
zeigt hat,) den Thatbeſtand geradezu um
kehren. Die meiſten Menſchen und ſogar
die meiſten Kartographen, wenn ſie das
zu einem Bache oder Fluſſe gehörige Ero
ſionsthal zu zeichnen haben, entledigen ſich
) Jahrbuch der k. k. geologischen Reichs—
anſtalt. Band XXVII. 1877. S. 453.
ab
münden. Selbſt die Canons, jene tiefen,
ſchluchtartigen Spalten, welche das ſtrömende
Waſſer in die Plateauländer einſchneidet,
machen keine Ausnahme von dieſer Regel,
denn auch hier beginnt jede einzelne mit
einem weiten, circusförmigen Keſſel und
gewinnt erſt im weiteren Verlaufe ſeinen
Einſchnitts-Charakter. Dieſe eigenthümliche
Geſtaltung der Canons iſt bereits von
Charles Darwin in ſeinen „Geolo—
giſchen Beobachtungen über die
vulkaniſchen Inſeln“, von denen wir
kürzlich eine neue deutſche Ausgabe erhalten
haben, charakteriſirt worden; er beſchreibt
g —
—
— T1⁊[—
a
dort?) (S. 138) in Neu-Süd⸗Wales große
Thäler dieſer Art, die ſich oben zu mehrere
Meilen breiten und amphitheatraliſch von
hohen Felsklippen umgebenen Buchten öffnen,
und am Ausgange unten ſo eng werden,
daß ſie einen für Menſchen und Vieh gleich
unpaſſirbaren Spalt bilden. Einen im All—
gemeinen ähnlichen Eindruck erhalten wir
aber auch überall bei uns. „Wenn man,“
ſagt der Verfaſſer, „aus dem Flachlande
kommend, ſich einem Gebirge, z. B. den
Alpen oder Karpathen, nähert, ſo ſtellt ſich
daſſelbe dem Beſchauer als eine geſchloſſene
Mauer dar, und vergebens ſucht das Auge
nach den Thälern, welche den Blick in das
Innere des Gebirges eröffnen würden.
Durch eine ſchmale Thalenge, oft durch
eine wahre Felsſpalte, betritt man das
Innere der Gebirgswelt; kaum hat man
aber dieſelbe hinter ſich, ſo beginnt das
Thal ſich zu erweitern, die Bergwände
treten zu beiden Seiten immer mehr und
mehr zurück und ſchließlich gelangt man in
einen weiten Thalkeſſel, aus dem es weiter
keinen Ausweg giebt, als rechts und links
über die Bergjoche. Es iſt dies der all—
gemeine Charakter aller Gebirgsthäler, die
durch Eroſion gebildet ſind, und gewiß
wird Jeder, der das Gebirge aus eigener
Anſchauung kennt, ſich ſofort zahlreicher
Beiſpiele erinnern, welche dieſer Schilder—
ung entſprechen. Wenn man ſich einen
halbkugeligen Gebirgsſtock vorſtellt, der
durch ſtrahlenförmig herabrinnende Ge—
wäſſer erodirt wird, ſo wird derſelbe bei
Annahme einer birnförmigen Geſtalt der
Eroſionsthäler einen mittleren Kern erhal—
ten, von welchem radienartig eine Anzahl
) Mit einer Karte und vierzehn Holz—
ſchnitten. Ueberſetzt von V. Carus. Stutt-
gart, 1877. Schweizerbart'ſche Buchhand—
lung (E. Koch).
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
245 a
von Speichen auslaufen, welche ſich ſämmt—
lich nach außen zu verbreitern. Indem nun
die einzelnen Thäler ſich hinten immer mehr
verbreitern, werden nach und nach die radien—
förmigen Scheidewände in der Nähe des
Centralſtockes immer mehr und mehr ſchwin—
den und ſchließlich theilweiſe abgetragen wer—
den, jo daß der erodirte Gebirgsſtock ſchließ—
lich die Geſtalt eines centralen Wipfels an—
nimmt, der von einem Kranze niedriger
Berge umgeben wird, von deren jedem ein
ſattelförmig eingeſenkter Grat zum Central—
ſtock hinüberführt. Wenn man eine Karte
des Montblanc oder des Monte Roſa be—
trachtet, ſo findet man, daß dieſelben that—
ſächlich die im Vorhergehenden theoretiſch ab—
geleitete Reliefform beſitzen und daß dieſelbe
in allen ähnlichen Fällen mit der größten
Regelmäßigkeit wiederkehrt. Es iſt wohl klar,
daß dieſe Auseinanderſetzungen von größter
Wichtigkeit für die kartographiſche Dar—
ſtellung von Gebirgsreliefen ſind. Wenn
man eine beliebige unſerer bisherigen
Karten vornimmt und auf derſelben die
Darſtellung des Gebirgsterrains betrachtet,
ſo bemerkt man Folgendes: So weit die
Reliefformen wirklich nach der Natur auf—
genommen ſind, zeigen die Thäler aus—
nahmslos die vorbeſprochene mulden- oder
birnförmige Geſtalt; ſowie man aber in
das feinere Detail kommt, welches nicht
mehr aufgenommen, ſondern nach einer ge—
wiſſen Schablone manirirt iſt, erhalten die
Thalfurchen ſofort die entgegengeſetzte Ge—
ſtalt, indem ſie ſämmtlich ſpitz beginnen
und im weitern Verlaufe breiter werden.
Würde man eine derartige Karte mit zweier—
lei einander diametral entgegengeſetzten Thal—
formen als den wirklichen Ausdruck der
vorhandenen Verhältniſſe annehmen, ſo würde
man natürlich vollkommen irre gehen, in—
dem man ſelbſtverſtändlich für die beiden
2
246 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau
verſchiedenen Thalformen auch zwei verſchie—
dene Urſachen ſuchen würde. In Wirklich-
lichkeit iſt jedoch nur einerlei Thalbildung
vorhanden, indem alle Thalbildungen von
dem kleinſten Waſſerriſſe an bis zu den
großen Hochgebirgsthälern dieſelbe birn—
förmige Geſtalt beſitzen und mithin auch
alle auf dieſelbe Urſache, nämlich auf die
Eroſion, zurückgeführt werden können. Die
Urſache dieſer birnförmigen Geſtalt der
Eroſionsthäler iſt wohl bereits in ihrer
erſten Anlage zu ſuchen. Bei jedem Erd—
ſturz oder Regenriß fällt eine birn- oder
keilförmige Terrainmaſſe, deren Spitze nach
vorn gekehrt iſt, heraus, und indem nun
die Eroſion in dem hintern Theile der ſo
gebildeten Aushöhlung mehr Angriffspunkte
findet als vorne, muß das Thal bei dem
allmäligen Zurückweichen immer breiter und
breiter werden. (Dazu kommt wohl, daß
die von oben herabgeſchwemmten Maſſen
den untern Lauf des Thales ausfüllen und
den Waſſerlauf nöthigen, ſich dort tiefer
einzuſchneiden; oft mag auch die untere
kluftartige Oeffnung die Wirkung eines
ehemaligen Waſſerfalles ſein, wie z. B. die
Schlucht, aus der die Sallenche ihre präch—
tige Cascade bei Martigny ergießt. Ref.)
Man kann mit dem Verfaſſer nur wünſchen,
daß ſeine Betrachtungen von Seiten unſerer
Kartographen praktiſch verwerthet würden,
denn dadurch würden unſere Gebirgskarten
gewiß einen viel einheitlicheren und natur—
gemäßeren Ausdruck erhalten, als 15 gegen—
wärtig beſitzen.
Leuchtende Bacterien.
In einer vor zwei Jahren erſchienenen
Schrift: „Die Nekrobioſe in morphologiſcher
Beziehung“, wurde von den Herren Kar—
ſten und Nüeſch die Anſicht aufgeſtellt,
daß die Bacterien, Vibrionen, Hefenzellen
u. ſ. w. keine ſpecifiſche Selbſtſtändigkeit
beſitzen, ſondern aus dem pathologiſch ver—
änderten Inhalt thieriſcher und pflanzlicher
Zellen entſtehen, und ſie nennen dieſe ver—
meintliche Umbildung der kleinſten, im
Zellſaft ſchwimmenden Körnchen Nekro—
bioſe, gleichſam ein Leben nach dem Tode.
— Der lebende Menſchen- und Thierkörper
enthält keineswegs, wie Billroth, Ti—
gel, Friſch wollen, in Blut und Gewe—
ben Bacterienkeime, aber dieſelben ſollen
auch nicht von außen eingeführt werden,
ſondern die Bacterien entſtehen ihrer
Anſicht nach erſt nach dem Tode aus
den kleinſten Bläschen des Protoplasma,
und zwar durch eine Umbildung derſelben
und nicht durch generatio aequivoca. In
einem neueren Artikel in der „Gäa“
(1877, Heft 9) „Ueber das Leuchten des
Fleiſches geſtorbener Thiere“ führt Nüeſch
an, daß noch nie, obſchon mehrere Beob—
achter die Bacterien für Pilzformen halten,
eine wirkliche Pilzvegetation an denſelben
beobachtet worden iſt, nie auch etwas auf
ſexuelle Proceſſe Deutendes; — die Bacte—
rien erfüllen die Arbeit, die complicirten
Verbindungen der Pflanzen- oder Thier—
körper in einfachere zurückzuführen und
dieſe Körper hierdurch zu zerſtören, welche
ſonſt, nach Cohn's Bemerkung, Form und
Miſchung Jahrtauſende bewahren würden,
wie etwa die Mumien, oder die Mammuth—
leichen im Eiſe. — Durch die Bacterien,
von welchen manche auch pathologiſch ſo
wichtig ſind, entſtehen bei der Verweſung
Fäulniß und Gährung, ſowie, als Bildungs—
und Ausſcheidungs-Produkte derſelben, Gaſe
und Farbſtoffe, wie der anilinartige Farb—
ſtoff der blutenden Hoſtien, der blaue Farb—
| ftoff des Lackmus, blaue, gelbe und rothe
.. en
*
Milch, grüner und gelber Eiter u. ſ. w.
Aber neben den Pigmentbacterien giebt es
auch leuchtende. Im April 1877 wurde
Dr. Nüeſch durch einen Schreckensruf des
Dienſtmädchens veranlaßt, in die dunkle
Vorrathskammer zu gehen; dort ſah er
twa ein Dutzend in einer Schüſſel liegende
Schweinscoteletten mit grünlichem Lichte ſo
hell leuchten, daß umſtehende Perſonen
ſich erkennen konnten und die Zeit am
Minuten-, ja ſogar am Secundenzeiger ab—
geleſen werden konnte.
zeigte eine Menge kleiner, meiſt kugeliger
Bacterien, nebſt „hefenartig vergrößerten“,
ſowie die prachtvollſten Octasder und re—
gulären Säulen. Von den unzähligen
leuchtenden Punkten und Strichen bewegten
ſich einzelne hin und her. Von Fäulniß,
üblem Geruch u. dergl. war nichts zu be—
merken. — Der Schlächter, von dem die
Coteletten bezogen worden waren, theilte
mit, daß ſeit mehreren Wochen alles Fleiſch,
auch Ochſenfleiſch, in ſeinem Verkaufsladen
leuchtend werde, ohne daß er dafür einen
Grund anzugeben vermöge und obwohl
er auf größte Reinlichkeit der Räume halte.
Fleiſch aus anderen Localitäten der Stadt
zu derſelben Zeit bezogen, leuchtete durch—
aus nicht, während in ſeinem Locale, wel—
ches Dr. Nüeſch beſuchte, die Hälfte der
geſchlachteten Ochſen, Kühe und Schweine
prächtig leuchtete; am intenſivſten war das
grünlich weiße Licht an den Uebergangs—
ſtellen des fetten zum magern Fleiſch. — -
Die leuchtende Maſſe breitete ſich in con—
centriſchen Kreiſen binnen 3 — 4 Tagen
immer weiter über die Fleiſchſtücke aus,
konnte mit dem Meſſer auf die verſchieden—
ſten andern Theile von Thierkörpern, aber
nur wenn ſie roh waren, übertragen wer—
den und vermehrte ſich daſelbſt raſch, was
hingegen auf gekochtem Eiweiß und gekoch—
Das Mikroskop
247
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
ten Kartoffeln nur ſehr langſam geſchah;
friſches oder altes Blut leuchtete nie. —
Beim Eintritte der Fäulniß, wo die eigent—
lichen Fäulnißbacterien auftreten, verſchwand
das Leuchten ganz, und faſt augenblicklich,
wenn einem Präparat Carbol-Salicyl—
Schwefelſäure oder Weingeiſt zugeſetzt wurde.
— Im Local des Schlächters dauerte das
Leuchten etwa von Oſtern bis Pfingſten,
wo die mittlere Temperatur 10“ nicht
überſtieg; unentſchieden bleibt, ob es dann
in Folge der ſteigenden Wärme oder der —
zum Desinficiren angewandten Carbolſäure
und Chlordämpfe verſchwunden iſt. Herr
Dr. Nüeſch glaubt, früher ſei nur ein
einziges Mal und zwar um Oſtern 1592
zu Padua leuchtendes Fleiſch beobachtet und
von Fabricius ab Aquapendente
unterſucht worden, aber nach den Mittheil-
ungen von Henze und Valentin iſt
ſolches auch 1868 in einem Hauſe zu Bern
und in Heidelberg auf der Anatomie be—
obachtet worden, und Fleiſch von todten
Seefiſchen hat man ſogar ziemlich häufig
leuchten ſehen. (Mittheilungen der natur—
forſchenden Geſellſchaft in Bern. Nr. 923
— 936. Bern 1878. S. 24.)
G. de Saporta's Unterſuchungen
über die ſogenannten Noeggerathien.
Die älteſten Erdſchichten, welche Pflan—
zenreſte bergen, weiſen neben der über—
wiegenden Zahl von Gefäßkryptogamen
(d. h. Farnen, Schafthalmen und Bärlapp—
Gewächſen) eine nur kleine, aber nach und
nach zunehmende Schaar Samen tragender
Gewächſe auf. Außer den Nadelhölzern
erſcheinen einige Pflanzen mit breiteren
Blättern, Cordaites, Pothocites, An-
thocithes und namentlich die Noegge—
8
1
rathien, Pflanzen, die man anfangs für
Palmen und andere monocotyliſche Ge—
wächſe hielt und damit die ſtufenweiſe
Ausbildung des Pflanzenreiches gewiſſer⸗
maßen in Frage ſtellte. Daß dieſe Pflan—
zen, abweichend von den Kryptogamen,
Samen trugen, beweiſen die ſchon in den
Steinkohlenſchichten zahlreich vorkommenden
Samen, auf denen man die Pflanzengattungen
Rhabdocarpus, Trigonocarpon u. A.
begründet hat, obwohl dieſe Samen wahr—
ſcheinlich größtentheils zu den obigen, ſchon
nach ihren Blättern anderweitig benannten
Pflanzenarten gehörten. Da jene Pflanzen—
formen ihres Gleichen in der heutigen
Welt nicht mehr beſitzen, vollkommen aus-
geſtorben find, jo war eben der Phantafie
ein weiter Spielraum gegeben; heute iſt
Pflanzen des Steinkohlenwaldes nicht zu
den höheren Abtheilungen der Mono- und
Dicotyledonen gehört haben, ſondern zu
jener Uebergangsklaſſe der Urſamen—
Pflanzen (Archispermae), welche die
anſcheinend blüthenloſen Gewächſe (Krypto—
gamen) mit den offen blühenden (Phanero—
gamen) vermitteln.
Zu dieſer wegen ihrer Uebergangs—
natur doppelt lehrreichen Abtheilung gehö—
ren von den heute lebenden Pflanzen die
Zapfenbäume oder Nadelhölzer
(Coniferae), die Gnetaceen, und die
Sagobäume oder Palmenfarne (Cy—
cadeae); den letzteren glaubte man nun—
mehr jene erwähnten merkwürdigen breit—
blättrigen Samenpflanzen der Primärzeit
am beſten anreihen zu können. Am frühe—
ſten wurde dies mit den Noeggerathien
verſucht, die in großen Maſſen und man—
nigfachen Formen vorkommen und z. B.
in Saarbrücken den Hauptbeſtandtheil gan—
zer Kohlenflötze bilden. Es find Blatt—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
fiedern von zum Theil anſehnlicher Größe
und mannigfachem Umriß, die der deutſche
Paläontologe Sternberg zu Ehren des
um den deutſchen Bergbau hochverdienten
Bergrath Jacob Noeggerath benannte,
und die im Allgemeinen den Umriß eines
halbaufgeklappten Damenfächers mit engen,
mehr oder weniger parallelen Adern zeigen.
Der berühmte franzöſiſche Paläontologe
Brongniart ſtellte die Noeggerathien
wie geſagt, zu den Cycadeen, nicht aber
ohne dabei zu bemerken, daß eine volle
Uebereinſtimmung allerdings nicht vorhan—
den ſei und daß man ſie vielleicht als be—
ginnende, den Reigen eröffnende Cycadeen
betrachten dürfe.
Die Sagobäume oder Cycadeen gehören
für die Evolutionstheorie zu den intereſſan—
man indeſſen darüber einig, daß alle jene
teſten Ueberbleibſeln der Vorzeit, da ſie
noch heute im Habitus, wie in ihrer Ent—
wickelung und im anatomiſchen Bau drei
ſonſt unvereinbar ſcheinende Familien ver—
binden, nämlich die Farne, Nadelhölzer
und Palmen (vergl. Kosmos I. S. 536);
ſie nehmen unſer ferneres Intereſſe in An—
ſpruch als Charakterpflanzen der Jurazeit,
in welcher ſie den geſammten Erdball in
allen Zonen ſchmückten und ſeinen Wäldern
gewiß das Hauptgepräge gaben (Kosmos
II. S. 561). An dieſer hiſtoriſchen Be—
deutung nehmen nun die Noeggerathien um
ſo mehr Theil, als ſie, wie erwähnt, die
Vorgänger derſelben geweſen zu ſein ſcheinen,
da man zweifelloſe Cycadeen bisher erſt in
triaſiſchen Schichten gefunden hatte, wäh—
rend der Oolith dann das Zeitalter ihrer
reichſten Entfaltung, jo recht die Herrſchafts—
Epoche der Cycadeen bezeichnete. In der
Kreidezeit waren ſie noch zahlreich, obwohl
die Abnahme merklich iſt; in den tertiären
Schichten hat man auffallender Weiſe keine
oder doch nur vereinzelte Cycadeen-Reſte
gefunden, und heute bewohnen fie, meift
in Geſellſchaft ihrer alten Kameraden, der
baumartigen Farne, einen ſchmalen Gürtel
der warmen Zone, der ſich mit geringen
Unterbrechungen um die Veſte der Erde
herumlegt. Trotz alledem war die Ge—
ſchichte der Cycadeen noch immer ſo lücken—
haft, daß ſie den Gegnern der Evolutions—
Theorie geradezu als Operationsfeld dienen
konnte, wie nachſtehende Bemerkungen be—
weiſen mögen. Der ausgezeichnete Paläo⸗
phytologe C. W. Williamſon in Man-
cheſter ließ ſich darüber noch vor drei Jahren
wie folgt, aus:“)
„Welches auch,“ ſchrieb er, „wenn wir
die Urflora betrachten, die Schwierigkeiten
(der Evolutionstheorie) ſein mögen, noch
größere warten unſer, wenn wir von den
älteren Schichten zu den jüngeren empor—
ſteigen. Die Erſcheinung der Cycadeen in
der meſozoiſchen Epoche ſtellt eine der erſten
und ausgeprägteſten dieſer Schwierigkeiten
dar. Woher ſind ſie gekommen? Ich finde
keine Pflanze, die den Anſchein erwecken
könnte, einen Uebergang zwiſchen irgend—
welchen paläozoiſchen Pflanzen zu den voli-
thiſchen Cycadeen zu bilden. Wenn die ſelt—
ſame Stangeria des ſüdlichen Afrika, deren
Farnblätter auf dem Stamm einer Cycadee
ſitzen und wahre Cycadeenfrüchte bringen,
in den permiſchen und triaſiſchen Felſen
gefunden worden wäre, ſo würde man ſie
als prächtiges Beiſpiel eines zwiſchen Far—
nen und Cycadeen ſtehenden Gliedes haben
citiren können. Unglücklicher Weiſe erſcheint
dieſe anſcheinend verallgemeinerte Form am
Ende der Geſchichte, zu einer Zeit, wo
man nichts mehr damit anfangen kann,
während ſie im Anfange derſelben höchſt
werthvoll geweſen wäre. Wir finden keine
Stangeria in den Uebergangsſchichten, noch
9 Revue seientifigue IV, p. 1067. 1875.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
249
irgend eine andere Pflanze, die geeignet
wäre, als Stützpunkt des Ueberganges
von den Steinkohlenpflanzen zu den ooli-
thiſchen Cycadeen genommen zu werden.“
Wir können an dieſem Raiſonnement nicht
vorübergehen, ohne zu conſtatiren, wie höchſt
ungerecht die Gegner der Evolutionstheorie
zu verfahren pflegen. Der Umſtand, daß
noch heute eine Pflanze exiſtirt, die das
vollkommene Ausſehen eines Farnbaumes
mit der primitiven Blüthenbildung der
Cycadeen vereint, wird uns hier gleichſam
zum höhnenden Beweiſe hingeworfen, daß
früher ſolche Uebergangsformen nicht exiſtirt
hätten. Alexander Braun hat in ſeiner
in demſelben Jahre erſchienenen Arbeit über
die Cycadeen ?) darauf hingewieſen, daß
man die Stangeria betrachten dürfe wie
ein doppelt gefiedertes Pterophyllum mit
verſchmolzenen Segmenten, und er vergleicht
fie der Gattung Anomozamites, alſo un:
mittelbar zweien ausgeſtorbenen Gattungen,
welche der meſsozoiſchen Landſchaft ihre
eigenſte Phyſiognomie verliehen haben.
Aber auch alle übrigen heute lebenden
Cycadeen ſind trotz der ungezählten Jahr—
tauſende, die ſeit ihrem erſten Auftreten
verfloſſen ſind, in der Entwickelung ihrer
Wedel und ihrer Blüthen am Blattrande
noch immer ſo farnähnlich, daß man den
obigen Ausſpruch gauz unbegreiflich finden
muß. Nach den Erfahrungen, die wir in
allen Regionen des Thier- und Pflanzen—
reiches machen können, neigten freilich die
Uebergangsformen vorzugsweiſe zum Aus⸗
ſterben, und die überlebenden Glieder können
unmöglich eine ſo geſchloſſene Reihe bilden,
wie fie die Gegner der Evolutionstheorie
unter Nichtachtung aller maßgebenden Ver—
hältniſſe immer wieder verlangen.
n den Monatsberichten der Berliner
Akademie.
Kosmos, Band III. Heft 3.
250
Während höchſtens
lebender Cycadeen bekannt ſind,
Schimper ſchon 175 foſſile Arten auf,
die ſich auf 18 Gattungen vertheilen, und
dabei ſind meiſtens nur die ſicher beſtimm—
baren gezählt worden. Zu ihnen müſſen
aber nach Brongniart außer den Noeg—
gerathien, von denen wir gleich ausführ—
licher berichten, noch die gänzlich ausgeſtor—
benen Erzeuger der nicht von den Nadel—
hölzern ſtammenden Steinkohlenſamen (Car—
polithen) gerechnet werden, da es lauter or—
thotrope Samen von dem Bau der Archi—
ſpermenſamen ſind. Nach dieſen Samen
kommen zu der oben angeführten Anzahl
noch 96 Arten Urcycadeen, die ſich auf fünf
gänzlich ausgeſtorbene Gattungen vertheilen.
Auch Cordaites, deſſen Arten im Stein—
kohlenwalde unſere Yucca- und Aloeform
vertrat und deshalb von Weiß zu den
Monocotylen gerechnet werden, gehörte nach
Brongniart zu den Ur-Cycadeen, von
denen man die verſchiedenſten Monocotyle—
donen-Zweige abzuleiten verſucht wird. Ganz
vor kurzem iſt übrigens in der Darlington—
Grube eine Cordaites-Art mit erhaltenen
Blüthen gefunden worden, deren Unterſuch—
ung abzuwarten iſt.“)
Nach dieſer Einleitung kommen wir
nun zu den neuen Unterſuchungen über die
Noeggerathien des franzöſiſchen Paläophy—
tologen G. de Saporta, über welche
derſelbe ſeit Ende März dieſes Jahres der
Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften zu
wiederholten Malen Bericht erſtattet hat.
Dieſelben haben, um es im Voraus zu
ſagen, das lehrreiche Reſultat ergeben, daß
die bisher unter dem Gattungsnamen
Noeggerathia vereinigten foſſilen Pflanzen
theils zu den Farnen, theils zu den Cycadeen,
theils zu den Coniferen, theils zu einer
10 American Journal of Science. April 1878.
hundert Arten
zählt
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
mitten zwiſchen den beiden letztgenannten
Archiſpermen-Abtheilungen ſtehenden Gruppe
gehörten, die Saporta „Subeoniferae*
tauft. So ſehr alſo glichen ſich damals
die Blattformen gewiſſer Farne, Cycadeen
und Coniferen, daß man ſie bisher in eine
Gattung zuſammenwerfen konnte! Insbe—
ſondere lehrreich war die letzte Mittheil—
ung des genannten Forſchers über Noeg-
gerathia expansa und cuneifolia Brongn.
die wir gewöhnlich als typiſch in den Wer—
ken über Paläontologie (4. B. bei d'Or—
bigny und Carl Vogt) abgebildet fin-
den und die aus den permiſchen Sand—
ſteinen vom Uralgebiete ſtammen.“)
Dieſe Arten waren von einem mächti—
gen Wuchſe, weshalb man in der Regel
nur Bruchſtücke ihrer wedelförmigen Blätter
findet. Viel ſeltener bekommt man voll—
ſtändige Exemplare vor Augen, nach denen
man eine Reſtauration der Pflanze ver—
ſuchen könnte. Die Abſchnitte haben ſämmt—
lich keilförmigen Umriß, d. h. ſie breiten
ſich aus ſpitzem Baſiswinkel oben wie ein
ſchmaler Fächer aus, oder theilen ſich in
kleinere Zipfel und Segmente mit immer
gleichem Stielwinkel. Die Haupttheilungen
ſind ſtets dichotom (d. h. zweigabelig) und
Spindeln wie Blattfläche bieten häufige
Beiſpiele dichotomer Theilung; indeſſen be—
gegnet man auch fiederartigen und tricho—
tomen Einſchnitten. Die von der Ader—
ung genommenen Kennzeichen — welche
wegen ihrer großen Beſtändigkeit für die
Paläontologie ſehr wichtig ſind — ſind
auch hier ſehr gleichmäßig, die Adern gehen
nicht von den Blattwurzeln aus, ſondern
man unterſcheidet auf jedem vollſtändigen
Segment eine Mittelrippe, von welcher der
Länge nach die Seitennerven dicht hinter
) Comptes rendus T. LXXXVI. p. 869.
1878.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
einander abgehen, um ſich unter einem mehr
oder weniger ſpitzen Winkel fächerförmig
auszubreiten, wobei ſie ſich immer von
Neuem dichotomiſch theilen. . ..
Die eben beſchriebenen Eigenthümlich—
keiten kommen faſt nur bei Farnen vor.
Bei den Arten der foſſilen Gattung Sphe—
nopteris und namentlich auch bei der foſ—
ſilen Gattung Eremopteris findet man,
wenn auch in verkleinerter Geſtalt, eine
jenen Noeggerathien durchaus ähnliche Blatt—
bildung wieder; es findet ſich bei ihnen
nicht allein die allgemeine Dichotomie des
Wedels, ſondern auch die Bildung kleiner,
an den unterſten Gablungen vorkommender
ohrförmiger Fiederchen, ſowie die Theilung
in keilförmige Segmente und die Aderung
wieder. Unter den lebenden Farnen weiſen
die Wedel von Asplenium furcatum Thnb.
und einiger Spaltfarne oder Schizäaceen,
wie Aneimia villosa Humb. et Bonpl.
und A. adiantifolia Sw. eine ähnliche
Bildung auf. Herr von Saporta ftellt
deshalb die vermeintlichen Ur-Cycadeen vom
Ural zu den Farnen und zwar in die
Nähe der Schimper 'ſchen Gattung Ere-
mopteris unter dem Namen Psygmo-
phyllum. Referent kann hierbei nicht die
Bemerkung unterdrücken, daß ihm aus der
angedeuteten Vergleichung keineswegs die
Farnnatur dieſes Psygmophyllum bewieſen
erſcheint, denn das Blatt der jetzt lebenden
und weiter unten zu erwähnenden Salis—
buria adiantifolia (Ginkgo biloba) hat
ebenfalls Geſtalt und Aderung eines Farn—
krautes, und Niemand würde, wenn es nur
im foſſilen Zuſtande bekannt wäre, die
Conifere darin ſogleich erkennen.
Dieſen farnartigen
„Noeggerathien“
ſchließt ſich eine kleinere Form aus den Berg-
werken von Malaſinski im Gouvernement
Perm an, die ſich, bei im Allgemeinen
ähnlicher Geſtalt, doch noch dadurch unter—
ſcheidet, daß die Nerven unter einander
anaſtomoſiren, d. h. Netze und Schlingen
bilden, wodurch dieſe foſſilen Reſte zuweilen
den untergetauchten und unfruchtbaren We—
deln der Farngattungen Ceratopteris
Brongn. und Parkeria Hook., die in
Sumpfſtationen der wärmeren Zone vor—
kommen, ſehr ähnlich werden. Es iſt des—
halb dieſe vorweltliche Pflanzenform von
den oben genannten getrennt und Dicho—
neuron Hookeri Sap. getauft worden.
Indeſſen darf man nicht fürchten, daß
alle ſogenannten Noeggerathien nunmehr
unter die Farne verwieſen werden müßten,
denn gerade die beiden älteſten derſelben,
ſowohl der Zeit ihres Auftretens wie der
Namengebung nach, Noeggerathia foliosa
Sternb. und N. rhomboidalis Vis., die
in den mittleren Steinkohlenſchichten Böh—
mens vorkommen, mußten trotz aller habi—
tuellen Uebereinſtimmung mit den Vorge—
nannten auch von Saporta als echte
Cycadeen anerkannt und daher im Beſitz
ihres rechtmäßigen und wohlerworbenen
Taufnamens nach dem deutſchen Geologen
belaſſen worden. Damit iſt alſo die Ehre
derjenigen Naturforſcher gerettet, welche die
Noeggerathien als Ur-Cycadeen bezeichneten.
Dagegen neigt eine fernere Art, Noeg—
gerathia Goepperti Liehtw. — und das
iſt wiederum ſehr lehrreich — bei mancher
Uebereinſtimmung mit den Cycadeen fo ſehr
zu den Coniferen hinüber, daß Saporta
für ſie eine beſondere Mittelfamilie auf—
ſtellen mußte, die er Subeoniferae nennt.
Er hat dieſelbe, welche in permiſchen
Schichten Rußlands und Böhmens vor—
kommt, entſprechend ihrer neuen Stellung
umtaufen müſſen und Dolerophyllum
Goepperti benannt. In dieſe Zwiſchen—
klaſſe werden wahrſcheinlich noch manche
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
andere Cycadeen umziehen müſſen, ſo z. B.
die permiſche Gattung Stenzelia ( Me-
dullosa elegans), welche A. Braun in
ſeiner vorhin erwähnten Arbeit über die
Stellung der Cycadeen eine Mittelform
|
zwiſchen Cycadeen, Coniferen und Mono-
cotyledonen nennt.
Drei andere ſogen. „Noeggerathien“
erwieſen ſich bei genauerer Unterſuchung
als offenbare Coniferen aus der Gruppe
der farnblättrigen Zapfenbäume (Salis—
burieae), nämlich die nunmehrigen Gink-
gophyllum flabellatum (Lindl. et Hutt.)
Sap. aus engliſchen Steinkohlenſchichten,
G. Grassetti Sap. aus permiſchen Schich—
ten von Lode ve (Depart. Herault) und
G. kamenskianum Sap. aus permiſchen
Schichten Rußlands. Die Gruppe der
farn- und cycadeen-blättrigen Zapfenbäume,
von deren Schönheit heute nur der einzige
überlebende Ginkgo- Baum Chinas Kunde
giebt, hat ſomit zu den mannigfachen in
jüngerer Zeit beſchriebenen neuen Arten
(vergl. Kosmos II. S. 562) einen weite—
ren, ſehr nachdenklichen Zuwachs erhalten,
und an Stelle jener einzigen, nach Wil—
liamſon nicht vorhandenen Urcycadee
ſehen wir dem Dunkel der Vorzeit ganze
Reihen entſteigen, die ſie mit den Farnen
nach der einen und mit den Nadelhölzern
nach der andern Seite vermitteln. Möge
es Herrn de Saporta gefallen, bald
die näheren, mit Abbildungen erläuterten
Details ſeiner Unterſuchungen, von denen
die Denkſchriften der Akademie nur Aus—
züge brachten, zu veröffentlichen und uns
damit in den Stand ſetzen, die Vermuth—
ungen, die unwillkürlich dabei aufſteigen,
näher zu prüfen.
Ueber den Einfluß des Auftretens
höherer Lebensformen auf den Bau
der älteren Krokodil-Arten
las Profeſſor Owen eine intereſſante Ab—
handlung in einer Februarſitzung der Lon—
doner Geologiſchen Geſellſchaft, aus welcher
wir das Nachſtehende entnehmen: Zunächſt
im Allgemeinen auf den Einfluß der Um—
gebung und äußeren Einwirkungen auf den
Bau der Lebeweſen hinweiſend, bemerkte er,
daß bei den Raubthieren auch auf die Ver—
änderung ihrer Beute Rückſicht zu nehmen
ſei. Er folgerte, daß kaltblütige Waſſer—
thiere in größerem Verhältniſſe den meſo—
zoiſchen als den neozoiſchen Krokodilen zur
Nahrung gedient haben würden, und brachte
damit den wohlmarkirten Unterſchied in
Verbindung, welchen dieſe beiden Gruppen
in ihrem geſammten Baue darbieten. Die
meſozoiſchen Krokodile haben doppelhöhlige,
die neozoiſchen nur vorn gehöhlte Wirbel,
und da dieſe letztere Eigenthümlichkeit der
Wirbelſäule ſie befähigt, ſich auch in der Luft
bequem zu bewegen, mag ſie mit dem ver—
mehrten Auftreten von Landſäugethieren
in der Tertiärzeit, denen die Krokodile ans
Ufer folgten, in Verbindung gebracht wer—
den. Die meſozoiſchen Krokodile waren in
einen viel vollſtändigeren und ſtärkeren
Hautpanzer eingehüllt, als ihre Nachfolger,
zweifellos zum Schutze gegen die großen
Ichthyoſaurier, Pleſioſaurier und andere
Raubreptile, die mit ihnen das Waſſer be—
wohnten. Seit aber dieſe mächtigen Räuber
am Ende der Secundärzeit verſchwunden
ſind, iſt die Panzerung der Krokodile ge—
ringer geworden und die Verminderung des
Gewichtes und der Steifigkeit hat ihnen
die zur Erlangung von Landthierbeute er—
forderliche Behendigkeit verliehen. Der
Unterſchied in der Stellung der 2
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
und andere damit in Verbindung ſtehende
Naſen- und Gaumenbildungen ſtehen an—
ſcheinend mit der von den jüngeren Kro—
kodilen erworbenen Fähigkeit in Verbind—
ung, ein kräftiges Säugethier untergetaucht
zu halten, ohne dem Waſſer Zutritt zu
den an die Spitze der Schnauze hinauf—
gerückten Naſenlöchern und der Luftröhre
zu geſtatten. Aus demſelben Grunde iſt
Owen umgekehrt geneigt, ſogar jenen groß—
ſchnäuzigen Krokodilen der Purbeckſchichten
(3. B. Goniopholis erassidens und simus)
die ſo wohl befähigt ſcheinen, mit großen
und kräftigen Säugethieren zu kämpfen,
eine Fiſchnahrung zuzuſchreiben. Die ge—
ringe Größe der Schläfengruben bei ter—
tiären und jetzt lebenden Krokodilen wird
von Owen als ein fernerer Beweis der—
ſelben Anpaſſungsrichtung betrachtet. Dieſe
Oeffnungen wurden nämlich verringert durch
die fortſchreitende Verſtärkung des knöcher—
nen Daches der Schläfenhöhlen, welche
ihrerſeits mit der Vermehrung der Schläfen—
muskeln an Maſſe und Kraft in Verbind—
ung ſteht, denn dieſe ſpielen beim Zubeißen
und Feſthalten die Hauptrolle. Die Unter—
ſchiede in der Länge und Stärke der Kiefer
ſprechen für dieſelbe Entwickelungsrichtung.
Ferner waren die vorderen Gliedmaßen
kürzer bei den meſozoiſchen als bei den
neozoiſchen Krokodilen, dadurch andeutend,
daß die erſteren in ihren Gewohnheiten
ſtrenger an das Waſſer gebunden waren.
Von allen Krokodilen werden die Vorder-
d. h. das neue Individuum f beſteht aus
den Körper gezogen, wobei kürzere Glied-
aus väterlichen Elementen 5, aus miütter-
glieder beim ſchnellen Schwimmen eng an
maßen weniger hinderlich ſind als längere.
Auf der andern Seite mußten ſie weniger
zur Fortbewegung auf dem Lande geeignet
ſein. Als indeſſen die das Ufer beſuchen—
den Säugethiere in der Tertiärzeit häufiger
wurden, ſahen ſich die Krokodile häufig
verſucht, Angriffe auf ſolche vorübergehende
Landbeute zu machen, und dadurch mögen
die Vorderfüße an Größe und Kraft bei
den neozoiſchen Arten allmälig zugenommen
haben. (Nature. No. 436. 1878.)
Profefor Mantegazza's Meogeneſis
und ſeine Anſichten
über die geſchlechtlichen Formunterſchiede
der Thiere.
Um den Haupteinwürfen gegen die na—
türliche Zuchtwahl zu begegnen, hat Dr.
Mantegazza, einer der geiſteichſten
Vorkämpfer des Darwinismus in Italien,
eine neue ſupplementäre Theorie aufgeſtellt,
die, wenn auch bisher von ihrem Gründer
nur angedeutet, uns doch ſchon in ihrem
Embryonal-Gewande einer kurzen Erwähn—
ung werth erſcheint.
Nach Herrn Mantegazza könnten
wir die Theorien der Geneſis der lebenden
Formen ſämmtlich auf zwei Formeln, eine
empirische und eine wiſſenſchaftliche, zurück—
führen. Nach der erſten wäre das Kind
oder das neue Individuum gleich der Hälfte
des Vaters plus der Hälfte der Mutter,
oder 8 2
während die wiſſenſchaftliche Formel des
neuen Individuums ſich wie folgt ergäbe:
8 .
X X
der Summe dreier unbekannter Größen;
lichen Elementen P; und aus ataviſchen
Elementen at.
Jemehr väterliche und mütterliche Cha—
raktere das Individuum aufweiſt, um ſo
mehr gleicht es ſeinen Eltern, der Species
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
&
oder der Varietät, der es angehört; während,
wenn die elterlichen Elemente ſich in Größe
faſt auf Null reduciren und das ataviſche
Element vorherrſcht — d. h. die Summe
aller ataviſchen Elemente, aller organiſchen
Möglichkeiten, — dann differirt das Kind
bedeutend und mit einem Male von ſeinen
Eltern; wir haben alsdann ein Monſtrum,
eine Varietät, eine neue Species, je nachdem
wir dieſes neue Geſchöpf betrachten, welches
Mantegazza als durch Neogeneſis
entſtanden betrachtet und folgendermaßen
formulirt:
f= E & + EAA
wobei mit E, E', E“ evanescente
(verſchwindbare) Größen bezeichnet werden.
Aehnliche Ideen ſind bereits von Prof.
Delpino in feinem Neomorphismus, ſowie
auch von Mivart angeregt worden. Doch
unterſcheiden fie ſich von denen Mante—
gazza's darin, daß Erſtere die neuen
Charaktere nicht von den Eltern, noch von
den Ahnen ableiten, während Mante—
gazza glaubt, die ſcheinbare Neuigkeit be—
ſtehe nur in den verſchiedenen Proportionen,
in welchen das elterliche Element und der
große kosmiſche Atavismus das neue In—
dividuum bilden. Es iſt Faktum, daß das
Kind ſtets vom Vater und der Mutter
verſchieden iſt, aber der Grad der Verſchie—
deuheit kann unendlich klein oder unendlich
groß ſein.
digere, der die Geſetze der gewöhnlichen
Vererbung giebt, während der zweite die
Ausnahme, die Neogeneſis, bildet. Sind
die Monſtroſitäten, reſp. die neuen Cha—
raktere, dem Individuum oder der Species
nicht ſchädlich, keine Deformitäten, um die
ſexuelle Zuchtwahl zu verhindern, fo ſteht
der Transmiſſion derſelben durch Vererb—
J 5
7, Al
E
ung nichts entgegen und können fo der Aus-
Der erſte Fall iſt der beftän- |
gang für neue Varietäten und Species werden.
Auf dieſe Art könnten wir uns erklären,
wie in einem geringeren Zeitraume große
Umwandlungen ſtaltgefunden, weshalb wir
in den Erdſchichten viele Intermediär-Formen
vermiſſen müſſen.
Man könnte der Neogeneſis vorwerfen,
ſie bedinge einen Rückſchritt in der Ent—
wickelung der lebenden Weſen und ſei des—
halb der Evolutionstheorie entgegengeſetzt.
Doch iſt dem nicht ſo. Dieſes fatale Re—
ſultat des Rückſchrittes ergiebt ſich nur
dann, wenn die neuen Charaktere gleich—
zeitig monſtrös und pathologiſch, wenn fie
den Lebensbedingungen des betreffenden In—
dividuums conträr ſind. Es iſt keiner
Pflanze ſchüdlich, wenn deren Blätter ihre
Form ändern, wenn die Blüthen Farbe
wechſeln oder die Anzahl der Staubgefäße
ſich modificirt. Dem unter unſern Augen
gebildeten Pfau ſind die neuen Charaktere,
die ihm dem Namen Pavo nigripennis
einbrachten, durchaus nicht ſchädlich. In
vielen Fällen ſind ſogar die durch Neogeneſis
erſchienenen Charaktere ſehr nützlich, ver—
leihen dem Individuum neue Fähigkeiten
und Kräfte, erhalten ſich durch natürliche
Ausleſe und durch Vererbung. Ferner darf
man den Begriff des Wortes Atavismus
nicht zu eng faſſen: es bleibe wohl ver—
ſtanden, daß das ataviſche Element die
Summe aller ataviſchen Elemente,
aller organiſchen Combinations—
möglichkeiten iſt, nicht die einfache
Rückkehr zu einem alten, durch die natürliche
Selektionstheorie ausgemerzten Charakter.“)
) Anmerk. der Redaktion. Würde
es nicht doch richtiger ſein, in dieſem dritten
Faktor, der die elterlichen Anlagen modificirt,
vielmehr das Wirken der neuen Lebensbeding—
ungen, der immer ſich verändernden Welt zu
ſuchen?
In dem angezogenen Beiſpiel des
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Vom großen Lebensbaume divergiren
tauſend Zweige; aber obwohl das Werk
der Umwandlung unaufhörlich und langſam
vor ſich geht, ſo häufen ſich von Zeit zu
Zeit in einem Individuum ſolche und ſo
viele Differenzen, daß ſie eine neue Form
bilden; neu jedoch nur durch die verſchie—
denen Proportionen der väterlichen, mütter—
lichen und ataviſchen Elemente, die ſie ent—
hält, die ſie aber, von äußeren Umſtänden
begünſtigt, neuer Kräfte und neuer Aus—
dehnung fähig machen. Wie die anſcheinend
entgegengeſetzten Begriffe von Sterblich—
keit und Fruchtbarkeit nur diverſe
Momente ein und deſſelben Phänomens
ſind, ſo ſind die unbegrenzte fortwährende
Veränderlichkeit der Individuen und die
Beſtändigkeit der Species nur diverſe Mo—
mente derſelben Thatſache, die ſich nicht
widerſprechen, ſondern ergänzen, und mehr
denn je erſcheint in dem unendlichen, tauſend—
fachen Reichthum von Formen klar und
ganz die große Einheit der Materie!
Dr. Mantegazza, findet ferner, daß
die Darwin'ſche Theorie der ſexuellen
Zuchtwahl, ſo meiſterhaft ſie auch von dem
großen engliſchen Gelehrten durchgeführt
wurde, dennoch manche Lücken zeige, zu
deren Ausfüllung andre Factoren herbeige—
zogen werden müßten. Zunächſt formulirt
ſchwarzrückigen Pfaues, der an den verſchie—
denſten Orten Europas ſeit Jahrhunderten
immer wieder erſcheint und jedesmal eine
bedeutende Neigung zeigt, die alte Raſſe zu
verdrängen, iſt es vielleicht richtiger, ſtatt eines
Rückſchlages, eine neue Form zu vermuthen,
die von der neuen Zeit und Heimath geſchaf—
fen wird, und ſich gerade deshalb ſo aus—
gezeichnet bewährt. Schon der Umſtand, daß
dieſer ſchwarzrückige Pfau einen ſo merk—
würdigen Federwechſel durchläuft, ſcheint mir
der verbreiteten Anſicht, daß man es hier
mit Atavismus zu thun habe, nicht günſtig.
255
er die Einwürfe gegen die ſexuelle Zucht—
wahl unter folgenden ſechs Abſchnitten.
I. Der Liebes kampf in der Thier—
welt exiſtirt; oft erringt das Männchen
die Siegespalme erſt nach blutiger Schlacht:
aber das Weibchen verfällt unvermeidlich
dem Sieger; ſelbſt wenn es auch den Be—
ſiegten vorziehen wollte, ſo müßte es den—
noch dem ſtärkeren Männchen unterliegen.
Mit wenigen Ausnahmen, wie Darwin
auch ſelbſt zugiebt, verfolgen bei faſt allen
Thieren die Männchen die Weibchen mit
großem Eifer. Wenn alſo in dieſen Fällen
das Männchen kämpft, wählt und erobert,
wozu nützt ihm dann der ganze Apparat
der vielfältigſten Schönheit, mit dem die
Natur es ausgeſtattet? Nach Bertlett
laſſen die Affen zur Brunſtzeit jedes
Männchen, ſelbſt von andren Species, zur
Begattung zu; wenn dieſe Thatſache
auch nur unter anormalen Umſtäuden, d. h.
während der Gefangenſchaft der Thiere in
zoologiſchen Gärten, feſtgeſtellt wurde, fo
verliert ſie dennoch nicht ihren Werth und
zeigt uns, daß die Auswahl ſeitens des
Weibchens ſehr ſchwierig iſt.
Weshalb ſoll ſich auch das Männchen
ſchön machen müſſen? Kann daſſelbe doch
nach erfolgter Eroberung das Weibchen
auch ohne deſſen Zuſtimmung befruchten;
während im Männchen beſondere phyſiſche
Bedingungen der Geſchlechtsorgane dazu
nöthig ſind. Sollten die Schönheit oder
andere äſthetiſche Elemente, wie der Geſang
und verſchiedene pſychologiſche Kundgeb—
ungen, zur Liebeserregung dienen, ſo hätten
ſie ſich im Weibchen finden müſſen, um
beim Männchen die geſchlechtlichen Kräfte
wach zu rufen. Es iſt begreiflich, daß ſich
beim Männchen die Hörner, Nägel, Klauen,
Muskel, überhaupt alle offenſiven und de—
fenſiven Waffen aus geſchlechtlicher 8
— —
256
entwickeln und verbreiten: dagegen bleibt
der Zweck aller andren ſecundären geſchlecht—
lichen Charaktere, die einem äſthetiſchen
Range angehören, unverſtändlich.
II. Der Geruch iſt bei vielen Säuge—
thieren par excellence der erregende
Sinn der Geſchlechtsorgane und macht den
ganzen äſthetiſchen Apparat von Farben
und Formen, mit denen die meiſten Männ—
chen geziert ſind, vollſtändig unnütz. Wenn
aber das Männchen faſt immer ſucht, ver—
folgt und erwirbt, warum iſt daſſelbe ſo
reichlich mit geſchlechtlichen Gerüchen verſehen?
Sollte nicht vielmehr das keuſche, zurück—
gezogene, verborgene Weibchen dieſe Gerüche,
dieſe Ausdünſtungen von ſich geben, um
dem Gefährten den Weg zur Liebe anzu—
deuten? Mantegazza hat während zwei
Jahren verſchiedenen Generationen von
Kaninchen gleich nach deren’ Entwicklung
die Augen ausgeſtochen, aber die Liebe ent—
wickelte ſich in dieſen Blinden ohne Hinder—
niß, denn ſie beſaßen ihre Geruchsorgane.
Schiff hat dagegen den neugeborenen
Hunden die Geruchsnerven außer Gebrauch
geſetzt und unter andern Folgen zeigte ſich
auch die, daß das Männchen nicht das Weib—
chen aufzufinden wußte.
III. Die Schönheit des Männchens
variirt zu ſehr auch in nahverwandten
Vogelſpecies, um deren Urſprung durch
bloße geſchlechtliche Zuchtwahl erklären
zu können. Geſtehen wir den Thieren auch
den feinſten äſthetiſchen Sinn zu, ſo finden
wir es doch ſchwierig zu glauben, die ver—
ſchiedenſten Formen, die entgegengeſetzten
Farben ſeien einzig und allein das Reſul—
tat des ſpeciellen Geſchmacks verſchiedener
Weibchen, die ſich im übrigen unter ſich
ſo ſehr gleichen. Widerſteht uns denn nicht
die Annahme, die Feder des Pfaues oder
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
diesvogels ſei durch die geſchlechtliche Aus—
wahl des Weibchens entſtanden, während
das faſt immer intelligentere Männchen es
iſt, welches das Weibchen liebt und das—
ſelbe als Kriegstrophäe erringt, ſich aber
mit den beſcheidenſten und gewöhnlichſten
Tinten in ſeiner Gefährtin begnügt?
IV. Die Zähmung, ſowie manche an—
dere äußeren Bedingungen der Nahrung,
Farbe ꝛc. ändern gar ſchnell das Geſchlechts—
kleid; wäre daſſelbe das Ergebniß langer
Jahrhunderte geſchlechtlicher Zuchtwahl, ſo
müßte es doch tief in der Species einge—
graben bleiben. Genügt nicht der Albinis—
mus, um in den Thieren verſchiedenſter
Natur die reichſten und ſchönſten Farben—
ſpiele zum Verſchwinden zu bringen? Und
vielleicht iſt der Albinismus blos die Folge
einer geringen hiſtologiſchen Modification
der Pigment erzeugenden Organe.
V. Bei den meiſten Fiſchen findet keine
Berührung der Geſchlechtsorgane ſtatt, und
obgleich man behaupten könnte, das Weib-
chen gebäre ſeine Eier nur dann, wenn es
ein gefälliges Männchen in der Nähe ſieht,
ſo muß man andrerſeits auch die Schwie—
rigkeit einer wirklichen und eigentlichen Se—
lektion anerkennen, wenn man beobachtet,
in welchem wilden Durch- und Ueber-
einander die Männchen zur Laichzeit die
Weibchen verfolgen. Und doch beſitzen die
Fiſche ſehr wichtige ſecundäre ſexuelle Cha—
raktere.
VI. Der wichtigſte Einwurf gegen die
geſchlechtliche Zuchtwahl dürfte jedoch aus
der Beobachtung der poly gamiſchen
Thiere folgen, bei denen die ſecundären
ſexuellen Charaktere ſehr tief und bedeut—
ſam ſind. Wenn unter ſo vielen Männ—
chen, die um den Beſitz eines Harems
kämpfen, nur Eines Sieger bleibt, ſo
auch das ſtrahlende Prachtgefieder des Para- braucht daſſelbe für die Weibchen gewiß
nicht das ſchönſte Männchen zu fein, da
ja nicht die Schönheit, ſondern die Kraft
ihm die Sultansrechte verſchafft; und be—
ſitzt es dieſelben einmal, ſo gehören die
eroberten Weibchen ihm ganz und gar; es
führt ſie zur Weide und zur Ruhe wie
ein Hirt und König. Und ferner wäre
hier noch zu bemerken: Wenn ſo viele
Männchen ſterben oder von den Weibchen
(unter den polygamiſchen Thieren) fern
bleiben, wie kommt es, daß immer mehr
Männchen als Weibchen geboren werden?
Dieſe Schwierigkeiten, welche der ge—
ſchlechtlichen Zuchtwahl-Theorie entgegen—
ſtehen, dürften den denkenden Darwinianer
wohl zu weiteren Forſchungen anregen, um
auch den Schleier dieſer Naturerſcheinungen
zu lüften. Dr. Mantegazza hat ſelbſt
einen Verſuch zur Erklärung einiger der
von ihm angeführten, in die Darwin'ſche
ſexuelle Selektionstheorie nicht hineinpaſſenden
Thatſachen gemacht. Es ſcheint ihm ein—
facher zu ſein, die geſchlechtliche Charakter—
verſchiedenheit durch die ſpecielle Natur der
ſpermatiſchen Abſonderung (Secretion) zu
erklären, welche bei ihrer Erſcheinung zur
Pubertätszeit durch die Reabſorption alle
Gewebe durchdringt, deren Ernährung be—
deutſam modificirt und dadurch neue For—
men, neue Farben, neue anatomiſche und
phyſiologiſche Charaktere zum Vorſchein
bringt.
Bei den unmannbaren Thieren gleichen
ſich Männchen und Weibchen oft ſo ſehr,
daß deren Unterſcheidung ſchwer fällt, wie
auch das Alter oft die ſecundären ſexuellen
Charaktere verſchwinden oder wenigſtens
undeutlicher werden läßt. Auch die Ver—
ſchneidung (Caſtration) verhindert beim
Männchen die Entwickelung jener Charak—
tere, die es von ſeiner Gefährtin ſo ſehr
verſchieden macht. Andrerſeits erſcheint bei
“
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
vielen Thieren das Hochzeitskleid nur zur
Liebes- oder Brunſtepoche, alſo gleich—
zeitig mit der Abſonderung des Sperma
oder des Eies und mit ihr verſchwindet es
auch wieder. Die Barthaare erſcheinen auf
dem Kinn des mannbaren Menſchen, die
Sporen entwickeln ſich ſtärker auf den
Beinen des Hahns; Hörner, Farben, Ge—
ſang, Gewebe und Funktionen modificiren
ſich, ſobald der Teſtikel in Thätigkeit tritt
und der abſorbirte Theil der Samenfeuch—
tigkeit eine neue ſtarke Aktion auf die Er—
nährung der hiſtologiſchen Elemente aus—
übt. Wenn bei den Ameiſen und Bienen
und bei ſo vielen anderen Inſekten ein
verſchiedener Nahrungsſtoff genügt, das
Geſchlecht einer Larve zu ändern, wenn
eine amerikaniſche Weide (Salix humilis)
in Folge des Stiches von zehn verſchiede—
nen Inſekten zehn diverſe Gallen erzeugt,
warum ſoll dann nicht eine ſo potente
Feuchtigkeit, wie der Same, die Ernähr—
ung der dadurch beeinflußten Gewebe mo—
dificiren, warum nicht auch die Seeretion
des Eierſtockes den Organismus des Weib—
chens verändern und ſo ſecundäre ſexuelle
Charaktere produciren? Bei den polyga—
miſchen Thieren müſſen die geſchlechtlichen
Unterſchiede tiefer ſein, denn da das Männ—
chen viele Weibchen zu befruchten hat, jo
muß auch die ſpermatiſche Abſonderung um
ſo ſtärker und lebhafter vor ſich gehen und
den ganzen Organismus durchdringen.
Freilich genügt in vielen Fällen die
natürliche Zuchtwahl zur Erklärung der
Unterſchiede in Farben und Formen, be—
ſonders bei den Schmetterlingen und bei
den Vögeln, die ihre Eier im offenen
Felde brüten; doch ſind dies ſecundäre,
nebenſächliche Gründe, die nur einige That—
ſachen ſexueller Differenzirung erklären. Die
Haupturſache iſt nach Dr. Mantegazza
Kosmos, Band III. Heft 3.
die ſpermatiſche Secretion, die nothwen—
diger Weiſe die verſchiedenſten ſecundären
ſexuellen Charaktere nach ſich zieht, welche
letztere ſich dagegen nicht entwickeln oder
kaum angedeutet werden, wenn man
durch Amputation der Teſtikeln vor der
Pubertät verhindert, daß der Same ſich
entwickklle und folglich den Organismus
gründlich modificire. Wäre dem nicht ſo,
weshalb ſollten dann nicht die von ſo vielen
Generationen durch geſchlechtliche Zuchtwahl
in einem Individuum angehäuften Keime
auch nach der Verſchneidung (Ca—
ſtration) im Männchen erſcheinen? Wenn
dieſe Theorie auch immer nur eine Hypo—
theſe iſt, ſo ſcheint ſie doch den phyſiolo—
giſchen Geſetzen der Ernährung des Orga—
nismus angemeſſen und kann auch auf expe—
rimentellem Wege unterſucht werden.
Florenz. 3. E Zilliken⸗
De Maillet's
Phantaſien über die Umwandlung
der Arten.
in Lothringen, (an welchem Orte, habe ich
nicht in Erfahrung bringen können) geboren.
In ſeiner Jugend lag er eifrig dem Studium
alles Wiſſenswerthen ob: Seine Schriften ver—
zum Generalconſul von Aegypten ernannt,
benutzte er ſeine Mußeſtunden, um ſich in
ſeiner Art naturgeſchichtlich zu bethätigen
und in ſeinem exaltirten Kopfe die wunder—
lichen Hirngeſpinſte auszubrüten, mit denen
wir uns im „Kosmos“ gar nicht beſchäf—
tigen dürften, wären ſie nicht von einigem
hiſtoriſchen Intereſſe und wären ſie nicht
mit den Lehren eines Lamarck zuſammen—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
geſtellt worden. Im Jahre 1709 über—
nahm Maillet das Conſulat von Livorno,
1715 machte er im Auftrage der franzö—
ſiſchen Regierung eine Reiſe nach den Han—
delsplätzen der Barbarei und der Levante
und zog ſich nachher mit einer anſehnlichen
Penſion ins Privatleben zurück. Er ſtarb
im Jahre 1738 in Marſeille.
Zwei kleinere Abhandlungen De
Maillet's über Aegypten und Aethio—
pien ſind mir nicht zu Geſicht gekommen.
Vor mir liegt fein bekanntes Buch: „Tellia-
med ou Entretiens d'un philosophe in-
dien avec un missionaire frangais sur
la diminution de la mer“, neue Auflage,
2 Bände, 1755, in welchem er unter dem
Namen Telliamed (Buchſtabeninverſion
von De Maillet) als indiſcher Philoſoph
ſein Syſtem darlegt. Die Schrift iſt nie
zu Lebzeiten De Maillet's erſchienen,
ſondern nach ſeinem Tode von einem Un—
genannten in, wie dieſer ſelbſt ſagt, umge—
arbeiteter Form herausgegeben worden.
Von vorn herein iſt es charakteriſtiſch,
daß De Maillet ſein Buch einem ge—
wiſſen Cyrano de Bergerac, Ver—
faſſer von Reiſen auf Sonne und Mond,
Benoit de Maillet wurde 1659
widmet und ſich, mit Recht, „den ſehr treuen
Nachahmer“ dieſes „närriſchen“ Menſchen
nennt. Ueber die Vergangenheit der Erde
phantaſirt er nämlich ganz ebenſo, wie jener
über Zuſtände auf Sonne und Mond.
rathen große Gelehrſamkeit. Im Jahre 1692
Die Verſteinerungen ſind es, die die
volle Aufmerkſamkeit Maillet's in erſter
Linie auf ſich ziehen. Was bedeuten ſie;
wie ſind ſie zu Stande gekommen; wo fin—
den ſie ſich; was lehren ſie uns? Sind
ſie wirklich blos Figurenſteine, Naturſpiele,
Produkte kindlicher Beluſtigungen des Schöp—
fers, ſeine eigenen lebenden Geſchöpfe auch
in Stein nachzubilden? Oder ſind ſie etwa,
wie Langy in Luzern (es iſt wohl
Nikolas Lang gemeint) glaubt, da—
durch entſtanden, daß von Organismen ſich
Keime in irgend einer Weiſe loslöſten, in
die Luft gelangten, durch Poren in das
Innere der Felſen eindrangen und dem
Material, in welches ſie geriethen, den Im—
puls gaben, ſich zu entſprechenden Verſtei—
nerungen zu geſtalten? Nein, ſo können
die Verſteinerungen nicht entſtanden ſein.
Iſt es nicht von vorn herein wahrſchein—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
wirklich, und zwar alle, unter Waſſer ge—
bildet. Am Boden der Gewäſſer entſtehen
beſtändig Niederſchläge, von den feſten Be—
ſtandtheilen, die das Waſſer an verſchieden
Orten ablöſt, herrührend. Dieſe Nieder—
ſchläge umhüllen die am Grunde des Waſſers
licher, daß ſie wirkliche Ueberreſte von
Thieren und Pflanzen ſind, die an der be—
treffenden Stelle gelebt haben? Wie ſteht
es dann aber mit der Thatſache, daß Ver—
ſteinerungen von Meeresthieren an Orten,
die jetzt gar nicht mehr vom Meere bedeckt
ſind, angetroffen werden, daß fie ſich über
all auf dem Feſtlande, ja auf den höchſten
Bergen vorfinden? Ja, die große Mehrzahl
der Verſteinerung beſteht aus Meevesformen.
Die angezogenen merkwürdigen Ver—
hältniſſe erklären ſich nach Telliamed ganz
leicht und natürlich durch die Annahme, daß
alle Orte, wo ſich Verſteinerungen vorfinden,
früher einmal vom Meere bedeckt geweſen
ſind. Im Anfang war die Erde mit
Waſſer bedeckt und nirgends ragte Feſtland
aus demſelben hervor. Im Schoße des
Urmeeres bildeten ſich allmälig Gebirge,
deren Gipfel durch ein allgemeines Zurück—
ſinken des Waſſers nach und nach frei wurden.
Im Verlaufe vieler Jahrtauſende hat das
beſtändige Abnehmen des Meeres den ge—
genwärtigen Zuſtand der Erde herbeige—
führt. Dieſe Abnahme geſchieht auch heute
noch und unſere ausgedehnten Meere werden
über kurz oder lang kleinere Binnenwaſſer—
becken bilden. Dies der kurze Sinn der
langen Rede Telliamed's. Auf die
phantaſtiſche Begründung dieſer Anſicht kön—
nen wir nicht eingehen.
Die Verſteinerungen haben ſich alſo
@
liegenden Ueberreſte von Thieren und Pflan—
zen, ſie erſtarren, nachdem ſie vom Waſſer
verlaſſen. So ſind die Ueberreſte von
Madreporen, Korallen, Auſtern, Röhren
von Röhrenwürmern zu Verſteinerungen
geworden. So haben ſich die durch Fäul—
niß macerirten Gerippe von Fiſchen, Wall—
fiſchen u. |. w. am Boden der Gemwäſſer
verſteinert. Landthiere müſſen irgendwie
ins Waſſer gerathen und ertrunken ſein,
denn neben verſteinerten Waſſerthieren ſind
auch Schlangen und Eidechſen, in einem
Falle ſogar ein mitten in einem Felſen
befindliches Ei mit noch flüſſigem Inhalt
und verſteinerte Federn bekannt geworden.
Man hat die verſteinerten Skelette ertrun—
kener, rieſenhafter Menſchen gefunden und
verſteinerte Schiffe mit Rudern, Ankern
u. ſ. w. (doch hat man dieſe nur aus der
Ferne geſehen), die offenbar im Urmeere
Schiffbruch gelitten.
Es erzählen uns alte Ueberlieferungen,
alte Aufzeichnungen, hauptſächlich die hei—
lige Schrift, von einer allgemeinen Sünd—
fluth, die in kurzer Zeit die Spitzen der
höchſten Berge erreichend und in kurzer
Zeit wieder! zurücktretend alles Lebende
zu Grunde richtete. Können die Ver—
ſteinerungen nicht von einer ſolchen allge—
meinen Sündfluth herrühren? Doch nein,
es herrſcht Ordnung in der Lage und
Vertheilung der Foſſilien, es herrſcht
Ordnung in der Struktur der ſie einſchlie—
ßenden Schichten. Ueberdies iſt eine allge—
meine Sündfluth mit der darauf ſchwim—
menden Arche Noah überhaupt ein Unſinn.
— — — — —
— — = — =
260
Woher kamen denn die Waſſer jo ſchnell und
wohin liefen ſie ſo raſch ab? Wie konnten die
Fiſche und andere Waſſerthiere zu Grunde
gerichtet werden, da ſie ſich ja ſtets in
ihrem Elemente befanden? Wie konnte
Noah von allen Arten, auch den in ganz
entfernten Ländern lebenden, je ein Pärchen
in ſeine Arche aufnehmen? Zugegeben,
daß er ſogar Raum für Elephanten, Rhi—
noceros, Kamele u. ſ. w. in ſeiner Arche
hatte, ſo ſcheint es doch ſonderbar, daß er
alle ſehr kleinen, faſt unſichtbaren Organis-
men zuſammenbrachte und insbeſondere die
ſo ſehr läſtigen Wanzen, Flöhe, Läuſe und
Milben in der Arche cultivirte. Kurz,
die ganze Geſchichte von der allgemeinen
Sündfluth und der Arche Noah erſcheint
Telliamed durchaus nicht plauſibel und
er führt ſie auf locale Ueberſchwemmungen
zurück.
Im Anfange, als noch die ganze Erd—
oberfläche von den Waſſern bedeckt war,
exiſtirten nur ſehr wenige Waſſerthiere und
Waſſerpflanzen. Dieſe ſelbſt entſtanden
höchſt wahrſcheinlich aus Keimen, die von
anderen Himmelskörpern auf unſere Erde
gelangt waren leine Anſicht, die ja neuer—
dings wieder geltend gemacht wird). Wie
aber find nachher aus den Waſſerorganis—
men Landorganismen entſtanden? Die
Antwort iſt leicht! Das Waſſer iſt ja
nur condenſirte Luft und die Luft ver—
dünntes Waſſer! Ferner: haben wir nicht
im Waſſer die Analoga aller auf dem
Lande lebenden Weſen? Finden ſich nicht
im Meere Kräuter, Sträucher, Bäume;
giebt es da nicht z. B. Meeräpfel, Meer—
birnen, Meerroſen? Ja, Telliamed hat
ſogar eigenhändig eine Traube aus dem
Meere gezogen und er überzeugte ſich, daß
eine Beere daran reif und ſchmackhaft
war! In Bezug auf die Thiere findet
in der Luft.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Von
ganz die nämliche Analogie ſtatt.
den Waſſerthieren kriechen und gehen die
einen auf dem Boden des Meeres: ſie ent
ſprechen denjenigen Formen, welche auf dem
Feſtlande umherlaufen; die anderen, wie
die Fiſche, fliegen im Waſſer, wie die Vögel
Ja ſogar ganz im Einzel—
nen finden ſich alle Analogien in Farbe,
Geſtalt, Art der Lebensweiſe, z. B. zwi—
ſchen Fiſchen und Vögeln. In Anbetracht
dieſer Fülle allgemein bekannter und aner—
kannter Thatſachen erſcheint es für jeden
vorurtheilsloſen, vernünftig denkenden Men—
ſchen ſelbſtverſtändlich, daß ſich beim Sin—
ken des Urmeeres und Freiwerden des
Feſtlandes diejenigen Formen, die allmälig
an die Luft geſetzt wurden, an das neue
Medium gewöhnten. Waren es auch nur
wenige unter Tauſenden, ſo konnten doch
dieſe wenigen ihr raſch umgewandeltes Ge—
ſchlecht durch Fortpflanzung vermehren und
ausbreiten. Daß der Uebergang von der
Luftathmung im Waſſer zur Luftathmung
auf dem Lande ſehr wohl möglich iſt, lehren
uns ja die Amphibien, denen es ganz gleich—
gültig iſt, ob ſie auf dem Lande oder im
Waſſer leben.
Laſſen wir Telliamed in einer ſeiner
Ausführungen ſelbſt reden: „Es konnte
vorkommen und es kommt ja, wie wir
wiſſen, ziemlich oft vor, daß beflügelte und
fliegende Fiſche beim Jagen oder beim Ver—
folgtwerden, aus Raubluſt oder Todesfurcht,
vielleicht auch durch Wellen an das Ufer.
geworfen, ins Schilfdickicht oder auf Raſen
fielen, von wo ſie nicht mehr ins Meer
zurückgelangen konnten. In dieſem Falle
erlangten ſie vielleicht ein größeres Flug—
vermögen. Ihre nicht mehr vom Waſſer
gebadeten Floſſen ſpalteten und krümmten
ſich in Folge der Trockenheit. Während
ſie an ihrem neuen Wohnorte einige Nahr—
ungsmittel zum Unterhalte vorfanden, ver—
längerten ſich die von einander losgelöſten
Strahlen ihrer Floſſen, bekleideten ſich mit
Bärten, oder richtiger geſprochen, es ver—
wandelten ſich die Häute, welche ſie vorher
mit einander verbanden. Der von dieſen
zerriſſenen Häutchen gebildete Bart wurde
größer; die Haut bedeckte ſich unmerklich
mit Flaum von derſelben Farbe, die ſie
ſelbſt hatte; der Flaum wurde entwickelter.
Die kleinen Floſſenfedern am Bauche, die zu
gleicher Zeit mit den anderen Schwimm—
floſſen die Ortsbewegung der betreffenden
Fiſche im Waſſer vermittelten, wurden
Beine und dienten zum Gehen auf dem
Lande. Andere kleine Veränderungen in
der Geſtalt gingen Hand in Hand. Schnabel
und Hals verlängerten ſich bei den einen,
bei den anderen verkürzten ſie ſich; ähnliches
geſchah mit dem übrigen Körper. Im
Ganzen aber blieb Uebereinſtimmung mit
Anm. der Red. Unſer geehrter Mit—
arbeiter ſcheint uns hier doch den Telliamed
nicht nach Verdienſt zu würdigen. Es darf
nicht vergeſſen werden, daß in der langen
Nacht von Lucrez bis auf Goethe dieſe
Traumphantaſie denn doch die erſten Ahnun—
gen der Entwickelung höherer organiſcher For—
men aus niederen brachte. Wie tief ſtand
der in den Naturwiſſenſchaften ſonſt ſo wohl
erfahrene Voltaire unter Maillet, als er
deſſen Anſichten von dem ehemaligen Leben
der verſteinerten Thiere beſpöttelte, und allen
Ernſtes behauptete, die verſteinerten Muſcheln
und Ammonshörner der Gebirge ſeien von
darüber ziehenden Pilgern verloren worden;
ja noch in unſerm Jahrhundert gab es Leute,
welche die Verſteinerungen für alles Andere
eher als für die Reſte lebendiger Thiere hal-
ten wollten. De Maillet eilte ſeiner Zeit
weit voraus, und im Uebrigen hat er ja ſeine
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 261 |
der erſten Form; auch iſt und bleibt fie
(die Uebereinſtimmung) immer leicht er—
kenntlich.“
Auch des Menſchen Urſprung iſt nicht
verſchieden von demjenigen der Landthiere
und Landpflanzen. Wie dieſe aus ent—
ſprechenden Waſſerformen hervorgingen, ſo
entſtand der Menſch aus Waſſermenſchen.
Solche Waſſermenſchen exiſtiren wirklich;
zahlreiche Beobachtungen beweiſen es un—
zweifelhaft; aufgenommene ausführliche Pro—
tocolle erhärten die Beobachtungen. Ja,
wir finden alle Stufen: Waſſermenſchen,
deren Hinter- oder Unterleib in einen mit
Schuppen bedeckten Fiſchſchwanz endigt;
Waſſermenſchen von unſerer Form, aber
mit Schwimmhäuten zwiſchen Fingern und
Zehen u. ſ. w.
So die Umwandlung der Arten nach
De Maillet!
Bern.
Dr. Arn. Lang.
Meinungen im Gewande einer Phantaſie vor—
getragen, ſo daß uns ihre romanhafte Faſſung
nicht überraſchen kann. Die oben erwähnten
„Reiſen in den Staaten der Sonne und des
Mondes“ von C. de Bergerac gehören
trotz ihrer phantaſtiſchen Geſtalt zu den aus—
gezeichnetſten Werken der älteren franzöſiſchen
Literatur. Der Verfaſſer, ein Schüler Gaſ—
ſendi's, hat mit ebenſo viel Geiſt als Witz
die Thorheiten der irdiſchen Philoſophie in
dieſen Reiſen gegeißelt, und auf die Inquiſi—
tion, welche Galilei zum Widerruf zwang,
iſt nie eine köſtlichere Perſiflage gemacht wor—
den, als jene Epiſode der Mondreiſe, in
welcher die Mondbewohner den ſie beſuchen—
den Erdenbürger zwingen, ſeine Behauptung,
die Erde ſei eine bewohnte Welt, um die
ſich der Mond drehe, öffentlich zu widerrufen.
Bergerac's Werke verdienen noch heute
geleſen zu werden. K.
——H—k — 2 — —v —hZͥ —
Neal
Fiteratur und Kritik.
„An’est ce que la matière?“
ieſe difficile Frage richtete, wie be—
kannt, einſt der tapfere Korſe an einen
9 der von ihm jo verachteten „Deutſchen
Ideologen“, an Jacobi, und als
dieſer im Moment keine Antwort zu
finden wußte, wandte ihm Napoleon ohne
Weiteres verächtlich den Rücken zu.
Verhalten des großen Tyrannen wie das
des Philoſophen in dieſem Falle ſticht
merklich ab von dem Verfahren jenes
indiſchen Despoten und ſeines Aſtrologen,
zwiſchen denen, wie erzählt wird, einſt die
Frage nach dem wahren Weſen Gottes zur
Sprache kam.
bat ſich eine Bedenkzeit aus, welche er ſich
ſtets verlängern ließ, und der Despot war
klug genug, das Schweigen auch als eine
Antwort zu nehmen.
Muß ſich auch die Philoſophie die Be—
denkzeit für jene Frage in infinitum ver-
Erkenntnißkraft
Schall das Begreifen erzeuge.
längern laſſen? — Eine Antwort hierauf
ſuchen wir in der vor uns liegenden Schrift
von Johannes Huber, „Die Forſch—
ung nach der Materie.“ München,
1877, Ackermann. — Sehen wir, welchen
Aufſchluß ſie uns über dieſe
geben vermag. Wichtig genug iſt dieſe; um—
faßt doch dieſe Frage Napoleons an Jacobi,
das Ding trägt,
|
nebſt der andern Frage des Pilatus an
Chriſtus — „Was iſt Wahrheit?“ — faſt
Alles, was wir zu wiſſen wünſchen. Auch
die Tyrannen können mehr fragen, als die
Weiſen beantworten können. Doch was
will jene Frage? Fragen wir erſt die
Frage, was ſie denn frage?
Was wollen wir wiſſen, wenn wir
fragen: Was iſt die Materie? Wenn
Das
das Kind bei dem Anblick eines ihm. bis
dahin unbekannten Weſens oder Dinges
fragt: was iſt das? und wir antworten
ihm mit einem beliebigen Namen, den
ſo beruhigt es ſich wohl
dabei — auf kurze Zeit. Wir ſagten ihm
vielleicht, der von ihm ſinnlich empfundene
Der gefragte Sternfundige |
Gegenſtand, der ihm die verwunderte Frage
erpreßte, was er denn ſei? ſei ein Hund,
oder eine Roſe, oder ein Schiff. Das
Kind beruhigt ſich dabei, und wie das
Kind, ſo beruhigte ſich die Menſchheit und
beruhigen ſich noch heute Tauſende bei dem
Namen, als ob ihm eine verborgene
innewohne, als ob der
Aber all-
mälig erwacht das Bewußtſein, daß der
Name nur ein Symbol iſt für die Sache,
eine Münze mit verſchwindend geringem
Frage zu
ſetzung klar iſt,
Erkenntnißwerth, der nur noch da vorhan—
den iſt, wo der Etymologie die Zuſammen—
ein Wort, das nur der
Fr
Erinnerung, nicht der Erkenntniß dient.
Da erwacht die quälende Frage von Neuem:
Was iſt das? Was iſt „Hund“, „Roſe“,
„Schiff“? Und die Gefragten befinden ſich
oft in nicht geringer Verlegenheit, wie ſie
dem fragenden Kinde begreiflich machen
ſollen, was denn der Gegenſtand ſei. Denn
wenn ſie auch ſo hochgebildet ſind, um etwa
Abſtracta, wie Pflanze, Thier, Gegenſtand
zu gebrauchen, wie iſt damit dem gedient, dem
dieſe Abſtracta zuletzt ſelbſt wieder Räthſel
ſind? Dann muß oft ein Gleichniß,
ein Bild, ein charakteriſtiſches Attribut
dazu dienen, um die Neugierde zu be—
friedigen. Aber auch das Attribut iſt ein
allgemeinerer Begriff oder eine allgemeinere
Anſchauung, die dem fragenden Subjekte
ſchon bekannt ſein muß; und ſo, ſehen wir,
bleiben zwei Arten von Antworten übrig
auf die Frage: man bringt das Unbekannte,
was zur Frage reizt, entweder unter einen
höheren Allgemeinbegriff, oder man ver—
gleicht es mit einem anderen bekannten
Dinge. Und ſehen wir genauer zu, ſo
ſind dieſe beiden Arten Antworten einer
und derſelben Gattung. Denn da auch der
Allgemeinbegriff eine Sammlung von Ueber—
einſtimmungen, von Gleichförmigkeiten der
Beſchaffenheit iſt, ſo iſt das Begreifen durch
ihn auf daſſelbe Princip baſirt wie das
Begreifen durch Analoges, Aehnliches —
auf die Gleichheit. All unſer Begreifen
iſt ein Zuſammenfaſſen von Gleichheiten;
begriffen iſt oder ſcheint etwas, wenn es
mit einem anderen, uns faktiſch oder nur
ſcheinbar mehr Bekanntem gleich geſetzt iſt.
Wenden wir das Geſagte auf unſeren
vorliegenden Fall an, indem wir alſo fragen:
„Was iſt die Materie?“ ſo kann unſere
Abſicht ebenfalls nur dahin gehen, etwas
zu finden, wodurch wir die Materie zu
begreifen vermögen, alſo eine Vorſtell—
Literatur und Kritik.
ung, mit der wir das gleichſetzen können,
was wir Materie nennen. Nur wenn es
uns möglich iſt, ein ſolches Etwas zu fin—
den, kann die Materie als begriffen gelten.
Denn wir fragen ja nicht „wie iſt die
Materie“, d. h. wir fragen nicht nach ihren
Beſchaffenheiten, ſondern wir fragen, „was
iſt fie”? d. h. was für einer Art der
Dinge, welcher Klaſſe von Gleichförmig—
keiten des Seins iſt ſie zuzuzählen?
Hier iſt nun aber darauf aufmerkſam
zu machen, daß dieſer Proceß begrifflicher
Reduktion ſeine Grenzen hat, an denen jeder
weitere Reduktionsverſuch ſcheitert; d. h. das
Begreifen muß ein Ende haben, weil wir
die letzten Gleichförmigkeiten, zu denen wir
gelangen, nicht weiter auf andere reduciren,
können. Selbſt wenn es uns gelänge, alle
Dinge auf ein letztes Element zu reduciren,
ſo müßte ja eben dieſes ſelbſt unbe—
greiflich ſein, weil es nicht mehr unter
einen höheren Begriff ſubſummirt werden
kann. Es könnte uns wohl begreifbar er—
ſcheinen, wenn nämlich dieſes letzte Ele—
ment uns das bekannteſte wäre, was in
unſere Erfahrung tritt, aber dieſer Schein
darf nicht über die Thatſache hinwegtäuſchen,
daß dieſes Element zwar wohl wißbar
aber eben doch faktiſch unbegreiflich iſt.
Gehen wir mit dieſen methodologiſchen
Principien an die genannte Schrift und
ſſehen wir, wie weit fie uns mit dem Be—
greifen der Materie führt. Sie zerfällt
in eine Einleitung, in einen erkenntniß—
theoretiſchen und in einen metaphyſiſchen
Theil. Jene Einleitung ſtellt das Problem
und theilt die hiſtoriſchen Notizen mit; der
erkenntnißtheoretiſche Theil behandelt im
Allgemeinen die Frage: ob die Materie
ſei; der metaphyſiſche Theil: was dieſelbe
ſei? Durch die ganze Schrift aber zieht
fi) bald mehr oder minder offen die Po-
263 5
)
264
lemik gegen den Materialismus und damit
natürlich die Frage: Kann man die Ma—
terie zum Weltprincip erheben, wie man
mit den Idealiſten den Geiſt oder den
Willen oder gar nach neueſter Verſion
die Phantaſie zum Weltgrund zu
machen beſtrebt iſt? Und das iſt eben
die Frage, ob man die Phänomene, deren
Complex die Welt ausmacht, aus dem ma—
teriellen Element als alleinigem Princip ab—
leiten könne? Neuerdings hat ſich nun
aber bei der Unmöglichkeit dieſer Ableitung
die Theorie der Seelenhaftigkeit
der Materie wieder erhoben, alſo eine
neue Auflage des Hylozoismus. Wir freuen
uns, auch den ſcharfſinnigen Kritiker, der
die genannte Schrift uns vorlegt, auf die—
ſem Wege zu ſehen, und ſchöpfen daraus
die Hoffnung, daß die Kluft, welche die
ſogen. moniſtiſche Anſchauung von den An—
hängern des alten Idealismus noch ſcheidet,
immer mehr ausgefüllt werde, wozu ja
durch Fechner, Lange, Wundt u. A.
ſchon der beſte Anfang gemacht iſt. Es
ſind zwei Wege, auf denen man zu dieſem
Reſultat gelangt, einmal der erkenntniß—
theoretiſche Weg, durch den wir zu
dem Ergebniß geführt werden, daß die Ma—
terialität ein phänomenales Daſein beſitzt,
und nichts als eine ſubjektive Form iſt, in
der unſere Senſationen von uns aufgefaßt
werden. Wir haben ja zunächſt nur Sen—
ſationen, und es iſt eine bloße Hypoſtaſirung
unſerer Empfindungszuſtände, wenn wir
dieſelben loslöſen von dem Boden unſerer
Subjectivität und als caput mortuum des
Bewußtſeins ſtehen laſſen. Es iſt gleich—
ſam eine unnatürliche Zerſetzung unſerer
Empfindungen, wenn wir ſie von der
Nabelſchnur, mit der ſie an unſer Bewußt—
ſein, als ihren Geburtsort, geknüpft ſind,
| losreißen und auf ſich ſelbſt ftellen. Gehen
Literatur und Kritik.
wir vom menſchlichen Bewußtſein aus, fo
löſt ſich die Welt in Senſationen, in ein
Spiel von Empfindungen und Empfindungs—
verhältniſſen auf. Huber hat dieſe er—
kenntnißtheoretiſche Analyſe ſehr ſcharfſinnig
an allen Vorſtellungen durchgeführt, welche
mit dem Begriffe der Materie enger zu—
ſammenhängen, an Raum, Zeit, Kraft
und Bewegung. Unſere ganze Vorſtell—
ungswelt entſteht nur aus umgeprägten
Senſationen. Huber kommt hier mannig-
fach ſelbſtſtändig auf dieſelben Reſultate,
welche durch Mill's Examination of
Sir Hamilton's Philosophy neuerdings
die Hume 'ſche Gedankenwelt wieder zu
Ehren bringen. Dieſen Empfindungen ent—
ſprechen nun nach Huber objektive Kraft-
bewegungen, Aktionen von immateriellen
Kraftcentren, welche eben die von unſerer
Auffaſſung unabhängige Welt der Dinge
darſtellen. So kommen wir denn alſo zu
der Vorſtellung, daß die Welt aus Kraft—
ſtrömungen, Kraftbeziehungen be—
ſtehe, die wir uns ſowohl aus erfenntniß-
theoretiſchen Gründen, als nach dem
Princip der Analogie als weſensverwandt
mit dem Pſychiſchen denken müſſen, und
der Grund, den Huber in Uebereinſtimm—
ung mit den Naturforſchern dafür geltend
macht, iſt die Nothwendigkeit, den elemen—
taren Proceſſen pſychiſche Werthe, wenn auch
von noch ſo geringer Intenſität, zuzuſchreiben,
weil ſonſt das Auftreten der pſpchiſchen
Phänomene bei den höheren Organismen
ohne zureichenden Grund wäre. Wenn
uns nun alſo auch nach dem Geſetz der
Erhaltung der Kraft eine Umwandlung
oder Transformation chemiſcher, elektriſcher,
alſo phſiſcher Kräfte im Organismus in pſy—
chiſche Phänomene vorzugehen ſcheint, ſo iſt
dies eben nur ein trüglicher Schein, da
nach dieſer Anſchauung ſämmtliche phyſiſche
Proceſſe von pſychiſchen Vorgängen begleitet
und geleitet wären. Es findet in dem
Nervenſyſtem immer nur eine Transforma—
tion in phyſiſche Proceſſe ſtatt, nicht direkt
in pſychiſche, und die letzteren Phänomene
träten dann alſo nur im menſchlichen Ge
hirn ſtärker auf, als in den übrigen Atom-
complexen.
keine faßbare Formel für das Verhältniß
des Phyſiſchen und Pſychiſchen gegeben, und
zunächſt kommen wir über ſolche Unbeſtimmt—
ſeite des Seeliſchen ſei, nicht hinaus. Auch
eine andere Schwierigkeit hat Huber mehr
herausgeſtellt, als gelöſt: auf der einen
Seite wird das Materielle erkenntniß—
theoretiſch als bloße Erſcheinung, als
bloßes Phänomen für unſere Auffaſſung
behandelt, und dann beſtünden überhaupt
nur immaterielle Kräfte, und alle räumli—
chen Phänomene beſtänden nur in unſerer
ſub jectiven Vorſtellung; auf der an—
dern Seite wird das Materielle im meta—
phyſiſchen Sinne als Erſcheinung eines
hinter ihm wirkenden Immateriellen vorge—
ſtellt, oder als unaufhörlicher Begleiter des—
ſelben, aber eine von unſerer Auf—
faſſung unabhängige räumliche
Wirklichkeit beſitzend. Hierin beſteht ja
die enorme Schwierigkeit, die der ſpinozi—
ſtiſchen, auch von Huber mit Scharfſinn
und Eleganz vertretenen Anſicht gegen—
überſteht: Das Materielle, das nach dieſer
Anſicht die Kehrſeite des Geiſtigen iſt,
oder nach einem Ausdruck Fechner's:
das ſich zum Geiſtigen verhält wie
das Concave zum Convexen an derſelben
Curve, — daſſelbe Materielle, das alſo
hier als unabhängige Wirklichkeit gefaßt
wird, wird doch andererſeits wieder zur
bloßen phänomenalen Exiſtenz herabgedrückt,
wie die ſecundären Eigenſchaften Farbe,
Freilich hat uns auch Huber
Literatur und Kritik.
265
Ton u. ſ. w. Dieſe Schwierigkeit, welche
ja bekanntermaßen ſchon bei Spinoza
ſelbſt hervortritt, iſt durch die neueſte Phaſe
dieſer Frage, die durch die Conſtatirung
des Geſetzes der Erhaltung der Kraft ge—
kennzeichnet iſt, nur verſchärft worden. Dies
iſt der Punkt, auf den alle Unterſuchungen
zu richten ſind, wie ſich die Materie als
Erſcheinung im erkenntnißtheo—
retiſchen Sinn (d. h. als unſere Sen—
ſation) zu der Materie als Erſcheinung
heiten, wie daß die Materie die Außen-
im metaphyſiſchen Sinn (d. h. als
Außenſeite des Seeliſchen) verhalte. Huber
huldigt hier einem erkenntniß⸗theoretiſchen
Realismus, der wenigſtens bis auf Weite—
res jedenfalls die natürlichſte und nüchternſte
Anſchauung iſt. Die pſychiſchen Impulſe
der Monaden (oder nach Caspari Syn—
aden) vollziehen ſich in wirklichen räum—
lichen Bewegungen, die auch unabhängig
von unſerer Vorſtellung ſtattfinden. Da—
gegen, gegen eine ſolche Verabſolutirung,
d. h. Loslöſung der Raumvorſtellung von
einem vorſtellenden Subjekt und Verſelbſt—
ſtändigung des Raumes, erhebt freilich die
Erkenntnißtheorie ganz gewichtige Bedenken,
die ſich auch Huber durchaus nicht ver—
hehlte, und an anderen Stellen will er
nur die relative Wirklichkeit des Raumes
und damit des Materiellen anerkennen, d. h.
denſelben nur eine Wirklichkeit zugeſtehen,
ſo lange ſie das Correlat zum vorſtellenden
Subjekt bilden. Wer wird ſchließlich uns
aus dieſem labyrinthiſchen Cirkel heraus-
helfen? Einerſeits bilden wir uns die
Vorſtellung der vom Subjekt unabhängigen
Dinge, die wir ſchlechterdings nicht anders
als im Raume exiſtirend uns denken kön—
nen; und andererſeits ſchrumpft dieſe Raum—
vorſtellung ſammt ihrem ganzen materiellen
Inhalt zu einer bloßen Funktion des Sub—
jekts zuſammen. Dieſe Antinomie, deren
Kosmos, Band III. Heft 3.
266
Literatur und Kritik.
Stachel niemals ſo bitter gefühlt wurde, terie als eines ſtarren, lebloſen Etwas, das
als gerade jetzt, wird nun verſchärft durch
die rein objektive Betrachtung des Seien-
den; denken wir uns mit Huber das
Seiende als exiſtirend in zwei Formen, der
der Innerlichkeit und der der Aeußerlich—
keit, ſo bleibt auch hier die Frage, wie
denn dieſe beiden Formen zuſammenhängen?
Auf der einen Seite wird das Pſpychiſche,
auf der anderen das Phyſiſche als das
Primitive, Beſtimmende gedacht; und außer—
dem iſt die Verdoppelung der Welt durch
dieſe Vorſtellung doch ein bedenklicher Ge—
danke. Denn weder der Gedanke, daß
dieſe Dualität eine abſolute, objektive und
von unſerer Vorſtellung unabhängige, noch
der andere, daß dieſelbe auf die Rechnung
unſerer ſubjektiven Vorſtellungsformen zu
ſetzen ſei, läßt ſich widerſpruchslos und
befriedigend durchführen. Wir geben aber
zu, daß die Huber'ſche Vorſtellung für
unſere heutige Erkenntnißſtufe diejenige iſt,
die die meiſte Befriedigung und jedenfalls
einen Ruhepunkt für das Denken gewährt.
Fragen wir nun aber, wie die Beant-
wortung des Problems: was iſt die Ma—
terie? ausgefallen ſei, und vergleichen wir
dieſe mit den obigen methodologiſchen Prin—
cipien, ſo ergiebt ſich, daß das Begreifen
deſſen, was wir Materie nennen, nicht etwa
durch einen höheren Allgemeinbegriff, unter
den Materie ſubſumirt würde, zu Stande
gebracht werden ſoll, ſondern durch die Re—
duktion auf das beliebte Schema von
Innen und Außen, alſo ſchließlich von
Seele und Leib, von Weſen und Erſchein—
ung, wobei immer noch die Zweideutigkeit
bleibt, ob dieſer Erſcheinung eine außer—
halb des vorſtellenden Subjekts ſelbſtſtän—
dige Exiſtenz zuerkannt wird. Damit wird
nun allerdings, worauf ja die ganze neuere
Philoſophie ausgeht, der Begriff der Ma-
auch außer unſerer Vorſtellung vorhanden
ſein ſoll, überwunden und die Carteſianiſche
Anſchauung definitiv beſeitigt. So ſympa—
thiſch uns nun auch dieſes Ergebniß iſt,
ſo können wir doch Huber's Behauptung,
daß dieſes Reſultat durch ein dem Empfin—
den und der Erfahrung gegenüber ſelbſt—
ſtändiges Denken erreicht ſei, keineswegs
zugeben. Dieſe Vorſtellung des Innen und
Außen iſt eine ſo allgemeine Erfahrungs—
thatſache, daß ſie keineswegs Reſultat eines
„reinen Denkens“ iſt, das ja doch ohne—
dies durch die neuere Philoſophie zum
Mythus geworden iſt. Und wenn Huber
meint, ohne ein ſolches „reines Denken“
wäre die Wiſſenſchaft gar nicht möglich,
wenn dem Empfinden gegenüber nicht ein
ſelbſtſtändiger Begriff wirkſam wäre, ſo iſt
darauf zu erwidern, daß alles Denken nur
ein Formen und Verbinden des Erfahrungs—
inhaltes iſt. Nicht das „reine Denken“
entdeckt die Scheinhaftigkeit der Sonnen—
bewegung oder des gebrochenen Stabes im
Waſſer, ſondern dieſe ſcheinhaften Erfahr—
ungen werden als ſolche erkannt oder eli—
minirt, weil ſie anderen Erfahrungen wider—
ſprechen. Auch das ſogenannte An-ſich der
Materie, die Empfindung, wird nur auf
Grund einer Analogie mit anderen Er—
fahrungen ſtatuirt, weil die gewöhnliche
Vorſtellung eines ſtarren Etwas, das durch
Bewegungsanſtöße aus ſeiner trägen Ruhe
aufgerüttelt wird, mit anderen Erfahrun—
gen nicht übereinſtimmt. Nachdem wir ſo
die materielle Welt auf Bewegungen von
Kraftcentren reducirt haben, ſo bleibt, wenn
wir überhaupt einmal dieſe Thatſachen
„begreifen“ wollen, uns nichts übrig, als
jene Bewegungsgeſetze auf Empfindungs—
geſetze, jene Kraftcentren auf Empfindungs-
centren zu reduciren. Es iſt dann jene
Literatur und Kritik.
Einheit hergeſtellt, die das Ideal aller
moniſtiſchen Tendenz iſt, welche alle Phä—
nomene auf ein Urphänomen zurückführen
will, womit aber noch nicht der Monismus
in jenem anderen Sinne geſetzt iſt, daß
dieſe Kraftmittelpunkte wiederum als Efful- |
gurationen einer abſoluten Weltkraft, oder
als Schöpfungen eines abſoluten Geiſtes
angeſehen werden.
Conſequenz noch zieht, ſo möge mit weni—
gen Worten darauf hingewieſen ſein, daß
der Sprung von der Atomſeele zur Welt—
ſeele, und nun vollends zu einem Weltgeiſt
ein ſehr gewagter und gewaltſamer ift.
Wir halten dieſe ganze Tendenz, das Viele
wieder auf ein Ureins zurückzuführen, für
einen ſchwer zu rechtfertigenden Trieb des
Geiſtes; es iſt vielleicht nur ein Schein des
Begreifens, kein wirkliches Begreifen, das
uns dadurch zu Stande kommt, um ſo mehr,
als ebenſo viele Gründe gegen als für
einen ſolchen abſoluten Weltgeiſt ſprechen.
Auch hier gelangen wir eben auf eine jener
Antinomien, deren einſeitige Löſung kritiſch
Ob es einer ſpätern
nicht erlaubt iſt.
Menſchheitsperiode gelingt, dieſe Antino—
mien zu überwinden, wie es uns gelang,
manche Antinomien des Alterthums, z. B.
über das Weſen der Sprache, zu löſen?
Die Vorſtellung, daß der Menſchengeiſt
die Potenzirung niederer Empfindungs—
ſummanden ſei, die uns den Schein der
Materie erregen, ſo daß alſo die Welt der
Schein iſt, „den eine Welt immaterieller
Energien in uns hervorzaubert“, wird von
Huber in ſcharfſinniger und umſichtiger
Weiſe vertreten; und der Panpſychismus
zählt ja neuerdings viele Anhänger, wie
man dieſe Anſchauung ſtatt Hylozoismus
zu nennen beliebt hat.
Auch Zöllner in der Einleitung zu den
„Principien einer elektrodynamiſchen Theorie
267
der Materie“ hat einen weitern Schritt auf
dieſem Gebiete gethan, zu dem er ſchon in
ſeinem Kometenbuch jo bedeutſame Beiträge
lieferte. Er erklärt die Annahme einer
„inanimate, brute matter“ für ein höl—
zernes Eiſen oder einen kugeligen Würfel.
Ob aber ſeine Behauptung, daß es be—
greiflich ſei, wie beſeelter, leben-
Da Huber auch dieſe
diger Stoff ohne irgend eine ſonſtige
Vermittelung auf einen andern Körper ohne
gegenſeitige Berührung wirken könne, ſtich—
haltig ſei, möchten wir billig bezweifeln.
Wir halten es hierüber lieber mit
Denen, welche die Unbegreiflichkeit
aller dieſer letzten Phänomene behaupten.
Nur wenn man mit Zöllner und Huber
die Einheit des Weltbewußtſeins
annimmt, ließe ſich vielleicht eine ſolche
Begreiflichkeit effektuiren. Aber dieſer An—
nahme einer durch- und übergreifenden Ein—
heit der pſychiſchen Elemente, oder mit an—
deren Worten — eines einheitlichen Welt—
geiſtes, möchten wir nicht ohne Weiteres
beiſtimmen, ſo ſehr wir mit dem Verfaſſer
gegen den Materialismus vulgaris gemein—
ſame Sache machen. Schon die Re—
duktion aller phyſiſchen Phänomene und
Proceſſe auf pſychiſche Werthe und Geſetze,
falls ſie einmal bis ins Detail ausgeführt
und nicht blos als allgemeines Poſtulat
aufgeſtellt wird, iſt ein Reſultat, welches
den gemeinen Materialismus vernichtet.
Die weitere Frage, ob nun eine Einheit
und was für eine in dieſem conſtitutio—
nellen Syſtem pſychiſcher Elemente anzu—
nehmen ſei, iſt eine von den bisher be—
ſprochenen weſentlich zu trennende; wie auch
Huber ſie erſt am Schluſſe und blos
anhangsweiſe behandelt.“) Wer ſich für das
Und gerade auch vom Standpunkt des
Theismus aus, den der Verfaſſer vertritt, in—
dem er in derſelben Weiſe wie neuerdings
ja
268
Einzelne all dieſer Fragen intereſſirt, den
verweiſen wir auf Huber's Schrift ſelbſt,
die wir der Beachtung aller Leſer als einen
anregenden Beitrag zu dem Problem der
Materie empfehlen, deſſen einzelne Seiten
mit Geſchick und Eleganz behandelt ſind.
Insbeſondere iſt die Schrift ſehr dazu ge—
eignet, zu der Klärung und Schlichtung
der auf dieſem Gebiete herrſchenden Con-
troverſen beizutragen und iſt ein erfreuliches
Zeichen einer conciliatoriſchen Geſinnung.
Str. i. E. H, N
Phyſiologie und Descendenztheorie
von E. v. Hartmann.
(2. Auflage. Berlin 1877.)
Von
Dr. G. Seidlitz,
Privatdocent in Königsberg.“)
Werkes, die beſte Kritik der Philoſophie des
Unbewußten enthaltend, 1872 anonym er—
ſchien, war es zunächſt nicht unwahrſcheinlich,
daß E. v. Hartmann ſelbſt der Verfaſſer
fein konnte; *) denn das Ganze machte mehr »falſchen“ Standpunkt der Naturforſcher
geſtellt, um zu zeigen, daß er ihn „voll—
den Eindruck eines Correktivs als einer
vernichtenden Polemik, ſicherte der Philo—
wieder Weismann, die ſchöpferiſche Kraft an
den Anfang der Dinge ſtellt, ſcheint es uns
nicht nur nicht geboten, ſondern ſogar ge—
fährlich, der empiriſchen Welt eine ſolche Ein—
heit zuzuſchreiben, da dann entweder neben
Gott noch ein Weltgeiſt geſetzt wird, oder
jener ganz in dieſem in pantheiſtiſchem Sinne
aufgehen müßte.
Eingeſandt im Oktober 1877.
*) Vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 18.
Literatur und Kritik.
ſophie des Unbewußten in ſchonender Weiſe
eher einen ehrenhaften Rückzug als ſchmach—
vollen Untergang. Der anonyme Autor
entſchuldigte und erklärte ſo natürlich die
Irrthümer und Mängel der Philoſophie
des Unbewußten, verfiel ſogar ſtellenweis
ſelbſt in Ddiefelben,*) ſo daß man unwill—
kürlich an einen Selbſtkritiker denken mußte,
der zu beſſerer Einſicht gelangt, nur noch
mit dem öffentlichen Bekenntniß zögert.
Einen totalen Rückfall konnte man aber
nach einer ſolchen vorzüglichen und ſach—
gemäßen Selbſtkritik nicht erwarten, und
mußte daher den Gedanken, Hartmann
ſei der Anonymus, gänzlich von der Hand
Das Unbewußte vom Standpunkt der
weiſen, als ſpätere Schriften von ihm, na—
mentlich fein „Wahrheit und Irr—
thum des Darwinismus“ deutlich
zeigten, daß er nach wie vor feſt in dem
Sattel feines teleologiſchen Steckenpferdes
ſaß. Die Möglichkeit, daß Jemand im
Stande iſt, ſeine Irrthümer klar und deut—
lich aus einander zu ſetzen, um ſchließlich
doch bei ihnen zu verharren, durfte man
Als die erſte Auflage des vorliegenden
von einem Mann wie Hartmann nicht
vorausſetzen. Jetzt freilich muß man
an dieſe Möglichkeit glauben, da der Autor
in der Vorrede zur zweiten Auflage erklärt,
er habe nur „ſcheinbar“ ſich auf den
kommen beherrſche“. Man wird ſich nun—
mehr der Erwartung nicht ganz zu ver—
ſchließen brauchen, vielleicht künftig einmal
wieder umgekehrt den Standpunkt der Phi—
loſophie des Unbewußten vom Autor als
„falſch“ und als „ſcheinbar eingenommen“
bezeichnet zu ſehen. Es erſcheint dieſe
* Z. B. S. 70 (2. Auf . 870, wo
er von einem „Weltwillen“ und von
einer „metaphyſiſchen Wurzel der
Welt“ ſpricht.
Erwartung um ſo gerechtfertigter, als in
der anonymen Schrift thatſächlich kein Satz
aus der „Philoſophie des Unbewußten“
als falſch bezeichnet wurde, ohne den aus—
führlichen Nachweis, daß und warum
er falſch ſei, während gegenwärtig (in der
Vorrede und den Anmerkungen zur zweiten
Auflage) die unmotivirten Vorausſetzungen
der Philoſophie des Unbewußten bis zur Er—
müdung einfach wiederholt und der Stand—
punkt des Anonymus ſchlechtweg, ohne
jeden Beweis, verworfen wird. So
heißt es z. B. S. 276: „Die Gegenſchrift
ſchießt dadurch über das Ziel hinaus, daß
ſie ſich auf den Standpunkt einer mecha—
niſtiſchen Naturphiloſophie ſtellt, und durch
den Nachweis natürlicher Vermittelungen
die Wirkſamkeit teleologiſcher Principien in
und neben der mechaniſchen Vermittelung
widerlegt zu haben beanſprucht.“ — Daß
dieſer Standpunkt verwerflich ſei,
wird hier einfach als ſelbſtverſtändlich vor—
ausgeſetzt, wahrſcheinlich weil auf den vor—
hergehenden Seiten zum Ueberfluß wieder—
holt wurde, daß die Philoſophie des Un—
bewußten auf einem anderen zu ſtehen
und die Wirkſamkeit teleologiſcher Prin—
cipien hinter und neben den mechaniſchen
zu poſtuliren geruhe. — Zu unſerer
Verwunderung müſſen wir aber S. 260
die Worte leſen: „Wir find noch weit ent-
fernt zu verſtehen, wie alle Naturerſchein—
ungen durch Mechanik der Atome zu erklären
ſeien; daß aber alle nur hieraus
und aus keinen anderen Eigen—
ſchaften der Natur zu erklären
ſeien, iſt als das ſicherſte Nefultat
zu betrachten, deſſen die moderne Natur—
wiſſenſchaft ſich zu rühmen hat.“ — Iſt
das nicht reine mechaniſtiſche Naturphiloſophie?
Wie damals der Anonymus einige Rück—
fälle zu Irrthümern des Unbewußten, ſo |
Literatur und Kritik.
269
ſcheint jetzt die Philoſophie des Unbewußten
an bedenklichen Recidiven zum anonymen
Standpunkt zu leiden. Doch man kann
wie geſagt kaum wiſſen, welcher Stand—
punkt ſich ſchließlich als der allereigentlichſte
des vielgeprüften Autors entpuppen wird.
Für die Sache ſelbſt iſt das übrigens ganz
gleichgültig; denn an der objektiven Wahr:
heit kann Nichts geändert werden, wenn
auch ihr eifrigſter Verfechter noch ſo oft
ſeine Stellung zu ihr ändert oder ſie gar
verläugnet. Daher verliert die Schrift des
Anonymus dadurch Nichts von ihrem Werth,
daß der Autor nachträglich ſein Kind für
illegitim erklärt. Unſer Urtheil,“) daß fie
die beſte philoſophiſche Leiſtung im Sinne
der Selektionstheorie ſei, bleibt unerſchüttert,
und die vereinzelten Irrthümer, auf die
wir ſchon bei der erſten Beſprechung des
Werkes hinwieſen, “) find jetzt naturgemäß
als Rückfälle zu Irrthümern des Unbewußten
erklärlich und um ſo leichter zu entſchuldigen.
Ueber den S. 21— 250 unverändert wieder—
gegebenen Text der erſten Auflage iſt gegen—
wärtig Nichts weiter zu ſagen, dagegen
ſind die Angriffe des unnatürlichen Vaters,
die er S. 253 — 361 hinzugefügt, zurück
zu weiſen.
Wir finden im Ganzen zwölf Vor—
würfe, die wir einzeln unterſuchen wollen,
ob ſie geeignet ſcheinen, den Standpunkt
der Gegenſchrift zu erſchüttern.
1. Der erſte Vorwurf (S. 276) iſt der
ſchon erwähnte, daß der anonyme Autor
auf dem mechaniſtiſchen Standpunkt ſtehe,
während der teleologiſche der allein richtige
ſei. Dieſer Vorwurf kann einfach als
petitio principii zurückgewieſen werden.
) Vergl. meine „Darwin'ſche Theorie“,
2. Aufl. S. 16, 17 u. 21.
%) Vergl. Augsb. Allg. Ztg. 1873. Nr. 1.
Beilage.
U
2. Der zweite Vorwurf (S. 279)
tadelt, daß der anonyme Schriftſteller die
Philoſophie des Unbewußten vom Stand—
punkt der Descendenztheorie anzugreifen
verkündige, in der That aber dieſes vom
Standpunkt der Selektionstheorie thue, und
ſomit nicht nur ſich einer Verwechſelung
ſchuldig, ſondern auch einen ganz „in der
Luft ſchwebenden“ Angriff mache;
denn die Selektionstheorie ſei bekanntlich
von der Philoſophie des Unbewußten ver—
worfen und nur die Descendenztheorie
anerkannt worden. — Alſo weil die Phi—
loſophie des Unbewußten die Selektions—
theorie nicht anerkennen will, iſt jede Kritik
von dieſem Standpunkt aus „in der Luft
ſchwebend?!! — Was aber die „Ver—
wechſelung“ anbelangt, ſo iſt es durch—
aus ſtatthaft die allgemeine Bezeichnung
Descendenztheorie zu wählen, da die Se—
lektionstheorie eine echte Descendenztheorie
und zwar augenblicklich die anerkannteſte
Descendenztheorie iſt, — namentlich iſt
dies ſtatthaft, wenn man den Unterſchied?
zwiſchen dem allgemeineren und dem ſpe—
cielleren Begriff fo genau ſeſtſtellt, wie der
Anonymus es gethan. Und dieſes Ver
fahren nennt Hartmann (S. 280) „eine
für den Standpunkt des Darwinismus
typiſche Confuſion“! Solche
„Confuſionen“, die bei gleichzeitiger ſchar—
fer Begriffsbeſtimmung einen ſpecielleren Be—
griff unter den allgemeineren ſubſummiren,
kann man ſich ruhig als „typisch“ vor—
werfen laſſen. Schlimmer dagegen ſind
die Confuſionen, die man leider nur zu
oft in den Schriften der Gegner entdeckt.
Dieſelben richten ihre Angriffe angeblich
immer gegen die „Darwin'ſche Theorie“
(einer ſogar gegen die „Darwin'ſchen Theo—
rien“). Sieht man aber genauer zu, ſo
wird man bald gewahr, daß ſie die Dar
Literatür und Kritik. |
win'ſche Seleftionstheorie oft nicht einmal
kennen, ſondern gegen irgend eine beliebige
andere Descendenztheorie, im beſten Falle
gegen die Lamarck'ſche Anpaſſungstheorie,
bisweilen aber auch nur gegen ſelbſtge—
ſchaffene (und darum leicht zu bekämpfende)
Windmühlen, polemiſiren. Einige Autoren
ſind hierin ſo hartnäckig, daß ihnen das
Betonen der reinen Darwin'ſchen Lehre
als etwas ganz Neues erſcheint, und
ſie ſich daher das gänzliche Schwinden ihrer
Lieblingsangriffspunkte nicht anders als
durch ein „Einlenken“ oder „Rück—
zug“ des Gegners erklären können. So
macht es z. B. Wigand auf der vor—
letzten Seite ſeines bekannten Werkes,
was in die Sach- und Literaturkenntniß,
der ſein grauſamer dreibändiger Vernicht—
ungskrieg gegen den Darwinismus den
Urſprung verdankt, einen tiefen und einiger—
maßen entſchuldigenden Einblick gewährt.“)
Ein anderes und zwar ein ſehr erfreu—
liches Beiſpiel von Verwechſelung lieferte
jüngſt Prof. Teichmüller in Dorpat.“)
Er unterſuchte nämlich die philoſophiſchen
Principien „des Darwinismus“ und
entdeckte dabei, daß derſelbe „als wiſ—
ſenſchaftliche Theorie für ver—
loren betrachtet werden müſſe.“
— Seinen Ausführungen muß man im
Allgemeinen beiſtimmen; denn erſtens iſt
die von ihm bekämpfte Theorie wirklich
) Dabei muß rühmend anerkannt wer—
den, daß der Autor im 3. Bande ſich alle
Mühe gegeben hat, die Literatur wenigſtens
zum Theil kennen zu lernen. Wenn noch ein
4. und 5. Band in Ausſicht ſtänden, was
leider nicht der Fall zu ſein ſcheint, da der
Autor ſchon im 3. von uns Abſchied nimmt,
ſo würde er ſich vielleicht allmälig noch zur
vollen Beherrſchung des Stoffes aufſchwingen.
) Feſtrede zur Jahresfeier der Univer—
ſität Dorpat. 12. Deebr. 1876.
‚ unhaltbar, — nur iſt nicht recht klar, war-
um man ſie gerade „Darwinismus“
nennen ſoll, — und zweitens verkündet er
S. 90 als Erſatz ſeine Theorie, die
nicht nur eine Descendenztheorie iſt, ſon—
dern auch durch hogiſche Unbeſtreit—
barkeit imponirt. Wir würden nicht
zögern, dieſe vortreffliche Theorie, die wir
natürlich acceptiren, nach ihrem Verkündiger
die Teichmüller'ſche Theorie zu nennen, —
leider ſteht dem aber im Wege, daß ſie
nicht ganz neu, ſondern nur ein wichtiger
Faktor”) aus einer anderen Theorie iſt,
die man bereits voreilig nach ihrem erſten
Urheber die Darwin'ſche genannt hat.
3. Der dritte Vorwurf (S. 282) ſoll
dem Anonymus daraus erwachſen, daß er
S. 24 (2. Aufl.) die „natürliche Zucht—
wahl“ die wirkende Urſache des
Ueberganges genannt habe. Die „Aus—
leſe im Kampf ums Daſein“ ſei aber
niemals causa efficiens, ſondern nur ne—
gative Bedingung, wie ſchon Wigand
durch ſein vortreffliches Gleichniß des Mä—
cenatenthums erläutert habe, und eine mit—
wirkende Bedingung dürfe nicht mit der
poſitiven causa efficiens des Vorganges
verwechſelt werden.
Der Vorwurf wäre ſchlagend, wenn er
die Selektionstheorie irgendwie träfe. Die
Natur ausleſe iſt ganz richtig keine
causa effieiens, ſondern nur die negative
Bedingung des Ueberlebens, welches
die direkte Folge individueller Vor—
theile iſt. Dieſe individuellen Vortheile
ſind dagegen die poſitive causa efficiens
des einmaligen Ueberlebens, und ſind ihrer—
ſeits poſitiv verurſacht durch angeborene
individuelle Variation, die wiederum direkte
Folge ungleicher Vererbung der Merkmale
) Erklärung der angebornen individuellen
Abweichung durch ungleiche Vererbung.
Literatur und Kritik.
iſt. Wer hat denn aber jemals dieſe po—
ſitiven causge efficientes mit den nega—
tiven Bedingungen der Naturausleſe ver—
wechſelt? Der Anonymus nicht, und die
Selektionstheorie auch nicht. In dem an—
gezogenen Ausſpruch, der die „natürliche
Zuchtwahl“ als die „Urſache des Ueber—
ganges“ bezeichnet, iſt nämlich ſelbſtver—
ſtändlich unter „Uebergang“ nicht etwa die
individuelle Variation, ſondern das Reſul—
tat der ganzen Naturzüchtung, alſo die
Ausrüſtung verſtanden, und unter
„natürliche Zuchtwahl“ nicht die einmalige
einfache Naturausleſe, ſondern die ganze
complicirte Natur züchtung,“) mit allen
in ihr enthaltenen Faktoren, von denen
einige als negative Bedingungen, andere
als causae effieientes zu bezeichnen find,
Die Behauptung, daß die Naturausleſe die
individuelle Variation verurſache,
wäre in der That mehr als eine Ver—
wechſelung, ſie wäre ein Nonſens, der aber
dem Anonymus grundloſer Weiſe unter—
ſtellt wird. Wenn Wigand in abſo—
luter Unkenntniß der Selektionstheorie ihr
einen ſolchen Nonſens unterſtellt, und
dann durch ſein vortreffliches Mäcenaten—
gleichniß ſchlagend widerlegt, ſo läßt
ſich das eben als Mißverſtändiß entſchul—
digen. Hartmann aber mußte doch von
ſeiner anonymen Zeit her den richtigen
Sachverhalt noch im Gedächtniß haben,
andernfalls hätte er die Gegenſchrift auf—
) Die Unterſcheidung zwiſchen Natur—
ausleſe und Naturzüchtung wird Hartmann
ſich ſchon bemühen müſſen in meiner „Dar—
win'ſchen Theorie“ ſelbſt nachzuleſen, falls es
ihn intereſſirt; die Unterſcheidung zwiſchen
Ausrüſtung und Anpaſſung aber in meinen
„Beiträgen zur Descendenztheorie“. Die ge—
nauen Sachregiſter, deren ich mich befleißigt
habe, erleichtern das Auffinden.
212
merkſamer ſtudiren ſollen, ehe er an ſeine
eigene Widerlegung ging.
S. 283 fährt Hartmann fort: „Die
Urſachen ſind eine beſtimmt gerichtete
Variation, welche gewiſſe Modificationen
des Typus erzeugt, und eine Fortdauer
dieſer Variationsrichtung in der Vererbung.
Dieſe Urſachen ſind nach dem Eingeſtänd—
niß des Darwinismus ſchlechthin unbekannte
Faktoren.“ — Der zweite Satz klingt ganz
ſo, als ob beide im Sinne des Darwinis—
mus geſprochen ſeien. Dem iſt aber nicht
ſo. Der erſte Satz enthält im Gegentheil
eine ganz andere, eine teleologiſche
Descendenztheorie, wie fie etwa Snell,
Huber oder Hartmann formuliren
würden, und von den in derſelben genann—
ten zwei Urſachen, „beſtimmt (d. h. plan—
mäßig) gerichtete Variation“ und „Ver—
erbung“, weiſt der Darwinismus nur die
erſte als einen ſchlechthin unbekann—
ten Faktor zurück, acceptirt dagegen die
zweite als eine wohlbekannte, em—
piriſch conſtatirte Thatſache. An Stelle des
erſtgenannten, „ſchlechthin unbekannten“
Faktors, mit dem nur die Teleologen ganz
munter operiren, hat nun Darwin ſich
erlaubt, zwei andere bekannte That—
ſachen als Faktoren einzuführen: die an—
geborene Ungleichheit der Indi—
viduen und die Vertilgung durch
feindlichen Einfluß. Wir haben jetzt ſtatt
einer beſtimmt gerichteten Va—
riation nach jeder Generation zahlreiche,
verſchieden gerichtete individuelle Variationen,
von denen erſt durch jedesmalige Ausjätung
eine beſtimmte (aber nicht voraus
beſtimmte, ſondern die augenblicklich paſ—
ſendſte) Variation übrig bleibt. Das
Reſultat iſt daſſelbe, nur daß die Teleo—
logie einen unbekannten Faktor „Plan—
mäßigkeit“ einführt, während der Darwi—
Literatur und Kritik.
nismus das rein mechaniſche Prin—
cip der Selektion für ſeine Erklärung
des Vorganges benutzt. Merkwürdig iſt,
daß Hartmann in der ganzen Auslaſſung
(S. 282 — 283) dieſes wichtigſte Princip
des Darwinismus vollſtändig igno—
rirt, während es ihm doch zur Zeit
ſeiner anonymen ſchriftſtelleriſchen Thätig—
keit ganz bekannt geweſen iſt. Darf man
ſo ſeine eigenen Kenntniſſe verleugnen, nur
um conſequent einen alten Standpunkt zu
behaupten? Demſelben Motiv iſt wohl
der Ausſpruch (S. 283) entſprungen: „Der
Darwinismus habe nicht das Geringſte
dazu gethan, um die Frage nach den Ur—
ſachen der Typenumwandlung einer Ent—
ſcheidung im Sinne der mechaniſtiſchen Welt—
auffaſſung näher zu rücken, als ſie es vor
ſeinem Auftreten war; .. . er habe dieſe
Urſachen nicht erklärt, und ſie auch nicht
als rein mechaniſches Princip enthüllt.“
Dieſer Behauptung gegenüber muß
nochmals daran erinnert werden, daß die
einzigen von der Selektionstheorie euthüllten
Principien keine anderen ſind als Erb—
lichkeit, Ungleichheit der Indivi—
duen“!) und Vertilgung durchäußere
Einflüſſe. Sind das nun nicht rein
mechaniſche, oder ſind es etwa metaphyſiſche
Principien?
4. Der vierte Vorwurf (S. 284 — 285)
tadelt den Anonymus, daß er der Natur-
wiſſenſchaft das Recht zuſpreche, jede meta—
phyſiſche Aushilfe von der Hand zu
weiſen, „denn die Prätenſion des Natur-
forſchers, durch ſeine exakten Forſchungen in
) Auf welche Weiſe die angeborene Un—
gleichheit der Individuen durch ungleiche Ver—
erbung und dieſe durch den fortſchreitenden
Stoffwechſel der Eltern verurſacht wird,
habe ich ausführlich in meiner „Darw. Theorie“
2. Aufl. S. 93—95 erörtert.
der materiellen Grundlage der Welt die
philoſophiſche Erklärung derſelben über—
flüſſig machen zu können, ſei für den den—
kenden Menſchen noch weit komiſcher als
der Verſuch, die Wirkung der ſixtiniſchen
Madonna naturwiſſenſchaftlich aus
Farbſtoff, Lichtſtrahlung u. ſ. w. erklären
zu wollen.“
Welcher Naturforſcher erhebt denn ſolche
Prätenſionen, wie die geſchilderten? So
viel mir bekannt, würde ein heutiger Natur-
forſcher ſich der Aufgabe, die ſixtiniſche
Madonna naturhiſtoriſch zu „erklären“,
auf die Weiſe entledigen, „daß er die reli—
giöſen und ethiſchen Ideen entwickelte, auf
denen das Werk beruht, die culturhiſtori—
ſchen Verhältniſſe, durch welche es bedingt
iſt und die äſthetiſchen Begriffe, welche
ſeine Wirkung auf das Gemüth des Be—
ſchauers verſtändlich machen“, — alſo ge—
rade ſo wie Hartmann es von einem
Philoſophen erwartet, und Niemand würde
ſagen, daß das keine Erklärung im Sinne
der Naturwiſſenſchaften ſei; denn „religiöſe
und ethiſche Ideen“, „culturhiſtoriſche und
mythologiſche Verhältniſſe“, ebenſo wie
„äſthetiſche Grundbegriffe“ ſind keine
metaphyſiſchen Principien, ſondern
der naturhiſtoriſchen Erforſchung und Er-
klärung durchaus zugängliche Objekte, deren
ſich die neuere Anthropologie und Pſycho—
logie längſt bemächtigt hat. Speciell die
Stellung des Darwinismus zu dieſen
Fragen hätte Hartmann unter Ande—
rem auch z. B. aus Carneri's „Sitt-
lichkeit und Darwinismus, drei Bücher
Ethik, Wien 1871“ erſehen können, einem
Buch, das er nirgend berückſichtigt, geſchweige
denn widerlegt hat.
Ebenſo ſcheint Hartmann nicht be—
merkt zu haben, daß ſeit bald 20 Jahren
die Naturwiſſenſchaften ſich nicht mehr dar—
Literatur und Kritik.
273
auf beſchränken, „exakte Forſchungen“
und Beſchreibungen zu liefern, ſondern im
Gegentheil jo frei find, philoſophiſche
Erklärungen zu ſuchen und zu finden,
durch welche die von gewiſſen Philoſophen
feſtgehaltenen metaphyſiſchen Aushülfen de
facto überflüſſig geworden ſind. Philo—
ſophiſche Erklärungen weiſen alſo die
Naturforſcher nicht von der Hand, wohl
aber metaphyſiſche. In dem ganzen
Excurs von S. 283 bis S. 285 wirft
Hartmann aber dieſe beiden grundver—
ſchiedenen Begriffe unaufhörlich durch ein—
ander und ſucht die Unentbehrlichkeit der
metaphyſiſchen Erklärung durch die
Unumgänglichkeit der philoſophiſchen
Methode zu beweiſen. Solch ein qui pro
quo iſt dem Anonymus wahrlich nie
paſſirt, und ebenſowenig hat derſelbe ſich
je einen ſo unmotivirten Analogieſchluß zu
Schulden kommen zu laſſen, wie der S.
284 285 gezogene, der Menſch ſei eben—
ſo gut ein Kunſtprodukt wie die ſixtiniſche
Madonna, vom Menſchen als Mikrokosmus
könne man getroſt auf den Makrokosmus
ſchließen, folglich müſſe der Urheber der
Welt ein Künſtlergeiſt ſein. Sollte
man auf dieſem Wege logiſcher Analogie—
ſchlüſſe nicht ebenſo gut ergründen können,
daß der Urheber der Welt Raphael ge—
heißen haben müße?
Es liegt hier wiederum der bereits
den Teleologen Bianconi, Wigand und
Krönig vorgehaltene*) Fehler zu Grunde,
der einem Philoſophen von Fach nicht
widerfahren dürfte, Gleichniſſe für
Beiſpiele auszugeben und die gewollte
Zweckmäßigkeit der Induſtrismen mit der
gewordenen Zweckmäßigkeit der Natur-
produkte in einen Topf zu werfen. Un—
bekannt konnte dieſer Fehler Hartmann
3 Vergl. m. „Beitr. z. Desc.“ S. 44.
Kosmos, Band III. Heft 3.
=———
nicht fein; denn als Anonymus hat er ihn
nachdrücklich gerügt und vortrefflich zwiſchen
den beiden auf ganz verſchiedenen Urſprung
hinweiſenden Arten der Zweckmäßigkeit
unterſchieden.
5. Eine fünfte ſcharfe Rüge erfährt
der Anonymus S. 287 dafür, daß er an—
geblich die Differenz des Unorganiſchen und
Organiſchen durch ein bloßes „oder auch“
überſprungen und den Uebergang vom
einen zum anderen durch Summation zahl—
loſer unerheblicher Minimalſchritte habe
„erſchleichen“ wollen. — Der Anonymus
iſt aber von dieſer Beſchuldigung frei zu
ſprechen; denn wenn man die incriminirte
Stelle (S. 39 d. 2. Aufl.) nachlieſt, ſo
gewahrt man mit Erſtaunen, daß das ver—
dächtigte „oder auch“ gar nicht vom Un—
organiſchen zum Organiſchen hinüber
führt, ſondern blos zwiſchen „vorüber—
gehender Annäherung der organiſchen
Materie an die organiſche Form“ und
„vorübergehendem Eintritt in dieſelbe“
vermittelt. Bon unorganiſcher Materie
iſt in dem ganzen Satze nicht einmal die
Rede, und die „minimalen Schritte“
verhelfen den vorgebildeten organiſchen Ver—
bindungen zu organiſcher Form. Bei
einer noch jo rigoroſen Selbſtkritik bleibt
es immer wünſchenswerth, daß man ſich
nicht Vergehen zur Laſt lege, die man gar
nicht begangen hat, — der platoniſche
Dialog artet ſonſt zu leicht in tendenziöſe
Spiegelfechterei aus.
Bei Gelegenheit der Frage, ob man
die generatio aequivoca durch Summa—
tion minimaler Schritte erklären dürfe,
hätte Hartmann mit Nutzen G. Jaeger's
betreffende Theorie“) ſtudiren
könnnen.
Statt deſſen findet man dieſelbe nirgends von
Eine kurze Zuſammenfaſſung derſelben
iſt auch in meiner „Darw. Theorie“ gegeben.
Literatur und Kritik.
ihm auch nur erwähnt, geſchweige denn
widerlegt.
6. Der Anonymus ſoll ſich auch S. 40
(der 2. Aufl.) der „bei dem Darwinismus
ebenſo wie bei dem älteren Materialismus
ſtereotyp wiederkehrenden“ Verwechſelung
von negativer Bedingung und po—
ſitiven Urſachen ſchuldig gemacht haben,
indem er nur die Möglichkeit der Ent—
ſtehung der erſten Organismen aus unor—
ganiſchen Kräften ohne metaphyſiſche Nach—
hülfe — gezeigt, nicht aber poſitive
Urſachen für dieſen Vorgang angegeben
habe (S. 287). — Hier iſt es wiederum
zu bedauern, daß nicht G. Jaeger's aus—
führlichere Theorie der Generatio aequi-
voca zum Gegenſtande der Kritik gemacht
worden iſt. Da hätte man doch erfahren,
ob die in derſelben verwertheten treibenden
Urſachen, nämlich Wärme, Feuchtig—
keit, Elektricität, chemiſche Wahl—
verwandtſchaft, am Ende auch nur
„negative Bedingungen“ ſind.
Wenn die „ftereotype Verwechſelung“
des Darwinismus und Materialismus
darin beſteht, die Eigenſchaften der
Dinge als pofitive Urſache ihrer
Wirkung auf einander und des erfolgenden
Reſultates zu betrachten, ſo kann man ſich
auch dieſen Vorwurf ſchon gefallen laſſen.
7. Auf S. 42 (der 2. Aufl.) ſagt
der Anonymus, jede Funktion jet phylo—
genetiſch früher da, ehe das ihr jpecifiich
dienende Organ ſich entwickelt, was weſent—
lich dazu beitrage, viele Räthſel (in Bezug
auf die erſte Anlage von Organen) auf
mechaniſchem Wege (mittelſt der Selektions—
theorie) zu löſen. Hiergegen glaubt Hart—
mann S. 288 erinnern zu müſſen, daß
eine Funktion, die früher als ihr Organ
vorhanden iſt, nicht aus dieſem Organ ab—
geleitet werden dürfe; denn das Prius
rr. nn.
Literatur und Kritik.
könne nie durch das Poſterius cauſal erklärt
werden. — Das iſt unzweifelhaft richtig
und darum eben ſuchen die Naturforſcher
ſtets das Spätere durch das Frühere
cauſal zu erklären: die causae finales über⸗
laſſen wir gern den Teleologen. Auch der
Anonymus iſt dieſem Grundſatz treu ge—
blieben; denn er will ja gerade die ſpätere
Ausbildung eines ſpecifiſchen Organes durch
die früher vorhandene Funktion erklären,
— und nicht umgekehrt.
8. Zum achten Vorwurf giebt der
Anonymus dadurch Veranlaſſung, daß er
S. 42 (der 2. Aufl.) die Entwickelung
aller ſpecifiſchen Dispoſitionen und Organe
aus den Fähigkeiten des Protoplasmas (in
Folge von Arbeitstheilung und Vervoll—
kommnung durch Naturzüchtung) ableitet.
— „Hier ſei die mechaniſche Vermittelung
mit dem ſchöpferiſchen Princip ())
verwechſelt“, meint Hartmann S. 288;
„denn letztere bedürfe zwar einer materiellen
Baſis und finde dieſelbe im Protoplasma,
das noch tabula rasa ſei; aber je leerer
die Tafel, deſto weniger könne die Funk—
tion des Schreibens () und die Schrift—
züge aus der Beſchaffenheit der
Tafel (!) erklärt werden, deſto mehr be-
dürfe es dazu der Annahme eines Schrei—
bers.“ — Mit ſolch unverblümter peti—
tio prineipii und mit ſolchen, durch ein
bloßes Wortſpiel („tabula rasa“) herbei—
gezogenen, ſonſt in keiner Hinſicht
paſſenden Gleichniſſen beweiſt man
wahrlich Nichts.
9. „Es ſei ein Irrthum, meint Hartz |
mann S. 289, daß die Aufzeigung der
allmäligen mechaniſchen Vermittelung des
zweckmäßigen Reſultats irgend etwas gegen
| nicht beſſer poltern, — ein Beweis, daß
ſeinen teleologiſchen Charakter beweiſe.“ —
„Beweiſen“ läßt ſich zwar überhaupt
Nichts gegen die teleologiſche Auffaſſung,
ſelbſt gegen ihre naivſte Regen ſchickende
und Haare zählende Form nicht, weil ſie
eben Glaubensſache iſt, — aber über-
flüſſig läßt fie ſich machen und aus—
ſchließen kann man ‚fie aus wiſſen—
ſchaftlichen Betrachtungen. Kant's
Satz, daß der Mechanismus allein die
einzige wirkliche Erklärung liefere,
und die einfache logiſche Conſequenz, mit
einer wirklichen und richtigen Er-
klärung auch befriedigt zu ſein, ſind
bei denkenden Menſchen bereits zu ſehr
zur Geltung gelangt, um jetzt noch durch
die Philoſophie des Unbewußten fortdisputirt
werden zu können.
10. Einen verhältnißmäßig nur kleinen
Putzer bekommt der Anonymus S. 295
dafür, daß er S. 63 (der 2. Aufl.)
„ſtillſchweigend die Unmöglichkeit voraus—
ſetzt, daß die irdiſche Entwickelung jemals
in den Strom einer Entwickelung von
höherer Individualitätsſtufe einmünden und
in letzterer aufgehobenes Moment werden
könne. Die Unmöglichkeit ſei aber
nicht unglaublicher, als es vor 100
Jahren die Telegraphie und die Spektral—
analyſe waren.“ — Das klingt ja faſt,
als ob es uns gemahnen ſolle, es nicht für
„unglaublich“ zu halten, wenn wir Hart—
mann nächſtens unter den Spiritiſten
| jehen. Dieſer Erinnerung bedarf es übri—
gens kaum. Auch S. 267 wird ja der
Geiſterklopferei geradezu das Wort geredet,
als einer „heilſamen Reaktion (sic!)
gegen die epidemiſche, durch die
blendende Neuheit des Darwinismus unter—
ſtützte Anſteckungskraft des Un—
glaubens an den Geiſt“ (sch)
*) Man könnte von der Kanzel herab
mein Urtheil (Darw. Th. 2. Aufl. S. 242)
über Hartmanns Verwandtſchaft mit den
Dunkelmännern nicht falſch war.
276
Erwähnt mag hier noch werden, daß
ebenda S. 268 der zeitgemäßen Verur—
theilung des „Materialismus“ wieder
einmal mit einer gründlichen Verquickung
vonpraktiſchemundphiloſophiſchem
Idealismus reſp. Materialismus nachge—
holfen wird). Doch find wic an dieſes
Manöver ſeitens der philoſophiſchen
Idealiſten **) zu ſehr gewöhnt, um uns dar—
über zu wundern. Dagegen iſt ein anderes
qui pro quo neu und verdient hervorge—
hoben zu werden Hartmann ſagt S.
268, um zu zeigen, daß die materia-
) Ueber die ſcharfe und nachdrückliche
Unterſcheidung dieſer grundverſchiedenen
Begriffe, die der Anonymus ſeiner Zeit vor—
nahm, verlautet hier nichts, noch weniger
wird dieſelbe als falſch nachgewieſen.
Literatur und Kritik.
praktiſch mit dem Herzen als Ideale feſt—
i |
liſtiſchen Philoſophen und die Na—
turforſcher“) dem praktiſchen Ma—
terialismus verfallen müſſen: „Es iſt
widerſinnig, Ideen, die der Verſtand als
Illuſionen durchſchaut zu haben glaubt, doch
halten zu wollen, als ob ſie nicht Illuſio—
nen, ſondern Wahrheit wären.“ Man
lernt doch immer etwas zu! Ich hatte
bisher gemeint, es wären Idealiſten
geweſen, welche die Entdeckung machten,
daß ihre Ideen und Vorſtellungen reine
) Das nachdrücklichſte und geſchickteſte
Beiſpiel dieſer Taktik lieferte jüngſt mit gutem
Erfolge Profeſſor Huber.
ſchüre: „Die ethiſche Frage“ München
1875 (zuerſt in der Augsb. Allg. Z. 1875
Nr. 23—25 erſchienen) zeigte er ſchlagend,
wohin die Tendenzen des „Materialismus“
und „Darwinismus“ zielen, daß ſie nichts
Anderes im Schilde führen, als die Menſch—
heit ihrer Ideale zu berauben und
damit eine allgemeine Zerſtörung von
Cultur und Geſittung einzuleiten. Wäh-
rend einſt Zöckler ähnliche Beſchuldigungen
ohne nähere Motivirung ausſprach (worauf
ich, Darw. Th. 2. Aufl. S. 249, geantwortet
habe) unternimmt es Huber, Alles das mit
wörtlichenſeitenlangen Citaten zu be—
legen, aus denen der empörendſte Cynismus
ſo nackt und ſchroff hervortritt, daß die Ur—
heber und Verbreiter ſolcher Lebensanſchau—
ungen unzweifelhaft als höchſt kulturfeindliche,
gefährliche Menſchen gebrandmarkt daſtehen.
Huber hat nur zu ſagen vergeſſen, daß
dieſe Citate nur den praktiſchen Materia—
lismus betreffen, mit dem philoſophiſchen
aber ebenſowenig zu thun haben wie mit dem
Darwinismus, daß ſie auch gar nicht von
Vertretern des philoſophiſchen Materialismus
In feiner Bro-
Illuſionen ſeien, denen nicht die Spur einer
oder des Darwinismus herrühren, ſondern
vielmehr von Leuten, die den Darwinismus
nicht einmal kannten (Moleſchott,
Mathilde Reichard, Schuricht), da ihre
Schriften früheren Datums ſind. Durch
das Verſchweigen dieſes ziemlich wichtigen
Thatbeſtandes wird dem unbefangenen Leſer,
der es verabſäumt auf die Jahreszahlen zu
achten, der Irrthum nahe gelegt, es ſeien die
Vertreter der heutigen materialiſtiſchen und
darwiniſtiſchen Philoſophie, gegen die ja die
Broſchüre theilweis gerichtet iſt, nun auch
wirklich Urheber oder mindeſtens An hän⸗
ger jenen eitirten cyniſchen Anſchauungen.
Einem Irrthum ſollte man lieber vorbeugen
als Vorſchub leiſten. Ebenſo iſt die Taktik
Hubers, daß er die Beſtrebungungen eines
Carneri, Reuſchle, Dulk, Wundt,
Zöllner u. ſ. w. (vergl. m. Darw. Th. 2.
Aufl. S. 5— 10 u. S. 188-194), — die
gerade darauf ausgehen, Sittlichkeit, Tugend,
Rechtsgefühl, Nächſtenliebe, Pflichttreue, Pa—
triotismus u. ſ. w. als höchſte Errungen—
ſchaften der Menſchheit durch die Dar—
win'ſche Theorie zu erklären und zu ſtützen,
— einfach ignorirt, wohl nur darauf zurück—
zuführen, daß die Broſchüre eben das Gegen—
theil beweiſen ſollte. Sie iſt daher praktiſch,
aber nicht ethiſch zu nennen. Doch der Zweck
heiligt das Mittel!
) Auch dieſe zwei Begriffe werden von
Hartmann immerfort durcheinander ge—
worfen.
Literatur und Kritik.
wahrhaftigen realen Welt zu Grunde liege,
während die Materialiſten im Gegen—
theil für die Realität ihrer Ideen und
Vorſtellungen eingetreten ſeien, da dieſelben
durch ſinnliche Wahrnehmungen vermittelſt
des Denkorganes vollbrachte Abſtraktio—
nen einer wirklichen realen Welt
und daher ebenſo wie die aus den Ideen
entſprungenen Ideale keine bloßen Illu—
ſionen, ſondern reine Wahrheit wären.
Wie man ſich doch täuſchen kann, wenn
man kein Philoſoph, ſonden ein einfacher
Naturforſcher iſt!
11. Bei der Erklärung der erſten
Anfänge einer neuen Funktion wirft
Hartmann S. 324 dem Anonymus
vor, über das eigentliche Problem mit dem
ſcheinbar harmloſen Satz „iſt aber ein
ſolcher Verſuch erſt ein Mal gelungen“,
— hinweggeſchlüpft zu fein. Wir können
die Abſichten des Anonymus natürlich nicht
ſo gut beurtheilen als Hartmann, haben
aber ſ. Z. gemeint, er drücke ſich an der
betreffenden Stelle ſo kurz aus, nicht um
„hinüber zu ſchlüpfen“, ſondern um ſich
ſtillſchweigend auf die genugſam bekannte
Anſicht der Darwin'ſchen Theorie zu
ſtützen, daß beiſſogenannter Neubildung
einer Funktion niemals von wirklicher
Neubildung die Rede ſei, ſondern ſtets
von einer Umbildung, von einem Funk—
tionswechſel.“) Der erſte minimale Schritt
zu ſolchem Funktionswechſel, ebenſo wie
ſein ſpäterer Zuwachs (bei jeder Genera—
tion progreſſiver Naturzüchtung) fällt ins
Bereich der ungleichen Vererbung, iſt alſo
materiell — cauſal begründet.
12. Die ſocialen Inſtinkte der
) Einer ausführlichen Auseinanderſetz⸗
ung kann ich mich hier enthalten, indem ich
auf meine Beiträge zur Descendenztheorie.
S. 167 verweiſe.
geſchlechtsloſen Individuen der geſelligen
Inſekten ſeien durch die Selektionstheorie
nicht erklärbar, meint Hartmann S. 340,
weil hier alle Individuen, die der Ein—
wirkung der Gewohnheit unterworfen ſind,
nicht an der Fortpflanzung theilnehmen,
alſo auch ihre erworbenen Prädispoſi—
tionen nicht vererben können.
Ganz recht! Eine Vererbung erwor—
bener Fertigkeiten iſt hier in der That
völlig ausgeſchloſſen, nicht aber eine
Selektion angeborener (in der Königin
jedesmal latent bleibender) Fertigkeiten.
Es iſt dieſes Beiſpiel einer der ſchlagend—
ſten Beweiſe für die Darwin 'ſche Selek—
tionstheorie und gegen die Lamarck'—
ſche Anpaſſungstheorie und daher auch von
mir längſt in dieſem Sinne Haeckel gegen—
über verwerthet *).
Dies ſind, ſo weit ich finden kann, die
12 hauptſächlichſten Angriffe, durch welche
die Stellung des Anonymus als unhaltbar
nachgewieſen ſein ſoll. Die übrigen
Anmerkungen les find ihrer im Ganzen
260) betreffen theils untergeordnete Neben—
ſachen, theils wiederholen ſie blos das
Thema: „Nachweis der mechaniſchen Ver—
mittelung ſchließt die Möglichkeit teleologiſch—
metaphyſiſcher Eingriffe nicht aus.“
Jedenfalls iſt der Verſuch, ſeinen anonym
eingenommenen Standpunkt nachträglich als
„falſch“ zu discreditiren, Hartmann
ſchlecht gelungen.
Dann folgt S. 365— 406 die Pole—
mik gegen O. Schmidt, die ein merk—
würdiges Gemiſch von Recht und Unrecht
darſtellt.
Recht hat Hartmann z. B. ent⸗
ſchieden S. 366, wo er Schmidt vor—
) Vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 146.
I
3
278
wirft, die Zweckmäßigkeit rundweg läugnen
zu wollen, und nicht wenigſtens die ge
ſcheiden will, während doch jede Erklärung
wordene im Sinne der Selektionstheorie
zu acceptiren. Ferner S. 378, wo er
Schmidt's Kritik eine zu gereizte
nennt.“) Auch wo er ſich dagegen ver—
wahrt, G. Carus als Autorität reſp. als
Quelle benutzt zu haben. Ferner dürfte
Hartmann in dem Discurs über die
enthirnten Fröſche (S. 390-392), über
die Weinbergſchnecke und die Hundeeſſer
(S. 394), über die zerſchnittenen Inſekten
(S. 394 395), über die fleiſchfreſſende
Pflanze Dionaea (S. 399 — 401), über
die geköpften Heuſchrecken (S. 401-403)
und über die Hydra (S. 403404) zum
Theil Recht haben.
Unrecht dagegen hat Hartmann
z. B. ©. 367 (auch S. 371374), wo
er ſich aufs hohe Pferd ſchwingt und nur
teleologiſch-metaphyſiſche Erklärungen als
echte philoſophiſche gelten laſſen will,
während Schmidt ganz richtig, wie wir
ſeit Kant gewohnt ſind, nur die mecha—
niſche als wirklich befriedigende und ſomit
echt philoſophiſche Erklärung betrach—
tet. Ferner S. 369 — 370, wo es heißt,
der Darwinismus menge in die natur—
wiſſenſchaftliche Erklärung teleologiſche Ge—
ſichtspunkte, weil die Utilität eine unter—
geordnete Form der Teleologie ſei, — als
ob die auf gewordener naturhiſto—
riſcher Zweckmäßigkeit beruhende Utilität
irgend etwas mit der gewollten teleo—
logiſchen Zweckmäßigkeit zu ſchaffen
hätte!“) Dann hat Hartmann S. 370
) Beiläufig bemerkt iſt aber Hartmanns
Antikritik noch um Vieles reicher an perſön-
lichen Ausfällen und an ungehörigen Verun-
glimpfungen, z. B. S. 381—382.
% Der Anonymus hatte das ſo klar und
präciſe aus einander gehalten!
Literatur und Kritik.
Unrecht, wo er zwiſchen naturphiloſophiſcher
und naturwiſſenſchaftlicher Erklärung unter—
eo ipso ein philoſophiſcher Akt iſt.
Haeckel hat das in ſeiner generellen
Morphologie vortrefflich auseinander geſetzt,
hätte alſo widerlegt, aber nicht ſtillſchwei—
gend übergangen werden ſollen. Ebenſo iſt
Hartmann S. 377 im Unrecht; denn
Schmidt's „Proteſte“ ſind z. Th. ſehr
gegründet, wenn auch zugegeben werden
muß, ſie hätten vielleicht noch beſſer be—
gründet werden können. — S. 382 nennt
Hartmann den Od- Reichenbach einen
„anerkannten Naturforſcher“. Sollte
dieſe Aeußerung nicht auf irgend einer
Namensverwechſelung beruhen? Der (ver-
ſtorbene) Od- Reichenbach iſt mir nie
als Naturforſcher bekannt geworden.“)
Pſychologiſch beurtheilt, iſt er dadurch zu
entſchuldigen, daß er mehr von Anderen
getäuſcht wurde, als er Andere abſicht—
lich täuſchen wollte; immerhin aber über—
nahm er durch die Publication die Verant—
wortung für den von ihm inaugurirten
Od-Schwindel. Das genügt aber nicht,
um den Namen „Naturforſcher“ zu ver—
dienen. Oder ſollte in Hartmanns
Augen die famoſe, wenn ich nicht irre, in
Prag erſchienene „Pſyche, Zeitſchrift
für Odwiſſenſchaft und Geiſter—
kunde“ auch kein Schwindel, ſondern
am Ende gar ein „anerkanntes naturwiſſen—
ſchaftliches Journal“ geweſen ſein? — Un—
recht hat Hartmann ferner S. 395
— 397, wo er feine Cruſtaceen-Abſtamm—
ung der Fiſche zu beſchönigen und zu ent—
ſchuldigen ſucht, ſtatt ſie einfach ſogleich als
) Als Chemiker, namentlich wegen ſeiner
Theer-Unterſuchungen anfänglich von Ber—
zelius und Liebig anerkannt, iſt er nach—
her von Letzterem zurückgewieſen worden. Red.
8
lapsus calami*) einzugeſtehen und die
Seite zu ſparen.
Das größte Unrecht endlich begeht
Hartmann am Schluß S. 405 — 406,
wo er triumphirend ausruft: „Wenn das
von Schmidt Vorgebrachte Alles oder
auch nur das Wichtigſte von dem iſt, was
gegen die naturwiſſenſchaftlichen Grundlagen
der Philoſophie des Unbewußten von fach—
männiſcher Seite vorgebracht werden kann,
ſo müſſen dieſelben ſich einer nahezu un—
antaſtbaren Solidität erfreuen. Dieſe erſte
ausführliche Kritik der Philoſophie des
Unbewußten aus der Feder eines wirk—
lichen Naturforſchers iſt ein trauriges
testimonium paupertatis für die ge—
ſammte heutige Vertreterſchaft der Natur—
wiſſenſchaft und eine dringende Aufforder—
ung, die erlittene Scharte ſo bald als
möglich auszuwetzen d. h. zu den zeit-
bewegenden Problemen der Philoſophie
eine minder unfähige Stellung zu gewinnen.“
Gegen den erſten dieſer zwei Sätze iſt
zu erinnern, daß die Naturwiſſenſchaft es
als ſelbſtverſtändlich betrachtet, wenn Grund—
lagen (alſo Thatſachen), die man ihr ent—
lehnt, ſofern man ſie nur richtig entlehnt,
ſich einer unantaſtbaren Solidität
erfreuen. Ob aber jedes auf dieſen Grund—
lagen errichtete Gebäude ebenfalls ſolid ſei,
iſt eine ganz andere Frage, die in Bezug
auf die Philoſophie des Unbewußten ent
ſchieden zu verneinen iſt. Mit dem Nach—
weis, daß die Prämiſſen richtige ſind, iſt
für die Richtigkeit der Schlußfolgerungen
noch Nichts bewieſen. Wohl aber iſt das
Gegentheil nachgewieſen worden,
nämlich daß die Philoſophie des Unbewuß—
ten aus den richtigſten naturhiſtoriſchen
Prämiſſen falſche Theorien aufbaut und
99 Aufmerksam habe ich auf denſelben
ſchon 1870 a. a. O. S. 171 gemacht.
.
Literatur und Kritik. 279
zwar hat das der Anonymus in dankens—
werther Ausführlichkeit nachgewieſen. Ob
derſelbe ein „wirklicher Naturforſcher“ war,
iſt ganz gleichgültig. Durch ſeine erſchöpfende
Kritikwaren und ſind die „wirklichen Na—
turforſcher“ ähnlicher ausführlicher Müh—
waltung jedenfalls enthoben; denn nachdem
er alle Fehler der falſchen Rechnung aufge—
deckt (was ihm, wie wir jetzt wiſſen, beſſer
gelingen mußte, als jedem Anderen) iſt
Alles geſchehen was zu wünſchen war. Es
wird ſich daher jetzt wohl kaum Jemand
dazu finden, gegen die bereits abgethane
Philoſophie des Unbewußten nochmals auf—
zutreten, blos um dem glücklichen Autor
nicht den Ruhm zu laſſen, die beſte Kritik
ſeiner Philoſophie ſelbſt geliefert zu haben.
Dieſer Ruhm ſoll ihm nicht ſtreitig gemacht
werden; denn es war gewiß eine feine
ſtrategiſche Maßregel, durch eine erſchöpfende
Kritik allen anderen vorzubeugen und
nachher zu triumphiren, man habe keine
anderen Angriffe erfahren. Weniger
fein dagegen iſt es, den Umſtand, daß
das Urtheil der Naturforſcher ſich auf Zu—
ſtimmung zur anonymen Kritik oder auf
Schweigen beſchränkte, für „Unfähig—
keit“ und für eine „Scharte“ zu er⸗
klären. Das Maß dieſer Grobheit (sit
venia verbo) wird nur übertroffen von
der Selbftüberhebung *), mit welcher die
Erfindung des Unbewußten ein „zeit—
bewegendes Problem“ genannt wird.
Daß man auch aus anderen Gründen als
aus Unfähigkeit ſchweigen könne, z. B. weil
man einer Sache nur geringe oder ephe—
Beide Mittel ſind nicht gerade zweck—
mäßig gewählt zur Herbeiführung der S. 18
angekündigten Verſöhnung zwiſchen Natur—
wiſſenſchaft und Philoſophie: denn es giebt
Wenige, die ſich durch ſolch' rauhe Schale
angezogen fühlen, dem Kern objectiv gerecht
zu werden.
280
Literatur und Kritik.
en
mere Bedeutung zuſchreibt, iſt dem Autor
der welterſchütternden Philoſophie des Un—
bewußten natürlich nicht in den Sinn ge—
kommen.
Uebrigens haben nicht einmal alle Na—
turforſcher geſchwiegen. Abgeſehen von
Stiebeling's ausführlicher Zurückweiſ—
ung, (die durchaus nicht in allen Punkten
ſo mißrathen war, wie in der Inſtinkt—
frage) iſt kurze Kritik einzelner Irrthümer
der Philoſophie des Unbewußten gelegent—
lich mehrfach geübt worden.“) Die Ver—
lagshandlung verſteht es ja ſo vortrefflich,
die „öffentlichen Urtheile“ zu ſam—
meln und zu verwerthen, ſofern ſie Lob
ſpenden. Sollten ihr die tadelnden gänz—
lich entgangen ſein?
Was Hartmann's Schrift „Wahr—
heit und Irrthum des Darwinismus“ be-
trifft, ſo ſind die darin enthaltenen Angriffe
gegen die Selektionstheorie ſchon ſo oft
vorgebracht und zurückgewieſen worden, daß
man nunmehr aufhören kann, ſie bei jedem
neuen Vorbringer aufs Neue abzuſchlachten.
Zu einer wiederholten Verarbeitung faſt
aller aufgeworfenen Einwände hatte ſich
ohnehin jüngſt eine willkommene Gelegen—
heit geboten!“), bei der gerade die Teleo—
logie (die ja die einzige Differenz zwiſchen
Hartmann und uns bildet) ausführlich
ihre Rechnung gefunden hat. Einem un—
parteiiſchen Leſer dürfte es daher nicht
ſchwer fallen, die Wahrheit und den Irr—
thum des Darwinismus gegen die ent—
ſprechenden Beſitzthümer der Gegner abzu—
wägen.
) Vergl. z. B. m. Darw. TA. 1. Aufl.
S. 190, 191, 195—196, 211, und 2. Aufl.
S. 18, 242, 244, und Beitr. z. Desc. S. 53
u. 166.
) Vergl. Baer u. d. Darw. Theorie
in m. Beitr. z. Descendenz-Th. Leipzig. 1876.
Zwei neue Schriften über Goethe's
Verhältniß zur Evolutions-Theorie.
J. Goethe ein Gegner der Des—
cendenz-Theorie. Eine Streit—
ſchrift gegen Ernſt Haeckel von
J. Th. Cattie, Docent der Zoologie
und Botanik an der Realſchule zu
Arnheim. — Utrecht 1877. J. L.
Beijers.
II. Goethe's Verhältniß zur Na—
turwiſſenſchaft und feine Bedeut-
ung in derſelben. Nebſt einigen bis—
her ungedruckten Fragmenten von
Goethe. Von Dr. S. Kaliſcher.
(Separat-Abdruck aus dem 33. Bande
der Hempel'ſchen Goethe-Ausgabe.)
Berlin 1878. Guſtav Hempel (Bern—
ſtein u. Frank).
Sehr bald nach dem Erſcheinen des
grundlegenden Darwin'ſchen Werkes machten
ſich einzelne Stimmen vernehmbar, welche
darauf hinwieſen, daß Goethe im Großen
und Ganzen die Natur mit ganz ähnlichen
Augen angeſchaut habe wie Lamarck und
Darwin, daß er zumal die Entwickelung
der höheren Lebensformen aus den niederen
mit aller möglichen Beſtimmtheit verkündet
habe. Der Erſte, welcher darauf hinwies,
war wohl Dr. H. Meding in einer 1861
erſchienenen kleinen Schrift: „Goethe als
Naturforſcher in Beziehung zur Gegenwart.“
Eine eingehendere Vergleichung der Goethe'-
1
ſchen mit der Darwin'ſchen Naturauffaſſung
veröffentlichte ſodann ein franzöſiſcher Schrift—
ſteller E. Caro in einer Arbeit, die zu—
erſt in der Revue des deux mondes
(Novemb. 1865) und im Jahr darauf
als beſonderes Werk in erweiterter Geſtalt
(La Philosophie de Goethe) erſchien. Zur
ſelben Zeit hatte auch Haeckel in ſeiner
1866 erſchienenen „Generellen Morpho—
Vorgänger Darwin's hingeſtellt, und ſpä—
Literatur und Kritik.
ter in ſeiner Schöpfungsgeſchichte an ver-
ſchiedenen Ausſprüchen Goethe's dargethan,
daß dem großen Dichter eine ähnliche Welt—
anſchauung ſich erſchloſſen hatte, wie dem
großen britiſchen Naturforſcher.
Wenn ſich gegen dieſe Auffaſſung
Literarhiſtoriker und fromme Patrioten ge-
wendet hätten, ſo würde man ſich nicht
weiter gewundert haben, denn dieſe hätten
vielleicht ein wirkliches Herzensintereſſe ge—
habt, Goethe wegen einer ähnlichen Vor—
gängerſchaft in Schutz zu nehmen und bei
dem Mangel an völliger Uebereinſtimmung
in den Aeußerungen des tiefblickenden Dich—
ters hätten ſie genug Ausſicht gehabt, die
Sache in den Augen ihrer Parteigänger
ſiegreich durchzufechten. Merkwürdiger Weiſe
indeſſen rührt die anſehnliche Reihe von
Proteſten, die gegen Haeckel's Deutung
der Goethe'ſchen Naturanſchauung in
Journalen und ſelbſtſtändigen Schriften
eingelegt worden iſt, von lauter Anhängern
Darwin's her, als ob letzterem ein Zu—
ſammentreffen mit den Anſichten eines der
erhabenſten Geiſter aller Zeiten zum Nach—
theil gereichen könnte. Osc. Schmidt,
Carl Semper, Robby Koſſmann,
O. Zacharias, Th. Cattie und andere
Gegner Haeckel's in der erwähnten Frage,
ſchienen als gleichzeitige Anhänger, Kenner
und Bewunderer Darwin's und Goe—
the's gewiß vorzugsweiſe befähigt, in dieſer
Frage ein gerechtes Urtheil abzugeben, und
es wird uns ſchwer werden, zu verſtehen,
weshalb ſie dennoch nicht das Richtige ge—
troffen haben.
Die Erklärung liegt darin, daß jeder
einzelne der meiſt aphoriſtiſchen Ausſprüche
Goethe's für ſich betrachtet, allerdings
verſchiedene Auslegungen zulaſſen mag. Die
*
„
logie“ Goethe neben Lamarck als einen bilderreiche Sprache eines Dichters iſt eben
nicht die exakte eines Naturforſchers; an
eine ſtrenge Terminologie nicht gewöhnt,
braucht ſie daſſelbe Wort zu andern Zeiten
in einem ganz verſchiedenen Sinne, und
wenn man nun die zweite Anwendungsart
in den erſten Satz einſchiebt, iſt es leicht,
dieſem einen vielleicht ganz entgegengeſetzten
Sinn beizulegen. Als Oscar Schmidt
in ſeiner Schrift: „War Goethe ein Dar—
winianer?“ dieſe Frage mit Nein! beant—
wortete, ging er hauptſächlich von der An—
ſicht aus, daß Goethe, wo er von den
Umwandlungen, Entwickelungen u. ſ. w.
eines Typus ſpricht, damit nur die Wand—
lungen der Idee und des Bauplanes ge—
meint habe, der verſchiedenen Thier- und
Pflanzenformen zu Grunde liegend ge—
dacht werden könne. Wir werden aber
nachher ſehen, daß Goethe in aller
Wirklichkeit die Entwickelung höherer
Formen aus niedriger ſtehenden in Er—
wägung gezogen hat, und O. Schmidt
hat dies auch nachträglich (Deutſche Rund—
ſchau, April 1876) ausdrücklich zugegeben,
wobei er aber bei der Meinung verharrt,
Goethe habe eine ſolche Auffaſſung ab—
gelehnt.
Unbedenklich darf den Gegnern ſo viel
zugegeben werden, daß Goethe weder die
Lamarck'ſchen noch die Darwin'ſchen An—
ſichten in aller Schärfe getheilt oder vor—
weg genommen habe, allein das iſt auch nie
behauptet worden. Wenn man aber das
ganze Dichten und Trachten Goethe's
um das Verſtändniß der lebenden Natur
ins Auge faßt, wenn man nicht die einzel—
nen Worte, an denen ſich deuteln läßt,
ſondern die Geſammtrichtung ſeines Stre—
bens zum Ausgangspunkte der Beurtheil—
ung nimmt, ſo wird es trotz der Dunkel—
heit mancher Ausdrücke und trotz der ſo
Kosmos, Band III. Heft 3.
zur baaren Unmöglichkeit, die evolutioniſti—
ſchen Tendenzen der Goethe'ſchen Naturan—
ſchauung zu verkennen.
Dennoch kommt Cattie in ſeiner
oben erwähnten Schrift, gerade wie vor
ihm Semper und Koſſmann, zu dem
mit fettem Druck hervorgehobenen End—
urtheil, daß Goethe ein Anhänger
des Dogmas von der Conſtanz
der Arten geweſen ſei. „Aus den oben
entwickelten Gründen,“ ſagt Cattie,
„glaube ich feſt und ſicher behaupten
zu können, daß Goethe nicht Mitbegrün—
der der Descendenz-Theorie, ſondern vielmehr
ein Gegner derſelben geweſen iſt.“ Ref.
bekennt ſich abſolut unfähig, derartige Ver—
irrungen der Kritik zu verſtehen; derſelbe
Denker, der nicht müde geworden iſt, über
das Conſtanz-Dogma zu fpötteln, der
die endliche Erſchütterung deſſelben durch
Etienne Geoffroy de St. Hilaire
als ein Ereigniß begrüßt hat, gegen wel—
ches er die Juli- Revolution für Bagatelle
erklärte, derſelbe Mann ſoll nun zu einem
Anhänger des Conſtanz-Dogmas gemacht
werden! Die Beweisführung Cattie's
für dieſe horrible Entdeckung iſt ſo heiter,
daß ſie uns die Trauerfeierlichkeit an dem
Grabe des geſunden Menſchenverſtandes
überwinden helfen mag, ſie lautet in Kürze
folgendermaßen: Goethe hatte unter dem
Titel „Probleme“ einige Aphorismen hin—
geworfen, unter denen ſich auch folgende
Bemerkung befindet: „Die Idee der Me—
tamorphoſe iſt eine höchſt ehrwürdige, aber
zugleich auch höchſt gefährliche Gabe von oben.
Sie führt ins Formloſe, zerſtört das Wiſſen,
löſt es auf. Sie iſt gleich der vis cen—
trifuga und würde ſich ins Unendliche ver—
lieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zu—
gegeben, ich meine den Specificationstrieb,
Literatur und Kritik.
erklärlichen Schiefheit mancher Aufſtellungen
das zähe Beharrungsvermögen deſſen, was
einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine vis
centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde
keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann.“
Man wird Haeckel zugeben müſſen, daß
dieſe Worte einen tiefen Sinn erhalten,
wenn man die Metamorphoſe oder vis
centrifuga — Variationstrieb oder An—
paſſung, d. h. Umwandlungstendenz im
Allgemeinen, den Specificationstrieb oder
die vis centripeta —= Vererbungstendenz
(Beharrungsvermögen des Gewordenen)
ſetzt, und daß ſie einen andern Sinn nicht
leicht haben können. Das Manuſcript,
welches außer dieſem Satze noch anderes
Aehnliches enthielt, ſandee Goethe an
den Profeſſor der Botanik Ernſt Meyer
in Königsberg, zu welchem er, ohne ihn
perſönlich zu kennen, eine lebhafte Zuneig—
ung empfand, mit der Bitte, ſeine Mein—
ung darüber zu ſagen, die er dann als
Zeugniß reiner Sinn- und Geiſtesgemein—
ſchaft mit abdrucken wolle. Ernſt Meyer
befand ſich aber diesmal nicht in voraus—
geſetzter reinſter Sinnesgemeinſchaft mit
Goethe. Er machte von der Beurtheiler—
Rolle, die ihm Goethe zugeſchoben, den
rechtſchaffenen Gebrauch und ſchrieb mit be—
ſonderem Bezug auf Goethe's Ketzereien,
die auch im Obigen durchblicken, offenbar
mißbilligend: „. . . Aus innigſter Ueber⸗
zeugung behaupte ich feſt: gleicher Art iſt,
was gleichen Stammes iſt. Es tft un—
möglich, daß eine Art aus der andern her—
vorgehe.“ Meyer iſt alſo unzweifelhaft
ein Anhänger des Conſtanz-Dogmas, und
daraus profitirt nun Cattie Folgendes:
Da Goethe (che er wußte, was Meyer
ſagen würde) ihre beiderſeitige Sinn—
und Geiſtesgemeinſchaft hervorgehoben und
Meyer's Antwort ausdrücklich mit ab—
drucken gelaſſen hat, ſo habe er offenbar
— Be En EEE
dieſelbe Anſicht gehabt, quod erat demon-
strandum. Man ſieht aus dieſem Falle,
daß man in Hinblick auf allzu grobe oder
allzu feine Geiſter unter ſeinen Leſern nie—
mals vorſichtig genug ſein kann. Goethe
hat in einer Zeit, wo die Gegenſätze noch
nicht auf einander platzten, ahnungslos ſeine
Meinung und die des wiſſenſchaftlichen
Gegners nach einander abdrucken laſſen,
wie er es vorher verſprochen, und dachte
wohl, die Ueberſchrift: „Problem und
Erwiederung“, ſowie ſeine ſonſt klar aus—
geſprochene Meinung würden ihn vor Miß—
verſtändniſſen ſchützen. Auch nennt er nach-
träglich (S. 153 Band 33 der Hempel’-
ſchen Ausgabe) die Erwiederung nur ſinn—
voll, aber nicht ſeinem Sinne gemäß und
fügt hinzu: „Beiderſeitige Aeußerun—
gen möchten auch fernerhin Betrachtungen
aufregend“ wirken. Man könnte das Letz—
tere für eine Ueberſetzung des Leibſpruches
gerechter Kritiker: audiatur et altera pars!
halten, und wird eingeſtehen, daß wenn die
entgegengeſetzte Meinung Goethe's auch
nicht ausdrücklich aus zahlreichen anderen
Aeußerungen hervorginge, er dennoch nicht
mit Meyer identificirt werden dürfte.
Auf die anderen Wortklaubereien Cat
tie's wollen wir nicht weiter eingehen, und
widerſtrebender Meinung, ſich ſchließlich voll—
nur nach gebührender Bewunderung des
erhabenen Standpunktes, von welchem er
einige darwiniſtiſch klingende Behauptungen
Goethe's „albernes Geſchwätz“ nennt, |
bemerken, daß feine Schrift, ebenſo wie die
Literatur und Kritik.
Semper und Koſſmann'ſche, offenbar |
nicht beſtimmt iſt, die Wahrheit über
Goethe's Stellung zur Descendenztheorie
an den Tag zu bringen, ſondern nur
um einiges Gift gegen Haeckel auszu—
ſpritzen, dem es als eine der ſchlimmſten
„Fälſchungen“ in der Geſchichte der
Philoſophie ausgelegt wird, Goethe zum
|
|
|
283
Vorgänger Darwin's geſtempelt zu
haben.
Wenn den Tataren oder Hindoſtanern,
ſo erzählt Rob. Shaw, eine Mücke in
den Thee fällt, ſo tauchen ſie dieſelbe vor
dem Weitertrinken und Herausfiſchen erſt
unter, indem ſie ſagen, der eine Flügel des
Thieres ſei giftig, aber unter dem andern
Flügel ſitze das Gegengift, und man müſſe
immer beides zugleich genießen, dann ſchade
keines. Wir wollen ihrem Beiſpiele folgen
und nun die zweite Schrift betrachten, die
in der That als das wirkſamſte Gegengift
der erſteren betrachtet werden kann.
Die Ausgabe der naturwiſſenſchaftlichen
Schriften Goethe's, welche Dr. S.
Kaliſcher veranſtaltet hat, iſt von der
Kritik mit Recht als die beſte und voll—
ſtändigſte, welche exiſtirt, bezeichnet worden,
wir haben alſo hier nicht das Urtheil eines
Sonntags-Goetheaners, der auch einmal
ſeine naturwiſſenſchaftlichen Schriften durch—
blättert hat, zu erwarten, ſondern das eines
Mannes, der dieſe Schriften in allen Aus—
gaben verglichen, durchgearbeitet und mit
zahlreichen Ergänzungen bisher ungedruckter
oder unaufgenommener Theile verſehen hat.
Und hierbei wollen wir im Voraus con—
ſtatiren, daß der Verfaſſer, trotz anfänglich
ſtändig zu der Auffaſſung Haeckel's be—
kehrt und eine Reihe neuer Stützen für
dieſelbe beigebracht hat. Da der Streit
einmal ſo viel Staub aufgewirbelt hat, ſo
wollen wir aus der eben ſo gründlichen
wie ausführlichen Beweisführung Kali—
ſcher's diejenigen Stellen herausheben, welche
keinen Zweifel an der wahren Meinung
Goethe's beſtehen laſſen.
Als Goethe feine naturwiſſenſchaftlichen
Studien begann, beherrſchte das durch
Leibnitz, Haller, Bonnet, Linne und
284
alle namhaften Denker der Zeit angenom⸗
mene Dogma von der Panſpermie die
ich doch leider bemerken, daß die ſtarre
Wiſſenſchaft, nach welcher alle Formen von
Ewigkeit an erſchaffen wären, und in der
embryonalen Entwickelung nur wachſen und
phoſe enthüllen ſollten. Dieſer Anſchauung
trat zuerſt Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner
1759 erſchienenen Theorin generationis |
entgegen, lehrend, daß die Entwickelung des
Einzelweſens eine Folge von Neubild—
ungen darſtelle, wie ja jeder ſehen könne.
Wolff's Stimme verhallte ſpurlos, und
erſt als Goethe in der Pflanzen—
metamorphoſe denſelben Werdeproceß
nachwies und unermüdlich immer wieder
betonte, befreundeten die Geiſter ſich all-
mälig mit der Theorie der Epigeneſe,
die erſt ſehr ſpät die Alleinherrſchaft
errang. Mit Recht konnte' daher Helm—
holt „Ueber Goethe's naturwiſſenſchaftliche
Arbeiten“ (Populäre wiſſenſchaftliche Vor—
träge, 1. Heft) ſagen: „Ihm gebührt der
große Ruhm, die leitenden Ideen zuerſt
vorgeſchaut zu haben, zu denen der einge—
ſchlagene Entwickelungsgang der genannten
Wiſſenſchaften (von der organiſchen Natur)
hindrängt und durch welche deren gegen—
wärtige Geſtalt beſtimmt wird.“
Wie vollkommen Goethe ſich in die
Gedanken Wolff's, den er ſeinen „vor—
trefflichen Vorarbeiter“ nennt, eingelebt hatte
und wie hoch er ſchon im Jahre 1792 auf
den Standpunkt hinabſah, den man ihm
heute zuſchieben möchte, zeigt auf das Klarſte
eine humoriſtiſche Bemerkung in ſeiner
„Campagne in Frankreich“, in welcher er
die Unmöglichkeit ſchildert, ſeine Ideen den
Conſtanzdogmatikern jener Zeit begreiflich
zu machen. „Wenn ich,“ berichtet
„meine morphologiſchen Gedanken, ſo ge
läufig ſie mir auch waren, in beſter Ord—
er,
Literatur und Kritik.
nung und, wie es mir ſchien, bis zur
kräftigſten Ueberzeugung vortrug, ſo mußte
Vorſtellungsart, nichts könne werden,
als was ſchon ſei, ſich aller Geiſter
die vorangelegten Theile in der Metamor- |
bemächtigt habe. In Gefolg deſſen mußt
ich denn auch wieder hören, daß alles
Lebendige aus dem Ei komme, worauf ich
denn mit bitterem Scherze die alte
Frage hervorhob, ob denn die Henne oder
das Ei zuerſt geweſen? Die Einſchachtel—
ungslehre (d. h. die der von dem Conſtanz—
Dogma unzertrennliche Panſpermie) ſchien
ſo plauſibel und die Natur mit Bonnet
zu kontempliren, höchſt erbaulich.“ Merk—
würdiger Weiſe iſt es Goethe verborgen
geblieben, daß ein Zeitgenoſſe von ihm,
Lamarck, denſelben Ideen (daß die ganze
Natur geworden, nicht erſchaffen ſei) hul—
digte, wie er, ſonſt würde er ſich ebenſo
innig an denſelben angeſchloſſen haben, wie
vorher an Wolff und ſpäter an Geof—
froy de Saint-Hilaire. In dem
berühmten Streite des letzteren mit Cuvier,
der Goethe ſo außerordentlich intereſſiren
mußte, harrte er trotz des ſcheinbaren
Sieges des letztgenannten großen Zoologen
treu auf Seiten des Beſiegten aus, und
Iſidor Geoffroy de Saint-Hi—
laire (der Sohn) war beſſer unterrichtet,
als die oben genannten deutſchen Goethe—
Kritiker, als er den deutſchen Dichter in
ſeiner „Allgemeinen Naturgeſchichte“ (1854
— 62) Band II. S. 406 einen „bis zum
Extrem“ gegangenen Anhänger der Lehre
von der Veränderlichkeit der Arten nannte.
Wir ſehen aus dieſem Allen wie vollauf
Haeckel Grund hatte, die Stellen Goe—
the's, die er in der „Schöpfungsgeſchichte“
abgedruckt hat, ſo zu deuten, wie er ſie
gedeutet hat, denn dies iſt die einzig mög—
liche Deutung, ſobald man Goethe's
3
ER
Literatur und Kritik.
Naturanſchauung im Ganzen betrachtet. Wo
Goethe von einem Urtypus, vom Ur—
thier und von der Urpflanze ſpricht,
da hatte er Abſtraktionen der Wirklichkeit
im Auge und keine leeren philoſophiſchen
Conſtruktionen. Es iſt gerade dieſe Ver—
ſchmelzung der ontogenetiſchen mit den phy⸗
logenetiſchen Schlüſſen, die Goethe's
Naturanſchauung ſogar über diejenige La—
marck's erhebt.
Zu den von Haeckel citirten Nach—
weiſen bringt Kaliſcher eine Nachleſe,
die jede weitere Discuſſion ausſchließt. In
den von Riemer mitgetheilten Aphoris—
men ſagt Goethe: „Die Natur kann zu
Allem, was ſie machen will, nur in einer
Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge.
Sie könnte zum Exempel kein Pferd machen,
wenn nicht alle übrigen Thiere vorauf—
gingen, auf denen ſie wie auf einer Leiter
bis zur Struktur des Pferdes heranſteigt.
So iſt immer Eines um Alles, Alles um
Eines willen da, weil ja eben das Eine
auch das Alles iſt.“ Damit man nicht
etwa auch hier eine ſinnloſe ſyſtematiſche
Stufenleiter hineinzudeuten verſucht ſei, möge
man die Bemerkungen Goethe's über den
von Dr. Jäger 1820 beſchriebenen foſ—
ſilen Stier von Stuttgart vergleichen, in
denen es heißt: „Auf allen Fall läßt ſich
das alte Geſchöpf als eine weitverbreitete
untergegangene Stamm raſſe betrachten,
wovon der gemeine und indiſche Stier als
Abkömmlinge gelten dürften.“ Wir
werden nachher ſehen, wie er ſich die all—
mälige Umwandlung der ſehr abweichenden
Schädel- und Knochenbildung dieſer Thiere
ausmalt. Sehr ſchön ſchildert der angeb—
zurückzieht.“
liche Anhänger des Conſtanz-Dogmas das
ſcheinbare zeitweiſe Stillſtehen der Bildung
in der Erſcheinung, indem er in ſeinen
Bemerkungen über d' Alton's Faulthier⸗
285
und Dickhäuter-Werk ſagt: „Wir glauben
auch (d. h. wie d' Alton) an die ewige
Mobilität aller Formen in der
Erſcheinung. Hier kommt jedoch zur
Sprache, daß gewiſſe Geſtalten, wenn ſie
einmal generiſirt, ſpecificirt und individua—
liſirt ſind, ſich hartnäckig lange Zeit durch
viele Generationen erhalten und ſich auch
ſelbſt bei den größten Abweichungen immer
im Hauptſinne gleich bleiben.“ D' Alton
und Pander hatten nämlich in der Ein—
leitung ihres Werkes die fortlaufende Um—
wandlung der Thiere in der Zeit und nach
den örtlichen Verhältniſſen unumwunden
ausgeſprochen, und Goethe erklärt, wie
man ſieht, ausdrücklich ſeine Meinungs—
übereinſtimmung mit dem ſehr weiſen Zu—
ſatz, daß die Umwandlung nicht eine fort—
während ſichtbare ſei, ſondern daß die ſpeciali—
ſirten Formen viele Generationen hindurch
die einmal gewonnene Geſtalt beibehalten.
Aber auch den Menſchen erklärte
Goethe als unzweifelhaft aus dem Thier—
reich hervorgegangen. Die Auffindung des
Zwiſchenkiefers beim Menſchen gab ihm,
wie er an Knebel ſchrieb, einen neuen
Beleg, daß „der Menſch auf's Nächſte mit
den Thieren verwandt ſei“. „Ich war
völlig überzeugt,“ erklärt er in den Tag- und
Jahresheften 1790, „ein allgemeiner, durch
Metamorphoſe ſich erhebender Typus gehe
durch die ſämmtlichen organiſchen Geſchöpfe
durch, laſſe ſich in allen ſeinen Theilen auf
gewiſſen mittleren Stufen gar wohl beob—
achten und müſſe auch noch da anerkannt
werden, wo er ſich auf der höchſten Stufe
der Menſchheit ins Verborgene beſcheiden
Es iſt lehrreich, dieſe Worte
mit andern zu vergleichen, die Ecker—
mann im zweiten Bande ſeiner „Geſpräche“
aufgezeichnet hat. „So hat der Menſch,“
läßt Eckermann Goethe ſagen, um die
Lächerlichkeit der teleologiſchen Naturauf—
faſſung (in der alten Form) darzuthun,
„in ſeinem Schädel zwei unausgefüllte hohle
Stellen (die Sinus frontales). Die Frage
warum? würde hier nicht weit reichen,
wogegen aber die Frage wie? mich belehrt,
daß dieſe Höhlen Reſte des thieriſchen
Schädels ſind, die ſich bei ſolchen ge—
riugeren Organiſationen in ſtärkerem Maße
befinden und die ſich beim Menſchen,
trotz ſeiner Höhe, noch nicht ganz
verloren haben.“ In einer Tendenz
der Hinterbeine bei Quadrupeden, ſich über
die vordern zu erheben, glaubt er „die
Grundlage zum aufrechten Stande des
Menſchen zu erblicken“, und ſchon in ſeiner
1796 verfaßten Abhandlung über die Be—
deutung der vergleichenden Anatomie lehrt
er nach entwickelungsgeſchichtlichen Principien
„das einfachere Thier in dem zuſammen—
geſetzteren Menſchen wieder entdecken“, nach—
dem er im Voraus bemerkt, daß er hier
vorzüglich die Wirbelthiere im Auge habe.
Dieſe Citate genügen vollauf, die
abſolute Werthloſigkeit aller in Sachen
Goethe's gegen Haeckel gerichteten Streit—
ſchriften vom kritiſchen Standpunkte und
zugleich ihre hohe Bedeutung für die Er—
kenntniß der „Moral“ darzulegen. Zur
weitern Beleuchtung des Prädicats: „albernes
Geſchwätz“, welches Cattie in einer ſon—
derbaren Verwechslung der Goethe'ſchen
Abſtammungstheorien mitjeinen mitgetheilten
Anſichten von denſelben, auf die es allerdings
paßt, gebraucht, wollen wir mit freier Be—
nutzung des von Kaliſcher geſammelten
Materials noch zeigen, wie weit Goethe
auch in der Theorie ſeinen Zeitgenoſſen
voraus geeilt war.
geſchloſſen finden wir das teleologiſche Prin—
cip bei ſeinen Erklärungsverſuchen. „Vau—
cher,“ ſagt er von dem bekannten Botaniker,
Von vornherein aus-
Literatur und Kritik.
„erklärt die phyſiologiſchen Phänomene nach
teleologiſchen Anſichten, welche die unſrigen
nicht ſind, noch ſein können,“ und führt
die Mißbildungen als Beweis gegen dieſelbe
an, etwa wie wir heute den Kropf und
andere Illuſtrationen der Dysteleologie ver—
wenden. In dem erſten, 1795 verfaßten
„Entwurf einer allgemeinen Einleitung in
die vergleichende Anatomie“ erklärt er im
vierten Abſatz den Grund der zweckmäßigen
Zuſammenwirkung aller Organe: „Das
Thier wird durch Umſtände zu Umſtänden
gebildet; daher ſeine innere Vollkommenheit
und ſeine Zweckmäßigkeit nach außen.“
Freilich könnten, wie er in demſelben Ab—
ſchnitte ſagt, auch „Theile nach außen zu
unnütz erſcheinen, weil der innere Zuſam—
menhang der thieriſchen Natur ſie ſo ge—
ſtaltete, ohne ſich um die äußern Verhält—
niſſe zu kümmern.“ Man muß dabei un—
willkürlich der rudimentären Organe geden—
ken. Gleich darauf kommt er auch auf
die umgeſtaltenden Wirkungen der Elemente
und des Klimas, der Umgebung im All—
gemeinen zu ſprechen, und entwickelt dabei
(1795) Anſichten, die ſich den Lamarck'ſchen
nahe verwandt zeigen. In den ſchon er—
wähnten Bemerkungen über d' Alton's
Bearbeitung der Dickhäuter und Faulthiere
ſchildert er die Entſtehung plumper Thiere
in einer poetiſchen Fabelform, weil, wie er
hinzuſetzt, die Proſa für ſolche Dinge un—
zulänglich je. Wenn ein Walliiſch, ſagt
er, aus dem Tiefmeer in einen Kiesſumpf
gerathe, der ihm erlaube, weiter zu leben,
ohne doch in dieſem Element ſchwimmen zu
können, ſo würden ſich die Bewegungs—
organe herausbilden, um dieſen plumpen
Körper zu tragen. Freilich käme immer
nur ein höchſt plumpes Thier zu Stande.
Aber, ſetzt er hinzu, „es iſt ſonderbar ge—
nug, daß dieſe Sklaverei, das innere Un—
Literatur und Kritik. 287
vermögen, ſich den äußern Verhältniſſen ſeines botaniſchen Studiums“: „Das Wechſel—
gleich zu ſtellen, auch auf feine Abkömmlinge hafte der Pflanzengeſtalten . . . . erweckte
übergeht,“ d. h. daß dieſe Abkömmlinge bei mir immer mehr die Vorſtellung, die
immer plump oder faul bleiben. uns umgebenden Pflanzenformen ſeien nicht
Während hier im Sinne des Geoffroy urſprünglich determinirt und feſtgeſtellt,
de St. Hilaire die Wirkung der Außen- ihnen fer vielmehr ..... eine glückliche
welt mächtiger dargeſtellt wird als der innere Mobilität und Biegſamkeit verliehen, um
Trieb, überwiegt die Kraft des Letzteren in ſo viele Bedingungen, die über dem
in der ſchönen Phantaſie, die Dr. Körte Erdkreis auf fie einwirken, ſich zu fügen
aus Ballenſtedt von der Entſtehung des und darnach bilden und umbilden
Stieres entworfen hat, und welche Goethe zu können. Hier kommen die Verſchieden—
mit ausdrücklicher Beiſtimmung in ſeine heiten des Bodens in Betracht; reichlich
Bemerkungen über den foſſilen Stier auf- genährt durch Feuchte der Thäler, ver—
genommen hat. Wir wollen die Hauptſtelle kümmert durch Trockne der Höhen, geſchützt
daraus wiedergeben, da fie höchſt charak- vor Froſt und Hitze in jedem Maße oder
teriſtiſch dafür ift, wie man in den Jah- beiden unausweichbar blosgeſtellt, kann
ren 1820 — 22 dieſe Probleme behandelte: das Geſchlecht ſich zur Art, die Art
„Zwiſchen dem Urſtier und Ochſen,“ ſchrieb zur Varietät, und dieſe wieder durch andere
Dr. Körte, „liegen Jahrtauſende, und ich Bedingungen in's Unendliche ſich verändern.“
denke mir, wie das Jahrtauſende hindurch | Aehnlich ſagt er in dem Aufſatze über
von Geſchlecht zu Geſchlecht immer ſtärkere D' Altons Nagethierſkelette: „Eine innere
thieriſche Verlangen auch nach vorn hin und urſprüngliche Gemeinſchaft aller Or—
bequem zu ſehen, die Lage der Augenhöhlen ganiſation liegt zum Grunde; die Verſchieden—
des Urſtier-Schädels und ihre Form all- heit der Geſtalten dagegen entſpringt aus
mälig verändert; wie das Beſtreben, leichter, den nothwendigen Beziehungsverhältniſſen
klarer und noch weiter hin zu hören, die zur Außenwelt, und man darf daher ...
Gehörkammern dieſer Thierart erweitert eine unaufhaltſam fortſchreitende Umbildung
und mehr nach innen gewölbt, und wie mit Recht annehmen, um die ebenſo con—
der mächtige thieriſche Inſtinkt für Wohl ſtanten als abweichenden Erſcheinungen be—
ſein und Nahrung immer mehr Eindrücke greifen zu können.“
der ſinnlichen Welt in ſich aufzunehmen, die Im Uebrigen ſetzte Goethe bei den
Stirn allmälig mehr gehoben hat.“ Es mag mannigfachen Umbildungen der Thiere und
bei dieſen Bemerkungen an die Marſh'ſchen Pflanzen das Walten gewiſſer allgemeiner
Unterſuchungen über das Gehirnwachsthum Bildungsgeſetze voraus und hat in zahl—
der tertiären Thiere erinnert werden. reichen Stellen feiner naturwiſſenſchaftlichen
In einer viel widerſpruchsfreieren Form, Schriften als eine Haupturſache der Geſtalten—
als es in dieſen beiden Phantaſieſtücken ge- mannigfaltigkeit, das auch von Cuvier
ſchah, hatte Goethe ſchon längſt vorher und Darwin anerkannte Geſetz der Cor—
die Geſtalten umbildende Wirkung der relation oder Wechſelbeziehung der Theile
Anpaſſung geſchildert. Der Cattie'ſche hervorgehoben. Er pflegte das ſo aus—
Anhänger des Conſtanz-Dogma's ſagt in zudrücken, „daß keinem Theile etwas zu—
Bezug auf die Pflanzen in der „Geſchichte gelegt werden könne, ohne daß einem andern |
„ —..... —
1 288
etwas abgezogen werde.“ Da hiernach die
Abweichungen ſich ſtets nach mehreren Rich—
tungen zugleich wenden müſſen, ſo wirft dieſes
Geſetz allerdings Licht auf die Formen- und
Farbenmannigfaltigkeit gewiſſer Gruppen von
Pflanzen und Thieren. In ſeinem Gedichte
„Metamorphoſe der Thiere“ iſt dieſe Wechſel—
beziehung der Geweihbildung zur Bezah—
nung angedeutet:
Denn ſo hat kein Thier, dem ſämmtliche Zähne
den obern
Kiefer umzäunen, ein Horn auf ſeiner Stirne
getragen,
Und daher iſt den Löwen gehörnt der ewigen
Mutter
Ganz unmöglich zu bilden und böte ſie alle
Gewalt auf.
Endlich hat Goethe auch den „Kampf
um's Daſein“ in ſeinen „Sprüchen in
Proſa“ (Werke, Ausgabe von 1853. III.
S. 317) ſehr lebendig geſchildert. Er ſagt
dort: „Die Natur füllt mit ihrer grenzen—
loſen Produktivität alle Räume. Betrachten
wir nur bloß unſere Erde: Alles was wir
bös, unglücklich nennen, kommt daher, daß
ſie nicht allem Entſtehenden Raum geben,
noch weniger ihm Dauer verleihen kann.
Alles, was entſteht, ſucht ſich Raum und
will Dauer; deswegen verdrängt es ein
Anderes vom Platz und verkürzt ſeine
Dauer.“ Es wäre mir von großem In—
tereſſe zu erfahren, wann Goethe dieſe
Sprüche niedergeſchrieben hat, was ich aus
meiner Ausgabe nicht erſehen kann. Ich
habe nämlich dieſe Stelle ſtark in Verdacht,
der Embryo jener früher in dieſer Zeit—
ſchrift (Bd. I. S. 456) erwähnten ſehr ähnlich
klingenden Stelle in Herders „Ideen“
zu ſein, auf welche hin man hauptſächlich
deſſen Anſpruch, ein Vorgänger Darwins
zu heißen, begründen wollte. Ja noch mehr,
ich fürchte ſehr ſtark, daß alles das, was
man in den „Ideen“ darwiniſtiſch oder
Literatur und Kritik.
vielmehr evolutioniſtiſch nennen könnte, nahe—
zu wörtlich auf Kant und Goethe zu—
rückgeführt werden kann. Der letztere äußerte
zu Falk ausdrücklich, im erſten Bande von
Herders Ideen befänden ſich viele Ideen,
die ihm gehörten, beſonders im Anfange.
(Joh. Falk, Goethe, 3. Aufl. S. 32)
Das iſt nicht ſo zu verſtehen, als wenn
Goethe dieſen Anfang, auf den es eben
ankommt, ſelbſt geſchrieben hätte, aber er
gab ſeinem Freunde die unmittelbarſte An—
regung, wie er das in dem 1807 verfaßten
Aufſatz: „Bildung und Umbildung orga—
niſcher Naturen“ erzählt hat. Nachdem er
daſelbſt von ſeinen Forſchungen nach dem
Urthier und der Urpflanze berichtet hat,
fährt er fort: „Meine mühſelige, qualvolle
Nachforſchung ward erleichtert, ja verſüßt,
indem Herder die Ideen zur Geſchichte
der Menſchheit aufzuzeichnen unternahm.
Unſer tägliches Geſpräch beſchäftigte ſich mit
den Uranfängen der Waſſererde und der
darauf von Alters her ſich entwickeln—
den organiſchen Geſchöpfe. Der Uranfang
und deſſen unabläſſiges Fortbilden ward
immer beſprochen und unſer wiſſenſchaftlicher
Beſitz durch wechſelſeitiges Mittheilen und
Bekämpfen täglich geläutert und bereichert.
Mit andern Freunden unterhielt ich mich
gleichfalls auf das Lebhafteſte über dieſe
Gegenſtände, die mich leidenſchaftlich beſchäf—
tigten, und nicht ohne Einwirkung und
wechſelſeitigen Nutzen blieben dieſe Geſpräche.
Ja, es iſt vielleicht nicht anmaßlich, wenn
wir uns einbilden, manches von daher Ent—
ſprungene, durch Tradition in der wiſſen—
ſchaftlichen Welt Fortgepflanzte trage nun
Früchte, deren wir uns erfreuen, ob man
gleich nicht immer den Garten benamſet,
der die Pfropfreiſer hergegeben.“
Nach alledem wird man ſchwerlich um—
hin können, das Meiſte was in Herders
— w— ů ů 2
Fe
Literatur und Kritik.
Ideen darwiniſtiſch erſcheint, auf Goethe
zurückzuführen, denn nur in dem Gedanken— |
kreiſe Goethe's tritt alles das organiſch ver-
mittelt auf, was in Her der's Schriften
Die gute Ordnung,
eher fremd erſcheint.
in welcher Herder alle dieſe Ideen wieder—
gab, täuſchte leicht, und ſchon Frau von
Stein verfiel in den Irrthum des Herrn
von Bärenbach, als ſie an Knebel be—
richtete: „Herder's neue Schrift macht
wahrſcheinlich, daß wir erſt Pflanzen und
Thiere waren.“ Die ſchöngeiſtige Dame
ſetzt hinzu: „Goethe grübelt jetzt gar denk—
reich in dieſen Dingen,“ ohne zu ahnen,
daß dieſer eben der Urheber jener von
Herder kaum getheilten Schlußfolgerungen
war. Denn wir haben vorhin geſehen, daß
die Abſtammung des Menſchen aus dem
Thierreiche ein Goethe geläufiger Gedanke
war. Herder hingegen hat dieſen Ge—
danken nicht nur unausgeſprochen gelaſſen,
ſondern im Gegentheile mehrfach Miene
gemacht, dem Menſchen im Naturganzen
eine Ausnahmsſtellung zu wahren, z. B.
im 6. Capitel des dritten Buches. Es
ſtimmt das ganz mit ſeiner ſonſtigen Art
zu denken überein, und ſo hoch man ſeine
übrigen Verdienſte anſchlagen mag, das—
jenige eines bahnbrechenden Genies auf dieſem
Gebiete wird man ihm nur inſofern zuſchreiben
dürfen, als er zur Populariſirung der Kant—
und Goethe'ſchen Ideen beigetragen hat.
Zum Schluſſe haben wir Herrn Dr.
Kaliſcher wiederholt für ſeine ausgezeich—
nete, im Vorſtehenden reichlich ausgenützte
Arbeit zu danken, und alle diejenigen, welche
den ganzen Umfang der Bedeutung Goethe's
für die Naturwiſſenſchaft und die gänzliche
Unfähigkeit gewiſſer Perſonen, dieſelbe zu
begreifen, kennen zu lernen wünſchen, auf
das eingehende Studium ſeines Buches zu
verweiſen. a K.
289
J. Grundzüge einer Vibrattons—
theorie der Natur. Von
Baron N. Dellingshauſen. Re—
val, Verlag von Franz Kluge. 1872.
IX. 403 S.
II. Beiträge zur mechaniſchen
Wärmetheorie. Von Baron
N. Dellingshauſen. Heidel—
berg, Carl Winter's Univerſitäts—
buchhandlung. 1874. II. 119 S.
III. Die rationellen Formeln der
Chemie auf Grundlage der
mechaniſchen Wärmetheorie
entwickelt von Baron N. Dellings—
hauſen. Heidelberg, Carl Winter's
Univerſitätsbuchhandlung. Erſter
Theil. Unorganiſche Verbindungen.
1876. II. 163 S. Zweiter Theil.
Organiſche Verbindungen. 1877.
I 1560.
Obengenannte drei, reſp. vier Schriften
eines wohlbekannten Verfaſſers ſind im
Weſentlichen dem nämlichen Grundgedanken
entſproſſen und können deshalb recht wohl
auch unter einem gemeinſamen Geſichtspunkt
betrachtet werden. Nachdem der Verf. ſchon
im Jahre 1851 ein — uns unbekannt
gebliebenes — Werkchen unter dem Titel
„Verſuch einer ſpeculativen Phyſik“ hatte
erſcheinen laſſen, ſah er ſich durch ander—
weite Beſchäftigungen am Fortarbeiten ver—
hindert; jedoch ließ er den Gegenſtand
nicht aus den Augen und begann, nachdem
faſt zwanzig Jahre darüber hingegangen
waren, in raſcher Folge mehrere Mono—
graphien zu veröffentlichen, welche die in
jener Jugendarbeit angedeuteten Grundſätze
zu erweitern, zu berichtigen und auf be—
ſtimmte Disciplinen anzuwenden beſtimmt
ſind. Dieſer Grundſätze ſind es nun be—
ſonders zwei, deren Durchführung und
Verſöhnung dem Verfaſſer offenbar eine
u
Kosmos, Band III. Heft 3. am
— ——
—
290
Lebensaufgabe iſt.
mit Recht, eifriger Anhänger der mecha—
niſchen Wärmetheorie, andererſeits aber,
wenn er dies auch weit weniger beſtimmt
ausſpricht, Gegner der atomiſtiſchen und
Freund der dynamiſchen Weltanſicht. Wer
nun weiß, daß die Vibrationslehre der
Wärmeerſcheinungen, wie ſie bei uns haupt—
ſächlich von Krönig und Clauſius be—
gründet ward, ganz unmittelbar auf der
ein großer Vortheil, daß die den Dyna—
Vorſtellung von kleinſten Elementarpartikeln
der Körper beruht, wer ſich ferner die
extrem-atomiſtiſchen Vorſtellungen gegen—
wärtig hält, welche unter dem Einfluſſe
der Engländer die kinetiſchen Theorien all—
mälig zu beherrſchen ſich anſchicken, der
durfte von Anfang an dem Verſuch, zwei
ſolche Gegenſätze zu einer einheitlichen und
harmoniſchen Weltanſchauung zu vereinigen,
mit Spannung entgegenſehen. Wir glauben
nun von vornherein zu der Erklärung ver—
pflichtet zu fein, daß Herrn v. Dellings⸗
dieſer Widerſprüche
hauſen's Löſung
eine gleich originelle wie auch befriedigende,
um nicht zu ſagen, elegante iſt. Die Ma—
terie ſelbſt iſt ihm
lückenlos, die Wärmeſchwingungen werden
durch die Schwingungen des Stoffes ſelbſt
hervorgebracht und übermittelt. Sowie
jedoch Reflexionen und dadurch bedingte
Interferenzerſcheinungen der Wärmewellen
eintreten, müſſen nothwendig ſtehende Wellen
entſtehen, und der ganze Körper wird durch
eine Reihe von Flächenſcharen in „Vibra—
tionsatome“ zerlegt. „Die Vibrationsatome
ſind alſo ſtehende Wärmewellen, welche
nach allen Seiten hin durch unbewegliche
Knotenflächen von den anderen ſtehenden
Er iſt nämlich, gewiß
zuſammenhängend,
Wärmewellen des Körpers abgegrenzt wer-
den“. Die Grenzflächen bewegen ſich nicht,
jeder Punkt im Innern aber beſchreibt eine
von den ſpeziellen Bedingungen der Wärme
Literatur und Kritik.
Uebertragung geſtaltlich abhängige krumme
Linie.
Daß dieſe Hypotheſe den Namen einer
geiſtreichen verdiene, ſowie daß ihr Urheber
auch ſehr gut mit ihr umzugehen wiſſe,
wird kein Leſer des erſten Buches in Ab—
rede ſtellen. Jede der beiden gegenſätzlichen
Theorien wird ſo zu ſagen auf ihrem
eigenſten Gebiete vertheidigt und bekämpft,
und zumal daraus erwuchs dem Verfaſſer
mikern ſonſt ganz verſagten mathematiſchen
Hülfsmittel, deren Ausbildung eben doch
allein dem conſequenten Atomismus zu
danken iſt, auch ſeiner Vermittelungslehre
willig zur Verfügung ſich ſtellen. Der
Verfaſſer weiß die Formeln der höheren
Analyſis gewandt zu handhaben und ſcheut
vor dieſer ſonſtigen Crux der Molekular—
theoretiker keineswegs zurück; doch würden
wir immer gerne noch mehr Deduktion
mit Rechnung und weniger Deduktion mit
Worten in dem Buche ſehen. Dieſe letztere
führt leicht zu Irrthümern, wie denn
(S. 108) der gegen ein Elan ſius'ſches
Fundamentaltheorem erhobene Vorwurf doch
nur auf einer unrichtigen Auslegung einiger
an ſich correkter mathematiſcher Ausdrücke
beruht. Auch über die gegen Ende des
Buches zur Darſtellung gebrachten philo—
ſophiſch-mathematiſchen Ausdrücke würden
wir mit dem Verfaſſer ziemlich zu rechten
haben, wenn wir dieſe Bemerkungen für
ein Fachjournal niederzuſchreiben hätten.
Nur betreffs der eigentlich conſtituirenden
Hypotheſe möchten wir noch ein Bedenken
zur Sprache bringen, welches nicht ſowohl
dieſer ſelbſt als vielmehr der Art ihrer
Herleitung gilt. Es wird nämlich im Ein—
gang des Werkes ein ſcharfer Vorwurf
gegen diejenigen Theoretiker gerichtet, welche
auf Grund irgend einer willkürlich aus—
kein. 2
gedachten Annahme über das Weſen des
Stoffes und der ſtofflichen Bewegung alle
Naturerſcheinungen durch bloße Spekulation
in ihrem Syſtem einreihen zu können glau—
ben. Ohne Hypotheſen nun geht es auch
im vorliegenden Falle nicht ab, denn weder
iſt die Wellenbewegung der Materie eine
ohne Weiteres ſelbſtverſtändliche Thatſache,
noch auch ſcheint uns die Bildung allſeitig
abgeſchloſſener Wellen fo zwingend bewieſen,
daß man dieſen Erſatz der üblichen Atome
als eine ſichere Errungenſchaft anzuerkennen
genöthigt wäre. Wir, die wir der Ueber—
zeugung ſind, daß ohne Hypotheſen keine
Naturforſchung möglich, haben gegen das
Beſtreben des Verfaſſers gar nichts einzu—
wenden und räumen gerne ein, daß manche
ſeiner ſpäteren Entwickelungen wohl dazu
geeignet ſei, den Grundvorſtellungen als
nachträgliche Stütze zu dienen.
Die zweite der oben
Literatur und Kritik.
lungen mit den ſeparaten Titeln: Mathe—
matiſche Begründung der Vibrationstheorie
der Wärme. Die inneren Bewegungen und
ihr Einfluß auf den Aggregatzuſtand der
Körper. Die Wärme, eine innere lebendige
Kraft der Körper. Die chemiſche Wärme
der Körper. — Die mathematiſche Betrachtung
wiegt in dieſen rein wiſſenſchaftlichen und
ohne Rückſicht auf Allgemeinverſtändlichkeit
durchgeführten Spezialunterſuchungen weit
mehr vor als in Nr 1 — gewiß zum
Vortheil der Sache ſelbſt. Insbeſondere
möchten die Nachweiſungen des zweiten
Artikels über Aggregatzuſtand und Kryſtal—
liſation allgemeinſter Beachtung würdig ſein.
Einen ſchlagenden Beweis für die Energie,
mit welcher der Autor an ſich ſelbſt und
ſeinen Ideen arbeitet, ſowie ein ſchönes
Zeugniß für den durch dieſe nicht leichte
Thätigkeit erzielten Erfolg bieten die beiden
g aufgeführten
Schriften zerfällt in vier einzelne Abhand-
en
Monographien über Reform der phyſikaliſchen
Chemie. Obwohl zu einem competenten
Urtheil auf dieſem Gebiete nicht vollberechtigt,
glaubt der Berichterſtatter doch immerhin
ſeinen individuellen Wahrnehmungen Aus—
druck verleihen zu dürfen. In einer trefflich
geſchriebenen hiſtoriſchen Einleitung weiſt
der Verf. die Unzulänglichkeit aller bisher
aufgeſtellten atomiſtiſchen Theorien nach,
und wenn wir auch nicht ſeinen Schluß
als vollkommen logiſch begründet gelten
laſſen können, daß die Schuld an dieſen
Mißerfolgen eben lediglich die Atomenlehre
ſelbſt treffe, ſo können wir doch ſeinem
Entſchluß, eine neue, völlig anders geartete
Grundlage zu ſchaffen, nur vollkommenſte
Billigung zollen. Dieſer neue Grundgedanke
beſteht darin, daß die Vibrationsatome in
den chemiſch einfachen Körpern als durch
einfache, in den zuſammengeſetzten Körpern
dagegen als durch mehrfache, ſich durch—
kreuzende Wärmewellen entſtanden, voraus—
geſetzt werden. Treffen zwei Syſteme ſolcher
Wellen zuſammen, ſo bildet ſich nach dem
Geſetze von der Uebereinanderlagerung kleiner
Schwingungen ein neuer Gleichgewichtszu—
ſtand heraus, d. h. es iſt eine chemiſche
Verbindung zweier vorher getrennter Stoffe
ins Leben getreten. Geſtützt auf dieſe Iden—
tificirung eines chemiſchen Vorgangs mit
einem mechaniſchen gelingt es Dellings—
hauſen, nicht nur die anorganiſchen, ſondern
ſogar auch die weit complicirteren organiſchen
Verbindungen zu bewältigen. Bemerkt ſei
noch, daß gerade dieſer Theil ſeiner Be—
ſtrebungen in der Fachpreſſe — beſonders
auch bei praktiſchen Chemikern — eine ſympa—
thiſche Aufnahme gefunden hat.
Wir erkennen in den zielverwandten
Arbeiten, von denen vorſtehend die Rede
war, ebenſowohl ſtrenge Conſequenz im Feſt—
halten eines für wahr erkannten Principes,
Br
292
als auch, zu erfreulicher Ausgleichung, einen
mit der chronologiſchen Reihenfolge überein—
ſtimmenden ſtetigen Fortſchritt in der Kunſt,
jenes Princip mit den Thatſachen in Einklang
zu ſetzen. Mag auch noch Vieles ſchwankend
und im Fluſſe, mag vor Allem der Atomis—
mus durchaus nicht in dem hier behaupteten
Maße erſchüttert ſein: darin wird jeder
Leſer mit uns übereinſtimmen müſſen, daß
das naturphiloſophiſche Syſtem des Heidel—
berger Forſchers mit der überwiegenden
S. 99) auf das bekauntermaßen nicht ſehr
häufige Vorkommen ſogenannter „Zwiſchen—
ſtufen“ einen Wahrſccheinlichkeitsbeweis für
die Nicht-Exiſtenz derartiger Formen zu
gründen verſucht, und eine ähnliche, wenn
auch mathematiſch ungleich höher ſtehende
Unterſuchung Seidel's findet man in
Mehrzahl der nur angeblich moniſtiſchen, that.
ſächlich aber chimäriſchen Speculationen moder-
ner Weltverbeſſerer nichts gemein hat.
Ansbach. Prof. S. Günther.
Theorie und Erfahrung. Beiträge
zur Beurtheilung des Darwinismus von
Dr. Paul Kramer, Oberlehrer am
königl. Gymnaſium in Schleuſingen. Halle
a. S. Verlag von Louis Nebert. 1877.
VI. 171 Seiten.
In vier blos durch die gemeinſame
Tendenz unter ſich verbundenen Kapiteln
3
ſucht der Verf. eine Anzahl von Punkten
aufzuzeigen, deren Aufklärung der darwini—
ſtiſchen Lehre noch nicht im erwünſchten
Maße gelungen ſei. Für den Unterzeichneten
kommt aus unmittelbar einleuchtenden Grün—
den ausſchließlich das erſte „Mathematiſche
Entwickelungen“ überſchriebene Kapitel in
Betracht, und auch hier wird er ſich, die
empiriſchen Grundlagen der Prüfung Anderer
überlaſſend, vornämlich mit dem Gange
der Unterſuchung zu beſchäftigen haben.
Von mathematiſcher Seite ſind der
Entwickelungslehre bereits mehrfache Ein—
wände gemacht worden. So hat z. B. Fr.
Pfaff in ſeiner Schrift „Die neueſten
Forſchungen und Theorien auf dem Gebiete
der Schöpfungsgeſchichte“ (Frankfurt 1868,
dem bekannten Buche J. Huber's da,
wo er von dem ſporadiſchen Auftreten voll—
blütiger Geſchöpfe handelt. Es wird kaum
in Abrede geſtellt werden können, daß dieſen
rein theoretiſchen, nicht immer von ganz
ſicheren Prämiſſen ausgehenden Erörterungen
nur ſehr relativer Werth zukommt, allein
beachtenswerth bleiben ſie immer und ver—
dienen jedenfalls ernſthaftere Erwägung,
als ihnen z. B. Seidlitz zu Theil werden
läßt, der den „Rechner Seidel“ — nebenbei
bemerkt, einen der großartigſten Denker,
deren ſich unſer Vaterland jemals rühmen
durfte — blos mit ein paar Worten ab—
fertigt. In eine verwandte Kategorie gehören
nun auch die Studien des Herrn Kramer,
nur ſind ſie planmäßiger, umfaſſender und
deshalb auch wichtiger, als jene mehr gelegent—
lich angeſtellten Betrachtungen früherer Jahre.
Das betreffende Kapitel ſelbſt gliedert
ſich wieder nach ſieben Abſchnitten. Im
erſten derſelben entwickelt der Verf. einige
Fundamentalgleichungen zwiſchen den Größen
m, p, n, n', t, t“, r, 8, s“, welchen ſucceſſive
nachſtehende Bedeutung eignet: Verhältniß—
zahl der Männchen und Weibchen einer
beſtimmten Thierart, Zähler und Nenner
des die Variabilität dieſer Art ausdrückenden
„Variabilitätscoöfficienten“, Zähler und
Nenner eines ſupponirten „Abnahmecoäffi—
cienten“, „Vervielfältigungscoöfſicient“, Zäh—
ler und Nenner eines Bruches, deſſen Multipla,
mit dem Abnahmecoöfficienten multiplicirt,
den Abänderungsphaſen der in der Variation
begriffenen Organismen entſprechen. Um
ke
„ und Kritik. 293
all' dieſe Größen durch ein mathematiſches
nicht unmittelbar beweisbarer Hypotheſen
gezwungen, die aber freilich wenigſtens mit
den Lebensbedingungen gewiſſer Thiergattun—
gen verträglich ſein müſſen. Die gewonnene
Fundamentalformel wird nunmehr in den
folgenden Abſchnitten, wie der Mathematiker
ſich auszudrücken pflegt, discutirt, d. h. auf
ſpezielle Fälle angewandt.
Zunächſt wird angenommen, die Anzahl
der Männchen ſei das mfache von derjenigen
der Weibchen; hinzutreten dann noch einige
aus faktiſchen Erſcheinungen hergeholt wird.
Mit Hülfe einiger Sätze aus der Reihenlehre
darauf führt, daß trotz immer wieder in
lichen Geſtalt abgewichenen Individuen auch
bei langen Zeiträumen nur eine ſehr geringe
ſei, und daß aus dem entſtehenden Chaos
ſchiede ausgenommen werden können. Dieſe
Ergebniſſe ſind allerdings mit der Grund—
anſchauung Darwin's nicht recht verträglich,
ein auffälliger Umſtand, der eine doppelte
als weſentliches Bedingniß die Annahme mit
enthalten, daß die Eltern unmittelbar oder
doch ſehr bald nach der Geburt ihrer Jungen
der Inſekten ein häufiger Fall iſt. Immerhin
verdient auch die entgegengeſetzte Voraus—
ſetzung berückſichtigt zu werden, daß nämlich
ein Theil der Erzeuger-Paare bis in eine
beliebige Generation ihrer Nachkommen hinein
am Leben bleibt; wie leicht zu erſehen,
@
Band zuſammenfaſſen zu können, ſah ſich
der Verf. natürlich zur Aufſtellung gewiſſer
ſprechendes Reſultat: „Die Zwiſchenformen
gleichem Sinne auftretender Variationsten-
denzen die Anzahl der von der urſprüng⸗
von Zwiſchenformen keine ſcharfen Unter-
gleich nachher zu erörternde Erklärung zuläßt.
In den vorhergehenden Betrachtungen war
abſterben, wie dies bekanntlich im Leben
den Variabilitätscoöfficienten eines einzelnen
weitere Einſchränkungen, deren Berechtigung
Verhältniß zur Größe der Variation ſteht.
ergeben ſich dann Sätze, deren Deutung
faßlicher, daß ſich auch Naturforſcher von
verlangt dieſe im dritten Abſchnitte durch-
geführte Unterſuchung einen umfänglichen
mathematiſchen Apparat. Allein auch hier
wiederum liefert die Endformel ein ent—
find fo zahlreich und in einem fo mannig—
faltigen Grade abgeſtuft, daß ſich kein ſcharf
erkennbarer, ſecundärer Geſchlechtscharakter
ausbildet.“ Die vierte Abtheilung geht
von den Spezialwerthen p = m — 2
aus, denkt ſich aber die Abnahmecoöfficienten
der variirten Thiere kleiner und kleiner
werdend. Hier lehrt die Rechnung, daß,
Organs recht klein vorausgeſetzt, die Conſtanz
der Einzelformen nahezu im umgekehrten
Die Conſtruktionen des zweiten Abſchnittes
werden dann im fünften unter einem er—
weiterten Geſichtspunkt wieder aufgenommen,
indem nämlich jetzt die Fruchtbarkeit des
weiblichen Geſchlechtes progreſſiv fein ſoll;
an den ermittelten Ergebniſſen wird dadurch
übrigens nichts geändert. Abſchnitt 6 be—
ſchäftigt ſich mit einem von Darwin ſelbſt
näher ausgeführten Beiſpiel, um zu zeigen,
daß die von demſelben gezogenen allgemeinen
Schlüſſe mit einer exakten Ausnützung der
Original-Angaben nicht übereinſtimmen. An
ſiebenter Stelle endlich finden wir eine übrigens
ſehr maßvoll gehaltene Polemik gegen die
analogen Unterſuchungen von Seidlitz
und dann noch einen kurzen Rückblick, in
welchem mit Hinweiſung auf das bekannte
Werk von Wigand nochmals betont wird,
daß die Annahmen einer unbeſchränkten und
richtungsloſen Veränderungsfähigkeit in dem
auf ſie gegründeten Calcul durchaus keine
Begründung fänden.
Der Calcul des Verf. iſt ein ſo leicht
nicht ſpezifiſch mathematiſcher Vorbildung
.
294
von deſſen relativer Correktheit leicht
thetiſchen Philoſophie“ folgt den „Grund—
zu überzeugen im Stande ſein werden.
Was freilich deſſen abſolute Richtigkeit
anbetrifft, ſo iſt es damit eine ganz andere
Sache. Müßte auch jene zugegeben werden,
ſo wäre der Darwinismus in ſeinen Grund—
veſten erſchüttert, allein ſolche Rieſenarbeit
kann ein Complex von Rechnungen, in die
ſo viele unbewieſene Annahmen eingehen,
ſo viele nothgedrungene Vereinfachungen ſich
einfügen müßen, doch wohl nicht leiſten
wollen. Derartige Abſichten dürfen wir
auch dem Verf. ſelbſt nicht unterlegen, der
ja immer ſeine kritiſchen Tendenzen hervor—
hebt, und in dieſem Sinne glauben wir
auch der gebotenen Leiſtung einen entſchie—
denen Werth zuſprechen zu müſſen. Mögen
nun die Forſcher den erfahrungsmäßigen
Grundlagen der Rechnung andere beſſere
ſubſtituiren, um mit deren Hülfe plauſiblere
Reſultate zu erzielen, oder mögen ſie durch
einzelne Incongruenzen zwiſchen Rechnung
und Beobachtung zu erneuter Reviſion der
Thatſachen ſich veranlaßt ſehen — immer
wird die darwiniſtiſche Weltanſchauung zu
jener Selbſtkritik getrieben werden, an wel—
cher es die begeiſterten Anhänger nicht ſelten
fehlen laſſen, obſchon der Meiſter ſelbſt mit
dem leuchtendſten Beiſpiel ſteter Nachprüfung
und beſonnener Entſagung vorangegangen
iſt. Ob für eine ſolche Kritik auch die
übrigen Kapitel der Kramer'ſchen Schrift
wünſchenswerthe Anregung darbieten, weiß
Referent nicht beſtimmt, möchte es aber
vermuthen.
Ansbach. Prof. S. Günther.
Die Principien der Sociologie,
von Herbert Spencer. Autoriſirte
deutſche Ausgabe von Dr. B. Vetter.
J. Band. Stuttgart, E. Schweizerbart
(E. Koch), 1877. (VIII.) 570 S. 8°.
Literatur und Kritik. |
Von Spencer's „Syſtem der ſyn—
lagen der Philoſophie“ (1 Bd., 1875), und
den „Principien der Biologie“ (2 Bde.,
1876 und 1877) hiermit der erſte Band
der Sociologie, das neueſte Werk des
Verfaſſers (die gegenwärtig in dieſer Zeit—
ſchrift zum Abdruck gelangenden Artikel über
„die Herrſchaft des Ceremoniells“ werden
einen Theil des ſpäter erſcheinenden zweiten
Bandes der Sociologie bilden). Es han—
delt ſich darin vorerſt nur um die „That—
ſachen der Sociologie“, d. h. um Feſt—
ſtellung des Materials und der darauf ein—
wirkenden Kräfte, mit denen eine ſynthetiſche
Betrachtung der geſellſchaftlichen Entwickel—
ung des Meuſchen rechnen muß. Dahin
gehören nun zwar in erſter Linie die
„äußeren Faktoren“ des Klimas, der Boden—
beſchaffenheit, der Ernährungsweiſe ꝛc., welche
unſtreitig ihren bedeutſamen Einfluß auf
die körperliche und geiſtige Verfaſſung, ins—
beſondere des primitiven oder Urmenſchen
ausüben und deren allgemeine Wirkung
hier trefflich erörtert wird. Viel wichtiger
aber noch, weil unter allen Umſtänden und
in jeder Entwickelungsphaſe wirkſam, ſind
die „inneren Faktoren“, wie ſie aus der
Natur des primitiven Menſchen ſelbſt fol—
gen: ſeine phyſiſchen, emotionellen und in—
tellektuellen Eigenthümlichkeiten. Jedoch auch
damit iſt die Ueberſicht noch nicht erſchöpft.
Wie in jedem durch Verbindung zahlreicher
Einheiten entſtandenen Aggregat neue, auf
das Ganze und die Theile zurückwirkende
Kräfte frei werden, ſo kommen auch ſchon
in den erſten Anfängen der Geſellſchafts
bildung Ideen und Gefühle zum Vorſchein,
welche das Benehmen des primitiven Men—
ſchen und damit feine ſocialen Verhältniſſe
ganz weſentlich bedingen.
Der Unterſuchung dieſes Gegenſtandes iſt
er
—
Literatur und Kritik.
denn auch der größte Theil des vorliegenden
Buches gewidmet, und es ergeben ſich dabei
höchſt überraſchende, in wichtigen Punkten den
landläufigen Annahmen durchaus zuwider—
laufende Reſultate. Auf die meiſterhafte
Darſtellung derſelben hier auch nur ſtellen—
weiſe näher einzugehen, iſt leider nicht
thunlich, um ſo weniger, als eben das faſt
überreichliche Beweismaterial ſo klar und
folgerecht geordnet iſt und die daraus ge—
zogenen Schlüſſe ſich ſo ſtreng logiſch an
einander fügen, daß ein Herausreißen des
Einzelnen aus dem Zuſammenhang den
imponirenden Eindruck des Werkes noth—
wendig abſchwächen, das in ſcharfen Zügen
hingeworfene Bild bis zur Unkenntlichkeit
verzerren müßte. Nur Weniges ſei noch
angedeutet. f
Von den naturgemäßen Anſchauungen
der niedrigſten Wilden über Schlaf und
Traum, Leben und Tod und Wiederſehen
ausgehend, zeigt der Verf., wie daraus die
bei allen auf etwas höhere Stufe vorge—
ſchrittenen Völkern nachweisbare Vorſtell—
ungen von Seelen und Geiſtern, von einer
andern Welt und einem andern Leben her—
vorgehen mußten, wie daran die Ausbild—
ung der Mythen, der religiöſen Ideen und
Formen und endlich all der verſchiedenen
Weltanſchauungen ſich anknüpfte, welche den
höchſt entwickelten Zweigen unſeres Ge—
ſchlechts eigen ſind. Den ſcheinbar zweck—
loſen, widerſinnigen, oft ſo unbegreiflich
grauſamen Aberglauben alter und neuer
ſich in keiner Weiſe mit der Vermehrung
Zeit, die Wundergeſtalten und Geſchichten
der Götter und Helden, Lage und Beſchaf-
philoſophiſchen und pſychologiſchen Durd-
dringung deſſelben, um die tauſend und
fenheit ihrer Wohnſitze, kurz Alles, was
uns in dieſen merkwürdigen Dingen räthſel—
haft, willkürlich, verworren ſcheint, erkennen
wir im hellen Lichte von Spencer's
Entwickelungslehre als natürliches Produkt
295
je von den ſpitzfindigen Tifteleien unſerer
Philoſophen und Mythologen beengt und
zurückgeſtoßen gefühlt hat, ohne doch ihrem
Banne ſich entziehen und etwas Beſſeres
an die Stelle ihrer ausgeklügelten Syſteme
ſetzen zu können, der wird ſicherlich auf—
athmen, wenn ihm der friſche, naturkräftige
Hauch aus dieſem Buche entgegenweht,
wenn er ſich der fatalen Auswahl zwiſchen
göttlicher Offenbarung und abgeſchmackter
Speculation enthoben und die altbekannten,
aber nie verſtandenen Geſtalten als leben—
dige Glieder einem großen, durch alle Zei—
ten und Völker mächtig aufſtrebenden Or—
ganismus eingeordnet ſieht. Jedem denken—
den Leſer ſei das ſchöne Werk hiermit auf's
Angelegentlichſte empfohlen.
Die Urgeſchichte der Menſchheit
mit Rückſicht auf die früheſte Entwidel-
ung des Geiſteslebens, von Dr. Otto
Caspari, Profeſſor an der Univerſität
zu Heidelberg. Mit Abbildungen in
Holzſchnitt und lithographirten Tafeln.
Zweite durchgeſehene und vermehrte Aus—
gabe. Leipzig, F. A. Brockhaus 1877.
2 Bände.
Das nunmehr in der neuen Bearbeitung
fertig vorliegende Werk nimmt bekanntlich
unter den Werken über Urgeſchichte, die ſeit
kurzem zu einer Bibliothek angewachſen ſind,
eine beſondere Stellung ein. Es beſchäftigt
des Materials, ſondern einzig mit der
abertauſend Einzelheiten, welche Anthropo—
logen, Ethnologen und Archäologen geſam—
melt haben und noch zu ſammeln beſtrebt
der allgemeinen Vorbedingungen. Wer ſich ſind, unter einheitlichen Geſichtspunkten zu
296
ordnen. Was der Verfaſſer über Eutſtehung
der Sprache und Religion, über Feuer—
findung, Feuerkultus und deren Einfluß auf
Geſittung und Geiſtesbildung geſagt hat,
iſt zum Theil bereits Gemeingut der Wiſſen—
ſchaft geworden, und Niemand, der die Vor—
geſchichte zum Gegenſtande ſeines eingehenden
Studiums machen will, wird ungeſtraft dieſe
ſynthetiſchen Rückverſetzungen in das primi—
tive Denken und Empfinden des Urmenſchen
unbeachtet laſſen dürfen. Eine eingehende
Analyſe des wohl vielfach bereits in den
Händen unſerer Leſer befindlichen Buches
würde jetzt nicht mehr am Platze ſein, wir
begnügen uns deshalb mit der Bemerkung,
daß die zweite Auflage an vielen Stellen
die Spuren der nimmer raſtenden Arbeit
des Verfaſſers erkennen läßt, und auch um
mehrere neue Tafeln und Kapitel vermehrt
worden iſt. Die äußere Ausſtattung iſt
dem innern Werthe des Buches und dem Rufe
der Verlagshandlung entſprechend.
Literatur und Kritik.
Die Opfer der Wiſſenſchaft oder die
Folgen der angewandten Naturphiloſophie.
Drei Bücher aus dem Leben des Profefior
Deſens. Mitgetheilt von Alfred de
Valmy. Leipzig 1878. Johann Am—
broſius Barth.
Mit vielem Vergnügen kommen wir
dem Wunſche der berühmten Firma nach,
dieſes kleine, elegant ausgeſtattete Büchlein,
in welchem von den Gefahren der Spektral—
analyſe, der Blutmedicin, des Santoninge—
genuffes für Maler, der Sandblaſekunſt
und ſchließlich auch des — Darwinis—
mus die Rede iſt, den Gegner des Letzteren
von ganzem Herzen zu empfehlen: es wird
Viele darunter geradezu entzücken. Unſere
nähern Freunde indeſſen, die wie weiland
Wieland, gerne eine gute und gelungene
Satire, ſei ſie auch gegen ihre Perſon oder
Ueberzeugung gerichtet, leſen, wollen wir
vor dieſer ſchwächlichen Verne-Nachahmung
freundſchaftlichſt gewarnt haben.
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
K 2a m Wi ce u a
f i er
1
— En GENE
Prof. Th. Scwedof’s neue Hypothele
über den Ursprung der Rometenformen.
Dargeſtellt und erläutert von
Paron M. Dellingshaufen.
%
m vorigen Jahre, 1877, hat
. Theodor Schwedoff,
I. Odeſſa, eine kleine Abhandlung,
betitelt: „Idées nouvelles sur
origine des formes cométaires“ (Odessa,
Ulrich & Schultze) erſcheinen laſſen, welche
ſowohl durch die Originalität der in ihr
enthaltenen Gedanken, als auch durch die
kurze, präciſe Ausdrucksweiſe gleich be—
merkenswerth iſt; da dieſelbe in Deutſchland
leicht überſehen werden könnte, halte ich es
für eine Pflicht, die deutſchen Naturforſcher
und insbeſondere die Aſtronomen auf dieſe
bahnbrechende Schrift aufmerkſam zu machen.
Der Werth derſelben tritt beſonders hervor,
wenn man ſie mit der Behandlung des
gleichen Gegenſtandes durch Zöllner in
ſeinem Werke „Ueber die Natur der Cometen“
vergleicht; auf der einen Seite finden wir
ein dickes Buch von 523 Seiten und kaum
einen neuen Gedanken, auf der anderen
Seite ein winziges Büchelchen von nur 14
Seiten, aber jede Zeile inhaltſchwer. Auf
den erſten acht Seiten gibt Herr Schwedoff
die Gründe an, welche ihn dazu veranlaßt
Kosmos, Band III. Heft 4.
haben, eine neue Theorie der Kometen auf—
zuſtellen; ſo entſcheidend dieſe Gründe auch
ſind, ſo hätte er ſich doch die Mühe erſparen
können, denn die von ihm aufgeſtellten
neuen Geſichtspunkte ſind ſo einfach und ſo
einleuchtend, daß ſie ſofort überzeugend
wirken und jeden Zweifel beſeitigen.
Wie Newton, als er beim Anblick
eines fallenden Apfels auf den Gedanken
kam, daß die Schwere die allgemeine Urſache
der Gravitation der Weltkörper ſei, nach
keinem Grunde zu ſuchen hatte, um ſeine
Anſicht zu unterſtützen, ſondern direkt daran
gehen konnte, ſeine neu entſtandene Theorie
an den beobachteten Thatſachen zu prüfen,
ebenſowenig iſt es erforderlich, nach vielen
Gründen zu ſuchen, um der Theorie des
Herrn Schwedoff eine bleibende Stätte
in der Wiſſenſchaft zu bereiten; ſie wird
ſelbſt ihre Stelle einnehmen und dieſe
unerſchütterlich behaupten.
Ich übergehe daher die erſten acht Seiten
und führe zunächſt das von Herrn Schwedoff
aufgeſtellte Grundprincip der dynamiſchen
Theorien der Kometenformen wörtlich an:
„In den Kometen exiſtirt in Wirklichkeit
38
298
nur der Kern als ein Körper oder als ein
Syſtem von phyſiſchen Körpern. Alle übrigen
Merkmale dieſer Geſtirne, wie die Nebel, die
Schweife, die Ausſtrömungen u. ſ. w. ſind
weder unendlich verdünnte Gaſe, noch aus-
durch das widerſtandleiſtende Mittel ſtets
gedehnte Dämpfe irgend welcher Körper; keine
ſpecifiſche Kraft, keine außerordentliche Urſache,
die unbekannt auf der Erde wäre, nimmt Theil
an der Hervorbringung dieſer Erſcheinungen,
die nichts Anderes ſind als Wellen, welche
von den Kernen hervorgebracht werden, indem
ſie ſich in einem widerſtandleiſtenden Mittel
bewegen.
planetaren Räume,
durch den Weltraum fort.“
Um uns noch kürzer zu faſſen, ſagen
wir alſo:
Dieſes Mittel erfüllt die inter-
gehört zu unſerem
Sonnenſyſtem und pflanzt fi mit dieſem
Die Kometenſchweife find Ver-
dichtungs-Wellen, welche
die Bewegung des Kometenkernes
in einem widerſtandleiſtenden d. h.
materiellen Mittel angeregt und,
von der Sonne oder von dem Kerne
aus beleuchtet, für uns ſichtbar
werden.
Das iſt der glückliche Gedanke, welcher,
von Herrn Schwedoff zuerſt ausgeſprochen,
beſtimmt iſt, die bisher in der Aſtronomie
noch herrſchenden Anſichten zu läutern und
Conſequenzen nach ſich zieht, die für den
Augenblick in ihrer Geſammtheit noch kaum
zu überſehen find. Einige dieſer Conſe—
quenzen werden von Herrn Schwedoff
ſelbſt entwickelt; ich gehe auf dieſelben
ausführlicher ein, weil mir dadurch die
Gelegenheit geboten wird, die neue Theorie
nicht blos bekannt zu machen, ſondern auch
einige abweichende Anſichten zu äußern.
„Erſte Conſequenz. Unter allen Körpern
unſeres Sonnenſyſtems ſind es nur die Kome—
ten, welche Schweife und andere kometariſche
durch
Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
Formen zeigen können; die Planeten und
ihre Trabanten müſſen dieſer Merkmale
entbehren. Die Urſache davon iſt einfach
und evident. Um eine Welle hervorzubringen,
muß der Körper bei ſeinem Durchgange
auf neue Partikelchen treffen, deren Ge—
ſchwindigkeit hinreichend verſchieden von
derjenigen des Körpers ſelbſt iſt. Ein
Planet hat aber eine Bahn, welche wenig
von einer Kreislinie abweicht; derſelbe be—
wegt ſich daher ſeit einer unermeßlichen
Zeit in einem ringförmigen Raume und
trifft in ihm immer auf dieſelben Theile
des Mittels. Es folgt daraus nothwendig
eine Rotationsbewegung für alle Moleküle,
welche in dieſem ringförmigen Raume ent-
halten ſind. Daher der Mangel von
Stößen und Wellen bei einem Planeten
Der Trabant, wenn ein ſolcher vorhanden
iſt, bringt einen gleichen kreisförmigen Strom
in den Partikelchen hervor, die den Planeten
umringen, weil ſeine Bahn ebenfalls wenig
von einer Kreislinie abweicht. Daher auch
bei den Trabanten das Fehlen einer Welle.“
„Zweite Conſequenz. Was die Kometen
anbetrifft, ſo verändert ſich, wegen ihrer
ſtark excentriſchen Bahn, ihre Entfernung
von der Sonne in bedeutendem Maße.
Ein Komet geht in jedem Augenblick aus
einem mit der Sonne concentriſchen ring—
förmigen Raume in einen anderen über, er
trifft auf ſeinem Wege ſtets auf neue Theile
und wenn er ihnen auch eine gewiſſe Ge—
ſchwindigkeit ertheilen ſollte, ſo müßte dieſe
Geſchwindigkeit doch bald zerſtört werden
durch den Widerſtand anderer Theile oder
durch die Wirkung anderer Kometen, deren
Richtung eine den erſteren entgegengeſetzte
iſt. Es folgt daraus, daß ein Komet ſich
in dem Mittel auf eine Weiſe bewegt, als
ob er in daſſelbe zum erſten Male eintrete.
Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
Indem der Komet auf Theile trifft, deren
Geſchwindigkeit nicht gleich der ſeinigen iſt
oder die ſich in Ruhe befinden, übt er gegen
dieſelben einen Stoß aus, welcher, ſich nach
allen Seiten fortpflanzend, die Entſtehung
von Elementarwellen veranlaßt. Die Ober—
fläche, welche alle dieſe elementaren Wellen
umringt, iſt die wahre Form des Kometen
und die geocentriſche Projektion dieſer Ober—
fläche iſt das Bild, welches ein Komet
uns bietet.“
„Dritte Conſequenz. Nach dem ſo eben
Geſagten iſt es klar, daß das Bild, welches
ein Komet uns bietet, durch Rechnung wird
beſtimmt werden können, ſobald die Fort—
pflanzungsgeſchwindigkeit dieſer Wellen für
die verſchiedenen Regionen des Weltraums
bekannt ſein wird. Für den Augenblick
muß die zu löſende Aufgabe umgekehrt
werden, d. h. man hat aus dem gegebenen
Bilde eines Kometen die Fortpflanzungs—
geſchwindigkeit der Wellen zu beſtimmen.
Nach meinen allerdings noch ſehr unvoll—
ſtändigen Unterſuchungen berechnet ſich dieſe
Geſchwindigkeit nach Zehnern von Kilometern
in der Secunde, woraus hervorgeht, daß
das interplanetare Mittel mit dem Licht—
äther (2) nicht identiſch iſt.“
Herr Schwedoff ſcheint in dieſen drei
erſten aus ſeiner Theorie abgeleiteten Con—
ſequenzen das interplanetare Mittel oder,
wie ich daſſelbe künftig kürzer bezeichnen
will, den Weltäther als ruhend voraus—
zuſetzen.
Wie ein Irrthum ſtets viele andere Irr—
thümer nach ſich zieht, ſo wird auch Herr
Schwedoff durch die Annahme eines ur—
ſprünglich in Ruhe befindlichen Weltäthers
zu einer Reihe von Vorausſetzungen verleitet,
die nichts weniger als warſcheinlich ſind.
So nimmt Herr Schwedoff an, daß
die Theile des Weltäthers, welche auf der
299
kreisförmigen Bahn des Planeten liegen, erſt
durch dieſen in Bewegung verſetzt werden,
daß ſie dabei eine gleiche Geſchwindigkeit,
wie die des Planeten annehmen, ihm daher
keinen Widerſtand leiſten und auch keine
Welle erzeugen. Der Planet ſoll die Aether—
theile gleichſam in einer ringförmigen Röhre
vor ſich ſtoßen, während der übrige Welt—
äther in Ruhe bleibt. Darauf kann man
jedoch erwidern, daß die Bahn eines Pla⸗
neten nicht genau eine Kreislinie, ſondern eine
Ellipſe iſt, daß ſomit immer neue Theile
des Weltäthers ſeinem Stoße ausgeſetzt ſein
müſſen, daß ferner die durch den Planeten
aus ihrem Orte verdrängten Aethertheile
nicht immer vor ihm in einer ringförmigen
Bahn laufen können, ſondern durch den
Widerſtand der vor ihnen liegenden Aether—
theile nach allen Seiten ausweichen müſſen,
daß endlich der hohle Raum, welchen der
Planet hinter ſich läßt, durch das Nach—
drängen der übrigen Aethermaſſe wieder
ausgefüllt werden muß. Ein Planet würde
alſo ſtets, wenn er nach einem Umlaufe
wieder an ſeine ſchon früher eingenommene
Stelle kommt, auf ruhenden Aether treffen,
ſeinen Widerſtand zu überwinden haben,
eine Welle erregen und müßte daher die
Erſcheinung eines Kometenſchweifes zeigen.
Die Vorausſetzung eines ruhenden Welt—
äthers iſt daher unſtatthaft, er iſt bewegt
und beſitzt überall dieſelbe Geſchwindigkeit
und dieſelbe Bewegungsrichtung, wie die
Planeten.
Dieſe Anſicht habe ich bereits im Jahre
1872 in meinen „Grundzügen einer Vibra-
tionstheorie der Natur“ ausgeſprochen.
Ich habe gezeigt, wie die Sonne als
Rotationsmittelpunkt den geſammten Welt⸗
äther als einen bis in die entfernteſten
Räume reichenden Wirbel mit ſich führt,
wie die tangentiale Geſchwindigkeit dieſes
1
300 Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
Wirbels bei zunehmender Entfernung von
der Sonne abnimmt und daſſelbe Geſetz wie
die Planeten befolgt. Die Geſchwindigkeit
der Planeten iſt alſo ſtets gleich derjenigen
des Weltäthers, in dem ſie gleichſam
ſchwimmen. Sie treffen daher auf keinen
Widerſtand und können auch aus demſelben
Grunde nicht die Erſcheinung der Kometen—
ſchweife zeigen. Die Planeten als kleinere
Rotationsmittelpunkte führen ebenfalls den
Weltäther in einem Wirbel mit ſich herum,
deſſen Geſchwindigkeit in einer gegebenen
Entfernung gleich der Geſchwindigkeit des
Trabanten iſt. Daher auch bei dieſen das
Fehlen eines Widerſtandes und eines
Kometenſchweifes. Die Kometen dagegen
durchſtreifen den Weltäther in Richtungen,
welche mit der Bewegung deſſelben nicht
übereinſtimmen, ſie treffen daher überall
auf einen Widerſtand, bringen dadurch
Wellen hervor, welche von der Sonne oder
dem Kerne beleuchtet uns als Kometen—
ſchweife erſcheinen.
Die Annahme eines rotirenden Welt—
äthers erklärt alſo nicht allein den Mangel
eines Widerſtandes bei den Planeten und
ihren Trabanten, wodurch die Aſtronomen
veranlaßt worden ſind, den Weltenraum
als leer vorauszuſetzen, ſondern auch das
Fehlen der Schweife; ſie erklärt aber auch
die Bildung der Kometenſchweife bei ſolchen
Weltkörpern, die ſich in anderer Richtung
als der Weltäther bewegen.
Die Behauptung, daß der Weltraum
von einem widerſtandleiſtenden Mittel er—
füllt ſei, iſt bereits häufig ausgeſprochen
worden, ſo z. B. von Descartes und
als Erklärung der abnehmenden Umlaufs—
zeit des Encke'ſchen Kometen. Wie aber
ſo manche andere Wahrheit, ſo iſt auch
dieſe von den Fachmännern wenig beachtet
worden und muß daher immer wieder von
=
Neuem wiederholt werden. Wenn ich ſo—
mit gegen Herrn Schwedoff den Prioritäts—
Anſpruch erhebe, den Satz, daß der
interplanetare Raum von einem widerſtand—
leiſtenden und zwar bewegten Mittel er—
füllt ſei, zuerſt ausgeſprochen oder vielmehr
wiederholt zu haben, ſo gebührt ihm da—
gegen unſtreitig das Verdienſt, durch ſeine
Erklärung der Kometenſchweife das Daſein
des Weltäthers gleichſam greifbar und ſicht—
bar gemacht zu haben. Man kann jetzt den
Aſtronomen zurufen: Oeffnet die Augen
und ſehet, der Weltäther liegt deutlich vor
Euch und es eröffnet ſich für Euch ein
weites Feld der Beobachtungen, um die
neue Lehre zu beſtätigen und aus der Form
der Kometenſchweife die Geſchwindigkeit
und die Bewegungsrichtung des Weltäthers
in dem interplanetaren Raume zu beſtimmen.
Eine weitere, ſchwerwiegende Conſequenz
der Theorie Schwedoff's iſt die, daß
der Weltäther nunmehr auch die Vermittel—
ung der Gravitation zwiſchen den
Weltkörpern übernimmt. In meinen „Grund—
zügen einer Vibrationstheorie der Natur“
habe ich nachgewieſen, daß der Weltäther,
wie jedes Gas, nach allen Richtungen von
longitudinalen Wellen durchlaufen wird,
deren Schwingungsdauer und Geſchwindig—
keit von der Größe derjenigen der Licht—
wellen ſind. Indem dieſe elementaren
Aetherwellen auf feſte Körper treffen, üben
ſie auf dieſe durch ihre Stöße einen Druck
aus und werden von denſelben in ihrer
Fortpflanzung aufgehalten. Die Folge
davon iſt, daß zwei Körper, welche in
einem Gaſe oder in dem Weltäther einge—
taucht ſind, auf ihren von einander abge—
wendeten Seiten mehr Stöße der Aether
wellen erleiden, als auf den einander
zugekehrten; ſie bewegen ſich daher gegen—
einander. Die Differenz der Stöße, welche
P ⅛ —vRnͤ Ü Tree ee
r
ein Körper auf der einen und auf der
anderen Seite erleidet, beſtimmt die Be—
ſchleunigung, mit welcher er nach dem Cen—
tralkörper gravitirt.
Aus der beobachteten Beschleunigung
läßt ſich dann die ſogenannte Maſſe des
Centralkörpers beſtimmen, woraus umge—
kehrt nothwendigerweiſe folgt, daß bei ver—
ſchiedenen Körpern die Beſchleunigungen
den Maſſen proportional ſind. Daß die
Wirkung der Aetherwellen, als eine nach
einem Centrum gerichtete, dem Quadrate
der Entfernung von dem Mittelpunkte umge—
kehrt proportionale iſt, verſteht ſich von ſelbſt.
Dies iſt das Newton'ſche Geſetz,
durch den Stoß der Aetherwellen erklärt.
Die Aſtronomen verfahren in anderer
Weiſe. Auch ſie gehen von der beobachteten
Beſchleunigung aus, um die Maſſen der
Weltkörper zu beſtimmen, ſchreiben dieſen
Maſſen proportionale Anziehungskräfte zu
und erklären dann durch die Anziehungs—
kraft die Beſchleunigung, von der ſie aus—
gegangen ſind; ſo drehen ſie ſich wie die
Planeten in einem Kreiſe herum, geben
ſich den Anſchein, die Gravitation zu er—
klären, während ſie doch nur ein Wort
(Anziehungskraft) an die Stelle eines Be—
griffs geſetzt haben.
Dieſer Umſtand erinnert mich an einen
Spaziergang, den ich mit meiner kleinen,
vierjährigen Tochter während eines Regens
machte.
„Papa, wo kommt das Waſſer in den
Rinnen her?“ „Vom Dache, liebe Tochter.“
„Wie kommt das Waſſer auf's Dach?“
„Vom Regen.“ Woher kommt der Regen?“
„Aus den Wolken.“ Damit hatte das
Fragen ein Ende.
Die weitere Frage: „Woher kommen die
Wolken?“ überſtieg die Faſſungsgabe des
4 Verſtandes.
Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
301
Nicht
Kindern auf den Univerſitätsbänken und
ihrem Lehrer, dem Profeſſor der Aſtronomie,
beſſer ergeht es den großen
auf dem Katheder. Fragt man dieſen,
warum die Weltkörper zu einander gravi—
tiren, ſo heißt es: weil ſie ſchwer ſind.
und fragt man weiter, warum die Körper
ſchwer ſind, ſo macht er, um die Schwäche
ſeiner Erklärung zu verbergen, ein ſehr
gelehrtes Geſicht und antwortet: weil ſie
ſich anziehen.
Die weitere Frage, warum die Körper
ſich anziehen, oder ob eine unvermittelte—
Anziehungskraft möglich iſt, überſteigt augen—
ſcheinlich die Faſſungsgabe der Zuhörer
auf den Univerſitätsbänken und des Lehrers
auf dem Katheder. Dieſe Frage: Wie
iſt eine Anziehungskraft möglich?
habe ich bereits im Jahre 1872 in meinen
„Grundzügen einer Vibrationstheorie der
Natur“ an die Aſtronomen gerichtet, bis—
her aber keine Antwort erhalten, aus dem
einfachen Grunde, weil ſie nicht wiſſen,
was ſie mir darauf erwidern ſollen oder
weil ſie eine ſo unverſchämte Frage einer
Antwort nicht für würdig halten. Auch
Herr Zöllner hat mir keine Antwort
auf meine Frage gegeben, obgleich er in
ſeinen „Wiſſenſchaftlichen Abhandlungen“
288 Seiten über die Kräfte und ihre
Fernwirkungen zuſammengeſchrieben hat.
Ein weiterer Gegenſtand, in Bezug auf
welchen ich mich mit Herrn Schwedoff
nicht einverſtanden erklären kann, iſt die
von ihm aus der geringen Geſchwindigkeit
der Wellen in den Kometenſchweifen ge—
zogene Schlußfolgerung, daß der Weltäther
mit dem Lichtäther nicht identiſch ſein
könne. Wenn man den kühnen Griff ge—
than hat, die Kometenſchweife als eine
Wellenbewegung zu erkennen, ſo ſollte man
ſich doch auch von der unbegründeten
302 Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
Hypotheſe eines imponderabelen Lichtäthers
emanzipiren können. Der Lichtäther, welcher
nach den bisherigen Annahmen nicht blos
den Weltraum, ſondern auch die in unſeren
Händen befindlichen durchſichtigen Körper
durchdringen ſoll, iſt bis jetzt noch von
keinem Naturforſcher thatſächlich nachge—
wieſen worden.
Der Lichtäther ſoll außerdem nach der
rohen atomiſtiſchen Theorie aus discreten
Maſſetheilchen beſtehen. Nun wird aber
das Licht durch transverſale Wellen fort—
gepflanzt, während eine Bewegung ſich
zwiſchen getrennten Maſſetheilchen
nicht ſenkrecht zu ihrer Richtung
mittheilen kann, es ſei denn, daß man
wieder ſeine Zuflucht zu der begriffswidri—
gen Annahme von Molekularkräften nimmt.
Ein Lichtäther, wenn ein ſolcher exiſtiren
ſollte, könnte alſo nicht aus discreten
Maſſetheilchen beſtehen, ſondern müßte
continuirlich ſein; dann wäre aber kein
Raum für die Subſtanz der durchſichtigen
Körper übrig; es giebt alſo keinen ſpeci—
fiſchen Lichtäther, ſondern das Licht wird
von der Materie der durchſichtigen Körper
und des Weltäthers ſelbſt fortgepflanzt und
dieſelbe iſt als Träger transverſaler Lichtwellen
ebenfalls continuirlich. Damit habe ich
zwei Fliegen mit einer Klappe geſchlagen
und den doppelten Beweis geliefert, daß
der imponderabele Lichtäther un—
möglich und daß die Materie con—
tinuirlich iſt.
Aber, werden die an den althergebrachten
Lehren feſthaltenden Naturforſcher einwenden,
wie kommt es, daß die Geſchwindigkeit des
Lichtes eine ſo bedeutend größere als die
Luft fortgepflanzt werden?
Die verhältnißmäßig größere Geſchwin—
digkeit des Lichtes erklärt ſich, wie ich es
bereits in meinen „Grundzügen einer
Vibrationstheorie der Natur“ gezeigt habe,
viel leichter bei der Annahme einer con—
tinuirlichen Materie, als unter der Voraus-
ſetzung eines Lichtäthers, dem man zuerſt
die beiden ſich widerſprechenden Eigenſchaften
einer ſehr geringen Dichtigkeit und einer
ſehr großen Elaſticität zuſchreiben muß.
Durch die verſchiedene Brechbarkeit der
farbigen Strahlen ſehen wir, daß die Ge—
ſchwindigkeit der Lichtwellen und ſomit auch
der Wellen überhaupt eine Funktion der
Schwingungsdauer iſt. Wenn alſo in
einem continuirlichen Mittel durch eine ſehr
ſchnelle, aber nur kurz andauernde Erſchütter—
ung, wie eine Lichtſchwingung, eine Stör—
ung des innern Gleichgewichts hervorge—
bracht wird, ſo iſt die Rückwirkung der
Elaſticität jo groß, daß die entſtehende
Bewegung faſt momentan nach allen Richt—
ungen mitgetheilt wird. Daher die große
Fortpflanzungsgeſchwindigkeit des Lichtes.
Bezieht ſich die Störung des Gleichgewichts
auf größere Maſſen, iſt ſie eine länger
andauernde und beſteht ſie, wie beim Schalle,
aus allmälig und ſtetig in einander ver—
laufenden Verdichtungen und Verdünnungen,
ſo daß alle Theile des Mittels im früheren
Zuſammenhange bleiben, ſo iſt auch
die Fortpflanzung der auf dieſe Weiſe ent-
ſtehenden Wellen ebenfalls eine verhältniß—
mäßig langſamere. Daher die geringere Ge—
ſchwindigkeit des Schalles. Noch langſamer
als der Schall breitet ſich der Wind aus, der
auch nur eine Folge von Verdichtungen
und Verdünnungen iſt, und noch langſamer
als der Wind können ſich die noch bedeu—
tend größeren Aetherwellen bei dem ge—
des Schalles iſt, wenn beide durch die
ringen Drucke, dem ſie in den Kometen—
ſchweifen ausgeſetzt find, fortpflanzen. Wenn
ihre Geſchwindigkeit auch nicht mehr als
10 Kilometer in der Secunde beträgt, ſo
A ͤͤ⁰n! . ] ³ͤ -nTJ w ³ nn
— N
r Ya 0 ae
PN
Dellingshauſen. Ueber den Urſprung der Kometenformen.
iſt das kein triftiger Grund, um nicht
annehmen zu dürfen, daß der Weltäther,
der durch ſeine großen Wellen die Kometen—
ſchweife bildet, auch zugleich der Träger
der Licht- und Wärmewellen durch den
Weltraum iſt.
Durch meinen Widerſpruch gegen einige
in der Naturwiſſenſchaft nur zu ſehr ein—
gewurzelte Irrthümer habe ich mich ver—
leiten laſſen, von meinem eigentlichen Gegen—
ſtande abzuweichen; ich kehre zu demſelben
zurück. Herr Schwedoff hat ſich ſelbſt
davon überzeugt, daß ſeine Theorie mit
einem ruhenden interplanetaren Mittel nicht
verträglich iſt, und entwickelt daher ſeine drei
letzten Conſequenzen unter der Vorausſetzung
eines um die Sonne rotirenden Weltäthers.
Gegen ſeine weiteren Vorſtellungen iſt
daher nichts mehr einzuwenden, ſie ſind
ebenſo einfach und klar, wie ſeine eigent—
liche Theorie. Sie lauten folgendermaßen:
wahrſcheinlich, daß das interplanetare Mittel
ſeit dem Urſprunge unſeres Sonnenſyſtems
mit einer rotirenden Bewegung begabt iſt,
deren Ebene parallel zu dem Aequator der
Sonne liegt. Aber ſogar wenn dieſe Ro—
tation nicht von Anfang an exiſtiren ſollte,
ſo müßte das Mittel dieſelbe durch die
Einwirkung der Planeten erhalten.
keit dieſer Rotation bei der Beſtimmung
werden muß, weil die letztere durch die erſte
vergrößert oder vermindert werden kann.
Es folgt auch daraus, daß es Fälle
geben kann, wo ein direkter Komet, deſſen
Neigung klein und deſſen Entfernung von
der Sonne im Perihel bedeutend iſt, keine
weil ſeine Geſchwindigkeit wenig verſchieden
„Vierte Conſequenz. Ich halte es für
Es folgt daraus, daß die Geſchwindig-⸗
der Geſchwindigkeit der Wellen berückſichtigt
wahrnehmbaren Wellen hervorbringen wird,
| von derjenigen des umgebenden Mittels iſt.“
303
„Fünfte Conſequenz. Wenn das wider—
ſtandleiſtende Mittel mit einer Rotations-
bewegung begabt iſt, ſo wird ſeine Wirk—
ung auf einen Kometen von deſſen Richt⸗
ung und von der Neigung ſeiner Bahn
abhängen. Wenn die Neigung der Bahn
zu der Ebene der Rotation des Mittels
nicht groß iſt, und wenn der Komet direkt
iſt, ſo wird die Excentricität der Bahn
progreſſiv vermindert, bis die Bahn eine
Kreislinie wird, wonach jeder Widerſtand
verſchwindet. Wenn dagegen der Komet
retrograd iſt, oder wenn ſeine Bahn gegen
die Rotationsebene des Mittels (Sonnen—
Aequator) bedeutend geneigt iſt, ſo wird
der Widerſtand des Mittels auf den Ko—
meten ſo lange einwirken, bis derſelbe in
die Sonne fällt.
Es folgt daraus, daß die Wahrſchein—
lichkeit eines ſolchen Falles größer iſt für
kleine unſichtbare Körper, als für die großen
Kerne, größer für die retrograden Kometen,
als für die direkten, und noch größer für
die retrograden Kometen, deren Bahnen mit
der Ebene des Sonnenäquators zuſammen—
fallen. Ich glaube, daß darin die mög—
liche Urſache der Sonnenflecken liegt; ich
enthalte mich jedoch jeder entſcheidenden
Schlußfolgerung über dieſen Gegenſtand.“
„Sechſte Conſequenz. Die abſolute
Länge eines Schweifes muß mit der Ge—
ſchwindigkeit des Kernes zunehmen. Es
folgt daraus, daß dieſe Länge um ſo größer
ſein muß, je näher der Komet zu ſeinem
Perihel iſt und je kleiner die Periheldiſtanz
iſt. Für große Entfernungen von der
Sonne muß ſich der Schweif in einen
Nebel verwandeln (ſphäriſche Form der
Wellen), deſſen Durchmeſſer mit dem Ra-
dius vector des Geſtirnes wachſen muß.“
Um ſeine Theorie zu vervollſtändigen,
giebt Schwedoff ein einfaches Mittel an,
2
304
um die verſchiedenen Formen der Kometen—
ſchweife künſtlich darzuſtellen. Er bedient
ſich dazu eines ziemlich großen Geſchirres
(von einem Quadratmeter Bodenfläche) mit
Waſſer gefüllt, welches mit Tinte geſchwärzt
wird, um das Spiegeln des Bodens zu
verhüten.
Fährt man nun längs der Oberfläche
des Waſſers mit einem feinen Stabe hin,
z. B. mit einem Bleiſtifte, ſo werden
Wellen erregt, welche je nach der Geſchwin—
digkeit des Stiftes verſchiedene Formen
annehmen. Bewegt man den Stift nur
langſam, ſo werden die Wellen rund; bei
einer etwas ſchnelleren Bewegung des Stiftes
nehmen -fie eine elliptiſch längliche Form
an; bei einer noch ſchnelleren Bewegung
werden ſie bandförmig, und bei einem ſehr
ſchnellen Vorrücken des Stiftes breiten ſich
die hinteren Enden der Wellen nach außen
aus. Schwedoff vergleicht die Formen
dieſer künſtlich dargeſtellten Wellen mit der
Form des En cke'ſchen Kometen vom 19.
Oktober 1838, zwei Monate vor ſeinem
Perihel, ferner mit demſelben Kometen 44
Tage vor ſeinem Perihel, mit dem Ko—
meten von 1819 und mit dem großen
Kometen von 1811 zwei Tage vor ſeinem
Perihel und findet eine vollſtändige Ueber—
einſtimmung, wie er es durch beigefügte
Zeichnungen nachweiſt.
Ebenſo läßt er den Stift eine kreis—
förmige Bahn im Waſſer beſchreiben und
bringt dadurch krummlinige Wellen hervor,
welche genau die Form der Kometen von
1744, von 1577 und von Donati dar—
ſtellen. Endlich vergleicht er noch die Spur
eines Bootes mit dem Kometen von 1769
am 2. September, und auch hier iſt die
Uebereinſtimmung eine auffallende. Ein
Blick auf die Abbildungen der Kometen
iſt genügend, um die Ueberzeugung zu ge—
Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
winnen, daß Schwedoff mit ſeiner
Theorie das Richtige getroffen hat.
Das Beiſpiel mit einem Boote iſt be—
ſonders geeignet, um die Theorie Schwe—
doff's zu erläutern. Denke man ſich ein
Boot auf einem ruhig fließenden Strome
aufwärts ſteuernd; es muß ſich hinter ihm
eine lange und ſtarke Welle bilden. Liegt
das Boot vor Anker, ſo wird ſich die
Strömung des Fluſſes an ihm brechen
und unterhalb ebenfalls eine Wellenbeweg—
ung, wenn auch eine geringere, entſtehen.
Fängt das Boot an, abwärts mit dem
Strome zu gehen, ſo werden, ſo lange
ſeine Geſchwindigkeit eine geringere iſt als
die des Fluſſes, die erregten Wellen ihm
vorangehen; wird die Geſchwindigkeit des
Bootes gleich der des Fluſſes, ſo wird es
ruhig hinabgleiten und jede Wellenbewegung
aufhören; wird endlich die Geſchwindigkeit
des Bootes größer als die des Fluſſes,
ſo wird ſich wieder hinter ihm eine Welle
ausbilden, wenn auch eine geringere, als
beim Aufwärtsſteuern des Bootes. Fährt
das Boot quer über den Fluß, ſo werden
die erregten Wellen von der Strömung
abwärts getrieben und nehmen eine krumm—
linige Form an.
Alle dieſe Fälle wiederholen ſich bei
den Kometen. Kämpft der Komet gegen
den Strom des Weltäthers an, ſo bildet
ſich hinter ihm ein großer und langer
Schweif aus. Bewegt ſich der Komet in
derſelben Richtung wie der Weltäther, iſt
aber ſeine Geſchwindigkeit eine ſehr geringe,
ſo kann der Schweif ihm vorangehen; iſt
ſeine Geſchwindigkeit gleich der des Welt—
äthers, ſo kann er ohne Schweif erſcheinen;
wird ſeine Geſchwindigkeit größer, als die
des Weltäthers, ſo bildet ſich hinter ihm
wieder ein Schweif aus, wenn auch ein
geringerer als bei den retrograden Kometen.
Durchſchneidet der Komet die Strömung
des Weltäthers, ſo werden die von ihm er—
regten Wellen abgelenkt und er zeigt uns die
Erſcheinung eines krummlinigen Schweifes.
Dabei iſt nicht zu vergeſſen, daß der
Anblick, welchen ein Komet uns bietet,
auch von dem Standpunkte des Beſchauers
auf der Erde abhängig iſt. Bewegt ſich
der Komet auf die Erde zu oder von ihr
hinweg, ſo kann der Schweif nicht ſichtbar
werden oder nur als ein den Kometen
umgebender Nebel erſcheinen. Am ſtärkſten
wird ſich die Erſcheinung des Schweifes
nur dann ausbilden, wenn die Bewegung
des Kometen eine ſeitwärts gerichtete iſt
und am allerſtärkſten bei den retrograden
Kometen, bei welchen die Bewegung gegen
den Strom des Weltäthers gerichtet iſt.
Durch die Theorie des Herrn Schwe—
doff erklären ſich alſo nicht allein alle
denkbaren Formen der Kometenſchweife,
ſondern auch, weil die Kometenſchweife nur
Aetherwellen ſind, ihre Durchſichtigkeit,
welche das Licht der Sterne faſt ungeſchwächt
hindurchſcheinen läßt, ihre Beweglichkeit und
die überraſchende Geſchwindigkeit, mit der
ſie ſich entwickeln und ihre Form verändern.
Die neue Theorie bezeichnet daher eine neue
Phaſe in der Entwickelung der Aſtronomie.
Zu den Kreisbahnen, in welchen die Alten
Sonne, Mond und Sterne um die Erde
herumlaufen ließen und den complicirten
Epicyklen des ptolemäiſchen Syſtems, nach
Kopernikus, der die Sonne in den
Mittelpunkt des Planetenſyſtems verſetzte,
und Kepler, der die Form der Planeten—
bahnen beſtimmte, nach Newton, der in
der Schwere die allgemeine Urſache der
Gravitation erkannte, tritt die neue Lehre
Schwedoff's hinzu, um den leeren Welt—
raum zu füllen und die letzten Irrthümer
der Aſtronomie zu beſeitigen.
Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
305
Mit dieſer Anerkennung ſchwindet die
grauſige Leere, welche bis jetzt zwiſchen
den Weltkörpern herrſchte, es ſchwindet die
unbegreifliche, unvermittelt in die Ferne
wirkende Anziehungskraft, da der
continuirliche Weltäther von nun an die
materielle Vermittelung der Gravitation
übernimmt; mit der kosmiſchen Anziehungs—
kraft ſchwinden die Molekularkräfte,
die nur ein Strohhalm ſind, nach dem die
in der Fluth ihrer Beobachtungen verfinfen-
den Naturforſcher greifen, um damit die
unbekannten Urſachen unerklär—⸗
ter Erſcheinungen zu bezeichnen; es
ſchwinden die immateriellen Imponde—
rabilien, dieſe Ausgeburten einer krank—
haften Phantaſie; es ſchwinden endlich die
Atome und Moleküle, denen man
immer das erſt andichten muß, was man
mit ihrer Hülfe beweiſen will, wie z. B.
Clauſius, der in ſeiner Gastheorie die
Atome ſo klein und die leeren Zwiſchen—
räume ſo groß vorausſetzt, daß man ſich
verwundert fragt, wie es wohl möglich iſt,
daß wir die Wirkung der Gaſe ſpüren
und von den großen, die Atome trennen—
den Räumen nichts merken.
Von allen oben erwähnten Irrthümern
werden die Atome und Moleküle ſich bei
den Chemikern am längſten erhalten.
Obgleich die aus paarweiſe zuſammen⸗
gekoppelten Atomen beſtehenden Moleküle
der einfachen Gaſe wie zwei Fliegen, die
ſich begatten, im leeren Raume herumirren
ſollen, obgleich die Kohlenſtoffverbindungen
an Bienenſchwärme erinnern, in welchen
der Kohlenſtoff die Stelle der Königin ver—
tritt, und die gegenwärtig allgemein be—
liebte Struktur- oder Kettentheorie nur
eine Kette von Unwahrſcheinlichkeiten iſt,
ſo haben ſich doch bis jetzt die Chemiker
bei ihren im Allgemeinen mangelhaften
—
Kosmos, Band III. Heft 4.
39
306
mathematiſchen Kenntniſſen den neueren
mechaniſchen Anſchauungen ſehr wenig zu—
gänglich gezeigt. Zwar habe ich vor einigen
Jahren in meinen „rationellen Formeln
der Chemie“ die drei einfachen Sätze auf—
geſtellt:
1) daß alle Eigenſchaften der Körper
auf ihren inneren Bewegungen beruhen;
2) daß eine chemiſche Verbindung nur
eine Vereinigung der inneren Bewegungen
zweier Körper iſt;
3) daß die chemiſchen Aequivalentgewichte
mechaniſche Aequivalente und daher genau
beſtimmt ſind.
Jedoch ſcheinen die Chemiker bis jetzt
nicht recht begriffen zu haben, welche ſichere
Baſis ich für die theoretiſche Entwidel-
habe,
ung ihrer Wiſſenſchaft geſchaffen
und fahren nach wie vor damit fort, ihre
Strukturformeln zu entwickeln, die völlig
zwecklos ſind, weil die Chemie nie zu einem
endgültigen Reſultate gelangen wird, fo
lange ſie von einer dogmatiſch atomiſtiſchen
Grundlage ausgeht. Wenn ſich auch ab
und zu ein Chemiker findet, der ſich den
mechaniſchen Anſchauungen günſtig erweiſt,
wie z. B. Kekulé, der in feiner Recto—
ratsrede über „die wiſſenſchaftlichen Ziele
und Leiſtungen der Chemie“ ſich ſogar, trotz
ſeines Benzolringes, zu dem Satze erhebt,
„daß die in der Zeiteinheit ausgeführte
Anzahl von Schwingungen den chemiſchen
Werth der Elemente darſtellt,“ ein Satz,
der meinen Anſichten ſo nahe kommt, daß
ich im Zweifel darüber bin, ob derſelbe
nicht meinen „Rationellen Formeln,“ ohne
Quellenangabe, wenigſtens dem Sinne nach
entnommen iſt, ſo findet ſich ſofort ein anderer
Chemiker, wie Kolbe, der ſogar nicht weiß,
was eine Mechanik der Atome bedeutet („Kri—
tik der Rectoratsrede von Aug. Kekulé.
Separatabdruck S. 5) und ſich doch gegen—
ͤ—— . — —⅜ MfN—
Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen.
über Kekulé zum Sprachlehrer aufwirft.
Um jedoch meinerſeits nichts zu verſäumen,
was dazu beitragen kann, unter den Che—
mikern die mechaniſchen Anſchauungen zu
verbreiten und um Herrn Kolbe auf ſeine
Frage: Was heißt Mechanik der Atome?
die Antwort nicht ebenſo ſchuldig zu bleiben,
wie die Aſtronomen und Herr Zöllner
mich auf meine Frage: Wie iſt eine An—
ziehungskraft möglich? ohne Antwort gelaſ—
ſen haben, ſo will ich ihm mittheilen, daß
man unter einer Mechanik der Atome den
erfolgreichen Verſuch verſteht, alle Natur—
erſcheinungen durch Bewegung zu erklären.
So erſcheint Alles in der Natur eng mit
einander verbunden zu ſein; von den Ko—
metenſchweifen wird man zu den chemiſchen
Formeln geführt. Daher hoffe ich auch, daß
die neue Theorie des Herrn Schwedoff
mächtig dazu beitragen wird, den morſchen
Bau der gegenwärtig noch in den Lehrbüchern
der Phyſik und Chemie herrſchenden Natur-
theorie zu ſtürzen und die Atome und
Moleküle, die Imponderabilieu
und Molekularkräfte, die ein aufrich—
tiger Naturforſcher weder ausſprechen, noch
niederſchreiben dürfte, dahin zu verweiſen,
wohin ſie gehören, in den Abgrund der
Vergeſſenheit, um ſie durch die alleinige
Urſache aller Naturerſcheinungen zu er—
ſetzen, durch — Bewegung.“)
) Theilen wir auch nicht ganz die Entrüft-
ung des bekannten Mathematikers, und glauben
wir, daß noch einige Zeit verfließen wird, bevor
man ſich mit Fug und Recht von allen Dogmen
abwendet, ſo nehmen wir doch Antheil an
der im Ganzen nicht unrichtigen Tendenz des
Forſchers: Alle Erſcheinungen nur als Bewe—
gungserſcheinungen aufzufaſſen und
die phyſikaliſchen und chemiſchen Atome als
Complexe von Bewegungsformen zu denken.
Anm. der Red.
2
Ueber die Verbreitung des Bewuhtſeins
in der organilchen Aubſtanz.
Von
Dr. S. Kühne.
N 2 9 01 gewiſſer phyſtlagſcer
N Vorgänge dem Protoplasma
Gedächtniß zuzuſprechen geneigt iſt, jedenfalls
deshalb, weil die Verſuche, auf andere Weiſe
Licht in dieſelben zu bringen, reſultatlos
geblieben ſind. Trotzdem ſehen wir, daß
die meiſten exakten Phyſiologen ſich durch—
aus ablehnend gegen jede Hypotheſe ver—
halten, die auch nur die ſchüchternſten An—
ſtrengungen macht, die Annahme des aus—
ſchließlichen Sitzes der Seelenerſcheinungen
in den Hemiſphären des großen Gehirnes
zu erſchüttern. Manche von ihnen gehen ſo—
gar ſo weit, daß ſie in ihren Lehrbüchern
die ſeeliſchen Funktionen überhaupt nicht
abhandeln, weil ſie aller phyſiologiſchen
Analyſe bis jetzt getrotzt haben, und nur
ein Gebiet für naturwiſſenſchaftlich unbe—
gründete Hypotheſen ſein ſollen. Ein gleicher
Verzicht wird von Dubois-Reymond
ausgeſprochen, wenn er die Empfindung
als etwas für immer Unerklärliches hinſtellt,
obgleich man eigentlich nicht recht einfehen
kann, warum er gerade fie als Grenze
des Naturerkennens gewählt hat, von der
doch Jeder genau aus Erfahrung weiß,
was er darunter zu verſtehen hat, während
alle übrigen Naturkräfte in ihrem Weſen
mindeſtens ebenſo undefinirbar ſind. Unter
dieſen Umſtänden wird der Verſuch gerecht—
fertigt erſcheinen, auf Thatſachen geſtützt,
zur Klärung dieſer Frage die genetiſche
Methode anzuwenden, die ſchon ſo oft
half, wo andere im Stiche ließen.
Wenn man dem Protoplasma Ge—
dächtniß zuſchreibt, um gewiſſe zweckmäßige
complicirte Bewegungen zu erklären, die
vererbt find und ſcheinbar unbewußt aus-
geführt werden, ſo überſieht man dabei,
daß mit ihm allein wenig oder nichts an—
zufangen iſt, denn mit der Erinnerung an
Vergangenes iſt noch nichts geſchehen;
zur Ausführung einer Handlung gehören
unbedingt noch andere pſychiſche Thätigkeiten.
Hier kann nur dann bahnbrechend gewirkt
werden, wenn es uns gelingt, die Hypotheſe
des ausſchließlichen Sitzes des Bewußtſeins
im großen Gehirn als unhaltbar nachzuweiſen.
Wie weit ſich die Empfindung in der
308 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz.
Natur nach abwärts erſtreckt, darüber gehen
die Anſichten weit auseinander, dagegen
wird ihr Vorhandenſein in den niedrigſten
thieriſchen Organismen übereinſtimmend an—
erkannt. Man kann hier auf ihre Gegen—
wart nur durch eintretende oft zweckmäßige
Bewegungen ſchließen, welche auf eine innere
oder äußere Veränderung, die wir Reiz
nennen, folgen; ſie bildet alſo ein Mittel—
glied zwiſchen letzteren und der Bewegung.
Viele Beobachtungen deuten darauf hin,
daß Empfindung in derſelben Weiſe in Be—
wegung umgeſetzt wird, wie es mit Wärme,
Electricität ꝛc. der Fall iſt.
Menſch und Thier machen ihrer Freude
und ihrem Schmerze durch lebhafte Beweg—
ungen Luft, mit merklichem Nachlaſſe der
erregenden Empfindung. Ein von Angſt
Gequälter erleichtert ſich durch beſtändiges
Wechſeln ſeiner Lage, ja es iſt nicht ſelten,
daß Melancholiker nur dann von ihrer
Seelenqual befreit werden, wenn ſie irgend
eine Gewaltthat begehen, mit welcher dann
vollſtändige Beruhigung eintritt. Die ra—
ſendſte Wuth tobt ſich in energiſchen Be—
wegungen aus. Wir ſehen aus dieſen
Beiſpielen, daß Empfindung mit dem Ein—
tritte von Bewegung verſchwindet, oder ge—
mindert wird, nachdem ſie ihrerſeits aus
Bewegungsveränderungen entſtanden war,
daß alſo beide in gegenſeitiger cauſaler Be—
ziehung zu einander ſtehen. Die aus der
Empfindung entſtandene Bewegung nennen
die Phyſiologen eine Reflexbewegung.
Was nun das Verhältniß der Em—
pfindung zum Bewußtſein anbetrifft, ſo
werden folgende Betrachtungen daſſelbe
klarſtellen. Wenn wir uns im denkbar
ruhigſten wachen Zuſtande befinden, ohne
daß heftigere äußere oder innere Reize
auf uns einwirken, ſo bemerken wir den—
noch eine Summe verſchiedenartiger Em—
U
pfindungen, die wir bei Ausſchluß einer
beſonderen Aufmerkſamkeit, als ein Ganzes
annehmen. Sobald wir aber unſere
Aufmerkſamkeit ſcharf darauf richten, fin—
den wir Lichtempfindungen, leiſe Geräuſche,
ſchwache Geruchs- und Geſchmacksempfind—
ungen, denen ſich eine große Menge von
Taſt⸗, Temperatur- und Muskelgefühlen
anſchließen. Ganz paſſend kann man des—
halb das Bewußtſein mit einem Waſſer—
falle vergleichen, der in einer großen zu—
ſammenhängenden Maſſe herabfällt, bei
blitzdhchnell vorübergehender Beleuchtung
aber ſeine Zuſammenſetzung aus Tropfen
zu erkennen giebt. Könnten wir ein Ge—
fühl nach dem anderen ausſchließen, ſo
würde das Bewußtſein immer inhaltsleerer
werden, ein Vorgang, den wir in der Na—
tur treffen, wenn wir auf der Stufenleiter
der Organismen nach abwärts ſteigen.
Steigern ſich andererſeits durch mächtiger
einwirkende Reize die Empfindungen, jo
erſcheint auch das Bewußtſein entſprechend
modificirt. Beide ſind alſo nur
quantitativ von einander ver⸗
ſchieden. Stellen wir uns ein Weſen
mit einfacher Empfindung vor, ſo iſt in
ihm die letztere mit dem Bewußtſein identiſch.
Die bisher angenommene Hppotheſe
eines einzigen Bewußtſeins mit dem Sitz in
den Großhirnhemiſphären ſtützt ſich darauf,
daß man bei Thieren und Menſchen, denen
die betreffenden Hirntheile entfernt oder
auf andere Weiſe außer Function geſetzt
waren, Erſcheinungen beobachtete, die man
mit poſitiver Sicherheit mit Bewußtloſig—
keit verknüpfen zu müſſen glaubte. Es iſt
deshalb zunächſt nothwendig zu unterſuchen,
worauf man bis jetzt die Diagnoſe der
Bewußtloſigkeit gegründet hat. Gewöhnlich
ſchließt man beim Menſchen, wenn Simula—
tion ausgeſchloſſen iſt, ohne Weiteres darauf,
Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz.
wenn der Betreffende auf Fragen keine
Reize keinen Schmerz äußert.
Verändert
309
wehrende Bewegungen macht, ſpäter aber
Autwort giebt, auch keine Zeichen macht,
daß er nicht ſprechen kann und auf heftige
ſich nun der Zuſtand, erfolgen richtige
Antworten, und erklärt der Kranke, von
der fraglichen Zeit nichts zu wiſſen, ſo
unterliegt es ſcheinbar keinem Zweifel mehr,
daß er bewußtlos geweſen iſt. Die Dia—
gnoſe baſirt alſo erſtens auf dem Aus-
bleiben von gewiſſen Bewegungen nach
Sinnesempfindungen, und zweitens auf dem
eignen Zeugniſſe des Kranken.
nun aber thatſächlich feſtgeſtellt, daß es
nicht allein krankhafte Zuſtände giebt, welche
das Bewußtſein mehr oder weniger intakt
laſſen, aber die zur Erkennung deſſelben
geforderten Bewegungen ausſchließen, ſon-
dern auch, daß die negative Ausſage des
Kranken dadurch veranlaßt werden kann,
daß er ſich einfach an die fragliche Zeit,
in Folge temporären Ausbleibens der Fixir—
ung der Vorſtellungen, nicht erinnert. Daß
letztere Annahme nicht in der Luft ſchwebt,
beweiſen folgende Beobachtungen. Bei
manchen ſchweren Erkrankungen, wie z. B.
der Cholera, iſt nicht ſelten bemerkt worden,
daß der Kranke auf der Höhe der Krankheit
ganz richtige Antworten giebt und über—
haupt den Eindruck eines vollkommen be—
wußten Menſchen macht, nach eingetretener
Reconvalescenz aber behauptet, ſich durch—
aus an nichts zu erinnern, was mit ihm
in der betreffenden Periode vor ſich gegangen
iſt, und daß er in Folge deſſen bewußtlos
geweſen zu ſein glaubt. Das Unſichere
der obigen Beweisführung kann danach
keinem Zweifel unterliegen und wir werden
deshalb die Möglichkeit der abſolut ſicheren
Feſtſtellung der Bewußtloſigkeit bezweifeln
müſſen.
rend der Operation heftig ſchreit und ab—
Es iſt
Wenn ein Chloroformirter wäh-
behauptet, keinen Schmerz empfunden zu
haben, ſo iſt damit keineswegs ſicher be—
wieſen, daß er wirklich bewußtlos geweſen
ſei. Das Ungeeignete einer ſolchen Annahme
tritt recht frappant bei der Betrachtung
eines Seelenzuſtandes zu Tage, welchen
man doppeltes oder alternirendes Bewußt—
ſein zu nennen pflegt. Es wechſeln hier
gewöhnlich ein in der Entwickelung rück—
ſtändiger und der normale Geiſteszuſtand
mit einander ab, wobei ſich die Erinnerung
nur auf die vorhergegangenen gleichwerthi—
gen Perioden erſtreckt, während der Kranke
überhaupt von dem Vorhandenſein dieſes
doppelten Zuſtandes keine Ahnung hat, in
welcher Periode er ſich auch befinden mag.
Sofort mit dem Eintritte des Wechſels
erinnert er ſich nicht mehr an den eben
verlaſſenen Zuſtand und ebenſowenig an
die mit dieſem gleichwerthigen. Läßt man
hier die Ausſage des Kranken gelten, ſo
muß man ihn conſequenterweiſe für per-
manent bewußtlos erklären, weil er ſich in
keiner der beiden Perioden an die andere
erinnert, und doch können wir uns mit
ihm jederzeit frei unterhalten.
Auf ähnliche Ungereimtheiten ſtoßen
wir bei der bisherigen Beurtheilung der
wiſſenſchaftlich conſtatirten Fälle von Som—
nambulismus, der bekanntlich darin beſteht,
daß Jemand in angeblich bewußtloſem Zu—
ſtande eine mehr oder weniger lange Reihe
von höchſt complicirten uud zweckmäßigen
Bewegungen ausführt, reſp. Geiſtesarbeit
verrichtet. Nehmen wir als Beiſpiel jenen
Schüler, welcher im ſomnambulen Zuſtande
ſeine Schularbeiten regelmäßig viel beſſer
machte, als in ſeinem gewöhnlichen, ſo muß
man wirklich ſtaunen, daß man bis jetzt
keinen Anſtand genommen hat, derartige
volle pſychiſche Arbeit für bewußtlos aus—
8
geführt zu halten, während doch die An—
nahme der ausgefallenen Fixirung der
Vorſtellungen während des Anfalls eine
viel ungezwungenere Erklärung bietet. Der
ſomnambule Zuſtand charakteriſirt ſich da—
nach durch eine nach einer beſtimmten Richt—
ung hin ſcharf concentrirte pſychiſche Thä—
tigkeit, wobei ſtörende Nebenvorſtellungen
vollſtändig ausgeſchloſſen bleiben, die zur
Erinnerung nothwendige Fixirung der erſte—
ren aber nicht ſtattfindet. So erklärt es
ſich leicht, daß der Nachtwandler auf ſeinen
gefährlichen Wegen keine Furcht und keinen
Schwindel kennt und deshalb mit einer
Sicherheit ſich bewegt, die er im normalen
Zuſtande nicht beſitzen würde. Auch ge—
wiſſe epileptoide Zuſtände gehören hierher.
So verliert, um ein bekanntes Beiſpiel zu
wählen, ein Architekt in einem Neubau
plötzlich ſcheinbar das Bewußtſein, fährt
aber fort, ſich ganz zweckmäßig auf Leitern
und Balken zu bewegen, ohne einen Fehl—
tritt zu thun. Die Annahme des Aus—
falles der Erinnerung bietet auch hier die
befriedigendſte Erklärung.
Iſt nun aber eine abſolut ſichere Dia—
gnoſe der Bewußtloſigkeit, wie wir oben
gezeigt haben, ſelbſt auf dem unbeſtrittenen
Gebiete des Großhirnbewußtſeins nicht mög—
lich, ſo dürfte es den Anhängern der aus—
ſchließlichen Annahme des letzteren noch
ſchwerer werden, den Beweis für das
Nichtvorhandenſein des Bewußtſeins in den
älteren Theilen des Nervenſyſtems zu führen.
Der Nachweis des Großhirnbewußt—
ſeins ſtützt ſich einzig auf zweckmäßig aus-
geführte Bewegungen, welche auf Empfind— |
ungen folgen, wir können deshalb die
Beweiskräftigkeit ſolcher Reflexbewegungen
auch für die niedriger differenzirten Nerven-
gebiete in Anſpruch nehmen.
Hier ſtoßen wir nun ſofort auf ener—
310 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz.
giſchen Widerſpruch von Seiten der meiſten
exacten Phyſiologen, welche den Schluß von
zweckmäßigen Bewegungen auf Bewußtſein
nicht anerkennen und zwar deswegen nicht,
weil zufällige Verwundungen an Menſchen
gezeigt haben ſollen, daß zweckmäßige Be—
wegungen ſelbſt noch in Körpertheilen
eintreten, die jeder Empfindung entbehren.
So verliert ein Menſch, deſſen Rücken—
mark unterhalb des Abganges der Re—
ſpirationsnerven durchſchnitten iſt, zwar
augenblicklich das Gefühl und die will—
kührliche Bewegung in allen abwärts von
der Wunde liegenden Körpertheilen, zieht
aber bei einem leiſen Kitzel der Fußſohle
dennoch das betreffende Bein ganz zweck—
mäßig zurück, ohne ſich deſſen in ſeinem
Gehirn im geringſten bewußt zu werden.
Damit, glaubt man nun, iſt der unumſtöß—
lichen Beweis geliefert, daß zweckmäßige
Bewegung auch ohne Bewußtſein geleiſtet
werden kann, und erklärt das Ganze für
einen unbewußten Reflexvorgang, wobei
man freilich die allgemein angenommene
Definition der Reflexbewegung zu vergeſſen
ſcheint, die beſagt, daß letztere eine aus
Empfindung umgeſetzte Bewegung iſt. Weil
man ſich aber Empfindung ohne Bewußt—
ſein nicht denken kann, ſo ſtoßen wir hier
auf einen argen Widerſpruch. Aus dieſer
Beobachtung kann nur gefolgert werden,
daß auch in den Rückenmarkscentren be—
wußte pſychiſche Thätigkeit herrſcht, die aber
im großen Gehirne nicht empfunden wird.
Ehe wir nun zur Feſtſtellung des Ver—
hältniſſes des Großhirnbewußtſeins zu dem
der niedriger differenzirten Theile des Ner—
venſyſtems übergehen, führen wir noch kurz
einige einſchlägige Experimente an Thieren
an, welche geeignet ſind unſere Streitfrage
näher zu beleuchten. Entfernt man durch
eine Operation die Großhirnhemiſphären
Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organischen Subſtanz. 311
eines Froſches, ſo verliert derſelbe dadurch
nur die Fähigkeit von hier aus Bewegungen
zu veranlaſſen oder zu hemmen, er iſt aber
im Stande, alle ſonſt möglichen zweckmäßi—
gen Bewegungen auszuführen, wenn die
fehlende Anregung durch den Gehirnwillen
auf andere Weiſe erſetzt wird. Sticht man
einem derart enthirnten Froſch mit einer
Nadel in den Rücken, ſo macht er einen
Satz nach vorwärts, unter Vermeidung ihm
in den Weg gelegter Hinderniſſe, zeigt da—
durch alſo, daß ſogar, trotz des Mangels
der Großhirnhemiſphären, ſein Sehvermögen
noch erhalten iſt. Ohne äußeren Anreiz
ſitzt er aber in natürlicher Stellung reg—
ungslos da und verhungert, ſelbſt wenn
er von Fliegen umringt iſt. Bringt man
ihm dieſelben aber in den Schlund, ſo ver—
ſchluckt er ſie ganz regelrecht, ſodaß man
ihn auf dieſe Weiſe monatelang am Leben
erhalten kann. Schneidet man ihm den
ganzen Kopf ab, ſo bleibt er immer noch
in ſeiner natürlichen Stellung und wird,
wenn man ihm eine ätzende Flüſſigkeit an
das Vorderbein bringt, dieſelbe mit dem
Hinterbeine derſelben Seite abzuwiſchen
ſuchen. Schneidet man ihm auch dieſes ab,
ſo verſucht er denſelben Zweck mit dem
Stumpfe zu erreichen und führt ſpäter, da
dies nicht gelingen kann, andere complicirte
Bewegungen aus, um die ätzende Flüſſig—
keit zu entfernen. Jeder unbefangene Laie
wird beim Anblicke ſolcher zweckmäßig aus—
geführten Bewegungen nicht einen Augen—
blick an der Bewußtheit derſelben zweifeln,
der exacte Phyſiologe dagegen erklärt ſie
einfach für rein automatiſche, unbewußte
Reflexbewegungen, um die alte ſo lieb ge—
wordene Bewußtſeinshypotheſe nicht auf—
geben zu müſſen. Was es aber mit dieſen
unbewußten Reflexbewegungen auf ſich hat,
glauben wir oben gezeigt zu haben.
Eine gleichmäßige Vertheilung des Be-
wußtſeins kann man nur in einem Thiere
annehmen, in welchem noch keine Arbeits—
theilung des Empfindungsorganes ſtattge—
funden hat; hier muß, bei Abweſenheit
jeder Centraliſation, ein mit der Empfind⸗
ung noch identiſches Bewußtſeins in gleicher
Stärke über das ganze Weſen vertheilt ſein.
Differenzirt ſich aber die Empfindung, ſo
wird fie ſich einerſeits anhäufen, anderer
ſeits vermindern, ohne indeſſen in andere
Arbeit verrichtenden Theilen vollſtändig
zu verſchwinden. Nur wenn man annehmen
wollte, daß eine vollendete Differenzirung
ſtattfände und ſich die ganze Empfindung
vollſtändig in der Centralſtelle anhäufte,
könnte die Hypotheſe des ausſchließlichen
Bewußtſeinsſitzes im Hirn aufrecht erhalten
werden. Etwas Aehnliches iſt aber nir—
gends nachgewieſen. So vollkommen unſer
Verdauungskanal auch feine Funktion aus—
übt, ſo iſt dem Protoplasma anderer Kör—
pertheile dennoch die Verdauungskraft nicht
vollſtändig abzuſprechen. Ein unter die
Haut oder in die Lungen eines höheren
Thieres gebrachtes Stück Knochenhaut oder
Muskel wird ſchließlich ſo vollſtändig von
den umgebenden Zellen zerſetzt und auf—
genommen, daß man ſpäter auch keine Spur
davon mehr nachweiſen kann; ja es giebt
ſogar einen beſonders an Knochen beobach—
teten krankhaften Zuſtand, der dadurch
charakteriſirt iſt, daß gewiſſe Zellen die
Verdauungskraft in ſo hohem Grade zeigen,
daß ſie ihre Nachbarn geradezu verzehren.
Das höchſt differenzirte Bewegungsorgan,
die Muskelzelle, führt zwar ſeine Funktion
am vollkommenſten aus, das weiße Blut⸗
körperchen bringt aber ſeine amoeboiden
Bewegungen auch noch zu Stande. Wir
haben deshalb durchaus keinen Grund an—
zunehmen, daß gerade die Nerven in dieſem
| 312 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. |
l
Punkte eine Ausnahme machen ſollten,
wie denn überhaupt eine vollendete Diffe—
renzirung kaum denkbar iſt. Freilich wird,
dem Sparſamkeitsgeſetze der Natur ent-
ſprechend, dem niedriger differenzirten Theile
immer nur ſo viel Empfindung bleiben,
als zur Ausübung ſeiner Funktion unbe—
dingt nöthig iſt, während der größere Theil
in die neue Centralſtelle übergeht. Wir
werden deshalb das hellſte Bewußtſein
immer in dem zuletzt entſtandenen Abſchnitte
des Nervenſyſtems vorausſetzen dürfen,
ohne dadurch berechtigt zu ſein, eine voll—
ſtändige Bewußtloſigkeit der älteren anzu—
nehmen. Je höher ſich nun die Empfind-
ung durch die allmälige Entſtehung der
Sinnesorgane entfaltet, deſto complicirter
muß die pſychiſche Thätigkeit werden, die
überall in mehr oder weniger zweckmäßigen
Reflexbewegungen ihren Ausdruck findet.
Der Uebergang zur nächſt höheren Stufe
findet ſelbſtredend immer ſehr allmälig
und continuirlich ſtatt; wir finden deshalb
beiſpielsweiſe das Rückenmark eines Thieres
deſto größer, je weniger die Entwickelung
des Gehirns bei ihm fortgeſchritten iſt,
und in Folge deſſen daſſelbe um ſo fähiger,
auch ohne Hirnbewußtſein mit ſeinem eignen
Bewußtſein dem Organismus zu dienen,
wenn günſtige Umſtände dies geſtatten.
Wenn wir nun ſchließlich einen Ver—
gleich anſtellen zwiſchen den Leiſtungen un—
ſeres in den Großhirnhemiſphären reſidi—
renden Intellekts, als höchſter bis jetzt
erreichter Entwickelungsſtufe des Nerven—
ſyſtems, und denjenigen des Rückenmarks
und Mittelhirns, ſo muß uns die große
Sicherheit auffallen, mit welcher letztere
funktioniren und wie wenig Anregung ſie
nöthig haben, um die complicirteſten und
zweckmäßigſten Bewegungen auszuführen,
Zuſtande kaum zur Beobachtung kommen.
Dabei geht die Vererbung dieſer Eigen—
| haften ſehr leicht vor ſich, wie alle ange—
borenen Bewegungen, die vom Großhirn—
bewußtſein unabhängig vor ſich gehen,
beweiſen. Wir ſehen hier einen mit wenigen
Mitteln ſehr vollkommen arbeitenden Mecha—
nismus, der ſeine Sache ſo gut verſteht,
daß er die von ihm verlangten Leiſtungen
ſozuſagen im Schlafe ausführen kann.
Betrachten wir dagegen das jüngſte
Erzeugniß der Differenzirung unſeres Ner—
venſyſtems, das pſychiſche Organ im großen
Gehirn, ſo bietet ſich uns ein weſentlich
anderes Bild dar. Trotz des ungeheuren
Vortheils, welchen der Menſch durch ſeinen
Intellekt im Kampfe ums Daſein bekommen
hat, läßt ſich nicht verkennen, daß die Thä—
tigkeit deſſelben noch keineswegs eine hohe
Stufe der Vollkommenheit erreicht hat. Auf
keinem Gebiete des thieriſchen Lebens iſt
Zweckmäßiges noch mit ſoviel Unzweck—
mäßigem gemiſcht und deshalb der Ausleſe
ein ſo reiches Feld geboten, als hier. Das
Kind führt die complicirteſten Bewegungen
gleich nach der Geburt, unabhängig vom
Großhirnbewußtſein, mit voller Sicherheit
aus, es ſaugt und ſchreit ganz vollkommen
und lernt nach und nach ohne die geringſte
Anleitung gehen. Wie ſchwierig wird es
ihm dagegen intellektuelle Arbeit zu liefern!
Die dauernde Fixation der Vorſtellungen,
auf welcher das Gedächtniß beruht, geht
meiſt nur nach häufiger Wiederholung der
Eindrücke vor ſich und verwiſcht ſich leicht,
wenn letztere nicht aufgefriſcht werden.
Das
willkührliche Hervorrufen von auf dieſe
Weiſe erworbenen Vorſtellungen geht oft
äußerſt zögernd von Statten, während
nichtgewünſchte ſich unwillkührlich vordrän—
gen. Daß ſich eine Vererbung des müh—
während Unzweckmäßigkeiten im normalen ſam errungenen intellektuellen Materials
vorbereitet, wird kaum angedeutet durch
die mehr oder weniger große Leichtigkeit,
mit welcher verſchiedene Menſchen geiſtige
Aufgaben löſen; es kommt nur höchſt ſelten
vor, daß man dabei die Empfindung hat,
als träfe man auf Bekanntes und als leiſtete
ſich in Folge deſſen die Arbeit ganz von ſelbſt.
Die pfychiſche Thätigkeit des großen
Gehirns macht im Allgemeinen den Ein—
druck von etwas in der Bildung Begriffe—
nem und Unfertigem, aus welchem das zur
Vererbung Geeignete ganz allmälig abge—
ſetzt wird, womit es unter Abnahme der
Bewußtſeinsintenſität aus der Sphäre des
Hirnbewußtſeins ſchwindet. Der Umſtand,
daß die pfychiſche Thätigkeit des ganzen
Nervenſyſtems nicht in allen ſeinen einzel—
nen Theilen gefühlt wird, erklärt ſich leicht
aus der Nutzloſigkeit, ja Schädlichkeit einer
ſolchen Einrichtung, welche die Menge
ſtörender Nebenvorſtellungen nur vermehren
würde. Vielleicht ſind gewiſſe Geiſtes—
krankheiten auf eine Störung dieſes nor—
malen Verhältniſſes zurückzuführen.
Faſſen wir nun ſchließlich die Haupt—
punkte unſerer auf Thatſachen geſtützten und
mit keinem Geſetze der Entwickelungslehre
in Widerſpruch ſtehenden Theorie des Bewußt—
ſeins zuſammen, ſo ergiebt ſich Folgendes:
1. Empfindung und Bewegung ſind
Eigenſchaften eines jeden thieriſchen Orga—
nismus.
2. Empfindung ſteht in demſelben Ver—
hältniſſe zur Bewegung, wie Wärme,
Elektricität, Magnetismus x.
3. Das Weſen der Empfindung iſt
uns durch die Selbſtbeobachtung näher ge—
rückt, als das der anderen Naturkräfte.
Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. 313
4. Empfindung und Bewußtſein ſind
nur quantitativ und nicht qualitativ von
einander verſchieden.
5. Jede Reflexbewegung iſt aus der
Empfindung entſtanden und kann deshalb
nicht ohne Bewußtſein vor ſich gehen.
6. Eine abſolut ſichere Feſtſtellung
der Bewußtloſigkeit im lebenden thieriſchen
Organismus iſt ſelbſt auf dem Gebiete
des Hirnbewußtſeins unmöglich.
7. In gleicher Intenſität vertheilt iſt
das Bewußtſein nur da, wo eine Arbeits—
theilung der Empfindung noch nicht ſtatt—
gefunden hat.
8. Nimmt man die ausſchließliche Lo—
caliſirung des Bewußtſeins im großen Ge—
hirn an, ſo verfällt man in den Artbegriff
und giebt die Möglichkeit einer vollſtändig
abgeſchloſſenen Differenzirung zu.
9. Da es ſich in den älteren Theilen
des Nervenſyſtems um eine vererbte, gut
fixirte und gekonnte pſychiſche Thätigkeit
handelt, welche mit dem automatiſchen
Herſdgen einer in suecum et sanguinem
übergegangenen Lektion zu vergleichen iſt,
ſo erſcheint hier das durch die höhere
Differenzirung ſtark abgeſchwächt zurückge—
bliebene Bewußtſein vollkommen genügend
und iſt nicht im Stande, ſtörend in die
Thätigkeit des Hirnbewußtſeins einzugreifen.
Letzteres findet vielleicht bei gewiſſen Geiſtes-
krankheiten ſtatt, wo einzelne Pſychologen
aus dem Ungrunde auftauchende Vorſtell—
ungen annehmen zu müſſen glaubten, wäh-
rend es ſich dabei wahrſcheinlich nur um
eine krankhaft erhöhte, in das Hirnbewußt⸗
ſein einbrechende Thätigkeit der älteren
Nervengebiete handelt.
— ——
Kosmos, Band III. Heft 4.
40
Die Infehten als unbewußte Blumezüdter,
Von
Dr. Hermann Müller.
e nach Ch. Darwin's Theorie
und Pflanzenarten bedingt. Wir ſind uns,
indem wir dieſe Ausdrücke gebrauchen, ſehr
wohl bewußt, daß wir ſie nur in über—
tragenem, bildlichem Sinne verſtehen dür—
fen, daß in der Natur die unerbittliche
Macht phyſikaliſcher Kräfte waltet, bei denen
Bzüchtung nennen wir den-
Js jenigen Cauſalnexus, welcher
die Entſtehung neuer Thier
5
zu ſtetem Zurückgehen auf dieſelbe veran—
laſſen. Sie erinnern uns, daß wir, indem
wir die Selektionstheorie zur Erklärung
von Erſcheinungen der organiſchen Natur
anwenden, im Grunde weiter nichts thun,
als denſelben urſächlichen Zuſammenhang,
durch welchen ſich die von uns gezüchteten
Thiere und Pflanzen unter unſeren Augen
von Erkennen und Wollen, alſo auch von
Ausleſen und Züchten eigentlich nicht die |
Rede ſein kann; wir bezeichnen daher, wo
es darauf ankommt, jede Möglichkeit einer
Mißdeutung beſonders ſorgfältig zu ver—
meiden, das Ergebniß deſſelben urſächlichen
Zuſammenhanges auch als das Erhalten
Trotzdem
aber geben wir für gewöhnlich den Aus-
bleiben des Paſſendſten.
drücken Naturausleſe und Natur—
züchtung den Vorzug, nicht allein wegen
ihrer größeren Kürze, ſondern hauptſächlich
deshalb, weil ſie uns die Quelle unſeres
Verſtändniſſes der Entſtehung der Arten in |
lebendigem Bewußtſein erhalten und uns
*
verändern und in neue Raſſen umwandeln,
hypothetiſch auf die in freier Natur von
jeher ſtattgehabten Veränderungen der or—
ganiſchen Formen und ihre Umwandlung
in neue Arten übertragen.
Je vollſtändiger die Bedingungen der
Naturzüchtung mit denen der künſtlichen
Züchtung übereinſtimmen, um ſo vollſtän—
diger muß die Uebereinſtimmung der Pro—
dukte beider ſein, um ſo begründeter der
Vergleich, um ſo eingehender und klarer
die Vorſtellung, welche wir von den unſerer
n irekten Beobachtung entzogenen Vorgängen
gewinnen, denen die uns jetzt vorliegenden
Thier- und Pflanzenarten ihr Daſein ver—
danken. Wenn ſich daher zeigen läßt, daß
die Naturzüchtung der Blumen weit enger
als andere Naturzüchtungen mit den Zücht—
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
ungen des Menſchen übereinſtimmt, ſo wird
ſich von einem näheren Vergleiche beider
auch ein eingehenderes Verſtändniß der Ent—
ſtehung der Blumengeſtalten erwarten laſſen,
als wir es im Allgemeinen von organiſchen
Geſtalten zu gewinnen im Stande ſind.
Im Allgemeinen ſtimmen die thatſäch—
lich vom Menſchen ausgeübte Züchtung
und die angenommene Naturzüchtung in
folgenden Stücken überein: 1) Von Gene—
ration zu Generation wird die Individuen—
zahl jeder in Züchtung begriffenen Art
vervielfältigt. 2) Von Generation zu Ge—
neration differiren die gleichzeitigen Indi—
viduen unter ſich. 3) Von Generation zu
Generation bleiben nicht alle, auch nicht
beliebige, ſondern nur nach beſtimmten
Richtungen hin vor den übrigen ſich aus—
zeichnende Individuen zur abermaligen Ber-
vielfältigung erhalten. 4) Dieſe ſich ver—
vielfältigenden Individuen vererben ihre
Eigenthümlichkeiten und unter ihnen auch
diejenigen Eigenſchaften, denen ſie ihr Er—
haltenbleiben verdanken, auf ihre Nach—
kommen. — In beiderlei Züchtungen findet
daher eine langſame Summirung kleiner
individueller Abweichungen, eine allmälige
Steigerung gewiſſer Eigenthümlichkeiten nach
derſelben Richtung hin ſtatt, ſo lange die
Umſtände, welche über das Erhaltenbleiben
dieſer oder jener Individuen entſcheiden,
dieſelben bleiben.
Man erkennt ſofort, daß in Bezug auf
die Bedingungen der Vermehrung, der
Variation und der Vererbung beiderlei
Züchtungen völlig mit einander überein—
ſtimmen, daß dagegen die Bedingungen,
welche über das Erhaltenbleiben dieſer oder
jener Individuen entſcheiden, im Allgemei—
nen bei der Naturzüchtung ganz andere
ſind, als bei derjenigen des Menſchen.
' Denn dev Menſch wählt als empfindendes
L f
315
und denkendes Weſen diejenigen Individuen
zur Vervielfältigung aus, welche ihm am
beſten gefallen oder ihm am nützlichſten
ſind, und beſeitigt oder vernachläſſigt will—
kürlich die übrigen. Sein Vortheil, ſeine
Liebhaberei, ſein willkürliches Handeln ſind
die über das Erhaltenbleiben und Verviel—
fältigtwerden dieſer oder jener Individuen
entſcheidenden Momente. Die Produkte ferner
Züchtung werden daher im Laufe der Ge—
nerationen mehr und mehr ſeinem Vor—
theile oder ſeiner Liebhaberei entſprechend.
Bei der Naturzüchtung dagegen kann im
Allgemeinen von Auswahl nach Vortheil
und Liebhaberei, überhaupt von willkür—
lichem Handeln nicht die Rede ſein. In—
dividuen, die, gegenüber der Concurrenz
aller übrigen, ſich nicht zu ernähren, oder
ſich nicht zu ſchützen, oder nicht zur Fort—
pflanzung zu gelangen, oder ihre Nach—
kommenſchaft nicht zu ſichern vermögen,
gehen natürlich zu Grunde, ohne ſich zu
vervielfältigen. Die es vermögen, bleiben
erhalten und übertragen ihre Eigenſchaften
auf eine Mehrzahl von Nachkommen. Die
Produkte der Naturzüchtung werden daher
im Laufe der Generationen mehr und mehr
ernährungsfähig, geſchützt, zur Erlangung
der Fortpflanzung und zur Sicherung ihrer
Nachkommen geeignet.
Bei der Naturzüchtung der Blumen
aber ſind nicht nur die Bedingungen den
Vermehrung, der Variation und der Ver— |
erbungen ganz dieſelben, wie bei der fünft- |)
lichen Züchtung, ſondern zum großen Theile
auch die Entſcheidung über das Erhalten—
bleiben dieſer oder jener Individuen. Denn
wie die blumenzüchtenden Menſchen, ſo üben
auch die blumenbeſuchenden Inſekten eine
wirkliche Auswahl aus, welche über die
Vervielfältigung gewiſſer und das Zugrunde
gehen der übrigen Individuen entſcheidet.
Müller, Die Inſekten als
316
Wie die blumenzüchtenden Menſchen, ſo
laſſen ſich auch die blumenbeſuchenden In—
ſekten in dieſer Auswahl theils durch ihre
Liebhaberei, theils durch ihren Vortheil be—
ſtimmen. In beiden Fällen werden daher
die gezüchteten Produkte im Laufe der Ge—
nerationen immer entſprechender der Lieb—
haberei oder dem Vortheile der Auswählen— |
den. Die Inſekten haben zwar bei ihrer
Auswahl niemals die Abſicht, durch die—
ſelbe eine ihren Wünſchen beſſer entſprechende
Blumenraſſe zu züchten, aber das iſt ja
auch bei den Menſchen, welche Thier- und
Pflanzenzucht betreiben, abgeſehen von den
planmäßigen Züchtern der Neuzeit, nicht
der Fall. Beide ſuchen ſich eben nur in
den Beſitz der ihnen am beſten gefallenden
oder nützlichſten Individuen zu ſetzen. Beide
bewirken aber, wenn fie auch nur aus die
em Grunde ihre Auswahl treffen, dadur
)
doch, ohne es zu wiſſen und zu wollen, |
daß allmälig ihren Neigungen und Bedürf—
niſſen beſſer entſprechende Lebensformen zur
Ausprägung gelangen; beide wirken alſo
als unbewußte Züchter.
Auch darin ſtimmen beide vollſtändig
überein, daß nicht die von dem empfinden—
den Weſen nach ſeinen Neigungen getroffene
Auswahl allein über die Eigenſchaften des
Züchtungsproduktes entſcheidet, ſondern daß
davon unabhängig Naturzüchtung mitwirkt.
Außer dem von den Menſchen ausgeübten
Ausjäten des ihm nicht Paſſenden findet,
wenigſtens bei der Cultur fremder Pflanzen,
natürlich ein Zugrundegehen aller derjenigen
Individuen ſtatt, welche den neuen Lebens—
bedingungen (dem Klima, dem Boden, den
feindlichen Thieren u. ſ. w.) gegenüber
nicht hinreichend ausgerüſtet ſind, mithin
eine Naturzüchtung der den neuen Lebens—
bedingungen entſprechenden Abänderungen.
Daſſelbe muß natürlich bei der Blumen—
unbewußte Blumenzüchter.
züchtung der Juſekten erfolgen. Außer
denjenigen individuellen Blumeneigenthüm—
lichkeiten, welche den Neigungen oder dem
Vortheile dieſer Züchter entſprechen und
deren Auswahl beſtimmen, müſſen durch
Naturzüchtung auch ſolche zufällig auftretende
Abänderungen der Blumen zur Auspräg—
ung gelangen, welche, unabhängig von der
Auswahl der Inſekten, die Sicherung der
Kreuzung bei eintretendem oder der Selbſt—
befruchtung bei ausbleibendem Inſekten—
beſuche ſteigern — wie überhaupt ſolche
Abänderungen, welche den gegebenen Lebens—
bedingungen beſſer entiprechen.
Der einzige weſentliche Unterſchied zwi—
ſchen den unbewußten Züchtern unter den
Menſchen und Inſekten beſteht darin, daß
die erſteren unmittelbar und meiſt wiſſent—
lich und abſichtlich, die letzteren unbewußt
und ungewollt und erſt mittelbar das Zu—
grundegehen der ihnen weniger gefallenden
oder weniger nützlichen, und die Verviel—
fältigung der ihnen am beſten gefallenden
oder nützlichſten Abänderungen bewirken.
Die Menſchen nämlich jäten bekanntlich die
ihnen nicht paſſenden Individuen aus oder
entziehen ihnen die nothwendige Pflege und
bewirken dadurch unmittelbar die aus—
ſchließliche Vervielfältigung der bevorzugten
Abänderungen. Die blumenbeſuchenden In—
ſekten dagegen kreuzen die bevorzugten In—
dividuen, überlaſſen die ihnen nicht paſſen—
den Individuen der Selbſtbefruchtung und
bewirken dadurch mittelbar in der Regel
ganz daſſelbe Endergebniß. Denn da die
aus Kreuzung hervorgehenden Nachkommen
im Wettkampfe mit den aus Selbſtbefrucht—
ung hervorgehenden (nach den Ergebniſſen
der Darwin'ſchen Verſuche) ſtets den Sieg
davon tragen, ſo bleiben auch in dieſem
Falle die von den Auswählern bevorzugten
Lebensformen in der Regel (ſoweit die zu—
2 u
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
rückgeſetzten nicht etwa dem Wettkampfe ſich
entziehen) ſchließlich allein übrig und wer—
den allein weiter vervielfältigt.
Bis auf dieſen einen ausdrücklich her—
vorgehobenen Differenzpunkt unmittelbarer
oder mittelbarer Ausjätung ſind die In—
ſekten in ganz demſelben Sinne wie die
Menſchen, deren Blumenzüchtung uns in
allen Einzelheiten bekannt iſt, unbewußte
Blumenzüchter. Wir werden daher hoffen
dürfen, dadurch zu einem klareren und ein—
gehenderen Verſtändniſſe der Blumenwelt
zu gelangen, daß wir bei den Blumen—
formen ausfindig zu machen ſuchen, welche
ihrer Eigenthümlichkeiten von Inſekten ge—
züchtet und welche durch Naturzüchtung aus—
geprägt worden ſind. Denn die erſteren
ſind uns ja, wenn uns dieſer Nachweis
gelungen iſt, dann ebenſo verſtändlich wie
die Produkte menſchlicher Blumenzüchtung.
Die hiermit bezeichnete Aufgabe im
Allgemeinen in Angriff zu nehmen und an
einzelnen, weſentlich von einander verſchie—
denen Blumenformen im Einzelnen ihrer
Löſung zuzuführen, iſt der Zweck des vor—
liegenden Aufſatzes.
Wie der erſte Uebergang getrenntge—
ſchlechtiger Windblüthler zur Inſektenblüthig—
keit erfolgt ſein müſſe, haben wir bereits
in einigen früheren Betrachtungen („Ueber
den Urſprung der Blumen,“ Kosmos, Bd.].
S. 100 flgde. und „Ueber das Variiren
der Größe gefärbter Blüthenhüllen,“
Bd. II. S. 11 flgade.) uns klar zu
machen geſucht. Wir haben da geſehen,
daß der erſte Schritt, welcher eine Kreuz—
ung der Blüthen durch beſuchende Inſekten
überhaupt ermöglichte, eine derartige Ab—
änderung derſelben ſein mußte, welche die
Beſucher zur Berührung mit beiderlei Ge
ſchlechtstheilen, den Narben ſowohl als den
Staubgefäßen, veranlaßte, d. h. entweder
1
317
Abſonderung von Honig in beiderlei ein—
geſchlechtig bleibenden Blüthen, wie bei
Salix, oder, und zwar in der Regel,
Zwitterblüthigwerden der zunächſt noch
honiglos bleibenden Blüthen.“) Nothwen—
dige Vorbedingung regelmäßiger Pol-
lenübertragung durch Inſekten war außer—
dem die Fähigkeit des Pollens, den Inſekten
ſich anzuheften, wie ſie in der Regel durch
Klebrigkeit der Pollenkörner erreicht wird.
Wie viel iſt nun von der Ausprägung
dieſer Abänderungen auf Rechnung der von
der Wahl der Inſekten unabhängigen Natur-
züchtung, wie viel auf Rechnung der von
den Inſekten ausgeübten Blumenauswahl
zu ſetzen?
Für die Inſekten, welche zuerſt des
Pollens wegen auf Blüthen flogen, war
es offenbar ganz gleichgültig, ob ſie bei
ihren Blüthenbeſuchen auch die Narben be—
rührten oder blos die von ihnen ausge—
nutzten Staubgefäße. Auch ein Behaften
ihres Körpers mit Pollen war für ſie
ſelbſt urſprünglich nutzlos und iſt über—
haupt, auch im ſpätern Verlauf der In-
ſektenentwickelung, ausſchließlich den Bienen
nützlich geworden.
Für die Pflanzen dagegen waren an—
haftender Pollen und Zwitterblüthigkeit in
der Regel die nothwendigen Vorbeding—
ungen, um von den pollenraubenden In—
ſekten die Wohlthat gelegentlicher Kreuzung
mit getrennten Stöcken erfahren zu können.
Nur durch eine von der Wahl der
Inſekten ganz unabhängige Naturzüchtung
) Ich füge nachträglich, mit Hinweiſung
auf Kosmos, Bd. II. S. 396, hinzu, daß
letzteres um ſo leichter erfolgen konnte, als ja
ſehr häufig von dem einen Geſchlecht erwor-
bene Eigenthümlichkeiten auch auf das andere
ſich vererben, und als wir auch noch heute
an getrenntgeſchlechtigen Windblüthlern hier
und da einmal Zwitterblüthen auftreten ſehen.
2,
f 318 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
konnten alſo, und mußten beim Auftreten
geeigneter Abänderungen, die in der Regel
urſprünglichſten genannten beiden Blumen—
eigenſchaften zur Ausprägung gelangen.
Anders iſt es mit der Honigabſonder—
ung. Für die Pflanze ſelbſt iſt es un—
mittelbar, ohne Inſektenmitwirkung, ſoweit
wir überſehen können, nutzlos, wenn ſich
aus irgend einem Theile ihrer Blüthen
Honig abſcheidet; erſt durch Anlockung von
Kreuzungsvermittlern wird es ihr mittel—
bar nützlich. Nur die Inſekten haben von
der Honigabſonderung unmittelbaren Nutzen
und laſſen ſich in ihrer Blüthenauswahl
durch dieſelbe beſtimmen. Ihre Blüthen—
auswahl wird es alſo auch geweſen ſein,
welche das Erhaltenbleiben und Weiteraus—
geprägtwerden honighaltiger Abſonderungen
bewirkt hat. Die Blumengäſte haben
ſich den Blumennektar vermuth—
lich ſelbſt gezüchtet.
Wenn alſo Salix, wie wir annehmen,
1 durch bloßes Klebrigwerden des Pollens
und Honigabſonderung, bei fortdauernder
Getrenntgeſchlechtigkeit, von der Windblüthig—
keit zur Inſektenblüthigkeit gelangt iſt, jo
muß dieſer Uebergang durch die combinirte
Wirkung der von der Wahl der Inſekten
unabhängigen Naturzüchtung und der von
den Juſekten geübten Blüthenauswahl zu
Stande gekommen ſein; aber dieſe Art des
Uebergangs war, wie bereits (Kosmos
Bd. I. S. 111) gezeigt wurde, nur in
der überwiegenden
regelmäßige Kreuzung durch zufällig an—
fliegende Inſekten überhaupt erſt ermöglicht
werden der Blüthen (ohne Honigabſonder
ung), ſind ganz unabhängig von der Blüthen—
auswahl der Inſekten, durch blinde Natur-
E
ganz vereinzelten Fällen möglich. Die bei-
den Abänderungen, deren Combination in
Mehrzahl der Fälle
züchtung, ausgeprägt worden. Gleichwohl
iſt ſchon ſeit dem erſten Blüthenbeſuche und
Pollengenuſſe eines ſeiner Nahrung wegen
in der Luft umherfliegenden Inſektes Blüthen—
auswahl und damit Blumenzüchtung ebenſo
gewiß von den Inſekten ausgeübt worden,
als die ihnen am meiſten in die Augen
fallenden Blüthen auch am meiſten von
ihnen beſucht worden ſind. Und wir haben
bereits in dem zweiten der oben genannten
Aufſätze (Kosmos Bd. II. S. 11 flgde.)
geſehen, wie die Blüthengäſte, indem ſie die
augenfälligeren Blüthen bevorzugten, unter
Mitwirkung der Naturausleſe nicht nur im
Beginn der Blumenentſtehung aus der
Zapfen- und Kätzchenform der Windblüthler
die mit großen, abſtechend gefärbten Hüll—
blättern ausgerüſteten urſprünglichen, ein—
fachen Blumenformen gezüchtet, ſondern auch
im weiteren Verlaufe der Blumenentwickel—
ung eine große Mannigfaltigkeit verſchiede—
ner Arten von Blüthenpolymorphismus zur
Ausprägung gebracht haben. Hier, wo
wir die Blumenzüchterei der Inſekten mit
derjenigen der Menſchen vergleichen wollen,
muß, bei der Betrachtung der durch Augen—
fälligkeit bedingten Auswahl, vor Allem
die im Ganzen genommen große Aehnlich—
leit der Geſchmacksrichtung und, damit zu—
ſammenhängend, der Züchtungsprodukte der
beiderlei Züchter auffallen. Denn augen-
ſcheinlich iſt die Blumenzüchtung der In—
ſekten, was Augenfälligkeit anbetrifft, durch
diejenige des Menſchen im Großen und
Ganzen nur in derſelben Richtung weiter
geführt worden. Die Inſekten haben aus
den kleinen ſchmuckloſen Windblüthen vor—
zugsweiſe verhältnißmäßig großhüllige, bunt-
hat, Klebrigwerden des Pollens und Zwittrig— |
gefärbte Blumen gezüchtet; der Menſch hat
von dieſen die ihm am beſten gefallenden
in ſeine beſondere Pflege und Zucht ge—
nommen und aus denſelben durch fortge—
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
ſetzte Zuchtwahl neue Blumenraſſen hervor—
gezaubert, die an Größe, Farbenpracht und
Mannigfaltigkeit über ihre natürlichen
Stammeltern kaum weniger hinausragen,
als dieſe über ihre windblüthigen Urahnen.
Und Aehnliches gilt von den Gerüchen.
Dieſelben Farben und Gerüche, durch welche
wenigſtens die den ausgeprägteren Blumen—
beſuchern, namentlich den Bienen, Faltern
und Schwebfliegen, angepaßten Blumen im
Ganzen ſich auszeichnen, ergötzen auch uns,
und es iſt andererſeits unmöglich, die
Blumenthätigkeit dieſer Inſekten andauernd
zu beobachten, ohne in manchen Fällen
durchaus den Eindruck zu bekommen, daß
ihnen die Farben und Wohlgerüche nicht
etwa blos als Erkennungszeichen ihrer
Nahrungsquellen dienen, ſondern daß auch
ſie ſich an dem Sinneseindrucke .
ergötzen.“ )
Jedoch laſſen ſich ſchon bei 99 5 zu⸗
erſt und in größter Allgemeinheit in An-
wendung gekommenen Blumenausleſe der
Inſekten nach Farbe und Geruch, eigen—
thümliche Neigungen und Geſchmacksricht—
ungen gewiſſer Blumenbeſucherklaſſen nicht
verkennen. Zwar kommt es wohl kaum
vor, daß Farben, welche irgend einer Klaſſe
ausgeprägter Blumenbeſucher beſonders
angenehm ſind, einer anderen ſo zuwider
wären, daß ſie eine ausbeutereiche Blume
um ihrer Farbe willen verſchmähten.
Vielmehr ſehen wir weiße, gelbe, rothe
und blaue Blumen, wenn ſie hinlänglich
augenfällig ſind und den verſchiedenen Be—
wet, gleich zugängliche und lohnende
) Einzelne derartige Fälle ſind von mir
an Schwebfliegen (bei Verbascum nigrum)
und Wollbienen (Anthidium) beobachtet und
näher beſchrieben worden. Siehe „Befrucht—
ung der Blumen“, S. 278, „Anwendung der
Darwin'ſchen Lehre auf Bienen“, S. 70.
Ausbeute darbieten, ſowohl von Schmetter—
lingen, als von Bienen, als von lang—
rüſſeligen Fliegen (Syrphiden, Conopiden,
Bombyliden) eifrig aufgeſucht, wie z. B.
die von mir für Schafgarbe (Achillea
Millefolium und Ptarmica), Löwenzahn
(Taraxacum offieinale), Felddiſtel (Cir-
sium arvense) und Berg -Jaſione (Jasione
montana) aufgeſtellten Beſucherliſten un—
zweideutig zeigen.
Von den unausgeprägteſten
Blumenbeſuchern aber gehen diejenigen
Fliegen, welche ihren gaſtronomiſchen Neig—
ungen den weiteſten Spielraum geſtatten,
auch in ihren Farben- und Geruchslieb—
habereien über die Grenzen des uns Men—
ſchen und den meiſten ausgeprägten Blumen—
beſuchern Erträglichen weit hinaus. Na—
mentlich ſehen wir die Aas- und Koth—
fliegen (Sarcophaga, Calliphora, Lucilia
u. a.), welche keinerlei Anpaſſung an die
Gewinnung von Blumennahrung beſitzen
und ganz gut auch ohne Blumen auskom⸗
men könnten, zwar einerſeits Blumen be—
ſuchen, deren Farbe, Duft und Honig-
geſchmack auch die Honigbienen und uns
ſelbſt ergötzen, wie z. B. Linde,
weizen,
mit mindeſtens gleichem, wenn nicht größe—
rem Wohlbehagen auch die widrigſten
Fäulnißprodukte (ſtinkende Kothhaufen,
faulendes Fleiſch, Jauche, Eiter, Aas) be—
tupfen und belecken, deren Farbe und Ge—
ruch ſchon uns mit Ekel und Abſcheu er—
füllt und auf die Honigbienen vermuthlich
in gleicher Weiſe einwirkt. Auch manche
kleine Fliegen und Mücken, die ſich für
gewöhnlich in unſauberen Schlupfwinkel
herumtreiben, ſo namentlich die kleinen
Schmetterlingsmücken (Psychoda), die man
häufig an Abtrittsfenſtern ſieht, gehen bis—
weilen auf Blumen.
Buch⸗
Thymian u. a., andererſeits aber,
319 m
320
Natürlich mußte die abweichende Geſchmacks—
richtung aller dieſer Dipteren von jeher
auch auf ihre Blumenauswahl beſtimmend
einwirken. Traten Blumenabänderungen
auf, welche durch ſchmutzig gelbe oder durch
fahl-bläuliche, leichenartige Farbe oder durch
ein trübes Roth oder ſchwärzlich-purpurne
Flecken für ſich oder combinirt mit Urin-,
Abtritts- oder Aasgeruch an die oben ge—
nannten Ekelſtoffe erinnerten und die an
ſüßen Honigduft und liebliche Blumenfarben
bereits gewöhnten Gäſte zurückſchreckten, ſo
mußten ſolche auf die erwähnten Zweiflügler
gerade eine ganz beſondere Anziehungskraft
ausüben und dieſelben, wenn ſie ihnen zu—
gleich einige Ausbeute oder auch nur einen
angenehmen Schlupfwinkel darboten, zu
immer erneuten Beſuchen veranlaſſen. Wenn
daher ſolche Blumenabänderungen zugleich
eine derartige gegenſeitige Stellung der
Narben und Staubgefäße beſaßen, welche
eine Kreuzungsvermittelung durch die zu
und abfliegenden Fliegen wahrſcheinlich oder
unausbleiblich machte, ſo waren alle Be—
dingungen gegeben, um eine auf Koth- und
Aasfliegen oder auf Pſychoden und andere
winzige Dipteren ähnlicher Geſchmacksricht—
ung ſich beſchränkende Blumenraſſe zu züchten.
Andere Abänderungen derſelben Stammarten
konnten gleichzeitig an denſelben Standorten
einer bunten Geſellſchaft mannigfaltiger In—
ſekten zugänglich bleiben oder ſich ſtufen—
weiſe einem anderen beſchränkten Beſucher—
kreiſe anpaſſen, da ja Sicherung der Kreuz—
ungsvermittelung, mag ſie nun auf dem
einen oder anderen Wege erreicht werden,
in erſter Linie den Sieg über die vor—
wiegend auf Selbſtbefruchtung beſchränkten
Concurrenten entſcheidet und daher zum
ſchließlichen Allein-Uebrigbleiben der jene
Sicherung erreichenden Abänderungen füh—
ren muß.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Es giebt vielleicht wenige Fälle, in
denen ſich ebenſo leicht und einleuchtend wie
in dieſem, im Gegenſatze zur Wagner’-
ſchen Migrationstheorie, die Möglichkeit des
Entſtehens neuer Arten an demſelben Wohn—
ort, ohne irgend welche Wanderung, nach—
weiſen läßt. Denn es leuchtet ohne Wei—
teres ein, daß die bloße Abänderung der
Farbe und des Geruches in der angedeu—
teten Richtung dazu genügen kann. Da
uns dieſelben Abänderungen zugleich den
einfachſten und unmittelbarſten Uebergang
urſprünglicher, allgemein zugänglicher Blu—
men zur ausſchließlichen Anpaſſung an
einen beſtimmten, eng begrenzten Beſucher—
kreis darbieten, ſo empfiehlt es ſich, die
von den Koth- und Aasfliegen, von den
Schmetterlingsmücken und anderen kleineren
Dipteren verwandter Geſchmacksrichtung
ausgeübte Blumenzüchtung vorauszunehmen,
und dann erſt zur Betrachtung der uns
ſympathiſchen Blumenzüchter überzugehen.
Wir betrachten alſo zunächſt
1. Die Fäulnißſtoffe lieben—
den Dipteren als unbewußte
Blumen züchter.
So leicht es, nach dem oben Geſagten,
den von Koth- und Aasfliegen oder ande—
ren Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren be—
ſuchten Blumen ſein mußte, durch bloße
Abänderung der Farbe und des Geruchs
in der bereits angedeuteten Richtung alle
feinfühligeren Blumengäſte auszuſchließen,
ſo ſchwer erſcheint es von vornherein mög—
lich, leichtlebig umher vagabundirende Gäſte,
die nur durch den erſten Sinneseindruck
getäuſcht ſtatt ihrer unſaubern Lieblings—
gegenſtände auch einmal Blumen aufſuchen,
zu regelmäßiger Kreuzungsvermittelung zu
zwingen. Zwar iſt die Dummheit der ge—
nannten Fliegen bei ihren Blumenbeſuchen,
die ſchon im vorigen Jahrhundert Chr. C.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
5
321
2
Sprengel bei vielen ſeiner Beobachtungen der beiden oben unterſchiedenen Arten na—
auffiel, groß genug, um ſie durch Geſichts—
und Geruchseindrücke, ſelbſt ohne beſondere
Ausbeute für den Magen, oft wiederholt
auf dieſelbe Blumenart zu locken. Aber
wie ſollen ſie zu regelmäßiger Uebertrag—
ung des Pollens einer Blume auf die
Narbe einer anderen Blume derſelben Art
gezwungen werden können? Sind ſie doch
jo unregelmäßig in ihren Bewegungen, fo
unſtet in der Verfolgung eines eben ins
Auge gefaßten Zieles, daß ſie bei der
mindeſten Störung von dannen fliegen, daß
ſie ſich ſelbſt in keiner Weiſe den von ihnen
aufgeſuchten Blumen anzupaſſen vermocht
haben. In der That ſcheint nur eben ihre
Dummdreiſtigkeit die Möglichkeit dargeboten
zu haben, ſie als Liebesboten in den regel—
mäßigen Dienſt der Blumen zu ſpannen.
Gewiſſe Blumen haben ſich im buchſtäb—
lichen Sinne des Wortes in Fallen und
Gefängniſſe umgewandelt, in welche ſie
Dipteren hineinlocken, um ſie erſt nach ge—
thaner Befruchtungsarbeit, mit neuem Pollen
beladen, wieder zu entlaſſen. Und die be—
trogenen Fliegen und Mücken ſind leicht—
lebig genug, um, kaum in Freiheit geſetzt,
demſelben Sinnesreize, der ſie zum erſten
Male in die Falle lockte, ſofort von neuem
zu unterliegen, und das in mehrmaliger
oder oftmaliger Wiederholung, ohne daß
ſie durch Erfahrung gewitzigt werden.
Es leuchtet ein, daß derartige Fallen
und vorübergehende Gefängniſſe nicht durch |
die Blumenauswahl der Fliegen und Mücken
gezüchtet worden ſein können, da ja dieſe,
wie man ſich leicht durch direkte Beobacht—
ung überzeugen kann, ihrer gezwungenen
Haft zu entkommen beſtrebt ſind, alſo ge—
wiß nicht wiſſentlich und abſichtlich ſich in
dieſelbe begeben. Vielmehr vertheilen ſich
bei allen ſolchen Blumen die Wirkungen
Kosmos, Band III. Heft 4.
türlicher Blumenzüchtung in folgender Weiſe:
1. Zuerſt find von den Fäulnißſtoffe lie⸗
benden Dipteren ſolche Farben- und Ge—
ruchsabänderungen ausgewählt und zu dau—
ernden Eigenthümlichkeiten gezüchtet worden,
durch welche die meiſten anderen Inſekten
gerade zurückgeſchreckt werden. Die Pro—
dukte ſolcher Züchtungen können ganz paſſend
als Ekelblumen bezeichnet werden; denn
nur ihrer Ekel erregenden Wirkung iſt es
zuzuſchreiben, daß ſich ihr Beſucherkreis auf
eine enge Geſellſchaft ſich vor nichts ekeln—
der Gäſte beſchränkt hat. Es ſind dies
außer den genannten Fliegen auch an Fäul—
nißſtoffen ſich weidende Käfer,“) die ſich
aber, wegen ihrer ſehr langſamen Beweg—
ung von einem Stock zum anderen, zur
Kreuzungsvermittelung ganz und gar nicht:
eignen. Die ausſchließlichen oder faſt aus—
ſchließlichen Kreuzungsvermittler der Efel-
| blumen find daher die Fäulnißſtoffe lieben⸗
den Dipteren. Da jedoch eine regelmäßige
Kreuzungsvermittelung durch ſo ſcheue, leicht—
flüchtige Gäſte ohne einen beſonderen, von
der Blume ausgeübten Zwang kaum ein—
treten kann, ſo iſt zu der von den genann—
ten Inſekten bewirkten Züchtung von Ekel—
blumen gewöhnlich noch eine von ihrer
Wahl unabhängige Naturzüchtung hinzu—
getreten und hat diejenigen Abänderungen
der Ekelblumen erhalten und ausgeprägt,
welche ihre unſteten Gäſte ſo lange feſt—
hielten, bis ſie nicht nur den Dienſt der
Kreuzungsvermittelung geleiſtet, ſondern ſich
In den Aasfliegen anlockenden und
durch ſie der Kreuzung theilhaftig werdenden
Blüthen von Arum Dracunculus fand Pie—
cioli bei Florenz ungefähr 200 Koth und
Aas liebende Käfer aus den Gattungen Der-
mestes, Hister, Saprinus, Nitidula, Silpha,
Oxytelus u. a. (Delpino, Ulteriori osserva-
zioni II. p. 226).
*
| 322 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
auch wieder mit neuem Pollen behaftet und prägt proterogyniſch waren, das heißt,
dadurch zur ſofortigen Kreuzung der zu- bei denen die Narben in ihrer Entwidel-
nächſt zu beſuchenden Blüthen vorbereitet
hatten. Auf dieſe Weiſe konnten alſo und
mußten, beim Eintreten geeigneter Abänder—
ungen, aus einfachen offenen Ekelblumen
jene die Fliegen fangenden und vorüber—
gehend feſthaltenden Blumen hervorgehen,
die ſich wohl am beſten unter dem Namen
Fliegenfallenblumen zuſammenfaſſen
laſſen.
Eine Nöthigung der gefangenen Fliegen
zur Kreuzungsvermittelung kann von den
Fliegenfallenblumen auf zweierlei Weiſe be—
wirkt werden, je nachdem die Falle einen
geräumigen Behälter (Blüthenkeſſel) dar—
ſtellt, in welchem mehrere Fliegen einge—
fangen werden und ſich frei umhertummeln,
oder eine Klemme, welche nur eine einzelne
Fliege vorübergehend feſthält. In Blumen
der erſteren Art, die wir als Keſſel—
fallenblumen bezeichnen können, kann
mit unausbleiblicher Sicherheit Kreuzung
durch Vermittelung der in dem Gefängniſſe
ganz regellos ſich umhertreibenden Gäſte
offenbar nur dann erfolgen, wenn dieſelben,
in das Gefängniß eintretend, nur die Nar—
ben entwickelt finden, ſo daß ſich fremder |
Blüthenſtaub, wenn fie ſolchen mitbringen, |
bei ihrem Umhertreiben im Blüthenkeſſel
an den Narben abſetzen muß, ohne erſt
mit eigenem Blüthenſtaub untermiſcht oder
durch denſelben verdrängt worden zu ſein,
wenn ſodann, erſt nach dem Verſchrumpfen
der Narben, die Staubgefäße ſich öffnen
und ihren Pollen entlaſſen, und wenn end—
lich die gefangenen Gäſte, erſt nachdem ſie
ſich mit dieſem Pollen behaftet haben, wie—
der entlaſſen werden. Keſſelfallenblumen
konnten fi daher immer nur aus auf
Dipteren beſchränkten Blumen entwickeln,
welche bereits mehr oder weniger ausge—
ung den Staubgefäßen mehr oder weniger
vorauseilten. Die einzelnen Schritte dieſer
Entwickelung laſſen ſich aber dann, wie wir
an den einheimiſchen Beiſpielen ſehen wer—
den, ſehr wohl als beim Eintreten geeig-
neter Abänderungen unausbleibliche Pro—
dukte der Naturzüchtung begreifen.“)
Im letzteren Falle, bei Klemmfallen—
blumen, muß die Fliege durch das Ein—
geklemmtwerden ſelbſt gezwungen werden,
mitgebrachten Pollen an der Narbe abzu—
ſetzen und neuen mitzunehmen, wenn Kreuz—
ung geſichert ſein ſoll.
Von Keſſelfallenblumen finden
ſich in der einheimiſchen Blumenwelt nur
zwei Vertreter: Aristolochia Clematidis
und Arum maculatum.
allbekannt und bereits wiederholt ſo ein—
gehend beſchrieben und erkärt worden, daß
ihre Betrachtung für ſich hier kein Inter—
eſſe mehr bieten kann. Um ſo wichtiger
aber muß es für ein genetiſches Verſtänd—
niß derſelben erſcheinen, ihr Verhältniß zu
zwei anderen einheimiſchen Blumen, die ſich
als Vorſtufen ihrer Keſſelfallen-Einrichtung
darſtellen, näher ins Auge zu faſſen. An
Asarum europaeum läßt ſich das Ver—
ſtändniß für Aristolochia Clematidis, an
Calla palustris das Verſtändniß für Arum
maculatum gewinnen.
) Es gehört daher jedenfalls eine ſtark
teleologiſch gefärbte Brille dazu, um in den
Keſſelfallenblumen mit Delpino „eine neue
glänzende Beſtätigung jener großen Lehrſätze
zu ſehen, daß im Bau der organiſchen Weſen
1) der Typus und die Idee das beſtändige
und unumſchränkt herrſchende Element iſt,
und daß 2) die Form und der Stoff verän—
derliche und untergeordnete Elemente ſind.“
(Ulteriori osservazioni, I. p. 127 flgd.)
Beide ſind ſo
Fig. 1.
u
Müller. Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 323
Eine Ekelblume, Asarum europaeum, welche bereits deutlich die Anfänge
des Ueberganges zur Keſſelfallenblume erkennen läßt.
I. Junge Blüthe, die ſich eben erſt zu öffnen beginnt, nach Entfernung des halben Perigons.
II. Aeltere Blüthe.
at längere, a? kürzere Staubgefäße, fi Staubfäden, st Narbe.
(Das vorderſte der kürzeren Staubgefäße beginnt ſoeben aufzuſpringen und ſich zu erheben.)
Im erſten Frühjahre unter dem Laube | jüngere, bald in ältere Blüthen hineinzu—
verſteckt blühend macht Asarum europaeum
ſich mit ſeinen außen bräunlichen, innen
ſchmutzig dunkelpurpurnen Blumenglöckchen
den nach lebhaften Blumenfarben und ſüßem
Honigdufte umherſpähenden Bienen, Schmet—
terlingen, Schwebfliegen u. ſ. w. in keiner
Weiſe bemerklich; und ſollten dieſe trotzdem
zufällig auf eine der verſteckten, unſchein—
baren Blüthen aufmerkſam werden, ſo wird
der kampherartige Geruch derſelben fie ſicher
zurückſchrecken. Winzige Fliegen und Mücken
dagegen, die unter der Laubdecke des Wald-
bodens überwintert haben, und die nun
dieſelbe erſte Frühlingswärme, welche die
Aſarumblüthen zur Entwickelung bringt,
ebenfalls aus ihrer Winterruhe hervorlockt,
werden vermuthlich gerade durch dieſen Ge
ruch und dieſe Farbe angereizt, bald in Blaſenfüße und kleine Milben gefunden.
8 .
kriechen oder zu fliegen, wobei fie unver—
meidlich den Blüthenſtaub der letzteren oft auf
die Narben der erſteren übertragen müſſen.“)
In den jüngeren Blüthen nämlich, die
ſich ſoeben erſt geöffnet haben (Fig. D, find
) Bei der Scheuheit und Flüchtigkeit
dieſer Thiere und der Verſtecktheit der Aſa—
rumblüthen gelang es mir, trotz wiederholt
darauf verwandter Mühe, bis jetzt zwar nie,
die Kreuzungsvermittler auf der That zu er—
tappen. Wohl aber ſah ich bei vorſichtigem
Abheben der die Blüthen überdeckenden dür—
ren Blätter (bei Mühlberg in Thüringen)
wiederholt kleine Dipteren wegfliegen und
fand die Narben auch ſolcher Blüthen bereits
mit Pollen behaftet, deren Staubgefäße noch
geſchloſſen waren, wie in Fig. I. — In den
Blüthen ſelbſt habe ich nur einige Male
die Narben bereits entwickelt und am Rande der Blüthe hinausfliegen, jedoch nicht, ohne
des ſechslappigen Stempels ſo um die
Mitte der Blüthe herum vertheilt, daß ſich mit Pollen derſelben zu behaften. Sind
hineinkriechende oder fliegende Dipteren ſehr die Kreuzungsvermittler ausgeblieben, ſo
leicht mit denſelben in Berührung kommen
und, wenn ſie bereits mit Pollen vorher
beſuchter Blüthen behaftet ſind, Kreuzung
bewirken können. Die zwölf Staubfäden
dagegen, von denen immer ein längerer
mit einem kürzeren abwechſelt, ſind noch
flach auf dem Boden des Blumenkeſſels
aus einander gebreitet, und die ungefähr
in ihrer Mitte angehefteten Staubbeutel
ſind noch geſchloſſen. Die einwärts gebo—
genen Perigonzipfel geſtatten den kleinen
Gäſten leicht den Eingang, erſchweren ihnen
aber den Ausgang. Es mag daher ſehr
wohl bisweilen vorkommen, daß einer oder
der andere derſelben nicht eher aus der
Blüthe herauszukommen weiß, bis die An—
theren ſich geöffnet und die Perigonzipfel
ſich weiter nach außen gebogen haben.
Tritt dieſer Fall ein, ſo iſt damit der
Anfang der Ausbildung einer Keſſelfallen—
blume gegeben. Denn der kleine, unfrei—
willig in der Blüthe feſtgehaltene Gaſt
wird nun kaum aus derſelben entkommen
haftet zu haben. Einige Zeit nach dem
Aufblühen nämlich erheben ſich, einer nach
dem anderen, die ſechs abwechſelnden län—
geren Staubfäden (à1), legen ſich in die
Zwiſchenräume zwiſchen die ſechs Narben
und biegen ihre dieſe überragenden Spitzen (fi)
etwas nach innen, während gleichzeitig ihre
die geöffneten Staubbeutel zu paſſiren und
kann in dieſem Entwickelungsſtadium, wäh⸗
rend Staubgefäße und Narben zugleich
entwickelt ſind, Selbſtbefruchtung erfolgen,
indem in den abwärts geneigten Blüthen
die Narben leicht in die Fallrichtung des
aus den Staubbeuteln fallenden Pollens
zu ſtehen kommen (wie man ſich deutlich
machen kann, wenn man die Blüthen—
abbildung Fig. II ſo weit herumdreht, bis
ſie ſchräg abwärts gerichtet iſt). Und dieſe
Möglichkeit, im Nothfalle durch Selbſt—
befruchtung ſich fortzuerhalten, wird in der
That einer Ekelblume in der Regel erſt
dann entbehrlich werden, wenn ſie durch
Ausprägung einer Fliegenfalle Kreuzungs—
vermittelung bei eintretendem Blüthen—
beſuche völlig geſichert hat. Doch währt
auch ſchon bei Asarum, welches eine An—
näherung dazu darbietet, der die Selbſt—
befruchtung ermöglichende Entwickelungs—
zuſtand nicht lange. Die Narben beginnen
nun alsbald zu verſchrumpfen, während
gleichzeitig die ſechs inneren Staubfäden (a2),
können, ohne ſich mit Pollen derſelben be
nach außen gekehrten Staubbeutel aufſprin-⸗
gen und die Perigonzipfel weiter aus einan-
der treten (Fig. II).
die ſich bis dahin nicht herauszufinden
wußte, kann alſo jetzt bequem an einem
Eine kleine Fliege,
einer nach dem anderen, ſich erheben und
ihre Staubbeutel ſich öffnen. Die Blüthe,
welche anfangs rein weiblich, darauf zwei—
geſchlechtig und zur Selbſtbefruchtung be—
fähigt war, iſt alſo zuletzt rein männlich.
Wenn endlich auch die ſechs kürzeren Staub—
gefäße ſich entleert haben, ſo krümmen ſich
die Perigonzipfel wieder vollſtändig nach
innen und geben dadurch den Kreuzungs—
vermittlern zu erkennen, daß es mit dem
Blühen der Blume nun vorbei iſt. Ob
die kleinen Gäſte in der Aſarumblüthe nur
der aufgerichteten Staubfäden in die Höhe
laufen und von ſeiner Spitze ab und aus
ein willkommenes Obdach finden oder auch
den Pollen derſelben genießen, vermag ich
nicht zu ſagen.
—
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
—
Von dieſer einfachen offenen Ekelblume
iſt es nun zwar noch ein bedeutender
Sprung zu der viel bewunderten Keſſel—
falle der anderen bei uns einheimiſchen
Ariſtolochiacee, der häufig in Hecken
als Unkraut wuchernden Aristolochia
Clematidis. Aber da die erſten Anfänge
der Ausbildung einer ſolchen Falle und die
Vortheile derſelben für die Kreuzung der
Pflanze ſich auch ſchon bei Asarum er—
kennen ließen, ſo iſt es nicht ſchwer, auch
die dazwiſchen liegenden Schritte, die Aus—
bildung einer Fahne, einer Eingangsröhre,
verſchrumpfender Reuſenhaare in derſelben,
die vollſtändigere Durchführung der zeit—
lichen Trennung beider Geſchlechter (pro—
terogyne Dichogamie) und das Abwärts—
neigen der anfangs aufgerichteten Blüthe,
als Ergebniſſe ſtufenweiſe fortſchreitender
Züchtung zu begreifen, die Fahne als
Züchtungsprodukt der blumenauswählenden
Dipteren, die Reuſenhaare und die ganze
auf Sicherung der Kreuzung hinauslaufende
Einrichtung als Produkt von der Wahl
der Inſekten unabhängiger Naturzüchtung,
den ſowohl für die Geſchlechtsorgane als
für die feſtgehaltenen Gäſte eine warme
geſchützte Stätte darbietenden Keſſel als
Produkt der combinirten Wirkung beider.
Eine Ekelblume kann Dipteren der ver—
ſchiedenſten Größe zugänglich ſein und von
ihnen gelegentlich befruchtet werden, eine
Keſſelfallenblume dagegen nur von denjeni—
gen Dipteren regelmäßige Kreuzungsver—
mittelung erfahren, welchen ihre Körper—
größe im erſten weiblichen Entwickelungs—
zuſtande der Blüthe wohl den Eingang,
aber nur im zweiten männlichen Entwidel-
ungszuſtande derſelben den Ausgang ge—
ſtattet. Demgemäß hat ſich die Gattung
Aristolochia in eine große Anzahl ver—
ſchiedener Arten geſpalten, welche Dipteren
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
325
der verſchiedenſten Größe einfangen und
zur Kreuzungsvermittelung zwingen. So
erreichen z. B. von den kleinen Gäſten
unſeres Oſterluzei (A. Clematidis) die
größten kaum 2 Millimeter Körperlänge,
die bei uns häufig zur Bekleidung von
Lauben verwendete A. Sipho fängt in ihren
tabakspfeifenförmigen, mißfarbigen und ekel—
haft riechenden Blüthen ſchon Fliegen bis zu
7 — 8 Millimeter Körperlänge ein, und
die großen, trübrothen Blüthen der A.
grandiflora in Jamaica, die, mit ihrer
verlängerten Fahne einen Zweig umſchlin—
gend, auch beim Beſuche ſchwererer Inſekten
ſich in beſtimmter Lage halten, locken mit
dem widrigen Aasgeruche, den ſie um ſich
verbreiten, ohne Zweifel Aasfliegen von
beträchtlicher Größe an ſich.
Wie die Ariſtolochiaceen, ſo ſcheinen
auch die ihnen nächſtverwandten, aber
ſchmarotzenden Raffleſiaceen in allen ihren
Familiengliedern ausſchließlich der Kreuz—
ungsvermittelung durch Fäulnißſtoffe liebende
Dipteren angepaßt zu ſein und mehrere von
ihnen“) geben ſich durch Farbe und Ge—
ruch ſofort als Aasfliegenblumen zu erkennen.
Wahrſcheinlich ſind daher ſchon die ge—
meinſamen Stammeltern aller Ariſtolochia—
ceen und Raffleſiaceen Ekelblumen geweſen
und haben dieſe Eigenthümlichkeit, mehr
oder weniger ausgeprägt, auf alle ihre
Abkömmlinge vererbt.
Als Vorſtufe unſerer zweiten Keſſel—
fallenblume, des Arum maculatum, iſt
Calla palustris zu betrachten. Dieſe bietet
noch kaum eine Andeutung eines Ueber—
ganges zur Fliegenfalle dar. Dagegen iſt
ſie als Uebergangsſtufe von einer indiffe—
renten zu einer Ekelblume von beſonderem
Bafflesia Horsfieldi, Arnoldi, Patma
(Delpino, Ulteriori osservazioni. I. p. 35.
II. p. 213).
—
FF abe 88 8
326 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Intereſſe, und aus ihrem Vergleiche mit Den gemeinſamen Stammeltern der
Arum maculatum laſſen ſich überdieß auch Aroideen am nächſten ſtehend iſt von den
hier die auf einander folgenden Schritte einheimiſchen Arten ohne Zweifel Acorus
ableiten, welche zur Ausbildung der Fliegen: Calamus mit ſeinem einfachen Blüthen—
falle der letzteren Blume geführt haben. ſtandsdeckblatt und mit ſeinen völlig offenen,
67% } 3
. e 7 2
e
—
Fig. 2. Eine noch unausgeprägte Ekelblume (Calla palustris).
III. Der ganze Blüthenſtand in natürlicher Größe. IV. Einzelne Blüthe im erſten weiblichen
Zuſtande. Die Staubgefäße find noch nicht aufgeſprungen. Der Fruchtknoten (ov) endet
in einen abgeſtutzten Kegel, deſſen Abſtutzungsfläche als Narbe fungirt. Die Narbe (st) iſt
jetzt friſch, von grünlicher Farbe, empfängnißfähig. V. Einzelne Blüthe im zweiten männ⸗
lichen Zuſtande. Die Narbe iſt braun geworden; die Staubgefäße ſind zum Theil noch
geſchloſſen (at), zum Theil geöffnet und den blosgelegten Blüthenſtaub nach oben kehrend
(a5); eines (a?) ift ſchon entleert. Der Fruchtknoten iſt bereits jo ſtark angeſchwollen, daß
er bei bb mit den Fruchtknoten der benachbarten Blüthen zuſammenſtößt und ſich abplattet.
(Fig. IV und V bei ſiebenfacher Vergrößerung.)
ſchmuckloſen und geruchloſen Blüthen, welche ſtandsdeckblatt (Spatha) bildet eine breite,
etwa anfliegenden Juſekten nichts als ihren auf der Innenſeite weißlich gefärbte, gerade
Blüthenſtaub darbieten. Dieſen gegenüber aufgerichtete Fläche, welche den Blüthenſtand
erſcheint Calla palustris bereits als weit ringsum weit überragt und ſo ſich auf der
vorgeſchritten in einſeitiger Anpaſſung an einen Seite den Inſekten weithin ſichtbar
einen beſtimmten Beſucherkreis; ſie charak- macht und beſonders gewiſſe Fliegen und
teriſirt ſich bereits als unvollkommen aus— Mücken wirkſam anlockt, auf der andern
geprägte Ekelblume. Denn ihr Blüthen- Seite den Blüthenſtand und die den an—
r
\
ſelben gelockten kleinen Gäſte gegen Wind
und Wetter ſchützt, namentlich zu Anfang
der Blüthezeit, während es ſich noch in
halb zuſammengewickeltem Zuſtande befin—
det. (Während der ganzen Blüthezeit, und
weit ausgeprägter als unſere Calla palustris
nur anfangs, zeigt die als Topfpflanze bei
uns beliebte Calla aethiopica ihren Blüthen—
ſtand von einem innen weiß gefärbten Deck—
blatte tutenförmig umhüllt.) Durch den
uns widrigen Geruch, welchen ſie um ſich
verbreiten, verſtärken die Blüthen unſerer
Calla nicht nur noch ſehr erheblich ihre
anlockende Wirkung auf die Fäulnißſtoffe
liebenden Dipteren, ſondern ſchrecken zu—
gleich alle ausgeprägten Blumenbeſucher zu—
rück. Weder Bienen, noch Schmetterlinge,
noch Schwebfliegen habe ich jemals Calla
aufſuchen ſehen. Doch iſt die Ausſchließ—
ung der Nicht-Dipteren durch die Eigen—
thümlichkeit der Farbe und des Geruches,
die Ausprägung als Ekelblume, immerhin
noch eine unvollſtändige. Denn obgleich
mannigfache Arten kleiner Fliegen und Mücken
die bei weitem häufigſten Beſucher der Calla—
blüthen ſind (was ſelbſt die Spinnen ſehr
wohl zu wiſſen ſcheinen,
Spatha von Calla ausgeſpannten Netzen
ich eine ziemliche Zahl kleiner Dipteren
hängen fand), ſo
weiße Farbe der Spatha angelockt und
durch den widrigen Geruch der Blüthe
nicht hinreichend zurückgeſchreckt, auch man—
cherlei Käfer an die Blüthenſtände an, freilich
nur in der vergeblichen Hoffnung, irgend
e ihnen ee Ausbeute zu finden.“)
0 Ich habe ein einziges Mal (18. Mai
1873) bei ſonnigem Wetter, im Sumpfe ſtehend,
zahlreiche Callablüthen etwa eine halbe Stunde
lang überwacht, und während dieſer Zeit nicht
nur allerlei kleine Dipteren (3. B. Chirono-
mus mehrere Arten, Tachydromia Sp., Droso-
in deren in der
falls nur durch die combinirte Wirkung
fliegen doch, durch die |
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Offenbar ſind die eben bezeichneten Eigen—
thümlichkeiten, welche die Blüthenſtände der
Calla von denen ihrer Acorus Ähnlichen
Stammeltern auszeichnen,
Theil durch die von den Dipteren ſelbſt
ausgeübte Blumenwahl zur Ausprägung
gelangt. Denn die geſteigerte Augenfällig—
keit kommt unmittelbar nur den Beſuchern,
erſt mittelbar, durch die von dieſen bewirkte
Kreuzung, auch der Pflanze ſelbſt zu ſtatten.
Auch der uns widrige Geruch wirkt un—
mittelbar ſteigernd auf den Beſuch der
kleinen Fäulnißſtoffe liebenden Gäſte ein;
ohne Zweifel iſt er aber gleichzeitig, en
Verein mit den giftigen Säften, als Schutz—
mittel gegen weidende Thiere der Pflanze
von unmittelbarem Nutzen und daher wohl
als durch die combinirte Wirkung der In—
ſekten- und Naturausleſe gezüchtet zu be—
trachten. Daſſelbe gilt von der Verbrei—
terung und dem anfangs Zuſammengewickelt—
bleiben der Spatha, wodurch ſowohl den
Blüthen, als ihren Gäſten Schutz gegen
Witterung gewährt wird. Wenn ſich dann
ferner Calla-ähnliche Stammeltern in die
vollendete Keſſelfalle unſeres Arum macu—
latum ungebildet haben, jo kann das eben—
der von den Beſuchern ſelbſt ausgeübten
Blumenwahl und der von den Beſuchern
unabhängigen Naturzüchtung hervorgebracht
ſein, welche letztere in dem Erhaltenbleiben
der die größte Wahrſcheinlichkeit der Kreuz—
phila graminum Fall., Hydrellia griseola Fall.)
von Blüthenſtand zu Blüthenſtand fliegen
und theils Pollen freſſen, theils in den von
der Spatha dargebotenen Schlupfwinkel ſich
bergen ſehen; auch ein Meligethes, ein Phy-
tonomus polygoni, ein Sitones, einige Hal-
tica coerulea und eine Cassida nobilis flogen
an die Blüthenſtände an, aber nach kurzem
Aufenthalte, ohne etwas genoſſen zu haben,
enttäuſcht wieder von dannen.
wenigſtens zum
5
„ ̃ ͤ —— ——.. ...... =
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
ung gewährenden und zugleich gegen wei- zugt haben, welche ihnen die wirkſamſte
dende Thiere am beſten geſchützten Abän— | Anlockung, das geſchützteſte und angenehmſte
derungen beſtand. Die Calla ähnliche Obdach und die ſicherſte und bequemfte
Blumen beſuchenden Dipteren werden na- Einführung in daſſelbe gewährten. So
türlich ſtets diejenigen Abänderungen bevor- laſſen ſich der ausgeprägtere urinöſe Geruch
Eine Keſſelfallenblume (Arum maculatum)
Fig. 3.
im erſten Entwickelungszuſtande, während deſſen die Schmetterlingsmücken (Psychoda) hinein-
gelockt werden, VI. von außen geſehen, VII. desgl. mit aufgeſchnittenem Blüthenkeſſel, in
halber natürlicher Größe, VIII. Blüthenkeſſel, von der Seite aufgeſchnitten, natürliche
Größe, IX. Durchſchnitt, dicht über dem Eingangsgitter des Blüthenkeſſels.
a Fahne und Eingangszelt. b Schwarzpurpurne Anlockungs- und Leitſtange. e Eingangs
gitter des Blüthenkeſſels (zu ſtarren Fäden umgebildete Staubgefäße). d Staubgefäße, noch
geſchloſſen. e Umgebildete Ovarien, ohne erkennbaren Lebensdienſt (vielleicht blos durch
Correlation des Wachsthums mit den oberen Antheren umgebildet). k Ovarien,
jetzt empfängnißfähig.
Die an der Leitſtange hinabgekrochenen, durch das Eingangsgitter in den Blüthenkeſſel ge—
langten kleinen Schmetterlingsmücken (Psychoda phalaenoides) fliegen, wenn fie wieder
heraus wollen, nach dem Hellen, ſtoßen dabei an die Gitterſtäbe und fallen ſo immer wieder
in den Blüthenkeſſel zurück. Erſt wenn die Narben verblüht ſind und die Staubgefäße ihren
Pollen entlaſſen haben, thun ſich die bis dahin eng zuſammenſchließenden Ränder der Düte
ſo weit aus einander, daß die kleinen Mücken wieder herauskriechen können, aber nicht, ohne
ſich mit Pollen reichlich behaftet zu haben, den ſie dann im nächſtbeſuchten Blüthenkeſſel
an den Narben abſetzen.
des Arum maculatum, das Sich- ſchwarzpurpurnen, aus der Düte hervor—
Na.
ausbreiten der obern Hälfte der Spatha
zu einer weithin ſichtbaren Fahne und zu
einem offenen Eingangszelte und die Ver—
längerung der Blüthenſtandsachſe zu einer
ragenden Leitſtange als Züchtungsprodukte
der beſuchenden kleinen Pſychoden, die voll—
ſtändige räumliche und zeitliche Trennung
der Staubgefäße und Ovarien, die Um—
bildung der oberſten Staubgefäße zu ſtarren,
den Keſſeleingang verſchließenden Fäden,
das feſte Zuſammenſchließen der Ränder
der Düte zu Anfang und ihr Auseinander—
gehen zu Ende der Blüthezeit als Wirk—
ungen von der Wahl der Pſychoden unabhän—
giger Naturzüchtung erklären, während das
Zuſammengewickeltbleiben der untern Hälfte
der Spatha zu einer Düte ſowohl den
Geſchlechtsorganen als den die Blüthen
aufſuchenden Pſychoden einen warmen, ge—
ſchützten Aufenthaltsort bietet und daher
die combinirte Wirkung der Naturzüchtung
und der von den Pſpychoden ausgeübten
Züchtung vorausſetzen läßt. Nur die Um—
bildung der oberſten Ovarien läßt ſich, ſo
lange kein Lebensdienſt derſelben erſichtlich
iſt, aus keiner der beiden Züchtungsarten
erklären. Da ihre Umbildung in auffallen-
der Weiſe der durch Naturausleſe gezüchteten
Umbildung der oberſten Staubgefäße analog
iſt, ſo liegt es nahe, an eine Wechſelbezieh—
ung des Wachsthums beider zu denken.
Wie die Gattung Aristolochia, fo hat
ſich auch Arum in verſchiedene Arten ge—
ſpalten, welche für Dipteren verſchiedener
Größe Keſſelfallen bilden. So wurde in
der Keſſelfalle unſeres Arum maculatum
in der Regel nur die 1 bis 1½ Millimeter
große Psychoda phalaenoides, dieſe oft
zu hunderten, von mir gefunden, während
Arum italicum, außer dieſer und einigen
anderen faſt ebenſo kleinen, auch ſchon größere
Arten, z. B. die 4 Millimeter große Dro-
sophila funebris, einfängt und Arum
Dracunculus durch größere Aasfliegen
befruchtet wird. Während aber bei den
Ariſtolochiaceen die Anpaſſung an Flie—
gen als Kreuzungsvermittler gemeinſamer
Familiencharakter iſt, ſind dagegen bei den
Aroideen aus Stammeltern mit einfachen
indifferenten Blüthen einerſeits Ekelblumen
Kosmos, Band III. Heft 4.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
329
hervorgegangen, die ſich weiterhin größten
theils zu Fliegenfallenblumen entwickelt
haben, andererſeits aber auch eine ganze
Reihe von Schneckenblüthlern, wie z. B.
nad) Delpino: Alocasia odora, Atheru-
rus tripartitus und mehrere andere. Calla
palustris iſt nun nicht blos als Vorſtufe
verschiedener Fliegenfallenblumen von Ju—
tereſſe; ſie kann uns auch die Entſtehung
der Schneckenblüthler ſehr wohl veranſchau—
lichen. Denn die Narben und die nach
oben gekehrten pollen- bedeckten Seiten der
Staubgefäße liegen, die Blüthenſtandsachſe
umkleidend, ſo dichtgedrängt in einer Fläche,
daß in der That eine über ſie hingleitende
Schnecke nicht umhin könnte, in älteren
Blüthen mit ihrer ſchleimigen Bauchfläche
die pollenbedeckte Seite der Staubgefäße,
in jüngeren die Narben zu ſtreifen und
Pollen von den erſteren auf die letzteren
zu ſchleppen.“) Es bedürfte daher in der
That unter veränderten Lebensbedingungen,
unter welchen Calla palustris von Dipteren
nur höchſt ſpärlich, von Schnecken reichlich
befruchtet würde, nur noch einer weiteren
Ausprägung der Proterogynie, derart, daß
die ganze Pflanze erſt rein weiblich, dann
rein mäunlich wäre und der Entwickelung
eines Schutzmittels gegen die verheerenden
Wirkungen der Schnecken (wie es nach
Delpino bei Rhodea japonica das dick—
fleiſchig werdende Perigon, bei Alocasia
odora ein die Schnecken nach Vollendung
der Kreuzungsvermittelung tödtender ätzen—
der Saft darbietet), um unſere Ekelblume
zu einem Schneckenblüthler umzuprägen.
In der That hat E. Warming oft
Waſſerſchnecken an den Blüthenſtänden herum—
kriechen und nagen ſehen. Er ſpricht jogar
die Vermuthung aus, daß dieſelben bei der
Befruchtung eine weſentliche Rolle ſpielen
möchten. Botanisk tidsskrift, 3 raekke. 2 bind.
1877. S. 117.
330
Nachdem wir die beiden einheimiſchen
Keſſelfallenblumen als aus Ekelblumen her—
vorgegangen kennen gelernt haben, drängt
ſich uns die Frage auf, ob denn wohl alle
Keſſelfallenblumen überhaupt einen derarti—
gen Urſprung genommen haben mögen.
Da nach allen bisherigen Erfahrungen
nur Dipteren als Kreuzungsvermittler von
die Kreuzungsvermittelung von Inſekten
Keſſelfallenblumen auftreten, ſo ſcheint mir
dieſe Frage durchaus bejaht werden zu
müſſen. Denn wir kennen kein anderes
Mittel, durch welches eine offene Blume
den Ausſchluß aller Nicht-Dipteren und
die Zulaſſung der Dipteren bewirken könnte,
als ſolche Farben und Gerüche, durch die
ſie eben zur Ekelblume wird, und ganz
hat, die überreichlichen Inſektenbeſuch an
allgemein mußten doch Dipteren bereits
die ausſchließlichen oder doch entſchieden
überwiegenden Kreuzungsvermittler einer
Blume ſein, ehe ſich dieſelbe zu einer
Keſſelfalle für dieſelben ausprägen konnte.
Ganz anders verhält es ſich mit der
zweiten Klaſſe von Mechanismen, durch
welche Dipteren zu regelmäßiger Kreuz—
ungsvermittelung gezwungen werden, mit
den Klemmfallenblumen. Dieſe
ſind weder ausſchließlich Dipteren angepaßt,
noch in der Regel aus Ekelblumen hervor—
gegangen, wie uns namentlich die höchſt
mannigfaltige Familie der Asclepiadeen
in unzweideutigſter Weiſe erkennen läßt.
Alle Asclepiadeen ſind bekanntlich
durch eigenthümliche Klemmkörper ausge—
zeichnet, welche ſich an den Rüſſeln, Borſten
oder Krallen der beſuchenden Inſekten feſt—
klemmen und von dieſen, ſobald ſie ſich
gefangen fühlen, gewaltſam losgeriſſen wer—
den. Indem nun an jedem Klemmkörper
zwei Pollenplatten befeſtigt ſind, werden
mittelſt des Klemmkörpers auch dieſe dem
Beſucher angeheftet und von demſelben in
weiter beſuchten Blüthen unbewußt und
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
ungewollt in eine Narbenhöhle geſchoben,
wo ſie nun ihrerſeits ſich feſtklemmen und
von dem abermals gewaltſam ſich losreißen—
den Inſekte wieder getrennt, auf der Narbe
zurückbleiben und Befruchtung bewirken.
Da dieſe ganz eigenartige Befruchtungs—
einrichtung, welche die Möglichkeit der
Selbſtbefruchtung vollſtändig ausſchließt und
durchaus erheiſcht, der ganzen Familie der
Asclepiadeen eigen iſt, ſo muß ſie ohne
Zweifel ſchon von den gemeinſamen Stamm⸗
eltern derſelben erworben und von dieſen
auf alle Abkömmlinge vererbt worden ſein.
Und wie die Gattung Asclepias noch jetzt
honigreiche, allgemein zugängliche Blüthen
ſich locken und auf denen die mannigfachſten
Bienen, Wespen, Grabwespen, Fliegen
und Schmetterlinge ſich einfinden und mit
ihren Krallen oder (die Schmetterlinge) mit
den Borſten ihrer Beine die Kreuzungs—
vermittelung bewirken (wenn auch auf der
einen Art mehr dieſe, auf der anderen
mehr jene Gäſte), ſo wird es höchſt wahr—
ſcheinlich auch mit den gemeinſamen Stamm—
eltern der Familie der Fall geweſen ſein.
Die Nachkommen aber haben ſich zum
großen Theile einſeitig ganz verſchiedenen
Inſektenformen angepaßt: Die Arauja-
Arten klemmen (nach Delpino) ihre Klemm—
körper mit den ihnen angehefteten Pollen—
platten an die Rüſſel großer Bienen, die
Stephanotis-Arten an die Rüſſel lang—
rüſſeliger Schwärmer, die Stapelia- Arten
an die Rüſſelborſten großer Aasfliegen, die
ſie durch Farbe und Aasgeruch in dem
Grade täuſchen, daß die betrogenen Thiere
ſogar ihre Eier dieſen Blumen anvertrauen
und damit natürlich ſicherem Verderben
preisgeben; den Vincetoxicum-Arten dienen
die Rüſſel mittelgroßer Fliegen zur
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Kreuzungsvermittelung; die Ceropeja-⸗
Arten fangen in einen dem des Oſterluzei
ähnlichen Blüthenkeſſel kleine Fliegen ein, die
mit ihren Rüſſeln die Pollenübertragung
ausführen müſſen, während bei Aselepias
und mehreren anderen Gattungen die Krallen
oder Fußborſten verſchiedener Aderflügler,
Zweiflügler und Falter die Kreuzung ver—
mitteln.“)
Aus dieſen Thatſachen laſſen ſich nun
in Bezug auf die unbewußte Blumenzüchtung
der Inſekten folgende beiden Schlüſſe ziehen:
1. Auch bei der Ausbildung der
Klemmfallenblumen der Asclepiadeen müſſen
ebenſowohl die durch die Auswahl der
Inſekten bewirkte Blumenzüchtung im
eigentlichen Sinne des Wortes, als die von
der Auswahl derſelben unabhängige Natur-
züchtung derſelben (im bildlichen Sinne)
betheiligt geweſen ſein; aber dieſe beiden
Züchtungen müſſen mehrfach mit einander
abgewechſelt haben.
2. Bei der Ausprägung beſtimmten
Inſektenformen angepaßter Fallen muß hier
eine entgegengeſetzte Aufeinanderfolge beider
Züchtungsarten ſtattgefunden haben als bei
Aristolochia und Arum.
Die Richtigkeit des erſten dieſer beiden
Sätze ergiebt ſich aus folgender Betracht—
ung: Da,
Stammeltern der Asclepiadeen-Familie
die durch Klemmkörper ausgezeichnete Be—
fruchtungsweiſe beſeſſen haben, welche Selbſt—
befruchtung unmöglich macht, alſo hinreichen—
den Beſuch die Klemmkörper herausziehender
und die Pollenplatten in die Narbenhöhlen
bringender Inſekten zur nothwendigen Vor—
) Delpino, relazione sull’ appareechio
della fecondazione nelle Asclepiadee etc.
Torino 1865; Hildebrand, Bot. Zeitung
1867. ©. 266—270. Delpino, ulteriori
wie oben gezeigt, ſchon die
331
ausſetzung hat, ſo muß ſchon bei den Ur—
ahnen dieſer Stammeltern die von den
Inſekten überhaupt geübte Blu—
menauswahl zur Ausprägung ſo augen—
fälliger und honigreicher Blumenformen
geführt haben, daß denſelben ſtets reichlicher
Inſektenbeſuch zu Theil und die Möglich—
keit der Selbſtbefruchtung vollſtändig ent⸗
behrlich wurde. Erſt nachdem dies erreicht
war, konnte bei den Stammeltern der As-
clepiadeen ſelbſt durch Naturzüchtung
die Ausbildung der Klemmkörper und der
die Pollenplatten abfangenden Narbenhöhlen
bewirkt werden, deren einzelne Schritte wir
nicht mehr verfolgen können. Darauf
machte ſich bei den Abkömmlingen dieſer
Stammeltern wieder die Blumenaus—
wahl der Inſekten, jetzt aber der ver—
ſchiedenen, mit beſonderen Geſchmacksricht—
ungen, Liebhabereien und Bedürfniſſen
ausgeſtatteten Inſektenabtheilungen geltend
und züchtete die verſchiedenen Asclepiadeen—
Blumen, welche theils Schwärmern, theils
Aasfliegen, theils winzigen Dipteren u. ſ. w.
am beſten paſſen. Endlich bewirkte wieder,
gleichzeitig mit dieſer Blumenzüchtung der
Inſekten oder ihr nachfolgend, Natur—
züchtung die Ausprägung derjenigen Ab
änderungen, welche durch die beſtimmte, ſie
bevorzugende Inſektenabtheilung, ſobald ſie
ſich auf den Blüthen einfand, am ſicherſten
Kreuzung erfahren mußten, wie z. B. die
mit Klemmfallen combinirte Fliegen-Keffel-
falle von Ceropeja.
Daß dabei die Ausprägung beſtimmten
Inſektenformen angepaßter Fallen einer
entgegengeſetzten Aufeinanderfolge beiderlei
Züchtungsarten ihre Entſtehung verdankt
als bei Arum und Aristolochia, tritt am
deutlichſten hervor, wenn man demſelben
engbegrenzten Beſucherkreiſe entſprechende
| osservazioni I. p. 224 ff. Fallen zum Vergleiche heranzieht, z. B.
Aasfliegenfallen, welche ſich ſowohl bei
Arten der Gattungen Arum und Aristo-
lochia, als bei Asclepiadeen (Stapelia)
vorfinden. Da ſpringt denn ſofort in die
Augen, daß bei Arum und Aristolochia,
wie oben gezeigt, zuerſt die Blumenauswahl
Fäulnißſtoffe liebender Inſekten ihre Wirk—
ſamkeit entfaltet und Ekelblumen gezüchtet
hat, welche dann erſt durch die von der
Wahl der Inſekten unabhängige Naturzücht—
ung zu Aasfliegenfallen ausgebildet worden
ſind, daß dagegen bei den Asclepiadeen In—
ſektenfallen die urſprüngliche, bereits den
gemeinſamen Stammeltern durch Natur-
züchtung zu Theil gewordene und von dieſen
ererbte Blüthenausrüſtung bilden, welche ſich
erſt nachträglich durch die unbewußte Blu-
menzüchtung der verſchiedenen Inſektenab—
theilungen in Bienen-, Schwärmer-, Aas—
fliegen- und andere Fallenblumen differen—
zirt haben.
Während ſich bei den Asclepiadeen
die mit den Staubkölbchen verbundenen
Klemmkörper harten Hervorragungen des
Inſektenleibes, Krallen, Borſten oder Rüſſeln,
anklemmen, wird von anderen Klemmfallen—
blumen, z. B. den Cypripedium - Arten,
das ganze Inſekt feſtgeklemmt und kann
nicht eher wieder loskommen, als bis es
an der Narbe etwa mitgebrachten Pollen
abgeſetzt und an den Staubgefäßen neuen
mitgenommen hat.
Nach der Geräumigkeit des vorüber—
gehenden Gefängniſſes, in welches ſie ihre
Kreuzungsvermittler einſchließen, könnte man
die Cypripedium-Blumen den Keſſel—
fallenblumen von Arum und Aristolochia
anzureihen ſich verſucht fühlen. Sie ſind
aber von denſelben in Bezug auf die Art
der Kreuzungsvermittelung ganz durchgrei—
fend verſchieden. Denn bei Arum und
Aristolochia werden zahlreiche kleine Gäſte
ung zwingt.
2332 Müller, Die Inſekten als unbew ußte Blumenzüchter.
in den Blüthenkeſſel gelockt, treiben ſich
ganz regellos in demſelben umher und
werden nur dadurch zu regelmäßigen Kreuz—
ungsvermittlern, daß ſie bei ihrem Eintritte
nur die Narben entwickelt finden und erſt
dann wieder entlaſſen werden, wenn ſie ſich
nach dem Verblühen der Narben und der
Entleerung der Staubgefäße mit dem Pollen
derſelben behaftet haben. Dagegen locken
die Cypripedium-Blüthen in ihre einem
weſtfäliſchen Holzſchuhe ähnliche Unterlippe“)
jedesmal nur einen einzigen Kreuzungsver—
mittler hinein und laſſen denſelben, da er
von den glatten, nach oben zuſammenge—
bogenen Wänden immer wieder abgleitet,
nicht anders wieder heraus, als indem er
ſich durch eine Klemme hindurchzwängt,
die ihn zugleich zur Vermittelung der Kreuz—
Die einzige Möglichkeit des
Ausganges gewährt nemlich dem gefange—
nen Gaſte eine der beiden kleinen Oeffnun—
gen zu beiden Seiten der Baſis der Unter—
lippe, und dieſe kann er nicht erreichen,
ohne ſich unter der Narbe hindurchzudrän—
gen; wenn er ſich nun in die kleine Aus—
gangsöffnung hineingezwängt hat, kann er
aus ſeiner eingeklemmten Lage nicht anders
wieder herauskommen, als indem er ſich
mit dem klebrigen Pollen eines Staubge—
fäßes beſchmiert, welcher dann in der nächſt—
beſuchten Blüthe die Kreuzung der Narbe
bewirken muß. Die Cypripedium- Blüthen
ſind alſo richtige Klemmfallen.
Wie die Klemmfallen der Asclepiadeen,
fo fangen auch diejenigen der Cypripedium-
Arten theils Fliegen, theils andere Inſekten
(unſere einheimiſche Art nemlich Bienen)
ein. Der muthmaßliche Urſprung der
) Die Blume wird daher in Weſtfalen,
wenigſtens bei Stromberg und Oelde, ebenſo
treffend als derb „Holſchkenblaume“ (Holz—
ſchuhblume) genannt.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Bienenfalle unſeres Frauenſchuh (Cypripe-
dium calceolus) iſt aber, was die Com—
bination der Wirkung der Naturzüchtung und
der von den Inſekten ausgeübten Zücht—
ung betrifft, wiederum ein ganz eigenthüm—
licher, nicht nur von dem der Asclepiadeen,
ſondern ebenſo von dem der Aristolochia-
und Arum-Inſektenfallen jo verſchieden, daß
er wohl eine beſondere Beſprechung ver—
dient. Alle (4 bis 5) bisher in Bezug auf
ihre biologiſche Bedeutung ins Auge gefaßten
exotiſchen Cypripedium-Arten haben ſich
nemlich einem der ſcharfſinnigſten Biologen *)
als Fliegenfallenblumen herausgeſtellt; bei
einer derſelben beobachtete er, allerdings
nur im Gewächshauſe, den Fliegenbeſuch
direkt. Auch die nächſtverwandte Orchideen—
gattung, Selenipedium, iſt nach demſelben
Gewährsmann eine Fliegenfallenblume. Sie
iſt von derſelben Einrichtung wie Cypri—
pedium, nur mit dem Unterſchiede, daß
ſich die beiden oberen ihrer drei Blumen—
blätter in etwa ½ Meter lange herab—
hängende Schwänze umgebildet haben, welche,
wie auch ſonſt dergleichen Bildungen (z. B. bei
Himantoglossum hireinum), beſuchenden
Dipteren als Leitſeile zu dienen ſcheinen.
Nur unſer einheimiſcher Frauenſchuh (Cy—
pripedium calceolus) wirkt, nach meinen
oft wiederholten direkten Beobachtungen,
als Bienenfalle, indem unausgeprägtere,
weniger intelligente Bienen (berſchiedene
Arten der Gattung Andrena) von ihr ein—
gefangen und in den Dienſt als Kreuzungs—
vermittler gezogen werden. Aber auch bei
ihm findet ſich eine Eigenthümlichkeit vor,
welche auf urſprüngliche Anpaſſung an
Dipteren hindeutet, nemlich die purpurnen
Flecken auf der Oberſeite des zu einem
lichtabſperrenden Schirme umgebildeten drit—
DE. Delpino, Ulteriori osservazioni I.
p. 175 ff., II. p. 227 ff.
333
ten Staubgefäßes. Es muß deshalb, nach
den vorliegenden Thatſachen, als das Wahr-
ſcheinlichſte erſcheinen, daß alle Frauenſchuh—
arten, einſchließlich des Selenipedi um, von
gemeinſamen Stammeltern abſtammen, welche
durch die Blumenzüchtung der Fliegen be—
reits dieſen allein entſprechend ſich ausge—
bildet hatten und durch Naturzüchtung zu
Klemmfallen derſelben geworden waren.
In unſerem Cypripedium calceolus würde
hiernach eine Blume vorliegen, welche aus
einer bereits ausgeprägten Fliegenfalle unter
veränderten Lebensbedingungen zu einer
Bienenfalle umgeprägt worden iſt. Die
Purpurflecken des Staminodiums wären
als Zeugen urſprünglicher Fliegenfreund—
ſchaft übrig geblieben; aber die lebhafteren
Farben und der honigſüße Wohlgeruch wür—
den bekunden, daß ſeitdem eine Geſellſchaft
äſthetiſch ausgebildeterer Blumenzüchter die
ihrer Geſchmacksrichtung entſprechenden Ab—
änderungen bevorzugt hat.
Eine von den Asclepiadeen und Oy-
pripedium wieder ganz verſchiedene Flie—
genklemmfalle beſitzt Pinguicula alpina,
wie ich im Auguſt vorigen Jahres im
Heuthale am Bernina wiederholt durch di—
rekte Beobachtung conſtatiren konnte. Dieſer
Fall iſt noch inſofern von beſonderem In—
tereſſe, als er uns von allen bis jetzt be
kannt gewordenen Klemmfallenblumen nicht
blos in Bezug auf ihre Entdeckung, ſondern
auch in Bezug auf ihre Entſtehung diejenige
neueſten Datums darbietet und die Reihe ver—
ſchiedener Altersſtufen derſelben um ein Glied
erweitert. Denn während die Klemmfallen
der Asclepiadeen ſchon bei den Stammeltern
einer weit verzweigten Familie, diejenigen der
Cypripedien bei den Stammeltern eines
kleinen Familienzweiges zur Ausprägung
gelangt find, iſt die Klemmfalle der Pin-
guicula alpina auf dieſe eine Art beſchränkt.
F
334 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Die weißen, im Blütheneingange mit | ift aber auf der Unterfläche mit kleinen
zwei gelben und gelb behaarten Ausſack- einzelligen geſtielten Knöpfchen (Fig. XVII.)
ungen (a) verzierten Blüthen locken vor— beſetzt, die von zarter Haut umkleidet und
zugsweiſe mittelgroße Fliegen (Musciden) mit Saft erfüllt ſind. Dieſe Knöpfchen
an, die ganz in die Blüthe hinein kriechen, ſcheinen das Genußmittel zu ſein, welches
bis ſie mit dem Kopfe in den hohlen die Fliegen zu wiederholten Beſuchen der
Sporn (e) kommen. Der Sporn bietet Blüthen anlockt. Beim Hineinkriechen in
ihnen keinen Honig dar; ſeine Innenwand dieſelben dienen ihnen ſowohl die gelben
Fig. 4. Eine Klemmfallenblume (Pinguicula alpina).
X. Blüthe von der Seite geſehen. XI. Dieſelbe im Längsdurchſchnitt (8½ : 1). XII. Ge⸗
ſchlechtstheile derſelben (7:1). XIII. Obere Hälfte einer Blüthe, deren Staubgefäße noch
geſchloſſen find (3½ : 1). XIV. Geſchlechtstheile derſelben (7: 1). XV. Geſchlechtstheile einer
Blüthe, deren Staubbeutel ſich geöffnet haben, nachdem der untere Narbenlappen von hinten
her in die Höhe geklappt iſt, ſo daß man ſeine Unterfläche ſieht. XVI. Untere Hälfte der
Blüthe (Fig. XIII). XVII. Zwei der geſtielten Knöpfchen, mit welchen die innere Spornwand
ausgekleidet iſt (80: 1). ca Kelch, co Blumenkrone, fi Staubfäden, an Staubbeutel,
po Pollen, ov Fruchtknoten, st Narbe. Die Erklärung von a, b, e im Text.
Haare der beiden Ausſackungen im Blüthen— | Nähe betrachtet. Die ſchräg nach hinten
eingange (a), als die farbloſen, ſtarren, gerichteten ſteifen Haare hindern ſie am
ſchräg nach hinten gerichteten Haare hinter raſchen Rückzug. Sie kann nur ganz
der Ausſackung (b) als bequeme Haltpunkte.
Sobald aber die Fliege mit dem Kopfe
im Sporne angelangt iſt, ſitzt ſie ziemlich
feſt, ſo daß ſie z. B. nicht entwiſcht, wenn
man die Blume abpflückt und aus nächſter
langſam zurück, indem ſie ſich mit dem
ſonſt gegen die Sperrhaare rennenden Leibe
möglichſt nach oben drängt, wobei ſie mit
dem Rücken die Antheren ſtreift und den
unteren Lappen der (nicht reizbaren) Narbe
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
nach vorn und oben klappt. Da nun die
Narbe ſich auch hier erheblich früher zur
Reife entwickelt, als die Staubgefäße, fo
bewirkt die Fliege, wenn ſie ſich einmal mit
Pollen älterer Blüthen behaftet hat, Be—
fruchtung, ſo oft ſie in neue Blüthen ein—
dringt. Denn an dem unteren Narben—
lappen derſelben bleibt dann ein Theil des
Polens haften. (Ich fand mehrmals in
der Klemme ſtecken gebliebene Fliegen [ Mus—
ciden! todt. Jedenfalls waren fie zu
ſchwach geweſen, in der beſchriebenen Weiſe
wieder herauszukommen).
Pinguieula vulgaris hat dieſe Klemm⸗
falleneinrichtung nicht. Die untere Fläche
ihrer Blüthenhöhle iſt ſtatt der ſtarren
Sperrhaare mit am Ende keulig verdickten,
vielzelligen, weichen Haaren bekleidet, ihr
Sporn enthält nur äußerſt ſpärliche, geſtielte
Saftknöpfchen. Ihre Kreuzungsvermittler
zu belauſchen, iſt mir noch nicht gelungen.
Es bedarf keiner näheren Ausführung,
daß auch bei Pinguicula alpina die un⸗
mittelbar nur den Fliegen zu gute kommen⸗
den Eigenthümlichkeiten der Blüthe, ihre
weißliche Farbe, die gelbgefärbten und mit
gelben, ſenkrecht abſtehenden Haaren be—
kleideten Ausſackungen im Blütheneingange
und die geſtielten Saftknöpfchen im Sporne,
als das Züchtungsergebniß der von den
Fliegen geübten Blumenauswahl, die un—
mittelbar nur der Pflanze zu gute kom⸗
mende Eigenthümlichkeit der Sperrhaare
dagegen als Produkt der von ihrer Aus—
wahl unabhängigen Naturzüchtung zu be—
trachten ſind.
Außer den Ckelblumen und Fliegen—
fallenblumen, von denen es feſtſteht, daß
ſie der ausſchließlichen Kreuzungsvermittel—
ung durch Dipteren angepaßt ſind, giebt
es noch eine dritte Klaſſe von Blumen,
von denen dies wenigſtens mit großer
335
Wahrſcheinlichkeit vermuthet werden kann.
Es ſind dies ſolche Blumen, welche der
Geſchmacksrichtung der Fliegen entſprechende
Anlockungsmittel beſitzen, ihren Beſuchern
aber weder Blüthenſtaub, noch Honig, noch
Obdach, noch ſonſt etwas anderes als bloße
Täuſchung gewähren und die daher gewiß
nur ſo dumme Thiere wie die Fliegen zu
wiederholten Beſuchen und zur Kreuzungs⸗
vermittelung veranlaſſen können.
Das allbekannte Fliegenblümchen, Ophrys
muscifera, kann am beſten als Beiſpiel
dieſer Klaſſe von Blumen dienen. Seine
purpurbraune, ſammetartige Unterlippe er—
ſcheint mit ihrem fahlbläulichen nackten
Flecke ganz wie dazu gemacht, durch ihre
Farbe Fäulnißſtoffe liebende Fliegen an ſich
zu locken. Wenn ſie dies wirklich thut,
wofür die direkte Beobachtung bis jetzt
noch fehlt, ſo werden die beiden ſchwarzen
glänzenden Knöpfchen an der Baſis der
Unterlippe, die wie zwei Flüſſigkeitströpf—
chen ausſehen und deshalb ganz paſſend
als Scheinnektarien bezeichnet werden, gewiß
nicht verfehlen, die angeflogene Fliege zu
einem Saugverſuche und damit zum erſten
Akte der Kreuzungsvermittelung zu veran—
laſſen. Denn indem ſie ſich nach einem
der beiden Scheinnektarien niederbückt, ſtößt
ſie mit dem Kopfe faſt unvermeidlich an
das über demſelben hervorragende Klebſtoff—
behältniß (rostellum) und kittet ſich ein
Staubkölbchen an; und wenn ſie einige
Minuten ſpäter auf einer anderen Blüthe
derſelben Täuſchung unterliegt, ſo hat ſich
inzwiſchen das dem Kopfe angekittete Staub-
kölbchen ſoweit abwärts gebogen, daß es
gegen die Narbe geſtoßen wird und da
Kreuzung bewirkt. Mit der vermuthungs—
weiſe hier ausgeſprochenen Deutung des
Fliegenblümchens, welches man hiernach als
eine Täuſchblume bezeichnen dürfte,
336 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
ſteht es gewiß in vollem Einklange, daß
man immer nur eine verhältnißmäßig ge—
ringe Zahl ſeiner Blüthen eines oder beider
Staubkölbchen beraubt und befruchtet findet.“)
Die vorhergehenden Erörterungen hatte
ich bereits ſeit mehreren Wochen völlig ab—
geſchloſſen bei Seite gelegt, als mir geſtern,
am 22. April, bei nochmaliger genauer
Betrachtung der räthſelhaften Blüthe unſe—
rer Einbeere, Paris quadrifolia, mit einem
Male klar wurde, daß auch ſie in allen
ihren Theilen verſtändlich wird, wenn man
fie als Fliegentäuſchblume auffaßt.
In ihrem widrigen Geruche und ihrer ziem—
lich ausgeprägten Proterogynie ſtimmt ſie,
— ſo ſagte ich mir — mit Asarum überein
und charakteriſirt ſich als Ekelblume. Auch
die grannenartige Verlängerung des Mittel—
bandes ihrer Staubgefäße erinnert lebhaft
an Asarum. In der Mitte der Paris-
Blüthe glänzt, von vier purpurfarbenen,
von Narbenpapillen rauhen Griffeläſten
gekrönt, der ſchwarzpurpurne Fruchtknoten,
als wäre er von Feuchtigkeit bedeckt. Er
wird die Neugier Fäulnißſtoffe liebender
) Nach vollendetem Satz vorliegender
Arbeit, habe ich, am 2. Juni d. I., entdeckt,
daß unter günſtigen Bedingungen ein breiter
mittlerer Längsſtreifen der Unterlippe, welcher
den fahlbläulichen Fleck in ſich ſchließt, ſich
mit zahlreichen Tröpfchen bedeckt. Auch habe
ich eine Fleiſchfliege, Sarcophaga, auf der
Unterlippe ſitzend und mit dem Kopfe der
Baſis derſelben zugekehrt, an dieſen Tröpfchen
lecken ſehen. Bei meiner Annäherung flog
ſie leider weg, ehe ſie noch bis zu den Schein—
nektarien gelangt war. Die Definition der
Täuſchblumen muß alſo dahin modificirt wer—
den, daß ſie durch Scheinnektarien ihre Be—
ſucher täuſchen, mögen ſie denſelben übrigens
Ausbeute darbieten oder nicht. Die Ver—
muthung, daß Ophrys muscifera Fäulnißſtoff
liebende Dipteren anlockt, iſt durch die mit—
getheilte Beobachtung zur Gewißheit geworden.
Dipteren erregen und in ihnen die Vor—
ſtellung erwecken, daß hier etwas ihnen
Zuſagendes zu lecken ſei. Habe ich doch
ſchon vor Jahren (vgl. meine Befruchtung
der Blumen durch Inſekten S. 65) eine
Fliege auf der Mitte der Blüthe, den
Narben, ſitzen und bei meiner Annäherung
wegfliegen ſehen! Die vier Blumenblätter
biegen ſich als grünlichgelbe, linienförmige
Zipfel aus der Blüthe heraus nach unten,
oft bis faſt auf die vier Stengelblätter
herab. Sie können kleinen Mücken als
Leitſeile dienen, welche ſie bis in die Mitte
der Blüthe, zu dem die Täuſchung bewir—
kenden Fruchtknoten leiten. Die um die
Blüthenmitte herum in die Höhe ragenden
Staubgefäße bilden, gerade ſo wie die
Staubgefäße von Asarum, Abfliegeſtangen,
an welchen nach dem Aufſpringen der
Staubbeutel, Dipteren nicht in die Höhe
kriechen können, ohne ſich mit Pollen zu
behaften. Es kommt alſo blos darauf an,
ob allen dieſen Deutungen auch der that—
ſächliche Inſektenbeſuch entſpricht, der ſich,
bei der großen Scheuheit der kleinen Dip—
teren, allerdings nur ſehr ſchwer wird feſt—
ſtellen laſſen.
Von dieſen Betrachtungen getrieben, be—
nutzte ich, von herrlichem Wetter begünſtigt,
heute, am 23 April, den Vormittag, um
meine Vermuthung auf die entſcheidende
Probe zu ſtellen und hatte in der That
die Genugthuung, dieſelbe wenigſtens zum
Theil durch direkte Beobachtung beſtätigt
zu ſehen. In dem Rirbecker Buſche, an
einer Stelle, wo zahlreiche Einbeeren jetzt
gerade in ſchönſter Blüthe ſtehen, ſtreckte
ich mich auf den Waldboden nieder und
harrte, geräuſchlos und bewegungslos, nur
die etwa 15—20 um mich ſtehenden Pa-
ris-Blüthen ins Auge faſſend, ob nicht
durch meine Annäherung vielleicht verſcheuchte
kleine zweiflügelige Gäſte ſich wieder einfinden
würden. Ich harrte über eine Stunde
geduldig aus und ſah in der That wäh—
rend dieſer Zeit mehrmals eine kleine Mücke
(Ceratopogon?) und einige Musciden,
darunter Scatophaga merdaria F., an
die Blüthen fliegen und vorzugsweiſe am
Fruchtknoten, bisweilen aber auch an den
Staubgefäßen beſchäftigt. Die Thierchen
obachtung aus einiger Entfernung begnügen
mußte, und ich war nie ſo glücklich, den
ganzen Verlauf ihrer Thätigkeiten, ſo wie
ich ihn mir gedacht hatte, beobachten zu
können. Doch dürfte wenigſtens die Haupt—
ſache, daß der Fruchtknoten, obgleich er
kein Genußmittel darbietet, anlockend auf
gewiſſe Dipteren wirkt, daß alſo Paris eine
Täuſchblume iſt, hiermit thatſächlich ent-
ſchieden ſein, und auch die oben gegebene
Deutung der Blütheneinrichtung von Ophrys
museifera gewinnt dadurch jedenfalls ſehr
an Wahrſcheinlichkeit.
Außer Ekelblumen, Fallenblumen und
Täuſchblumen ſind bis jetzt irgend welche
andere Blumen, welche der ausſchließlichen
Fremdbeſtäubung durch Vermittelung Fäul—
nißſtoffe liebender Dipteren angepaßt wären,
nicht bekannt. Es läßt ſich daher das
Geſammtergebniß ihrer Thätigkeit als ſelbſt—
ſtändiger Blumenzüchter in folgenden Sätzen
zuſammenfaſſen:
1. Wie alle Blumen überhaupt, ſo ſind
auch die dieſen Dipteren ausſchließlich an-
gepaßten das Ergebniß einer doppelten
Züchtung, indem einerſeits diejenigen indi—
viduellen Abänderungen ſich erhalten und
Kosmos, Band III. Heft 4.
waren jo ſcheu, daß ich mich mit ihrer Be- |
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
|
ſummirt haben, welche die Blumenauswahl
der Fliegen und Mücken beſtimmen und
den Blumen ſelbſt erſt mittelbar, durch
wirkſamere Herbeilockung dieſer Kreuzungs—
vermittler, vortheilhaft werden, andererſeits
aber durch Naturausleſe auch ſolche Ab—
änderungen ausgeprägt worden ſind, welche,
von der Wahl der Beſucher unabhängig,
der Pflanze unmittelbar nützen, ſei es durch
Sicherung der Kreuzung bei eintretendem
Dipteren-Beſuche, ſei es als Schutzmittel
der Blumen gegen Wetterungunſt und Thiere.
2. Durch die Blumenauswahl der
Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren find Efel-
farben und Ekelgerüche gezüchtet worden,
welche für ſich allein genügen, alle ſonſtigen
Blumengäſte auszuſchließen und überdies oft
Blumenformen, welche einen geſchützten
Schlupfwinkel darbieten. Iſt letzterer ſehr
verſteckt, ſo kommt als ihr weiteres Zücht⸗
ungsprodukt ein offenes Eingangszelt, eine
Leitſtange oder ein Leitſeil hinzu, welches
den kleinen Blumenzüchtern ein bequemes
Hineinkriechen in den Schlupfwinkel geſtattet.
3. Von der Wahl der Dipteren unabhän-
gige Naturausleſe hat die von dieſen ge—
züchteten Ekelblumen theils zu Kreuzung
ſichernden Keſſelfallen und Klemmfallen,
theils zu Täuſchblumen gezüchtet.
4. Da hierzu Dummdreiſtigkeit der
Kreuzungsvermittler nothwendige Vorbe—
dingung war, ſo haben ſich keine den blu—
menſteten, einſichtigeren Dipteren, wie z. B.
Syrphiden, Empiden, Conopiden und
Bombyliden, ſondern nur dummen, Fäul—
nißſtoffe liebenden und daher blumen-un⸗
ſteten Musciden und Mücken ausſchließlich
angepaßte Blumen ausgebildet.
— — — — — —
43
Die Herrschaft des Ceremoniells.
Von
Herbert Spencer.
WII.
(Schluß.)
ſind in dieſer Hinſicht allen übrigen gleich.
Ebenſo wie der Taubſtumme, welcher uns
| eine von ihm zu bezeichnende Perſon da-
er noch unentwickelte menſch- durch ins Gedächtniß ruft, daß er eine
SS liche Verſtand zeigt keine Ini Eigenthümlichkeit derſelben nachahmt, keine
SEN tiative. Indem er zähe an Idee davon hat, daß er damit ein Symbol
Az dem feſthält, was feine Väter einführt, ebenſo wenig hat dies der Wilde,
ihm gelehrt, geht der primi- wenn er eine beſtimmte Stelle als diejenige
tive Menſch nur in unbeabſichtigten Ver- bezeichnet, wo das Känguruh getödtet wurde,
änderungen zum Neuen über. Was, wie oder als diejenige, wo die Klippe herunter—
gegenwärtig Jedermann weiß, von den fiel — ebenſo wenig hat er dies, wenn er
Sprachen gilt, daß ſie nämlich nicht erdacht die Erinnerung an ein Individuum weckt,
find, ſondern ſich entwickelt haben, gilt indem er ſich auf einen hervorſtechenden
ebenſo von den Gebräuchen und auch von Zug in deſſen Erſcheinung oder auf eine
den Titeln. Betrachtet man ſie in ihrer Thatſache aus ſeinem Leben bezieht; und
jetzigen Form, jo erſcheinen fie als künſt- ebenſo wenig hat er dies, wenn er den
liche Produkte; es drängt ſich von ſelbſt Perſonen jene buchſtäblich oder bildlich be—
die Idee auf, ſie ſeien zu irgend einer Zeit ſchreibenden Namen beilegt, welche ſich dann
mit Bewußtſein feſtgeſtellt worden. Dies | hier und da zu Titeln entwickelten.
iſt aber ebenſo wenig richtig, als wenn man Schon die bloße Vorſtellung von einem
behaupten wollte, unſere gewöhnlichen Wör— | Eigennamen iſt gleichſam unverſehens ent—
ter ſeien einſtens abſichtlich erſonnen worden. ſtanden. Die Thatſache, daß bei vielen
Namen von Dingen, Eigenſchaften und unciviliſirten Völkern ein Kind Jahre lang
Handlungen find urſprünglich ſtets unmittel- als „Gewitter“ oder „Neumond“ oder
bar oder mittelbar beſchreibend, und die „Vaters Rückkunft“ bezeichnet wird, zeigt
Namen, welche wir als Titel bezeichnen, nus, daß urſprünglich nichts weiter vorlag
Titel.
als eine Bezugnahme auf einen Vorfall,
welcher am Tage ſeiner Geburt ſtattfand,
als das beſte Mittel, um den Gedanken
an das einzelne Kind, was man gerade
meint, hervorzurufen. Und wenn es ſpäter
einen andern Namen bekommt, wie z. B.
„Kürbiskopf“ oder „Schmutziger Sattel“
(Namen der Dakotahs), jo entſpringt dies
aus dem willkürlichen Gebrauch eines zwei—
ten und manchmal geeigneteren Mittels zur
Identificirung. Offenbar iſt daſſelbe hin—
ſichtlich ſolcher minder nothwendiger Namen
der Fall geweſen, wie es die Titel ſind.
Dieſelben müſſen ſich von gewöhnlichen
Eigennamen einfach deshalb differencirt haben,
weil ſie irgend eine Beſonderheit, eine That
oder eine Funktion, die in Ehren gehalten
wurde, klar bezeichneten.
Viele wilde Raſſen pflegen einem Mann,
nachdem er in der Schlacht eine große Helden—
that vollführt, einen beſondern Ruhmes—
namen beizulegen, welcher neben demjenigen,
unter dem er bisher bekannt war, oder ſo—
gar an Stelle deſſelben in Gebrauch kommt.
Die Tupis bieten uns ein gutes Beiſpiel.
„Der Gründer des (kannibaliſchen) Feſtes
legte ſich zur ehrenvollen Erinnerung an
das Geſchehene einen neuen Namen bei und
ſofort liefen ſeine weiblichen Verwandten
durch das Haus und riefen den neuen
Titel aus.“ Und von demſelben Volke
berichtet Hans Stade: „So viele Feinde
einer von ihnen erſchlägt, ſo viele Namen
legt er ſich bei, und der gilt als der edelſte
unter ihnen, welcher die meiſten ſolchen
Namen trägt.“ Und in Nordamerika, wenn
ein junger Creek-Indianer feinen erſten Scalp
heimbringt, empfängt er die Weihe als
Mann und als Krieger und erhält einen
„Kriegsnamen“. Bei dem weiter vorge—
ſchrittenen Volke im alten Nicaragua hatte
dieſer Brauch zur Anwendung eines allge—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
339
meinen Namens für dieſes Verhältniß ge—
führt: ſie nannten Jeden, der einen Andern
in der Schlacht erſchlagen hatte, „Tapa—
lique“, und „Cabra“ war der entſprechende
Titel, der bei den Indianern des Iſthmus
ertheilt wurde.
Wie dann beſchreibende Ehrennamen,
welche auf ſolche Weiſe während früherer
kriegeriſcher Zeiten entſtanden, in einzelnen
Fällen zu officiellen Namen werden, erſehen
wir ſofort, wenn wir die betreffenden Bei—
ſpiele vergleichen, welche uns blutdürſtige
und kannibaliſche Geſellſchaften auf etwas
verſchiedenen Stufen der Entwickelung dar—
bieten. In Fidſchi „empfangen Krieger
von Rang allerhand ſtolze Titel, wie z. B.
„Der Zertheilerd eines Gaues, Der Ver—
wüfter» einer Küſte, „Der Entvölferer »
einer Inſel, wobei nämlich ſtets der Name
des in Frage ſtehenden Ortes beigefügt
wird.“ Im alten Mexico aber war der
Name eines Amtes, welches die Brüder oder
die nächſten Verwandten des Königs be—
kleideten: „Menſchenfäller , und der eines
andern «Blutvergießer».
Wo die Vorſtellung von dem Unter—
ſchiede zwiſchen Menſchen und Göttern ſehr
unbeſtimmt iſt und die Bildung von Göt-
tern durch Apotheoſe von Häuptlingen noch
fortdauert, wie bei den Fidſchianern, da
finden wir auch unter den Göttern ähnliche
Namen, wie ſie dort den wildeſten Kriegern
zu ihren Lebzeiten beigelegt werden. „Der
Frauenräuber“, „Der Gehirnfreſſer“, „Der
Meuchelmörder“, „Friſch-vom-Gemetzel“
erſcheinen als ganz naturgemäße göttliche
Titel, da ſie aus beſchreibenden Namen bei
ahnenverehrenden Kannibalen entſtehen. Daß
aber auch manche Titel der von höheren
Raſſen verehrten Götter ähnlichen Ur-
ſprungs ſind, deuten ähnliche beſchrei—
bende Namen an, wie z. B. derjenige des
340
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
Mars: „Der Blutbeflecker“, und derjenige
des hebräiſchen Gottes: „Der Gewalt—
thätige“, — denn letzteres iſt nach Kuenen
die buchſtäbliche Ueberſetzung von Schaddai.
Ganz allgemein wird auch bei primi—
tiven Menſchen ſtatt eines buchſtäblich be—
ſchreibenden Ehrennamens ein bildlich be—
ſchreibender gegeben. Von den eben er—
wähnten Tupis leſen wir weiter, daß ſie
„ihre Benennungen von ſichtbaren Gegen—
ſtänden hernähmen, wobei Stolz oder Wild—
heit ihre Wahl beeinflußte.“ Wie aber
ſolche Namen, die zuerſt ohne beſtimmte
Abſicht von den Beifall rufenden Gefähr—
ten zuerkannt und ſpäter in etwas abſicht—
licherer Weiſe angenommen werden, ſehr
gern gerade bei den tapferſten Menſchen
Anklang finden und ſo zu Namen von
Herrſchern werden, ergiebt ſich aus dem,
was Ximenes uns von den höher civi—
liſirten Völkern von Guatemala erzählt.
Die von ihm erwähnten Namen ihrer
Könige ſind: „Lachender Tiger“, „Tiger
des Waldes“, „Unterdrückender Adler“,
„Adlerkopf“, „Starke Schlange“ u. ſ. w.
Im ganzen wilden Afrika findet ſich eine
ähnliche Entſtehung der königlichen Titel.
Der König von Aſchanti führt unter ſeinen
lobpreiſenden Namen auch die beiden:
„Löwe“ und „Schlange“. In Dahome
werden derartig abgeleitete Titel in den
Superlativ erhoben: der König iſt „der
Löwe der Löwen“. Und in ähnlichem
Sinne wird der König von Uſambara
„Löwe des Himmels“ genannt — ein
Titel, aus welchem, ſofern dieſer König
der Vergötterung theilhaftig wird, Mythen
verſchiedener Art ganz natürlich entſtehen
müſſen. Aus dem Zululande erhalten wir
neben Zeugniſſen für denſelben Brauch auch
ein Beiſpiel für die Art und Weiſe, in
unbelebten gewaltigen Dingen abgeleitet
werden, ſich mit Ehrennamen anderer Ab—
ſtammung verbinden und ſo zu einigen
jener Anredeformen überführen, die wir im
Früheren beſprochen haben. Die Titel des
Königs ſind: „Der edle Elephant“, „Du,
der Du ewig biſt“, „Du, der Du ſo hoch
biſt wie die Himmel“, „Du, der Du die
Menſchen erzeugſt“, „Der Schwarze“, „Du,
der Du ein Vogel biſt, welcher andere
Vögel frißt“, „Du, der Du ſo hoch biſt
wie die Berge“, „Du, der Du Frieden
bringſt“ u. ſ. w. Shooter zeigt uns,
wie dieſe Zulutitel verwendet werden, in—
dem er einen Theil einer an den König
gerichteten Anrede citirt: „Du Berg, Du
Löwe, Du Tiger, Du, der Du ſchwarz biſt.
Es giebt keinen, der Dir gleich wäre.“
Ferner finden ſich Beweiſe dafür, daß jo
entſtandene Ehrennamen ſelbſt in Titel über—
gehen, welche dann die entſprechende Stell—
ung bezeichnen; denn Shooter erzählt,
das Weib eines Kaffernhäuptlings werde
„die Elephantin genannt, während ſein
Lieblingsweib die Löwin heißt.“
Augeſichts folder Zeugniſſe können wir
kaum dem Schluß entgehen, daß der Ge—
brauch von Thiernamen als Ehrenbezeich—
nungen, wie er ſich in den Urkunden unter—
gegangener hiſtoriſcher Völker nachweiſen
läßt, auf ähnliche Weiſe entſtanden ſei.
Wenn wir finden, daß gegenwärtig in
Madagascar einer von des Königs Titeln
lautet: „Mächtiger Stier“, und wir hier—
durch daran erinnert werden, daß der ſieg—
reiche Ramſes von ſeinen geſchlagenen Fein—
den ganz denſelben lobpreiſenden Namen
den Königen beigelegten
|
erhielt, jo können wir uns ſchwerlich der
Vermuthung entſchlagen, daß aus ſolchen
Thiernamen jene
Thiernamen ſich erklären, welche die Gott—
welcher Ehrennamen, die von belebten und heiten zu ihrem Lobe empfingen; ſo daß
.
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
alſo Apis in Aegypten ein Aequivalent
für Oſiris und die Sonne und Stier
ebenſo ein gleichwerthiger Name für den
ſiegreichen Held und Sonnengott Indra wird.
Nicht anders verhält es ſich mit den
Titeln, welche von gewaltigen Naturgegen—
ſtänden und Naturkräften hergenommen wer—
den. Wir haben geſehen, wie bei den Zulus
die hyperboliſche Anrede an den König:
„Du biſt ſo hoch wie die Berge,“ von der
Form des Gleichniſſes in die Form der
Metapher übergeht, wenn er angeredet wird:
„Du Berg“. Und daß der ſolchergeſtalt
in Gebrauch gekommene metaphoriſche Name
manchmal ſogar zum Eigennamen wird,
dafür erhalten wir ein Zeugniß von Samoa,
wo, „weil der Häuptling von Pango-Pango
gegenwärtig Manunga» oder Bergs heißt,
dieſer Name in ſeiner Gegenwart nie aus—
geſprochen werden darf.“ Es liegen ferner
Beweiſe vor, daß bei den roheren Ahnen—
verehrern auch göttliche Titel auf ähnliche
Weiſe abgeleitet werden. Die Chinooks,
die Navajos und die Mexicaner in Nord—
amerika und die Peruaner in Südamerika
halten gewiſſe Berge für Götter, und da
dieſe Götter verſchiedene Namen haben, ſo
liegt die Folgerung nahe, daß in jedem
einzelnen Falle ein vergötterter Menſch zu
ſeiner Ehre entweder den allgemeinen Na—
men „Berg“ empfangen habe oder aber
den Namen eines beſonderen Berges, wie
dies in Neuſeeland geſchehen iſt. Aus Höf—
lichkeitsvergleichungen mit der Sonne ferner
entſtehen nicht allein perſönliche Ehrennamen
und göttliche Namen, ſondern auch officielle
Titel. Wenn wir leſen, daß die Mexicaner
Cortez mit dem Namen „der Abkömmling
der Sonne“ auszeichneten, daß die Chib—
chas die Spanier im Allgemeinen „Kinder
der Sonne“ nannten, und daß in Tlas—
cala Alvaredo vom Volke „Sonne“ geheißen
341
wurde; wenn wir ferner leſen, daß „Kind
der Sonne“ eine Höflichkeitsbezeichnung war,
die in Peru häufig irgend einem beſonders
geſchickten Menſchen beigelegt ward, wo auch
die Yncas, welche für Abkömmlinge der
Sonne galten, nach einander mit einem
hiervon abgeleiteten Titel ausgezeichnet wur—
don, ſo wird uns nun auch verſtändlich,
wie es kam, daß die auf einander folgen—
den ägyptiſchen Könige „Sohn der Sonne“
als Titel trugen, womit ſich dann Eigen—
namen zur individuellen Bezeichnung des
Einzelnen verbanden. Und bedenken wir
ferner, daß in Aegypten Hand in Hand
mit der ausgedehnteſten Ahnenverehrung
die Anbetung der lebenden Könige einher—
ging, ſo iſt ohne Schwierigkeit einzuſehen,
wie die Könige, abgeſehen von dem allen
gemeinſamen Sonnentitel, aus derſelben
Quelle mancherlei beſondere Titel empfingen,
wie „die ſiegreich emporſteigende Sonne“,
„die Sonne, die Ordnerin der Schöpfung“
u. ſ. w., und wie naturgemäß dann für
ihre durch Apotheoſe entſtandenen Götter
verſchiedene Sonnentitel mit ganz ähnlichen
beſonderen Bezeichnungen entſtanden, wie
z. B. „die Quelle der Wärme“, „der Ur—
heber des Lichts“, „die Macht der Sonne“,
„die belebende Urſache“, „die Sonne am
Firmament“ und „die Sonne an ihrer
Ruheſtätte“.
St alſo einmal der metaphoriſch-be—
ſchreibende Name gegeben, ſo haben wir
damit auch den Keim, aus welchem dieſe
primitiven Ehrentitel entſpringen, welche,
urſprünglich individuelle Namen, in vielen
Fällen zu Titeln werden, die ſich an das
einzelne Amt heften.
Wer die vorliegenden Zeugniſſe ohne
Vorurtheil ſtudirt, der wird Beweiſe genug
dafür finden, daß auch die allgemeine Bezeich—
nung für die Gottheit urſprünglich einfach
342
ein Wort war, das Ueberordnung aus—
drücken ſollte. Bei den Fidſchianern wird jener
Name (Gott) auf jedes große oder wunder—
auf Alles, was neu, nützlich oder außer—
ordentlich iſt, bei den Todas auf alles Ge—
heimnißvolle, fo daß es, wie Marſhall
ſagt, „in der That ein Beiwort zur Be—
zeichnung des Hervorragenden iſt.“ In—
dem es gleichermaßen auf belebte und un—
belebte Dinge Anwendung findet, einfach
um irgend eine über das Gewöhnliche hin—
ausgehende Eigenſchaft anzudeuten, wird
das Wort in dieſem Sinne auch von
menſchlichen Weſen, ſowohl lebenden als
todten, gebraucht; da aber der Glaube
herrſcht, die Todten hätten geheimnißvolle
Kräfte erlangt, um den Lebenden Gutes
und Böſes zuzufügen, ſo kommt es von
ſelbſt dazu, daß jenes Wort ganz beſonders
auf die Todten anwendbar wird. Wenn
auch Geiſt und Gott für uns ſehr ver—
ſchiedene Bedeutungen haben, ſo ſind ſie
doch urſprünglich gleichwerthige Wörter,
oder beſſer geſagt, es gab urſprünglich nur
ein Wort für übernatürliche Weſen. Dies
beſtätigen uns nicht allein viele Miſſionäre,
welche bei den Eingebornen kein Wort für
Gott finden konnten, das nicht zugleich
Geiſt, Dämon oder Teufel bedeutete; das
beweiſen nicht allein die Griechen und Rö—
mer, welche für die Geiſter ihrer geſtor—
benen Verwandten daſſelbe Wort brauchten,
womit ihre großen Gottheiten bezeichnet
wurden; und das beweiſen nicht allein die
Aegypter, in deren hieroglyphiſchen In—
ſchriften daſſelbe „Determinativum“, wie
aus dem Texte hervorgeht, Gott, Vorfahre
und heilige Perſon bedeutet, ſondern es be—
weiſen uns dies auch die Hebräer, welche
das Wort Elohim nicht blos auf ihr
oberſtes übernatürliches Weſen, ſondern
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
auch auf die Geiſter anwenden; ja indem
ſie denſelben Namen auch lebenden, mit
Macht ausgeſtatteten Perſonen beilegten,
bare Ding angewendet, bei den Malagaſſen
zeigen ſie uns, daß bei ihnen, wie über—
haupt bei primitiven Völkern, Ueberlegen—
heit der einen oder andern Art das ein—
zige Attribut iſt, was damit ausgedrückt
werden ſoll. Und da nun nach dem ein—
fachſten Glauben das andere Ich des todten
Menſchen ebenſo ſichtbar und greifbar iſt
wie der lebende, weshalb es auch ein zweites
Mal erſchlagen, ertränkt oder ſonſtwie ge—
tödtet werden kann — da die Aehnlichkeit
zwiſchen beiden ſo weit geht, daß es ſogar
ſchwierig iſt, zu erfahren, worin bei den
Fidſchianern der Unterſchied zwiſchen einem
Gott und einem Häuptling beſteht, und da
auch die Beiſpiele von Göttererſcheinungen
in der Iliade beweiſen, daß der griechiſche
Gott, der durch die Waffen der Menſchen
verwundet werden konnte, in jeder Hinſicht
ſo ſehr einem Menſchen ähnlich war, daß
es einer beſondern Offenbarung bedurfte,
um ihn als ſolchen zu erkennen — ſo wird
es uns nicht mehr befremdend ſein, zu
finden, daß der Titel „Gott“, den man
einem der Regel nach für unſichtbar gehal—
tenen mächtigen Weſen beilegt, ſehr oft
auch einem ſichtbaren mächtigen Weſen ge—
geben wird, und daß dieſer Titel manch—
mal ſogar in dem Glauben gegeben wird,
der Betreffende möchte das andere Ich
irgend eines gefürchteten und nun zurück—
gekehrten Menſchen ſein, ſelbſt wenn er ihn
um ſeiner natürlichen Ueberlegenheit willen
nicht empfangen haben würde. Daraus
erklärt ſich denn, daß Europäer von den
Auſtraliern, Neucaledoniern, den Darnley—
Inſulanern, den Kroomen, dem Volke von
Calabar, den Mpongwe u. ſ. w. Geiſter
genannt werden, da ſie dieſelben für die
Doppelweſen ihrer eigenen verſtorbenen An—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
gehörigen halten. Daraus erklärt ſich, daß
ſie den andern Namen für denſelben Be—
griff, „Gott“, von den Buſchmännern, den
Betſchuanen, den Oſtafrikanern, Fulahs,
Khonds, Fidſchianern, Dajaks, den alten
Mexicanern, Chibchas u. ſ. w. empfingen.
Und daraus erklärt ſich auch, daß höher
ſtehende Menſchen unter unciviliſirten Völ—
kern, indem ſie das Wort in dem oben
erläuterten Sinne anwenden, ſich ſelbſt ge—
legentlich Götter nennen, wie dies die Pä-
läals thun, eine Art von Prieſtern bei den
Todas, oder wie manche Häuptlinge bei
den Neuſeeländern und den Fidſchianern.
Iſt uns hierdurch die urſprüngliche Be
deutung und Anwendung des Wortes ver—
ſtändlich geworden, ſo wird es nun auch
nicht weiter überraſchen, „Gott“ als Ehren—
titel gebraucht zu ſehen. Der König von
Loango wird von ſeinen Unterthanen ſo
genannt, wie uns Battel erzählt, und
Krapf berichtet daſſelbe vom Könige von
Mſambara. In der Gegenwart wird der
Name „Gott“ unter den wandernden Ara-
bern in keinem andern Sinne gebraucht
denn als allgemeine Bezeichnung des mäd-
tigſten lebenden Herrſchers, den ſie kennen.
Dies läßt denn auch die Behauptung glaub-
hafter erſcheinen, als es ſonſt wohl der
Fall wäre, daß der Große Lama, den die
Tartaren in Perſon verehren, von ihnen
„Gott, der Vater“ genannt werde. Es
ſteht dies ferner in Uebereinſtimmung mit
manchen andern Thatſachen, wie z. B. daß
Radama, der König von Madagascar, von
den ſein Lob ſingenden Frauen mit „O
mein Gott“ angerufen wird, und daß für
den König von Dahome das andere gleich—
werthige Wort „Geiſt“ in Gebrauch iſt,
in der Weiſe nämlich, daß, wenn er Je—
mand zu ſich rufen läßt, der Bote ſagt:
„Der Geiſt läßt Dich fordern“, und wenn
343
er geſprochen hat, rufen Alle aus: „Der
Geiſt ſpricht die Wahrheit“. Alle dieſe
Zeugniſſe aber machen es auch begreiflich,
wie die alten Könige im Orient den Na—
men sog als Titel annehmen konnten,
was für uns Moderne ſo ſonderbar klingt.
Ein Herabſteigen dieſes Ehrennamens
in den alltäglichen Verkehr iſt zwar nicht
häufig, kommt aber doch zuweilen vor.
Nach dem, was oben geſagt wurde, kann
es nicht befremdend erſcheinen, daß derſelbe
auf verſtorbene Perſonen Anwendung fin—
det, wie dies nach Motolina bei den
alten Mexicanern der Fall war, welche
„jeden ihrer Todten Teotl fo und fo
nannten, d. h. den oder jenen Gott, den
oder jenen Heiligen.“ Und durch dieſes
Beiſpiel vorbereitet, werden wir um ſo
leichter den gelegentlichen Gebrauch des
Wortes als Gruß zwiſchen den Lebenden
verſtehen.
Kaſias: „Die Begrüßung beim Begegnen
Colonel Yule jagt von den
iſt ſonderbar: Kublé! Gotts.“
Der Zuſammenhang zwiſchen „Gott“
als Titel und „Vater“ als Titel wird nur
dann einleuchtend, wenn wir wieder auf
jene älteſten Formen der Vorſtellung und
der Sprache zurückgehen, in denen beide
noch nicht von einander differencirt ſind.
Der Umſtand, daß ſelbſt in einer ſo hoch
entwickelten Sprache wie das Sanskrit
Wörter, welche „machen“, „herſtellen“,
„zeugen“ oder „ſchaffen“ bedeuten, unter—
ſchiedslos für denſelben Zweck gebraucht
werden, macht uns ſchon auf die ganz na=
türliche Erſcheinung aufmerkſam, daß der
lebende Vater als Erzeuger oder ſichtbare
Urſache neuer Weſen, welcher dann im Tode
ein nicht länger ſichtbarer Verurſacher neuer
Weſen wird, für den primitiven Geiſt in
Worten und Gedanken mit todten und un-
ſichtbaren Verurſachern überhaupt ver—
344 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
ſchmilzt, von denen dann einige ein beſon—
deres Uebergewicht erlangen und dem ent—
ſprechend als Verurſacher im Allgemeinen
— als Macher oder Schöpfer betrachtet
werden. Wenn Sir Rutherford Al-
cock bemerkt, daß „eine unechte Miſchung
von theokratiſchen und patriarchaliſchen Ele—
menten die Grundlage der ganzen Regier—
ung ſowohl im himmliſchen Reich als auch
in Japan bilde, unter Kaiſern, welche den
Anſpruch erheben, nicht allein Patriarch und
Vater ihres Volkes, ſondern auch von gött—
licher Abkunft zu ſein“ — ſo iſt dies nur ein
Beiſpiel mehr von den zahlreichen falſchen
Erklärungen, welche dadurch zu Stande kom—
men, daß man von unſern hochentwickelten
Vorſtellungen hinabſteigt, ſtatt von den
niedrigen Vorſtellungen des primitiven
Menſchen auszugehen. Denn was er für
eine unechte Miſchung von Ideen hält, iſt
in Wirklichkeit eine ganz normale Gedanken—
verbindung, die ſich nur in den erwähnten
Fällen länger forterhalten hat, als dies in aus—
gebildeten Geſellſchaften gewöhnlich geſchieht.
Die Zulus zeigen uns dieſe Verbind—
ung noch ſehr deutlich. Sie haben Ueber—
lieferungen von Unkulunkulu (buchſtäblich
der Ur-uralte), „welcher der erſte Menſch
war“, „welcher ins Daſein kam und Men—
ſchen zeugte“, „welcher den Menſchen und
allen übrigen Dingen den Urſprung gab“
(mit Einſchluß der Sonne, des Mondes
und der Himmel), und von dem man an—
nimmt, er ſei ein ſchwarzer Mann geweſen,
weil alle ſeine Nachkommen ſchwarz ſind.
Dieſer urſprüngliche Unkulunkulu wird aber
von ihnen nicht angebetet, weil der Glaube
herrſcht, er ſei ganz und gar todt; ſtatt
ſeiner genießen vielmehr die Unkulunkulus
der einzelnen Stämme, in welche ſeine
Nachkommen zerfallen ſind, jeder ſeine be—
ſondere Verehrung und werden alle „Vater“
genannt. Hier treten uns alſo die Ideen
von einem Schöpfer und einem Vater in
unmittelbarem Zuſammenhange entgegen.
Ebenſo beſtimmt oder ſogar noch beſtimm—
ter ſind die ähnlichen Ideen, die in den
Antworten ſich ausſprechen, welche die alten
Nicaraguaner auf die Frage gaben: „Wer
hat Himmel und Erde gemacht?“ Nach—
dem ſie zuerſt erwidert: „Tamagaſtad und
Eipattoval“, „unſere großen Götter, welche
wir Teotes nennen“, brachte man durch
Kreuz- und Querfragen die Antworten aus
ihnen heraus: „Unſere Väter ſind dieſe
Teotes“; „alle Männer und Weiber
ſtammen von ihnen ab“; „fie ſind von
Fleiſch und ſind Mann und Frau“. „Sie
wandelten bekleidet auf der Erde und aßen
was die Indianer aßen.“ Wo Götter und
erſte Aeltern in ſolcher Weiſe identificirt
werden, da ſind natürlich Vaterſchaft und
Gottheit nächſtverwandte Begriffe. Der
entfernteſte Vorfahre, den man ſich in der
andern Welt, wohin er hinüberging, noch
fortlebend denkt, der Schöpfer ſeiner Nach—
kommen, „der Ur- uralte“ oder „der Alte
der Tage“ wird zur oberſten Gottheit, und
ſo iſt denn „Vater“ keineswegs, wie wir
anzunehmen geneigt find, ein bildliches,
ſondern ein buchſtäbliches Aequivalent für
„Gott“.
So kommt es alſo, daß wir jenes
Wort bei allen Nationen mit dieſem Titel
vertauſchbar antreffen. In dem Gebet eines
Neucaledoniers an den Geiſt ſeines Vor—
fahren: „Barmherziger Vater, hier iſt etwas
Speiſe für Dich; nimm ſie und ſei uns
gnädig um ihretwillen“ — erkennen wir
jene urſprüngliche Identificirung von Vater—
ſchaft und Gottſchaft, auf welche alle My—
thologien und Theologien zurückweiſen. Wir
begreifen es als eine ganz natürliche Er—
ſcheinung, daß die peruaniſchen Yncas ihren
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
345
Vater, die Sonne, verehrten, daß Ptah, Fälle, wo die Titel „Herr Rajah“ und
der erſte aus der Dynaſtie der Götter,
welche Aegypten regierte, „der Vater des
Vaters der Götter“ heißt und daß Zeus
„Vater von Göttern und Menſchen“ iſt.
Nachdem wir dieſe urſprünglichen Glau-
bensanſichten betrachtet, in welchen das
Göttliche und das Menſchliche noch ſo wenig gegenwärtig iſt es immer noch einer der
von einander geſchieden ſind, oder nachdem
wir den in China und Japan noch heute
herrſchenden Glauben kennen gelernt, wo die
Herrſcher als „Söhne des Himmels“ ihre
Abſtammung von dieſen älteſten Vätern
oder Göttern herleiten, wird es uns nicht
ſchwierig ſein, einzuſehen, wie der Name
Vater in ſeiner höhern Bedeutung allmälige
Anwendung auch auf einen lebenden Po—
tentaten findet. Mit dieſer Urſache verbin—
det ſich noch eine andere. Wo die Feſt—
ftellung der Erbfolge in der männlichen
Linie zur Bildung der patriarchaliſchen Fa—
milie geführt hat, da verknüpft ſich mit
dem Namen Vater ſelbſt in ſeiner urſprüng—
lichen Bedeutung der Gedanke an hüchſte
Autorität und er gilt daher als Ehrenname.
Daher die weite Verbreitung dieſes
Wortes als königlicher Titel. Es wird
ſowohl von amerikaniſchen Indianern wie
von Neu-Seeländern bei der Anrede des
Herrſchers civiliſirter Völker verwendet.
Wir finden es auch in Afrika. Unter den
verſchiedenen für den König bei den Zulus
gebräuchlichen Namen bildet Vater den erſten
auf der Liſte, und wenn in Dahome der
König von ſeinem Throne nach dem Pa—
laſte ging, „wurde auf jede Unebenheit des
Bodens mit Schnappen der Finger hinge—
wieſen, damit ſie den königlichen Fuß nicht
ſtören möge, und fortwährend ertönte die
Begleitung dazu: «Dadda! Dadda! (Groß—
vater! Großvater!) und Dedde! Dedde l)
(Sachte! Sachte !)“. In Aſien treffen wir
Kosmos, Band III. Heft 4.
„Herr Vater“ vereinigt werden. In Europa
gilt heutzutage noch Vater als Titel des
Czaren; in früheren Zeiten war es unter
der Form „Sir“ die gemeinſame Bezeich—
nung für Machthaber der verſchiedenſten
Grade, für Lehnsherren und Könige; und
beim Anreden eines Monarchen gebräuch—
lichen Namen.“)
Dieſer Titel hat ſich, vielleicht um
ſeiner doppelten Bedeutung willen, leichter
verbreitet, als gewöhnlich geſchieht. Ueberall
beobachten wir, wie er zum Namen irgend
einer Art von Höhergeſtellten wird. Nicht
nur dem König gegenüber wird bei den
Zulus das Wort „Baba“, Vater ver—
wendet, ſondern auch von den Niedrigeren
jedes Ranges den über ihnen Stehenden
gegenüber. In Dahome nennt ein Sclave
ſeinen Herrn ſo, wie ſein Herr ſeinerſeits
den König. Und Livingſtone erzählt,
wie ſeine Diener von ihm als von „unſerem
) Obgleich die Discuſſionen hinſichtlich des
Urſprungs der Wörter „Sire“ und „Sieur“
damit zum Abſchluß gekommen ſind, daß ſie
von einer und derſelben Wurzel abſtammen,
welche urſprünglich älter bedeutet, ſo iſt doch
zugleich klar geworden, daß „Sire“ eine zu—
ſammengezogene Form iſt, welche früher in
Gebrauch kam als „Sieur“ (die abgekürzte
Form von Seigneur) und deshalb mehr eine
allgemeine Bedeutung erhielt, nach welcher
es in demſelben Sinne gebraucht wurde wie
Vater. Seine Anwendbarkeit auf verſchiedene
Perſonen von Rang neben „Seigneur“ ſpricht
ſchon für ſeine frühzeitigere Entwickelung
und Verbreitung, und daß es mit Vater von
gleichwerthiger Bedeutung war, ergiebt ſich
aus der Thatſache, daß im Altfranzöſiſchen
„Grant-Sire“ als Aequivalent für grand-pere
gebraucht wird, und ferner daraus, daß Sire
auf einen unverheiratheten Mann nicht an—
wendbar war.
44
346
Vater“ ſprachen, und daſſelbe berichtet
Burſchell von den Bachaſſins. Ebenſo
kam es vor Alters im Orient vor, wie
z. B. wenn „Naemans Knechte näher
kamen und mit ihm ſprachen und ſagten:
Mein Vater“, u. ſ. w. Und heutzutage
noch finden wir es im fernen Oſten. Ein
japaniſcher „Lehrling redet feinen Lehrherrn
als «Vaters an“. In Siam „werden die
Kinder des Edlen von ihren Untergebenen
„Vater und Mutter» genannt“ und Huc
erzählt davon, wie er chineſiſche Arbeiter
vor einem Mandarinen ſich niederwerfen
ſah, wobei ſie ausriefen: „Friede und Heil
unſerem Vater und unſerer Mutter.“ Als
eine weitere Stufe ſodann im Herabſteigen
in den allgemeineren Gebrauch mag ſeine
Ausdehnung auf ſolche erwähnt werden,
welche, ganz abgeſehen von ihrem Rang,
die dem Alter zuerkannte höhere Stellung
erlangt haben: eine höhere Stellung, die
ſogar manchmal dem Range vorangeht, wie
in Siam und in gewiſſer Hinſicht auch in
Japan und China. Eine ſolche Ausdehn—
ung fand ſich auch im alten Rom, wo
„pater“ zugleich ein obrigkeitlicher Titel
und ein Ehrenname war, den der Jüngere
einem wenn auch nicht mit ihm verwandten
Aelteren beilegte; und in Rußland wird
das entſprechende Wort heutzutage noch
dem Czar, einem Prieſter und jedem be—
jahrten Manne gegenüber gebraucht. Schließ—
lich verbreitet es ſich auf Junge wie auf
Alte. Unter der Form Sire, die ur—
ſprünglich auf größere und kleinere Feudal—
herrn Anwendung fand, entſtand aus dem
Vatertitel ſchließlich das bekannte lengliſche)
Sir, das einſt in der Rede allgemein
gebräuchlich war und es in Briefen noch iſt.
Hier ſei noch einer ſonderbaren Gruppe
von abgeleiteten Formen Erwähnung ge—
than, die bei unciviliſirten und halbcivili—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
ſirten Völkern in Gebrauch ſind. Der
Wunſch zu gefallen, indem man Einem
jene Würde zuſchreibt, die mit der Vater—
ſchaft verbunden iſt, hat vielerorts zu der
Sitte geführt, den Eigennamen eines Mannes
durch ein Wort zu erſetzen, das einerſeits
an dieſe ehrenvolle Vaterſchaft erinnert und
andererſeits den Betreffenden durch den
Namen ſeines Kindes unterſcheiden läßt.
„Die Malayen“, ſagt St. John, „haben
dieſelbe Sitte wie die Dajaks, den Namen
ihres Erſtgeborenen anzunehmen, wie z. B.
Pa Sipi, der Vater von Sipi.“ Mars-
den nennt dies einen allgemein in Suma—
tra herrſchenden Gebrauch und Ellis
bringt Beiſpiele davon aus Madagascar.
Gleiches findet ſich bei einigen indiſchen
Bergvölkern: die Kaſias „reden einander
mit den Namen ihrer Kinder an, wie
Pabobon, Vater von Bobon!“ Auch Afrika
bietet Belege hierfür. Wenn die Bet—
ſchuanas Herrn Moffat anredeten, jo
pflegten ſie zu ſagen: „Ich ſpreche mit
dem Vater von Mary“. Und in den pa—
cifiſchen Staaten von Nordamerika giebt
es Völker, welche ſo ſehr dieſen primitiven
Ehrennamen zu haben beſtrebt ſind, daß,
ſo lange ein junger Mann noch keine
Kinder hat, ſein Hund im Verhältniß eines
Sohnes zu ihm ſteht und er als der Vater
ſeines Hundes bezeichnet wird.
Die höhere Stellung, welche ſich in
patriarchaliſchen Gruppen und in durch
Zuſammenſetzung aus patriachaliſchen Grup—
pen entſtandenen Geſellſchaften mit dem
Alter verknüpft, giebt noch einer verwandten,
aber etwas verſchiedenen Gruppe von Titeln
den Urſprung. Indem das Alter eine be—
ſtimmte Würde erhält, werden Wörter,
welche Bejahrtheit bezeichnen, zu Ehrennamen.
Die Anfänge hiervon laſſen ſich bereits
bei unciviliſirten Völkern erkennen: Schon
dadurch, daß die Verſammlungen ſich aus
den älteren Männern zuſammenſetzen, ent—
ſteht eine Verbindung zwiſchen dem an
jedem Orte gebräuchlichen Namen für einen
älteren Mann und dem mit größerer Ge—
walt und ſonach auch mit Ehre bekleideten
Amte. Indem wir uns mit dieſer ein—
fachen Bemerkung begnügen, wollen wir
die allmählige Entſtehung der von dieſer
Quelle entſpringenden Titel blos unter
den europäiſchen Völkern etwas näher ver—
folgen. Bei den Römern war Senator
oder Mitglied des Senatus, Wörter von
gleicher Abſtammung wie Senex, der
Name für ein Mitglied der Aelteſtenver—
ſammlung, und in den früheren Zeiten
vertraten dieſe Senatoren oder Aelteſten,
welche häufig auch patres genannt wur—
den, die einzelnen Stämme des Volkes:
Vater und Aelteſter galten ſomit als gleich—
werthige Benennungen. Von dem anderen
damit nächſt verwandten Worte senior
finden wir in den Tochterſprachen die Um—
biloungen Signor, Seigneur, Senhor,
welche zuerſt auf Anführer, Herrſcher oder
Lords Anwendung fanden, dann aber durch
weitere Ausbreitung zu Ehrennamen auch
Solcher von untergeordnetem Range wurden.
Daſſelbe Schickſal hat auch ealdor oder
aldor gehabt. „Dies Wort“, ſagt Max
Müller, „ſtammt gleich vielen anderen
Rangtiteln in den verſchiedenen teutoniſchen
Sprachen von einem Adjectivum ab, das
Alter bezeichnet;“ ſo daß alſo „Earl“ und
„Alderman“ beide von dieſer Wurzel abge—
leitete Bezeichnungen für eine Ehrenſtelle
ſind, die in beiden Fällen aus jener ſocialen
Ueberlegenheit entſprang, welche mit dem
Alter verknüpft war.
Ob der deutſche Titel Graf auch hier⸗
her gehört oder nicht, iſt noch ein ſtreitiger
Punkt. Wenn Max Müller Recht hat,
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
347
indem er die Einwürfe Grimm's gegen
die gewöhnliche Erklärung des Wortes für
ungerechtfertigt hält, ſo bedeutet daſſelbe
urſprünglich grau, d. h. alſo grauköpfig.
Auch der Name „König“ gehört zu
denjenigen, hinſichtlich deren Bildung die
Anſichten getheilt ſind. Nach allgemeiner
Uebereinſtimmung jedoch iſt ſeine weiteſt
zurückliegende Duelle. das Sanſfkritwort
ganaka und „im Sanſkrit bedeutet ga—
naka hervorbringen, Vater, dann König“.
Wenn dies die richtige Ableitung iſt, fo
haben wir alſo nur einen neuen Titel für
das Haupt der Familiengruppe, der pa—
triarchaliſchen Gruppe und des Haufens
von patriarchaliſchen Gruppen. Bemerkens—
werth iſt die Art und Weiſe, wie das
Wort Zuſammenſetzungen eingeht, um einen
höheren Titel zu bilden. Gerade wie im
Hebräiſchen Abram (d. i. „hoher Vater“)
ein zuſammengeſetztes Wort wurde, das
zur Bezeichnung der Vaterſchaft und der
Häuplingswürde über viele kleinere Gruppen
diente, und ebenſo wie die griechiſchen und
lateiniſchen Aequivalente für unſerer Wort
„Patriarch“ ihrer eigentlichen Bedeutung
nach, wenn auch nicht direkt, einen Vater
der Väter bezeichneten, ſo iſt es auch hin—
ſichtlich des Titels „König“ vielfach vor—
gekommen, daß ein als Herrſcher über
mehrere Potentaten anerkannter Gewalt—
haber in beſchreibender Weiſe „König der
Könige“ genannt worden iſt. In Abyifi-
nien iſt dieſer zuſammengeſetzte königliche
Name bis auf die Gegenwart herab in
Gebrauch; die altägyptiſchen Monarchen
legten ſich denſelben bei und auch in Aſſy—
rien kam er als höchſter Titel vor. Und
hier ſtoßen wir abermals auf einen Zu—
ſammenhang zwiſchen irdiſchen und himm—
| liſchen Titeln. Wie „Vater“ und „König“,
ſo wird auch „König der Könige“ gleicher—
„„
L
348
maßen auf den ſichtbaren und auf den un—
ſichtbaren Herrſcher angewendet.
Dieſes Streben nach Auszeichnung des
Herrſchers, welcher zum Oberhaupt mehrerer
Herrſcher geworden iſt, durch einen beſon—
deren oder zum bisherigen hinzugefügten
Namen veranlaßt die Einführung anderer
Ehrentitel. In Frankreich z. B. wurde der
König, ſo lange er nur der mächtigſte unter
den Lehnsherren war, mit dem Titel „Sire“
angeredet, welchen die adligen Lehensherren
im Allgemeinen trugen; nach der Mitte
des ſechzehnten Jahrhunderts aber, als
ſeine Uebermacht ſich vollſtändig befeſtigt
hatte, kam das Wort „Majeſtät“ als
ausſchließlich auf ihn anwendbarer Titel
in Gebrauch. Aehnliches gilt von den
Potentaten zweiten Ranges. Auf den frü—
heren Stufen der Feudalzeit wurden die
Titel „Baron“, „Marquis“, „Herzog“ und
„Graf“ (count) oft mit einander verwech—
ſelt; der einfache Grund dafür war der,
daß ihre Attribute als Feudalherren, als
Wächter über die Märſche, als Kriegs-
führer und als Freunde des Königs ſo—
weit ihnen allen gemeinſam zukamen, daß
kein beſonderer Grund zur Unterſcheidung
vorlag. Jemehr aber die Differenzirung
der Funktionen fortſchritt, deſto mehr diffe— |
rencirten ſich auch die Titel in ihren Be⸗
deutungen.
„Der Name „Barons“, jagt Chéruel,
„ſcheint der allgemeine Ausdruck für jede Art
von großem Herrn, «Herzogs für jede Art
von Kriegsanführern, «Graf» und „Mar—
quis für jeden Beherrſcher eines Territo- |
riums geweſen zu ſein. Dieſe Titel werden in |
den Romanzen der Ritterzeit beinahe ohne |
jeden Unterſchied für einander gebraucht.
Als aber die feudale Hierarchie ſich aus
gebildet hatte, bezeichnete der Name Baron
|
einen Herrn, der ſeinem Range nach niedri- belauſcht, jo kann man hören, wie Einer |
braucht wurden, um den Mächtigſten, dann
civiliſirte Völker der Vergangenheit und
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
ger ſtand als ein Graf und höher als ein
einfacher Ritter.“
Wie ſich aus den oben angeführten
Beiſpielen ergiebt, ſind die ſpeciellen Titel
ſo gut wie die allgemeinen nicht erfunden
worden, ſondern allmälig entſtanden —
ſie ſind zuerſt beſchreibender Art. Um
dieſen Urſprung näher zu erläutern und
zugleich ein Beiſpiel für den noch nicht
differencirten Gebrauch der Titel in frühes
ren Zeiten zu geben, ſeien hier die ver—
ſchiedenen Namen aufgeführt, mit denen in
der Zeit der Merovinger die Marſchälle
des königlichen Palaſtes belegt wurden. |
Es find dies major domus regiae, senior
domus, princeps domus und in anderen ,
Fällen praepositus, praefectus, rector,
gubernator, moderator, dux, custos,
Aus dieſer Lifte erſehen
wir zugleich, wie ſo manche fernere Ehren—
namen uns abermals auf Wörter zurück—
subregulus.
führen, deren urſprüngliche Formen die
Bedeutung von Alter mit ſich verbinden, s
und wie die an Stelle dieſer beſchreibenden {
Wörter gebrauchten Bezeichnungen ſelbſt
beſchreibende Namen von Funktionen ſind.
Vielleicht beſſer als in irgend einem an—
deren Falle läßt ſich bei Beſprechung der
Titel die Ausbreitung von ceremoniellen
Formen darthun, welche urſprünglich ge—
den Mindermächtigen und ſchließlich alle
Uebrigen zu verſöhnen.
Unciviliſirte und halbciviliſirte Völker,
der Gegenwart, alle liefern uns Beiſpiele
hierfür. Bei den Samoanern „iſt es
Brauch, wenn man die Höflichkeit der
gewöhnlichen Converſation beobachten will,
daß Alle einander Häuptlinge nennen.
Wenn man das Geſpräch kleiner Knaben
den Anderen mit Häuptling fo und fo
anredet“. In Siam reden die Kinder
eines Mannes, welche von einem ſeiner unter—
geordneten Weiber ſtammen, ihren Vater
mit „Mein Herr, der König“ an und
das Wort Nai, welches der Name für
Häuptling bei den Siameſen iſt, „hat die
Bedeutung eines Höflichkeitsausdruckes be—
kommen, den die Siameſen gegen einander
gebrauchen“. Ein ähnliches Reſultat finden
wir in China, wo die Söhne von ihrem
Vater als „Majeſtät der Familie“, „Fürſt
der Familie“ ſprechen; und China liefert
außerdem ein ferneres Beiſpiel, welches um
ſo bemerkenswerther iſt, weil es ſich auf
ein ganz beſonderes Verhältniß bezieht.
Hier nämlich, wo die Stellung der alten
Lehrer ſo hoch war, wo die Titel „Tze“
oder „Futze,“ was großer Lehrer bedeutet,
urſprünglich nur ihrem Namen, ſpäter aber
dem jedes ausgezeichneten Schriftſtellers an—
gehängt wurden und wo auf geiſtige Ueber—
legenheit begründete Klaſſenunterſchiede die
geſellſchaftliche Organiſation charakteriſiren,
iſt es doch ſoweit gekommen, daß dieſer
Ehrenname mit der Bedeutung „Lehrer“
heute einen ganz gewöhnlichen Höflich—
keitstitel bildet. Andere Zeugniſſe bietet
uns das alte Rom. Die Geiſtesrichtung,
welche zu der Ausbreitung der Titel führte,
hat Mommſen ſehr gut beleuchtet, wo
er ſchildert, wie in der Zeit des Verderb—
niſſes öffentliche Triumphe zuerkannt wur—
den, welche man urſprünglich nur einem der
höchſten Staatsmänner zu gewähren pflegte,
der die Macht des Staates in offener
Schlacht vergrößert hatte.
„Um mit den friedlichen Triumphatoren
ein Ende zu machen, wurde feſtgeſetzt, daß
die Zuerkennung eines Triumphes vom
Beibringen des Beweiſes einer regelmäßigen
Schlacht abhängen ſollte, welche zum Min—
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
|
|
349
deften fünf tauſend Feinden das Leben ge-
koſtet hätte; allein dieſer Beweis wurde
häufig durch falſche Siegesberichte um—
|
|
gangen . . . Früher hatte der Dank des
Gemeinweſens einfürallemal für einen dem
Staate geleiſteten Dienſt genügt; jetzt ſchien
| jede verdienſtliche Handlung eine dauernde
Auszeichnung zu fordern ... Es kam
allmälig die Sitte in Schwang, daß der
Sieger und ſeine Nachkommen von den
Siegen, welche ſie gewonnen hatten, einen
ſtändigen Beinamen erhielten . Dieſes
von den höheren Klaſſen gegebene Beiſpiel
wurde dann von den unteren Klaſſen
nachgeahmt.“
Und unter dem eben geſchilderten Ein—
fluß wurden dann „dominus“ und „rex“
ſchließlich zu Titeln, welche für den gemeinen
Mann galten. — Aber auch unter den
modernen europäiſchen Völkern fehlt es nicht
an Beiſpielen für dieſen Vorgang.
Die franzöſiſche Geſchichte läßt uns
vielleicht deutlicher als irgend eine andere
die einzelnen Stufen der allmäligen Ver-
breitung erkennen. Zunächſt ſei kurz da—
rauf hingewieſen, daß in früheren Zeiten
madame als Titel für eine adlige Frau,
mademoiselle dagegen für die Frau eines
Advocaten oder Arztes in Gebrauch war,
daß ſodann im ſechszehnten Jahrhundert,
als madame bis zu den verheiratheten
Frauen dieſer Mittelklaſſen herabgeſtiegen
war, mademoiselle von ihnen auf die
unverheiratheten Frauen überging. Etwas
eingehender wollen wir aber die männlichen
Titel „sire“, „seigneur“, „sieur“ und
„monsjeur“ betrachten. Indem wir von
„sire“ als dem alten Titel für adlige
Lehnsherrn ausgehen, finden wir in einer
Bemerkung von Montaigne angegeben,
daß das Wort im Jahre 1580, obwohl
in höherem Sinne noch auf den König
r......
350 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
anwendbar, doch in den alltäglichen Ge—
brauch herabgeſtiegen war und für zwiſchen-
liegende Grade nicht mehr verwendet wurde.
„Seigneur“, was ſpäter als Lehnsherrn—
titel in Uebung kam, als „Sire“ bereits
ſeine Bedeutung durch allmälige Ausbreit—
ung zu verlieren begann, und was eine
Zeitlang neben dem letzteren Worte und
ſtatt deſſelben gebraucht wurde, erfuhr im
Laufe der Zeiten eine Zuſammenziehung
welche die Folge eines Sieges über einen
thieriſchen oder menſchlichen Feind iſt und
den Betreffenden buchſtäblich oder bildlich
durch ſeine That auszeichnet, entſpringt
ohne Frage aus kriegeriſchen Verhältniſſen.
Und wenn auch die allgemeineren Namen
„Vater“, „König“, „Herr“, „Aelteſter“ und
ihre Ableitungen, welche ſpäter entſtehen,
nicht direkt auf kriegeriſche Zuſtände Bezug
in „sieur“. Nach und nach fing aber auch
„sieur“ an, ſich auf Solche von niedri—
gerem Rang auszudehnen. Später kam
dann, um einen beſtimmten Unterſchied
durch eine verſtärkende Vorſilbe wiederher- |
zuſtellen, „monsieur in Aufnahme, ein
Wort, das in der Anwendung auf große
Herren im Jahre 1321 noch neu war und
dann auch als Titel der Söhne von Köni-
Zu der Zeit
aber, wo auch „monsjeur“ zum allgemeinen |
Titel unter den oberen Klaſſen geworden
gen und Herzögen galt.
war, hatte „sieur“ ſich zu einem bürgerlichen
Titel ausgebildet. Und ſeit dieſer Zeit
ſind im weiteren Verlauf deſſelben Proceſſes
das alte sire und das ſpätere sieur aus
geſtorben, um dem ganz allgemein verbrei-
Es er⸗
teten monsieur Platz zu machen.
giebt ſich alſo, daß drei Diffuſionswellen
auf einander gefolgt ſind: sire, sieur und
monsieur haben ſich nach einander nach
unten verbreitet.
Wie in Folge dieſes Vorganges die
höchſten Titel ſchließlich bis in die aller—
unterſten Schichten vordringen können, erken—
nen wir in überraſchendſter Weiſe in Spa—
nien, wo „ſogar Bettler einander als Senor
von einer neuen Seite her.
und fügt dann hinzu:
y Caballero, Herr und Ritter anreden“.
Um der Gleichförmigkeit der Darſtell—
ung willen, ſei noch darauf hingewieſen, daß ſich
hier dieſelbe Folgerung ergiebt wie früher.
Die Ertheilung von Titeln bei den Wilden,
haben, ſo doch indirekt; denn es ſind die
Namen von durch kriegeriſche Thätigkeit
in den Beſitz ihrer Macht gelangten Herr—
ſchern, welche der Regel nach zugleich krie—
geriſche Funktionen ausüben: auf früheren
Stufen ſind ſie ja ſtets die Anführer ihrer
Unterthanen in der Schlacht. Aber auch
bis zu unſeren allerbekannteſten Titeln
herab erſtrecken ſich noch die Spuren dieſer
Entſtehung. „Esquire“ und „Mister“
leiten ſich das eine vom Namen des Knappen
eines Ritters, das andere von dem Namen
magister ab, welcher urſprünglich einen
Herrſcher oder Häuptling bezeichnete, der
ſeiner Entſtehung nach ein kriegeriſches
Oberhaupt und durch weitere Ausbildung
ein bürgerliches Oberhaupt war.
Wie in früheren Fällen enthüllt uns
auch hier eine Vergleichung von Geſell—
ſchaften verſchiedener Typen dies Verhältniß
Burton
macht die Bemerkung, daß man in dem
blutdürſtigen und despotiſchen Dahome
„kaum vom Vorhandenſein von Perſonen—
namen ſprechen könne, indem dieſelben mit
dem Range ihrer Träger beſtändig wechſeln“,
„Die verſchiedenen
Würden ſcheinen endlos an Zahl zu ſein;
von den Sclaven und niederſten Volks—
ſchichten abgeſehen find ſolche «Stiele» am
Namen die Regel, nicht die Ausnahme,
und die meiſten von ihnen ſind erblich.“
So verhält es ſich auch unter den orienta—
9
liſchen Despotien. „Der Name eines jeden
Birmanen, ſagt Pule, verſchwindet, ſobald
er einen Ranges-, oder Amtstitel erhält,
und wird von da an nicht mehr gebraucht“,
und in China „giebt es zwölf Stufen des
Adels, welche ausſchließlich den Mitgliedern
des kaiſerlichen Hauſes oder Clans zugäng—
lich ſind“, abgeſehen von den „fünf alten
Stufen des Adels“. Auch in Europa
findet ſich Aehuliches. Reiſende in Rußland
ſowohl wie in Deutſchland, beides Länder,
deren geſellſchaftliche Organiſation den Zwecken
des Krieges untergeordnet iſt, ſprechen von
der „unſinnigen Sucht nach Titeln jeglicher
Art“. Die Folge davon iſt dann auch,
daß in Rußland „ein Schreiber eines
Polizeibureaus zum achtzehnten Grade ge—
hört und Anſpruch auf den Titel Euer
Ehrwürden hat“, während in Deutſchland
die Berückſichtigung der in ſo übermäßiger
Anzahl verbreiteten Ranges- und Amts⸗
namen im mündlichen wie im ſchriftlichen
Verkehr in der Regel erwartet und mit ängſt—
licher Sorgfalt beobachtet wird. England
dagegen, das im Typus ſeines geſellſchaft—
lichen Aufbaues ſeit vielen Menſchenaltern
weit weniger kriegeriſch war, hat dieſen
Charakterzug ſtets in minder ausgeprägtem
Grade gezeigt, und nachdem in neueſter
Zeit der Induſtrialismus ſo bedeutend ge—
wachſen iſt und in Zuſammenhang damit
mancherlei Veränderungen der Organiſation
eingetreten ſind, hat der Gebrauch von
Titeln im geſellſchaftlichen Verkehr außer—
ordentlich abgenommen.
Mit gleicher Deutlichkeit iſt dieſes Wech-
ſelverhältniß innerhalb jeder einzelnen Geſell-
ſchaft nachzuweiſen. Ehrennamen kommen
den Mitgliedern jener regulativen Organi—
ſation zu, welche der kriegeriſche Zuſtand
hervorgerufen hat. Die dreizehn Grade
Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells.
|
351
in unſerer Armee und die vierzehn Grade
in unſerer Marine zeigen von ſelbſt, daß
ſich die ausſchließlich militäriſchen Beſtand—
theile der Geſellſchaft immer noch im höch—
ſten Grade durch zahlreiche und ſpecielle
Titularzeichen charakteriſiren. Den herr—
ſchenden Klaſſen, den Abkömmlingen oder
Repräſentanten Derjenigen, welche in frühe⸗
ren Zeiten die Anführer der Streitkräfte
waren, kommen noch heute die höheren
Rangesauszeichnungen faſt ausſchließlich zu,
und was die noch übrigbleibenden höheren
Titel betrifft, ſo ſtehen die auf Kirchen—
und Rechtsverhältniſſe bezüglichen gleichfalls
mit der regulativen Organiſation im Zu—
ſammenhang. Die producirenden und aus—
tauſchenden Theile der Geſellſchaft anderer—
ſeits, welche induſtriellen Thätigkeiten ob—
liegen, tragen nur in Ausnahmefällen noch
irgend einen Titel außer denjenigen, welche,
indem ſie immer weiter herabſtiegen und
ſich verbreiteten, ihre Bedeutung faſt ganz
verloren haben.
Es iſt ſomit unleugbar, daß die Titel,
urſprünglich nur dazu beſtimmt, den Triumph
des Wilden über ſeine Feinde in Erinner—
ung zu bringen, ſich fortwährend ausge—
breitet, vermehrt und differencirt haben, je
größere Geſellſchaften durch Beſiegung und
einmalige oder mehrfach wiederholte Ver—
ſchmelzung kleinerer Geſellſchaften entſtanden
ſind, und daß ſie, eben weil ſie jenem Typus
des geſellſchaftlichen Aufbaues angehören,
welcher durch gewohnheitsmäßige Kriege
erzeugt wird, auch das Beſtreben zeigen,
in demſelben Maße an Bedeutung, an Ge—
brauch und an Werth zu verlieren, als
dieſe Form des Aufbaues durch eine andere
für die Zwecke des Friedens beſſer geeig—
nete mehr und mehr verdrängt wird.
Aleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Das Wiederaufleuchten der Sterne.
aum irgend eine Erſcheinung am
J Firſternhimmel bringt auf den tiefer
e Aſtronomen nachhaltigere
Eindrücke hervor, als die Erſcheinung
ſogenannter „neuer Sterne“. In früheren
Zeiten hat man dabei wohl geglaubt, einem
Schöpfungsakte beizuwohnen, indeſſen hat
man ſich in jedem Falle bald überzeugen
müſſen, daß es ſich dabei ſtets nur um ein
kurzes Aufleuchten halb erloſchener Sterne
handelt, daß ihr die Sterne erſter Größe
zuweilen überſtrahlender Glanz ſchnell wieder
abnimmt, ſo daß ſie nach Verlauf weniger
Wochen oder Monate wieder ihre frühere
matte Helligkeit erreicht haben und dem
unbewaffneten. Auge vielleicht völlig ent—
ſchwunden ſind. Dieſe kurze Dauer ihres
Glanzes macht ſie indeſſen womöglich dem
Naturforſcher noch merkwürdiger, und ſchon
Newton glaubte an ihre Erſcheinung die
Idee von Weltkataſtrophen knüpfen zu
dürfen: Zuſammenprallen halberloſchener
Weltkörper, die durch den Stoß für kurze
Zeit von Neuem entflammt werden. Seit
der Entdeckung der ſpectroſkopiſchen Methode,
welche geeignet iſt, uns über die Natur
ſolcher Erſcheinungen näheren Aufſchluß zu
|
|
1
gewähren, haben ſich bereits zweimal auf-
leuchtende Sterne der Beobachtung dar—
geboten, nämlich im Jahre 1866, als in
der nördlichen Krone ein hellleuchtender
Stern aufflammte, und im November 1876,
wo im Schwan ein, wenn auch weniger
heller Stern, aufflammte, deſſen Helligkeits—
Rückgang durch einen großen Theil des
vorigen Jahres verfolgt werden konnte.
Das Spektrum der neuaufleuchtenden
Sterne zeichnet ſich, wie Huggins und
Miller ſchon 1866 fanden und wie es
im vorigen Jahre wieder beſtätigt werden
konnte, vor demjenigen der gleichmäßig
leuchtenden Fixſterne, die ein continuirliches
Spektrum mit dunklen Linien, wie die
Sonnenſcheibe, darbieten, durch das Hervor—
treten heller Linien aus, unter denen beide—
male die Waſſerſtofflinien einen beſonderen
Glanz entfalteten. Da etwas ähnliches in
den Fackeln und Protuberanzen der Sonne
ſtattfindet, jo gründete Zöllner auf dieſes,
Verhalten die Hypotheſe, daß es ſich bei
dem Aufleuchten wahrſcheinlich um eine Art
vulkaniſcher Eruptionen oder allgemeiner
um Durchbrüche einer dünnen Erſtarrungs—
rinde handele. Die genauere Beobach—
tung des zuerſt im November 1876 von
Schmidt in Athen endeckten „neuen“ Sterns
im Schwan hat O. Lohſe in Berlin zu
22ͤĩ7k⁊ĩ˙èĩͤ ĩð - ̃ 1
gänzlich verſchiedenen Vermuthungen Anlaß
gegeben, die er in dem unlängſt erſchienenen
Dezemberheft der Monatsſchriften der Ber—
liner Akademie vom Jahre 1877 nieder-
gelegt hat. Als der Stern im Dezember
1876 noch ſeine größte Helligkeit beſaß,
waren nicht nur die Farben des kontinuir—
lichen Spectrums lebhaft, ſondern eine Reihe
heller Streifen erſchienen neben
Banden. Wie aber die Farbenintenſität
des kontinuirlichen Spektrums langſam von
Januar bis März 1877 dahinſchwand, jo
zogen ſich die hellen Streifen zu Linien
zuſammen; der vorher hellſte Streifen im
Roth, der mit mehreren andern dem glühen—
den Waſſerſtoff angehört, ging an Helligkeit
am meiſten zurück, während eine Lichtlinie
im blaugrünen Theile des Spektrums,
welche ſich mit der Luftlinie identificiren
ließ, am längſten hell blieb, ſo daß ſie
ſogar noch im Spätherbſt 1877 hervortrat.
Auf dieſe Beobachtungen fußend, hat O.
Lohſe eine neue Hypotheſe über die Ur—
ſachen der ſich plötzlich erneuernden Gluth
in halberloſchenen Sternen aufgeſtellt, die
vor der Kataſtrophen- und Eruptions-Theo⸗
rie unleugbare Vorzüge beſitzt.
Die Gluth eines Sternes, folgert er
ungefähr, wird ſich von dem Zeitpunkte an,
in welchem ſie ihren Gipfelpunkt erreicht
hat, ſchrittweiſe vermindern, und in dem—
ſelben Verhältniſſe wird auch die Leuchtkraft
nachlaſſen, ſo daß ſchließlich nach Verlauf
einer genügend langen Zeit die Abkühlung
auf einem Punkte ankommt, wo der Stern
uns nur noch ſchwach ſichtbar oder gänz—
lich verſchwunden iſt. Für ein ſolches Ver—
ſchwinden (der ſpäter neu aufleuchtenden
Sterne) dürfte es keineswegs nothwendig
ſein, mit Zöllner u. A. anzunehmen,
daß ſie bereits mit einer aus feſten chemi—
ſchen Verbindungen gebildeten dichten Kruſte
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
verſehen ſeien, welche die glühende Maſſe
unſern Blicken verhüllt, ſondern es dürfte
in Anbetracht der ungeheueren Entfernungen
hinreichen, ſich den Stern mit einer ſtark
das Licht verſchluckenden, aus abgekühlteren
Dämpfen beſtehenden Atmoſphäre umgeben,
vorzuſtellen.
Unter Vorausſetzung einer
Abkühlung, die nur dieſe Stufe erreicht hat,
dunklen
erſcheint es weit eher möglich, ein noch—
maliges Wiederaufleuchten zu erklären, ſofern
es ſich dabei um Lichtintenſitäten handelt,
die wegen ihrer weiten Sichtbarkeit mit
denjenigen irgend einer vulkaniſchen Eruption
nicht verglichen werden können. Solche von
einer dichten Dampfhülle verſchleierte Erup—
tionen würden nicht aus den in Betracht
kommenden Entfernungen geſehen werden
können, und in der That bietet ſich hier
eine beſſere Erklärung.
Die neueren Beobachtungen der Fix—
ſterne, insbeſondere der Sonne, haben er—
geben, daß die elementaren Stoffe auf dieſen
Weltkörpern im Zuſtande der Diſſociation
verharren und zwar in Folge der vor—
handenen hohen Temperatur. Die Wärme
trennt, wenn ſie einen beſtimmten Grad er—
reicht, alle jene Aſſociationen von Stoffen,
die wir als chemiſche Verbindungen bezeich—
nen. Erſt wenn die Maſſe eines Fixſterns
eine gewiſſe Abkühlungsſtufe erreicht hat,
wird die Vereinigung der Stoffe zu
chemiſchen Verbindungen eintreten können,
und dieſe vermögen wir uns nur als einen
Verbrennungsprozeß mit ſtarker Licht- und
Wärme⸗Entbindung zu denken. Es wird
ſtatthaft erſcheinen, ſolche auf dem Wege
der kosmiſchen Entwicklung unausbleiblichen
Reaktionen in erſter Reihe für die Urſachen
der zeitweiligen Helligkeitszunahme faſt ent—
ſchwundener Sterne anzuſehen. Auch er⸗
klären dieſelben ſehr gut manche Eigenthüm—
lichkeiten dieſer Phänomene. So liegt es
— — —. ͤ ————
Kosmos, Band III. Heft 4.
| 354 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
nun in der Natur ſolcher chemiſchen Vor-
gänge, daß ſie plötzlich eintreten, faſt
momentan ein Maximum der Wirkung er—
reichen, worauf ein allmäliger Rückgang
eintritt. Genau daſſelbe beobachten wir
beim Aufleuchten eines Sternes. Derſelbe
wird plötzlich fihtbar und das Maximum
ſeines Glanzes liegt ſtets am Anfange der
Erſcheinung, von wo ab eine allmälige
Abnahme beginnt.
Ohne Zweifel werden ſich ſolche Vor—
gänge bei jedem Sterne mehrmals wieder—
holen müſſen, da es bekanntlich chemiſche
Verbindungen giebt, die bei ziemlich hohen
Temparaturen beſtehen können, während
andere, wie z. B. grade das Verbrennungs—
produkt des Waſſerſtoffs, erſt bei niedri—
geren Temperaturen, und nicht in Gegen—
wart glühender Metalle beſtehen können.
Die erſten derartigen Prozeſſe würden ſich
uns, kleinere Bruchtheile der Geſtirnmaſſen
betreffend, wahrſcheinlich nur in geringen
Glanzerhöhungen kund thun, und die von
ihnen gebildeten Dämpfe werden das end—
liche Verblaſſen und Verſchwinden der be—
treffenden Sterne beſchleunigen, indem ſie
den Durchgang des Lichtes aufhalten, bis
dann ſpäter, wenn die Temperatur ſoweit
geſunken iſt, daß die Vereinigung derjenigen
Stoffe erfolgen kann, die einen beträcht—
lichen Bruchtheil des Weltkörpers ausmachen
und eine bedeutende Verbrennungswärme
entwickeln, ein plötzliches Auflodern des
Sterns erfolgt.
Was nun die einzelnen ſpektroſkopiſch
ermittelten Erſcheinungen bei dem Aufleuch—
ten der Sterne betrifft, ſo muß man zu—
nächſt das Auftreten der hellen Waſſerſtoff—
linien, nach Analogie ihrer Erſcheinung über
den dunklen Kernen der Sonnenflecken, auf
ein Erglühen bedeutender Waſſerſtoffmaſſen
außerhalb jener dunkleren Dampfhülle,
die das mehr oder weniger vollkommene
Verſchwinden des Sternes bewirkte, deuten.
Dieſe hellen Linien waren bei dem neuen
Schmidt'ſchen Sterne ſowohl am Anfange
des Erſcheinens als ſelbſt dann noch zu
ſehen, als die Helligkeit bereits bis zur
neunten Rangſtufe abgenommen hatte. Da—
raus wäre zu folgern, daß, wenn die Licht—
entwicklung von der Vereinigung von Waſſer—
ſtoff mit Sauerſtoff herrührte, der Wafler-
ſtoff im Ueberſchuß vorhanden ſein mußte,
damit dieſer Ueberſchuß durch die Ver—
brennungswärme in lebhafte Gluth verſetzt
werden konnte, denn verbrennender
Waſſerſtoff giebt an ſich nur ein konti—
nuirliches Spektrum. Indeſſen kann die
beobachtete Lichterſcheinung auch von der
Verbrennung anderer elementarer Stoffe,
namentlich der Metalle abgeleitet werden;
in dieſem Falle würde die Vereinigung von
Waſſerſtoff und Sauerſtoff unmöglich ſein,
da glühende Metalldämpfe die Bildung von
Waſſer verhindern. Der auf dieſe Weiſe
iſolirte Waſſerſtoff würde bei hinreichender
Erhitzung das Linienſpektrum geben., Die
von ihm bei dem Schmidt'ſchen Sterne
beobachtete auffallende Breite der Waſſer—
ſtofflinien, die ſich ſehr bald verringerte,
hält O. Lohſe für ein ziemlich ſicheres
Anzeichen dafür, daß dem Aufleuchten eine
Exploſion zu Grunde lag, welche durch die er—
zeugte Hitze eine andauernde Verdünnung der
vorhandenen Gasmaſſen bewirkte. Das würde
ebenſo vollkommen mit den beobachteten Er—
ſcheinungen als mit der erklärenden Hypo—
theſe im Einklang ſtehen. Die bei neuen
Sternen beobachteteten auffälligen Schwan—
kungen in der Helligkeit könnten vielleicht
durch ein allmäliges Umſichgreifen der
chemiſchen Wirkung erklärt werden. Es
wird bei einer derartigen Exploſion in großem
Maßſtabe nicht die ganze verbindungsfähige
\
FU
Ar
nr
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Maſſe mit einem Schlage ſich vereinigen,
ſondern die Einwirkung wird an einer be—
ſtimmten Stelle beginnen, ſich allerdings
raſch ausbreiten, in Folge der erzeugten
hohen Temperatur aber mächtige Bewegungen
in der Atmoſphäre des Weltkörpers hervor—
rufen, welche die Stoffe durch Wegſchleu—
derung an einer ſofortigen allgemeinen Ver—
einigung verhindern. Andererſeits werden
auch durch die Erhitzung locale Diſſociations—
Prozeſſe von Neuem hervorgerufen werden,
wodurch die lodernde Gluthmaſſe ſtarke
Helligkeitsſchwankungen erkennen laſſen muß,
wie dies thatſächlich der Fall war. Gegen
den Schluß ſeiner Abhandlung faßt der
Verfaſſer ſeine Hypotheſe in folgende Sätze
zuſammen: ö
„Durch die fortſchreitende Abkühlung
der aus glühenden Dämpfen und Gaſen
beſtehenden Maſſe eines ſelbſtleuchtenden
Weltkörpers (Fixſtern's) wird ſchließlich eine
atmoſphäriſche Hülle erzeugt, die das Licht
in ſo ſtarkem Grade abſorbirt, daß der
Stern von der Erde aus nicht mehr oder
doch nur ſchwach geſehen werden kann.
Wenn dann durch weitere Wärmeausſtrahl⸗
ung der Grad der Abkühlung erreicht wird,
welcher für Bildung derjenigen chemiſchen
Verbindungen erforderlich iſt, die einen
weſentlichen Theil des Ganzen bilden, jo
wird bei Vereinigung der betreffenden Ele—
mentarſtoffe eine bedeutende Wärme- und
Lichtentwicklung ſtattfinden, welche den Stern
plötzlich auf große Entfernungen hin für
längere oder kürzere Zeit wieder ſichtbar macht.“
Die Parthenogeneſis im Pflanzen-
reiche.
Unter den niederen Thieren iſt die
ſogenannte Jungferngeburt bekanntlich eine
ziemlich häufige Erſcheinung, doch tritt fie,
in der Regel nur alternirend mit geſchlecht—
licher Erzeugung auf, wodurch ihr philoſo—
phiſches Intereſſe komplicirt wird. Im
Pflanzenreiche iſt dieſe alternirende Jungfern⸗
geburt eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung
und nur das Auftreten einer ausſchließ⸗
lichen Fortpflanzung durch Parthenogeneſis
konnte bei den Botanikern ein lebhafteres
Intereſſe erwecken. Eine ganze Reihe
diöciſcher Pflanzen, die nur in weiblichen
Exemplaren verbreitet ſind, hat man ge—
legentlich Früchte reifen ſehen. Als regel—
mäßige Erſcheinung iſt die Parthenogeneſis
insbeſondere bei einer neuholländiſchen Eu—
phorbiacee, Caelebogyne ilieifolia Smith,
die in ihrem Vaterlande einen Beſtandtheil
des ſogenannten Scrub bildet, beobachtet
und ſtudirt worden. Dieſe diöciſche Pflanze,
welche im äußeren Anſehen unſerer Stech—
palme (Ilex acuifolium seu aquifolium) nicht
unähnlich iſt, wurde 1829 in einem weib-
lichen Exemplare von Allan Cummingham
nach Kew geſandt und hat ſeitdem in den
meiſten botaniſchen Gärten Aufnahme
gefunden. John Smith beobachtete
bereits 1841 ihre Befähigung, in ihrem
durch Trennung von den männlichen
Exemplaren veranlaßten unfreiwilligen Witt-
wenſtande ohne Begattung entwickelungs⸗
fähige Nachkommen zu erzeugen.
Man erging ſich in den verſchiedenſten
Vermuthungen, um dieſe abnorme Erſchein—
ung zu erklären. Zuerſt argwöhnte man,
die Pflanze möchte kleine unſcheinbare Pol-
lenmaſſen, die ſehr leicht zu überſehen wären,
erzeugen, oder ſich mit dem Pollen anderer
Euphorbiaceen behelfen, ja es wurde ſogar
die dem maſſenhaften Samenreifen der
Pflanze gegenüber lächerliche Hypotheſe auf—
geſtellt, der Wind könne aus Neuholland
Pollenkörner nach Europa führen, um die
356
Befruchtung zu ermöglichen! Kleine Saft—
drüſen der Blüthen machen es wahrſchein—
lich, daß die Pflanze in ihrer Heimath
auf Inſektenbefruchtung angewieſen iſt, aber
es hat nicht an Hypotheſenſchmieden ge—
fehlt, die dieſe Saftdrüſen verdächtigt haben,
eine Art flüſſigen Spermas zu erzeugen,
um die Blumen zu befruchten. Schon J.
Smith wies darauf hin, daß eine Be—
fruchtung durch fremden Pollen ſchon durch
den Umſtand unwahrſcheinlich gemacht werde,
daß die Narben mit ihren breiten Lappen
noch während des Anſchwellens der reifen—
den Frucht ſich friſch und ſaftig erhalten
und nicht denjenigen Veränderungen unter—
liegen, welche bei anderen Pflanzen gleich
nach der Befruchtung eintreten.
Profeſſor A. Braun in Berlin nahm
in den Jahren 1856— 60 eine Reihe der
ſorgfältigſten Unterſuchungen an den im
Berliner Univerſitätsgarten befindlichen Exem—
plaren der Pflanze vor und veröffentlichte
die Ergebniſſe derſelben in den Denkſchriften
der Berliner Akademie und in einem be—
ſonderen Werke“). Er konnte die Smith'—
ſchen Beobachtungen durchgängig beſtätigen
und wies auch an anderen Pflanzen analoge
Erſcheinungen nach, wie z. B. an der meiſt
nur in weiblichen Exemplaren beobachteten
Chara erinita, am weiblichen Hanf u. A.,
wobei er ebenfalls fand, daß an allen dieſen
unbefruchtet Samen bringenden Pflanzen
die Narben ſich auffallend lange friſch er—
hielten. Dieſe Beobachtungen konnte man
nicht länger anzweifeln, aber man neigte
jetzt dazu, die in den europäiſchen Gärten
erzeugten Keimlinge der Caelebogyne zu
verdächtigen, daß ſie keine echten Keimlinge
ſeien, ſondern nur Sproßknoſpen, die |
) Parthenogeneſis, Keimung und Po—
lyembryonie von Caelebogyne. Berlin, Dümm—
ler 1860.
Oualität, als die Eizelle fie an ſich hat,
angekommen iſt.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. |
ausnahmsweiſe aus unbefruchteten Ovarien,
wie ſonſt aus Sproßgebilden, erwüchſen.
Dieſe Zweifel ſowohl, wie das große
biologiſche Jutereſſe der Erſcheinung über—
haupt, veranlaßte Profeſſor A. Braun,
den jetzigen Profeſſor Joh. Hanſtein in
Bonn zu erneueten ſorgfältigſten Beob—
achtungen dieſer Pflanze in Gemeinſchaft
mit ihm anzuregen, die denn auch über eine
ganze Vegetationsperiode ausgedehnt wurden.
Nach dem Tode des Altmeiſters der mor—
phologiſchen Botanik, hat nun Profeſſor
Hanſtein über dieſe Beobachtungen allein
Bericht erſtattet,“) wobei er darauf hin—
weiſt, daß ſich auch in Braun's Nachlaß
noch werthvolle Aufzeichnungen über ver—
wandte Fälle finden dürften. Da dieſe
neue Verſuchsreihe wiederum nur die
Thatſache feſtgeſtellt hat, daß Caelebogyne
ohne eine wirkliche Intervention männlicher
Elemente keimfähige Samen erzeugt, ſo
übergehen wie das Detail der Unterſuchung
und verweilen nur bei den am Schluſſe
der Arbeit gezogenen allgemeinen Folger—
ungen aus dieſen Thatſachen, die uns
intereſſant genug erſcheinen, um wörtlich
mitgetheilt zu werden.
„Die Sache liegt einfach ſo, ſagt
Hanſtein, daß freilich zwar die ganze
höhere Pflanzen- und Thierwelt ſeit Taufen-
den von Generationen die Sitte vererbt
hat, ihre Eizell-Aulagen mit einem künſt—
lichen Empfängnißapparat zu umgeben und
darauf mit deren Ausbildung zum keim—
fähigen Ei zu warten, bis eine Spende
an Stoff und Kräfte-Zuthat von anderer
Allein als Nothwen—
digkeit erſcheint dieſe Zugabe nun nicht
) Botanifche Abhandlungen aus dem
Gebiete der Morphologie und Phyſiologie
Heft III.
Band III. Bonn 1877.
Be
| Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
mehr. Und läßt auch die Gewohnheit in
der weitaus überwiegenden Mehrzahl der
Fälle die Eianlagen, wenn ſie vergeblich
warten, lieber umkommen, als zur
Selbſthilfe ſchreiten, ſo iſt dies eben nicht
nöthig, und folgt aus keinem obligato—
riſchen Naturgeſetze. Das abgetrennte Blatt,
das Wurzelſtückchen u. ſ. w. entſchließen
ſich in der Noth und Verlaſſenheit in vielen
ungünſtigen Fällen, durch energiſchen Auf—
ſchwung ihrer Geſtaltſamkeit eine Stamm—
knospe zu erzeugen — was doch keine ge—
wohnte Arbeit für ſie iſt, — während
dies in ſehr viel mehr Fällen unterbleibt.
Ganz ebenſogut kann, während das Ab—
warten des Zeugungsvollzuges und das
Mißlingen der Eibildung bei deſſen Unter—
bleiben in der Mehrzahl der Fälle gilt,
in einer Minderzahl durch eigene Trieb
kraft im Eierſtock allein aus dem immerhin
beſchränkten Vorrath von ſtofflichem und
dynamiſchem Beſitzthum, wenn die vervoll—
ſtändigende Wirkung ausbleibt, die ſelbſt—
kraftige Anlage und Ausbildung von Keimen
neuer Weſen unternommen werden. Dieſes
iſt durchaus nicht als eine höhere plaſtiſche
Leiſtung anzuſehen, als jenes. Wenn bei
den völlig parthenogenetiſchen Akten, durch
welche die ſogenannte Ammen-Zeugung
der Würmer u. ſ. w., die Brutſporen der
Farne, die Schwärmſporen der Algen
u. ſ. w. zu Stande kommen, das Zuſam—
menfügen verſchiedener Zeugungsqualitäten
unterlaſſen wird (nach jener Anſicht alſo
das Auseinandertreten entgegengeſetzter Prin—
cipien unterbleibt), ſo geſchieht dies hierbei
von den betreffenden Pflanzen gewohn—
heitsgemäß und nach der bei ihnen
herrſchenden Wirthſchaftsregel. Hier
in den Ausnahmefällen geſchieht es gegen
die Regel, gegen die angeborene Gewohn—
heit, aber es geſchieht auch nichts Anderes
357
und nichts Schlimmeres, mithin nichts
plaſtiſch Schwierigeres oder principiell Un-
erhörtes und Wunderbares. Nichts
geſchieht vielmehr, als daß die Pflanze im
Nothſtande ſich, ſo zu ſagen, auf die
ihr angeſtammte Befähigung beſinnt und
nach derſelben thatkräftig zurückgreift. Daß
nun übrigens ihre parthenogenetiſchen Zeug—
linge, ob fie gleich morphologiſch echte
Keimlinge ſind, doch biologiſch den
beidelterlich erzeugten Keimen nicht äqui—
valent ſein können, liegt nach dem Vor—
ſtehenden auf der Hand. Sie kopiren zu—
nächſt die Eigenſchaften des Mutter-Indivi⸗
duums. So ſind alle bisher bei uns
aufgewachſenen Caelebogyne-Stämme, ſo—
viel deren erkennbar geworden, weibliche
Exemplare. Bei Hanf und Hopfen wird
indeſſen ſchon weniger ſtreng verfahren und
die vermuthlich jungfräulich erzeugten Keim⸗
linge waren zum Theil Männchen. Im
Ganzen iſt dem parthenogenetiſchen Neuweſen
neben dem morphologiſchen Werth der
Keimlinge nur der biologiſche von Brut—
ſproſſen beizulegen. Daſſelbe gilt natürlich
von den einzelligen Brut- und Schwärm—
ſporen der Kryptogamen, welche gleichfalls
morphologiſch Keime, biologiſch betrachtet
aber nur den Brutknoſpen gleichwerthig ſind.“
Ref. will zum Schluſſe nur noch da—
rauf hinweiſen, wie ſehr die erwähnte regel—
mäßige Weiblichkeit aller Nachkommen der
Caelebogyne feine früher in dieſen Blättern
ausgeſprochene Meinung beſtätigt, daß der
regelmäßige Hermaphroditismus der jungen
Keimanlagen, und mancher erwachſenen Thiere,
nur ein Produkt der geſchlechtlichen Vermiſch—
ung iſt. K.
358 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. *
Die Kometenform der Seeſterne
und der Generationswechſel der
Echinodermen.
Bei den Seeſternen findet eine eigen—
thümliche Form der Reproduktion ſtatt, welche
darin beſteht, daß ein abgelöſter Arm den
geſammten Körper, d. h. die centrale Scheibe
ſammt den übrigen Armen neu bildet, wo—
raus dann die Form eines kleineren Sternes
mit einem einzelnen längeren Strahl, alſo
eines Schwanzſterns oder Kometen hervorgeht.
Ueber dieſe Reproduktionsform, welche ſehr
verſchieden iſt von den gewöhnlich vorkom—
menden, bei denen ſich entweder nur einzelne
abgebrochene Strahlen neu erzeugen oder
der Seeſtern ſich in zwei Hälften theilt, die ſich
zu zwei neuen Ganzen ergänzen, hat Prof.
Haeckel neuerdings einige Mittheilungen
gemacht,) die nach mehreren Richtungen
ſehr lehrreich ſind. Denn es iſt offenbar,
daß es ſich hierbei nicht um eine bloße
Regeneration handelt, wie diejenige,
durch welche die Eidechſe den verlornen
Schwanz oder der Krebs eine Scheere nach—
bildet, denn hier erzeugt ſcheinbar die Ex—
tremität das ganze Thier, was in keinem
andern Falle beobachtet worden und
auch hier, wie wir ſehen werden, wahrſchein—
lich ganz anders zu deuten iſt.
Schon den Alten ſcheinen dieſe leben—
digen abgelöſten Seeſtern-Arme aufgefallen
zu ſein, denn auf ſie bezieht ſich augen—
ſcheinlich die von Aelian und Oppian
mitgetheilte Sage, daß die Stücke eines
Seeigels, einzeln ins Meer geworfen, darin
fortlebten, einander aufſuchten und neu zu—
ſammenwüchſen; man hat hier die oft ſehr
ſtachligen Seeſterne mit den Seeigeln zu—
ſammengeworfen. Was nun die neueren
f Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie.
5 XXX. Suppl. 1878. S. 424— 445. Nebſt Tafel.
Beobachtungen betrifft, ſo fand Prof. Mar—
tens 1866, daß ein abgelöſter Arm von
Ophidiaster multiforis eine Scheibe und
neue Arme entwickelte und daſſelbe be—
obachtete Kowalewsky bei einem andern
Seeſtern des rothen Meeres (O. Ehren-
bergii). Bald darauf überzeugte ſich Oſſian
Sars durch direkte Verſuche, daß bei beiden
Arten der merkwürdigen Brisinga (ſ. Kos—
mos B. J. S. 365) die einzelnen von der
Scheibe gelöſten Arme fortlebten und ihre
gewöhnlichen Lebensfunktionen forterfüllten,
ſogar lange nachdem die Miittelſcheibe
ſelbſt zu leben aufgehört hatte. Da
dies bei einem Tiefſee-Thier unter den ſtark
verminderten Druckverhältniſſen der Ober—
welt um ſo erſtaunlicher war, ſo vermuthete
Sars mit gutem Grunde, daß unter
normalen Verhältniſſen wahrſcheinlich eine
freiwillige Ablöſung der Arme und Neu—
ergänzung zu vollſtändigen Thieren, alſo
eine Vermehrung durch divisio radialis
vorkommen möchte. Schleiden, in ſei—
nem bekannten Buche „das Meer“, giebt die
Abbildung einer ſolchen Kometenform aus
dem Aquarium von Concarneau, und er—
zählt dabei: „John Dalyell fand am 10.
Juni einen einzelnen, kürzlich von einem
Seeſtern getrennten Strahl, ſchon am 15.
Juni erſchienen am Grunde vier neue ru—
dimentäre (d. h. kleine) Strahlen; am Ybend
deſſelben Tages begann auch die Bildung
eines neuen Mundes, nur blieben die vier
neuen Strahlen ſehr klein. Einen Monat
ſpäter warf das Thier freiwillig den alten
Strahl ab, und an deſſen Stelle ſproßte
ein neuer, ganz vollſtändiger Seeſtern hervor.“
Profeſſor Haeckel ſelbſt hat nicht
weniger als 51 Kometenformen von vier
verſchiedenen, theilweiſe in einander über—
gehenden Ophidiaſter-Arten aus den Muſeen
von Berlin, Jena, München, dem Godeffroy—
Muſeum in Hamburg u. ſ. w. unterſucht
und ſechs der intereſſanteſten Formen ge—
nauer beſchrieben und abgebildet.
„An den jüngſten Exemplaren ſieht
man, daß eine eigentliche Scheibe
bei ihnen noch gar nicht exiſtirt,
ſondern daß die neugebildeten Arme un—
mittelbar aus der Mundfläche des Arms
hervorſproſſen. Die Mundöffnung wird
zunächſt nur durch das offene centrale Ende
des Specialdarms des regenerirenden Armes
gebildet. Eine Madreporen-Platte“) |
fehlt ganz. Die Zahl der neugebildeten
Arme beträgt bald vier, bald fünf.. ...
Erſt nachdem die neugebildeten vier oder
fünf Arme eine gewiſſe Größe erreicht ha—
ben, geſtaltet ſich ihre centrale Verbindung |
zu einer ganz kleinen Mittelſcheibe; der
Mund rückt in die Mitte und beiderſeits
ein Theil des Armes als Stummel an der
des Hauptarms tritt eine kleine Madre—
poren-Platte auf, in dem Winkel zwiſchen
letzterem und dem benachbarten neuen Arm,
ſpäter erſt auf die dorſale Fläche hinaufrückend.“
Zur ferneren Begründung der von
*) d. h. die den meiſt fünf Armen
gemeinſame, ſeitlich auf dem Rücken der
Mittelſcheibe liegende durchlöcherte Kalkplatte,
durch welche der Steinkanal das zur Schwell—
ung der Schlauchfüßchen dienende Waſſer
aufnimmt.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Kometenform von Ophidiaster multiforis. Von der Bauchſeite (doppelte natürliche Größe).
359
diaster multiforis und Ehrenbergii), die ſich
kaum trennen laſſen, noch der ebenfalls ähn—
Es find liche O. diplax und der ſtärker abweichende
außer den oben genannten beiden Arten (Ophi- O. ornithopus aus dem weſtindiſchen Meere.
Sars, Kowalewsky, Studer und
R. Jones ausgeſprochenen Anſicht, daß
die Arme ſich freiwillig ablöſten, um
neue Sterne aus ſich ſelber zu bilden, boten
ſich für Profeſſor Haeckel mehrere Exem—
plare von Ophidiaster diplax und O. orni-
thopus, an denen ſich deutlich ſtudiren ließ,
wie ſich die Arme freiwillig von der Scheibe
abſchnüren. An einigen reifen Exemplaren
nämlich, welche nicht Kometenformen an—
gehörten, zeigten ſich 2 — 6 Mm. von
der Scheibe entfernt, Einſchnürungen der
Arme, als Anfang der beginnenden Ab—
löſung. Dieſelben zeigen, daß nicht nur
kein Theil der Scheibe an dem ſich ablöſenden
Arm zurückbleibt, ſondern daß umgekehrt
Scheibe verbleibt, aus welchem in manchen
Fällen ein neuer Arm hervorwächſt. Alle
dieſe Thatſachen führen zu dem ſichern
Schluſſe, daß man es hier nicht mit einer
gewöhnlichen Regeneration, ſondern mit einer
beſondern Form der Reproduktion zu thun
hat. Denn es iſt kein einziger Fall bekannt,
daß bei irgend einem Thiere eine abgelöſte
Extremität das Vermögen beſäße, den ganzen
Körper zu reproduciren. Der nahe liegende
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Schluß iſt alſo, das es ſich hier um keine | ftellt, welches nur für gewöhnlich mit den
(meiſt vier) andern Armen ein Geſellſchafts—
leben führte.
Extremität handelt, ſondern daß der ſich
ablöſende Arm ein ſelbſtändiges Weſen dar—
Rückenſeite der Mittelſcheibe (Astrodiscus) von Ophidiaster diplax,
bei welcher ſich mehrere Arme abſchnüren, während an Stellen
früher verlorener Arme auf den Stumpfen neue hervorſproſſen.
m m die Madreporenplatten.
Dieſe Auffaſſung des meiſt fünftheiligen
Leibes der Seeſterne iſt bekanntlich aus
andern Gründen ſchon vor zwölf Jahren
von Prof. Haeckel aufgeſtellt worden. Ueber
das eigentliche Weſen und die Verwandt—
ſchaften dieſer Thiere herrſchen nämlich die
einander widerſprechendſten Anſichten noch
unter den heutigen Zoologen, und für die
meiſten der Letzteren gilt das Wort Goethes:
„Dies Pentagramma macht mir Pein!“
Die älteſte Anſicht zwar, die beſonders von
Cuvier präciſirt wurde, nach welcher die
Seeſterne und die ganze Abtheilung der
Stachelhäuter mit den Polypen, Korallen
und Quallen eine enge Gemeinſchaft von
Strahlthieren bilden mußte, wird von
den meiſten heutigen Zoologen nicht mehr
getheilt, ſeit Leuckart 1848 die gründ—
liche Verſchiedenheit der Stachelhäuter von
den erſteren dargethan hat. Nur ganz
vereinzelte Forſcher, wie Agaſſiz Vater
und Sohn und ein ruſſiſcher Zoologe Namens
125
Metſchnikoff, traten und treten noch für
die alte Anſicht ein, wobei von den letzteren
angenommen wird, daß ſich die Stachelhäuter
aus den ſogenannten Rippenquallen ent—
wickelt haben ſollen.
Mit dem Studium der Entwicklungs—
geſchichte ließe ſich viel eher eine andre
Anſicht vereinen, welche den morphologiſchen
Anknüpfungspunkt bei den ſogenannten Stern—
würmern (Gephyreen) ſucht, weil ſie einer
Abtheilung der Stachelhäuter, den Seegurken
oder Holothurien, äußerlich in ſo vielen
Punkten nahe kommen, daß man ſie zeit—
weiſe in dieſelbe Klaſſe geſtellt hat. Auch
heute glauben noch zahlreiche Zoologen, daß
die Holothurien die Stammeltern der Stachel—
häuter ſeien und ihrerſeits von den Stern—
würmern abſtammen möchten.
Die Entwicklungsgeſchichte iſt einer ſolchen
Auffaſſung nicht gradezu feindlich. Denn
ſie zeigt allerdings, daß die ſternförmig
gebauten Thiere aus Larven entſtehen, die
nicht ſtrahlig, ſondern ſymmetriſch
gebaut ſind und den Wurmlarven im
Allgemeinen gleichen, während ſie keine
Aehnlichkeit mit den von Anfang an ſtrahlig
gebauten Larven der Korallen und Meduſen
zeigen. Aber die genauere Verfolgung der
Entwicklungsgeſchichte zeigt, daß die Stachel—
häuter nicht durch eine einfache Metamor—
phoſe aus jenen ſymmetriſch gebauten
Larven hervorgehen, ſondern daß hierbei
eine Art ungeſchlechtliche Geburt, ein ſo—
genannter Generations wechſel eintritt,
nach welchem aus dem vorher ſymmetriſchen
Thiere plötzlich ein ſtrahlig gebautes ge—
worden iſt. Die Würmer ſind wie die
ihnen nahe verwandten Gliederthiere und
Weichthiere und wie die entfernter verwandten
meren) zuſammengeſetzt, und ebenſo iſt es
die Sternthier-Larve oder beſſer Amme,
aus deren Körper durch Generationswechſel
Thiere hervorgehen, die aus gewöhnlich zehn,
zuweilen auch mehr ſolcher Antimeren beſtehen.
Ein derartiger Generationswechſel läßt
ſich faſt nur durch einen Vergleich mit
ähnlichen, aber einfacher liegenden Erſchein—
ungen verſtehen. Bei einer ziemlichen An—
zahl von Würmern unter den Ascidien und
Salpen findet nämlich ein ähnlicher Wechſel
in ſofern ſtatt, als die Jungen ebenfalls
freilebende ſymmetriſche Einzelthiere (Ammen)
ſind, die dann durch Parthenogeneſis oder
Jungferngeburt eine Reihe von Jungen zur
Welt bringen, die zu Sternen, Walzen
oder Ketten miteinander vereinigt bleiben.
Bei den ſtern- und walzenförmigen As—
cidien-Stöcken geht dieſe Vereinigung fo
weit, daß dieſe Thiere eine gemeinſame
Kloake beſitzen, um welche ſie ſich ſtrahlig
gruppiren wie die Zacken eines Sternes.
Haeckel hat nun im Jahre 1866 zuerſt
die Meinung aufgeſtellt, bei den Ahnen
Kosmos, Band III. Heft 4.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
361
der Stachelhäuter, denen alsdann die See—
ſterne und nicht die Holothurien am nächſten
ſtehen würden, möge ein entſprechender
Generationsvorgang zur Entſtehung zuſam—
mengeſetzter Thiere geführt haben, die noch
inniger mit einander verſchmelzen als die
erwähnten Ascidien. Eben in Folge dieſer
innigen Verſchmelzung der fünf oder mehr
Einzelthiere zu einem Sternſtock (Astrocor—
mus) habe der Generationswechſel die be—
ſondre Form der Metagenesis suecessiva
angenommen, bei welcher die Sternamme
(Astrotithene) die ſternförmig vereinigte
Brut nicht mehr wirklich gebiert, ſondern
dieſe durch eine Art innerer Sproſſung in
unmittelbarer Folge in ſich erzeugt. Wie
nahe liegend die Annahme einer ſolchen
Wirbelthiere aus zwei gleichen Hälften (Anti-
Zuſammendrängung der Phaſen des Ge—
nerationswechſels unter den vorausgeſetzten
Verhältniſſen wird, erſieht man daraus, daß
er bei den jüngern Sternthieren ſich immer
mehr zuſammenſchiebt und dadurch ſcheinbar
in eine Metamorphoſe übergeht.
Nach dieſer geiſtvollen Hypotheſe ſind
alſo die einzelnen, aus zwei Antimeren
zuſammengeſetzten Parameren urſprünglich
ſymmetriſche Einzelwürmer geweſen, die
allmälig immer inniger mit einander ver—
ſchmolzen, bis daraus Thiere hervorgingen,
wie die Seeigel und Holothurien, in denen
der zuſammengeſetzte Stock oder Cormus
nur noch durch die Vergleichung mit den
ältern Formen erkennbar bleibt. Ueber das
Verhältniß dieſer zuſammengeſetzten Perſonen
zu den Einzel-Perſonen hat kürzlich Prof.
Haeckel genauere Definitionen gegeben in
einer Arbeit „über die Individualität des
Thierkörpers“ ?) auf die wir hier verweiſen
müſſen, da die grundlegenden Beſtimmungen
derſelben einen Auszug nicht geſtatten.
» Jenaer Zeitſchriſt für Naturwiſſenſchaften
1878. XII. S. 1.
rr. ̃ ...... . . . ̃ .
46
362
Die Hypotheſe von der Cormus-Natur
der Stachelhäuter findet nun, außer in der
Eutwicklungsgeſchichte und den Parallel-
zu treiben.
Vorgängen bei den Syn-Aseidien, eine offen—
bar ſehr ſtarke Stütze in der hier betrachteten
Fähigkeit der abgelöſten Arme des Seeſterns
oder Aſtrolenen, von der Scheibe (Astrodis- |
cus) geſondert, wie eine einfache Wurmperſon
weiter zu leben und neue Individuen ſeiner
Art zu erzeugen, um ſich mit ihnen zu
von O. Sars mit Brisinga die freilich
einer neuen Firma „Sternarm und Söhne“
zu vereinen. „Es handelt ſich hier offen—
bar,“ ſagt Haeckel, „um einen wirklichen
Generationswechſel der Seeſterne, um eine
ungeſchlechtliche Vermehrung, welche alle
Charaktere der echten Metageneſis trägt.
Da wir nun auch die ſogenannte „Meta—
morphoſe“ der Echinodermen . . . in ihrer
älteſten urſprünglichen Geſtalt als wirkliche
Metageneſis auffaſſen müſſen, ſo hätten wir
im Stamme der Sternthiere zwei verſchie—
dene Formen des Generationswechſels:
Erſtens die gewöhnliche Form der Meta—
geneſis, wo die ſogenannte „Larve“ (Pluteus,
Brachiolaria etc.) als Amme fungirt und
durch innere Knospung das ganze
Echinoderm erzeugt (bei den meiſten Aſterien,
Ophiuren, Echinen und vielen andern Echino—
dermen) — und zweitens die ſeltenere Form
der Metageneſis, wo der ſpontan abgelöſte
Seeſtern-Arm als Amme fungirt, und
durch äußere Sproſſung den Stern
erzeugt (Ophidiaster, Labidiaster, Bri-
singa und andre Aſterien).“
Zum Schluſſe möchte Referent ſich noch
erlauben, auf einen beſondern Punkt hin—
zuweiſen. Der Aſtrodiskus iſt nach dieſer
Hypotheſe ein nachträglich entſtandener Theil
und wird dementſprechend mit vieler Leich—
tigkeit von den freilebenden Armen neu
nacherzeugt. Es wäre nun doppelt inter—
e ſſant, durch den Verſuch zu ermitteln, ob
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. |
auch umgekehrt die Scheibe, wenn man ihr
alle Arme radical weggeſchnitten hat, im
Stande iſt, weiter zu leben und neue Arme
Es hat das offenbar alle
Wahrſcheinlichkeit für ſich, da die Haupt—
organe des Lebens in der Scheibe centraliſirt
ſind, und wenn die ältere Betrachtung der
Stachelhäuter als Einzelthiere richtig wäre,
müßte das fraglos geſchehen. Gleichwohl
ſtarb bei den oben erwähnten Verſuchen
hier ſehr kleine Scheibe früher als die
Arme. Bei Seeſternen, deren Scheibe
ſich mehr entwickelt hat, dürfte ein ſolcher
Verſuch keineswegs als experimentum
erueis hingeſtellt werden, denn es iſt, na—
mentlich bei dünnarmigen Schlangenſternen,
bei denen die Wundflächen nicht groß aus—
fallen würden, ſehr möglich, daß alle Arme
neu nachwüchſen. Thäten ſie es indeſſen
wider Erwarten nicht, ſo wäre das ein
ferneres, wenn auch kleines Gewicht in die
Wagſchale, die ſich, wie uns ſcheint, immer
entſchiedner zu Gunſten der Haeckel'ſchen
Cormus⸗Theorie neigt.
Raub-Naupen.
Prof. Carl Berg in Buenos Aires
ſagt in einem, in einer ruſſiſchen Zeitſchrift
abgedruckten Aufſatz über „Patagoniſche
Lepidopteren“:
„Es bleibt mir hier nur noch übrig,
einer Eigenthümlichkeit der Raupen, ihrer
höchſt carnivoren Eigenſchaft zu gedenken.
Alle Raupen, welchen Familien und
Gruppen ſie auch angehörten, zeigten den
lebhafteſten Trieb ihren Stammesgenoſſen
ans Leben zu gehen. In der Gefangen—
ſchaft fraßen ſie nur ſolche, ſelten etwas
von der Futterpflanze anrührend. Spinner—
raupen vertilgten andere ihrer Gattung, was
unglaublich klingt aber wahr iſt, mit Haut
und Haar, ja, ſie riſſen ſogar die Cocons
der Verpuppten auf und fraßen die Puppen
aus, worauf ich meine Reiſegefährten be—
ſonders aufmerkſam machte. Aehnlich be—
nahmen ſich die Noktuen-Raupen unter
Ihresgleichen und unter Spinnern und um—
gekehrt; von erſteren war die von Heliothis
armiger Hb. über alle Maßen gefräßig;
in 24 Stunden vertilgte eine ſolche 6— 7
andere. Auch die Raupe des Tagfalters
Pyrameis Carye Hb. war carnivoriſch,
dieſe aber ſehr mäßig und zog ſtets friſches
Pflanzenfutter fleiſchlicher Nahrung vor,
während die anderen, namentlich Eulen,
einmal an Fleiſchkoſt gewöhnt, keine Pflanzen
mehr freſſen wollten.
Dieſe Eigenthümlichkeit patagoniſcher
Raupen läßt ſich leicht erklären. Während
des Hochſommers herrſcht in Patagonien
große Dürre und Hitze; im Verein mit
trockenen Winden bringen dieſe die ohnehin
ärmliche Vegetation allzuleicht zum Ver-
dorren. Da es den Raupen alsdann an
Nahrung gebricht, hat der Kampf ums
Daſein ſie gelehrt, eine andere Nahrungs—
quelle zu finden. Sie zehren von Ihres—
gleichen. Dieſe Eigenſchaft ererbend, thun
ihre Nachkommen es oft auch ſpäter, wo
kein Pflanzenmangel ſie dazu zwingt. —
Die Natur macht erfinderiſch und die Natur
iſt biegſam!“
Neuere vorgeſchichtliche Chier-
zeichnungen.
Der Bericht über die achte allgemeine
Verſammlung der deutſchen Geſellſchaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeſchichte
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 363
erſchien ſoeben bei R. Oldenbourg unter
Redaktion von Profeſſor Dr. J. Ranke
mit 2 Tafeln in Quart, einer Karte der
prähiſtoriſchen Anſiedelungen am Bodenſee
und einer Zeichnung. Der ca. 100 Seiten
umfaſſende Bericht zeichnet ſich vor Allem
durch eine große Sorgfalt und möglichſte
Vollſtändigkeit aus, die natürlich nie vollfom-
men bei ſolchen Gelegenheiten zu erreichen
iſt. Beſonders hervorzuheben iſt die für
die Entwickelung der Anthropologie bedeu—
tende Debatte über die Echtheit der Funde
von Thayingen, die S. 103 —122 ver-
zeichnet ſteht (vgl. Kosmos, Bd. II.
S. 439441).
Einen neuen Beitrag zur Echtheit der
Thierzeichnungen bringt in einem Anhang
Dr. Mandach von Schaffhauſen. Dar—
nach entdeckte eine wiſſenſchaftliche Com—
miſſion k), darunter Namen wie Daw—
kins, Lubbock, Burk und Andere in den
Klippen von Cresnell an der engliſchen
Südküſte eine Reihe von Höhlen, die durch
ihre Funde eine zweifache Beſchlagnahme
durch Menſchen bewieſen. In der jüngeren
Schicht fand H. Mello auf einem zarten
Knochenfragment die Zeichnung des Vor—
dertheiles eines Pferdes. Daſſelbe ziert
nach Dawkins' Beobachtung eine kurze,
borſtige Mähne und trägt ganz denſelben
Typus zur Schau, wie die Pferde—
zeichnung von Thayingen. Die Aehnlich—
keit des Typus manifeſtirt ſich in der
vorgebeugten Stellung des Kopfes, die
eine lauernde Intention verräth, in der
Behaartheit und endlich in den Dimenſionen
des Körpers. Die Zeichnung von Cresnell,
oder beſſer von Robin-Hood, iſt gerade ſo
) Solche Commiſſionen wären auf deut-
ſchem Boden ſehr empfehlenswerth, um eine
ſolche Turbation wie bei dem Falle Thayin—
gen zu verhüten.
364 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
naturaliſtiſch nach dem Leben gegeben, wie
die von Perigord und Thayingen. Es
ſind die Eingebungen der Natur, welche
der Naturmenſch nach den wiederholten
Eindrücken ſicher zum Ausdruck brachte.
Dawkins zieht daraus den Schluß, daß
die Jäger der älteren Steinzeit, der ſoge—
nannten paläolithiſchen oder nach Ecker der
unmetalliſchen Periode von Südengland,
deſſelbden Stammes waren, wie die Ren—
thierjäger von der Schweiz und der Dor—
dogne.
Ohne gerade dieſen Schluß deciſiv auf—
recht erhalten zu wollen, muß man geſtehen,
daß die Forderung Ecker's und Linden—
ſchmit's nach bezeugten Parallelfunden
für die Zeichnungen von Thayingen, ſowie
die Vorausſage Meſſikomer's hiermit glän—
zend erfüllt ſind. Die Fundumſtände ſind hier
nicht anzuzweifeln und die Echtheit derer
von Robin-Hood zeugt auch für die Be—
weiskraft der früher gefundenen von Thayin—
gen, Freudenthal, Perigord. Die Frage
der Thayinger Zeichnungen, ſowie überhaupt
der prähiſtoriſchen Kunſt iſt ſomit ihrer
Spruchreifheit (vgl. Bericht S. 107
Ecker) bedeutend näher geführt und auch
die abſolute Zeit der Entſtehung dieſer
Kunſtwerke dadurch näher fixirt.
Iſt es überhaupt erlaubt, über die
Ethnologie eines Volkes, das ſich nach
Dawkins Unterſuchungen unter ganz ähn—
lichen Culturverhältniſſen im weſtlichen
Frankreich, dann bis an den Oberrhein
und im ſüdlichen Britannien findet, wenig—
ſtens eine auf hiſtoriſche Zeugniſſe ge—
gründete Vermuthung zu wagen, ſo ſei für
dieſen Zweck auf das Volk der Iberer
hingewieſen. Dieſe bewohnten vor circa
700-600 Jahren den ganzen Weſten
Europas bis an den Rhein und wurden
1
zurückgedrängt durch die vom Oſten her
einwandernden Kelten“).
Einen uralten Völker- und Handels—
verkehr Südbritanniens und Nordſpaniens
bezeugten auch die Nachrichten des Avienus und
Strabo, die von den Bewohnern der Zinninſeln
und Nordſpaniens berichten, daß ſie mit an—
deren Kühnen den weiten Ocean durchmeſſen.
Und bereits vor Ankunft der Kelten in Frank—
reich in der erſten Hälfte des erſten Jahr—
tauſends v. Chr. hatten nach Strabo die
Tyrier Verkehr und Niederlaſſungen in Ibe—
rien. Nach der Unterwerfung Phoeniziens
eröffnete ſich den Griechen ſchon im Laufe
des 7. Jahrhunderts der Seeweg nach
Tarteſſus, einer phönikiſchen Gründung
an der Südweſtküſte Spaniens, bis die
Karthager auch hier die Erbſchaft der Tyrier
antraten und die Griechen überflügelten.
Iſt es nun nöthig, für dieſe Kunſtfertig—
keit der alten Bewohner des Weſtens einen
vermittelnden Verkehr mit der Mittelmeer—
kultur anzunehmen, ſo hindert uns weder
die Steinzeit jene Jäger von der Dordogne,
noch die Renthierperiode dieſe Berührung
in den Zeitraum des Einfluſſes der Phoe—
niker, Griechen und Karthager auf die
Iberer zu verſetzen. Ebenſowenig ſind wir
aber gehindert, dieſen Einfluß auf die Seite
zu ſetzen, jene Artefakte aber durch dieſe
Periode der Herrſchaft der Iberer im
weſtlichen Europa zuzuſchreiben. Jedenfalls
aber ſind ſolche Anhaltspunkte geeignet, eine
Brücke zu ſchlagen zwiſchen den Ergebniſſen
der anthropologiſchen und urgeſchichtlichen
Forſchung und den Nachrichten und Schlüſſen
aus den alten Autoren.
Dr. C. Mehlis.
) Müllenhoff, Deutſche Alterthums—
kunde S. 108—112, Tiefenbach, Origines
europaeae p. 113—114.
2J2;— 0. >.
r
Titeratur und Kritik.
Der Darwinismus und die Ethik.
uf der letzten Naturforſcherverſamm—
lung hat wiederum Häckel ener—
giſch darauf hingewieſen, daß die
moderne Richtung der Naturphilo-
ſophie zwar noch keine Ethik geſchaffen
habe, aber doch nicht blos die Noth—
wendigkeit einer ſolchen, ſondern auch
die Kraft in ſich fühle, eine ſolche zu
ſchaffnn. Daß dies möglich fer, darauf
hat ſchon Lange in ſeiner Geſchichte des
Materialismus hingewieſen, wenn er auch
den Begriff der „Idee“ in dualiſtiſchem
Sinne faßte. Es iſt das Beſtreben unſerer
Zeit, den theoretiſchen Realismus und
Monismus*) mit dem praktiſchen Idealismus
zu verbinden und es iſt dies ein charakte—
riſtiſches Schlagwort unſerer Zeit geworden,
welches auch Häckel im Anſchluß an
Lange mit lauter Stimme verkündigt.
Daß aber dies bis jetzt mehr Poſtulat als
wiſſenſchaftlich ausgeführte Weltanſicht ge—
) Der Terminus „Monismus“ iſt von
verhältnißmäßig jungem Datum. Dieſes
Schlagwort wurde, wie es ſcheint, zuerſt von
einem Hegelianer, Göſchel, in Gang ge—
bracht, und zwar bezeichnete er damit die
Hegel'ſche Logik, den Monismus der Idee.
Die Ausdehnung des Terminus auf Spi—
noza geſchah erſt ſpäter.
weſen iſt, kann nicht geleugnet werden.
Indeſſen hat unter den Anhängern der
natürlichen Weltanſchauung am früheſten
Carneri den Verſuch gemacht, auch in
dieſer Beziehung das bisher Verſäumte zu
ergänzen. Mit einer warmen Begeiſterung
iſt er beſtrebt, den ſittlichen Idealismus
mit dem moniſtiſchen Realismus zu ver-
binden, und die Ethik, über einen bloßen
Utilitarianismus hinaus, zu einem idealen
Gebiete zu machen, das aber auf realem
Grunde ſich erhebt. Der „auf realer Baſis ſich
aufbauende Idealismus“ iſt das Stichwort
des Tages, das Carneri mit edlem En—
thuſiasmus auf ſeine Fahne ſchreibt. Um
dieſes Poſtulat zu einer Wirklichkeit zu
machen, dazu hat er in ſeiner „Ethik“
ſchon einen ſchätzenswerthen Beitrag ge—
liefert. In der uns vorliegenden Schrift:
„Der Menſch als Selbſtzweck. Eine
poſitive Kritik des Unbewußten
von B. Carneri. Wien 1877,“ ſucht
nun der Verfaſſer ſeinen ethiſchen Theorien
einen theoretiſchen Untergrund zu geben,
und die entgegengeſetzten Anſichten Hart—
mann's in theoretiſcher und praktiſcher
Hinſicht zu widerlegen. Wie eng dieſe
beiden Gebiete zuſammenhängen, braucht
denen nicht mehr geſagt zu werden, welche
ſelbſt erfahren haben, wie faſt Neunzehn—
theile des Widerſtandes gegen die natürliche
Weltauffaſſung aus falſch verſtandenem
ethiſchem Intereſſe abzuleiten ſind, und wie
andererſeits eine verkehrte Weltanſchauung
auch eine perverſe und verfälſchte Ethik
hervorruft. Gerade bei Hartmann
kommt das letztere ſtark zum Vorſchein,
und ſeine ſterile und ſeltſame Ethik iſt ein
Ableger ſeiner ſeltſamen und mythiſchen
Metaphyſik. Carneri hat daher richtig
operirt, indem er die Ethik ſeines Gegners
nicht direkt angreift, ſondern zunächſt ihre
falſchen Wurzeln in der Teleologie des
Metaphyſikers nachweiſt. In der „Ein—
leitung“ charakteriſirt Carneri im All—
gemeinen ſeine eigene Stellung, wobei er
mit Geſchick durchführt, daß „es keinen
andern Weg zu den Ideen giebt,
als den Weg der Wiſſenſchaft“.
Damit tritt er ſcharf und entſchieden jenem
verſchwommenen Treiben entgegen, das von
einer „Objektivität der Ideen“ in einer
unverſtändlichen, myſtiſchen Weiſe redet.
Die Ideale, mögen ſie ſich beziehen, wor—
auf ſie wollen, ſind empiriſch entſtandene
|
Vorſtellungsgebilde, und nur als
ſolche, in der Thatſache ihres Vorgeſtellt—
werdens, Realitäten; hier bilden ſie ſogar
treibende Kräfte in der geſchichtlichen Ent—
wickelung, aber eine andere Exiſtenz als
im Kopfe der Menſchen kann ihnen nicht
angedichtet werden, ohne in eine bodenloſe
Myſtik zu verfallen.
ung auch theoretiſch zu baſiren, unterzieht
ſich der Verfaſſer der Mühe, vermittelſt
einer poſitiven Kritik der Hartmann'-
Um dieſe Anſchau⸗
ſchen Philoſophie feine eigene Anſchauung
zu begründen.
Wenn derſelbe auch hierbei
eigentlich Neues nicht vorbringt, was nicht
ſchon von den übrigen zahlloſen Kritikern
geſagt worden wäre, ſo entwickelt er doch
in den vier Abſchnitten, die er dieſem Gegen—
Rn widmet (das Unbewußte, Individuum
ſelbſt lägen.
366 Literatur und Kritik.
und Welt, Cauſalität, Selbſtzweck und
Intelligenz), manchen beachtenswerthen Ge—
danken, insbeſondere das letztgenannte Ca—
pitel, in welchem der Verfaſſer den Ueber—
gang zur Ethik macht, iſt von grundlegen—
der Bedeutung für ſeine Anſchauung und
muß demjenigen, der auf der Baſis der
natürlichen Weltanſchauung ſich eine ideale
Ethik erbauen will, unbedingt empfohlen
werden. Die Einwände, welche Carneri
gegen „das empfindende Atom“ macht, worin
er ſpiritiſtiſche Anwandlungen ſieht, ſind
nicht ohne Grund; nur deckt er mehr die
Schwierigkeit auf, als daß er ſie zu löſen
verſucht, und ſo lange wir das Auftreten
der Empfindung auf höheren Stufen nicht
anders erklären können — wozu keine Aus-
ſicht iſt — muß jene Vorſtellung einer
beſeelten Materie wohl oder übel vorläufig
ein Princip werden. Als die eigentliche
Wurzel der verkehrten Ethik betrachtet Car-
neri die falſche Teleologie; indem er den
Menſchen auffordert, ſich als Selbſt—
zweck zu betrachten, will er die Ethik hier—
auf begründen. Eine genauere Erörterung
dieſes Begriffes des „Selbſtzweckes“ wäre
jedenfalls zu wünſchen geweſen. Immer⸗
hin iſt damit aber ein entſchiedener Proteſt
gegen alle Verſuche ausgeſprochen, das
menſchliche Leben als Mittel für irgend
einen heteronomen Zweck zu betrachten, wie
dies bei Hartmann geſchieht, der auch
hierin mit der Myſtik gemeinſame Sache
macht. Wie die Welt als Ganzes causa
sui iſt, Selbſturſache, d. h. eben nicht mehr
verurſachend, nicht mehr Wirkung einer hetero-
kosmiſchen Macht, ſo kann auch der Welt
oder ihren Repräſentanten, den Menſchen,
nicht zugemuthet werden, wiederum Mittel
für andere Zwecke zu ſein, die außer ihnen
Darum ſagt Carneri mit
Recht: Unſer Idealismus iſt von
dieſer Welt.
nicht wieder um anderer Dinge willen da,
wenigſtens ſoll der Menſch ſie ſo
betrachten, wenn fie auch pſychologiſch
aus egoiſtiſchen Gründen und Motiven ab-
leitbar ſind. Carneri betont überall den
realen Grund der Idee, und es iſt ein
gutes Wort, daß der Materialismus mit
jedem Tage mehr dafür ſorge, daß die
Bäume des Idealismus nicht in den Him—
mel wachſen (das Umgekehrte iſt zum Glück
auch der Fall). Wenn auch eine eigent—
liche wiſſenſchaftliche Begründung und Dar—
ftellung des auf dem Realismus ſich er-
hebenden ſittlichen Idealismus in dieſen
aphoriſtiſchen Aeußerungen nicht gegeben iſt,
wenn auch im letzten Abſchnitt, „Die
Liebe“, allgemeine Menſchenliebe und Ge—
ſchlechtsliebe durch einander geworfen wer—
den, und wenn endlich die moderne eng—
liſche Literatur über dieſe Gegenſtände auch
keine Beachtung gefunden hat, ſo iſt doch
dieſe Schrift des auch politiſch unermüdlich
thätigen Carneri ein ſchätzenswerther
Beitrag zu einem auf natürlicher Baſis
ſich erhebenden ſittlichen Syſtem, nicht blos
ein erhebendes Beiſpiel, daß klare und
nüchterne Auffaſſung der Thatſachen mit
edler und warmer Begeiſterung für die
Ideale verbunden ſein kann.
Str. i. E. H. V.
Ein neues Werk von Hartmann
in Sicht.
Von einem abgefallenen Hartmannianer.
In unſerer Zeit iſt man gewöhnt, aller—
lei wunderliche, bizarre und extreme Be—
hauptungen zu hören, und will man ſich
nicht ſogleich in heftigen Streit einlaſſen,
Literatur und Kritik.
Die ſittlichen Ideen, die
im Menſchen leben, die er ausbildet, ſind
367
um durch Aufgebrachtheit gegen den guten
Ton zu verſtoßen, ſo muß man oft das krau—
ſeſte Zeug von Anſichten ruhig hinnehmen,
gegen die ſich Verſtand und Herz ſträuben, um
der lieben Wahrheit willen. Das geht heute
nicht nur ſo in der Literatur, ſondern auch
in der Kunſt, namentlich in der Muſik und
in der Malerei, und ebenſo geht es in der
Philoſophie. So laſen wir einſt in einem
Artikel der „Gegenwart“ unter dem Titel:
„Schopenhauerianismus u. Hegelianismus“,
verfaßt von Herrn v. Hartmann: daß die
realiſtiſche Schule in der Philoſophie keine
ſonderliche Berechtigung habe, ſich gegen—
wärtig an dem geiſtigen Wettkampfe um
die Löſung der Probleme zu bewerben, da
ſie „auf Umwegen“ zum Ziele ſchreite, die
geſteckten Hinterniſſe nicht auf geradem
Wege aufſuche und ſomit eine gute Pferde—
länge zu ſpät und hinter der rein ideolo—
giſchen Richtung am geſteckten Ziele an—
lange. Wer die Einleitung des betreffen—
den Artikels lieſt, erhält ungefähr den Ein-
druck, als hätten ſich Männer wie Herbart,
Hermann Lotze in Göttingen, Robert
Zimmermann in Wien, Drobiſch
in Leipzig und Andere umſonſt bemüht,
und als müßten ſich die geiſtigen Ström—
ungen, die von dort ausgehen, gemächlich
im Sande verlaufen; mindeſtens, ſo be—
hauptet Herr von Hartmann, haben
die Anhänger dieſer Richtungen kein Recht,
ſich an den philoſophiſchen Aufgaben der
Gegenwart zu betheiligen. Wir zweifeln
nicht, daß die Anhänger eben jener von
Hartmann verurtheilten Richtung fo
ziemlich das Gegentheil behaupten wer—
den, und ſo hört man denn ſehr häufig
gegenwärtig mit Recht den Ausſpruch, daß
die ſogenannten Ideologen, das ſind die
Hegel, die Schopenhauer und Hart—
mann, die Entwickelung der philoſophi—
\
368 Literatur und Kritik.
ſchen Wiſſenſchaft nicht nur von neuem
gehemmt, ſondern bis auf die Zeit zurück—
geworfen hätten, da die Träumer und Ro—
mantiker das Scepter führten, um alles
Licht des Geiſtes aufzulöſen in Myſticismus
und irrlichterirende Gefühlsverſchwommen—
heit. Damals nannte man dieſe Richtung,
die uns durch übermäßige Träumereien der
Wirklichkeit entrückte, die romantiſche. In—
zwiſchen, wo ſich unſer politiſches Leben
völlig verändert hat, ſind wir in unſeren
Beſtrebungen praktiſcher geworden, aber
ſonderbar, der Geiſt iſt in der größten
Gefahr, unterzugehen in einer neuen Art
von Romantik, die, weil ſie ſich mit dem
Verſtande verbunden hat, einestheils her z—
loſer in ihren Formen erſcheint, anderen—
theils aber mit dem Geiſte Verrenkungen
vornimmt, die zu pathologiſchen Verirrungen
hinneigen, um uns insbeſondere in Kunſt
und Philoſophie den weitgehendſten Hallu⸗
cinationen zuzutreiben. Unter dem Einfluſſe
folder hallucinativen Richtung ſchilt man den
berechtigten Realismus, und ſchafft heute
myſtiſch-allegoriſche Formen in der Muſik
(Wagner) und ebenſolche in der Philoſophie. |
Wir haben es zunächſt hier mit der philo-
ſophiſchen Ideologenrichtung zu thun, und
nehmen Gelegenheit, einige Punkte derſelben
hervorzuheben, um zu zeigen, wo die Be—
rechtigung derſelben aufhört.
Da, wie wir hören, Herr von Hart—
mann ein neues Werk, und zwar eine
Phänomenologie des ſittlichen
Bewußtſeins edirt, ſo erſcheint es dop—
zu überſehen. So entſtehen Irrthümer, die
in der Wiſſenſchaft verhängnißvoll werden.
Ein ſolcher doktrinärer Irrthum iſt der:
die Formen unter welchen das All und
die Natur ihre Exiſtenzen ſchafft, mit
denen zu verwechſeln, in welchen der irdiſche
Bewohner der Erde als winziger Menſch
dieſelben auffaßt, um über die Verhältniſſe
des Alls wiſſenſchaftlich nachzudenken. Mit
dieſer Verwechſelung von Exiſtenzformen
und menſchlichen Denkformen kann man
leicht recht weitgehende Confuſionen an—
richten. Der menſchliche Geiſt nämlich denkt
in eigenthümlichen, ſich aus der ſpeciell
menſchlichen Organiſation herleitenden Be—
griffen, und faßt dieſelben abermals menſch—
lich in beſtimmt geformte Worte und Zeichen
(Symbole). Mit dieſer Bewegung des
irdiſchen Menſchengeiſtes in Begriffen, Wor—
ten und ſymboliſirenden Formen ſind ſelbſt—
verſtändlich zugleich eigenthümliche Wen—
dungen verknüpft, die rein formaliſtiſch und
grammatikaliſch ſind, und als Bewegungen
betrachtet, in dieſer Formart nicht im All
und in der realen Natur und Welt vor—
kommen. Trennt man dieſe rein menſch—
lichen ſymboliſchen Formen indeſſen nicht
von denen der wirklich realen Welt und
dem Weltall, und konfundirt dieſelben, jo
| kommt man ſchließlich zu der kurioſen Be—
pelt geboten, die Leſer in unſerer Zeitſchrift
durch folgende Erörterungen darauf vorzu—
bereiten. Die modernen Träumer und Jdeo- |
logen, die ſich gern ihren Einbildungen
überlaſſen, kommen bekanntlich leicht dahin,
der Verſchwommenheit zu verfallen und die
feineren Unterſchiede unter den Formen
hauptung, daß ſich das Weltall in den
nämlichen Formen ausdrücke, und in ſeinen
Formen genau dieſelben eigenthümlichen
Wendungen nöthig habe wie der winzige,
ſprachlich denkende Menſch, und dieſe Betrach—
tung führt ſchließlich zu dem Dogma: daß
das Weltall im Grunde ſeiner inneren Or—
ganiſation nur einen denkenden All-Menſchen
darſtelle. Dieſe falſche Vermenſchlichung des
ganzen Weltalls hat aber alsbald weitere
Confuſionen im Gefolge, von denen wir
nur einige hier erwähnen wollen.
JJͤ ̃ TTT
Wir alle bedienen uns im menſchlichen
Leben der Worte „Zweck“ und „Ziel“, und
das mit Recht. Im begrenzten Leben der Ein—
zelnen, deren Streben beſtändig einen Gegen-
ſtand, eine Richtung hat, wird man zu
ſolcher Bezeichnung dieſe Worte nicht ent—
behren können. Allein ſelbſt bezüglich des
Individuellen gilt der Begriff Ziel (Zweck)
mit Einſchränkung. Verfolgt alles Einzelne
eine Richtung, ſo iſt jedes Einzelne aller—
dings, ſo ſcheint es, als ſolches zielſtrebig.
Dies iſt richtig, ſobald man im Auge be:
hält, daß jedes nach irgend einer Richtung
ſich bewegende lebendige Weſen dieſem Ziele
ideal, d. h. nur regulativ folgt, ohne aber
daß ſelbſt dieſes Ziel oder Zweck eine an
ſich reale, wie es Kant ausdrückt, conſti—
tutive, phyſiſche Kraft iſt, die etwa nach
Art der Schwere conſtant und beſtimmt zu
befolgende objektive Wirkungen ausübt. Ziel
und Zweck jedes Einzelnen als Regulativ
können daher hundertfach gekreuzt, gehemmt,
geändert werden, und zwar derart, daß
viele Einzelne ſich davon abwenden, ſodaß
ſie als Zerſtörer die objektiven Ziele der
Uebrigen vernichten. Die Individuen theilen
ſich ſomit genau beſehen in zielſtrebige Fort-
ſchrittler und Rückſchrittler. Das ſittliche
Streben von Individuen läßt daher kein
allgemeines conſtitutives (unfehlbares) Ziel
zu, ſondern dieſes exiſtirt nur als Poſtulat
(ideale Aufgabe), d. h. als Regulativ. Die
Regulative ſind ſcharf zu unterſcheiden
von den conſtitutiven Mächten, das ſind
im Kosmos die beſtehenden Natur—
geſetze. Wäre das All ein durch und
durch inconſtantes und abſolut variabeles
Chaos, ſo wären auch die Geſetzesmächte,
ſofern Naturgeſetze conſtante Formen dar—
ſtellen, Ziele für ein ſolches Chaos (das
eben eine Naturordnung erſt werden will).
Da wir aber empiriſch eine beſtimmte Ord—
Kosmos, Band III. Heft 4.
Literatur und Kritik.
|
369
nung und Naturgeſetzlichkeit der Wirkungen
ſchon als beſtehend wahrnehmen, und kraft
derſelben im großen Ganzen dieſe Ziele
beſtändig erreicht ſind, ſo könnte man die
Naturgeſetze daher ganz richtig als das
feſte Gerüſt erfüllter (erreichter) Natur-
zwecke bezeichnen. Allein man wird leicht
bemerken, daß erfüllte und erreichte Ziele
einen begrifflichen Widerſpruch einſchließen.
Denn die Begriffe Ziel und Zweck gehen
beſtändig auf etwas in Zukunft und für
die Zukunft erſt zu Erreichendes und noch
zu Erſtrebendes. Betrachten wir den Kosmos
als ſolchen und als Ganzes, ſo hat der—
ſelbe in Form ſeiner Naturgeſetze, in denen
er relativ verharrt und als conſtant erſcheint,
ſeine Ziele erreicht, und er erfüllt ſie con—
ftitutiv in jedem Momente. Blicken wir
aber auf einzelne Theile deſſelben, ſo ſehen
wir, wie ſich alles Einzelne in die Zukunft
hinein relativ verändert. Alle dieſe Verände—
rungen haben Richtungen, folglich Ziele und
Zwecke, aber da dieſelben nicht wie die Natur-
geſetze fertig erfüllt beſtehen, ſo werden die—
ſelben ſehr oft gehemmt, durchkreuzt und ne—
girt. Unter ſolchen Umſtänden kann man unter
der Summe von theils erreichten, theils
durchkreuzten oder aufgehobenen Zwecken
von keinem allgemeinen Endzweck reden,
dem alles Einzelne unfehlbar zuſtrebt, etwa
wie ein geworfener Stein zur platten Erde.
Wer daher dem All und Weltganzen zu—
ſammt allem Einzelnen einen allgemeinen
Endzweck, ein Endziel ſteckt, verwirrt die
Naturanſchauung und das ſittliche Bewußt—
ſein. Welcher Unterſchied zwiſchen dem Ein—
zelnen und dem Ganzen! Das Weltall
exiſtirt in Form des Ganzen ſeit Ewig—
keit und muß daher ſeit unvordenklicher
Zeit und in jedem Augenblick ſein Ziel
erreicht haben. Das All iſt eben nichts
Einzelnes, wie der individuelle Menſch,
47
370
ſondern das ewige geſetzliche Ganze, ſein
Ziel iſt daher nicht über ſich (das Ganze)
hinausliegend, wie dies beim Einzelnen (als
Theil des Ganzen) der Fall iſt. Ueber das
Weſen des Ganzen liegt eben nichts Erreich—
bares oder noch zukünftig zu Erreichendes
hinaus, das als Ziel geſetzt werden kann.
— Was thun nun die Ideologen à la
Hartmann, die das Weltall zu einem
All-Menſchen machen und jo dem völligen
Anthropomorphismus verfallen? Sie be—
haupten, das Weltall habe hinſicht—
lich ſeiner Form und Bewegung
ähnlich wie ein Menſch Anfang, Ziel
und Ende. Sehr intereſſant iſt zu be—
ſequenzen Materialismus und Ideologik
begegnen. Die ſog. Materialiſten entſeelen
ſammengeſetzt aus todten, knöchernen und
zu einer todten All-Maſchine, während es
jene zu einem zielſtrebigen lebendigen All—
Menſchen emporheben. Jene entſeelen das
All völlig, dieſe anthropomorphiſiren es zu
ſehr, daher kommen beide ſchließlich zu den—
ſelben irrigen Conſequenzen. Beide Rich—
tungen nämlich werden, wie wir ſehen, dahin
geführt, Ziel und Ende des Weltalls zu
behaupten. Den Materialiſten geht allmählich
körpern aus; Gravitation und Maſſen—
ewiger Tod droht dem Ganzen. Nicht
anders iſt es mit jenem ideologiſchen All—
Menſchen, er wird geboren wie Minerva
aus dem Haupte des Zeus, um ſchließlich
am Ziele angekommen zu ſterben.
Endziel des Schopenhauer'ſchen All—
menſchen iſt das ſog. Nirwana, und bei
Hartmann findet es ſich in dem Hin—
weiſe auf die endlich völlige und abſolute
Literatur und Kritik.
merken, wie ſich in dieſen extremen Con-
das Weltall, und denken ſich daſſelbe zu
wort. Das von Hartmann vermenſchlichte
lebloſen Atomen, jo machen dieſe das All
die anfeuernde Bewegung in den Welt⸗
bewegung ſchwinden, und Stillſtand und
Das
Zurückſchleuderung des actuellen Wollens
„in das Nichts, womit der Prozeß
aufhört, und zwar ohne irgend welchen
Reſt aufhört, an welchem ſich ein Prozeß
weiterſpinnen könnte.““) Wir ſehen, die
Conſequenzen leiten beide Richtungen zu der
Annahme von Anfang und Ende aller Form
und Bewegung. Wie aber kann und will
man ſich einen erſten Anfang aller Ur—
bewegung denken? Gehören Form und
Bewegung nicht zum Weſen des ewigen
Alls? Muß nicht Beides für immer
und unaufhörlich ſein, ja iſt das All
ſelbſt nicht im Weſen unaufhörliche
Selbſterhaltung ſeiner in ſich
form- und lebens vollen Bewe—
gung? Auf dieſe wichtigen Fragen hat
der Materialiſt und ebenſowenig der An—
thropomorphiſt à la Hartmann keine Ant-
Weltall muß wie ein Einzelmenſch
Entſtehung, Lebensziel, Tod und Endzweck
haben, und auch das materialiſtiſche entſeelte
Weltall findet nur ſo lange Stoff zur Be—
wegung, ſo lange der Heizer als deus ex
machina die todte, blinde Maſchine im
Gange hält. Man denke ſich, im Laufe der
Ewigkeit ſei das Uhrwerk der in ſich todten
Weltallmaſchine abgelaufen geweſen, ſo wäre
es nun für alle Zeiten ſtehen geblieben,
und es gäbe heute keine thatſächliche Be—
wegung mehr. Nun giebt es aber trotzdem
noch heute empiriſche Bewegung, folglich
müßte, wäre das All eine in ſich aus
todten knöchernen Atomen zuſammengeſetzte,
blindwirkende Maſchine, das abgelaufene
Werk von einem deus ex machina mehr-
fach aufgezogen worden ſein. Ganz die näm—
lichen Widerſprüche ſind es, die den ideo—
logiſchen All-Menſchen treffen. Weshalb
) Vergl. Hartmann: Philoſophie d.
Unbewußten 2. Aufl. S. 681 u. S. 702.
Literatur und Kritik.
iſt nicht die Hartmann'ſche Welt
ſchon längſt im Laufe der Ewig—
keit geſtorben, weshalb hat fie ihr
Nirwana nicht ſchon lange erreicht
und wenn ſie es erreicht hatte, wes—
halb trat dieſes All immer von
neuem ins elende, zur Selbſtver—
nichtung und zum Selbſtmord hin—
führende Daſein? Wir ſehen, wer
für Leben und Bewegung im All irgend—
wie nach vor- und rückwärts die Unauf-
hörlichkeit (Ewigkeit) leugnet, flüchtet
ſich in das myſtiſche asylum ignorantiae
irgend eines deus ex machina, möge er
dieſem im rein materialiſtiſchen Sinne, wie
neuerdings Spiller, den Namen Welt—
äther geben, oder im ſpiritualiſtiſchen Sinne
All⸗Willen oder Unbewußtes u. ſ. w. nennen.
Der Name iſt hier für den Philoſophen
gleichgültig, principiell von Bedeutung iſt
nur dies, daß ein erſter Anſtoß (Anfang)
und ein letztes Ende als nothwendiges End—
ziel aller derjenigen Formen und Bewe—
gungen angenommen wird, in denen das
Leben des Alls ſich unaufhörlich zu ver—
jüngen genöthigt iſt, will es ſich in ſich
lebensvoll erhalten.
Aber weshalb ſchreibt Hartmann denn
ſeinem Univerſum als menſchenähnlichem All—
Weſen einen Todtenſchein, weshalb prophe—
zeit er nicht etwa nur unſerer Erde und
dem Sonnenſyſtem, ſondern dem ganzen
Kosmos und allem, was da lebt und iſt,
überhaupt den endlichen Untergang? Dieſe
Frage wird ſich der Laie leicht beantworten
können, wenn er berückſichtigt, daß alles
menſchliche und irdiſche Daſein voller Uebel,
voller Diſſonanzen und ſomit voller Wider—
ſprüche iſt, die das Daſein im großen ganzen
zu einem werthloſen unaushaltbaren Jammer—
thale machen. Hat ſich der Philoſoph ein—
mal herbeigelaſſen, die Organiſation des
371
Kosmos nach Art eines Menſchen überhaupt
vorzuſtellen, iſt ihm das Univerſum in der
Verſchwommenheit ſeiner Betrachtungsweiſe
im Grunde nur ein kosmiſcher All-Menſch,
ſo wird ſich Leben und Daſein deſſelben
auch nur in den nämlichen Formen abſpielen
wie im menſchlichen Erdenleben, das wir ja
oft genug als ein thatſächliches Jammerthal
bezeichnen hören. Aber ſind denn die Diſſo—
nanzen, die alles zerſtörenden Uebel, mit
einem Worte die Widerſprüche, aus dem
Kosmos nicht zu verdrängen, ſind ſie nicht
bis auf ein praktiſches Minimum zu redu—
ziren, durch welches fie — O0 werden? Wäre
es nicht möglich, daß, während das Leben
und die Grundformen der Bewegung im
Univerſum unaufhörlich (ewig) ſind, dennoch
alle diejenigen Mißformen, welche Uebel,
Diſſonanzen und Widerſprüche nach ſich
führten, erſt durch Urſachen und Gründe
entſtanden find, welche man wiſſenſchaftlich
genauer zu unterſuchen hat?) Auf dieſe
Fragen werden die Ideologen nicht ant—
worten können. In ihrer verſchwommenen
Betrachtungsweiſe ziehen ſie die Frage nach
der Natur und der Entſtehung und dem
Vergehen der einzelnen Widerſprüche gar
nicht in Erwägung. Das Daſein des
Univerſums in allen ſeinen Formen, das
Daſein des Allweſens mit ſeinen indivi—
duellen Erſcheinungen überhaupt, iſt ihnen
der große Widerſpruch ſelbſt. Daher ihr
endloſer Ruf: Fort mit allem und
jedem Leben und allem Daſein, fort
mit dem daſeienden lebendigen Uni—
verſum überhaupt. Wir ſehen hieraus,
wie weit man mit falſchen Analogien Ver—
wirrungen anſtiften kann. So aufklärend
oft eine richtige und wiſſenſchaftlich begrün—
) Hierzu vergleiche: Ueber Philoſophie
der Darwin'ſchen Lehre von Caspari. Kos⸗
mos Bd. I. S. 479 flgde.
dete Analogie zu wirken im Stande iſt,
ſo verdunkelnd tritt uns die ſchiefe entgegen.
Weil die kosmiſchen und organiſchen Ver
hältniſſe unſeres Planeten für den zart or—
ganiſirten Menſchen viel Elend, Uebel und
allerlei Diſſonanzen, Unluſt und Wider—
ſprüche mit ſich führen, muß nicht nur Erde
und Sonnenſyſtem, ſondern ſogar das unend—
liche Ganze und das Univerſum auch ein
All-Jammerthal fein. So lange der anthro—
pomorphiſirende Ideologe überhaupt die
Natur des Widerſpruchs nicht unterſucht,
wohl gar ſeine Exiſtenz für nothwendig
oder für unauflösbar hinſtellt, wird in
ſolchen ſubtilen Fragen auch nichts ent—
ſchieden werden können. Wer ſagt uns
denn, ob, allgemein geſprochen, auf anderen
Welten, etwa auf dem Sirius oder anders—
wo, die Licht- und Schattenvertheilung für die
Atome und Weſen (ſofern es aus irgend
welchen Gründen dort ſolche giebt) nicht
äſthetiſch maßvoller, erträglicher, vielleicht
ſogar ſehr wohlthuend zur Durchführung
gebracht iſt, ſodaß ſie von allem Elend und
all' jenen widerſpruchsvollen Uebeln, die ſich
aus einer Mißform der Vertheilung her—
leiten würden, praktiſch nichts gewahr werden,
und ihr Leben ſich nicht zum Jammerthal,
ſondern zu einem ſich immer wieder ver—
jüngenden angenehmen Daſein geſtaltet?
Mit einem Worte: Was dem nüchternen
Realiſten ſtets ein Problem iſt, nämlich
die Art und die Natur eines Widerſpruchs,
eines Uebels u. ſ. w., das iſt dem Ideo—
logen eine abgemachte Sache, ihm ſind die
Uebel alle nothwendig und mit allem
Daſein verknüpft; weil er falſche Analo—
gieen verwendet, kann er daher über ihre
Entſtehung nicht zu tieferem Nachdenken
kommen. Nehmen wir den Satz: wo Licht
iſt, da iſt auch Schatten, ſo behauptet der
Ideologe, der zur myſtiſchen Verſchwommen—
Literatur und Kritik.
heit hin gravitirt, daß das Licht bereits
den Widerſpruch des Schattens,
das will ſagen, die Schmälerung des
Lichteffektes involvire. Das aber iſt ein
Fehler gegen die Thatſachen; denn ſanfte
Schatten erhöhen vielmehr den
Effekt des Lichts und bewirken einen
Widerſpruch als Differenz nur erſt dann,
wenn das Maß ihrer Vertheilung in der
Form zur Mißform ſich geſtaltet. Ueber—
tragen wir uns dieſes Beiſpiel ins pſycho—
logiſche Gebiet, ſo muß mit Rückſicht auf
die Thatſachen hin behauptet werden, daß
ſanfte Wellen der Unluſt, die ſich unver—
merkt in die Wogen blendender Luſt ein—
miſchen, in dieſer Form völlig wider—
ſpruchslos die Seele umfangen. Auch
hier iſt es nur erſt die Uebertriebenheit,
alſo die Mißform eines Grades von Em—
pfindung, den die Seele nach dieſer oder
jener Seite hin nicht zu ertragen im Stande
iſt, welche den Widerſpruch des unerträg—
lichen Schmerzes, das Leiden und ſomit
das pſychologiſche Elend nach ſich zieht.
Schon aus dieſen wenigen Beiſpielen erſieht
der Leſer, daß der Widerſpruch und das
Elend nicht allem Daſein und allen For—
men des Daſeins überhaupt anklebt, ſodaß
wir alles und jedes Daſein und alle und
jede Form innerhalb deſſelben verwünſchen
müßten. Der Ideologe a la Hartmann
indeſſen verbittert fih alles Daſein, er
kann ſich daſſelbe in keiner erträglichen,
widerſpruchsloſen Form vorſtellen, und ſo
zieht er das Formloſe und in dieſem Sinne
das myſtiſche Nichtdaſein allem Daſein vor,
das in beſtimmten, ausdrucksvollen und deut—
lichen Formen gebaut iſt. Wir ſehen, dieſe
Art von Ideologie ſtrebt hin zum Form—
loſen, ſie gravitirt in's Verſchwommene,
ſie vertieft ſich in jenen myſtiſchen Urbrei,
in welchem die Daſein gebenden Formen
r
4
4
Pr
x
L
N
x
Literatur und Kritik.
des Alls untergegangen ſind. Aus
dieſer Verſchwommenheit leiten ſich alle
Fehler dieſer Art von Ideologie her, wie
ſie durch die Hegel, Schopenhauer
und Hartmann und Andere in's Leben
gerufen wurde. Man läßt die Unter—
ſchiede verſchwimmen, überſieht und
verliert ſie, und beginnt nun hiermit in
einer abſtrakten Weiſe alles Gegebene zu
verallgemeinern. So geſtaltet ſich die Or—
ganiſation (Form) des Univerſums zu der
eines All-Menſchen, — der, wie alles Da—
ſein überhaupt, dermaleinſt aus der Un—
Form (Indifferenz), dem Ueberweltlichen (Un—
bewußten) entſtanden, auch dereinſt dort wieder
völlig endet. So geſtaltet ſich ferner
dieſe Organiſation des Kosmos zu einem
Al-Iammerthal, deſſen Elend nicht des
Daſeins werth iſt; ja mehr noch, wir ſehen,
daß uns dieſer Standpunkt, von dem man
ſich in's Verſchwommene hinein verliert,
die Behauptung erklärlich macht, daß alle
Form, welche ſich an Unterſchiede und irgend
welche Gegenſätze knüpft, überhaupt den
Widerſpruch in ſich birgt. Jeden Unter—
ſchied, jede Differencirung, jedes individuelle
und ſomit alles Daſein ſieht der Ideo-
loge A la Hartmann in der Phänomeno—
logie ſeines ſittlichen Bewußtſeins als einen
Widerſpruch an. In dieſem Sinne will
ſich der Ideologe loslöſen von allen
Unterſchieden und Widerſprüchen und
ſo ſtrebt er hin zur reinen Idee, das iſt
eine ſolche, welche alle Unterſchiede aus—
ſchließt, innerhalb welcher dieſelben alſo
verſchwimmen und bis zur Indifferenz völlig
untergehen. —
Unſere Richtung iſt eine andere. Wir
wollen und können uns nicht bis zu
jener Unanſchaulichkeit und unter—
ſchiedsloſen Verſchwommenheit,
mit der aller reale Boden unter den
Füßen entweicht, erheben; uns erſcheinen
alle jene ſchiefen Verallgemeinerungen, mit
der das All zu einem rein menſchlichen
All-Weſen gemacht wird, als übertriebene
Hallucinationen, die keinen wahren Gehalt
mehr bergen. Wir halten uns treu an das
Gegebene, ſuchen uns über die Formen und
Bedingungen des Alls zu orientiren, und
verſäumen nicht, bei dem getreuen Spiegel—
bilde, das wir von der Welt feſthalten wol—
len, die natürlichen Unterſchiede, dort wo
ſie gegeben ſind, auch zu verzeichnen. Alle
Formen des gegebenen Alls ſuchen wir
daher kritiſch zu prüfen, und wo wir Miß—
formen (und dieſe allein nennen wir Wider—
ſprüche) entdecken, ſuchen wir dieſelben zu er—
klären und ihren Urſprung zu unterſuchen.
Man wäre im Irrthum, wollte man dieſem
in ſich berechtigten Kriticismus die Ideali—
tät abſprechen; auch unter den kritiſchen
Beſtrebungen wird das Ideal der Wahr—
heit geſucht, und durch das Erklären der
Entſtehung und der Aufhebung der Wider—
ſprüche ſind wir beſtrebt, die Welt und ihre
Probleme zu löſen, um die Denkharkeit
einer widerſpruchsloſen Welt zu gewinnen.
Die wiſſenſchaftliche Idealität behalten auch
wir im Auge, aber im Hinblick auf dieſe
wiſſenſchaftliche Aufgabe hüten wir uns vor
irreführenden Hallucinationen und bleiben
mit unſeren Orientirungen bei den Formen
des wirklich Gegebenen. Behalten wir mit
Rückſicht auf das Geſagte daher den Unter—
ſchied im Auge zwiſchen wiſſenſchaftlicher
Idealität und einer falſchen übertriebenen
Ideologie, die uns der Wirklichkeit entrückt
und unſer Streben dem Moloch einer krank—
haften excentriſchen Phantaſie hinopfert.
Mögen dieſe wenigen Andeutungen zunächſt
wenigſtens genügen, die Uebertriebenheit
aller jener Behauptungen zu kennzeichnen,
durch welche wir heute Kritiker und Rezen—
enten für Herrn von Hartmann Reklame
machen ſehen. Herr von Hartmann iſt
uns lieb und werth, wenn er ſich mit uns
über Wahrheit und Falſchheit des Darwinis—
mus vertiefen und feine pſychologiſchen und
ethiſchen Schrullen, mit denen er nicht Aus—
ſicht hat, die Mehrzahl der Menſchen zu
überreden, ſondern höchſtens Kranke und
Excentriſche in ſein philoſophiſches Netz zieht,
vorurtheilsfrei aufgeben will. Wer ſich im
Weiteren für die Mängel der Hart—
man n'ſchen Lazarethphiloſophie intereſſiren
will, ſei auf das Werk von H. Vaihinger
hingewieſen, „Hartmann, Dühring
und Lange. Zur Geſchichte der deutſchen
Philoſophie im 19. Jahrhundert.“ C.
Die Philoſophie ſeit Kant. Von
Prof. Dr. Friedr. Harms. (Bibliothek
fur Wiſſenſchaft und Literatur. Philoſ.
Abth. II.) Berlin, Verlag v. Th. Grieben.
Dieſes Werk iſt unſtreitbar einer der
intereſſanteſten und werthvollſten Beiträge
zur Geſchichte der Philoſophie in der Neuzeit.
Literatur und Kritik.
Gern bekennen wir uns mit dem Verfaſſer
zu dem Ausſpruch des von ihm mit großem
Scharfſinn kritiſirten Schelling, den er
als Deviſe ſeinem Werk voranſchickt: „Das
Urtheil der Geſchichte wird ſein, nie ſei
ein größerer äußerer oder innerer Kampf
um die höchſten Beſitzthümer des menſch-
Jacob Böhme bis auf Leibniz, Wolf
lichen Geiſtes gekämpft worden, in keiner
Zeit habe der wiſſenſchaftliche Geiſt in
ſeinem Beſtreben tiefere und an Reſultaten
reichere Erfahrungen gemacht als ſeit Kant.“
Auch darf man ſich der Eintheilung der
deutſchen Philoſophie in die vier von
Harms bezeichneten Abtheilungen an—
ſchließen, deren erſte die Anfänge der deutſchen
Philoſophie durch Leſſing, Herder und
Jacobi, die zweite die Grundlegung der
.
deutſchen Philoſophie durch Kant ſelbſt, die
dritte die ſyſtematiſche Ausbildung derſelben
durch Fichte, Schelling, Hegel, die
vierte die Einſchränkung der Philoſophie
durch Schleiermacher, Herbart und
Schopenhauer behandelt. Nach Harms
iſt „die Gründung und Ausbildung einer
geſchichtlichen und einer ethiſchen Weltanſicht
in Verbindung und zur Ergänzung der
überlieferten phyſiſchen Weltanſicht, welche
zum Naturalismus in der vorkantiſchen
Philoſophie ausgeartet war, das Weſen der
deutſchen Philoſophie ſeit Kant.“ Wenn
es ſchon den Anſchein hat, als ob Herr
Harms der empiriſchen Forſchung allzu
geringe Bedeutung einräumte, iſt er doch
andererſeits weit entfernt davon, den ſinn—
verwirrenden Exceſſen und Gaullerſtücken der
abſoluten Philoſophie unbedingt zu huldigen.
Es iſt unläugbar, daß wir an der
Kant'ſchen Philoſophie wie an der Philoſophie
ſeit Kant ein „ganz anderes Intereſſe“
nehmen, als an der ganzen vorkant'ſchen
Philoſophie, dennoch hat es Herr Harms
nicht verſänmt, eine lang entbehrte und von
Kant ſelbſt nur flüchtig angedeutete hiſto—
riſche Ueberſicht der vorkant'ſchen Philoſophie
zu geben. Ganz vortrefflich iſt in dieſer
Beziehung die Darſtellung der deutſchen
Philoſophie im eigentlichen Sinne, von den
Myſtikern (St. Victor, Albert d. Gr.)
und Nic. v. Cuſa, Theophraſtus, Paracelſus,
und Kant ſelbſt, der die neue Aera der
kritiſchen Philoſophie gegründet hat. Auch
die Philoſophie des Leibniz iſt mit großem
Scharfſinn dargeſtellt und kritiſirt.
In vortrefflicher Weiſe ſind die Verdienſte
der Philologie um die neuere Philoſophie
gewürdigt; allerdings nicht der heutigen
Philologie unſerer humaniſtiſchen Bildungs—
anſtalten, die in den meiſten Fällen in
1
P
K r
Silbenſtecherei und Partikel-Philoſophie aus—
geartet iſt. Treffend iſt auch der Harms'-
ſche Ausſpruch: „Die moderne Wiſſenſchafts—
bildung iſt fortgeſchritten von der Theologie
zur Philologie und von der Philologie zur
empiriſchen Naturwiſſenſchaft, welche zuerſt
Bezweifeln möchten
Neues gebracht hat.“
wir aber die Wahrheit des mit großer
Sicherheit aufgeſtellten Satzes: „Die Frage
der deutſchen Philoſophie heiße nicht Kant,
ſondern Fichte und, wie man Fichtes Lehren
auffaſſe, ſo denke und urtheile man über
die Philoſophie ſeit Kant.“
ſeine bedingte Richtigkeit haben, indem ein
Verſtändniß des philoſophiſchen Gedanken-
prozeſſes allerdings nicht ohne die Kenntniß
Fichte's möglich iſt, wenn ſich dieſes Ver—
ſtändniß auf die zeitgenöſſiſche Philoſophie |
erſtrecken ſoll. Wie es aber mit dem Aufruf
„Auf Kant zurückgehen!“ nur unter ganz
beſtimmten Vorausſetzungen, ſein Bewenden
haben kann, ſo gewiß iſt es, daß Fichte nur
wenig mit zu ſprechen haben, wo nicht gar
abſeits liegen bleiben wird, wenn die Frage
über die Normen und Bedingungen jedes
künftigen, nicht hinter den empirischen Wiffen-
ſchaften zurückbleibenden philoſophiſchen
Forſchens erörtert wird.
Wenn wir eine Geſchichte der deutſchen
Philoſophie im weiteren Sinne ſchon von
den Myſtikern an datiren können, ſo
läßt Harms die deutſche Philoſophie im
nengere Sinne in Leſſing, Herder und Jacobi
ihre erſten Vertreter finden, indem von dieſen
erſt die neue Disciplin einer Philoſophie
der Geſchichte zu datiren iſt, die ſeither eine
eigenthümliche, zur geſchichtlichen Weltanſicht
führende Disciplin der deutſchen Philoſophie
ausmacht. Die Verdienſte Leſſings auf
dem Felde der ſpeculativen Theologie und
Philoſophie der Geſchichte werden treffend
charakteriſirt. In anerkennenswerther Weiſe
Literatur und Kritik.
Letzteres mag
375
hat Harms die großartigen Verdienſte
Herders in ſeinen „Ideen“ hervorgehoben
und gewürdigt, obwohl er ſeine Polemik
gegen Kant verurtheilt. |
In gleicher Weiſe, aber weit ausführ-
licher, befaßt ſich Harms mit Jacobi,
deſſen glänzende Eigenſchaften er laut rühmt,
deſſen corrigirenden Einfluß auf die Philo—
ſophie wir in mancher Hinſicht gerne aner—
kennen, obwohl wir mit dem Verf. ſeine Be—
urtheilung der Dinge weder für geſchichtlich,
noch in der Sache ſelbſt hinweiſend halten.
Wenn es ſich auch für Hrn. Harms
ſchon um die Philoſophie ſeit Kant handelt
und er daher dem Studium der abſoluten
Philoſophie mit ganz beſonderer Liebe an—
zuhängen ſcheint, ſo kann ich doch nicht umhin,
zu behaupten, daß die Darſtellung und
Kritik des Kant'ſchen Syſtems die werth—
vollſte und unfehlbarſte Leiſtung des ganzen
Werkes iſt. An eine kurze Darſtellung
der Schriften und der Lebensſchickſale des
Königsberger Weltweiſen ſchließt ſich eine
gedrängte Zuſammenfaſſung und Kritik ſeiner
Philoſophie, in deren Verlauf insbeſondere
die transcendentale Aeſthetik ganz vortrefflich
behandelt iſt. Herr Harms liefert in
erſter Linie eine maßvolle Kritik des Kant’-
ſchen Syſtems und unterſcheidet ſich dadurch
vortheilhaft von den bisherigen Kant-Kritikern,
Herder und Schopenhauer, von denen
der erſtere an vielen Stellen Sarcasmus und
Perſiflage an die Stelle objektiver Kritik treten
ließ, während der zweite des Meiſters Worte
thatſächlich an manchen Stellen verkennt
oder mit Bewußtſein und zur höheren Ehre
ſeines Syſtems mißdeutet, eine Sophiſterei,
welche ſchon von vielen Pro- und Anti-
Schopenhauerkritikern ſcharf gerügt wurde.
Rechtlicher und würdiger des ehrfurchtgebie—
tenden Gegenſtandes iſt die Kritik des Herrn
Harms. Jedenfalls iſt derſelbe über die
|
Intentionen des Weiſen viel mehr im Klaren,
als der größere Theil der philoſophirenden
jüngern Generation, der mit mitleiderregender
Oberflächlichkeit von der gänzlichen Nebenſäch—
und der „Kritik der Urtheilskraft“ ſpricht,
um die Bedeutung der „Kritik der reinen
Vernunft“ zu erhöhen,
Harms dieſe nur für die Propädeutik hält
und bemerkt, Kant ſtehe ſchon in der „Kritik
der reinen Vernunft“ auf dem Standpunkt
der „Kritik der praktiſchen Vernunft“.
Mit richtigem Blick verlegt der Verf.
das Weſen der Kantiſchen Kritik der reinen
Vernunft in die Unterſuchung über das Er—
fenntnigvermögen des Menſchen: „Denn
durch dieſe Unterſuchung hat Kant neue
Gedanken über die Erkenntniß geltend ge—
macht und angeregt,
ung der deutſchen Philoſophie bewirkt haben,
während das Endergebniß nur innerhalb
der kritiſchen Philoſophie oft mit großer
Halsſtarrigkeit feſtgehalten worden iſt.“ —
Harms durch die Kritik der anderen
Werke Kants erworben. Die ernſte
Wiſſenſchaft wird ihm dafür Dank wiſſen,
wenn auch nicht anzunehmen iſt, daß ſein
Werk jemals ſelbſt im beſten Sinne po—
pulär werden wird.
Im weitern Verlauf deſſelben begegnen
wir ihm bei der Darſtellung und Kritik
der abſoluten Philoſophie von Fichte,
Schelling und Hegel. Weit entfernt,
das „überſchwängliche Ideal des Wiſſens“,
nachdem die abſolute Philoſophie begehrt, zu
durch den befruchtenden Regen der empi—
während Herr
welche eine Fortbild⸗
des Kantianismus als das wahre Weſen
beugen.
Nicht geringeres Verdienſt hat ſich Hr.
an wiſſenſchaftlichem Material überreiches
lichkeit der „Kritik der praktiſchen Vernunft“
Literatur und Kritik.
loſophie mit ihrem verblüffenden Schwulſt,
ihren ſophiſtiſchen Akrobatenkünſten und
ihren myſtiſch-naturphiloſophiſchen Exceſſen
bekennen. Wenn wir ſchon die übermäßige
1 Fichte's und die Prophezei—
ung, ſeine Philoſophie ſei die Philoſophie
der Zukunft, mit Rückſicht auf die hohe phi—
loſophiſche Begabung und manche hervor—
ragende Einzelſtellung Fichte's hinnehmen
und dieſen in mancher Hinſicht großartigen
Leiſtungen zu Liebe zu einer Erhöhung
Fichte's in den Augen der Nachgeborenen
die Hand bieten wollten: ſo erſcheint es doch
geradezu widerſinnig, vom Standpunkt der
heutigen Wiſſenſchaft noch in das myſtiſche
Chaos Schelling's, dieſes wankelmüthi—
gen, Principien wechſelnden „Naturphiloſo—
phen“ zu tauchen, oder gar vor dem „ab—
ſoluten Geiſt“ Hegel's, dieſem Geßler—
Hut eines pſeudo-philoſophiſchen Geſchlechtes
und dem Inbegriff aller philoſophiſchen und
politiſchen Afterweisheit, das Haupt zu
Der „vulgäre Hegelianismus“ iſt
eine nothwendige Folge dieſer nur durch
unterſchätzen, können wir uns aber in unſern
Schaden klug machenden Philoſophie.
Allerdings hat Hr. Harms nicht er—
mangelt, bedeutende Fehler des Schelling—
ſchen und Hegel'ſchen Syſtems, wenn man
von einem Syſtem im beſſern Sinne
bei dieſen beiden ſprechen kann, hervor—
zuheben, ja ſelbſt den von ihm ſo
übermäßig hochgeſtellten, gleichſam zum
philoſophiſchen Meſſias proclamirten Fichte
eingehend und ſcharfſinnig zu kritiſiren,
aber es ſcheint, als ob der hervorragende
Kritiker Kant's allzu ſehr dem im Nebel—
haine liegenden Ideal der abſoluten Philo—
ſophie nachjagte und um dieſen Preis auch
dieſe ſelbſt mit ihrer Superklugheit und
Afterweisheit mit in den Kauf nehme. Man
riſchen Erkenntniſſe geläuterten Atmoſphären |
unmöglich zu Nachbetern der abſoluten Phi— | Hegelianismus“ nur eine „literarhiſtoriſche“
muß dagegen proteſtiren, daß der „vulgäre
|
„
Literatur und Kritik.
Bedeutung habe. Der große Hegel ſelbſt
mit ſeinem „noch nie dageweſenen“ philo—
ſophiſchen Syſtem, mit ſeinem „abſoluten
Geiſt“ und ſeiner philoſophiſchen Staats—
klugheit hat das geringe Maß von Ver—
nunft, das durch ſeine Philoſophie und ihre
verderblichen Conſequenzen zahlreichen Uni—
verſitäts- und Staats -Philoſophen ver—
blieben iſt, auf dem Gewiſſen. Hegel
und Schelling verdanken wir in direkte—
ſter Linie die meiſten ungenießbaren Ge—
richte aus der Küche der nachkantiſchen
Philoſophie. Der alte Kant hat die Hand
nicht im Spiele gehabt, es wäre denn durch
die Vermittelung ſeines „Fortbildners“
Fichte, der, abgeſehen von ſeinen bedeuten—
den Leiſtungen auf dem Gebiete der Ethik,
angehenden Philoſophen als abſchreckendes
Beiſpiel eines ſchwülſtigen Philoſophirens
in den Maulwurfsgängen eines bis zum
Ueberdruß geplagten Wortes (des zu Tode
gehetzten „Ich“) angeführt werden darf.
Gerne geſtehe ich Herrn Harms zu, daß
die abſolute Philoſophie eine Fortbildung,
ja eine nothwendige Folge der Kantiſchen |
Philoſophie war. Aber eben fo ſehr halte
ich mit vielen philoſophirenden Gelehrten
von erſtem Range daran feſt, daß wir
durch dieſe eigentlichen Sophiſten der deut-
ſchen Philoſophie, im helleniſchen Sinne des
Wortes, nichts haltbares, kein „frucht—
bares Bathos“ für die Philoſophie ge—
wonnen haben. Correktiv und regulativ
mögen ſie, Fichte ganz beſonders, auch
ſpäterhin noch wirken.
vernunft nicht mehr zugeſtehen. Der Ruf
zur Rückkehr auf Kant wird immer lauter,
auf der andern Seite geht der Philoſoph
ins Heerlager der empiriſchen Forſcher.
Vortrefflich iſt im Großen und Ganzen
Aber conſtitutiven
Einfluß dürfen wir insbeſondere dem Pan-
logiſten Hegel im Intereſſe der Menſchen-⸗
377
die Darſtellung und Kritik der Philoſophie
von Schleiermacher, Herbart und
Schopenhauer. Während den beiden
erſten vielleicht zu viel nachgeſehen wird,
geht Hr. Harms mit letzterem wohl zu
ſtrenge ins Gericht. Nur den „Unbewuß—
ten“ hat Hr. Harms unſeres Erachtens
zu glimpflich und mit einem philoſophiſchen
Ernſt behandelt, der ihm gar nicht zukommt.
Fr. v. Baeren bach.
Der Farbenſinn. Mit beſonderer Be—
rückſichtigung der Farbenkenntniß des
Homer. Von W. E. Gladſtone,
ehemaligem Premierminiſter von Groß—
britannien und Lordrektor der Univerſität
Glasgow. Autoriſirte deutſche Ueber—
ſetzung. Breslau 1878. J. U. Kern
(Max Müller).
Gladſtone hat 1858 in ſeinen „Homer—
iſchen Studien“ zuerſt die Behauptung auf-
geſtellt, daß die alten Griechen nicht im
Stande geweſen ſeien, die Farben zu unter—
ſcheiden, und hat ſich durch die beiden in
dieſer Zeitſchrift“) energiſch zurückgewieſenen
Schriften von Magnus veranlaßt geſehen,
dieſes philologiſche Mißverſtändniß noch
weiter zu vertiefen, wobei er ſämmtliche
Farbenbezeichnungen des Homer der Reihe
nach unterſucht und ihren Sinn erläutert
hat. Wie ſich früher Magnus auf
Gladſtone geſtützt hat, ſo ſtützt ſich nun
Gladſtone auf Magnus, wodurch die
aufzuhellende Sache ſtatt klarer immer dunk—
ler wird. Magnus hat, wie wir früher
zeigten, das Mißverſtändniß begangen, die
Farben nach der ſpektralen Reihenfolge zu
ordnen und das Roth für die hellſte Farbe
auszugeben, violett für die dunkelſte, während
in Wahrheit Gelb die hellſte Farbe des
) Bd. I. S. 264 u. flgde.; S. 428 u. flgde.
Kosmos, Band III. Heft 4.
Spektrum iſt und im praktiſchen Leben ſehr
lichtreiche blaue und violette Farben
neben ſehr dunklen rothen Tönen in Be—
tracht kommen. Gladſtone, der von der
phyſikaliſchen Seite der Frage nicht die
leiſeſte Ahnung beſitzt, und noch immer in
Sachen Goethe contra Newton in
Zweifel iſt, wer Recht habe, findet nun ſehr
ſonderbar, daß ſo viele Worte, die Homer
zur Bezeichnung des Rothen (als der nach
Magnus lichtreichſten Farbe) gebraucht,
als phoinix, daphoinos, porphyreos,
oinops u. |. w, eine im zweifachen Sinne
jo „dunkle“ Bedeutung haben. Während
Magnus dem Homer wenigſtens die klare
Empfindung des Rothen zuſchreibt, iſt
Gladſtone nun auch darüber in Zweifel
gerathen, alles ſoll ſich dem Sänger der
Ilias in unentſchiedene düſtere Farben ge—
kleidet haben, ſelbſt „der Regenbogen war
für Homer's Auge dunkel“. Dieſen ſonder—
baren Schluß zieht Gladſtone aus Ilias
XI. 23, wo Homer die drei als Verzierung
auf dem Bruſtſchild des Agamemnon an—
gebrachten Schlangen mit dem Regenbogen
vergleicht und fie zugleich kyaneoi nennt.
Nach der deutſchen Ausgabe der Glad—
ſto ne 'ſchen Schrift wäre dieſes Wort am
beſten mit „bronzefarbig“ wiederzugeben,
was wohl aber nur ein Mißgriff des Ueber—
ſetzers iſt, denn bronzefarbig wäre ja ein
gelber Farbenton; Gladſtone hat an
allen dieſen Stellen wohl brass-colour oder
chalybeate in dem Sinne von erzfarbig
378 Literatur und Kritik.
oder ſtählern, ſtahlblau gebraucht? Herrn
Gladſtone wird es aber nicht unbekannt
ſein, daß die Alten es verſtanden, auch dem
Kupfer und ſeinen Legirungen durch Be⸗
handlung mit Schwefel eine ſchöne blaue
braunroth und kaſtanienbraun bei Homer
Farbe mitzutheilen, und daß ſie dieſes zu
eingelaſſenen und aufgenieteten Zierrathen be—
nutzte Blauerz ſchlechthin Kyanos d. h. das
blaue Metall nannten. Schliemann hat
derartige blaue Metallzierrathen gefunden,
und Landerer in Athen hat bei der Ana—
lyſe Schwefelkupfer nachgewieſen. Es handelte
ſich alſo in jenen mit goldenen und weißen
Streifen abwechſelnden Schlangen auf dem
Bruſtſchilde des Agamemnon um lebhaft
blaue Streifen, die ſich um ſo eher dem
Regenbogen vergleichen ließen, als die gelben
vielleicht dicht daneben verliefen. Auch den
übrigen Farbentifteleien Gladſtone's
können wir keineswegs beiſtimmen. Was
ſollen z. B. dieſe Quälereien um die Be—
deutung von chloros, welches Wort Homer
zehnmal zur Bezeichnung der blaſſen Furcht
gebraucht. Ein erbleichender Menſch ge—
winnt namentlich bei dem dunklen Teint der
Südländer gar leicht einen grünlichen Ton,
und ich wollte, Herr Gladſtone hätte das
Gretchen oder die ſterbende Julia von Ga—
briel Max geſehen, um zu wiſſen, wie weit
ein Maler in der grünlichen Nüancirung
eines bleichen Antlitzes gehen darf, ohne
unnatürlich zu werden. Ganz richtig be—
merkt Gladſtone, daß das Wort an
einigen Stellen bei Homer die Bedeutung
von „friſch“ habe, wie wir von grünem
Holz und grünen Heringen reden. Chloreis,
wo es Homer als Eigenſchaftswort der
Nachtigall gebraucht, wird ganz prächtig mit
grünliebend überſetzt, weil ſie faſt immer
im grünen Unterholz lebt, gleich darauf
kommt aber eine tiefſinnige Betrachtung, ob
man nicht doch das Wort beſſer mit roſt—
roth überſetzen müſſe, weil dies die vor—
herrſchende Farbe der Nachtigall ſei! Durch
ähnliche Kunſtſtücke wird denn auch heraus—
gebracht, daß xanthos nicht, wie wir bis—
her glaubten, hellgelb oder blond, ſondern
bedeute. Zum Glück waren ſolche An—
wendungen wie „blaues Blut“, „grüner
Junge“, „rother Republikaner“ in den
altgriechiſchen Zeiten noch nicht ſo gewöhn—
lich wie z. B. in den byzantiniſchen, wo
die politiſchen Parteien bereits lebhaft „ge—
färbt“ erſchienen, ich ſage zum Glück, denn
was hätte ſich nicht aus dem „blauen
Blut“ und ähnlichen Ausdrücken alles be—
weiſen laſſen! Die beſte Kritik, die man
über die Gladſtone'ſche Schrift geben
kann, hat Herr W. Robertſon Smith in
einem Briefe an die engliſche Zeitſchrift
Nature (Dezember 1877. Nr. 423) ge⸗
geben, indem er einfach eine Stelle des
Athenäus (XIII. c. 81) mittheilt, nach
welcher ein alter griechiſcher Schulmeiſter
ſich beim Sophocles beklagt haben ſoll,
daß die Poeten die Farbennamen ſo wenig
ihrem Sinne und der Natur entſprechend
verwendeten. Sophocles beweiſt ihm, daß
die Dichter ihr gutes Recht gebrauchen,
wenn ſie purpurne Wangen und goldenes
Haar beſingen, obwohl beide im ſtrengen
Wortſinne nicht eben ſchön ſein würden,
und ſchließlich wird der pedantiſche Schul—
meiſter von allen Zuhörern ausgelacht. Es
ſei ferne von uns hier irgend eine Paral—
lele ziehen zu wollen, aber jedenfalls müſſen
wir den Verſuch als im Keime verfehlt
betrachten, ſubtile phyſikaliſche und entwick—
lungsgeſchichtliche Fragen gegen alle Wahr—
ſcheinlichkeit aus dem freien und ſchwankenden
Wortgebrauche der Dichter herleiten zu wollen.
Da der Referent eine abweichende und an—
ſcheinend vollkommen befriedigende Erklärung
der auffallenden Unſicherheit alter Schrift—
ſteller im Gebrauche der Farbwörter ge—
gegeben hat, ſo müßte er dem Herrn Ueber—
ſetzer allerdings einen Vorwurf daraus
machen, wenn er Herrn Gladſtone, als
er mit ihm in Verbindung trat, nicht auf
dieſe Einwürfe ausdrücklich aufmerkſam ge—
macht hätte.
Es erſcheint dem Referenten
Literatur und Kritik. 319 "
durchaus wahrſcheinlich, daß Herr Glad—
ſtone ſich ſeiner Auffaſſung angeſchloſſen
haben würde, denn er kommt am Schluſſe
ſeiner Arbeit zu faſt der gleichen Anſicht,
nämlich, daß zu Homer's Zeiten der Ge—
brauch beſonderer Farbworte mit vereinzelten
Ausnahmen noch gar nicht fixirt gewe—
ſen iſt. Gladſtone vergleicht nämlich
die Ilias und Odyſſee nach ihrem relativen
Reichthum an Licht und Farbenbezeichnungen,
und findet, daß die gleiche Verszahl der
Ilias im Durchſchnitte drei Farbenbezeich—
nungen gegen zwei der Odyſſee enthalte.
Er entnimmt daraus Wahrſcheinlichkeits—
beweiſe für die Hypotheſe, „nach der die
Ilias als das Erſtlingswerk einer feurigen
und an Einbildungskraft reichen dichteriſchen
Phantaſie, die Odyſſee dagegen als das
Produkt eines gereiften und darum weniger
empfänglichen Geiſtes anzuſehen ſei.“ Glad—
ſtone benützt die Licht- und Farbworte
ferner, um die nur durch genaueſte Einzel—
betrachtung zu löſende Frage, ob die Ilias
und Odyſſee von einem oder mehreren
Verfaſſern herrühren, ihrer Entſcheidung
näher zu bringen, und ſagt hierüber unter
anderen: „Noch auffallender iſt die Ueber—
einſtimmung des Materials oder des geiſtigen
Stoffes, über den der Dichter bei dem
Gebrauche der wirklichen Farben-Ausdrücke
verfügte. Die 58 Farbenbezeichnungen der
Ilias ſind aus der gleichen Quelle geſchöpft
wie die 31 der Odyſſee. . . Dieſe Gleich—
artigkeit in der Bezeichnung von Licht und
Farbe berechtigt zu der Annahme, daß beide
Dichtungen denſelben Verfaſſer haben. Doch
nur aus dem Grunde, weil, was ich in der
vorliegenden geſammten Abhandlung darzu—
thun beſtrebt bin, Homer die Farben nicht
als ſolche auffaßte, ſondern ſich zur Be—
zeichnung derſelben der Bilder bediente;
ſeine Farbenausdrücke ſind Gleichniſſe, welche
—ůů
en,
380
er ſeiner Umgebung entlehnt; er erklärt die
Farben mehr durch Beiſpiele, als er ſie
beſchreibt. Und deshalb iſt das Wort
erythros, welches den abſtrakten Begriff
einer Farbe enthält und nicht von einem
der Sinnenwelt angehörigen Objekte ent—
nommen iſt (2 Ref.), ſelten im Homer zu
finden. Das Gleiche gilt von xanthos;
am häufigſten pflegt eben Homer von Roſen-,
Wein-, Feuer-„Blauerz- (nicht Bronze-) Farbe
u. ſ. w. zu reden. Wie wäre es nun wohl
denkbar, daß in einem Zeitalter, wo Farben
lediglich auf dieſem Wege des Gleichniſſes
geſchildert wurden, zwei verſchiedene Dichter
ſich der nämlichen Bilder in ſo auffallender
Uebereinſtimmung bedient haben ſollten?
Zu jener Zeit gab es eben noch keine feſt—
ſtehende Farben-Terminologie und darum
war es die Aufgabe eines wahren Dichters
ſich eine ſolche zu ſchaffen.“
Die letztere Bemerkung, die mit unſe—
rer Anſicht völlig übereinſtimmt, iſt un—
zweifelhaft richtig, aber die Schlüſſe, welche
Gladſtone daraus zieht, — Unvollkom—
menheit des Farbenſinns der alten Griechen,
— ſind durchaus hinfällig und auch den
Schluß, daß die Uebereinſtimmung der
Farbengleichniſſe die Einheit der homeriſchen
Lieder beweiſe, halten wir für ſehr gewagt.
Die Gleichnißworte weinroth, roſenfarben,
feuerfarben find noch heute als Nüance—
Bezeichnungen in Gebrauch, und der Unter—
ſchied iſt nur, daß ſie damals mit geringe—
rer Beſtimmtheit für roth, rothgelb und
rothbraun im Allgemeinen gebraucht wurden.
Ueberhaupt verharre ich dabei, daß ſämmt—
liche Farbennamen urſprünglich von den
Bezeichnungen beſtimmter Dinge oder Thä—
tigkeiten hergeleitet worden ſind, ſo auch
das von Gladſtone für ein abſtraktes
Farbwort ausgegebene erythros. Die
Wurzel ryth, rut (rutilus) roth, verräth
Literatur und Kritik.
ſchon durch ihr Vorkommen in vielen indo—
germaniſchen Sprachen ihren Urſprung aus
dem Sanſcrit und da finden wir in der
That, daß rudbira Blut bedeutet. Eben—
jo ſtammt das Wort kyanos, wie in dieſen
Unterſuchungen zum Ueberdruß behauptet
worden iſt, nicht von einem Abſtraktum,
welches die Dunkelheit oder Schwärze be—
deutet, ſondern von dem Sanſcritworte
cjanas, Rauch, und das Wort blau ſtammt
nach der Ueberzeugung der beſten neuern
Sprachforſcher (Graff, Lexer, Gebr.
Grimm, Weigand u. Al.) nicht, wie
Geiger meinte, von dem nordiſchen bla
ſchwarz, ſondern von dem Zeitwort bleuen,
althochdeutſch bliuwan (pliuwan), blivan,
mittelhochdeutſch bliuwen, bliwen, welche
wie das griechiſche Ace und das latei—
niſche fligere ſchlagen, prügeln be—
deuten. Das Farbwort wäre demnach von
dem Ausſehen gebleueter Perſonen her—
genommen, ein allerdings ſehr ſonderbarer
Urſprung. Aber irgend woher mußten die
Farbworte genommen werden und die ur—
ſprüngliche Unſicherheit des Gebrauches iſt
der beſte Beweis ihrer allmäligen Einbür—
gerung. Auch die Luft hat, weit entfernt,
in ihrer Bläue nicht erkannt worden zu
ſein, wie man vorgiebt, vielmehr einer An—
zahl von Namen für blau Urſprung ge—
geben, fo den Worten aerinos (himmelblau)
aerizusa, Türkis, aeroides, dem Namen
einer Art Beryll und wahrſcheinlich auch
aerugo, der oft himmelblaue Grünſpan,
von deſſen grüner Varietät wieder ſpan—
grün abſtammt. Statt alſo aus dem
Umſtande, daß die Alten ihre Farbworte
auf ſo viele ſehr verſchieden näancirte Gegen—
ſtände ausdehnten, zu ſchließen, die Farben
ſeien von ihnen nur unklar empfunden
worden, müſſen wir vielmehr die Feinheit
des Sinnes bewundern, die z. B. in der
Literatur und Kritik.
blaſſen Geſichtsfarbe noch den grünlichen Ein Anhang über Fang, Zucht und Prä—
Ton, in der braunen Farbe der Pferde
und Rinder das Rothe und in der Rauch-
erkannte.
farbe die blaue Beimiſchung
Nichts iſt natürlicher, als daß dieſe Rauch-
farbe mit dem Blau der Ferne und mit
der Dunkelheit zuſammen geworfen wurde,
aber nicht die Dunkelheit, ſondern der Bes |
griff des Bläulichen war das Urſprüngliche
in dem Worte kyanos und ſo tritt die
ganze Bodenloſigkeit jener Hypotheſen mit
jeder weiteren Verfolgung deutlicher ins Licht.
K.
Dr. Friedrich K. Knauer. Natur—
geſchichte der Lurche (Amphibiologie).
Eine umfaſſende Darlegung unſrer
Kenntniſſe von dem anatomiſchen Bau,
der Entwickelung und ſyſtematiſchen Ein—
theilung der Amphibien, ſowie eine ein—
gehende Schilderung des Lebens dieſer
Thiere. Mit 120 Alluſtrationen, 4
Holzſchnitten und 2 Tabellen. Wien,
1878, A. Pichler's Witwe und Sohn.
Die erſte und größere Hälfte dieſes
Buches enthält eine fleißige Zuſammen—
ſtellung der vergleichenden Anatomie und
Entwickelungsgeſchichte der Lurche nach Ge—
genbauer und Götte, dann eine ſyſte—
matiſche Ueberſicht, die aber bei den aus—
ländiſchen Gattungen und Arten nur auf
eine namentliche Aufzählung der Arten und
ganz knappe Charakteriſtik der Gattungen
ausgedehnt wird, einen Abriß der Paläon—
tologie und der Geographie (nach Wallace)
und die Bibliographie der Lurche. In dem
zweiten allgemein beſchreibenden und ſchil—
dernden Theil, hat der Verfaſſer nach ſeinen
eigenen Beobachtungen das Leben ungefähr
derſelben europäiſchen und ausländiſchen
Gattungen geſchildert, die auch in Brehm's
Thierleben Berückſichtigung gefunden haben.
parirung der Lurche macht den Beſchluß.
Die Abbildungen ſind überwiegenden Theils
den erwähnten Autoren entlehnt. Dem
Buche fehlt unſerem Gefühle nach die Ein—
heitlichkeit, denn während der erſte Theil
nur Leſern verſtändlich ſein wird, die ver—
gleichende Anatomie und Entwickelungsge—
ſchichte ſtudirt haben, und die ſyſtematiſche
Ueberſicht nicht einmal aus jeder Familie
einen Vertreter genauer beſchreibt, wendet
ſich der zweite in ziemlicher Breite an den
Laien, ja dem Tone nach ſogar an mehr
jugendliche Leſer, vielleicht in dem Sinne,
daß der Lehrer dieſes Material unmittelbar
verwerthen möge. Aus Rückſicht auf die
Jugend iſt denn auch wohl jedes nähere
Eingehen auf phylogenetiſche Betrachtungen,
zu denen die Lurche faſt unwiderſtehlich
auffordern, ängſtlich vermieden worden.
Das Buch dürfte ſich beſonders für Lehrer
an Mittelſchulen eignen und kann den—
ſelben als eine im Uebrigen verdienſtliche
Arbeit empfohlen werden.
Deutſches Archiv für Geſchichte der
Medicin und mediciniſche Geo—
graphie. Unter Mitwirkung zahlreicher
Forſcher und Gelehrten herausgegeben
von Heinrich Rohlfs in Göttingen
und Gerhard Rohlfs in Weimar.
Leipzig, C. L. Hirſchfeld 1878.
Mit warmer Sympathie begrüßen wir
das Erſcheinen dieſer Zeitſchrift, welche das
Prinzip der entwickelungsgeſchichtlichen Stu—
dien auch auf die Wiſſenſchaft und Lehre,
der Medicin und mediciniſchen Geographie,
überträgt. Sehr wahr ſagen die Heraus—
geber in den einleitenden Worten, daß ſich
dieſe Richtung nicht nur in keinem Gegen—
ſatze zu der rein empiriſchen, naturwiſſen⸗
382 Literatur und Kritik.
ſchaftlichen Medicin befinde, ſondern als
deren nothwendige Ergänzung betrachtet
werden müſſe, ſofern erſt die hiſtoriſche Be—
trachtung der Syſteme und Richtungen zu
dem richtigen Standpunkte für das tiefere
Verſtändniß und für die Kritik führt. Das
erſte Heft bringt außer einigen einleitenden
Artikeln ein Lebensbild Harvey's von
Baas, Militärmediciniſches aus dem
Morgenlande von Fröhlich, eine Studie
über die hiſtoriſche Entwickelung des augen—
ärztlichen Standes von Magnus und
einen Artikel über das Wechſelverhältniß
der National-Oekonomie zur Hygiene von
Heinrich Rohlfs. Dazu zahlreiche
Kritiken über einſchlägige neue Bücher und
Miscellen. Das ſtattliche Namensverzeich—
niß der Gelehrten, welche ihre Mitarbeit
zugeſagt haben, bürgt neben denjenigen der
Herausgeber für den reichen und gediegenen
Inhalt der Zeitſchrift, welcher es hoffentlich
nicht an der verdienten Theilnahme in
mediciniſchen und culturhiſtoriſchen Kreiſen
fehlen wird.
Abnahme des Vienenſleißes in
Auſtralien.
Engliſche Zeitungen berichteten, ohne
übrigens ihre Autoritäten namhaft zu
machen, von eigenthümlichen Gewohnheiten,
welche aus Europa in Auſtralien einge—
führte Honigbienen daſelbſt angenommen
haben ſollen, Gewohnheiten, die, ſo unan—
genehm ſie den Bienenzüchtern ſein müßten,
ein deſto größeres Intereſſe für den Natur-
forſcher darbieten würden. Die europäiſchen
Bienen ſollen nämlich ihren, wie man ſonſt
annahm, angeborenen Fleiß und ihre Sorg—
ſamkeit für den Winter dort nur in dem
erſten und höchſtens noch in dem zweiten
Jahre nach ihrer Einführung bethätigen,
ſpäter aber ſollen ſie in den Gegenden, wo
ſie es nicht nöthig haben, aufhören, Honig
einzuſammeln und gänzlich anfangen „von
der Hand in den Mund“ zu leben, wie
andere Inſekten auch. Da es nun doch
ſonſt in tropiſchen Gegenden genug Vorrath
einſammelnde Bienen und Wespen giebt,
ſo iſt nicht recht erſichtlich, warum ſie ge—
rade in Auſtralien ihr Capua finden ſoll—
ten; es müßte denn ſein, daß hier in ge—
wiſſen Gegenden die Vegetationspauſen noch
kleiner wären, als anderswo. Wir theilen
die an ſich nicht beſonders wahrſcheinliche
Angabe nur mit, um einen oder den an—
deren unſerer auſtraliſchen Abonnenten zur
Einziehung genauerer Nachrichten zu ver—
anlaſſen.
—
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
e
du Prel, Die Planetenbewohner.
wir haben feine Bürgſchaft für die Vollend—
ung des Anpaſſungsproceſſes, dem er unter—
liegt. Schon aus der allmäligen, von
ſehr einfachen Organen ausgehenden Ent—
wickelung der Sinne folgt, daß auch der
Verſtand, als Sammelpunkt der Eindrücke,
erſt in allmäliger Entwickelung ſeine der—
zeitige Beſchaffenheit erwerben konnte; und
wie die Sinne als Orientirungsorgane ſich
mehr und mehr der Außenwelt anpaſſen,
ſo auch der Verſtand, der Ausleger der
Sinneseindrücke, in der Weiſe, daß wir
die Grundformen des Seins als Erkennt—
nißformen erwerben.
Kant, indem er in ſeiner tiefſinnigen
Frage: „Wie find ſynthetiſche Urtheile a
priori möglich?“ das Problem dieſer
Parallelität des Naturverlaufes und unſerer
Ideen, dieſer gleichſam präſtabilirten Har—
monie zwiſchen Denken und Sein unter—
ſuchte, beantwortete die Frage durch den
transcendentalen Idealismus. Solche Ur—
theile ſind nur möglich, wenn Zeit, Raum
und Cauſalität ſubjektive Erkenntnißformen
ſind, welche das Ding an ſich für unſer
Erkennen ähnlich umwandeln, wie die Sinne
die objektiven Vorgänge verwandeln.
löſt ſich die Welt in Schein auf.
Die Frage hat aber noch eine andere
Seite. Wir müſſen nicht nur fragen, wie
ſynthetiſche Funktionen des Intellekts a
priori möglich ſeien ihrem logiſchen
So
Inhalte nach, ſondern auch, wie folde |
Intellekte jelbft, als Thatſachen des
biologiſchen Proceſſes, möglich ſeien? Dieſe
letzte Frage aber, welche Kant nicht weiter
in Betracht zog, führt nothwendig zum
transcendentalen Realismus. Wie jedes
Organ des menſchlichen Leibes im Ver—
laufe des biologiſchen Proceſſes durch all—
mälige Umwandlung entſtanden iſt, ſo kann
ſich auch der menſchliche Intellekt nur all—
Kosmos, Band II. Heft 5.
391
mälig im Sinne der Anpaſſung entwickelt
haben, und ſeine Funktionen müſſen gleich
den Funktionen aller Organe als erworbene
und durch Vererbung befeſtigte Anlagen
angeſehen werden. Da nun eine Anpaſſung
nur geſchehen kann auf Grund einer ge—
iſt.
gebenen Realität, an welche ſie ſtattfindet,
ſo ſtehen wir vor dem Realismus, aber
vor dem transcendentalen Realismus, weil
wir kein Recht haben, dieſen Anpaſſungs—
proceß als vollendet anzuſehen, und — wie
es der Materialiſt thut — die vorgeſtellte
Welt für identiſch mit der Welt an ſich
zu halten.
Wie die Entwickelungsfähigkeit der
Sinne muß auch die Entwickelungsfähigkeit
des Intellekts bezüglich feiner aprioriſchen
Erkenntnißformen zugeſtanden werden. Hin—
ſichtlich der Cauſalität leuchtet dies von
ſelbſt ein: jede neue Entdeckung vermehrt
das Wiſſen, d. h. die Uebereinſtimmung
zwiſchen der Verknüpfung realer Dinge und
idealer Vorſtellungen. Aber auch qualitativ
hat ſich die cauſale Anſchauung des Men⸗
ſchengeſchlechtes verändert, indem das Er—
kennen von der Verknüpfung der Dinge
durch ſpiritualiſtiſche Agentien zur natur—
wiſſenſchaftlichen Cauſalität fortgeſchritten
Auch hinſichtlich der Zeit unterliegt
die Sache keiner großen Schwierigkeit; die
Zeitanſchauung entſteht dadurch, daß unſere
Empfindungen und Wahrnehmungen ſich in
unſerem Bewußtſein folgen. Dieſe ſubjek—
tive Veränderung projiciren wir nach außen
als continuirliche Bewegung, die ſich von
der Beharrlichkeit unſeres identiſchen Selbſt—
bewußtſeins als Zeitform abhebt, was nicht
der Fall ſein könnte, wenn unſer Selbſtbe—
wußtſein nach jeder Empfindung ausſetzen
oder etwa mit den Empfindungen gleich—
mäßig ſich verändern würde, oder endlich
wenn die Empfindungen in immer gleicher
50
392
du Prel, Die Planetenbewohner.
Beſchaffenheit ununterbrochen aufeinander
folgten. Durch Wahrnehmung alſo kommen
wir zur Zeitanſchauung. Eine leere Zeit
hat kein Tempo. Das Tempo der Zeit
wird beſtimmt durch die Raſchheit, in
welcher die Reaktion der Sinne auf Ein—
wirkungen eintritt, weil dieſe Raſchheit die
Summe der möglichen Eindrücke beſtimmt.
Wie in unſerem Bewußtſein ſich die Ver—
änderungen folgen, ſo meſſen wir auch das
Tempo der Zeit ab, raſch oder langſam;
hätten wir eine kürzere oder längere Zeit
nöthig, uns eines Eindrucks bewußt zu
werden, alſo ein anderes ſubjektives Grund—
maß der Zeit, ſo würden wir auch eine
Zeitanſchauung von verändertem Tempo
conſtruiren. Weſen dieſer Art würden
Vorgänge wahrnehmen, die uns entgehen,
weil ſie zu raſch aufeinanderfolgen oder
nicht genug andauern, um von unſerem
Bewußtſein erfaßt zu werden; ſie würden
vielleicht eine Blume unmittelbar wachſen
ſehen, die uns beharrlich erſcheint, oder
wo umgekehrt wir beſtändige Veränderung ge—
wahr werden, würden ſie Beharrlichkeit finden.
Die Veränderungen in unſerem Be—
wußtſein folgen ſich aber nicht mit der
Raſchheit der äußeren Veränderungen, von
welchen uns viele entgehen; es iſt alſo hin—
ſichtlich der Zeitanſchauung der menschliche
Intellekt der Außenwelt nicht vollkommen
angepaßt, und nur für die praktiſchen Zwecke
unſerer derzeitigen Organiſation genügt der
vorhandene Grad der Anpaſſung.
Da wir nun wiſſen, daß ungleich mehr
Veränderungen der Dinge eintreten, als
wir wahrzunehmen vermögen, daß jede an—
ſcheinende Beharrlichkeit nur auf einer Täuſch—
ung der Sinne beruht, und das Weſen
des Weltproceſſes eine continuirliche Ver—
änderung iſt, andererſeits aber die Zeitan—
ſchauung als entwickelungsfähig bezeichnet
werden muß im Sinne der Anpaſſung, ſo
wäre dieſe Anpaſſung erſt vollendet, wenn
allen äußeren Veränderungen ſolche in un—
ſerem Bewußtſein correſpondiren würden.
Die Entwickelung der Zeitanſchauung muß
alſo die allmälige Verkürzung der zeitlichen
Maßeinheit nach ſich ziehen, die wir an die
Natur heranbringen; das ſubjektive Leben
im Kosmos muß ein immer raſcheres
Tempo annehmen. Je mehr Veränder—
ungen uns bewußt würden, deſto größer
wäre auch die Uebereinſtimmung zwiſchen
Denken und Sein; je unaufhaltſamer und
eiliger uns der ewige Fluß der Dinge er—
ſcheinen würde, deſto näher ſtünden wir
auch der wahren Anſchauung der Dinge.
Was endlich die Raumanſchauung be—
trifft, ſo iſt auch dieſe ein ſubjektiver Akt.
Wir unterſcheiden in unſeren Wahrnehmun—
gen die Mehrheit der einzelnen Momente
und verbinden ſie zu einer Ausdehnungs—
größe. Wo in einer gleichen Wahrnehm—
ung dieſe Mehrheit fehlt, wie bei den in
ſich einfachen und keine Unterſcheidung ge—
ſtattenden Empfindungen des Geſchmacks
und Geruchs, fehlt auch das Vermögen
der Localiſation.“) Wenn demnach irgend—
wo Weſen auf ſolche in ſich einfache Em—
pfindungen reducirt wären, würde ihnen
auch die Raumanſchauung fehlen; freilich
dürfen wir für ſolche Weſen die Entwickel—
ungsfähigkeit dieſer Sinne beanſpruchen,
die ja auch unter den irdiſchen Organismen
verſchiedenartig ausgebildet ſind, und deren
Weiterbildung bei uns wohl nur durch das Hin—
zukommen höherer Sinne überflüſſig wurde.
Subjektiv ſind wir aber auch bezüglich
des Grundmaßes, deſſen wir zur Con—
ſtruktion des Raumes bedürfen; unſere Be—
griffe von Groß und Klein wären andere,
y 5 Huber: die Forſchung nach der
Materie. S. 37.
du Prel, Die Planetenbewohner.
wenn wir ſelbſt von anderer Ausdehnung
wären. Die Dimenſionen des Raumes,
Höhe, Breite und Tiefe, ſind ebenfalls ſub—
jektiv, und wenn wir ein bloßes kugelför—
miges Auge ohne Leib wären, das im
Raume ſchwebte, ſo würden, wie Liebmann
bemerkte,?) die drei Dimenſionen des
Schauens für uns zuſammenfallen, wir
hätten nur mehr Eine Dimenſion. Ein
leerer Raum endlich würde gar keine Aus—
dehnung haben.
Die Entwickelungsfähigkeit des menſch—
lichen Intellekts bezüglich der Rauman—
ſchauung würde eine Vermehrung der Di—
menſionen im Verlaufe des biologiſchen
Proceſſes beſagen, und ſo erſcheint unter dem
Geſichtspunkte der Entwickelungslehre (? R.)
auch die Annahme einer vierten Dimenſion
des Raumes nicht mehr ſo paradox, als
die rein mathematiſchen und philoſophiſchen
Demonſtrationen ſie erſcheinen laſſen. Daß
in der That im biologiſchen Proceſſe die
Anſchauung der Tiefendimenſion erſt ſpäter
entſtanden iſt, zeigt ſich an der relativen
Unvollkommenheit dieſer Anſchauung gegen-
über den beiden Flächendimenſionen, was
auf einen kürzeren Vererbungsproceß (?) dieſer
Anlage ſchließen läßt. Irrthümer in Be—
zug auf das ſtereometriſche Schauen kommen
nicht nur bei Kindern vor, wenn ſie etwa
nach dem Monde oder den Sternen greifen,
ſondern auch bei operirten Blindgeborenen,
— ein Beweis dafür, daß die Erfahrungen
innerhalb der individuellen Lebensdauer für
die Entwickelung der tiefdimenſionalen An-
ſchauung noch nicht entbehrlich geworden
ſind, daß wir alſo dieſe Anſchauung nicht
fertig mit auf die Welt bringen. Auch
bei Erwachſenen iſt der Sinn für Per—
phie II. 214.
| ) Caspari, Urgeſchichte II. S. 163.
| Anhaltspunkt gegeben hätte, die anſcheinende
| unterſchätzten Tiefe abzuleiten; denn gerade
tiſche Gebilde hielt, mußte man dazu ge—
393
ſogar innerhalb der hierin bevorzugten
Künſtlerwelt, wie ſich leicht in Gemälde—
gallerien erkennen läßt. Bewohner der
Ebene, wenn ſie ins Gebirge kommen,
zeigen ſich in dieſen neuen Verhältniſſen
oft als ſehr ungeſchickte Schätzer der Ent—
fernungen, die ſie faſt regelmäßig zu gering
anſchlagen; ja es kann wohl geſchehen, daß
ſie ſchmale Felſennadeln in großer Höhe
für menſchliche Geſtalten anſehen, da doch
ſolche, ſtünden ſie wirklich dort, kaum zu
unterſcheiden wären.
Als das Auge des prähiſtoriſchen Men—
ſchen ſich vom Erdboden erhob, und die
leuchtenden Erſcheinungen am Himmel nach
Analogie der Opferfeuer ſeiner Prieſter—
Zauberer beurtheilte, ſo ſprach ſchon aus
ſolchem Mangel an makrokosmiſcher Er—
habenheit die mangelhafte Entwickelung der
Tiefendimenſion. Es finden ſich aber noch
heute Stämme in Braſilien, bei welchen dieſe
Anſchauung noch ſo wenig entwickelt iſt,
daß ſie den Himmel lediglich für eine höher
gelegene Gegend der Erde halten, die zu—
gleich das Dach derſelben bildet; durch die
Löcher dieſes Daches, das ſie Mumeſeke
nennen, ſtrömt der Regen.“) Wie viele Jahr—
tauſende mögen aber vergangen ſein, bis der
Menſch überhaupt ſeine Aufmerkſamkeit den
kosmiſchen Erſcheinungen zuwendete! Im
Rigveda finden wir noch kein Bewußtſein
des Unterſchieds der Fixſterne von den
Planeten, deren ſichtbare Bewegung einen
Unbeweglichkeit der Fixſterne aus ihrer
wenn man Fixſterne und Planeten für iden—
trieben werden, die Objektivität dieſer Be—
wegungsunterſchiede zu bezweifeln und ſie
vielmehr aus der Verſchiedenartigkeit der
Bm
394 du Prel, Die Planetenbewohner.
Beziehungen zum Auge abzuleiten, was
nur mit Hilfe der dritten Raumdimenſion
möglich geweſen wäre.
Dichteriſchen Ausſprüchen des Alter—
thums dürfen wir zwar kein zu großes
Gewicht beilegen; aber es ſpricht doch für
einen mangelhaften Sinn der Tiefe, wenn
Heſiod ſagt, daß der Himmel und die
Unterwelt gleich weit von der Erde abſtehen,
und, um eine Vorſtellung von dieſer Ent—
fernung zu geben, beifügt, daß ein eiſerner
Amboß 10 Tage lang vom Himmel zur
Erde fallen würde und weitere 10 Tage
von der Erde zur Unterwelt. Das gleiche
gilt vielleicht von den Verſen des Ver—
gilius (Aen. III. 131. 737.), wo er
die Wellen des Oceans bis an die Sterne
gepeitſcht werden läßt, worin zwar ein
bloßer Redeſchmuck liegen mag, bei dem
aber doch die Vorſtellung jenes Mumeſeke
noch durchſcheint, wie ja bekanntlich noch in
der ganzen Kosmologie des theologiſchen
Mittelalters. Auch an den Ausſpruch des
Ariſtarch mag hier erinnert werden, daß
die Sonne ſo groß ſei, wie der Peloponnes.
Die ganze moderne Aſtronomie bezüg—
lich der Fixſterne beruht auf einer beſtän—
digen Correktur unſerer tiefdimenſionalen
Anſchauung, jo daß ſich die Aſtronomen
bereits genöthigt ſahen, den früheren Maß—
ſtab der Meilenentfernung aufzugeben und
einen neuen, den der Lichtzeit, anzuwenden.
„Die Entwickelung der Aſtronomie zeigt
uns das allmälige Entſtehen der dritten
Dimenſion am Himmel im bewußten Er—
kenntnißproceſſe, während wir uns dieſes
empiriſch phyſiologiſchen Urſprungs in den
Orientirungsproceſſen des täglichen Lebens
nicht mehr bewußt find.“ *)
Zöllner, Principien einer elektro—
dynamiſchen Theorie der Materie. Vorrede
S. 73.
1
Die Geneſis der Anſchauung der Tiefen—
dimenſion auf der Baſis einer zweidimen—
ſionalen Anſchauung iſt in ſehr intereſſanter
Weiſe von E. v. Hartmann behan—
delt worden.“) Er ſagt: „Hätte in der—
ſelben Weiſe, wie die Sinnesaffektionen
in der Außenwelt ihre Deutung im
Sinne einer dritten Dimenſion erheiſch—
ten, ein praktiſches Bedürfniß ſich heraus—
geſtellt, gewiſſe problematiſche Modifikationen
der Geſichtswahrnehmungen im Sinne einer
vierten Dimenſion des Raumes zu deuten,
und hätten die hieraus gezogenen Conſe—
quenzen und die auf ſie gebauten Hand—
lungen und Experimente dieſelbe eklatante
Beſtätigung gefunden, wie es bei den auf
die dritte Dimenſion gebauten der Fall iſt,
ſo würde ohne Zweifel mit den fraglichen
Modifikationen der Geſichtswahrnehmungen
ſich die Vorſtellung einer vierten Dimen—
ſion in derſelben Weiſe aſſociirt haben,
wie mit den oben angegebenen Modifika—
tionen die Vorſtellung einer dritten Di—
menſion .. Rückwärts können wir
daraus ſchließen, daß die Ordnung der
realen Dinge, in ſo weit ſie für das
Afficiren unſerer Sinne von Einfluß iſt,
ſich thatſächlich in drei Dimenſionen er—
ſchöpft, weil noch nirgend in unſeren
jetzt ſo genau und ſorgfältig durchforſchten
Sinneswahrnehmungen ſich Modifikationen
gefunden haben, welche nicht durch die An—
nahme von drei Dimenſionen ausreichend
erklärt würden.“ In dieſen Worten deutet
Hartmann ſelbſt die Abhängigkeit der
Dimenſionenzahl von den Sinnesaffektionen
an; die Entwickelungsfähigkeit der Sinne,
wodurch uns immer mehr Vorgänge im
beſtändigen Fluſſe der Dinge offenbar
würden, verräth daher auch die bedingte
) Das Unbewußte vom Standpunkte
der Phyſiologie S. 157.
1
9
nenne ... 8
— . . . . . ᷑—.:..:.:x.:. ? 1k y — .tðxtö rv—v¼ñ5ẽ6e —:- ðék—. ͤ— üä— . .̃Ü'ä. ... —.. ͤ—.— — — — — ———— . — v—
Geltung des angezogenen rückwärtigen
Schluſſes. Wenn für unſere gegebene Or—
ganiſation das praktiſche Bedürfniß nach
der Conſtruktion einer vierten Dimenſion
des Raumes fehlt, ſo ſind doch auf ande—
ren Weltkörpern Weſen denkbar, welche bei
größerem Empfindungsmateriale dieſes Be—
dürfniß haben, und welche darum nicht nur zur
begrifflich-hypothetiſchen Annahme einer vier—
ten Dimenſion genöthigt wären, ſondern wel—
chen dieſe ſogar durch das Unbewußtwerden
der genetiſchen Zwiſchenglieder allmälig zur
anſchaulichen Vorſtellung geworden wäre.
Daß es aber in der That auch für
unſere Organiſation Erſcheinungen giebt,
deren widerſpruchsfreie Erklärung aus drei
Dimenſionen nicht möglich iſt, die uns alſo
zur begrifflichen Annahme einer vierten
Dimenſion nöthigen, hat ſchon Kant ent—
deckt,) wie neuerdings Zöllner her—
vorhebt, der dieſes Problem in der Vor—
rede ſeiner „Principien einer elektrodynami—
ſchen Theorie der Materie“ mit dem ihm
eigenen Scharfſinne behandelt. Solche Er—
ſcheinungen ſind: rechte und linke Hand,
rechts und links gewundene Schnecke und
ſymmetriſche Geſtalten, wie ein Objekt und
ſein Spiegelbild. Wir haben hier con—
gruente und ſymmetriſche räumliche Ge—
ſtalten von vollkommen gleicher relativer
Lage der Theile, von gleicher Form und
Größe, die alſo begrifflich identiſch ſind
und doch nicht zur Deckung gebracht, nicht
eines an Stelle des anderen geſetzt werden
können, die alſo anſchaulich verſchieden
ſind. Da nun die Forderung, ſolche Ge—
bilde in ein ſolches Verhältniß zu unſerem
Auge zu bringen, daß ſie auf daſſelbe eine
vollkommen identiſche Wirkung ausüben —
) „Von dem erſten Grundunterſchiede der
Gegenden im Raume“ V. S. 293. Ausg. v.
Roſenkranz.
du Prel, Die Planetenbewohner.
|
|
395
worin das anſchauliche Kriterium ihrer
Identität beftünde — einen Intellekt, der
nur drei Dimenſionen vorſtellt, vor eine
unauflösliche Antinomie ſtellt, ſo ſind wir
zur begrifflichen Annahme einer vierten Raum-
dimenſion genöthigt, die uns unter dem Ein-
fluſſe einer veränderten Organiſation auch
zur anſchaulichen Vorſtellung werden würde.
Der empiriſche Urſprung unſerer Raum—
vorſtellung läßt die Beſchränktheit unſerer
Einbildungskraft, nur drei Dimenſionen
des Raumes vorzuſtellen, als eine ſubjektive
erkennen, die nicht für die Intelligenz aller
Weltbewohner gültig ſein kann; die nach—
weisbare Phänomenalität der Außenwelt
aber, die Verſchiedenheit unſerer Netzhaut—
bilder von den äußeren Dingen, kann uns
nur geneigt machen, ein ähnliches Verhält—
niß auch zwiſchen unſerem Intellekt, in Be—
zug auf die Grundformen der Erkenntniß
und der Außenwelt anzunehmen. Wenn
aber gleich den Sinnen auch der Intellekt
mit feiner Raumanſchauung ſich als entwickel—
ungsfähig ergiebt, dann kann auch die von
uns vorgeſtellte Welt nur ein durch die
Beſchaffenheit des Intellekts bedingtes Pro—
jektionsphänomen ſein, das uns nicht un—
mittelbar offenbart, ſondern nur andeutet,
was in der metaphyſiſchen, vierdimenſionalen
Raumwelt geſchieht. In noch höherem
Grade alſo, als es von der modernen
Phyſiologie anerkannt wird, müſſen wir
die Wahrheit der Worte des Protagoras
anerkennen: „der Menſch iſt das Maß
aller Dinge“.
Die empiriſche Unterſuchung der Ver—
ſchiedenartigkeit der planetariſchen Zuſtände
führt uns zur Erkenntniß: Andere Wel—
ten, andere Weſen. Die ergänzende er—
kenntnißtheoretiſche Unterſuchung aber läßt uns
die nicht minder zweifelloſe Wahrheit erkennen:
Andere Weſen, andere Welten!
D —
Eine Studie
bon
M. Dreyer.
rei Jahrhunderte ſind ſeit der
Gert des großen Harvey
dahingegangen, Jahrhunderte
des Forſchens und Streitens.
.Sie haben reichlich dazu bei—
getragen, 5 Glanz ſeines Namens zu er—
höhen, welchen auch die weitgehendſte Wür—
digung der Verdienſte ſeiner Vorgänger und
die zahlreichen gegen ihn gerichteten Angriffe
nicht haben verdunkeln können. Keiner ſeiner
Nachfolger auf der von ihm geebneten Bahn
der Experimentalphyſiologie hat ihn erreicht.
Die Entdeckung des Blutkreislaufs ge—
hört zu denjenigen Entdeckungen, von denen
man wohl ſagt, daß ſie nur einmal ge—
macht werden. Und es iſt wahr: Seit
dem Erſcheinen der Abhandlung über die
Bewegung des Herzens und des Blutes
iſt keine phyſiologiſche Arbeit gedruckt wor—
den, welche ſo große theoretiſche und praktiſche
Umwälzungen hervorgerufen hätte, wie ſie.
Das andere Werk Harvey's, „De
generatione animalium“ iſt, wahrſcheinlich
weil es niemals in Deutſcher Ueberſetzung
| edirt wurde, trotz feiner fundamentalen Be—
Harvey, Ueber die Erzeugung der Thiere.
|
deutung als erſtes wiſſenſchaftliches embryo—
logiſches Werk und trotz ſeines außerordent—
lich reichen theoretiſchen Inhalts der Deut—
ſchen Leſewelt weniger bekannt. Gerade die
Entwickelungslehre, und zwar nicht etwa
nur deren Geſchichte, hat das größte Intereſſe
an dieſen zuerſt 1651 in London veröffent—
lichten Unterſuchungen — Exereitationes
nennt ſie Harvey — die man ſeit Jah—
ren gemeiniglich mit der Behauptung ab—
thut, es ſtehe der berühmte Satz darin Omne
vivum ex ovo (Alles Lebende vom Ei!).
Da ich keinen Anlaß hatte, zu zweifeln,
daß dieſes von der Tradition ohne Wieder—
ſpruch Harvey zugeſchriebene Apophthegma
in ſeinen Werken ſich irgendwo finden werde,
und zu erfahren wünſchte, woher, wenn
jedes lebende Weſen aus einem Ei ſtammt,
das Ei ſelbſt nach Harvey's Anſicht her—
komme, ſo ſchlug ich ſein Buch nach. Aber
zu meiner Verwunderung fand ich das ge—
ſuchte Citat nicht. Und es iſt mir bis jetzt
nicht bekannt, von wem und wann zum
erſten Male jener Satz ausgeſprochen wurde.
In den Opera omnia Harvey's, welche
S.
Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere.
397
im Jahre 1766 das Collegium der Lon- (euneta pariter animalia ex ovo pro-
9 P P
doner Aerzte herausgab und welche außer
den beiden genannten Werken noch einige
Briefe enthalten, habe ich ihn nicht gefunden.
Es iſt möglich, daß er in einer der bei der
Plünderung des Harvey'ſchen Hauſes
während des Bürgerkriegs verloren gegan—
genen Schriften geſtanden hat; aber aus
dem Wenigen, was man von dieſen weiß,
läßt ſich kein Wahrſcheinlichkeitsgrund dafür
entnehmen. Keine Angabe, daß Harvey
in ſeinen Vorträgen jenes Schlagwort ge—
braucht habe, ließ ſich aufſtöbern.
Nun iſt aber die Behauptung ſelbſt ſo
völlig im Einklang mit ſeinen Beobachtun—
gen und Anſichten, daß er ſie ſehr wohl in
der allgemein citirten Faſſung ausgeſprochen
haben kann. Auch iſt ſchon der erſten Aus—
gabe ein Titelkupfer beigegeben, welches
Zeus darſtellt mit einem großen geöffneten
Ei oder eiförmigen Gefäß in den Händen.
Aus dieſem kommen hervor ein Kind und
allerlei Thiere (ein Hirſch, ein Vogel, ein
Krokodil, ein Fiſch, eine Heuſchrecke, eine
Biene, eine Spinne), außerdem zwei Pflan—
zen. Auf der Schale aber ſteht geſchrieben:
Ex ovo omnia.
In der That wiederholt Harvey oft
und entſchieden, daß alle Thiere und alle
Pflanzen aus Eiern hervorgehen, z. B. in
der Exereitatio 1: Wir aber behaupten,
daß überhaupt alle Thiere, auch die leben—
diggebärenden und ſogar der Menſch ſelbſt,
aus dem Ei hervorgehen; und daß ihre
erſten Anlagen, aus welchen die Jungen
werden, Eier ſind (ova quaedam), wie
auch die Samen aller Pflanzen“. Dann:
Ex. 49: „Die Unterſuchung der Zeug—
ung wird durch dieſe unſere Beobachtungen
ſehr erſchwert . . . am meiſten aber, wo wir
dargethan haben werden, daß alle Thiere
gleichmäßig
aus dem Ei hervorgehen“
creari). Ferner:
Ex. 63: „Wir aber haben im Ein-
gang zu dieſen Unterſuchungen behauptet,
daß alle Thiere in gewiſſer Weiſe aus dem
Ei entſtehen“ (euneta animalia quodam mo-
do ex ovo nasei affirmavimus). Endlich:
Ex. 63: „Was aber die Entſtehung
des Foetus betrifft, ſo entſtehen alle Thiere
in derſelben Weiſe aus einer eiartigen An—
fangsform (omnia animalia eodem modo
ab oviformi primordio generantur); ich
ſage eiartig, nicht weil dieſe Anfangsform
die Geſtalt eines Eies hätte, ſondern weil
ſie die Conſtitution und Beſchaffenheit des—
ſelben beſitzt .. .. Und ſie iſt bei allen
entweder ein Ei, oder etwas Eiartiges, was
nämlich die Beſchaffenheit und die Beding-
ungen des Eies aufweiſt, die auch den
Pflanzenſamen mit den Thieren gemein—
ſam zukommen.“
Aus dieſen und ähnlichen Aufſtellungen
muß wohl das geflügelte Wort Omne vi-
vum ex ovo entſtanden ſein.
Wenn man nun ſagt, wie oft genug
geſchieht, Harvey habe durch dieſe Lehre
den zu ſeiner Zeit herrſchenden Glauben
an die Urzeugung zerſtört, ſo iſt dies irrig.
Vielmehr glaubt er an eine Generatio
aequivoca, die er mit dieſem Namen gleich
in der erſten Exereitatio nennt. Zunächſt
einige Beweisſtellen. Ex. 27 heißt es:
„Was ſollen wir ſagen von den Thier—
chen, welche in unſerem Körper entſtehen
und von denen Niemand zweifelt, daß ſie
durch eine eigene Seele regiert und ernährt
werden? Dieſer Art ſind die Spulwürmer,
Ascariden, die Läufe, die Gnitten, die Mil-
ben u. A. Oder was ſollen wir behaup—
ten von den Würmchen, welche aus Pflan—
zen und deren Früchten entſtehen, wie
man ſie in den Galläpfeln, den Scharlach—
398
Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere.
beeven, den Roſenäpfeln und ſehr vielen
anderen findet? Es kann allerdings faſt | ſtehen. „Bei den Inſekten ſcheint der Zu—
in allen feuchtwerdenden trockenen Stoffen
oder trocknenden Feuchtigkeiten ein Thier
erzeugt werden (ereari potest).“
ſchichte der Thiere, 5. Bd. 32. Cap. Ferner:
Lx. 28: „Einige Thiere entſtehen von
ſelbſt (sponte oriuntur), oder wie man ge—
wöhnlich ſagt, aus der Fäulniß.“
Ex. 50: „Die Thiere und zwar nicht
weniger diejenigen, welche von ſelbſt ent—
ſtehen (sponte proveniunt), als diejenigen,
welche als das gemeinſchaftliche Werk des
männlichen und weiblichen Individuums er—
zeugt werden.“ In derſelben Exereitatio
wird von den Thieren geſagt:
„Einige entſtehen von ſelbſt ohne irgend
welches wirkſame Eindeutige (sponte nas—
euntur sine aliquo efficiente univoco
d. h. ohne einer beſtimmten zoologiſchen
Species anzugehören); einige durch die
vereinten Bemühungen des männlichen und
weiblichen Individuums; einige nur aus
einem der beiden Geſchlechter; einige ver—
mittelſt anderer zwiſchen beiden ſtehender
Mittel, bald mehrerer, bald weniger; einige
durch eindeutige Mittel (instrumentis uni—
voeis); einige werden durch zweideutige
Mittel (aequivoeis) und zufällig erzeugt.“
Noch an vielen anderen Stellen iſt von
den durch Urzeugung oder von ſelbſt ent—
ſtandenen lebenden Weſen die Rede, z. B.
ſind nach der Ex. 1 dieſelben nicht aus
der Fäulniß herzuleiten, ſondern casu,
naturae sponte et aequivoca, ut ajunt,
generatione von ihnen unähnlichen Eltern
erzeugt. In der 45. Ex. ſetzt Harvey
auseinander, daß bei den Inſekten „der
Wurm“ durch Metamorphoſe aus dem Ei
entſteht oder die erſten Anfänge derſelben
aus verweſender Materie, trocknender Feuch—
tigkeit oder feuchtwerdendem Trocknen ent—
fall oder das Ungefähr hauptſächlich die
Zeugung zu fördern. Bei ihnen entſteht
die Geſtalt durch ein Vermögen der prä—
Dazu wird Ariſtoteles citirt: Ge
exiſtirenden Materie und die erſte Urſache
der Erzeugung iſt vielmehr die Materie,
als ein äußeres wirkſames Agens“ . . . ..
„Alſo gewiſſe Thiere entſtehen von ſelbſt
aus Materie, die von ſelbſt oder durch Zu—
fall verarbeitet iſt.“. . . „Von den Bienen,
Wespen, Schmetterlingen und allem, was
aus einer Raupe durch Metamorphoſe erzeugt
wird, heißt es, daß ſie zufällig entſtanden
ſind und daher die Gattung nicht erhalten.
Der Löwe aber, oder der Hahn entſteht
niemals durch Zufall oder von ſelbſt.“
Solche Stellen zeigen, daß Harvey
nicht etwa nur eine einſtmalige, ſondern auch
eine gegenwärtige Urzeugung ausdrücklich
annimmt, bei der die Fäulniß ein begün—
ſtigendes Moment abgebe. Nun behauptet
er aber zugleich das Omne vivum ex ovo,
welches damit im Widerſpruch zu ſtehen
ſcheint. Wenigſtens hat man darin einen
Widerſpruch gefunden, daß alle Thiere aus
dem Ei und einige Thiere durch Urzeug—
ung entſtehen ſollen.
Cuneta animalia ex ovo und Quae-
dam animalia sponte nascuntur, ſo ſteht
es geſchrieben. Man könnte den Wider—
ſpruch durch äußere Umſtände zu erklären
verſucht ſein. Harvey war, als er das
Manuſcript ablieferte, 73 Jahre alt; dieſes
Manuſcript ſelbſt iſt unvollendet geblieben,
da auf ſpätere Abſchnitte deſſelben ver—
wieſen wird, welche ſich nicht vorfinden.
Zu dem kommt, daß des Verfaſſers Freund
Dr. Ent die Arbeit veröffentlichte, ohne ſie
Harvey vor dem Druck noch einmal zur
Reviſion zuzuſtellen; er erklärt in der De—
dicatio alle Mühe der Herausgabe auf ſich
Die Planetenbewohner,
Von
Carl du Prel.
DS 2 ſuchung über die Bewohnbarkeit
der Geſtirne n) find Vermuth-
ungen über die Natur ihrer Be-
wohner. Noch im Jahre 1834
glaubte A. Comte, der doch vom Fort—
ſchritte des menſchlichen Geiſtes nicht gering
dachte, bezüglich der Geſtirne behaupten zu
dürfen: „Nous concevons la possibilite
de déterminer leurs formes, leurs dis-
tances, leurs grandeurs et leurs mouve-
ments, tandis que nous ne saurions jamais
etudier par aueun moyen leur composition
chimique, ou leur structure minéralo—
gique, et, a plus forte raison, la nature
des corps organisés qui vivent à leur
surface“. (Phil. posit. II. 6). Aber das Be—
ginnen Newton's, der die phyſiſche Aſtro—
nomie begründete, indem er die irdiſche
Schwerkraft als Attraktion auf den ganzen
Kosmos übertrug, hat ſeine natürliche Fort—
ſetzung gefunden in der Entdeckung der
Spektralanalyſe. In der Gravitation hat
Newton die gemeinſchaftliche Urſache der
von Kepler entdeckten Geſetze planetariſcher
9 Vergl. Kosmos, Band III. S. 1.
Kosmos, Band III. Heft 5.
ngleich feſſelnder als die Unter⸗
Bewegung gefunden; in der Spektralana—
lyſe aber find die Geſetze der irdiſchen Phy—
ſik auch auf die übrigen Erſcheinungen an
den Geſtirnen, außer ihren Bewegungen,
ausgedehnt und der Beweis iſt geliefert wor—
den, daß Materie von gleicher Natur, wie
die irdiſche, und den gleichen Geſetzen un—
terworfen, durch den ganzen Raum aus—
gebreitet iſt. Somit iſt erreicht, was noch
Comte für unerreichbar hielt: wir ſind über
die chemiſchen Beſtandtheile der Geſtirne
unterrichtet. Damit iſt aber zugleich eine
ſolide Baſis gelegt für die weitere Unter—
ſuchung nach der Natur der Planetenbe—
wohner; denn nicht für die Geſtirne, ſondern
durch dieſelben, d. h. durch die auf ihren
reſpectiven Oberflächen vorhandenen Ver—
hältniſſe iſt die Organiſation ihrer etwaigen
Bewohner beſtimmt. Jedwede Organiſation
kann nur die Reſultante der auf ihrem
Planeten vorhandenen Kräfte ſein; die
Natur der Organismen kann nirgend will—
kürlich gedacht werden, ſondern nur als
nothwendige Wirkung der vorhandenen
Materie und der den biologiſchen Proceß
regulirenden Faktoren, aus welchen noth—
49
1
384
wendig die Anpaſſung an die gegebenen
äußeren Verhältniſſe folgt. Alle Organis-
men ſtehen in Bezug auf Form, Größe,
Gewicht, Lebensdauer, Stärke der Glied—
maßen, Beſchaffenheit der Sinnesorgane
und des Erkenntnißvermögens, wie hinſicht⸗
lich aller phyſiologiſchen Funktionen in Ueber—
einſtimmung mit dem Weltkörper, auf dem
ſie wohnen. Da nun die Geſtirne trotz
der Gleichheit der kosmiſchen Stoffe doch |
außerordentlich verſchieden fein können in
Bezug auf die Miſchungsverhältniſſe der
Elemente, die Dichtigkeit ihrer Materie,
und die von ihrer Größe abhängige Schwer—
kraft auf ihren Oberflächen, ſo müſſen wir
auch eine außerordentliche Verſchiedenheit
ihrer Organismen vorausſetzen, um ſo mehr
als auch die vom Abkühlungsſtadium und
der Inſolation abhängige Produktionskraft
der Planeten verſchiedene Proportionen der
Organismen nach ſich ziehen muß, gleichwie
in früheren Perioden die Erde eine viel
größere Triebkraft entfaltete, Reichthum
und Größe der Organismen bedeutender
war, und die heißen Zonen noch jetzt in
dieſer Hinſicht ſich auszeichnen. Sehen wir
aber ſchon auf der Erde durch die außer—
ordentliche Mannigfaltigkeit der Anpaſſung
einen unüberſehbaren Reichthum an Organi—
ſationsformen herbeigeführt, ſo müſſen wir
jeder Hoffnung entſagen, etwa eine inter—
planetariſche vergleichende Anatomie und
Phyſiologie überſehen zu können.
Das Leben, wo es ſich auch regen
mag, läßt ſich definiven als eine Aufeinander—
folge ſolcher inneren Veränderungen der
Organismen, durch welche das Gleichgewicht
mit äußeren Verhältniſſen aufrecht erhalten
wird.
undenkbar, wenn die Organismen aus ho—
mogenen Stoffen beſtänden, und immer
den gleichen Einwirkungen ausgeſetzt wären.
Das Phänomen des Lebens wäre
du Prel, Die Planetenbewohner.
Die Stoffe, aus welchen lebende Weſen
zuſammengeſetzt ſind, müſſen alſo durch
große Beweglichkeit ihrer Moleküle und die
Fähigkeit, verſchiedene Zuſtände anzunehmen,
ſich auszeichnen. Dieſe Eigenſchaft kommt
den ſogen. organiſchen Verbindungen, die aus
Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und
Stickſtoff beſtehen, in hohem Grade zu.
Die Kohlenwaſſerſtoffe gehören zu den un—
beſtändigſten Verbindungen, und Protein,
der weſentlichſte Stoff, aus welchem Or—
ganismen beſtehen, zeichnet ſich nicht nur
durch große Mannigfaltigkeit ſeiner Meta—
morphoſen, ſondern auch durch die Leichtig—
keit aus, womit er ſie vollzieht; er vermag
eine ungemein große Anzahl von Verbin—
dungen einzugehen.
Die Spektralanalyſe weiſt nun aber
die genannten chemiſchen Elemente in allen
Gegenden des Himmels nach, und auch die
Beſtandtheile unſerer Oceane, in deren
Tiefen das irdiſche Leben entſtand, Waſſer,
Natrium, Magneſium u. ſ. w., ſind im ganzen
Raume verbreitet. Aus denſelben ſogenann—
ten Organogenen werden demnach wohl
auch die Organismen aller jener Planeten
zuſammengeſetzt ſein, welche ſich im gleichen
Abkühlungsſtadium befinden; auch ihre Or—
ganismen müſſen ſtofflich befähigt ſein, die
einwirkenden äußeren Kräfte wahrzunehmen
und auf dieſelben im Sinne der Erhaltung
des Gleichgewichts zu reagiren; auf die
dauernden Einflüſſe werden die Individuen
direct durch ihre Funktionsweiſe reagiren,
während von nicht conſtanten Einwirkungen
die ganze Species als ſolche betroffen wird,
indem eben die Individuen beſeitigt werden,
welche ſich mit ſolchen Factoren nicht in's
Gleichgewicht zu ſetzen vermögen. Die
äußeren Bedingungen aber, unter welchen
die Beweglichkeit organiſcher Stoffe auf
Erden möglich iſt, müſſen auch für alle
du Prel, Die Planetenbewohner. 385
Planeten in dieſem Sinne beſtimmend ſein,
nämlich Licht und Wärme der reſpectiven
Centralkörper.
Wie uns nun in den Reiſeberichten über
unbekannte Länder beſonders die Frage
nach der Kultur der Bewohner intereſſirt,
ſo auch bezüglich der Bewohner anderer
Welten, vor Allem die Frage nach ihrer
intellektuellen Natur. Sind aber alle Völ—
kerſchaften, von welchen das Zeitalter der
Entdeckungen uns Kunde gebracht hat, trotz
ihrer Verſchiedenheit doch in Bezug auf
das Grundgerüſte des Denkens in Ueber—
einſtimmung gefunden worden, ſo daß ſie
als Objekte der Anthropologie ſich einſtel—
len ließen, indem ſie nur verſchiedene Pha—
ſen menſchlicher Entwicklung darſtellten, ſo
kann dagegen auf vielen Planeten nicht nur
wegen ihres Altersunterſchiedes, ſondern
auch darum eine höhere Stufe des Be—
wußtſeins angenommen werden, weil die
Intenſität ihrer biologiſchen Entwickelung
ſehr verſchieden ſein kann. Aber auch durch
größere Energie des Individualwillens kön—
nen andere Planetenbewohner zu höheren
Leiſtungen befähigt ſein, wenn eine ſolche
als Anpaſſung an die Exiſtenzverhältniſſe
nöthig werden ſollte. Denn es heißt
wohl die Urſache mit der Wirkung ver—
wechſeln, wenn Vauvenargues jagt:
„Le monde est ce qu'il doit &tre
pour un ätre actif, c’est-a-dire fertil
en obstaeles.“
Mangel an Wechſel aller Art eine
Art Erſtarrung eingetreten, während in
der alten Welt vermöge ihrer großen Aus—
dehnung auch ein lebhafter, für Erzeugung
von Arten günſtiger Migrationsproceß und
energiſcher Kampf ums Daſein eintrat.
(Peſchel, Völkerkunde, S. 346— 47.) Wäh⸗
rend alſo auf Inſeln eben wegen ihrer fried—
licheren Verhältniſſe allmälig Erſtarrung
und conſervative Anpaſſung erfolgen muß,
wird auf großen Flächenräumen aus großen
Wanderungen nicht nur biologiſch, ſondern
auch geſchichtlich ein energiſcher Fortſchritt
ſich ergeben.
Wir werden auch vorausſetzen dürfen,
daß das Leben im Kosmos nur als
Stoffwechſel auftreten kann, indem Nahr—
ungsſtoffe in organiſche Stoffe verwandelt
werden, wenn wir auch nicht genöthigt
ſind, dieſes Verhältniß, das unſere Erde
zum beſtändigen Kampfplatze der Orga—
nismen macht und — wie die paläonto—
logiſchen Funde beweiſen — beſtändig ge—
macht hat, nach Analogie irdiſcher Verhält—
niſſe ſo zu denken, als ob überall die
Aſſimilation der Nahrungsſtoffe durch Kau—
thätigkeit, Verſchlingen und Umwandlung
in Chymus ſtattfinde, deſſen nichtaſſimi—
lirbare Beſtandtheile wieder abgeführt werden.
Die Nothwendigkeit, aus den aufgenommenen
Stoffen wieder unbrauchbare auszuſcheiden,
kann als noch mangelhafte Anpaſſung un—
Nach der Analogie der irdiſchen Ver-
hältniſſe auf den verſchiedenen Continenten
dürfen wir vorausſetzen, daß die Intenfität |
der Entwickelung unter ſonſt gleichen Um-
ſtänden im Verhältniß zur Oberflächen-
ausdehnung der Planeten ſteht. So iſt
in Auſtralien, das ſich vom Feſtlande los-
löſte, als ſeine Entwickelung bis zu den
Beutelthieren vorgeſchritten war, bei dem
ſerer Organiſation an die äußeren Ver—
hältniſſe angeſehen werden (2 R.) und andere
Weſen können befähigt ſein, ausſchließlich
aſſimilirbare Stoffe in irgend einer Weiſe
in ſich aufzunehmen. Wir können uns
Weſen vorſtellen, welche die zur Erſetzung
der Gewebe nöthigen Stoffe durch Poren
und ausſchließlich aus der Atmoſphäre be—
ziehen. Würde dadurch der Kampf ums
Daſein, aber auch wohl die Entwickelung,
— — — ſ—ü—ü —ö—ẽ—— [ ů—̃p—
386
viel von der irdiſchen Intenſität verlieren,
ſo kann er auf anderen Planeten wiederum
energiſcher ſein, wenn die reſpektiven At—
moſphären gar keine Erſatzſtoffe enthalten
ſollten und der ganze Verbrauch durch
eigentliche Ernährung zu decken wäre.
Die Frage nach der Bewußtſeinsform
und Bewußtſeinshöhe der Planetenbewohner
führt uns aber weit hinaus über das Ge—
biet der Biologie und Anthropologie in
das Gebiet der Erkenntnißtheorie hinein.
Nicht nur morphologiſch und phyſiolo—
giſch, ſondern auch in Bezug auf die Sinne
und das Erkenntnißorgan werden wir als
das Weſen des biologiſchen Proceſſes die
allmälige und geſteigerte Aupaſſung an die
Realität bezeichnen können. Gleich jedem
Organe müſſen auch die Wahrnehmungs-
organe und der Intellekt ins Gleichgewicht
mit der Außenwelt ſich ſetzen. Wir wiſſen,
daß dieſe von Organanfängen ausgegangen
find *) und haben durchaus keinen Grund
anzunehmen, daß dieſer Anpaſſungsproceß
in der Menſchheit ſeine höchſte Spitze er—
reicht habe. Bei den Bewohnern günſtiger
angelegter Planeten können Denken und
Sein in viel größerer Uebereinſtimmung
ſtehen, als auf Erden.
Unſere Außenwelt iſt phänomenal, ſie
iſt eine Wahrnehmung unſeres Geiſtes,
und nicht die wirkliche Natur der Dinge,
ſondern nur den Schein des Wirklichen
verrathen uns unſere Sinne. Die Welt
iſt unſere Vorſtellung. Wir nennen un—
berechtigter Weiſe unſere Sinnesempfindun—
gen Qualitäten der Dinge, und glauben
unmittelbar eine Außenwelt zu erfaſſen,
während wir doch in ihrer Wahrnehmung
aus unſerer Subjektivität gar nicht heraus
kommen, und nur den Reaktionsmodus
unſerer Sinne auf äußere Eindrücke kennen
Kosmos, I. S. 94, 201.
s 26
du Prel, Die Planetenbewohner.
lernen. Nur das läßt ſich mit Beſtimmt—
heit vorausſetzen, daß, weil die Entwickel—
ung der Sinne und des Verſtandes nur
im Sinne der Anpaſſung an die Realität
Rgeſchehen kann, die Verknüpfung der Wahr-
nehmungen und Vorſtellungen den objektiven
Geſetzen der Verknüpfung der Dinge mehr
oder minder entſprechen muß. Bei aller
Verſchiedenheit zwiſchen unſeren Empfind—
ungen und den Vorgängen der Natur,
durch welche ſie erzeugt werden, kann doch
von einem Betruge, den die Natur uns
ſpiele, nicht die Rede ſein, ſondern die
Nöthigung der Organismen, ihr Daſein
zu erhalten, muß ſolche Sinne und einen
ſolchen Intellekt zur Ausbildung kommen
laſſen, wodurch eine wirkliche Orientirung
in Bezug auf die Außenwelt ſtattfindet.
Das Wie dieſer Orientirung iſt aber
fraglich und gleichgültig; es iſt durchaus
nicht nöthig, daß die Dinge und ihre Bor-
ſtellungen identiſch ſeien. Gehör und Ge—
ſicht orientiren uns, trotzdem gar keine
Aehnlichkeit beſteht zwiſchen den objektiven
Schwingungszahlen der Luft und des Aethers
und den daraus folgenden ſubjektiven Em—
pfindungen, die wir Ton oder Farbe nennen.
Der Taſtſinn würde uns andere Vorſtell—
ungen liefern über Härte, ja ſelbſt über
die Geſtalt der Dinge, wenn unſere Horn—
haut anders beſchaffen wäre; gleichwohl iſt
er uns nützlich. Indem alſo die Sinne
uns zwar von äußeren Eindrücken benach—
richtigen, aber dieſelben in ganz veränder—
ter Geſtalt dem Bewußtſein überliefern,
ſind es nicht die Eigenthümlichkeiten der
Dinge, ſondern die unſerer Organe, wovon
wir unterrichtet werden. Dies zeigt ſich
ſehr auffallend, wenn mehrere Sinne von
der gleichen Einwirkung betroffen werden,
wenn das Auge den Sonnenſtrahl als
Licht, die Haut als Wärme empfindet,
a Si II Ts rr... ͤ —...—— ß
du Prel, Die Planetenbewohner. 387
Empfindung erfährt durch einen elektriſchen
Strom, den der Geſchmack als Säure, das
Auge als Licht wahrnimmt.
Das dem Auge ſichtbare Spektrum der
Sonne giebt die Regenbogenfarben: Roth,
Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo,
Violet. Es iſt aber nachweisbar, daß der
zerlegte Sonnenſtrahl noch mehr Strahlen
enthält, als welche die Netzhaut reizen.
Das Auge iſt nur für ein Intervall der
wirklich vorhandenen Strahlen empfänglich.
Jenſeits des rothen Endes finden ſich un—
ſichtbare Strahlen, welche wärmen, jenſeits
des violetten Endes ſolche, welche chemiſch
wirken und nur dann ſichtbar werden,
wenn man ſie etwa auf Uranglas auffängt.
Der chemiſche Theil des Spektrums iſt ſo—
gar länger, als der ſichtbare Theil. Wenn
aber ſchon von den Strahlen, welche nach—
weisbar find, nur etwa ½ uns ſichtbar
wird, ſo iſt die Zahl derjenigen, welche
nachzuweiſen wir keine Hilfsmittel beſitzen,
uns ganz unbekannt.
Weil nun die Sichtbarkeit der Strahlen
nicht von ihnen ſelbſt, ſondern vom Auge ab—
hängig iſt, ſo können wir uns auch recht wohl
Weſen vorſtellen, welche ganz andere Be—
ſtandtheile des Sonnenſpektrums ſehen, als
wir, und da dieſe Weſen an den Dingen
alle jene Eigenthümlichkeiten erkennen wür—
den, welche auf dieſen Strahlen beruhen,
ſo iſt gar nicht zu beſtimmen, welchen Um—
fang ihr Wiſſen über dieſe Dinge hierdurch
gewinnt; denn auch unſer Wiſſen würde
viel umfangreicher ſein, wenn unſere Sinne
uns orientiren würden über die ganze
Länge des Spektrums ohne jede Lücke.
Da die Unterſchiede der Schwingungen,
in deren Wahrnehmung unſere verſchiedenen
Sinne ſich theilen, nur quantitativer Na-
tur ſind, ſo würde durch eine bloße Mo—
| oder wenn der Hautnerv eine brennende
difikation unſerer Sinne eine Verſchiebung
der jedem einzelnen Sinne zugetheilten
Intervalle denkbar ſein, der Art, daß wir
als Wärme empfänden, was uns Ton iſt,
daß wir hören würden, was wir als Licht
und Farbe empfinden, oder umgekehrt, daß
wir ſähen, was wir hören.
Aber nicht nur Modifikationen unſerer
Sinne, ſondern auch ganz andere Sinne
ſind denkbar. Wenn wir keinen Sinn be—
ſitzen für die Erſcheinungen des Magnetis—
mus, der Elektricität und der chemiſchen
Affinität, ſo kann doch der Anpaſſungs—
proceß anderer Weſen vollkommener ſein,
ſo, daß ſie auch dieſe Vorgänge wahrneh—
men; oder er kann der Art ſein, daß ihnen
vielleicht der Theil der Wirklichkeit, den
wir empfinden, ganz verſchloſſen iſt, daß
ſie dagegen befähigt ſind, nur die Vor—
gänge zu erfaßen, die wir nicht zu em—
pfinden vermögen. Solche Weſen, welche
vielleicht nichts von dem wiſſen, was unſere
Geſammtſinne offenbaren, würden eine
durchaus andere Welt vorſtellen, die doch
nur das Ergänzungsſtück zu der unſrigen
wäre. So gut als es Bewegungsarten des
Aethers geben mag, von welchen wir nichts
wiſſen, und die Anzahl derſelben vielleicht
von ſehr großer Mannigfaltigkeit ſein kann,
ſo gut iſt auch eine Anpaſſung an dieſel—
ben denkbar, kann es alſo Weſen geben,
welche dieſelben wahrnehmen. Unendliche
Möglichkeiten von Empfindungen können
im Univerſum gegeben ſein, die uns ſo
unbegreiflich erſcheinen würden, als dem
Blindgebornen das Weſen des Lichts un—
begreiflich ſein muß und die den damit
begabten Weſen einen Zuwachs an Intelli—
genz gewähren, der vielleicht größer iſt,
als der Zuwachs, den unſere niederen Sinne
durch die Fähigkeiten des Geſichts erhalten;
denn wir dürfen weder die Menſchheit als
*
388
die höchſte Stufe biologiſcher Entwickelung
anſehen, noch die Erde als jenen Planeten,
auf welchem die günſtigſten Bedingungen
für den Lebensproceß vorhanden ſind, noch
überhaupt die Welt, der wir angepaßt ſind,
als die ganze Welt. Wenn es Kräfte
giebt, die auf uns nicht einwirken, ſo kann
es auch Weſen geben, unempfindlich für
das, was wir empfinden, welche vielleicht
in Medien leben, in welchen irdiſche Or—
ganismen nicht exiſtenzfähig wären und
deren Leben ſich beſchränkt auf Regionen,
wo die uns unbekannten Schwingungen
geſchehen — wodurch freilich unſere Träume
von der Bewohnbarkeit der Welten eine
namhafte Erweiterung erfahren würden.
Die Wirklichkeit iſt alſo möglicherweiſe
reicher, als die Vorſtellung. Die von uns
vorgeſtellte Welt iſt nicht nur ein bloßer Bruch—
theil der wirklichen Welt, ſondern es werden
auch diejenigen Vorgänge, welche in der
That auf uns einwirken, in der Reaktion
unſerer Sinne in einer Weiſe verwandelt,
daß ihnen gleichſam nur eine ſymboliſche
Bedeutung zukommt. Aber dieſes genügt
auch für die praktiſchen Zwecke des Da—
ſeins; für den Zweck der Orientirung
genügt die Conſtanz der Wirkungs—
weiſe der Natur und die dieſer ent—
ſprechende Conſtanz der Reaktions-
weiſe der Sinne, während das Wie der
Reaktion, die Anzahl der Sinne und ihre
beſtimmte Beſchaffenheit gleichgültig iſt.
Bei der Mannigfaltigkeit der uns viel—
leicht zum größten Theile unbekannten Vor—
gänge der Natur und wiederum bei den
zahlreichen Möglichkeiten, dieſe Vorgänge
in der einen oder anderen Art wahrzu—
nehmen, kann freilich die Frage nach der
geiſtigen Natur der Bewohner anderer
Welten nur eine noch ungenügendere Ant—
wort erhalten; und mag auch die Orien—
du Prel, Die Planetenbewohner.
tirungsweiſe, wie ſie für die irdiſchen Ge—
ſchöpfe gültig iſt, auf anderen Geſtirnen
ſich Häufig finden, ſo ſtellt fie doch vielleicht
nur eine Phaſe in der Entwickelung des
kosmiſchen Lebens dar, in welcher durch
allmälige Ausbildung ganz neuer Sinne
der Lebeweſen eine völlig anders geſtaltete
Welt aufſteigen würde, während mit dem
Verluſte ſolcher Sinne, wie wir ſie beſitzen,
auch die Welt, die wir vorſtellen, allmählig
verſinken würde.
Aber nicht nur von der Beſchaffenheit
unſerer Sinnesorgane hängt die Geſtalt—
ung der Welt ab, die wir vorſtellen, ſon—
dern auch von der Raſchheit unſerer Auf—
faſſungsgabe, d. h. von der Fähigkeit,
innerhalb einer gegebenen Zeit einer größeren
oder geringeren Menge von Eindrücken
uns bewußt zu werden. Unſere Natur
geſtattet uns, 6—10 Wahrnehmungen in
einer Sekunde zu erfaſſen. Dieſes uns
angeborene ſubjektive Zeitmaß, welches die
Anzahl der Reaktionen unſerer Sinne inner—
halb einer gegebenen Zeit regelt, beſtimmt
auch ganz und gar die ſubjektive Dauer
unſeres Lebens, welche auf der Menge
unſerer Empfindungen beruht. Wie ganz
anders würde ſich aber die Welt ſolchen
Weſen darſtellen, welche, ſelbſt wenn ſie im
Uebrigen unſere Sinne hätten, ein anderes
ſubjektives Zeitmaß in ſich trügen, welche
einer längeren, oder kürzeren Zeit bedürf—
ten, als wir, um ſich eines Sinneseindrucks
bewußt zu werden, oder bei welchen auch
nur die Zeit, während welcher ein Ein—
druck beharrt, eine verſchiedene wäre!
Eine Flintenkugel, die an uns vor—
überfliegt, können wir im Laufe nicht ver—
folgen, weil ſie an keiner Stelle lange
genug verweilt, um den Eindruck auf unſer
Auge zu vollziehen. Es entgehen uns
alſo alle Veränderungen irdiſcher Dinge,
in deren Aufeinanderfolge eine gewiſſe
Langſamkeit nicht eingehalten wird. Je
nachdem wir uns unſer ſubjektives Zeit—
maß verändert denken, würden wir einen
viel größeren Reichthum von Erſcheinungen,
oder eine viel geringere Summe von Ver—
änderungen in der Außenwelt wahrnehmen.
Wir können uns Weſen träumen, welchen
die kriechende Schnecke unſichtbar wäre, wie
uns die fliegende Flintenkugel, oder welchen
von den Geſtirnen nur ſolche von lang—
ſamerer Bewegung ſichtbar wären, und
andere Weſen, welche die Schnelligkeit des
elektriſchen Stromes mit dem Auge wahr—
nehmen würden; Weſen, welchen Dinge
plötzlich ins Daſein treten, deren allmä—
liges Wachsthum wir erkennen, und andere,
in deren Bewußtſein keine Veränderung
eines Dinges vor ſich gehen würde, das
uns innerhalb der gleichen Beobachtungszeit
in beſtändiger Wandlung begriffen erſcheint.
Wo wir continuirliche Veränderung erken-
nen, könnten andere Weſen ſprungweiſe
Entwickelung ſehen, und wo für uns an—
ſcheinende Starrheit vorhanden iſt, wie
beim Anblick eines Obelisken, könnte ein
anderes Bewußtſein an der Oberfläche des—
ſelben die minimalen Veränderungen in
jedem Zeittheilchen wahrnehmen.
Eine glühende Sternſchnuppe, welche
gegen die Erde fällt, ſehen wir nicht als
leuchtende Maſſe, was ſie iſt, ſondern als
Feuerlinie, weil der Eindruck, den ſie her—
vorruft, wenn ſie beim Eintritt in die At—
moſphäre erglüht, noch anhält, wenn ſie
bereits das Endſtück der von uns geſehenen
Feuerbahn erreicht hat; wir würden alſo
eine ganz andere Welt auch dann ſehen,
wenn die Zeit, während welcher unſere
Sinneseindrücke beharren, verlängert oder
verkürzt würde.
Nehmen wir einen Stab mit glühendem
du Prel, Die Blanetenbewohner. 389
Ende zur Hand, den wir im Dunkel mit
großer Raſchheit kreisförmig ſchwingen, ſo
erſcheint uns aus dem gleichen Grunde
ein glühender Ring. So würde aber auch,
wie Bär bemerkt (Reden, I. S. 259),
die Sonne ſolchen Weſen erſcheinen, deren
ſubjektives Zeitmaß ſtatt /ů — J Secunde,
wie bei uns, etwa 2 Tage wären. Dieſe
würden nicht ein leuchtendes Geſtirn am
Himmel ſehen, ſondern einen leuchtenden
Bogen, der ſich nach den Jahreszeiten hebt
und ſenkt und auch Nachts nicht verſchwin—
den würde, weil der Eindruck des hellen
Lichts viel länger andauert, als der Ein—
druck der Dunkelheit. Höchſtens würden
dieſe Weſen eine regelmäßig wiederkehrende
momentane Abſchwächung dieſes Bogenlich—
tes bemerken, eine Art continuirlichen Wetter-
leuchtens mit zuckendem Lichte. Würden
nun dieſe Weſen zur Schule der Materia—
liſten gehören, auf dem Standpunkte des
naiven Realismus ſtehen und demgemäß
an die Objektivität dieſes Feuerbogens
glauben, ſo würden ſie in der Erklärung
dieſer Erſcheinung ſchließlich auf unlösliche.
Antinomien ſtoßen, und nur wenn ſie dieſen
Standpunkt aufgeben, könnte es ihnen bei
entſprechendem Scharfſinne gelingen, den
trügeriſchen Schein zu erkennen, der ſie
umfängt, wie Kopernikus die Beweg—
ung der Sonne als trügeriſchen Schein er—
kannte, weil unter der Vorausſetzung der—
ſelben immer neue Verwickelungen dem
menſchlichen Denken ſich boten.
Würde dagegen das Zeitmaß verkürzt
werden, das wir brauchen, um uns eines
Eindrucks bewußt zu werden, ſo würde
z. B. ein Gehörorgan, wie wir es beſitzen,
ſeinen Träger ganz anders orientiren: Was
wir tiefe Töne nennen, wäre ihm unhörbar,
unſere hohen Töne wären tiefe für ihn,
ja bei ſehr ſtarker Verkürzung des Zeit—
du Prel, Die Planetenbewohner. |
daß jeder Wahrnehmung ein ſubjektiver
Antheil zukommt, daß zwar das Objekt
7 390
maßes würde er hohe Töne hören, wenn
wir von einer Wärmeempfindung reden,
die höchſten Töne, wenn wir behaupten,
einen farbigen Gegenſtand zu ſehen.
So würde alſo die ganze Natur ein
anderes Ausſehen gewinnen, je nachdem die
Zeit, innerhalb deren wir ſinnlich wahr—
zunehmen vermögen, verkürzt oder verlän—
gert würde; Vorgänge, welche unſerer Or—
ganiſation offenbar werden, würden nicht
erfahren werden, und wiederum würden
uns andere wahrnehmbar werden, die uns
verſchloſſen ſind.
Die ſo verſchiedenartigen Einwirkungen
der äußeren Kräfte auf ein Weſen würden
daſſelbe noch nicht zur Orientirung befähi—
gen, wenn dieſelben nicht zuſammengehalten,
nicht bezogen würden auf ein einheitliches
Bewußtſein, als den Vereinigungspunkt
aller jener Empfindungen, welche bei
unſerer Organiſation, iſolirt vom Auge,
Ohre und dem Gefühle, überliefert werden.
Der Einheitlichkeit der Außenwelt muß für
lebende Weſen eine einheitliche Subjektivität
entſprechen. Demnach dürfen wir auch für
die Bewohner anderer Welten ein Organ
voraus ſetzen, welches entſprechend unſerem
Intellekt, in dieſer combinatoriſchen Weiſe
als Sammelpunkt der Empfindungen fun—
girt, nur daß je nach den Empfindungen,
für welche ſolche Weſen empfänglich ſind,
dieſes Organ auch ganz anderer Art ſein
kann, als unſer Intellekt. Gleich den Sinnen
muß auch dieſer Intellekt einem Anpaſſungs—
proceſſe an die Wirklichkeit unterliegen, und
wenn ſelbſt auf anderen Planeten der bio—
logiſche Proceß dem auf der Erde voll—
ſtändig gleichen würde, ſo wären doch für
ihre Bewohner ganz verſchiedene Stadien
des Anpaſſungsproceſſes ihres Verſtandes
an die Wirklichkeit anzunehmen.
Die Erkenntnißtheorie weiſt alſo nach,
reicher iſt, als die Vorſtellung deſſelben,
und mehr enthält, als wahrgenommen wird,
daß aber andererſeits jede Wahrnehmung
Beſtandtheile enthält, welche dem Objekte
nicht zukommen, alſo reicher iſt, als dieſes;
denn die phyſiſchen Kräfte und Beweg—
ungen in der Außenwelt, welche unſere
peripheriſchen Sinne treffen und Empfind—
ungen hervorrufen, haben gar keine Aehn—
lichkeit mit der Weiſe, womit wir phyſiſch
auf ſie reagiren.
Wenn aber unſere Sinne nach Herak—
lit's Ausdruck „Lügenſchmiede“ ſind, und
andere Sinne ein ganz anderes Weltbild
liefern würden, wenn ferner gleich den
Sinnen auch unſer Intellekt nur in einem
Stadium eines Anpaſſungsproceſſes an die
Wirklichkeit ſich befindet, über welches die
Bewohner unzähliger Welten längſt hinaus—
gekommen ſein mögen; wenn alſo das
menſchliche Bewußtſein nur eine Form des
kosmiſchen Bewußtſeins iſt, dann kann die
Frage nach der geiſtigen Natur der Plane—
tenbewohner nicht ſo beantwortet werden,
daß wir die innerhalb der irdiſchen Orga—
nismenreife blos graduelle Verſchiedenheit
der ſinnlichen Fähigkeiten und des Ver—
ſtandes auch für andere Weltkörper nur
graduell verſchieden, nur verringert oder ge—
ſteigert uns denken, ſondern wir müſſen auch
die Möglichkeit einer ganz anderen Erkennt—
niß, der Qualität nach, anerkennen. Aber
jeder intellektuelle Fortſchritt auf jedem
Planeten kann nur dahin zielen, das Den—
ken in immer größere Uebereinſtimmung
mit den Dingen zu bringen.
Mit dem gleichen Scepticismus, womit
wir die Einflüſterungen unſerer Sinne auf-
nehmen, dürfen wir auch den Ausſagen
des Verſtandes gegenüber mißtrauiſch ſein;
zu nehmen und nur die Rolle eines Ge—
burtshelfers zu ſpielen, nachdem ihm Har—
vey anheimgegeben habe, das Werk zu
veröffentlichen oder nicht. Er durfte mit
demſelben nach Belieben ſchalten und walten.
Dieſe Thatſachen würden ſich allerdings
zur Erklärung von Widerſprüchen verwer—
then laſſen.
nicht mehr ſo kritiſch wie der 50 jährige
Entdecker des Kreislaufs, und ſein Freund
nicht der gewiſſenhafte pietätvolle Ent ge—
weſen, man könnte an Nachläſſigkeit und
Textänderungen glauben. Nun verſichert
aber Haller, das Buch ſei ſchon 1633 ge—
ſchrieben worden und Harvey blieb be—
kanntlich bis zu ſeinem Tode im achtzigſten
Lebensjahre vollkommen geiſtesfriſch und
immer dem Wahlſpruch getreu: Pauca sed
matura. Unvollendet mag man ſeine Ar—
beit, die Ent, ſein begeiſterter Verehrer,
ihm entriß, wohl nennen, weil die Embryo
logie der Inſekten u. A. ihr nicht den be—
abſichtigten Abſchluß gab, aber unlogiſch
iſt das Werk, wie es vorliegt, nicht. Viel—
mehr ſteht es da als ein Denkmal eiſernen
Fleißes und die reife Frucht vieljährigen
Nachdenkens über ein ſcharf abgegrenztes
Gebiet. Die Grabſchrift übertreibt nicht,
wenn ſie ſagt: Ortum et generationem
animalium solus omnium a pseudophilo—
sophia liberavit. Seit Ariſtoteles war
kein ähnlicher Forſcher aufgetreten. Er be—
freite ſeine Zeitgenoſſen von dem geduldig
ſondern er will damit ſagen, daß deren Eier
Er be⸗
ertragenen Joche der Scholaſtik, er brachte
Thatſachen, nicht bloße Annahmen.
obachtete und experimentirte auf einem Ge—
biete, auf dem noch niemals experimentirt
worden war, nämlich mit ungeborenen Thie—
ren. Er vertraute der Ueberlieferung in
keinem Punkte und begründete die empiriſche
experimentale phyſiologiſche Methodik, indem
er die Nothwendigkeit eigener Wahrnehm—
Kosmos, Band III. Heft 5.
Wäre der greiſe Harvey
Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 399
ung hervorhob. So betrachtete er z. B.
von allen Menſchen zuerſt das eröffnete Ei
mit dem Vergrößerungsglaſe und ſah na—
türlich auch mehr als ſeine Vorgänger.
Aber wenn er auch mit dem vollen Be—
wußtſein des Gegenſatzes, in den er ſich
dadurch zu allem Hergebrachten ſtellte, die
empiriſche Methode vertrat, ſo beſchränkte
er ſich doch nicht auf das Detail, vielmehr
hat er kühn allgemeine Sätze aufgeſtellt,
zu denen ſeine Beobachtungen ihn führten.
Er als der erſte ſprach als ein Grundge—
ſetz aus, daß alle Thiere in ihren erſten
Entwickelungsſtadien ſich gleichen, ſo ver—
ſchieden ſie auch ſpäter werden und ſo ver—
ſchieden ſie auch innerlich ſeien.
Und ein ſolcher Mann, deſſen Genius
die Dunkelheit eines Jahrtauſends zerſtreute,
ſollte wirklich einen ſolchen Widerſpruch ſich
haben zu Schulden kommen laſſen, wie ſeine
Kritiker behaupten? in ſeinem epochemachen—
den Werk über die Erzeugung der Thiere
zugleich die Entwicklung aller aus dem Eie
und die Entwicklung einiger nicht aus dem
Ei behauptet haben?
Ich bin zu dem Ergebniß gelangt, daß
der Widerſpruch nicht in Wahrheit exiſtirt.
Er iſt nur durch das Mißverſtehen des
Wortes ovum einerſeits und sponte anderer—
ſeits entſtanden. Wenn Harvey ſagt cuncta
animalia ex ovo und dann quaedam ani-
malia sponte nascuntur, jo jagt er damit
keineswegs, daß letztere nicht ex ovo ſtammen,
oder eiartige Anfänge von ſelbſt, d. h. nicht
durch geſchlechtliche Zeugung und nicht in
allen Fällen von präexiſtirenden Organis-
men hervorgebracht und nicht in der Weiſe
befruchtet ſind, wie es bei Thieren der Fall
iſt, die eine Art bilden (univocum prin-
eipium). Folgende Stelle giebt hierüber
unzweideutigen Aufſchluß:
51
|
8
Ex. 62: „Dieſen allen aber (mögen ſie
von ſelbſt, oder aus anderen, oder in anderen,
in deren verweſenden Theilen oder Excre—
menten entſtehen) iſt gemeinſam, daß ſie
aus einem dazu geeigneten Aufänglichen
(principium) durch eine innere in ihm wirkende
Urſache entwickelt werden, ſo daß allen
lebenden Weſen ein Urſprüngliches
zu Grunde liegt, aus welchem und
von welchem ſie herſtammen. Es
ſei uns geſtattet, dieſes das vegetale Ur—
ſprüngliche zu nennen, nämlich eine gewiſſe
körperliche Subſtanz, welche lebensfähig iſt,
oder etwas für ſich Exiſtirendes, das ge—
eignet iſt, in die vegetative Form durch die
Thätigkeit des inneren Princips verwandelt
zu werden. Was nämlich als Urſprung
das Ei und der Samen der Pflanzen iſt,
iſt auch das Empfängnißproduct der Leben—
diggebärenden und der von Ariſtoteles ſo
genannte Wurm der Inſekten. Denn die
Anfänge der verſchiedenen lebenden Weſen
find verſchieden (diversa seilicet diver-
sorum viventium primordia), und ihrer
mannigfaltigen Verſchiedenheit dienen bald
dieſe, bald jene Arten der Erzeugung der
Thiere. Aber in dem einen Punkt ſtimmen
alle überein, daß ſie aus einem vegetalen
Anfang entſpringen, als einer mit dem
Vermögen der Entwicklung begabten Materie
(tanquam e materia efficientis virtute
dotata). Sie unterſcheiden ſich aber darin
von einander, daß dieſe Anfangsform ent—
weder von ſelbſt und zufällig auftritt oder
von einem anderen Präexiſtirenden, wie eine
Frucht, herſtammt. Daher jene von ſelbſt
entſtanden, dieſe von Eltern erzeugt heißen.
Und wiederum unterſcheiden ſie ſich durch
die Geburt: die einen ſind ovipar, die anderen
vivipar, denen Ariſtoteles die Vermiparen zu—
geſellt. Wenn man aber danach, wie die
Sache für die Beobachtung ſich verhält,
400 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere.
unterſcheiden ſoll, ſo giebt es nur zwei
Arten der Geburt, weil alle Thiere ein
neues Thier entweder aktuell oder potentiell
gebären. Diejenigen, welche ein aktuelles
Thier gebären, heißen lebendiggebärend, die
ein potentielles Gebärenden eierlegend. Denn
jedwede potentielhlebende Anfangs—
form muß Ei genannt werden, ſo
urtheilen wir mit Fabricius (ab Aqua-
pendente). Und den Wurm im Sinne des
Ariſtoteles trennen wir durchaus nicht vom
Ei, erſtens weil er augenſcheinlich ſo ſich
verhält, zweitens weil das mit der Ver—
nunft im Einklang ſcheint. Denn die vegetale
Anfangsform, mit potentiellem Leben (quod
potentia vivit), iſt auch fähig, ein Thier
zu werden (est etiam potentia animal).
Auch iſt die von Ariſtoteles aufgeſtellte
Unterſcheidung zwiſchen Ei und Wurm un—
zuläſſig. . . Darin ſtimmen beide überein,
daß ſie nicht lebende Gebärprodukte ſind,
ſondern nur potentiell Thiere. Beide
ſind alſo Eier.“
Hier iſt Harvey's Anſicht klar dargelegt.
Das vegetale Primordium, die Anfangs—
form, aus welcher alles Lebende letzter In—
ſtanz hervorgeht, heißt heutzutage gewöhn—
lich Protoplasma. Dieſes wird fähig
ein Thier oder eine Pflanze zu werden, iſt
potentiell Thier oder Pflanze. Es heißt
dann Ei. Das lebensfähige Primordium,
Ei genannt, entſteht nun, entweder indem
die Materie ſich von ſelbſt und zufällig
dazu verarbeitet (ova imperfecta), oder
aus lebenden Weſen (ova perfecta et im-
perfecta. Ex. 62).
In beiden Fällen iſt das erſte Ent—
wicklungsſtadium ein „Wurm“, ſo daß Har—
vey nur conſequent iſt, wenn er Ex. 18
ſagt: „Wir aber werden darthun, daß die
erſte Entwicklung beliebiger Thiere in der—
ſelben Weiſe beginnt, daß unzweifelhaft alle
P ˙ A nn
Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere.
Thiere, auch die höchſten, in ähnlicher Weiſe
aus einem Würmchen hervorgehen (e ver-
miculo gigni).“ Den Unterſchied der Ent—
wicklung des Wurmes (Keimes) und der
„anderer“ Thiere ſieht Harvey darin, daß
jener zuerſt wächſt und dann ſich geſtaltet
oder in Theile gliedert, während dieſe
ſchon gegliedert wachſen. In derſelben 18.
Ex. heißt es: „Das iſt es, worüber wir
uns wundern, daß die Anfangsformen (pri—
mordia) aller Thiere, zumal der Blut—
führenden (wie die des Hundes, Pferdes,
Hirſches, Rindes, Huhnes, der Schlange,
endlich des Menſchen ſelbſt) ſo deutlich die
Geſtalt und Conſiſtenz eines Würmchens
wiedergeben, das man ſie mit dem Auge
nicht unterſcheiden kann.“ Aber in Wahr—
heit find ihm in ihrem Inneren diversa
diversorum animalium primordia, nur
unerkennbar verſchieden.
Die gegenwärtig immer wieder hervor—
gehobene Uebereinſtimmung des Protoplasma
der niederſten lebenden Weſen — zu ſeinen
plantanimalia würde ſie Harvey ſtellen
— der Pflanzenſamen und der Thiereier
iſt in der 63. Ex. ausgeſprochen: „Was bei
den von ſelbſt entftehenden Weſen das P ri—
mordium heißt, heißt bei den Pflanzen
der Samen, bei den eierlegenden Thieren
das Ei, nämlich die körperliche Subſtanz,
aus welcher durch ein bewegendes und wirken—
des inneres Princip entweder ein Thier
oder eine Pflanze erzeugt wird. Eben dieſes
iſt bei der Erzeugung der Viviparen das
erſte Empfängnißprodukt.“
Alſo alle lebenden Weſen entwickeln ſich
aus dem Ei. Dieſes Ei wird entweder von
vorhandenen lebenden Weſen erzeugt oder
durch Urzeugung gebildet.
Ex. 67: „Allen lebenden Weſen iſt ge—
meinſam, daß ſie aus dem Samenkorn oder
Ei entſpringen, ſei es, daß der Samen aus
401
Individuen derſelben Art ſtammt, ſei es,
daß er durch Zufall anderswoher kommt.“
Vieles wird theils abſichtlich, theils zufällig
erreicht, wie z. B. die Geſundheit, vieles
nur abſichtlich, wie z. B. ein Haus, ſagt
Die Zeugung gehöre
Harvey (45. Ex.).
zur erſteren Kategorie.
Es kann hiernach keinem Zweifel mehr
unterworfen ſein, daß ein Widerſpruch in
dieſer Grundfrage nicht vorliegt.
Aber damit iſt die Frage nicht beant—
wortet, woher diejenigen Eier, Thiere und
Pflanzen zuerſt hergekommen, welche nicht
durch Urzeugung ſich bilden, ſondern nur
von Organismen erzeugt werden ſollen?
Was ſagt hierüber Harvey?
Im vollen Gegenſatz zur modernen Ent—
wicklungslehre behauptet er die Conſtanz
der Species bei höheren Thieren. Während
viele Organismen ihm zufolge keine Species
bilden, nämlich die durch Urzeugung ent—
ſtehenden, iſt der Wechſel von Huhn und
Ei, von Ei und Huhn ohne Anfang und
Ende, die Art unſterblich, das Ei eine Periode
in dieſer Ewigkeit, Anfang und Frucht des
individuellen Lebens der Artrepräſentanten.
Er erörtert das alte Problem, ob das Huhn
oder das Ei zuerſt war (EX. 28.) und
kommt zu dem Schluß, daß ein höchſtes
Princip — deſſen Name Gott, Natura
naturans oder Weltgeiſt nichts zur Sache
thue — den Zirkel in Bewegung erhalte,
ebenſo wie den Lauf der Geſtirne. Dieſe
Vis enthea oder dieſes göttliche Princip
bleibt in alle Ewigkeit und iſt den Eltern
wie den Eiern mit verſchiedenen Erſcheinungs—
weiſen immanent, bald als Virtus plastica,
bald als Virtus nutritiva, bald als Virtus
auetiva; bald formt fie das Huhn, bald formt
ſie das Ei, welche beide weder von der Natur,
noch künſtlich in anderer Weiſe erzeugt werden
können, als ſie jetzt erzeugt werden. In der
402 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere.
50. Ex. wird dieſes göttliche Princip als
Schöpfer hingeſtellt, welcher die Urzeugung
und Zeugung zu Stande kommen läßt.
Aber es iſt nirgends geſagt, daß aus Nichts
ein Thier geſchaffen wurde. Vielmehr hebt
Harvey hervor (41. Ex.) daß viele Thiere,
beſonders Inſekten, von unſichtbaren, in der
Luft ſchwebenden, vom Winde da und dort—
hin zerſtreuten Keimen abſtammen, welche
man dennoch als von ſelbſt oder durch Fäul—
niß entſtanden betrachte, weil ihre Keime
nirgends ſich vorfinden. „Es iſt aber dieſe
Speculation nicht unnütz für diejenige Philo—
ſophie, welche lehrt, daß alles aus Nichts
hervorgegangen ſei.“
Für Harvey iſt das lebensfähige
Material gegeben und entwickelt ſich, wenn
die dazu erforderlichen Bedingungen, die er
z. Th. nennt, erfüllt ſind. Zur Kenn—
zeichnung der Grundlinien ſeiner Anſicht
über die Erzeugung der Thiere iſt noch er—
forderlich, anzugeben, wie er über den Pro—
ceß der erſten Entwicklung überhaupt dachte.
Er ſpricht ſich (beſonders in der 72.
Ex.) hierüber beſtimmt aus und behauptet
namentlich gegen alles Hergebrachte mit Ent—
ſchiedenheit, die Dinge ſeien nicht durch
Syntheſe ihrer Elemente entſtanden, in die
ſie vielmehr zerfallen, ſondern ſeien früher
da, als ihre Elemente. Nachdem er die
Entwicklung des Embryo als eine „Son—
derung oder Gliederung von urſprünglich
Homogenem“ charakteriſirt hat, nicht als Zu—
ſammenſetzung von Homogenem und Hetero—
genem und nicht als Sonderung von etwa
urſprünglich Heterogenem, nachdem er ſein
„ex similari dissimilare“ (aus dem Gleich
artigen das Ungleichartige) begründet hat,
ſagt Harvey:
„Und ich glaube, daß daſſelbe geſchieht
bei jeder Erzeugung; ſo daß die gleichartig
gemiſchten Körper nicht ihre Elemente der
Zeit nach früher haben, ſondern vielmehr ſelbſt
früher als ihre Elemente exiſtiren (nämlich als
des Empedokles und Ariſtoteles Feuer, Luft,
Waſſer und Erde, oder als der Chemiker
Salz, Schwefel und Queckſilber, oder als
die Demokritiſchen Atome) wenn ſie auch
ihrer Natur nach vollkommener ſind. Ich
ſage das Gemiſchte und Zuſammengeſetzte
iſt auch der Zeit nach früher, als irgend
welche Elemente, in welche es zerſetzt wird
und endigt; es wird nämlich in dieſelben
aufgelöſt vielmehr im Gedanken, als der
Sache nach und in Wirklichkeit. Daher
ſind die ſogenannten Elemente nicht früher
als diejenigen Dinge, welche erzeugt werden
oder entſtehen, ſondern vielmehr ſpäter und
eher Ueberbleibſel, als Anfänge. Selbſt Arifto-
teles hat nicht und niemand anderes hat
jemals bewieſen, daß die Elemente in der
Natur getrennt exiſtiren oder die Anfänge
der gleichartigen Körper ſeien.“
Ich geſtehe in hohem Grade überraſcht
und befriedigt geweſen zu ſein, als ich bei
einem Denker wie Harvey ſolches, fünf
Jahre nachdem ſich mir ſelbſt ähnliche An—
ſchauungen gebildet hatten, fand. Der Pro—
teſt“) gegen Verſuche aus dem, was wir
jetzt chemiſche Elemente nennen, durch Syn—
theſe, ohne Vermittlung von Lebendem, etwas
Lebensfähiges künſtlich herzuſtellen, wird
noch geſtützt durch die andere Begriffsbe—
ſtimmung Harvey's, welche ich gleichfalls,
ohne damals ſeine Werke zu kennen, formu—
firte**), daß nämlich non vivens, sed
potentia vivens etwas weſentlich Anderes
als non vivens iſt. Freilich findet bei
Harvey dieſen Gedanken nur, wer ihn
ſchon vorher hatte.
) Kosmos I, S. 377.
) Ueber die Erforſchung des Lebens.
Jena 1873. S. 34.
Br
FE
Die Infekten als unbewußte Blumenziüdter,
Von
Dr. Hermann Müller.
S II.
7
0
Fir haben bereits die Rolle ken- um ihrer prächtigen Farben und lieblichen
| 7 nen gelernt, welche Fäulniß— | Wohlgerüche willen ſchätzen, haben ſicherlich
ſtoffe liebende Dipteren als keine Veranlaſſung, dies ſonderlich zu be—
ER | ſelbſtſtändige Blumenzüchter dauern. Weit umfaſſender iſt dagegen die
ſpielen. Es empfiehlt ſich, ſogleich auch | mitwirkende Rolle, welche fie, im Ver—
einen kurzen Hinblick auf ihre mitwirkende eine mit anderen kurzrüſſeligen Inſekten,
Rolle daran anzuknüpfen, um ſodann, un- als unbewußte Kreuzungsvermittler ſpielen;
behindert durch die Rückſicht auf dieſe un- aber natürlich können ſich ihre eigenthüm—
ſauberen Gäſte, die Betrachtung der gemein- lichen Neigungen blumenzüchtend um ſo
ſamen Blumenzüchtung der uns ſympathi- weniger geltend machen, je mehr ſich In—
ſcheren kurzrüſſeligen Inſekten wieder auf- ſekten anderer Neigungen mit ihnen in den
nehmen und weiterführen zu können. Beſuch der Blumen theilen. Zahlreiche
Ekelblumen, Fallenblumen und Täuſch- Blumen einfachſter Form mit völlig offen
blumen, nach dem jetzigen Stand unſerer liegendem, oder doch in der Nähe unmittel—
Kenntniſſe die einzigen Züchtungsprodukte bar ſichtbarem Honig, wie z. B. die große
der Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren für Mehrzahl der Umbelliferen, Alſineen, Cruci—
ſich allein, finden ſich zwar in ſehr ver- feren u. A., werden daher, außer von
ſchiedenen und weit aus einander ſtehenden mannigfachen kurzrüſſeligen Inſekten anderer
Familien, aber im Ganzen doch in verhält- Ordnungen, auch ſehr häufig von Fliegen
nißmäßig ſehr geringer Anzahl. Als beſucht und gelegentlich mit Pollen getrenn—
ſelbſtſtändige Blumenzüchter haben alſo ter Stöcke befruchtet, ohne daß ſich unter
dieſe in ihrer Geſchmacksrichtung fo ab- den Eigenſchaften dieſer Blumen irgend eine
weichenden Inſekten eine nicht beſonders | fpeciell auf die Fliegen als Blumenzüchter
erhebliche Bedeutung gehabt, und alle die- hinweiſende vorfände. Der offenliegende
jenigen unter uns, welche die Blumen nur Honig ſolcher Blumen, ihre Farbe und ihr
. n 148 a
——. ...
404
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Geruch ſind dann eben das Züchtungspro—
dukt einer gemiſchten Geſellſchaft verſchieden—
artiger kurzrüſſeliger Blumenzüchter. So—
bald jedoch Fäulnißſtoffe liebende Dipteren
als Beſucher und Kreuzungsvermittler offe—
ner, allgemein zugänglicher Blumen eine
entſchieden vorwiegende Rolle ſpielten, mußte
beim Auftreten geeigneter Abänderungen
auch die von ihnen geübte Blumenauswahl
entſcheidend ſein und ihren Liebhabereien ent—
ſprechende Farben und Gerüche oder beides
züchten. Wurde beides, Ekelfarben und
ausgeprägte Ekelgerüche gezüchtet, ſo blieben
die übrigen Beſucher zurück, und aus den
urſprünglich für alle Inſekten offenen Tiſch
darbietenden Blumen entſtanden, wie wir
bereits geſehen haben, Ekelblumen. Wurden
dagegen, wenn geeignete Geruchsabänder—
ungen eben niemals auftraten, nur dem
Fliegengeſchmacke entſprechende Farben ge—
züchtet, ohne Ekelgerüche oder mit nur
ſchwacher Ausprägung derſelben und daher
ohne oder mit nur theilweiſer Zurückſchreck—
ung der anderen Gäſte, ſo entſtanden Blu—
men, die zwar überwiegend von Fliegen,
daneben jedoch von einem bunten Gemiſch
mannigfacher anderer kurzrüſſeliger Inſekten
beſucht und gelegentlich befruchtet werden,
wie die ſchmutzig grüngelben Blumen von
Ruta graveolens, Veratrum album, Rhus,
Rhamnus, Acer, Hedera, Euphorbia
und mancher Umbelliferen.
Die Erfolge, welche die Fäulnißſtoffe
liebenden Dipteren theils als ſelbſtſtändige,
theils als mitwirkende Blumenzüchter er—
reicht haben, ſind hiermit hinreichend ange
deutet, und wir verabſchieden nun dieſe ebenſo
zudringlichen als uns antipathiſchen Gäſte, um
zu der uns ſympathiſchen Geſellſchaft der übri—
gen Blumenbeſucher zurückzukehren, welche in
Bezug auf Farben-„Geruchs-und Geſchmacks-
ſinn im Ganzen uns gleich gerichtet ſind.
Da ſich nun ein langer Rüſſel, wie
ſein ausſchließlicher Gebrauch zur Gewinn—
ung tief geborgenen Blumenhonigs und die
noch jetzt vorhandene Stufenleiter verſchie—
dener Längen beweiſt, bei allen blumenbe—
ſuchenden Inſektenabtheilungen, welche heute
langrüſſelige Arten aufzuweiſen haben (Flie—
gen, Schmetterlinge, Bienen !)), erſt nach
dem Uebergange zur Blumennahrung und
als Anpaſſung an erfolgreichere Gewinnung
derſelben ausgebildet haben kann, ſo haben
wir uns im Anfange der Entwickelung der
Blumenwelt lauter kurzrüſſelige Blumen—
züchter vorzuſtellen. Wollen wir daher die
ſtufenweiſe Ausbildung der Blumeneigen—
thümlichkeiten ſo viel als möglich in gene—
tiſcher Reihenfolge uns klar zu machen ſuchen,
ſo müſſen wir zunächſt
II. die bunte Geſellſchaft ur—
ſprünglicher kurzrüſſeliger Blü—
thenbeſucher als unbewußte Blu—
menzüchter
unſerer weiteren Betrachtung unterwerfen
und zu ermitteln ſuchen, welche Blumen—
eigenthümlichkeiten außer der bereits erörter—
ten Augenfälligkeit und dem in manchen
Fällen vielleicht ſchon früh ſie begleitenden
Wohlgeruche der vereinten Thätigkeit der—
ſelben ihre Ausprägung verdanken.
Wir verſetzen uns alſo im Geiſte auf
diejenige Stufe der Blumenentwickelung,
auf welcher nicht nur durch Zwitterblüthig—
keit und Klebrigkeit des Pollens Kreuzung
durch beſuchende Inſekten ermöglicht und
durch erſtere zugleich der Nothbehelf der
Selbſtbefruchtung bei ausbleibendem Inſek—
tenbeſuche gewonnen, ſondern auch eine ver—
) Nur bei den Schnabelkerfen (Hemip-
tera) iſt die Rüſſelausbildung offenbar unab—
hängig vom Blumenbeſuche erfolgt; dieſe haben
aber auch noch jetzt als Kreuzungsvermittler
der Blumen faſt gar keine Bedeutung.
größerte buntgefärbte, in manchen Fällen
vielleicht auch ſchon wohlriechende Blüthen-
hülle durch die urſprünglichſten Beſucher
bereits gezüchtet, der entbehrlich gewordene
koloſſale Pollenüberfluß der windblüthigen
Stammeltern durch Naturausleſe bereits
beſeitigt war und fragen uns: Unter welcher
Form haben wir uns dieſe Urblumen vor—
zuſtellen? Welche weiteren von den mannig—
fachen ſonſtigen Eigenthümlichkeiten höher
entwickelter Blumen konnten und mußten
beim Auftreten geeigneter Abänderungen
ſchon von der bunten Geſellſchaft urſprüng—
lich kurzrüſſeliger Gäſte gezüchtet werden?
Nächſt den als bereits gewonnen vor—
ausgeſetzten Ausrüſtungen iſt Honigabſon—
derung die am allgemeinſten verbreitete
Blumeneigenthümlichkeit; ſie iſt es alſo,
deren Ausprägung den oben genannten erſten
Schritten der Blumenzüchtung in der Regel
zunächſt gefolgt ſein wird. Bei der großen
Vorliebe, mit welcher wir heute Inſekten
aller Ordnungen dem Blumenhonige nach—
gehen ſehen, während Blüthenſtaub einen
weit beſchränkteren Kreis von Conſumenten
an ſich zieht, iſt es ja auch unſchwer ein—
zuſehen, daß Honig abſondernde Blumen—
abänderungen, wo ſie auch auftraten, zum
Siege über die honigloſen Stammformen
gelangen mußten, wofern nicht etwa bejon-
ders ungünſtige Umſtände, wie z. B. auf
entlegenen oceaniſchen Inſeln, einen großen
Mangel an Inſekten verurſachten. Denn
nicht nur wurde durch Honigabſonderung
ſchon bei den urſprünglichſten Blumen der
Beſucherkreis erweitert, indem außer pollen—
freſſenden ſich nun auch honigleckende Kä—
fer und Fliegen, außerdem aber Phryga—
niden, Blatt- und Schlupfweſpen *) als
) Schmetterlinge und Bienen haben ſich
augenſcheinlich erſt im weiteren Verlaufe der
Blumenausbildung entwickelt, erſtere vermuth—
— —ü— ö... 8
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blum enzüchter. 405
Beſucher einfanden, ſondern auch die alten
Beſucher zogen jedenfalls, wenn ſie die Aus—
wahl hatten, Blumen, die ihnen neben dem
Blüthenſtaube auch noch Honig darboten,
honiglofen vor. Die geſammte bunte Ge—
ſellſchaft urſprünglicher kurzrüſſeliger Blu—
menbeſucher war alſo an der Züchtung
honighaltiger Abänderungen betheiligt.
Es läßt ſich indeß bei einem Ueberblicke
über die Blumenwelt leicht erkennen, daß
Honigabſonderung nicht etwa blos von den
älteſten Blumen, denen nur kurzrüſſelige
Gäſte zu Theil wurden, erworben und auf
die ſpäteren Geſchlechter nur durch Vererb—
ung übertragen worden iſt. Vielmehr
müſſen in den aller verſchiedenſten Zeit—
epochen, von jener Jugendperiode der Blu—
menwelt an, da der Metaſpermenſtamm noch
eine geringe Zahl verſchiedener Zweige dar—
bot, bis zur Gegenwart herab, honigabſon—
dernde Abänderungen aufgetreten, von den
Inſekten bevorzugt und weiter gezüchtet
worden ſein. Denn während bei manchen
ſehr umfaſſenden Familien, wie z. B. Um⸗
belliferen, Labiaten, Compoſiten, beſtimmte
Formen der Honigabſonderung als Fami—
liencharaktere auftreten, welche ſchon von
den Stammeltern derſelben erworben ſein
müſſen, bieten zahlreiche andere Familien,
z. B. Ranunculaceen, Solaneen, Scrophu—
lariaceen, Gentianeen, Primulaceen, neben
einander honiglofe und honighaltige Gatt—
ungen dar; von den honighaltigen Gatt—
ungen haben wiederum die einen eine be—
ſtimmte Form der Honigabſonderung als
Gattungscharakter, alſo von den Gattungs—
ſtammeltern, ererbt, wie z. B. Aconitum,
Aquilegia, Primula, die anderen ſpalten
ſich in Zweige mit eigenthümlicher, alſo
lich aus Phryganiden, letztere aus der den
Ichneumoniden entſtammenden Familie der
Grabweſpen.
2
406
entweder ſelbſtſtändig erworbener oder we—
nigſtens ſelbſtſtändig ausgeprägter Form
der Honigabſonderung, wie z. B. Gentiana
(vergl. Kosmos, Bd. I. S. 162).
Ganz beſonders lehrreich in Beziehung auf
das verſchiedene Alter der Nektarien iſt die
Familie der Ranunculaceen. Denn neben
honigloſen Gattungen (Anemone, Tha-
lietrum, Adonis) umſchließt fie andere, die
aus den Kelchblättern (Paeonia), andere,
die in den mannigfachſten Formen aus den
Blumenblättern (Ranunculus, Myosurus,
Müller, Die Inſekten als unbewußte ĩI,
Trollius, Eranthis, Helleborus, Aconi-
tum, Delphinium, Aquilegia, Nigella),
A die aus umgebildeten Staubfäden
(Clematis), andere, die aus umgebildeten
Staubbeuteln (Pulsatilla), andere endlich,
die aus den Fruchtblättern (Caltha), Honig
abſondern, und liefert damit den Beweis,
daß fie, von honigloſen Stammeltern ab-
ſtammend, erſt nach der Zerſpaltung in
zahlreiche Familienzweige auf den allerver—
ſchiedenſten Wegen zur Honigabſonderung
gelangt iſt.
Fig. 5.
Ranunculus
Und da manche ihrer Gattungen in der
Nektarienbildung in allen ihren Arten im
Weſentlichen übereinſtimmen (3. B. Pulsa-
tilla, Aquilegia, Aconitum, Nigella),
andere dagegen honighaltige neben honigloſen
Arten enthalten (3. B. Paeonia, Clematis),
ſo zeigt ſie uns ferner, daß inmanchen Fällen
die Honigabſonderung ſchon bei den Stamm—
eltern der Gattungen, in anderen erſt bei
den Stammeltern der Artenzur Ausprägung
gelangt iſt. Endlich kommen, um die Alters—
ſtufenleiter bis zur Gegenwart herab zu
vervollſtändigen, in der Familie der Ranun—
Variabilität der Nektarienbildung innerhalb derſelben Art,
pyrenaeus.
culaceen ſelbſt Arten vor, welche neben
einander honigloſe und honighaltige In—
viduen, letztere mit denauffallendſten Ver—
ſchiedenheiten in der Ausbildung der Nek—
tarien, darbieten. Eine Veranſchaulichung
dieſer Thatſache geben die beifolgenden Nek—
tarienformen von Ranunculus pyrenaeus,
die ich gleichzeitig (5. Aug. 1877) neben
einander an demſelben Standorte (im Heu—
thale am Bernina) beobachtete.“)
0 Eine andere Reihe derartiger Varia—
tionen habe ich auf S. 117 meines Werkes
„Ueber Befruchtung der Blumen“ dargeſtellt.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Die andere der beiden oben aufgeworfe—
nen Fragen modificirt ſich nun dahin: Wie
haben wir uns jene zwitterblüthigen!)
Urblumen vorzuſtellen, an welchen zuerſt
Honigabſonderung aufgetreten und durch eine
gemiſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger Beſucher
zur dauernden Eigenſchaft gezüchtet worden
iſt? Eine einfache biologiſche Betrachtung
ergiebt, daß es nur offene regelmäßige Blu—
men einfachſter Form geweſen ſein können.
Denn zu ſolchen werden wir mit Noth—
wendigkeit geführt, wenn wir von irgend
welchen unregelmäßigen und complicirter
gebauten honighaltigen Blumen alle Röh—
ren und Sporen, alle Bergungen und Ver—
ſteckungen des Honigs, welche einen ſchon
verlängerten Rüſſel und eine ſchon geſchärfte
Blumeneinſicht der Beſucher vorausſetzen
laſſen, ſowie alle einſeitigen Geſtaltungen,
die ſich augenſcheinlich als Anpaſſungen an
beſtimmte Beſucherkreiſe ausgebildet haben,
hinwegdenken. Nachdem wir aber die ko—
loſſale Altersverſchiedenheit der Nektarien
kennen gelernt haben, ſchließt ſich an die |
jo eben beantwortete unmittelbar die weitere
Frage an: Sind die in ſpäteren Perioden
bis zur Gegenwart herab neu aufgetretenen
Nektarien an immer höher und höher ent—
wickelten Blumenformen zum Vorſchein ge—
kommen oder an Blumenformen, welche
noch eben ſo einfach, offen und regelmäßig
waren, als jene zuerſt honighaltig geworde—
nen Urblumen? Wenn wir die in ſehr
verſchiedenen Zweigen des Metaſpermen—
ſtammbaumes ſich darbietenden Abſtufungen
von gleichförmigen einfacheren zu nach ver—
ſchiedenen Richtungen hin differencirten com—
) Ausdrücklich ausgeſchloſſen von den
folgenden Schlußfolgerungen bleiben diejeni—
gen Blumen, welche, wie Salix, mit Beibehalt-
ung der Getrenntgeſchlechtigkeit direkt zur In—
ſektenblüthigkeit übergegangen ſind.
Kosmos, Band III. Heft 5.
407
plicirteren Blumenformen vergleichend über—
blicken, ſo können wir über die richtige
Antwort auf dieſe Frage kaum zweifelhaft
bleiben; denn in allen Fällen, in denen
uns eine hinreichende Stufenfolge ſteigender
Complicirtheit und Differencirung vorliegt,
gelangen wir, indem wir dieſelbe in ab—
ſteigender Richtung verfolgen, ſchließlich zu
ſehr einfachen, regelmäßigen, offenen Blu—
menformen, als denjenigen, bei denen die
Honigabſonderung begonnen haben muß.
Um nur einzelne größere und kleinere Me—
taſpermenabtheilungen beiſpielsweiſe heraus—
zugreifen, ſo ſteigen wir in der Ordnung
Rhoeades, von den unregelmäßigen honig-
haltigen Fumariaceen Corydalis und Fu—
maria durch Dielytra und Adlumia zu
Hypecoum und von da zu regelmäßigen,
einfachen, offenen und noch honigloſen Papa—
veraceen hinab; in der Familie der Ra—
nunculaceen gelangen wir von den com—
plicirten und unregelmäßigen, in verſchiedener
Weiſe einſeitig den Hummeln angepaßten
Gattungen Delphinium, Aconitum, Aqui-
legia zu regelmäßigen, einfachen, offenen,
theils honighaltigen, theils honigloſen For—
men (Ranunculus, Anemone), in der Gatt—
ung Gentiana von den durch Gitter oder
erweiterte Narben verſchloſſenen Blumen-
röhren der Untergattungen Endotricha und
Cyelostigma und den Blumenglocken der
Untergattung Coelanthe zu der zwar be—
reits honighaltigen, aber noch höchſt einfachen
und völlig offenen Blumenform der G.
Iutea.*) Selbſt die Nektarien jüngſten
Datums, die an einzelnen Arten ſonſt honig—
loſer Gattungen auftreten, wie z. B. (nach
Delpino) an gewiſſen Paeonia-Arten, an
Clematis balearica, integrifolia u. A.,
) Siehe Kosmos, Bd. I. S. 162. (wo
aus Verſehen Cyelanthera ſtatt Cyelostigma
gedruckt iſt).
A
408
finden ſich in Blumenformen, die an Ein—
fachheit, Offenheit und Regelmäßigkeit der
Vorſtellung, die wir uns von den zuerſt
honighaltig gewordenen Urblumen bilden
mußten, gleichkommen.
Nehmen wir nun vorausgreifend noch
hinzu, daß an der Ausbeutung ſo offener,
flacher, wenig ausgiebiger Honigquellen, wie
die Nektarien in ihrer urſprünglichen Form
immer ſind, auch heutzutage faſt ausſchließ—
lich kurzrüſſelige Beſucher ſich betheiligen,
während die langrüſſeligeren eben durch
ihre längeren Rüſſel die körperliche und
durch die mit der Rüſſellänge zugleich ge—
ſteigerte Blumeneinſicht die geiſtige Fähig—
keit erlangt haben, die ergiebigeren tieferen
und verſteckteren Nektarien aufzuſuchen und
auszubeuten, ſo ergeben ſich aus unſerer Um—
ſchau als ſehr wahrſcheinlich folgende Sätze:
1. Alle honighaltigen Blumen ſind zur
Zeit, als ſich zuerſt Honigabſonderung bei
ihnen einſtellte, einfach, offen und regel—
mäßig geweſen.
2. Die zuerſt als individuelle Abänder-
ung aufgetretene Honigabſonderung iſt —
abgeſehen von Ekelblumen — ſtets durch
eine gemiſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger In—
ſekten zur bleibenden Eigenthümlichkeit ge—
züchtet worden.
3. Aus einfachen offenen, honighaltigen
Blumen, die einer gemiſchten Geſellſchaft
der verſchiedenſten Inſekten zugänglich und
gelegentlicher Kreuzung durch dieſelben aus—
geſetzt waren, ſind im Laufe der weiteren
Entwickelung vielfach kürzer und länger röh—
rige, bilateral ſymmetriſche und ſelbſt un—
ſymmetriſche“) Blumenformen hervorgegan
gen, die nur noch beſchränkteren Beſucher—
kreiſen oder ſogar nur noch ganz beſtimmten
Inſektenformen zugänglich ſind. (Welche
tung S. 257) Pedicularis (daſelbſt S. 300).
*) 3. B. Phaseolus (H. Müller, Befruch-
Anhalt dazu bietet der als einfache Conſe—
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Rolle bei dieſer Umbildung Naturzüchtung
und Blumenauswahl der Inſekten geſpielt
haben, bleibt näher feſtzuſtellen.)
4. Der Uebergang einfacher, offener,
regelmäßiger Blüthen aus dem honigloſen
in den honighaltigen Zuſtand und ihre
Umbildung in röhrige und einſeitige Blu—
menformen iſt in den verſchiedenſten Zeit—
epochen erfolgt. Neben den honighaltigen
find aber bis in die Gegenwart herab honig—
loſe, neben den röhrig oder bilateral ſym—
metriſch gewordenen bis in die Gegenwart
herab einfache, offene, regelmäßige Blumen—
formen erhalten geblieben.
Nachdem wir nun über das erſte Ent—
ſtehen der Honigabſonderung, ſo weit es die
vorliegenden Thatſachen geſtatten, uns eine
beſtimmte Vorſtellung gebildet haben, tritt
die Frage an uns heran: Wie ſind aus
den urſprünglichen offenliegenden Nektarien
die, eben weil es ihnen an Vertiefung fehlte,
nur eine flache, wenig ausgiebige Honig-
ſchicht darbieten konnten, jene tieferliegenden,
honigreicheren Nektarien geworden, welche
von allen langrüſſeligeren Beſuchern vor—
zugsweiſe aufgeſucht und ausgebeutet werden?
Welche Rolle hat die Blumenzüchtung der
Inſekten, welche Rolle hat Naturzüchtung
dabei geſpielt? Haben ſich zuerſt die Rüſſel
der blumenbeſuchenden Inſekten verlängert
und als Anpaſſung an dieſelben dann erſt
tieferliegende Nektarien ausgebildet oder um—
gekehrt?
Offenbar iſt es unmöglich, durch Ver—
gleich der Röhrenlängen und Rüſſellängen
der heutigen Blumenbeſucher der Löſung dieſer
Frage näher zu kommen, da eben beide alle
Abſtufungen von ihrem Maximum bis zu
Null hinab darbieten. Den einzigen feſten
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
quenz der Selektionstheorie ſich ergebende
Satz, daß nur dem Juhaber ſelbſt nützliche
Abänderungen zur Ausprägung gelangen
konnten. Nun iſt es augenſcheinlich, daß,
ſo lange es nur offen liegenden Honig gab,
eine Rüſſelverlängerung den dieſen Honig
aufſuchenden Inſekten keinerlei Vortheil ge—
währen konnte. Wohl aber konnte umge—
kehrt, auch ſo lange es nur kurzrüſſelige
Blumenbeſucher gab, eine tiefere Lage des
Nektariums den Pflanzen von weſentlichſtem
Nutzen ſein, ſofern ſie eine reichlichere An—
ſammlung des Honigs ermöglichte und einen
Schutz dieſes koſtbaren Anlockungsmittels
gegen Regen mit ſich brachte. Es kann
daher kaum einem Zweifel unterliegen, daß
die erſten und einfachſten Bergungen des
Honigs unter einem Schutzdache von Här—
chen, wie bei Geranium und Malva, oder
in den Grund eines durch Verwachſung der
Blumenblätter gebildeten kurzen Röhrchens,
wie bei Veronica hederaefolia u. a., oder
in die tiefſten Winkel einer bei trübem Wetter
ſich weiter zuſammenſchließenden offenen
Schale von Blumen und Kelchblättern, wie
bei vielen Alſineen, der erſten Steigerung der
Rüſſellänge der Blumenbeſucher vorausge—
gangen ſein muß.) Und zwar muß es,
da Blumenhonig den Pflanzen nur mittel—
) Ebenſo unabweisbar wie dieſe Schluß—
folgerung, ebenſo unhaltbar iſt die Anſicht
derjenigen Botaniker, welche die „Saftdecken“
ausſchließlich als Schutzmittel des Honigs
gegen kurzrüſſelige Beſucher gelten laſſen wollen,
wie Delpin o (Ulteriori osservazioni II. p.
109) und Kerner (Schußmittel der Blüthen
gegen unberufene Gäſte S. 38, Anm. 2).
Beide haben eben nur weit höher ausge—
bildete Blumen im Sinne, deren Honig ſchon
auf andere Art gegen Regen geſchützt iſt, und
bei denen dann in der That die Saftdecke
nur als Schutzmittel des Honigs gegen furz-
rüſſelige Beſucher dient.
%
bar durch Anlockung der Kreuzungsvermittler
nützlich iſt, die von den urſprünglichen kurz—
rüſſeligen Beſuchern ſelbſt geübte Blumen—
auswahl geweſen ſein, welche die angedeu—
teten Bergungen des Honigs, wo ſie als
individuelle Abänderungen auftraten, als
bleibende Eigenſchaft gezüchtet hat. In
regneriſchen Witterungsperioden mußte ſich
ja ganz natürlich die Auswahl der honig—
ſuchenden Inſekten von den dem Regen ſchutz—
los preisgegebenen Honigblumen ab und den—
jenigen zuwenden, deren Honig durch Regen
unberührt blieb. Und in jeder Witterung
mußten wenigſtens die bereits blu menſtet
gewordenen d. h. mit ihrem Nahrungsbe—
darf auf die Blumen beſchränkten Beſucher
in Vertiefungen zurückgezogene, honigreichere
Nektarien den offen liegenden, nur eine flache
adhärirende Honigſchicht darbietenden vor—
ziehen — vorausgeſetzt natürlich,
daß fie dieſelben leicht genug auf—
zufinden vermochten! Wurde dieſe
Vorausſetzung nicht erfüllt, traten vielleicht
ſogar individuelle Abänderungen mit ſolcher
Bergung des Honigs auf, daß derſelbe der Auf—
findung ganz entging, ſo war natürlich aller
Schutz gegen Regen, alle reichlichere An—
häufung des ſüßen Naß ganz vergeblich,
und die bezeichneten Abänderungen hatten
ebenſo wenig Ausſicht, von honigeifrigen
Inſekten ausgewählt und durch Kreuzung
vermehrt zu werden, als etwaige völlig
honigloſe Concurrenten. Nur in dem Falle
konnte daher, mußte dann aber auch, völlig
geborgener Honig die bevorzugte Auswahl
gerade der honigbefliſſenſten Inſekten an ſich
feſſeln und dadurch den Blumen noch weit
nützlicher werden, als der urſprüngliche all-
gemein zugängliche, offene Honig, wenn
gleichzeitig mit der Bergung ein den einſich—
tigeren Blumengäſten auf den erſten Blick ver—
ſtändliches Kennzeichen des Nektariums auftrat.
ä
Fig. 6. Eine einfache, offene, regelmäßige Blüthe, welche außer einem
Nektarium auch bereits Safthalter, Saftdecke und Saftmal in einfachſter
Ausbildung erlangt hat (Potentilla minima).
A Blüthe gerade von oben geſehen (7 : 1). B Längsſchnitt durch dieſelbe. C Oberer Theil
eines Staubgefäßes, Staubbeutel ſeitlich aufgeſprungen (35 : 1). a Aeußerer, b innerer
Kelchzipfel, e Blumenblatt, d Staubgefäß, e gelb gefärbter, fleiſchiger Ring, welchem die,
Staubgefäße aufſitzen und welcher zugleich den Honig abſondert (Saftdrüſe Sprengel's
Nektarium), k nach innen abfallende, orangefarbene Fläche des fleiſchigen Ringes, welche ſich
mit einer Honigſchicht bedeckt (Safthalter Sprengel's), g Ring von Haaren, welche den
Honig ſchützend überdecken (Saftdecke Sprengel's), h orangefarbener Fleck an der Baſis
jedes (goldgelben) Blumenblattes, welcher auf den verſteckten orangefarbenen Safthalter hin—
weiſt (Saftmal Sprengel's), i Stempel.
Beim Auftreten geeigneter Abänderungen anzubahnen. Denn wie ſich von ſelbſt ver—
konnte es alſo nicht ausbleiben, daß die ge- | fteht, gehört ein gewiſſer Grad von Einficht
miſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger Inſekten, dazu, um aus lebhaft gefärbten Flecken oder
nachdem ſie ſich ſelbſt in den Blumen regel- Linien, welche nach beſtimmten Stellen zu—
mäßig fließende Honigquellen (Nektarien oder ſammenlaufen, auf dort geborgen liegenden
Saftdrüſen) gezüchtet hatten, ſich auch tiefere Honig zu ſchließen, ein Grad von Einſicht,
Behälter des Honigs (Safthalter), Schutz- zu deſſen Gewinnung außer einer ganz auf
mittel derſelben gegen den Regen (Saftdecken) die Blumen concentrirten Aufmerkſamkeit die
und gleichzeitig leicht ſichtbare Kennzeichen des oft wiederholte gleichzeitige Erregung zweier
geborgenen Honigs (Saftmale) züchteten — Vorſtellungen, nämlich derjenigen lebhaft
aber freilich nicht mehr mit gleichmäßiger gefärbter Zeichnung und derjenigen geborgenen
Betheiligung an der Blumenzüchtung, und Honigvorraths, nothwendige Vorbedingung
nicht, ohne damit eine Sonderung der iſt. Und wie ſich ebenfalls von ſelbſt ver—
Blumenbeſucher in kurzrüſſelige und lang- ſteht und durch die Beobachtung blumen—
rüſſelige, der Blumen in allgemein zugängliche beſuchender Inſekten tauſendfach beſtätigt wird,
und beſchränkteren Beſucherkreiſen angepaßte haben die unſteten, mehr zufälligen Blumen—
ff
Müller, Die Inſekten als
beſucher dieſen Grad von Einſicht nicht er—
langt, ſondern ausſchließlich blumenſtete,
honigeifrige, wenn auch dabei kurzrüſſelige
Inſekten. Aus der bunten Geſellſchaft aller
möglichen kurzrüſſeligen Inſekten ſind alſo
durch ihre Bevorzugung geborgener, honig-
reicherer Nektarien die zwar ebenfalls noch
kurzrüſſeligen, aber bereits blumenſtet ge—
wordenen als eine beſondere Blumenzüchter—
geſellſchaft herausgetreten und haben ſich,
zunächſt in einfachen, offenen, regelmäßigen
Blumen, reichlicher fließende, gegen den Regen
geſchützte Honigquellen zu ihrer alleinigen
Ausnutzung gezüchtet. Obgleich ſie nun
dieſelben auch mit ihren urſprünglichen kurzen
vergleiche die vorangehende Abbildung), ſo
verurſachte ihnen doch das Hinabzwängen
des ganzen Kopfes zwiſchen eng an einander—
liegenden Theilen hindurch nach dem ge—
borgenen Honige hin unvermeidlich ſoviel
Unbequemlichkeit und Zeitverluſt, daß alle
etwa auftretenden, etwas langrüſſeligeren Ab—
änderungen im Wettkampfe um das Daſein
in bedeutendem Vortheile waren und über
ihre kurzrüſſeligeren Concurrenten den Sieg
erringen mußten.
Durch ihre Züchtung geborgenen Blumen—
honigs eröffneten alſo die blumenſteten In—
ſekten zugleich der Naturzüchtung die Bahn,
ihre eigenen Rüſſel zu verlängern, und es
iſt leicht einzuſehen, daß derſelbe urſächliche
Zuſammenhang, welcher die erſten Schritte
von Honigbergung und Rüſſelverlängerung
leitete, auch weitere Schritte in derſelben
Richtung herbeiführen mußte.
Denn ebenſo wie ſich zuerſt durch die
verſchiedenen Neigungen und Lebensgewohn—
heiten der verſchiedenen Inſekten ein Unter—
ſchied zwiſchen zufälligen und ſteten Blumen⸗
beſuchern ausgebildet hatte, ebenſo mußte
ſpäter aus demſelben Grunde eine immer
unbewußte Blumenzüchter.
reicher gegliederte Differenzirung der blumen—
ſteten Inſekten in trägere und fleißigere,
in langſamer und ſchneller arbeitende, in
weniger oder mehr der Blumennahrung
bedürftige erfolgen; und da die letzteren offen—
bar beſtändig in der lebhafteſten Concurrenz
um die tiefſten und ergiebigſten Nektarien
ſich befanden, ſo mußte gerade bei ihnen jede
Abänderung mit etwas geſteigerter Rüſſellänge
am meiſten Ausſicht haben, durch Natur—
ausleſe erhalten und in gleicher Richtung
weiter ausgeprägt zu werden.
Ebenſo ferner, wie es anfangs den Blumen
vortheilhafter war, ausſchließlich, aber um
ſo eifriger, von blumenſteten, als frei, aber
Rüſſeln noch zu entleeren vermochten (man
weniger eifrig, von allen möglichen Gäſten
beſucht zu werden, ebenſo mußte es auf
jeder weiteren Stufe der Blumenentwickelung
die Wahrſcheinlichkeit der Kreuzungsvermittel—
ung erhöhen, wenn fleißigere, ſchneller ar—
beitende, der Blumennahrung in höherem
Grade bedürftige und unter dem Einfluſſe
dieſer Eigenſchaften durch Naturzüchtung lang—
rüſſeliger gewordene Inſekten die ausſchließ—
lichen aber um ſo eifrigeren Beſucher einer
Blume wurden. So mußte denn in ſtufen—
weiſer Steigerung Naturzüchtung die blumen-
eifrigſten Inſekten immer langrüſſeliger, und
die von den langrüſſeligſten Inſekten aus—
geübte Blumenzüchtung die von ihnen bevor—
zugten Blumen immer langröhriger machen
und damit auf einen immer engeren Kreis
von Kreuzungsvermittlern und Blumen—
züchtern beſchränken.
Verſchiedene Blumenfamilien bieten uns
noch heute eine Stufenfolge verſchiedener
Röhrenlängen und dem entſprechend ſtufen—
weiſe mehr eingeengter Beſucherkreiſe dar,
welche uns die auf einander gefolgten Schritte
der Honigbergung und Rüſſelverlängerung,
die wir ſo eben im Allgemeinen uns klar
zu machen verſucht haben, im Einzelnen
veranſchaulichen. Wir beſchränken uns hier
darauf, auf die Familie der Caryophylleen
hinzuweiſen. In dieſer folgen auf die
offenen Blüthen der Alſineen, deren Honig
vorzugsweiſe von kurzrüſſeligeren Gäſten
(Käfern, Blattwespen, unausgeprägteſten
Bienen, beſonders aber Fliegen), weit ſeltener
von Faltern und der Honigbiene ausgebeutet
wird, die Sileneen mit ſtufenweiſe geſteigerter
Länge der Kelchröhren und ſtufenweiſe be—
ſchränkterem Beſucherkreiſe. Z. B. zeigen
die 2½ Millimeter tiefen und am Eingange
ebenſo weiten Blumenglöckchen von Gypso—
phila paniculata noch dieſelbe Mannigfaltig—
keit verſchiedenartiger Beſucher, noch daſſelbe
Uebergewicht der kurzrüſſeligen, aber in Folge
des geſteigerten Honigvorraths, der erſt
durch ſeine tiefere Bergung ermöglicht worden
iſt, einen im Ganzen viel reichlicheren Beſuch.
Lyehnis flos eueuli dagegen mit ihrer 6—7
Millimeter langen Kelchröhre geſtattet den
Genuß ihres reichen Honigvorraths außer
unſerer langrüſſeligſten Schwebfliege (Rhingia
rostrata) nur noch ausgeprägten Bienen
und Schmetterlingen, die aber eben deshalb
um ſo häufiger ſich einfinden.
Wie bei Lychnis flos eueuli, fo wird
nun allgemein durch jede Steigerung der
Röhrenlänge einer Blume ihr Beſucherkreis
mehr eingeengt und den übrigbleibenden
langrüſſeligſten Beſuchern der Alleinbeſitz
des Honigs um ſo unbeſtrittener geſichert.
Es kann daher keinem Zweifel unterliegen,
daß dieſe, wenn ſie die Wahl haben, die
tieferen den weniger tiefen Blumenröhren
vorziehen und von jeher vorgezogen haben.
Die geſteigerten Röhrenlängen ſind alſo die
Züchtungsprodukte einer immer engeren Ge—
ſellſchaft immer langrüſſeligerer Inſekten zu
ihrem eigenen und dadurch erſt mittelbar
auch zu der Pflanze Vortheil.
Die Kelchröhre von Lychnis flos cuculi
Müller, Die Iuſekten als unbewußte Blumenzüchter.
brauchte nun ſich nur noch einige Millimeter
mehr zu verlängern, um auch Rhingia als
die letzte der Fliegen, und ſie brauchte nur
ihren Eingang zu verengen, um auch die
Bienen vom Honiggenuſſe auszuſchließen und
denſelben ausſchließlich noch den Schmetter—
lingen zu überlaſſen, wie es bei Lyehnis
flos Jovis, vielen Silene- Saponaria- und
Dianthus-Arten in der That der Fall iſt.
So läßt ſich in dieſer wie in mehreren
anderen Familien (3. B. Groſſulariaceen,
Rubiaceen, Primulaceen u. a.) der allmälige
Uebergang einfacher regelmäßiger Blumen
von offenem zu immer tiefer im Grunde
einer Röhre geborgenem Honig und von
einem weiten Kreiſe mannigfachſter kurzrüſſe—
liger zu einem immer engeren, ſchließlich
auf eine beſtimmte Inſektenform beſchränkten
Kreiſe immer langrüſſeligerer Beſucher ſelbſt
an den heute noch lebenden Arten faſt Schritt
für Schritt verfolgen, und von der bunten
Geſellſchaft urſprünglicher kurzrüſſeliger Be—
ſucher werden wir unvermerkt zur Blumen—
züchtung beſtimmter Inſektenformen, zunächſt
der Schmetterlinge, geführt.
III. Die Schmetterlinge als un—
bewußte Blumenzüchter.
Da die einzige Sorge und Arbeit der
Schmetterlinge für die Ernährung und Sicher—
ung ihrer Nachkommen in dem verſteckten,
oft durch eine Haar- oder Schleimdecke ge—
ſchützten Ablegen der Eier an die gewohnte
Pflanze beſteht, ſo können und konnten ſie
von jeher die ganze Zeit, die ihnen im
fertigen Zuſtande umherzuflattern vergönnt
iſt, dem Honiggenuſſe und der Liebe widmen
und ſich in einſeitigſter Weiſe der Gewinn—
ung des Blumenhonigs und des Gatten
anpaſſen. In der That ſind ihre Mund—
theile viel einſeitiger als diejenigen der Bienen,
welche dieſelben außer zur Honiggewinnung
auch zur Herſtellung der Brutzellen ge—
brauchen, und als diejenigen der Schweb—
fliegen, die mit denſelben ſowohl Honig ſaugen
als Pollen freſſen, der Gewinnung tief
geborgenen Honigs angepaßt. Denn das
dünne, aus zwei Halbrinnen zuſammengefügte
Saugrohr, zu welchem ſich ihre Kieferladen
umgebildet haben, wird mit Leichtigkeit in
weitere oder engere, gerade oder gekrümmte
Blumenröhren hinabgeſenkt, mittelſt ſpitzer
Hervorragungen an ſeinem Ende ſelbſt zur
Erbohrung und Gewinnung im Zellgewebe
eingeſchloſſenen Saftes benutzt, und beim
Nichtgebrauche zu einer zierlichen Rolle zu—
ſammengewickelt zwiſchen den emporſtehenden
Lippentaſtern geborgen. Nur Empiden,
Conopiden und Bombyliden, die als Dip—
teren eben ſo wenig Brutverſorgungsarbeit zu
|
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
der Gewinnung des Blumenhonigs begün—
ſtigtſten Abänderungen; und ihr geſteigerter
Farben- und Geruchsſinn hat nicht verfehlen
verrichten haben und als Nicht-Pollenfreſſer
eben ſo einſeitigen Gebrauch von ihren Mund—
theilen machen, können, allein von allen
blumenbeſuchenden Inſekten, auch an Ein—
ſeitigkeit der Anpaſſung derſelben mit den
Schmetterlingen verglichen werden. Aber
da ſich bei ihnen die ſämmtlichen Mundtheile,
die Unterlippe als Rinne, die übrigen als
Borſten, geſtreckt haben, ſo haben ſie weder
in ſo einfacher Weiſe eine Verlängerung,
noch überhaupt eine ſo geſchützte Bergung
in der Ruhelage erlangen können, und ſind
in der im Wettkampfe um die Entleerung
der tiefſten Honigbehälter entſcheidenden
Rüſſelverlängerung nicht nur hinter den
Schmetterlingen, ſondern ſelbſt hinter den
Bienen weit zurückgeblieben. Höchſt wahr—
ſcheinlich hat ſich gleichzeitig mit der Rüſſellänge
der Schmetterlinge, in Folge ihrer einſeitigen
Vorliebe für Blumenhonig, auch ihr Geruchs—
ſinn und überdies, wenigſtens bei den Tag—
faltern, auch der Farbenſinn außerordentlich
geſteigert, ſei es einfach durch die Wirkung
des Gebrauchs, ſei es durch Naturausleſe
der unterſcheidungsfähigſten und dadurch in
können, wiederum ihre Gatten- und Blumen—
auswahl zu beeinflußen. Indem die Weibchen
immer denjenigen Männchen den Vorzug
gaben, die ihrem entwickelten Geruchsſinn
den angenehmſten Eindruck machten, ver—
anlaßten ſie die Ausbildung der mannig—
faltigen Duftvorrichtungen, welche die Männ—
chen in den entſcheidendſten Momenten ihrer
Liebeswerbung entfalten; “) ebenſo veran—
laßte bei den Tagfaltern die gegenſeitige
geſchlechtliche Wahl die Ausbildung eines
oft nach den Geſchlechtern verſchiedenen, oft
aber auch durch Vererbung von einem Ge—
ſchlechte auf das andere bei beiden gleichen
farbenprächtigen Schuppenkleides, welches
dann nicht ſelten aus einem Putzkleide
durch Naturzüchtung nachträglich zu einem
Schutz- oder Trutzkleide“ “) umgebildet wurde.
Und indem Männchen und Weibchen der
Tagfalter bei ihrer Blumenauswahl die
ihnen angenehmſten Farben und Gerüche
bevorzugten, züchteten ſie Blumen, die ſich
durch prächtige Farben, oft mit zierlichen
Zeichnungen, oder durch würzige Wohlgerüche
oder durch beide Eigenſchaften zugleich aus—
zeichnen. Aber natürlich konnten ſie als
ſelbſtſtändige Blumenzüchter überall erſt dann
auftreten, wenn die übrigen langrüſſeligen
Inſekten (Bienen und Fliegen) vom Mitge—
nuſſe des Honigs und weſentlicher Mitbe—
theiligung an der Kreuzungsvermittlung
ausgeſchloſſen waren. Bei der im Weſentlichen
übereinſtimmenden Geſchmacksrichtung aller
langrüſſeligen Blumenbeſucher war natürlich
eine Ausſchließung durch den Einen ſympa—
) Vgl. Kosmos. Bd. II. S. 38 flgde.
0 Ich gebrauche dieſe Ausdrücke im Sinne
Jaeger's. Vgl. Kosmos I. S. 486 flgde.
Müller, Die Inſekten als
414
thiſche, den Anderen antipathiſche Farben und
Gerüche, wie wir ſie bei den Ekelblumen
kennen gelernt haben, nicht möglich; nur
ein mechaniſches Hinderniß konnte die übrigen
langrüſſeligen Gäſte vom Genuſſe des Honigs
abhalten und die Schmetterlinge in den
Alleinbeſitz deſſelben ſetzen. Ein Vergleich
der Mundtheile der Schmetterlinge mit den—
jenigen der langrüſſeligen Bienen und Fliegen
ergiebt nun ſofort, daß urſprünglich nur
die Dünnheit der Schmetterlingsrüſſel, dieſe
aber ſehr leicht und durchgreifend, die
Möglichkeit des Ausſchließens aller Nicht—
Schmetterlinge von Honigquellen, welche
Schmetterlingen bequem zugänglich ſind,
gewähren konnte. Und in der That ſehen
wir die tiefgeborgenen Honigſchätze mancher
Blumen durch hinreichend enge Zugänge
in den Alleinbeſitz der Falter übergegangen,
und dieſe allein mit dem Liebesdienſt der
Kreuzungsvermittlung betraut, die betreffen—
den Blumen alſo zu ächten „Falterblumen“
geworden. Ebenſo aber wie ſich aus dem
großen Heere der Falter als langrüſſeligſte
und blumeneifrigſte Gruppe diejenige der
Schwärmer hervorgehoben hat, ebenſo haben
ſich von den Falterblumen gewiſſe Arten durch
Verlängerung ihrer Honigbehälter den alle
andern Inſekten an Rüſſellänge übertreffen—
den Schwärmern ausſchließlich angepaßt und
ſich zu „Schwärmerblumen“ ausgebildet.
Alle Falterblumen ſind natürlich auch
den Schwärmern zugänglich, ſofern nicht
etwa ihre zu große Engigkeit dieſe am
Zutritt hindert oder gar wie bei dem im
Kosmos (Jahrg. II. Hft. 2. S. 178)
von meinem Bruder Fritz Müller be—
ſprochenen Hedychium, in eine verhängniß—
volle Falle lockt; aber die Schwärmerblumen
ſind den übrigen, kurzrüſſeligeren Faltern
unzugänglich und bilden ſomit eine beſondere
Klaſſe von Blumen, die ſich vor allen
unbewußte Blumenzüchter. |
übrigen ebenſo durch die Länge, wie die
Falterblumen durch die Engigkeit ihrer
Zugänge zum Honige auszeichnen. Wir
faſſen als die urſprünglicheren zunächſt die
Falterblumen ins Auge und ſuchen uns
ihre Entſtehung an beſtimmten Beiſpielen
klar zu machen.
Wenn eine Lychnisart von der Röhren—
länge und Weite, überhaupt von der ganzen
Blütheneinrichtung unſerer Lyehnis flos
cuculi, die, wie wir ſahen, von Schmetter—
lingen, Bienen und unſerer langrüſſelig—
ſten Schwebfliege (Rhingia rostrata) recht
häufig beſucht wird, ihren Verbreitungsbe—
zirk in Gegenden ausdehnte, in denen, wie
z. B. in der alpinen Region, die Schmetter-
linge an Häufigkeit in Vergleich zu den
übrigen Blumenbeſuchern ſehr bedeutend zu—
nähmen, ſo müßte es offenbar von erheb—
lichem Vortheile für ſie ſein, ein bevorzugter
Liebling der Schmetterlinge zu werden. Dieſen
aber würden, unter übrigens gleichen Um—
ſtänden, natürlich diejenigen Blumen am lieb—
ſten ſein, die ihnen den Honig zum alleinigen
Genuße verwahrten. Träten alſo Abänder—
ungen mit engeren, dieſes bewirkenden Röhren
auf, ſo würden dieſelben von den Schmetter—
lingen vorzugsweiſe ausgewählt und als blei—
bende Form gezüchtet werden. Die vorher
noch einem gemiſchten, wenn auch bereits engen
Beſucherkreiſe zugängliche Lychnis würde da—
durch zur Falterblume werden.
Genau daſſelbe, was wir hier als mög—
lich annahmen, ſcheint ſich an den Stamm—
eltern von Lyehnis flos Jovis thatſächlich
vollzogen zu haben. Denn ſo gewiß in der
ganzen Familie der Caryopyhlleen die Ent—
wicklung von offnen zu röhrigen Blumen-
formen fortgeſchritten iſt, jo gewiß find die
Blumen der näheren oder entfernteren Stamm—
eltern auch von Lychnis flos Jovis einem
gemiſchten Beſucherkreiſe zugänglich geweſen.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Sie ſelbſt aber treffen wir in den ſchmetter—
lingsreichen Thälern der Hochalpen mit ſo
verengtem Bütheneingange, daß nur noch
Schmetterlinge bequem zu ihrem Honige ge—
langen können (Hummeln höchſtens durch
mühſames und unbequemes Hineinzwängen
des Rüſſels). Und in der That fand ich
415
ſie im Suldenthale am Fuße des Ortler
(bei St. Gertrud, 22. Juli 1875), abge-
ſehen von einer pollenfreſſenden Fliege (Eri—
stalis tenax), nur von Tagfaltern (Colias
Phicomone, Argynnis Aglaja, Polyomma-
tus hippotho@ var. eurybia), von dieſen
aber in Mehrzahl beſucht.
Fig. 7.
Uebergang von einem gemiſchten Beſucherkreiſe zugänglichen
Blumen zu Tagfalterblumen.
A Lychnis flos cuculi, deren Honig außer von Schmetterlingen auch von Bienen und den
langrüſſeligſten Schwebfliegen ausgebeutet wird.
noch von Schmetterlingen ausgebeutet wird.
Bienen und Fliegen beſucht.
B Lychnis flos Jovis, deren Honig nur
C D Daphne Mezereum. von Schmetterlingen,
E F Daphne striata, nur noch von Schmetterlingen bejucht.
n Nektarium.
Ebenſo mag aus einer Daphneform der
Ebene oder niederen Berggegend, welche, wie
unſer D. Mezereum, von Schmetterlingen,
Bienen und Fliegen beſucht wurde, in der
alpinen Region von den Schmetterlingen
die durch weit längere und engere Blumen—
röhren und ungemein würzigen Wohlgeruch
ausgezeichnete D. striata gezüchtet worden
ſein, deren Honig in Folge des engen Blüthen—
einganges (Fig. 7) nur noch Schmetter-
lingen zugänglich iſt, und die ich in der
| That ausſchließlich von Schmetterlingen be-
ſucht fand.
Wie in dieſen, jo haben ſich die Schmetter-
linge in allen Fällen, wo ſie die entſcheidende
Rolle ſpielten, ihre Lieblingsblumen beim
Eintreten geeigneter Abänderungen ſo eng—
röhrig gezüchtet, daß ſich andere Beſucher vom
Kosmos, Band III. Heft 5.
53
416 Müller, Die Inſekten als
Mitgenuſſe des Honigs ausgeſchloſſen ſehen.
Den Blüthenſtaub dagegen haben ſie, da ſie
für ſich ſelbſt ja keinen Gebrauch von dem—
ſelben machen, natürlich auch bei ihrer Blumen—
auswahl nicht berückſichtigt, und auch Natur—
züchtung hat ſeine offene Lage bei Falter—
blumen wohl kaum je beſeitigen können, da
der Schaden, welchen Pollen ſuchende Inſekten
durch nutzloſen Pollenraub wohl anſtiften,
durch gelegentlich dabei auch von ihnen ver—
mittelte Kreuzung gewiß mehr als aufge—
wogen wird, Schutz des Pollens gegen Regen
aber ſicherlich Falterblumen nicht nöthiger iſt,
als er den allgemeiner zugänglichen Blumen
nöthig war, aus denen ſie hervorgegangen ſind.
Daher findet ſich, wie wir uns an den vor—
ſtehenden Abbildungen veranſchaulichen können,
der Blüthenſtaub wahrſcheinlich nur bei ſolchen
Falterblumen ebenfalls im Innern der Blu-
menröhre geborgen und dadurch der Ein-
wirkung pollenfreſſender Inſekten entzogen,
deren Stammeltern bereits, als ſie noch
einen gemiſchten Beſucherkreis an ſich lockten,
dieſelbe Art von Pollenbergung beſaßen.
Gezüchtet haben ſich die Schmetterlinge (von
den Schwärmern zunächſt abgeſehen) un—
mittelbar zu ihrem Nutzen nur die für
alle Falterblumen charakteriſtiſchen engen Zu—
gänge zum Honige, zu ihrem Vergnügen
aber und erſt mittelbar, als Erkennungs—
zeichen ihrer auserwählten Lieblinge, auch
zu ihrem Nutzen, die ihnen am meiſten zu-
ſagenden Farben und Gerüche.
Ueberall mußte ſich natürlich ihre ſelbſt—
ſtändige Blumenzüchtung an die Züchtungs⸗
produkte des gemiſchten Beſucherkreiſes an—
knüpfen, aus welchem ſie hervortraten. Die
engen Honigzugänge kamen daher in ver—
ſchiedenen Familien von verſchiedenen Aus-
gangspunkten aus in ſehr verſchiedener Weiſe
zu Stande. Bei den Cruciferen z. B.
mußten ſich die getrenntblätterigen, urſprüng
unbewußte Blumenzüchter.
lich offenen Blüthen durch Aufrichten und
Aneinanderſchließen der Kelchblätter erſt zu
einer röhrigen Form umgebildet und auf
einen engeren Beſucherkreis beſchränkt haben
(wie es z. B. bei Cardamine pratensis
und in erhöhtem Grade bei Hesperis
matronalis der Fall ift*)), ehe beim Auf—
treten weiterer Abänderungen die Schmetter—
linge ſich als ſelbſtſtändige Blumenzüchter
bethätigen und eine Falterblume (wie Hes-
peris tristis) erzielen konnten. Welche Um—
bildungen die urſprünglich getrenntblättrigen,
völlig offenen und allgemein zugänglichen
Blüthen der Caryophylleen erlitten haben,
ehe aus dem immer enger gewordenen Be—
| ſucherkreiſe die Schmetterlinge ſelbſtſtändig
hervortreten und durch Auswahl mit noch
engeren Kelchröhren verſehener Abänderungen
Falterblumen, wie ſo manche Lychnis-, Silene-,
Saponaria-, Dianthusarten, züchten konnten,
iſt bereits weiter oben kurz angedeutet
worden. Am leichteſten mußte ſich natür—
lich eine geeignete Ausgangsform für erfolg—
reiche Weiterzüchtung durch Schmetterlinge
allein ergeben, wenn ſchon zur Zeit der ge—
miſchten Beſuchergeſellſchaft eine einfache offene
Blumenröhre vorhanden war, wie z. B.
bei Daphne und Primula, oder eine honig—
haltige Ausſackung, ein ſogenannter Sporn,
wie bei manchen Orchideen; denn es be—
durfte dann nur noch einer Verengerung
dieſer Behälter oder auch nur ihres Ein—
ganges. Aber ſelbſt völlig offene Honig-
abſonderung auf weit auseinander gebreitet
bleibenden Blumenblättern hat der Züchtung
enger, nur den Schmetterlingen zugänglicher
Honigröhren keine unüberwindlichen Schwie—
) An Cardamine pratensis fand ich 4
Schmetterlinge, 5 langrüſſelige Fliegen und 6
Bienen honigſaugend, an Hesperis matronalis
außer Schmetterlingen nur noch unſere lang—
rüſſeligſte Schwebfliege Rhingia rostrata.
tu
——
—
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
rigkeiten entgegengeſetzt, wie uns z. B. Lilium
Martagon und bulbiferum beweiſen.
Das auf der Mittellinie der Baſis der
Perigonblätter urſprünglich, wie z. B. bei
Lloydia, völlig offen gelegene Nektarium
hat ſich bei dieſen Lilienarten zu einer langen
honigabſondernden Rinne geſtaltet, die durch
das Zuſammenneigen ihrer Ränder und
einen dichten Beſatz von Härchen völlig ge—
deckt und zu einer in der That nur Schmetter—
lingen zugänglichen Honigröhre geworden iſt.
Im Beſitze einer für die übrigen Blumen—
beſucher zu engen, honighaltigen Röhre oder
eines für dieſelben zu engen Zuganges zum
Honig ſtimmen ſämmtliche Falterblumen über-
ein, in Bezug auf die Tageszeit aber, in
welcher ſie aufblühen, duften und in die
Augen fallen, ſind ſie, je nach der Lebens—
gewohnheit ihrer Züchter, eben ſo verſchieden
wie dieſe, ſo daß ſie ſich im Allgemeinen
in Tagfalterblumen und Nachtfalter—
blumen unterſcheiden laſſen. Die erſteren
ſind von den letzteren durch bunte Farben
ausgezeichnet, welche natürlich, da ſie nur
bei Tage wirken und gezüchtet werden können,
den Nachtfalterblumen fehlen oder höchſtens
als Erbſtücke von tagblüthigen Stammeltern
her zukommen. Von anderen Tagblumen
zeichnen ſich die von den Tagfaltern ge—
züchteten bisweilen durch zierlich vertheilte,
beſonders gefärbte Punkte aus (z. B. Dian-
thus-Arten Gymnadenia conopsea, Orchis
globosa und ustulata), die auf den aus—
gebildeteren Farbenſinn ihrer Züchter hin—
weiſen. Im Uebrigen laſſen ſich die Tag—
falterblumen nach ihrer Farbe, wie nach ihrer
Entſtehung in zwei ſcharfgeſonderte Gruppen
unterſcheiden, je nachdem ſie von den Tag—
faltern von unten herauf gezüchtet oder erſt
nachträglich aus bereits ausgeprägten Bienen—
oder Hummelblumen zu Tagfalterblumen
umgeprägt worden ſind. Alle diejenigen
417
Blumen nemlich, welche ſchon von dem Stadium
an, als ſie noch einem gemiſchten Beſucher—
kreiſe zugänglich waren, von Tagfaltern allein
weiter gezüchtet worden ſind, zeichnen ſich,
ſoweit ſie der Deutſchen und Schweizer Flora
angehören, durch ſanfter oder lebhafter rothe
Farbe aus. Es gilt dies von Lychnis
diurna, flos Jovis u. a., Dianthus-Arten,
Silene acaulis, Saponaria ocymoides,
Primula farinosa, longiflora, integrifolia,
villosa, minima, Anacamptis pyramidalis,
Orchis globosa, ustulata, Nigritella angu-
stifolia und Lilium bulbiferum. Alle
dieſe ſind von roſenrother oder lebhaft purpur—
rother, nur Lilium bulbiferum, die Feuer—
lilie, iſt von feuerrother Farbe. Die meiſten
dieſer Beiſpiele (etwa 5/0) gehören der Alpen—
flora an, in welcher die Tagfalter relativ
viel häufiger ſind und daher auch als Blumen—
züchter eine viel bedeutendere Rolle ſpielen,
als in der niederen Berggegend und noch
mehr als in der norddeutſchen Tiefebene,
die in der That wohl nur einige Sileneen
und, an der Nordgrenze ſporadiſch auf—
tretend, die in den Alpen verbreitetere
Primula farinosa als Tagfalterblumen auf—
zuweiſen hat. Es iſt nun gewiß nicht bloß
zufällig, daß von den Tagfaltern, welche
auf den Alpen als die häufigſten Blumen—
beſucher auftreten, die meiſten ſelbſt lebhaft
roth gefärbt ſind (zahlreiche Argynnis- un
Melitaea-, mehrere Polyommatus- und Va-
nessa-Arten,“) und daß gerade lebhaft roth ge—
gefärbte Blumen mit ganz entſchiedener
Vorliebe von dieſen ſelbſt lebhaft roth ge—
färbten Faltern beſucht werden. So ſah
Hh ueber die Blumen züchtenden Tagfalter
der Ebene habe ich mir, bei der außerordent—
lichen Schmetterlings-Armuth der weſtfäliſchen
Ebene, ein beſtimmtes Urtheil nicht bilden
können, doch ſcheinen mir auch da neben den
Weißlingen Arten der genannten Gattungen
zu den blumeneifrigſten zu gehören.
2
ich z. B. Lilium bulbiferum (im Sulden—
thale am Fuße des Ortler, im Juli 1875)
ausſchließlich von den feuerrothen Arten
Argynnis Aglaja, Polyommatus Virgau—
Müller, Die Inſekten als
rene und P. hippothos var. eurybia,
von dieſen aber ſo häufig beſucht, daß oft
mehrere zugleich in derſelben Blüthe ſaßen;
deren Gleichfarbigkeit ihnen zugleich den
Schutz der Unſichtbarkeit gewährte. Die
orangefarbenen Compoſiten Crepis aurea,
Hieracium aurantiacum, Senecio abro-
tanifolius, find bei ſonnigem Wetter ein
wahrer Tummelplatz der feuerrothen Tag—
falter. Selbſt an lebhaftrothen Rumex—
früchten ſah ich (im Suldenthale) die beiden
genannten Feuerfalter (Polyommatus) und
Argynnis pales ſehr wiederholt anfliegen,
an den zahlloſen blauen Blumenköpfen der
alpinen Phyteuma-Arten dagegen die Bläu—
linge (Lyeaena) mit unverkennbarer Vor—
liebe ſich herumtreiben. Nach dieſen und
manchen ähnlichen Beobachtungen bin ich
ſehr geneigt zu glauben, daß dieſelbe Vor—
liebe der Tagfalter für gewiſſe Farben,
welche ſich in dem von ihnen durch geſchlechtliche
Ausleſe gezüchteten eigenen Putzkleide aus—
ſpricht, auch ihre Blumenauswahl und da—
durch mittelbar die Farbe der Tagfalter—
blumen beſtimmt hat, wie ja auch zwiſchen
den Gerüchen der Schmetterlinge und der
von ihnen gezüchteten Blumen überraſchende
Aehnlichkeiten vorkommen (Vgl. Kosmos,
Bd. III. S. 187. „Blumen der Luft“).
Daß es in anderen Ländern auch anders
gefärbte Tagfalterblumen gibt (als blaue
Tagfalterblume iſt mir z. B. Asperula
azurea bekannt geworden), ſteht mit meiner
Vermuthung in keinem Widerſpruch. Denn
nach derſelben könnten ja z. B. in einer
Gegend Bläulinge die entſcheidende Rolle
geſpielt und ſich blaue Tagfalterblumen ge—
züchtet haben.
.
unbewußte Blumenzüchter.
Was die zweite oben angeführte Klaſſe
von Tagfalterblumen betrifft, ſo bietet in
der That die Alpenflora zwei, wie mir
ſcheint, ganz unzweideutige Beiſpiele von
Blumen dar, welche aus ausgeprägten Bienen—
oder Hummelblumen erſt nachträglich zu
Tagfalterblumen umgeprägt worden ſind,
nämlich Rhinanthus alpinus und Viola
calearata.*) Eine mit unſerem Hahnen—
kamm (Rh. erista galli) im Weſentlichen
übereinſtimmende, wie dieſe von Hummeln
gezüchtete und ausſchließlich von Hummeln
beſuchte und befruchtete Rhinanthusform, wie
ſie die Stammeltern des Rh. alpinus ohne
Zweifel beſeſſen haben werden, mußte beim
Vorrücken in die ſchmetterlingsreichere ſubal—
pine und alpine Region auch den an allen
möglichen Blumen herumprobirenden Tag—
faltern den Zutritt zu ihrem Honige ge
ſtatten; aber nur diejenigen Tagfalter konnten
ihr auch als Kreuzungsvermittler dienen,
welche Narbe und Pollen mit ihrem Rüſſel
berührten, die alſo denſelben in den oberſten
Theil des Blütheneinganges, dicht unter der
Narbe her und zwiſchen den Staubbeuteln
hindurch, in die Blüthe ſenkten.“ ) Die
) Da die Blütheneinrichtungen beider be—
reits in früheren Aufſätzen (Nature vol. XI.
p. 110 flgde. u. vol. XIII p. 289 flgde.) von mir
eingehend beſchrieben und abgebildet ſind, ſo
beſchränke ich mich hier auf eine kurze An—
deutung ihrer muthmaßlichen Entſtehung.
) Was ich hier für die Stammeltern
von Rhinanthus alpinus als beim Emporrücken
auf die Alpen unausbleiblich vorausſetze, habe
ich bei unſerem Rh. erista galli var. minor
in Meereshöhen von 1800—2400 Meter that-
ſächlich beobachtet. Ein Bläuling, Lycaena
argus, flog wiederholt auf Blüthen von Rh.
minor an und ſtreckte von oben kommend den
Rüſſel durch die obere kleine Oeffnung dicht
unter der Narbe in die Blüthe, Erebia melampus
ſaugte durch dieſelbe Oeffnung. Plusia Hochen-
wartii dagegen, die ſehr behend und andauernd
Bi
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
in dieſer Weiſe verfahrenden Tagfalter konnten
als alleinige Kreuzungsvermittler auch allein
eine züchtende Wirkung ausüben, und ſie
übten dieſe Wirkung aus, indem ſie ſolche
Abänderungen der RKhinanthus-Blumen be—
vorzugten, welche ihnen im oberſten Theile
des offenen Spaltes der Oberlippe den be—
quemſten Eingang für ihre Rüſſel darboten.
So züchteten ſie ſich über der zunächſt noch
offen bleibenden Hummelthüre eine hervor—
ſtehende, durch zwei divergirende blaue Seiten—
läppchen leicht fihtbare *) und bequem zu—
gängliche beſondere Thüre für ihren langen
dünnen Rüſſel. Der ſubalpine Rhinanthus
aleetorolophus iſt auf dieſer merkwürdigen
Stufe gleichzeitiger Anpaſſung an zwei fo
verſchiedene Beſucherkreiſe wie Hummeln und
Tagfalter ſtehen geblieben, entſprechend der
in dieſer Region ungefähr gleichen Häufig—
keit beider. Wo aber die Tagfalter an Häu—
figkeit der Kreuzungsvermittlung und damit
an Einfluß auf die Züchtung das entſchiedene
Uebergewicht erlangten, da hatten natürlich
diejenigen Abänderungen, welche den Tag-
faltern allein den Honig aufbewahrten, die
an Rhinanthus minor ſaugte, führte den Rüſſel
regelmäßig durch die Hummelthüre in die
Blüthen ein. Wäre dieſe geſchloſſen und die
obere kleine Oeffnung, wie bei Rh. alpinus,
weiter vorgeſtreckt und durch ausgebreitete
Seitenflügel bequem zugänglich, ſo würde Plusia
Hochenwartii im Heuthale am Bernina wahr—
ſcheinlich der wirkſamſte Kreuzungsvermittler
von Rh. minor ſein, während ſie ohne dieſe
Anpaſſungen ihr nur ein nutzloſer oder vielmehr
durch Honigraub direkt ſchädlicher Gaſt bleibt.
) Man könnte in der blauen Farbe dieſer
von den alpinen Tagfaltern gezüchteten Seiten—
läppchen einen Einwand gegen ihre ſo eben
behauptete Vorliebe für Roth erblicken. Dieſer
Einwand wird aber hinfällig, wenn man be—
denkt, daß in dieſem Falle die Tagfalter völlig
ausgeprägte gelbe Blumen vorfanden und
daß von ſolchen gerade blaue Läppchen ſich
am ſchärfſten abheben.
vn
419
meiſte Ausſicht, zur Kreuzungsvermittlung
ausgewählt und dadurch als dauernde Form
ausgeprägt zu werden. Hier konnte alſo —
und mußte, beim Auftreten geeigneter Ab—
änderungen — eine Rhinanthusform mit
geſchloſſener Hummelthür und allein geöff—
neter Falterthür gezüchtet werden, wie ſie
uns Rhinanthus alpinus darſtellt.
In ähnlicher, aber weit einfacherer Weiſe,
nämlich durch einfache Spornverlängerung,
iſt vermuthlich aus Viola tricolor oder
einer im Weſentlichen der Blütheneinrichtung
mit ihr übereinſtimmenden Art beim Vor—
rücken in die alpine Region Viola calcarata
gezüchtet worden.
Natürlich hatte die züchtende Thätigkeit
der Inſekten da, wo es ſich um ſchon feſt
ausgeprägte und beſtimmte, ganz abweichen—
den Inſektenklaſſen eng angepaßte Blumen-
formen handelte, einen nur ſehr engen Spiel—
raum, und es iſt kaum auffallend, daß eine
beſtimmte Farbenliebhaberei der Tagfalter in
den genannten beiden Fällen von Umzüchtung
nicht zur Geltung gelangt iſt.
Außer durch enge Honigröhren und
lebhafte Farben ſind manche Tagfalterblu—
men durch einen ſtarken, gewürzhaften Wohl—
geruch ausgezeichnet, wie z. B. in der Ebene
manche Nelken, in den Alpen das Choko—
ladenblümchen, Nigritella
welches ſeine ungemeine Anziehungskraft für
Schmetterlinge wohl zum großen Theile
ſeinem vanilleähnlichen“) Dufte verdankt.
Aber viele Tagfalterblumen ſind faſt geruch—
los, und mehreren derſelben, z. B. Silene
) Auch unter den durch geſchlechtliche Aus—
wahl von den Tagfaltern gezüchteten Düften
ſpielt Vanillegeruch eine wichtige Rolle. Unter
angustifolia,
andern wird z. B. der Duft, welchen das
Männchen der prächtigen Morpho Adonis ent-
wickelt, von meinem Bruder Fritz Müller
in einem Briefe an mich als vanilleartig be—
zeichnet.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Bl
420
umenzüchter.
acaulis und Saponaria oeymoides, gelingt | im Halbdunkel weithin ſichtbare Farbenab—
es trotzdem, durch lebhaft rothe Farben und
dichtes Zuſammendrängen zu größeren im
Sonnenſchein weithin leuchtenden Flächen
einen kaum minder reichlichen Beſuch von
Tagfaltern an ſich zu locken.
Eine ganz andere Wirkung haben Farben
und Wohlgerüche im Halbdunkel des Abends
und der Nacht. Nur helle Farben können
da von weitem in die Augen fallen, nur
fie können daher von Nachtfaltern gezüchtet
werden. Sie können zwar, wenn ſie in
hinreichend großen Flächen auftreten, für ſich
allein genügen, den Blumen die Aufmerkſam—
leit ihrer nächtlichen Kreuzungsvermittler zu—
zuwenden; ſie vermögen aber wahrſcheinlich
nicht, denſelben einen eben ſo angenehmen
Sinnesreiz zu gewähren, wie ihn die Tag—
falter beim Anblick ihrer Lieblingsfarben
offenbar genießen. Daher gibt es auch nur
wenige Nachtblumen, welche ausſchließlich
durch große weiße Blüthenhüllen ſich bemerk—
bar machen, wie z. B. unſere Zaunwinde,
Convolvulus sepium.*) In der Regel
geſellt ſich zur weißen oder blaſſen Farbe
ein Wohlgeruch, der ſich erſt des Abends
kräftig entwickelt. Auch das Aufblühen er—
folgt bei vielen Nachtblumen ausſchließlich
oder vorwiegend des Abends, und es bedarf
keiner beſonderen Ausführung, wie die Nacht—
falter ſelbſt durch Auswahl der ihnen am
meiſten in die Sinne fallenden und den
Honig zu ihrem ausſchließlichen Genuſſe am
beſten verwahrenden Abänderungen ſich blaſſe,
erſt des Abends kräftig zu duften begin—
nende, oder des Abends überhaupt erſt auf
blühende Blumen gezüchtet haben. Wo keine
) Convolvulus sepium wird zwar auch
von Taginſekten, namentlich von Bienen, ge—
legentlich aufgeſucht, ſeine hauptſächlichſten
Kreuzungsvermittler ſind aber Nachtſchmetter—
linge, vor allem Sphinx Convolvuli.
änderungen auftraten, welche von den nächt—
lichen Gäſten hätten gezüchtet werden können,
und ſtarker Duft allein das Anlockungs—
mittel derſelben bildete, da entzog ſich wenig—
ſtens eine etwa ererbte lebhafte Farbe der
weiterbildenden oder auch nur erhaltenden
Wirkung der von den Kreuzungsvermittlern
geübten Auswahl, und es konnten dann
Blumenblätter, deren weſentlichſter Lebens—
dienſt urſprünglich die Augenfälligmachung
der Blumen geweſen war, zu einer Unſchein—
barkeit und Mißfarbigkeit herabſinken, wie
ſie uns mit dem Begriffe der Blumen bei
der erſten Betrachtung faſt im Widerſpruche
zu ſtehen ſcheint und z. B. bei Hesperis
tristis“) jo unangenehm auffällt.
Wenn ſich nun auch im Allgemeinen
Tag- und Nachtfalterblumen durch die be—
ſprochenen Eigenthümlichkeiten leicht und ſicher
unterſcheiden laſſen, ſo fehlt es doch zwiſchen
denſelben eben jo wenig an Zwiſchenſtufen,
als die Sonderung der Schmetterlinge nach
ihrer Lebensgewohnheit, bei Tage oder bei
Nacht zu fliegen, irgend wie eine ſcharfe iſt.
Während z. B. Saponaria officinalis, Lych-
nis alba, Silene nutans und inflata,
Platanthera bifolia (solstitialis Boenning-
haus) und chlorantha als ausgeprägte Nacht—
falterblumen der deutſchen Flora genannt zu
werden verdienen, haben wir Daphne striata,
Gymnadenia conopsea, odoratissima, Cro—
cus vernus und Lilium Martagon als
Zwiſchenſtufen zwischen Tag- und Nachtfalter—
blumen zu betrachten.
Die beiden erſten der zuletzt genannten
Arten ſchwanken völlig unentſchieden zwiſchen
dem Charakter der Tag- und der Nacht—
falterblumen. striata nämlich
kommt ziemlich gleich häufig und oft neben
einander an demſelben Standorte (z. B. im
Nature Vol. XII. p. 190 flgde.
Daphne
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
i Fig. 8. Eine ausgeprägte Nachtfalterblume
Platanthera bifolia (solstitialis Boenninghaus) vom Weißenſtein im Albulathale.
A Blüthe von der Seite geſehen (faſt 2: 1). B Dieſelbe gerade von vorn geſehen (4: 1).
0 Geſchlechtsorgane nebſt Sporneingang, gerade von vorn geſehen (faſt 16: 1). DE Staub-
kölbchen, nach vollendeter Drehung, nebſt ihren Klebſcheibchen (faſt 16 : 1). br Blüthendeck—
blatt, ov Fruchtknoten, sss äußerer Kreis der Blüthenhüllblätter, p p p’ innerer Kreis
der Blüthenhüllblätter, n hohler Sporn, bis x mit Honig gefüllt, o enge Eingangsöffnung
deſſelben, a Anthere, a a Antherenrudimente, ar rechte, al linke Antherentaſche, po Staub-
lölbchen, e Stiel deſſelben, d Klebſcheibchen von der Seite geſehen, d daſſelbe auf der
Innenfläche, d? daſſelbe auf der Außenfläche. Die Spornlänge variirte an dem angegebenen
Standort von 13 — 21 Millimeter. Die weißen Blumen entwickeln des Abends kräftigen
Duft. Der Sporn iſt dann oft bis / feiner Länge mit Honig gefüllt.
ſchmetterlinge ihren Rüſſel in den hohlen Sporn ſtecken, um deſſen Honig zu gewinnen, ſo
kitten fie dabei unvermeidlich die beiden auf der Innenfläche klebrigen Scheibchen (C, d d')
an die Baſis ihres Rüſſels, nehmen beim Wegfliegen die dieſen Klebſcheibchen angehefteten
Staubkölbchen (Fig. D E) mit ſich und ſtoßen dieſelben, nachdem fie die in Fig. E darge—
ſtellte Abwärtsdrehung gemacht haben, gerade gegen die Narben (st Fig. C) der nächſt—
beſuchten Blüthen, wo dann ein Theil des Pollens haften bleibt.
Wenn nun Nacht⸗
oberen Theile des Heuthales am Bernina)
in allen Farbenabſtufungen zwiſchen Roſen—
roth und Weiß vor, und wird nach meinen
wiederholten Beobachtungen ziemlich gleich
häufig von einigen Tagfaltern (Colias
Phicomone, Hesperia comma, Argynnis
pales und euphrosyne) bei Tage fliegenden
Widderchen (Zygaena exulans) und von
einigen Eulen (Plusia gamma und Hochen-
wartii) beſucht und befruchtet. Obgleich
nun meine Beobachtungen nur bei Tage gemacht
wurden, ſo unterliegt es doch wohl kaum
einem Zweifel, daß die auch des Nachts
fliegenden beiden Eulen die bei Tag und
Nacht geöffneten und durch kräftigen gewürz—
haften Wohlgeruch ſich bemerkbar machenden
Blumen der Daphne striata auch des Nachts
beſuchen werden, wahrſcheinlich im Vereine
mit manchen andern nur Nachts fliegenden
Arten, und daß die bisweilen ſchneeweiße
Farbe dieſer Blume das Züchtungsproduct
ihrer nächtlichen Gäſte iſt.
JH FT —— — ͤ———
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. |
422
Eine ähnliche Ausdauer des Blühens
und Duftens bei Tag und Nacht, ähnliche
Abſtufungen der Farben von Roſenroth bis
Weiß und des Beſucherkreiſes von nur bei
Tage fliegenden bis zu nur bei Nacht flie—
genden Faltern bietet Gymnadenia con-
opsea dar, die ich bei Tage in den Alpen
von etwa zwanzig verſchiedenen Tagfalterarten
und mehreren Dämmerungs- und Nacht—
faltern, darunter Plusia gamma, beſucht
fand, während George Darwindes Nachts
an derſelben Blume außer der nämlichen
Plusia gamma noch drei andere, nur des
Nachts fliegende Eulenarten fing.
Während ſo die beiden genannten Blu—
menarten zwiſchen den Eigenſchaften der
Tag- und denjenigen der Nachtfalterblumen
noch völlig unentſchieden hin- und herſchwan—
ken, neigen dagegen Gymnadenia odora-
tissima und Crocus vernus ) unverkenn—
bar ſchon ſehr ſtark nach der Seite der
Nachtblumen hin. Denn ſowohl die äußerſt
ſtark gewürzhaft duftende erſtere, als der
faſt geruchloſe letztere ſchwanken in der Farbe
nur noch zwiſchen blaſſem Roſenroth und
reinem Weiß, und dem ſcheint ihr Beſucher—
kreis völlig zu entſprechen. Denn G. odo—
ratissima fand ich, auch wo ſie maſſenhaft
ſtand, bei Tage doch nur ſehr ſpärlich von
einigen Nachtfaltern (Mythimna imbeeilla,
Odezin chaerophyllata, Crambus coulo-
nellus) beſucht, und die blaſſen Blumen von
Crocus vernus, welche im tief eingeſchnittenen
Grunde des Heuthals am Berning erſt im
Monat Auguſt am Rande des hier noch
maſſenhaft liegenden Schnees zu blühen be—
ginnen, faßte ich vom 4. bis 12. Auguſt
) Das gilt in Bezug auf Crocus vernus
wenigſtens für das Heuthal am Bernina, den
einzigen Standort, wo ich dieſe Art im Natur—
zuſtande zu beobachten bisher Gelegenheit
hatte.
1877 alltäglich längere Zeit ins Auge,
ohne einen einzigen Beſucher zu beobachten.
Gleichwohl fand ich beim Zergliedern ein—
zelner Blumen Pollenkörner bis tief in die
enge Röhre hinein befördert, wohin ſie nur
durch Schmetterlinge gelangt ſein konnten,
ſo daß wohl Nachtfalter hier thätig geweſen
Fig. 9. Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen
Tag- und Nachtfalterblumen,
Crocus vernus.
A Blüthe in natürlicher Größe, nach Ent-
fernung der vordern Hälfte der Blumenkrone.
B Die drei Narbenäſte (7: 1). C Ein Stüd-
chen der Saftdecke (7 : 1), ſowie ein Staub-
faden, an der Stelle, wo er ſich von der
Blumenkrone trennt, durchſchnitten. Man
ſieht, wie ſich die Behaarung zwiſchen zwei
Staubfäden und in dem Winkel zwiſchen
Staubfäden und Blumenkrone ausbreitet.
ſein mußten. Nicca,*) welcher die Blüthen
des Crocus vernus häufig und eifrig von
Tagſchmetterlingen beſucht fand, hat ver—
muthlich lebhafter gefärbte Abänderungen
dieſer Blume vor ſich gehabt. Da übrigens
Ricca, der bis jetzt allein über die Be—
9 Atti della Soc. It. di Scienze nat. Vol.
XIII, fasc. III p. 254. 255.
fruchtungseinrichtung von Crocus vernus
etwas veröffentlicht hat, die Blüthen irr—
thümlicher Weiſe als honiglos und trotzdem
von Schmetterlingen häufig und eifrig be—
ſucht ſchildert, ſo will ich nicht unterlaſſen,
ſogleich an dieſer Stelle ſeinen Irrthum zu
berichtigen.
Die lange Blumenkronenröhre des Cro-
cus vernus enthält in der That Honig,
der vom Fruchtknoten ſelbſt abgeſondert zu
werden ſcheint und, da die enge Röhre vom
Griffel ſelbſt ausgefüllt wird, bis in das
oben erweiterte Ende derſelben emporſteigt.
Die nur als Saftdecke zu deutenden Härchen
machten mich zuerſt auf die Anweſenheit
des Honigs aufmerkſam, den ich ebenſo wie
Ricca Anfangs überſehen hatte; darauf ge—
lang es mir bald, ihn auf der Innenwand
der der Länge nach offen geſpaltenen Blumen—
kronenröhre als farbloſen Saft zu erkennen
und ſogar ſeine Süßigkeit zu ſchmecken.
Die Narben ſind anfangs zwiſchen den
Staubfäden eingeſchloſſen, ſo daß nur die
Staubbeutel ihre pollenbedeckte Außenſeite
der Berührung der eindringenden Falter—
rüſſel darbieten; erſt ſpäter, wenn bei reich—
lichem Falterbeſuche der Blüthenſtaub bereits
entfernt iſt, treten die becherförmigen zer—
ſchlitzten Narben zwiſchen den Staubfäden
nach außen hervor, ſo daß, wenn es an
honigſuchenden Schmetterlingen nicht mangelt,
ſtets ältere Blüthen mit dem Pollen jüngerer
gekreuzt werden. Ebenſo ſicher erfolgt bei
ausbleibendem Schmetterlingsbeſuche Selbſt—
beſtäubung, da in dieſem Falle die mit
Pollen behaftet gebliebenen Staubbeutel die
zwiſchen ihnen hervortretenden Narbenäſte
mit Pollen behaften.
Für die Abſtammungslehre ſind die jo
eben beſprochenen Fälle von beſonderem In—
tereſſe. Denn da uns als Vorſtufen der
— iu ne a nn
Kosmos, Band III. Heft 5.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
m——__— m
423
Falterblumen überhaupt nur Tagblumen be—
kannt ſind, jo haben wir uns alle Nacht
falterblumen als aus Tagfalterblumen her—
vorgegangen vorzuſtellen und Uebergänge
von den letzteren zu den erſteren als noth—
wendige Durchgangspunkte vorauszuſetzen.
Dieſe Vorausſetzung findet nun durch die
beſprochenen Fälle ihre thatſächliche Begründ—
ung. Die Mannigfaltigkeit der in der
jetzigen Blumenwelt noch fortlebenden Zeugen
des vorausgeſetzten Urſprunges aller Nachtfal—
terblumen iſt aber damit keineswegs erſchöpft.
Während nämlich die beſprochenen Zwi—
ſchenſtufen durch ihre Variabilität in dem—
ſelben Merkmale, der Farbe, theils zwiſchen
Tag- und Nachtfalterblumen völlig unent—
ſchieden hin- und herſchwanken, theils mehr
nach der Seite der Nachtblumen hin neigen,
giebt es andererſeits Verbindungsglieder
zwiſchen beiden Klaſſen von Falterblumen,
die in beſtimmter, nicht ſchwankender Aus-
prägung ſich durch ihre Farbe als Tagblumen,
durch ihr abendliches Aufblühen und erſt
am Abend kräftig hervortretenden Duft als
Nachtblumen kennzeichnen und in der That
ſowohl bei Tage als bei Abend und Nacht
von Faltern beſucht und befruchtet werden.
Außer Orchis (Anacamptis) pyramidalis,
auf deren Doppelnatur bereits Darwin
in ſeinem Orchideenwerke hingewieſen hat,
verdient in dieſer Beziehung noch der Türken⸗
bund, Lilium Martagon, hervorgehoben
zu werden. Obgleich derſelbe ſeinen kräf—
tigſten Duft erſt des Abends entwickelt und
erſt dann durch denſelben ſeine wirkſamſten
Kreuzungsvermittler, die Schwärmer, an ſich
lockt,“) fo iſt er doch noch hinreichend
augenfällig gefärbt, um auch bei Tage die
Aufmerkſamkeit verſchiedener Falter zu er—
regen und manche derſelben zu andauernden
Beſuchen zu veranlaſſen. So ſah ich ſeine
*) Nature Vol. XII. p. 50 flgde.
54
424
Blüthen in den Alpen bei Tage von Agrotis
ocellina, Mythimna imbeeilla, Zygaena
transalpina, filipendulae, exulans, Ino
statices, Colias Phicomone und Poly-
ommatus hippothos var. eurybia, zum
Theil ziemlich häufig, beſucht und gelegent-
lich auch befruchtet, aber eine einzige Macro-
glossa stellatarum, die ich gegen Abend
(in Metzerall in den Vogeſen, 5. Juli 1874)
wenige Minuten hindurch am Türkenbunde
in Thätigkeit ſah, befruchtete während dieſer
kurzen Zeit wahrſcheinlich mehr Blüthen,
als alle obigen Beſucher zuſammen ge—
nommen, ſo oft ich ſie auch ins Auge ge—
faßt habe.
Mit ihrer ſchmutzig hellpurpurnen, dunk—
ler gefleckten Blüthenhülle macht dieſe Lilien—
art durchaus den Eindruck, der Abkömm—
ling einer wie Lilium bulbiferum feurig
gefärbten Tagfalterblume zu ſein, welche
ſich nachträglich der viel wirkſameren Kreuz—
ungsvermittlung der Schwärmer angepaßt
und, dem züchtenden Einfluſſe der Falter
entzogen, ihre lebhafte Farbe eingebüßt hat.
Sie iſt aber auf halbem Wege ſtehen ge—
blieben. Es iſt den zuletzt als Blumen—
züchter in Thätigkeit getretenen Schwärmern
wohl gelungen, am Türkenbund ſich in der
Regel nach unten gekehrte Blumenformen
zu züchten, deren Honigrinnen nur ihnen
als freiſchwebend ſaugenden Schmetterlingen
bequem zugänglich ſind und die nur ihren
nächtlichen Beſuchern kräftigen Wohlgeruch
ſpenden; aber ſie ſind, in Ermangelung
geeigneter Abänderungen, weder im Stande
geweſen, die früher von Tagfaltern gezüch—
tete lebhafte Farbe hinlänglich zu beſeitigen,
noch dieſe urſprünglich alleinigen Beſucher
vom Genuſſe des Honigs auszuſchließen.
Sie müſſen es ſich daher gefallen laſſen,
die Honigbehälter oft von dieſen entleert zu
finden, was ihnen dann natürlich das eif—
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
rige Weiterarbeiten an derſelben Blumenart
verleidet und dieſe zum Nothbehelfe der
Selbſtbefruchtung zwingt.
Dieſe nur halbgelungene Blumenzüchtung
der Schwärmer führt uns nun zur Betrach—
tung ihrer ganz gelungenen Züchtungsprodukte,
d. h. der Schwärmerblumen, die zugleich
mit der Beſchränkung auf den engſten Be—
ſucherkreis die vollkommenſte Sicherung der
Kreuzungsvermittlung gewonnen haben. Wo—
durch gerade die Schwärmer beſonders ge—
eignet ſind, ihren auserwählten Lieblingen,
die ihnen allein ihren Honig aufbewahren,
den entſcheidenden Vortheil regelmäßiger
Kreuzung zuzuwenden, wird uns am deut—
lichſten in die Augen ſpringen, wenn wir
die Blumenarbeit der Tagfalter mit der—
jenigen der Schwärmer vergleichen.
Die Tagfalter betreiben ihre Blumen—
beſuche in leichter, tändelnder Weiſe, nicht
als eine ernſte Arbeit um den nöthigen
Lebensunterhalt, ſondern als die nächſt der
Liebeswerbung angenehmſte Unterhaltung in
den warmen Strahlen der Sonne. Die
Blumen ſind ihnen öffentliche Vergnügungs—
orte, die ihnen neben ſüßem Honiggenuſſe
die beſte Gelegenheit darbieten, ihre Pracht—
kleider zur Schau zu ſtellen und Liebesver⸗
hältniſſe anzuknüpfen, die ſie aber jeden
Augenblick bereit ſind, im Stiche zu laſſen,
ſei es, um mit dem erſten beſten Kameraden,
der ſich blicken läßt, ſich jagend durch die
Luft zu wirbeln, ſei es, um einem in Sicht
gekommenen Weibchen nachzuflattern oder
einer eingebildeten Gefahr zu entfliehen. Ganz
auf ſo unſichere, leichtfertige Gäſte ſich ein—
zurichten, kann ſelbſtverſtändlich nur für eine
verhältnißmäßig geringe Zahl von Vergnüg—
ungslokalen, die für dieſelben eine ganz beſon—
dere Anziehungskraft haben, und zu denen die—
ſelben daher doch immer wieder zurückkehren,
ein lohnendes Geſchäft ſein. Daher iſt die
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Zahl der Tagfalterblumen im Vergleich zu
der der Tagfalter vielmal kleiner, als z. B.
die Zahl der Hummelblumen im Vergleich
zu derjenigen der Hummeln, aber auch als
die Zahl der Schwärmerblumen im Ver—
gleich zu derjenigen der Schwärmer.
Denn wie an Rüſſellänge, ſo ſind an
Schnelligkeit des Flugs und der Blumen—
befruchtung die Schwärmer allen übrigen
Inſekten weit überlegen. Den vollen Ein—
druck von ihrer Leiſtungsfähigkeit kann man
jedoch wohl nur auf den blumenreichen Alpen—
höhen bekommen, wo einige Schwärmerarten
am hellen Tage, ſelbſt in der brennenden
Mittagsſonne, umherſchwärmen, und, von
dem Licht und der Wärme vielleicht noch
zu erhöhter Lebensenergie angeregt, an dem
die kahlen Flächen überkleidenden Blumen—
teppich dicht von unſeren Augen ihre er—
ſtaunlichen Leiſtungen ausführen.
Unter dieſen günſtigſten Umſtänden hatte
ich in den Mittagsſtunden des 22. Juli
1877 auf dem Albulapaſſe und den ihn
umgebenden Höhen wiederholt das Glück,
dem Schauſpiele ihrer vollen Kraftentfal-
tung in nächſter Nähe beizuwohnen. Ich
ſah da eine einzige Macroglossa stellatarum
in wenigen Minuten an mehreren hundert
Blüthen von Primula integrifolia und
dazwiſchen an einzelnen von Viola calcarata
freiſchwebend ſaugen. Eine zweite beſuchte
in ebenſo kurzer Zeit hunderte von Gentiana
bavarica und verna und Viola calcarata,
dazwiſchen einzelne Gentiana exeisa. Eine
dritte und vierte hielten ſich an Primula inte-
grifolia und verweilten in der Regel noch nicht
einmal ganz eine Secunde an einer einzelnen
Blüthe, wahrſcheinlich weil die meiſten Blüthen
ihres Honigs bereits entleert waren; denn
an manchen verweilten ſie freiſchwebend und
ſaugend mehrere Secunden. Außer mehreren
hundert Primula integrifolia ſaugten ſie da—
zwiſchen einzelne Pr. farinosa und Viola
calcarata. Eine fünfte verfolgte ich mit
der Secundenuhr in der Hand; ſie beſuchte
in nicht ganz 4 Minuten 108 Blüthen von
Viola calcarata, die Spitze des Rüſſels
war ſo dicht mit dem weißlichen Pollen
derſelben umkleidet, daß man ſie auf einige
Schritte Entfernung deutlich erkennen konnte.
Nach dem Beſuche der 108 Blüthen verlor
ich das Thier aus den Augen. Als ich
eben die Beobachtung notirt hatte und wieder
aufblickte, ſah ich abermals eine Macroglossa
stellatarum an Viola calcarata beſchäftigt
(ob daſſelbe Exemplar oder ein neues, weiß
ich nicht). Ich verfolgte fie wieder mit der
Uhr in der Hand. Sie beſuchte in 6°),
Minuten 194 Blüthen; durchſchnittlich
brauchte ſie alſo zum Beſuche einer Blüthe
und dem Fluge zur folgenden nur zwei Se—
cunden. An manchen Blüthen verweilte ſie
nur äußerſt flüchtig, an anderen mehrere
Secunden; an allen aber ſchob ſie freiſchwe—
bend das Ende des (22— 28 mm. langen)
Rüſſels unter den Narbenkopf und bewirkte
daher ſicher Befruchtung mit Pollen getrenn—
ter Stöcke.
Wenn dieſe Beobachtungen nicht nur die
enorme Behendigkeit und Ausdauer der
Schwärmer im Ausſaugen des Blumen-
honigs, ſondern zugleich ihr im ganzen treues
Feſthalten an derſelben einmal erwählten
Blumenart uns klar vor Augen ſtellen, wer
möchte dann bezweifeln, daß ſie viel erfolg—
reichere Blumenzüchter ſein müſſen, als die
leichtlebige Geſellſchaft der Tagfalter und
ſelbſt als die zwar den Tagfaltern in Raſch—
heit und Ausdauer in ihrer Blumenarbeit
weit überlegenen, aber doch den Schwärmern
noch lange nicht gleichkommenden Eulen?
Trotz ihrer geringen Zahl, trotz ihrer im
Ganzen ſo beſchränkten Flugzeit, und trotz
der in unſeren Breiten ihnen ſo ungünſtigen
426
Müller, Die Inſekten als
Witterung, die oft vielleicht Wochen lang
ihre Ausflüge gänzlich verhindert, iſt es in
der That den Schwärmern gelungen, ſelbſt
bei uns ſich mehrere ihrer auserwählten
Lieblinge ſo langröhrig und leicht bemerkbar
zu züchten, daß alle übrigen Beſucher vom
Genuſſe des Honigs derſelben ausgeſchloſſen
bleiben und ſie ſelbſt jedes Zeitverluſtes
durch Umherſuchen nach dem ihnen ausſchließ—
lich zugänglichen Honig überhoben ſind.
Nur auf den Alpen, wo, wie wir ſo—
eben geſehen haben, einige Schwärmer mit
Vorliebe im Sonnenſcheine ihre Ausflüge
machen, iſt es ihnen möglich geweſen, ſich
Tagblumen zu ihrem ausſchließlichen Ge—
brauche zu züchten. Gentiana bavarica
und verna (und vielleicht noch einige andere
Gentiana-Arten der Untergattung Oyelo-
stigma) ſind in der That unzweideutige
Züchtungsprodukte der im Sonnenſcheine
ſchwärmenden Sphingiden; ſie find unzwei-
felhaft Tagſchwärmerblumen.
Aus
unbewußte Blumenzüchter.
Blumenröhren, wie diejenigen von C. ba-
varica und verna, über 20 Millimeter
lang ſind, da von allen Schmetterlingen
der Alpen nur Schwärmer hinlänglich lang—
rüſſelig genug ſind, um den Honig der—
ſelben auszubeuten.
In der Ebene und niedern Berggegend,
wo die Schwärmer in der Regel erſt des
Abends zu fliegen beginnen, haben ſie na—
türlich in der Regel auch nur Nacht—
ſchwärmerblumen ſich zu züchten ver—
mocht, wie einerſeits unſere Heckenwinde
(Convolvulus sepium), die blos durch ihre
ſchneeweiße Farbe Schwärmer in ihre großen
Blüthentrichter lockt, und die ebenfalls weiße,
aber faſt geruchloſe Lychnis alba, anderer-
ſeits Lonicera, Perielymenum, Caprifolium
und Saponaria officinalis, welche außer
der bleichen Farbe einen kräftigen Wohl—
geruch als Anlockungsmittel beſitzen.
Auch zwiſchen Tag- und Nachtſchwärmer—
blumen fehlt es nicht an Verbindungsglie—
der von den Hummeln gezüchteten Unter— |
gattung Coelanthe hervorgegangen, haben fie |
von dieſer die blaue Farbe und die röhrige
Blumenkrone ererbt, Schmetterlinge aber
haben daraus Blumenröhren gezüchtet, deren
Eingang durch die zu einer Scheibe ver—
breiterte Narbe allen Nicht-Schmetterlingen
verſchloſſen iſt, und die ſich durch Zuſam—
mendrehen ſchließen, ſobald die Sonne hinter
den Wolken oder hinter den Bergen ver—
ſchwunden iſt und die plötzlich eingetretene
Kühle die Falter vom Schauplatze ihrer
dern, und nicht ſelten weiſen Erbſtücke der
letzteren mit Beſtimmtheit auf ihren Ur—
ſprung aus Tagblumen hin. So bekun—
det Saponaria officinalis, Oenothera bien-
nis und Mirabilis Jalapa durch ihre Farbe,
Posoqueria fragrans durch gelegentliches
Aufblühen bei Tage ihre Abſtammung von
Tagblumen.
Bei dem großen Dunkel, welches über
den Verwandtſchaftsverhältniſſen der höheren
Thätigkeit verſcheucht hat. Die erſten Stu-
fen der Untergattung Cyelostigma, welche
durch dieſe Eigenſchaften ſich auszeichnet,
mögen durch Tagſchmetterlinge überhaupt
gezüchtet worden ſein.
Unzweifelhaft aber
find Tagſchwärmer die Züchter aller der-
jenigen Cyelostigma-Arten geweſen, deren
Pflanzen noch herrſcht, muß uns jeder
Fingerzeig, der uns auf die Abſtammung
gewiſſer Arten hinweiſt, willkommen ſein.
Und ſo viel wenigſtens dürfte aus den
vorſtehenden Auseinanderſetzungen mit Si—
cherheit hervorgehen, daß uns in den Falter—
blumen überhaupt und in den Nachtfalter-
blumen insbeſondere ſehr beſtimmte der—
artige Fingerzeige vorliegen.
Der Spradienkampf im Wallifer
Von
Alexander Maurer.
eben Graubündten dürfte Wal—
3 Sittenforſcher wohl die inter—
W eſſanteſte Alpenlandſchaft der
ganzen Schweiz ſein. In immer
engern und engern Kreiſen umtoſen ita—
lieniſches, deutſches und franzöſiſches Leben
ſeine altersgrauen Bergrieſen. Von der
Spitze des Monte Roſa ſchweift der Blick
weit über die lombardiſche Ebene, die Al—
pen Savoyens, der Dauphiné und der
deutſchen Schweiz hin. An ſeinen Fels—
und Eispyramiden erproben alljährlich Hun—
derte kühner Berg- und Gletſcherfahrer ihre
lis für den Sprach- und
|
Hochgebirge.
ches Denkwürdige dem Staube der Ver—
geſſenheit entriſſen; es ſcheinen ihr aber die
ſogenannten hiſtoriſchen Perſönlichkeiten mehr
zu imponiren als die Strömungen des
Volksgeiſtes.
Schon iſt im Unterwallis das meiſte
Eigenthümliche geſchwunden. Das hölzerne
Haus, welches auf eingerammten Pfählen
mit rohen, einfach darüber hingelegten Fels—
platten ruht, weicht dort dem ſteinernen
Kulturgebäude, der zinnerne Krug dem
Kraft, Ausdauer und Schwindelloſigkeit.
Aber um das Volk, welches in dieſen Thä—
lern hauſt, bekümmert ſich ſelten einer.
Gegenſtande etwas mehr Aufmerkſamkeit zu
widmen, als bis heute geſchehen; zumal in
der Jetztzeit, wo Eiſenbahnen- und Table
d' höte-Demokratie mit ihrem kosmopolitiſch
nivellirenden Hauche ſo gewaltig im her—
gebrachten Stillleben dieſer Gebirgsſtämme
aufräumen.
Glaſe, die hölzerne „Gebſe“ den individua—
liſtiſchen Beſtrebungen des Thongeſchirrs.
Die Landestracht, mit Ausnahme des kurz—
krämpigen, flachen Hutes der Weiber, iſt
dort ſowie im ganzen übrigen Wallis be—
reits abgethane Sache. Die Volksſage hat
Und doch wie dringend wäre es, dieſem
ſchaft der römiſchen Kirche entſchieden chriſt—
unter der mehr als tauſendjährigen Herr—
lich-katholiſche Färbung angenommen. Doch
bietet die patriarchaliſch-communiſtiſche Le—
bensweiſe, namentlich aber die Sprache der
wiſſenſchaftlichen Ausbeute noch vieles; von
|
|
|
|
ihnen geleitet, dürfte es dem ſinnenden For—
ſcher bisweilen gelingen, auch über ſolche
| Wohl hat die verbriefte Geſchichte man- | Zeiten Aufſchluß zu erlangen, mit denen |
)..
428 Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge.
ſonſt die blos auf ſchriftlichen Dokumenten
fußende Geſchichte nichts anzufangen weiß.
Wenn man vom italieniſchen Anzasca—
Thale aus über den Monte Moro ins
|
zu viele giebt, um die Sarazenen für alle
als Taufpathen verantwortlich zu machen.
deutſch redende Saasthal vordringt, jo bee
gegnen einem eine Anzahl ſeltſamer Ortsna—
men, welche der grübelnden Phantaſie
vaterländiſcher Geſchichtsfreunde zum Aus—
gangspunkte einer abenteuerlichen Hypotheſe
dienten.
Die Namen der Allalinhörner, der
Miſchabel, des Fleckens Almagell und des
Saasthals ſelber, heißt es, könnten von
keiner abendländiſchen Sprache aus erklärt
werden, es hafte ihnen vielmehr morgen—
ländiſches und zwar arabiſches Gepräge an.
Nun erzählen aber alte, theils verbriefte
Ueberlieferungen, daß im X. und XI. Jahr-
hundert Sarazenen die Kantone Waadt,
Graubündten und Wallis heimgeſucht haben.
Warum, ſagt man, hätten dieſe nicht
einen Abſtecher ins Saasthal machen, ſich
dort niederlaſſen und in den Namen der
erwähnten Oertlichkeiten Denkmäler ihres
Daſeins hinterlaſſen können? Unter der
Herrſchaft arabiſirender Vorurtheile bezeich— |
nete man ſogar den Weg, den die hypo—
thetiſchen Sarazenen einſchlugen, um in die
Einſamkeit des Saasthales zu dringen.
Der Monte Moro, behauptete man, ſei
nichts anderes als der Mohrenberg und ver—
danke dieſe Benennung offenbar den ſonnen—
verbrannten Söhnen der arabiſchen Wüſte,
welche während der angezogenen Jahrhun—
derte die Länder ums Mittelmeer herum
unſicher machten.
Die Erzählung klingt plaufibel und hat
ſich deswegen in die Walliſer Geſchichte von
Furrer und die Mittheilungen der Zür-
cher archäologischen Geſellſchaft eingeſchlichen.
Schade nur, daß es der Monti mori, der
Bedauerlich iſt ebenfalls der Umſtand, daß
die arabiſchen Namen, auf welche die in
Rede ſtehenden Ortsbezeichnungen zurück—
gehen ſollen, noch nicht angegeben worden
ſind. So lange dies nicht auf motivirte
Weiſe geſchieht, möchte es gerathener ſein,
die Sarazenen in Ruhe zu laſſen und ſich
mit einer Löſung zu begnügen, auf welcher
ſchon Gatſchet im Jahrbuche des Schwei—
Schwarzberge oder Schwarzhörner, doch gar
zer Alpenclubs hingedeutet hat: Die Na—
men Allalin, Almagell, Saas, Miſchabel
find mit arabiſchen, ſondern romaniſchen
Urſprunges.
Allalin bedeutet vermuthlich „bei der
Haſelſtaude“, im italieniſchen Alpenpatois
all' alagna, und möchte ſich zunächſt auf
eine Weide beziehen, deren Name, wie dies
gewöhnlich geſchehen iſt, auf die darüber
emporragenden Bergſpitzen überging. Alagna
heißt auch ein ſüdlich vom Monte Roſa
im oberen Seſiathale gelegenes Dorf, in
welchem ein ſehr verdorbenes Walliſerdeutſch
geſprochen wird.
Almagell — „bei den Maien“ — iſt
offenbar das italieniſche allo majello
(majo = Maienbaum).
Saas entſtammt dem mittellateiniſchen
saucea ( Weidengrund) und iſt dem ita—
lieniſchen Sesia gleichbedeutend.
Die drei mächtigen Zacken der Miſcha—
bel endlich, welche ſich zwiſchen dem Saas—
und Zermatterthale erheben, heißen in ver—
deutſchter Geſtalt die Mittenhörner, falls
die italieniſirende Etymologie „menze alle
valli“ die richtige iſt. Daß die deutſchen
Saaſer der ihnen fremd klingenden Benenn—
ung des dreizackigen Gebirges den ihr An—
ſchauungsvermögen mehr anſprechenden Na—
men „Miſchtgabel“ zu unterſchieben ſuchten,
mag ebenfalls in Betracht gezogen werden
—
Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge.
wenn es gilt, die Taufzeugen der Miſchabel
zu vernehmen.
Dieſe italieniſchen Ortsnamen ſtammen
vermuthlich aus der Zeit Gottfrieds III.,
Grafen von Blandrata, welchem anno 1250
ſein Lehensherr, der Biſchof von Novara,
erlaubte, eine Anzahl italieniſcher Landleute
aus dem Anzascathale nach der dem Grafen
Gottfried zugehörigen Meierei im Viſp—
thale zu verſetzen und dagegen den Aus—
wanderern aus dem Saasthale Niederlaſſun—
gen im Anzasca- und Seſiathale anwies.
Wie man ſieht, iſt es möglich, für die
in Rede ſtehende Gegend auch ohne Sara-
zenen auszukommen.
In dem benachbarten Einfiſchthale kann
ſich die zunftmäßige Geſchichte die ſeltſame,
unverſtändliche Sprache der dortigen Ein—
wohner nicht ohne die Dazwiſchenkunft einer
hunniſchen Anſiedelung zurechtlegen. Das
oberflächlichſte Studium dieſer Sprache zeigt
aber, daß wir es einfach mit einer nicht
eben außergewöhnlichen Abart des im Wallis
geſprochenen romaniſchen Dialekts zu thun
haben.
nomadiſirender Charakterzug des Einfiſch—
thälers oder Anniviard, wie er auf Roma—
niſch heißt, mag dem Glauben an ſeine
hunniſche Abkunft Vorſchub geleiſtet haben.
Sommers und anfangs Winter wohnt der
Anniviarde nämlich in ſeinem Alpenthale,
im Frühjahr und Herbſt hauſt er dagegen
oft 8—10 Stunden weit von feinen Som
liſerſtammes der Ardyer.
meraufenthalt, auf der nördlichen Seite des
Rhonethales, während er Januar und Fe—
bruar in Siders verbringt. Dieſe Wan—
derungen entquellen aber nicht etwa einem
unſteten Nomadencharakter, ſie werden viel—
mehr von den Beſitzverhältniſſen der Anni—
viarden mit ſich gebracht. Im Frühling
bearbeitet er an der ſonnigen Halde des
Wildſtrubels ſeine Weinberge, den Sommer
Ein auf den erſten Anblick hin
dem celtifchen arg — Wald. Das Olden—
429
über treibt er Alpwirthſchaft, im Herbſt
erntet er ſeinen Wein, welchen er nach der
Kelterung ins Gebirge führt, um durch
Lagerung auf der Höhe den ſogenannten
Gletſcherwein zu erzielen. In Siders end—
lich verwerthet er ſeine Produkte.
Steht das Hunnenmärchen auf ſehr
lockerem Boden, ſo dürfte Aehnliches nicht
von den Ueberlieferungen gelten, welche vor
der römiſchen Herrſchaft im Wallis celtiſche
Sprache und Sitte hauſen läßt.
Soweit griechiſche und römiſche Quellen
fließen, war die weſtliche Schweiz und mit
ihr das Walliſerland von celtiſchen Stäm—
men bewohnt. Celtiſche Ortsbezeichnungen,
die dem Sturme der Jahrhunderte ſiegreich
getrotzt, haben ſich bis auf den heutigen
Tag erhalten. Der von den älteſten Zeiten
her unter dem Namen Leuk, lateiniſch Leuca,
franzöſiſch Louèche, bekannte Flecken, der
ſich auf nacktem Felſen am ſüdlichen Ab—
hang der Gemmi erhebt, erinnert an das
celtiſche Wort leie, leugh = Fels. Die
am Eingang des Turtmannthals ſtehende
Ortſchaft Ergiſch verdankt ihren Namen
horn, auf romaniſch Becca d' Andon, birgt
in feinen Old oder And das celtiſche Wort
art — Fels, jo daß dieſer Berg eigentlich
Felſenhorn oder Felſenſchnabel heißt. Dieſes
celtiſche art ſteckt auch im Namen des ſüd—
lich vom Oldenhorn gelegenen Dorfes Ar—
don und des von Polyb genannten Wal—
Seit Julius Cäſar geriethen die Wal⸗
liſer unter den Einfluß Roms. Die Kul-
turpioniere der Weltherrſcherin, ob kaiſerliche
Soldaten oder päpſtliche Apoſtel, brachten
das celtiſche Wort zum Schweigen und roma—
niſirten dieſe Gebirgsſtämme, denen die
Natur die wichtigſten Päſſe nach Italien
anvertraut hatte, mit ebenſoviel Erfolg als
430
Eifer. Die römiſche Sprachflut ergoß ſich
allmälig vom Lemanſee bis zur Furca.
Zwar ſprechen die Oberwalliſer, ſoweit die
Geſchichte reicht, deutſch. Doch laſſen mich
mehrere, gleich zu erwähnende Indicien ver—
muthen, daß die heutigen Oberwalliſer meiſt
keine Deutſchen, ſondern verkappte Roma—
nen ſind.
Wer an die rauhen, tiefen Kehllaute
der allemanniſchen Schweizer gewöhnt iſt,
fühlt ſich von den zarten ch-Lauten des
ebenfalls allemanniſch redenden Oberwalli—
ſers ſeltſam angemuthet. Hier werden Chäs
(Käſe), Chalb (Kalb), Chnächt (Knecht) mit
einem ſo fein geliſpelten ch ausgeſprochen,
daß ſelbſt das ch, wie es die meiſten Deut-
ſchen im Worte ich auszuſprechen pflegen,
an Weichheit daneben zurückſteht.
Eine andere Eigenthümlichkeit der Ober-
walliſer iſt es, daß ſie in vielen Wörtern,
wo die übrigen Allemannen f ſetzen, ſch
ſprechen. Für Gemſe ſagt er Gemſch, für
ſie ſchi, für daß daſch, für ſich ſchich, für
dieſe diſche, für ſeine ſchini u. ſ. w.
Dieſes Ziſchen und Lispeln iſt durch-
aus unallemanniſch, erhält aber aufklärendes
Licht, wenn man damit die Lautgebung der
romaniſch redenden Walliſer zuſammenhält.
Die Ziſcher und die feinen Hauchlaute, welche
uns im Munde des Oberwalliſers mit Recht
auffallen, machen ſich da, wie überhaupt in
allen romaniſchen Mundarten der ſüdweſt—
lichen Schweiz, in wuchernder Fülle geltend.
Man urtheile nach folgendem Müfter- |
chen, wobei ich mich behufs der Lautgebung
an die allgemein übliche franzöſiſche Ortho—
graphie halte. In beſonderer Geltung treten
auf: das mit einem Punkte verſehene e, der
Buchſtabe h, das Zeichen und das
Apoſtroph '. 6 = Vocal zwiſchen & und j,
h = ch im deutſchen Worte ich, —=
Naſaliſation des unter dieſem Zeichen ſtehen—
Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge.
den Vocals, — ſtummes e, inſofern dieſes
die vollſtändige Ausſprache eines vorher—
| gehenden Conſonanten bedingt.
Patois der Gemeinde St. Luc im Ein—
fiſchthale:
é ch'enalla & chè mettouk au chervicio
(il s'en alla et se mit au service)
co dij' avitein’ de hlik pai-le
(d'un des habitants de ce pays-la)
ke ba einvouya ein cha pochèchion
(qui l'a envoyé en sa possession)
po vouarda le poner.
(pour garder les pourceaux.)
Wenn ich dem mitgetheilten Pröbchen
noch die Bemerkung beifüge, daß der ange—
führte Dialekt ſeines lispelnden und ziſchen—
den Charakterzuges wegen nicht vereinzelt
daſteht, daß vielmehr ſämmtliche Patois des
mittleren Wallis denſelben in gleichem Maße
theilen, ſo wird man es mir hoffentlich nicht
verargen, wenn ich behaupte, der lispelnde
und ziſchende Oberwalliſer ſpreche ſeinen
allemanniſchen Dialekt mit romaniſcher Zunge.
Dieſer Umſtand und die Menge roma—
niſcher Ortsbenennungen im Oberwallis,
(man denke Beiſpiels halber nur an Furca,
Geſtelen [ Eaftel], Termen [terminus |,
Vieſch vicus], Mund [monft]s] ete.) müſſen
auf den Gedanken bringen, die Oberwalliſer
ſeien germaniſirte Romanen.
In dieſer Anſicht beſtärkt auch die Er—
fahrung, daß an andern Orten der Schweiz,
wo allemanniſche und romaniſche Mundarten
ebenſo nahe neben einander hauſen, wohl
Wörter und Wendungen, doch niemals Aus—
ſprachsweiſen entlehnt werden.
| Aber woher kamen die germaniſchen
Zuchtmeiſter ins Oberwallis? Die auf ge—
ſchriebenen Urkunden fußende Geſchichte weiß
hierauf keinen Beſcheid; dagegen weiſen die
Eigenthümlichkeiten des deutſchen walliſer
Dialekts nachdrücklich auf das benachbarte
Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 431
Berneroberland. Hier ſtoßen wir gleich- Wie nun dem auch geweſen ſein mag,
falls auf das fein gehauchte ch, auf Orts- in der Nähe von Siders, allwo das roma—
namen lateiniſcher Herkunft und die ſich an niſche Wallis anfängt, ſtaute ſich die alle—
ſolche Thatſachen knüpfende Hypotheſe einer | mannifche Wanderfluth, ob von ſelbſt oder
Germaniſirung der urſprünglich romaniſchen gezwungen, iſt nicht auszumachen.
Aelpler. Ueberdies umſchlingt beide Gegen— Mit der Zeit wurde den deutſchen Colo—
den das Band eines gemeinſamen Vocalis- | niften die neue walliſiſche oder „wälſche“
mus, welcher auch mit demjenigen der Landes- Heimath zum heißgeliebten Vaterlande, deſſen
ſprachen von Uri und Unterwalden ſtimmt. Unabhängigkeit ſie mannhaft gegen die länder—
Es iſt deshalb zu vermuthen, daß die ſüchtigen Herrſcher aus dem Haufe Zährin—
allemanniſche Wanderwelle, welche ſich einſt | gen vertheidigten. Noch jetzt ſieht der Ober—
über das Berneroberland ergoß, nicht das walliſer ſtolz zum Kreuz bei Ulrichen empor,
| Aarthal hinaufſtieg, ſondern über den Brünig welches jeine Vorfahren zum Andenken an
kam. Zwar ſchnarren gegenwärtig an den den Sieg errichteten, den fie hier anno 1211
| Ufern des Brienzer und Thuner Sees die über Berthold's V. ftolzes Bernerheer erfochten.
rauhen Kehllaute des Stadtbernerdeutſchen. Während der kriegeriſche Sinn der ober—
Daß dem von jeher fo geweſen, iſt nicht walliſer Hirten deutſche Art und Sprache
glaublich, zumal im Simmen- und Saane- aufrecht hielt, verfiel der ackerbauende Unter—
thal die ch-Laute noch jetzt mit romani- walliſer der Herrſchaft Savoyens und damit
ſcher Zunge gelispelt werden. auch dem Einfluſſe franzöſiſcher Sprache
Im Haslithale treten uns wieder und Sitte, welche um ſo leichter Fuß faßten,
ſchnarrende Kehllaute entgegen, was mich als ihnen hier ein eng verwandter Volks—
zu der Annahme führt, dieſes wilde Berg- charakter halbwegs entgegenkam.
thal ſei zur Zeit der allemanniſchen Ein— Umſonſt vertrieben Ende des 15. Jahr—
fälle gar nicht oder äußerſt dünn bevölkert hunderts die mit den Eidgenoſſen verbün—
geweſen. deten Oberwalliſer die mit Karl dem Kühnen
Daſſelbe möchte ich von den Seitenthälern von Burgund befreundeten Savoyarden aus
des deutſchen Wallis behaupten. In dieſen dem untern Rhonethale, umſonſt beherrſchten
werden nämlich die ch-Laute auf ächt ſie letzteres als Unterthanenland bis zur
allemanniſche Weiſe gekreiſcht, während im franzöſiſchen Revolution, umſonſt pflogen fie
Hauptthale die zarten Hauchlaute der roma- ihre geſetzlichen Verhandlungen ausſchließlich
niſchen Zunge gelten. Die Bevölkerung, in deutſcher Sprache und ſchufen aus der
deren romaniſcher Lautapparat im Munde Regierungsſtadt Sitten eine deutſche Inſel
des ſiegreichen Allemannenthums bis auf den mitten im „wälſchen“ Sprachſee.
heutigen Tag fortlebt, ſcheint alſo urſprüng— Durch gewaltige Gebirgsketten von den
lich nur das Hauptthal der obern Rhone deutſchen Kulturherden abgeſchnitten, ver—
bewohnt zu haben. Auch ſind die Alle- mochte ihr allemanniſcher, nur wenig mit
mannen vermuthlich nicht auf einmal ins Schriftdeutſch in Berührung kommender Dia—
Wallis eingerückt, ſondern nur nach und lekt nicht gegen die franzöſiſche Schriftſprache
nach, weil fie ſonſt ſchwerlich das angenehmere anzufämpfen, während ihm dies doch mit
Hauptthal im Beſitz der früheren Inhaber den romaniſchen Patois ausgezeichnet gelun—
gelaſſen hätten. gen war. Ja, die glorreiche Waffenthat,
Kosmos, Band III. Heft 5. 5
S
die fie zu Herrſchern geſtempelt, ſollte
ſich gegen die Sprache der Sieger ſelber
kehren.
Denn während die Oberwalliſer im Bunde
mit den Eidgenoſſen ihr Möglichſtes thaten,
um den klugen Ludwig XI. ſeines burgun—
diſchen Nebenbuhlers zu entledigen, halfen
ſie den Einheitsſtaat gründen, deſſen Sprache
die verwandten particulariſtiſchen Dialekte
aus dem Felde ſchlagen und ſelbſt in manchem
deutſch gezüchteten Hirne romaniſche Wort—
bahnen ziehen ſollte.
Die franzöſiſche Revolution löſte das
Unterthanenverhältniß der Unterwalliſer zu
ihren deutſchen Herren. Schon in der Staats—
verfaſſung von 1802 heißt es Artikel 35:
Kein Bürger, der ſeit 1780 geboren iſt,
kann auf den Landrath deputirt werden,
wenn er nicht die franzöſiſche und deutſche
Sprache verſteht.
Heutzutage werden die großräthlichen
Debatten nur noch franzöſiſch gepflogen,
obgleich die deutſche Sprache noch zuläſſig
iſt, und weitaus die größere Anzahl der
Deputirten verſteht kein Deutſch mehr. Auf
den Straßen und in den Wirthshäuſern der
Regierungsſtadt Sitten klingt nur noch ſelten
ein deutſches Wort an unſer Ohr. Siders
iſt ſchon halb franzöſirt, und ſelbſt der
ſchlecht geſchulte Oberwalliſer kauderwelſcht
meiſt noch franzöſiſch neben ſeinem alle—
manniſchen Dialekte. Binnen einem Jahr—
hundert dürfte das Deutſche völlig aus dem
Rhonethal verdrängt fein. Die Richtung
des Thals, welches die Walliſerberge an
Frankreich kettet, ſcheint dies ſo mit ſich
zu bringen.
Anders geſtalten ſich dieſe Sachen in
Graubündten, einem früher ebenfalls durch—
aus romaniſchen Alpenlande. Seine Flüſſe
ergießen ſich in deutſche Gegenden und be—
dingen eine rückläufige Richtung der deutſchen
Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge.
Verkehrs- und Sprachadern nach den bündt—
neriſchen Bergen. Wohl hauſt das Ro—
maniſche noch an den Quellen des Rheins
und des Inns, wohl hat es daſelbſt ver—
ſucht, die geiſtbezaubernde Buchdruckerkunſt
in ſeine Dienſte zu ziehen. Vergeblich! Das
Deutſche rückt unaufhaltſam den Rhein
hinauf. Im Prättigau, woſelbſt es hiſto—
riſchen Zeugniſſen zufolge im 15. Jahr—
hundert noch romaniſch ſprechende Ortſchaften
gab, erklingt jetzt nur noch die deutſche
Zunge, und das Gleiche gilt von Davos,
deſſen ganz auf „wälſche“ Weiſe ziſchender
Dialekt ein dahingeſchwundenes Romanen—
thum verräth. Im obern Innthale käm—
pfen Deutſch und Italieniſch zugleich um
den Nachlaß des ſterbenden Ladiner-Idioms,
und vorausſichtlich wird dieſes der deutſchen
Sprache zur Beute fallen, wenn das Ita—
lieniſche nicht mit überwiegenden, commer—
ciellen Intereſſen ins Feld zieht.
Die Eigenart des teſſiner romaniſchen Dia—
lekts ſcheint früh den Einfluß des mailänder
Dialekts verſpürt zu haben, und beide
zuſammen treten gegenwärtig den Rückzug
vor dem Schriftitalieniſchen an, deſſen ſieg—
hafter Schritt auch den deutſchen Gemeinden
im Formazza- und Greſſonaythale auf den
Leib rückt.
Der deutſche Schweizer möchte ſeinen
angeſtammten allemanniſchen Dialekt, der
ihm ans Herz gewachſen, vor der bedroh—
lichen Concurrenz des Schriftdeutſchen ſchützen,
kann dies aber nicht, die Bodenverhält—
niſſe ſind gegen ihn.
So ſehen wir denn überall in der viel—
ſprachigen Schweiz ein feſtes Geſetz den
Vor- oder Rückſchritt der einzelnen Sprachen
bedingen: Die natürlichen Mundarten
weichen überall den Kulturſprachen, und
zwar richtet ſich der Verbreitungskreis der
letztern vom Bildungsherde thalaufwärts,
)
Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge.
ohne daß hierzu Eroberung oder Neuan—
ſiedelung erforderlich wäre.
Roher betragen ſich die Naturſprachen
gegeneinander. Hier ſiegt die eine und
unterliegt die andere nicht ohne Wander—
ungen und Beſitzſtörungen. Den am Beſten
zum Streit ausgerüſteten fällt die Palme zu.
Daß aber der viehzüchtende Aelpler, wenn
es gilt, ſeine Unabhängigkeit und Eigenart
zu wahren, dem an der Scholle klebenden
Bauern überlegen iſt, zeigen die Oberwalliſer
und die Bewohner der ſogenannten Urkantone.
Erſtere brachten die vorzüglich Ackerbau
treibenden romaniſchen Walliſer unter ihre
Botmäßigkeit, verhalfen in der Hauptſtadt
Sitten ihrer Sprache zur Herrſchaft und
hätten wahrſcheinlich die „wälſchen“ Patois
vollſtändig verdrängt, wäre ihnen die fran—
zöſiſche Schriftſprache nicht zuvorgekommen.
„Für die Urſchweiz beweiſen genaue
Daten chronologiſcher wie geographiſcher Art,
daß Viehzucht und Alpwirthſchaft daſelbſt
von den älteſten Zeiten her betrieben wurde,
daß aber der Ackerbau vom 9. Jahrhundert
bis 1400 höher ſtand als die Alpwirth—
ſchaft, dagegen von 1400-1600, ſtets
mehr vernachläſſigt, raſch hinter der Alpwirth—
ſchaft zurücktrat, jo daß er im 18. Jahr-
hundert ſchon beinahe verſchwunden iſt.“
(Meyer v. Knonau.)
Die Entfaltung der Alpwirthſchaft auf
Koſten der Bodenkultur fällt aber gerade in
die Zeit, wo die junge Eidgenoſſenſchaft
den härteſten Kampf ums Daſein gegen die
ſie umgebenden Machthaber zu fechten hatte;
und dieſer Fähigkeit, ſich einem frühern
Kulturſtadium anzupaſſen, welches ſich beſſer
mit dem Kriege verträgt, als der Ackerbau,
mit einem Worte, dem Emporblühen des
Kuh-Adels, verdankten wohl die Eidgenoſſen
ihren ſchließlichen Sieg.
So erfolgreich nun auch die ſchweize—
riſchen Allemannen ihre angeſtammten Rede—
weiſen gegen andere Naturdialekte vertheidigt
haben, dem Andrange der Kulturſprachen
vermögen ſie nicht zu ſteuern. Wie ſchon
geſagt, ziehen die Verkehrsverhältniſſe das
allemanniſche Oberwallis in den franzöſiſchen
Sprachkreis, und eben daſſelbe geſchieht auch
an manchen Orten des Aarthals, woſelbſt
die vom franzöſiſch ſprechenden Jura ein—
gewanderte Uhreninduſtrie binnen der letzten
30 Jahre die Städte Biel und Murten
völlig franzöſirt hat. Hier, wie auch noch
anderswo, zeigt der Mitbewerb der Kultur—
ſprachen, daß die Verbreitung der letztern
zwar von einem geographiſchen, noch mehr
aber von einem wirthſchaftlichen Factor ab—
hängt. Diejenige Schriftſprache, welche zur
Beſchaffung des täglichen Brotes die größten
Dienſte leiſtet, greift auch am meiſten um ſich.
Dies dürfte ſich vielleicht nicht nur im
engen Rahmen der Walliſer und Schweizer—
berge, ſondern auch auf unſerer Erde über—
haupt bewähren. Die Zahl der engliſch
Sprechenden ſoll ſich alljährlich um eine
Million vermehren, was wahrſcheinlich keine
andere Kulturſprache von ſich rühmen kann.
Freilich giebt es auch keine andere, welche
demjenigen, der ſie kann, ſolche materielle
Vortheile zuſichert, wie gerade die engliſche
Sprache. —
— eee 0 ——
Kleinere Mittheilungen und Journallchau.
Ein neuer Mondkrater.
Jehnten Julius Schmidt in
Athen und andere Naturfoſcher zu
wiederholten Malen Veränderungen
im Relief der Oberfläche unſeres Trabanten
wahrzunehmen geglaubt, freilich nicht ohne
ihren eigenen Augen zu mißtrauen. Denn
eine Anzahl von Beobachtungsthatſachen hat
uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß
der Mond ſowohl ohne Waſſer als ohne Atmo-
ſphäre ſein müſſe, und es iſt ohne Voraus—
ſetzung dieſer beiden Agentien gleich ſchwer,
eine Fortdauer der vulkaniſchen Thätigkeit,
wie eine nachträgliche Verwitterung anzu—
nehmen, welche ein Einſtürzen von Fels—
wänden und dergleichen weit ſichtbare Ver—
änderungen herbeiführen könnte. Dazu
kommt der Verdacht, daß man vielleicht
mit den verbeſſerten neuen Teleſkopen Ober-
flächenbildungen wahrnehmen könnte, die
man früher überſehen hatte, und die ſich nur
deshalb in den älteren Mondkarten nicht
eingetragen finden.“) Alles dies erklärt
) Wir benutzen dieſe Gelegenheit, um
auf die kürzliche Vollendung der ausgezeich-
neten Mond karte von Lohrmann hinzu—
weiſen, welche für derartige Feſtſtellungen vom
hinlänglich die Vorſicht, mit welcher die
Aſtronomen die erwähnten früheren Beob—
achtungen über Veränderungen und ebenſo
eine neue aufgenommen haben, welche Dr.
Hermann J. Klein zu Köln im vorigen
Jahre mit einem ausgezeichneten Plöſſl'ſchen
Inſtrument gemacht hat. Derſelbe bemerkte
nämlich am 27. Mai vorigen Jahres zu
ſeinem größten Erſtaunen, im Mare vapo-
rum, etwas nordweſtlich vom Hyginus, einen
großen ſchwarzen Krater, den er nie an
dieſer Stelle wahrgenommen hatte. Er
beſchrieb denſelben als nahezu ſo groß wie
Hyginus, alſo ungefähr drei Meilen im
Durchmeſſer, tief und daher meiſt voller
Schatten, jo daß er ein auffallendes Beob—
achtungs-Objekt auf dem dunkelgrauen
Mare vaporum bildet. Da Dr. Klein
dieſe Partie während der letzten zwölf
Jahre häufig gemuſtert hatte, ſo glaubte
höchſten Werthe iſt. Das im Jahre 1824
(alſo vor mehr als 50 Jahren) von Lohr—
mann in Dresden begonnene, ſpäter von den
beiden Opelt (Vater und Sohn) fortgeſetzte
und nunmehr von Julius Schmidt in
Athen abgeſchloſſene Werk, beſtehend aus 27
wahrhaft künſtleriſch geſtochenen Kupfertafeln,
15 Bogen Text und einem Portrait Lohr—
mann's in Stahlſtich, iſt ſoeben im Verlage
von Joh. Ambr. Barth in Leipzig erſchienen,
zum Preiſe von 50 Mark.
—
er ſicher zu ſein, daß vorher ein ſolcher
Krater in dieſer Region nicht zu ſehen
geweſen und theilte daher dem Dr. J.
Schmidt in Athen, als der beſten Auto—
rität, ſeine Wahrnehmung mit. Der Letz—
tere konnte ihm in der That beſtätigen,
daß der in Rede ſtehende Krater wirklich
auf allen ſeinen zahlreichen Zeichnungen
dieſes Theiles der Mondoberfläche fehle,
und daß er weder von Schröder oder
Lohrmann, noch von Mädler, der
dieſe Region mit dem trefflichen Refraktor
von Dorpat durchforſcht hat, verzeichnet ſei.
Bei einigen ſpäteren Gelegenheiten ſtellte
Dr. Klein feſt, daß derſelbe nur einen
niedrigen oder gar keinen Wall beſitze, aber
eine tiefe trichterförmige Einſenkung des
Kurz nach Sonnenauf-
einem Briefe an die engliſche Zeitſchrift
Bodens darſtelle.
gang nahm der Krater das Ausſehen eines
dunkelgrauen Fleckes mit ſchlecht ausgepräg—
tem Rande an. Im April 1878 theilte
Dr. Klein ſeine Beobachtungen dem Her—
ausgeber des „Selenographiſchen Journals“
mit, welcher mehrere engliſche Mondforſcher,
nämlich J. Ward in Belfaſt, ferner
Knott, Backhouſe, Neiſon und
Sadler zu Beobachtungen veranlaßte,
von denen trotz des im Mai ungünſtigen
Wetters bei mehreren Gelegenheiten der
neue Klein'ſche Krater deutlich als dunk—
ler elliptiſcher Fleck erkannt wurde. Unter
ihnen hatte ſich Mr. Neiſon in den
Jahren 1871 — 75 ebenfalls eingehend mit
der in Rede ſtehenden Region beſchäftigt und
dort eine Anzahl ſehr winziger Oberflächen—
Details entdeckt. Er glaubt daher mit
abſoluter Gewißheit beſtätigen zu können,
daß bis zum Jahre 1876 an der betref—
fenden Stelle kein tiefer und drei Meilen
breiter Krater vorhanden geweſen iſt, ob—
wohl dort ſtets eine größere Anzahl kleiner
Krater von weniger als einer Meile
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
435
Durchmeſſer bemerkt und verzeichnet worden
ſind. Wenn alſo die Exiſtenz des neuen
Klein'ſchen Kraters außer Zweifel geſtellt
wird, ſo iſt damit nach Neiſon's Anſicht
der ſtrengſte Beweis einer wirklichen Ver—
änderung der Mondoberfläche geliefert. Es
iſt ein beſonderer Glückszufall, daß die
Wahrnehmung gerade eine von Lohrmann,
Mädler, Schmidt und Neiſon genau
und wiederholt durchforſchte Gegend betrifft,
denn in einer weniger bekannten Region
würde man niemals über wohlberechtigte
Zweifel hinausgekommen ſein. Auch iſt
das Ausſehen dieſes Theiles, weil nahe dem
Centrum der ſichtbaren Mondſcheibe belegen,
nur unbedeutend durch die Schwankungen
(Librationen) des Mondes beeinflußt. Mit
Recht bemerkt aber E. Greenhow in
„Nature“, daß, die Richtigkeit dieſer Beob—
achtungen vorausgeſetzt, dadurch keineswegs
die Nothwendigkeit gegeben ſei, die Bild—
ung dieſes neuen Kraters einer derzei—
tigen vulkaniſchen Thätigkeit zuzuſchreiben.
Er meint, daß die Bildung des neuen
Kraters ſehr wohl ebenfalls der vulkaniſchen
Thätigkeit längſt vergangener Zeiten zuge—
ſchrieben werden könnte, ſofern durch die—
ſelbe weite Höhlungen unter der Ober—
fläche unſeres Trabanten entſtanden ſein
möchten. In Folge des ſtarken Tempera-
turwechſels, dem die Oberfläche des Mon—
des beſtändig ausgeſetzt iſt, und der zwiſchen
Tag und Nacht mehrere Hundert Grad
betragen dürfte, könnten deren Wölbungen
gelegentlich einſtürzen. Eine kraterähnliche
Aushöhlung würde dann durch das Ein—
ſinken der Oberfläche erzeugt werden, ebenſo
wie man ſolche Senkungen nicht ſelten in
Bergwerksgegenden findet, wo alte Stollen
einſtürzen. In der That wird dem neuen
Krater ein elliptiſcher und nicht kreisförmi—
|
| 436
ger Umriß
vulkaniſche
zugeſchrieben, während die durch
ſind. Auch der Mangel eines eigentlichen
Kraterwalles unterſtützt dieſe Vermuthungen.
(Nature 451 and 452, June 1878.)
Metamorphismus der Geſteine aus
mechaniſchen Urſachen.
Die Entſtehung einer Reihe von me—
tamorphiſchen Geſteinen, wie z. B. des
Marmors, aus neptuniſchen Kalklagern
ſchreibt man gewöhnlich plutoniſchen Ein—
flüſſen zu. Man nimmt an, daß die Hitze
eines in der Nähe ſtattgefundenen vulkani—
ſchen Vorganges, z. B. das Empordringen
oder Ueberlagern eruptiver und geſchmolze—
ner Geſteinsmaſſen, die dazu erforderliche
Temperaturerhöhung bewirkt habe. In der
That hat Hall nachgewieſen, daß man
kohlenſauren Kalk ſogar ſchmelzen kann,
ohne daß er ſeine Kohlenſäure verliert,
wenn der Proceß bei erhöhtem Dampfdruck
vorgenommen wird, und weitere Verſuche
haben ergeben, daß dieſe Wirkung ſich ſehr
weit in der Nachbarſchaft erſtrecken könnte,
da auch eine mäßige Wärme bei länger
ausgedehnter Wirkung hinreicht, um loſe
Maſſen zuſammenſintern und kryſtalliniſches
Gefüge annehmen zu laſſen. Indeſſen fin—
den ſich in der Nähe anſcheinend plutoniſch
metamorphoſirter Felsſchichten keineswegs
überall die Spuren vulkaniſcher Einwirk
ung, und in der That hat der um die
Aufhellung der Räthſel des Metamorphis
mus ſo verdiente franzöſiſche Geolog A.
Daubrée jüngſt durch eine Reihe von
Thätigkeit entſtandenen Krater
faſt immer völlig oder nahezu kreisförmig
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Male erblickt, überraſcht.
Innern in den zerbrochenen
Verſuchen gezeigt, daß in vielen Fällen in |
den Geſteinen auf mechaniſchem Wege er- ſcheint noch heute für gewiſſe Länder der
zeugte Wärme völlig ausreichen könnte, die
beobachteten Umwandlungen zu erklären.
„Eine der merkwürdigſten Eigenthümlich—
keiten der Felſen, welche die unter dem
Namen Metamorphismus zuſammengefaßten
mineralogiſchen Umwandlungen erlitten ha—
ben, iſt, daß verſchiedene umgewandelte
Felſen häufig mit einander vergeſellſchaftet
vorkommen und dann zuſammen bedeutende
Gebiete einnehmen, während andere noch
ausgedehntere Regionen keine ähnlichen Um—
wandlungen zeigen. So nehmen z. B. in
den Alpen Felſen jeden Alters daran Theil,
Steinkohlen-, triaſiſche, juraſſiſche, Kreide—
und eocäne Felſen zeigen ein Altersgepräge,
welches den Beobachter, der ſie zum erſten
Die Ardennen,
der Taunus, das Wallis u. A. zeigen
ganze Gebirgsmaſſen, die umgewandelt wor—
den ſind. Dagegen ſcheinen in Rußland
die ſiluriſchen und devoniſchen Bildungen
ihren urſprünglichen Charakter bewahrt zu
haben. Zahlreiche Beiſpiele haben gelehrt,
daß der ſtrichweiſe Metamorphismus ſich
in Gebieten entwickelt hat, deren Felsſchichten
Verwerfungen erlitten haben, während
Schichten, die ihre urſprüngliche Horizon—
talität bewahrt haben, wie in einem Theile
Oſteuropas oder den Vereinigten Staaten,
keine Umwandlungen erlitten haben. Die
Umwandlungen, um die es ſich hier han—
delt, ſind aller Wahrſcheinlichkeit nach unter
dem Einfluſſe einer Temperaturerhöhung
vor ſich gegangen, und im Allgemeinen hat
man wirklich die betreffenden Veränderungen
dem Umſtande zugeſchrieben, daß die Erd—
rinde bedeutendere Wärmemengen aus dem
Theilen zuge—
führt erhalten haben möchte, als in den
unveränderten, ſelbſt wenn kein Eindringen
eruptiver Maſſen beobachtet wird. Dies
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Fall zu fein, wie z. B. in Toscana, wo- |
ſelbſt dem Boden heiße Dämpfe entſtrömen.
Abgeſehen von den Wärme-Ausſtrahlungen
und chemiſchen Wirkungen, welche aus den
Tiefen der Erde herauskommen und in
eine
Rolle ſpielen könnten, giebt es aber eine
unmittelbarere und allgemeinere Urſache,
dem ſtrichweiſen Metamorphismus
welche die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen
verdient, nämlich die Wärme, welche
mechaniſche Wirkungen erzeugen,
deren Spuren in dieſen Bergen in den
zahlreichen Falten und Verbiegungen der
Schichten zurückgeblieben ſind. Bei der
Energie der Druckkräfte, welche die viel—
fachen Verſchiebungen der Erdkruſte und die
inneren Bewegungen der Felsmaſſen erzeugt
haben, ſteht man überwältigt von dem un—
geheuren Maße der ins Spiel gekommenen
Arbeit. Man kommt auf den Gedanken,
daß dieſe Arbeit nicht in rein mechaniſche
Wirkung umgewandelt worden und daß die
Schichten, welche dieſen Kräften ausgeſetzt
waren, einer bedeutenden Erwärmung aus—
geſetzt worden ſein müſſen. Es iſt eine
Eigenheit der mechaniſchen Wirkungen, ſich
in den meiſten Fällen in zwei Theile zu
theilen, die einen, welche die Umgeſtaltun—
gen, die anderen, welche die Aenderungen
der Temperatur bewirken.“
Um nun irgend einen Anhalt für die
Größe der Wärmemengen zu gewinnen,
welche durch die Reibung der Theile ge—
quetſchter Maſſen entſtehen, hat Daubree
Verſuche mit Thonen angeſtellt, die gerade
nur ſo viel Waſſer enthielten, daß ſie ſich
bearbeiten ließen. Ein Thon von der Con—
ſiſtenz des zur Ziegelfabrikation dienenden
Lehmes, wurde in einer Dampfknetemaſchine
von vier Pferdekraft zwei Stunden hindurch
derart bearbeitet, daß die unten heraus—
n Maſſe immer wieder oben neu
.
437
aufgegeben wurde; ſie zeigte dabei eine
regelmäßige Wärmezunahme, die zuletzt 21,5“
betrug; der Thon hatte ſich von 8,5“ auf
290 erwärmt. Bei einer anderen, mit
ſechs Pferdekräften betriebenen Knetmaſchine
zeigte der anfangs 18 warme Thon nach
25 Minuten 36,3“, nach 35 Minuten
38,8 und nach 45 Minuten 40,1. Ein
anderer Verſuch mit 140 Kilogramm Thon
von 149, ergab nach einſtündiger Bearbeit-
ung eine Wärmezunahme von über 30°,
Die Curve, welche den Gang der Wärme—
zunahme bei dieſer Behandlung des Thones
darſtellt, zeigt anfangs ein ſchnelleres, ſpäter
ein langſameres Anſteigen, zweifellos in
Folge der ſich ſpäter in erhöhtem Maße
geltend machenden Abkühlung. Weichere
Lehme zeigten unter den gleichen Beding—
ungen eine geringere Wärmezunahme, und
bei ganz trockenen und harten Maſſen iſt
ſie, wie man aus der ſtarken Erhitzung
beim Schleifen derſelben weiß, noch bedeu—
tend größer. Daub re führt am Schluſſe
eine Reihe von Beiſpielen an, bei denen
eine mäßige Erwärmung hinreichte, um
langſam ähnliche chemiſche Veränderungen
herbeizuführen, wie ſie ſich in metamorpho—
ſirten Geſteinsſchichten finden. (Comptes
rendus T. LXXXVI p. 1047 u. 1104.)
Juterfamiliäre Variation.
Mit dieſem oder einem ähnlichen Namen
kann man vielleicht eine Art der Variation
unterſcheiden, auf welche Herr Dr. Paul
Magnus in Berlin in einer Sitzung des
botaniſchen Vereins der Provinz Branden—
burg hingewieſen hat. Derſelbe ging dabei
aus von den Anomalieen einiger Exemplare
von Fragaria elatior Ehrh., die im Garten
438
des Sommerfeldt'ſchen Gaſthofes zu Oder—
berg i. M. gewachſen waren, und auf die
ihn Herr Fr. Paeske freundlichſt auf—
merkſam gemacht hatte. Viele Roſetten zeig—
ten dort je ein oder zwei Blätter mit vier
oder fünf fingerförmig an der Spitze des
Blattſtieles geſtellten Blättchen, von denen
manchmal ein äußeres von dem nächſt inne—
ren noch nicht vollſtändig abgetrennt iſt.
Außerdem zeigen je ein oder zwei Blätter
derſelben Roſetten ein oder zwei kurz ge—
ſtielte Oehrchen mitten am Blattſtiel; die
Bildung der Blattſtielöhrchen und der über
zähligen Blättchen findet keineswegs immer
an denſelben Blättern ſtatt. Häufig tragen
gedreite Blätter Oehrchen am Blattſtiele
und entbehren mehrzählige derſelben. Die
mehrzähligen Blätter ſind meiſtens das 2.
und 3. bis 4. und 5. diesjährige Blatt
der Roſette und gehen ihnen normale drei—
zählige Blätter voraus, ſowie ihnen eben—
ſolche nachfolgen; die am Blattſtiele Oehr—
chen führenden Blätter hingegen ſind die
erſten bis zweiten und dritten diesjährigen
der Roſette, oder können auch ganz fehlen.
Alle Roſetten mit anomalen Blättern
ſtammen höchſt wahrſcheinlich von den Aus—
läufern einer variirenden Samenpflanze her,
ſind wahrſcheinlich Sproſſen eines Stockes.
Eine ähnliche Anomalie hatte Vortr. im
Juni 1872 im Walde bei Finkenkrug bei
Berlin an zahlreichen Roſetten von Fraga-
ria vesca L. gefunden, bei denen das zweite
bis vierte Blatt der Roſette fünfzählig, ſehr
ſelten nur vierzählig war, während die vor—
ausgehenden, ſowie ein vor der abſchließen—
den Inflorescenz noch folgendes baſales Laub—
blatt normal dreizählig ſind. In dieſem Falle
trat die Vermehrung der Blättchen ohne die
Bildung geſtielter Oehrchen am Blattſtiele,
welche niemals beobachtet wurden, auf. Auch
dieſe Roſetten ſtammten wahrſcheinlich von
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
den Ausläufern eines Stockes, da ihr Vor—
kommen auf eine kleine Stelle im Walde be—
ſchränkt war.
Vermehrung der Blättchen hat Vortr.
öfter an einzelnen Blättern der in den Gär—
ten jo häufig cultivirten Fragaria virgini-
ana Mill. beobachtet.
Nach entgegengeſetzter Richtung variiren
die Blätter der als Fragaria vesca var.
monophylla in unſerem botaniſchen Garten
cultivirten Pflanze. Bei dieſer bleiben die
meiſten Laubblätter einfach, wie es die erſten
auf die Kotyledonen folgenden Laubblätter
der Keimpflanze ſtets ſind, denen ſie über—
haupt, mit Ausnahme der weit beträchtliche—
ren Größe, ſehr ähnlich bleiben. Es ſind
dieſe Variationen wieder ein intereſſantes
Beiſpiel dafür, daß die Variationen deſſelben
Organs in Bezug auf denſelben Punkt nach
entgegengeſetzten Richtungen auftreten kann,
mithin ein in beſtimmter Richtung fortſchrei—
ten ſollendes Variiren, wie es viele Autoren
neuerdings ſupponiren, nicht wohl anzuneh—
men iſt.
Das Auftreten geſtielter Oehrchen am
Blattſtiele ſcheint öfter bei Fragaria auch
ohne Vermehrung der Blättchen ſtatt zu ha—
ben; ſo ſah es Vortr. an einzelnen drei—
zähligen Blättern von Fragaria virginiana
aus Gärten Berlins, Frag. elatior aus
Wien, Frag. collina Ehrh. aus dem Frei—
burger Botaniſchen Garten und aus Heidel—
berg, ſowie von den Rüdersdorfer Kalk—
bergen. Dieſe Variation beanſprucht inſofern
unſer ganz beſonderes Intereſſe, als dieſe ge—
ſtielten Oehrchen oder acceſſoriſchen Fieder—
chen an vielen Fragaria verwandten Gat—
tungen ganz normal auftreten, wie z. B. bei
Geum, Agrimonia, Potentilla anserina L.
u. A. unter den Rosaceae, an Ulmaria
unter den Spiraeaceae. Wir haben es hier
alſo mit einer Variation zu thun, in der ein
Charakter der Verwandtſchaft zum Ausdruck
kommt, d. h. deren Auftreten in der realen
Verwandtſchaft begründet iſt. Hingegen
möchte Vortr. die Variation nicht als eine
ataviſtiſche auffaſſen, da es durchaus nicht
erwieſen oder nur wahrſcheinlich iſt, daß etwa
die Arten, aus denen ſich unſere heutige
Gattung Fragaria entwickelt hat, geſtielte
Oehrchen oder acceſſoriſche Fiederchen am
Blattſtiele führten.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Ganz dieſelbe Variation wie an den ges |
nannten Fragaria-Arten traf Vortr. an den
im Berliner Botaniſchen Garten cultivirten
Stöcken der Potentilla thuringiaca Bernh.
Auch bei dieſen treten an den Blattſtielen des
gefingerten Blattes häufig ein bis zwei ge—
ſtielte kleine Oehrchen auf.
Solche aus der realen Verwandtſchaft zu
erklärenden Variationen treten häufig auf.
Ein beſonderes inſtructives Beiſpiel bietet
ebenfalls an den Laubblättern die ſeit einigen
Jahren von unſeren Gärtnern gezogene Pri—
mula sinensis filieifolia dar, bei der die
Spreite des Laubblattes nicht, wie bei der
Normalform, herzförmig vom Blattſtiel ab—
geſetzt iſt, ſondern mit ihren Seitenrändern
allmälig in denſelben verläuft. Wenn es auch
wegen der großen Häufigkeit dieſer Blatt—
bildung bei den Arten der Gattung Pri—
mula nicht unwahrſcheinlich iſt, daß Pri—
mula sinensis Lindl. in der That von
einer Art mit Laubblättern mit herablaufen—
den Rändern der Spreite abſtammen möchte,
ſo möchte Vortr. dennoch dieſe Variation
nicht ſtricte als Atavismus bezeichnet wiſſen,
da es unwahrſcheinlich iſt, daß die Blätter
der Mutterart grade ſo wie die der var.
filicilolia geweſen fein möchten, wogegen
ſchon die Thatſache ſpricht, daß die var.
filicifolia mit ſehr verſchieden ſtark einge—
ſchnittenen und gezähnten Blättern auftritt.
Ebenſo iſt die Variation des ſog. Balg—
439
Mais (Zea Mays tunicata) aufzufaſſen. Wie
ſchon früher ausgeführt wurde, iſt keine Form
des bebalgten Maiſes als Atavismus, d. h.
Rückſchlag in eine Urform, aufzufaſſen. Das
folgt ſchon daraus, daß, worauf Vortr. früher
bereits hinwies, dieſe Ausbildung der Hüll—
ſpelzen der einzelnen Körner an ſehr ver—
ſchiedenen Varietäten, z. B. großkörnigen und
kleinkörnigen, auftreten kann. Demnach ge—
hört die Ausbildung der Hüllſpelzen zu den
aus der realen Verwandtſchaft herzuleitenden
Variationen.
Wie ſchon erwähnt, laſſen ſich viele Va—
riationen aus dieſer Urſache herleiten. Vortr.
möchte nur noch ein beſonders ſchlagendes
Beiſpiel anführen, das er ſchon vor Jahren
erörtert hat, es iſt dies das Auftreten von
Stachelzähnen an der Hülle der weiblichen
Blüthe der Najas Wrightiana A. Br. aus
Cuba (ſ. Beiträge zur Kenntniß der Gat—
tung Najas L. von P. Magnus, S. 58).
Hier tritt die Beziehung der Variation zur
Verwandtſchaft beſonders deutlich hervor.
(Sitzungsber. des botanischen Vereins der
Provinz Brandenburg 1877, Nr. XIX.)
Das Leibpferd Julius Cäſars
und die Ontogenie der Pferde.
Das älteſte Denkmal, welches einem
Zeugen der Darwin'ſchen Theorie errichtet
worden iſt, war wohl das eherne Pferd,
welches Cäſar nach den Berichten des
Plinius“) und Sueton !“) vor dem
Tempel der Venus Genitrix aufſtellen ließ.
Seine Abſicht war, die vermeintliche göttliche
Ahnfrau ſeines Stammes damit zu ehren,
aber genauer betrachtet, kam die Ehre, in
) Histor. natur. VIII. 42. (64.)
) Caesar. Cap. 61. 4
Kosmos, Band III. Heft 5.
56
Erz nachgeformt zu werden, vielmehr den
dieſen glich das durch Künſtlerhand ver—
ewigte Thier. Es hatte mehrzehige Füße
und ſtellte alſo einen der älteſten unter den
bekannt gewordenen Fällen von Atavismus
bei Pferden vor. Wie uns Sueton er—
zählt, war das Roß mit den faſt menſchlich
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
geſpaltenen Füßen in Cäſar's eigenem Mar-
ſtalle geboren und von ihm mit großer
Sorgfalt aufgezogen worden. Niemand
außer ihm durfte es beſteigen und es litt
keinen andern Reiter, denn Cäſar hatte
es ſelbſt zugeritten. Die Wahrſager, die
auf jede wunderbare Geburt des Viehhofes
nen Seitenzehen in einer gewiſſen embry—
ihr Augenmerk hatten, ſollen ihm — wahr-
ſcheinlich, als er ſchon nahe genug daran
war — aus dieſem Ereigniß die Welt—
herrſchaft verkündet haben, und das gab
wohl den Grund, daß er dieſes Thier, als
ein verkündendes Geſchenk der Ahnmutter
betrachtete und es ihr in Erz weihete. Sonder—
barer Wechſel der Zeiten, daß daſſelbe
Vorkommen, was ehemals dazu gemißbraucht
wurde, die Zukunft zu ergründen, uns dazu
dienen muß, in die Vergangenheit zu ſchauen,
und in der Mißgeburt ſogar die Ordnung
der Natur zu erkennen und zu bewundern!
Aehnliche den vorweltlichen Pferden in
der Fußbildung gleichende Nachkömmlinge
ſind ſehr oft beſchrieben und abgebildet
worden. Schon Aldrovandi in ſeiner
Historia Monstrorum bildete ein ſolches
Pferd ab, welches an allen vier Füßen eine
innere Zehe wie das Hipparion beſaß und
vermuthlich war dies daſſelbe Thier, welches
der Papſt Leo X. in feinen Beſitz brachte.“)
Geoffroy Saint-Hilaire hat in feiner
Geſchichte der thieriſchen Mißbildungen ein
) Charles Bell, the Hand, its mechanism
etc. Ch. III.
Vol. IV. 1862.
von ihm unterſuchtes Pferd beſchrieben, welches
Ahnen ſeines Leibroſſes und des Pferde— wie die amerikaniſchen Pferde der Eocän—
geſchlechtes im Allgemeinen zu Gute, denn
Zeit (Eohippus nnd Orohippus) vier Zehen
beſaß. Andere hierher gehörige Beiſpiele ſind
von Goubeaux ?), Henſel, Strobel
und neuerdings von Gaudry beſchrieben
und abgebildet worden, darunter ſolche, in
denen die Fußbildung außerordentlich der-
jenigen des ausgeſtorbenen Hippaxion glich.
Die Häufigkeit dieſes Vorkommens deutet
ſchon darauf hin, daß die gelegentliche Mehr—
zehigkeit des „Einhufers“ nicht ſchlechthin
auf ein Auftauchen vager Erinnerungen an
die Mehrzehigkeit ſeiner Ahnen bezogen
werden darf, ſondern daß das häufige
Wiederauftreten der in der Zeit verſchwunde—
onalen Mehranlage von Theilen, die ſich
gewöhnlich nicht mehr voll ausbilden, geſucht
werden muß. Das biogenetiſche Grund—
geſetz, nach welchem die perſönliche Ent—
wicklung (Ontogenie) eines Lebeweſens die
abgekürzte Wiederholung ſeiner Ahnengeſchichte
(Phylogenie) ſein ſoll, ſcheint ſogar eine ſolche
Mehranlage von Zehen bei dem Einhufer
zu fordern, und wenn irgend eine Ge—
legenheit günſtig iſt, als Prüfſtein dieſes
Geſetzes zu dienen, ſo ſcheint es die Embryo—
logie des Pferdes zu ſein. Denn die Phylo—
genie, die Abſtammungs-Geſchichte
des Pferdes kennen wir genauer, als die—
jenige irgend eines andern Thieres der höhern
Klaſſen unter den Wirbelthieren. Von keiner
andern Thierart iſt eine ſo reiche und voll—
ſtändige Ahnengallerie ausgegraben worden,
als von den Pferden, die ſeit der Eocän-Zeit,
in welcher ſich dieſer Zweig zuerſt von den
übrigen Hufthieren abſonderte, ſtets in un—
geheurer Zahl vorhanden geweſen ſein müſſen,
) De la Pentadactylie chez le Cheval.
Comptes rendus de la Société de Biologie.
8 |
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
um ſo zahlreiche Reſte zurückzulaſſen, wie wir
ſie von allen ihren Vorgängern beinahe beſitzen.
„Zu Pikermi (Griechenland)“, ſo erzählt
Profeſſor Albert Gaudry in einem foeben
erſchienenen, ausgezeichneten Werke), auf
welches wir demnächſt genauer zurückkommen
werden, „habe ich neunzehnhundert Knochen,
die zu vierundzwanzig Individuen (des
Hipparion) gehört haben, geſammelt, zu
Eppelsheim in Deutſchland, zu Baltavar
in Ungarn, auf dem Leberon in der Provence,
zu Concuv in Spanien, in Nordamerika
und in Indien, überall hat der Ueberfluß
an foſſilen Pferdereſten die Naturforſcher
überraſcht, ſie müſſen auf einem anſehnlichen
Theile der Erde in großen Heerden ver—
breitet geweſen ſein.“ Gaudry malt dann
aus, wie ſich die Schnelligkeit dieſer Thiere
ſteigern mußte, um den an Intelligenz zu—
nehmenden Raubthieren zu entrinnen und
wie Bein und Fuß endlich bei jenem Ideal
eines ausſchließlichen Renn-Organs anlangten,
das kaum noch eine Aehnlichkeit darbietet
mit der urſprünglichen Form. Schritt für
Schritt verfolgt Gaudry die Umbildung
der Zähne und der Füße und erläutert ſie
durch treffliche Abbildungen. Es war natür-
lich, daß der deutſche Paläontologe H. von
Meyer grade bei den Pferden zuerſt darauf
kommen mußte, von einem foſſilen Zwiſchen—
Thier (Anchitherium) zu reden, d. h. einem
Thier, welches zwiſchen den Unpaarhufern
und Pferden mitten inne ſteht. Aber wie
viele Zwiſchenformen ſind ſeitdem zwiſchen
dieſem Zwiſchenthiere und dem Pferde einer— |
ſeits, dem Paläotherium oder Coryphodon |
andrerſeits aufgefunden worden! Wir haben
Außerdem ſtelle ich feſt, daß die mittleren
da eine Reihe, von der anfangs nur drei
Glieder bekannt waren, und von welcher
) Les Enchainements du Monde animal
dans les temps géologiques
tertiaires) Paris 1878.
(Mammiferes
wir heutzutage mehr als ein halbes Hundert
mit beſonderen Namen benannt haben.
Sogar namenloſe Varietäten, wie wir
ſie bei unſern Hausthieren in ſo großer
Zahl unterſcheiden, laſſen fi bei den Vor—
fahren des Pferdes nachweiſen, und man
kann da gleichſam die mit leichten Varietäten
beginnende Artenbildung durch natürliche
Ausleſe in die Vorzeit zurückverfolgen. So hat
Gaudryz. B. bei dem dreizehigen Hipparion
graeile der obern Miocänſchicht von Pikermi
zwei Racen unterſcheiden können, die ſich etwa
verhalten, wie ein ſchlankes Araberpferd zum
Percheron. Doch hören wir ihn ſelbſt:
„Dank der Maſſenhaftigkeit ihrer Ueber—
reſte“, ſagt Gaudry, „haben mir die foſſilen
Einhufer eine Gelegenheit dargeboten, zu
ſehen, wie weit Variationen bei Thieren ein
und derſelben Art gehen können. Unter den
Knochen des Hipparion von Pikermi finden
ſich ſolche, deren Proportionsunterſchiede derart
ſind, daß es beim erſten Anblicke ſchwer
wird, ſie ein und derſelben Art zuzutheilen.
Man wird darüber urtheilen können, wenn
man die Abbildungen zweier Mittelfußknochen
vergleicht (deren einer bei gleicher Länge
beinahe doppelt ſo ſtark iſt, wie der andere).
Wenn man indeſſen eine große Anzahl ſolcher
Knochen zuſammenbringt, ſo wird es unmög—
lich, Grenzlinien zu ziehen, und man muß
annehmen, daß man einfach zwei Racen
vor ſich hat, eine plumpe und eine ſchlanke.
Wenn ich nun Pikermi verlaſſe, um mich
nach Eppelsheim zu begeben, finde ich hier
die plumpe Race vorwiegen und wenn ich,
anſtatt nach Eppelsheim zu gehen, den Leberon
beſuche, ſehe ich die ſchlanke Race vorherrſchen.
Loben der oberen Backenzähne zu Eppelsheim
und Pikermi mehr gefaltet ſind, als auf
dem Leberon-Gebirge. Natürlich ſchließe ich
daraus, daß Nachkommen einer und derſelben
ä
442
Thierart, nach der Zeit und dem Lande
wo ſie gelebt haben, dazu gelangt ſeien,
verſchiedene Charaktere anzunehmen. ....
In meinem Werke über das Leberon-Gebirge
habe ich darauf hingewieſen, daß die Unter—
ſuchung der Mittelhand- und Mittelfußknochen
vom Hipparion antelopinum aus Indien
das Fehlen der beiden Seitenzehen wahr—
ſcheinlich machte. Wenn dieſe Annahme ſich
bewahrheitet, ſagte ich, ſo würden manche
Perſonen vermuthlich geneigt ſein, einen
neuen Gattungsnamen für ein Thier vor—
zuſchlagen, welches mit der Bezahnung des
Hipparion die Füße eines Pferdes verbände.
Es ſcheint mir indeſſen beſſer, für die Thiere,
welche auf dem Wege ſind, die Geſtalt des
Pferdes zu erreichen, den Namen Hipparion
bis zu dem Augenblicke beizubehalten, in
welchem ſie den Typus des Pferdes voll—
ſtändig verwirklichten. . . .. Seit ich dieſe
Zeilen geſchrieben, hat O. Marſh aus
Niobrara Thiere bekannt gemacht, welche
die Vermuthung verwirklichen, die ich bezüglich
des indiſchen Hipparion ausgeſprochen hatte,
ſie haben Pferdefüße und Hipparion-Gebiß;
Marſh hat ihnen den Namen Pliohippus
(d. h. Mehr-Pferd) beigelegt. So hat man
Hipparions gefunden, die ſich in der Fuß—
bildung den älteſten Pferden mehr annähern,
man hat auch ſolche angetroffen, welche in
der Zahnbildung zu den Pferden hinüber—
leiten. So hat z. B. Leidy Hipparion-
Zähne beſchrieben, welche ſich denen der echten
Pferde dadurch nähern, daß der innere Höcker
mehr in den mittleren übergeht (H. perditus
et placidus = Protohippus Leidy) oder
durch die geringere Faltung ihrer Email—
leiſten (H. gratum) oder durch die Zu—
ſammendrückung und Verlängerung ihres
innern Höckers (H. oceidentale et affine)...“
Mit Recht find unſeres Erachtens die-
jenigen „Arten“, welche die Hauptſchritte
zwiſchen Anchitherium, Hipparion und
Equus bezeichnen, zu Gattungen erhoben
worden, wie wir in dem zweiten Artikel
über die ausgeſtorbenen Wirbelthiere Nord—
amerika's des Näheren geſehen haben.“) Mit
dieſen ſchrittweiſen Aenderungen im Bau der
Füße und im Gebiß gingen natürlich ſolche
im geſammten Körperbau Hand in Hand.
So ſind z. B. wie bei vielen anderen Thieren,
die ihre Beine nur zum Laufen gebrauchen,
Ulna und Fibula als geſonderte Knochen
auch den Pferden in ihrer hiſtoriſchen Ent—
wickelung theils durch Verſchmelzung, theils
durch Rückbildung abhanden gekommen,
während ſie bei dem älteſten Pferde (dem
Eohippus) deutlich getrennt und vollſtändig
vorhanden waren. Die hauptſächlichſten
hiſtoriſchen Veränderungen müßten ſich nun
andeutungsweiſe in der embryonalen Ent—
wickelung des Pferdes nachweiſen laſſen,
wenn das biogenetiſche Grundgeſetz wirklich
eine allgemeine Giltigkeit beſitzt. Leider ſind
wir über die Ontogenie des Pferdes nid}
ſo genau unterrichtet, als man bei einem
ſo verbreiteten Hausthiere vermuthen ſollte.
Allein das Pferd ift ein zu koſtbares Verſuchs—
thier, als daß man bei demſelben die Embryo-
logie ſo genau ſtudirt haben und von Tag
zu Tag verfolgt haben könnte, wie etwa
bei Hühnern oder Kaninchen. Indeſſen ſtimmt
das Wenige, was man bei gelegentlich zur
Unterſuchung gelangten Pferde-Embryonen
feſtſtellen konnte, auf das Beſte mit dem
überein, was man nach den Thatſachen der
genauer bekannten Phylogenie erwarten mußte.
Profeſſor Gegenbauer ſagt über dieſen
wichtigen Punkt bei Gelegenheit einer
Beſprechung der Marſh'ſchen Unterſuch—
ungen“):
) Kosmos. Bd. II. S. 429 fgde.
) Morphologiſches Jahrbuch. Band IV.
(1878). Erſtes Heft.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. |
„Es iſt zweckdienlich, daran zu erinnern,
wie das Wenige, welches uns bisher über
die Ontogenie der Gliedmaßen der Einhufer
bekannt ward, den Parallelismus mit der
Phylogenie erkennen läßt. (Vergl. A. Roſen—
berg in der Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche
Zoologie. Bd. XXIII.) In dem erſten zur
Unterſuchung gekommenen Stadium beſitzt
Ulna mit Radius gleiche Länge, ebenſo
erſcheint die Fibula noch in vollſtändiger
Anlage und damit ſind Zuſtände angedeutet,
die nur den älteſten Formen (Eohippus)
jener paläontologiſchen Reihe zukamen. Ebenſo
läßt die Anlage von drei vollſtändigen
einſtimmung mit den Vorläufern der ſpätern
Equiden auf das Deutlichſte erkennen und
in der gleichfalls zu beobachtenden Rück—
bildung der Diaphyſe von Ulna und Fibula
nimmt man denſelben Vorgang wahr, wie
er in den ſpäteren Formen gleichfalls in
einzelnen Stadien repräſentirt wird. So
decken ſich hier, ſo weit man dies erwarten
darf, Ontogenie und Phylogenie.“
Es hat ſich ſomit bei derjenigen Säuge—
thierklaſſe, deren hiſtoriſche Entwicklung man
am genaueſten kennt, das biogenetiſche Grund—
geſetz vorzüglich bewährt, obwohl es wünſchens—
werth bleibt, die Ontogenie dieſer Thiere
immer noch genauer kennen zu lernen. Man
erkennt nun leicht, weshalb bei den Pferden
ſo häufig ein Rückſchlag zu der Fußbildung
des Hipparion vorkommt, denn die drei
Zehen deſſelben erſcheinen beim Embryo
regelmäßig in der Anlage der drei Mittelhand—
und Mittelfuß-Knochen, obwohl ſich nur der
mittelſte derſelben weiter entwickelt, während
die beiden andern gewöhnlich Rudimente
bleiben. Zuweilen aber iſt nicht nur der
erwähnte Knochen, ſondern auch die dazu—
gehörige Zehe voll entwickelt, ja in einem
2 Gaudry abgebildeten Falle ſogar in
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
laſſen: Poeſie und Wiſſenſchaft unter dem—
Metacarpalien und Metatarſalien die Ueber-
dazu geeignet ſein, um den langathmigen
| Huxley,
43
einem höheren Grade als bei den meiſten
Hipparion-Arten, bei denen dieſe Seitenzehen
ſchon ſehr verkleinert waren, ſo daß man
an einen noch älteren Zuſtand erinnert wird.
(Vergl. d. Abbild. im Kosmos, Bd. II. S. 431.)
So bietet denn Paläontologie, Ent—
wickelungsgeſchichte und Teratologie des
Pferdes in gegenſeitiger Stützung und Er—
gänzung eine feſte Grundlage für das Ge—
bäude der Evolutionstheorie, und wie der
Pegaſus einſt zum Wappenthier der Poeten
erkieſt wurde, ſo können ihn nunmehr die
Evolutioniſten auf ihren Kampfſchild malen
ſelben Zeichen! Nichts aber würde mehr
Streit über Wahrheit und Dichtung in der
Weltanſchauung zu einem ſchnellen Ende
zu bringen, als wenn ein Kowalewsky,
Rütimeyer, Gaudry,
Marſhͤ oder ſonſt ein gründlicher Kenner
der Ur- und Naturgeſchichte des Pferdes
uns eine Monographie deſſelben beſcheeren
wollte, die auch dem blödeſten Auge die
Natur offenbaren würde als das, was
ſie iſt, ein ewiges Werden.
|
|
Ueber das Vorkommen und die
Bedeutung überzähliger Brüſte und
Bruſtwarzen beim Menſchen
veröffentlicht Prof. Dr. Leichtenſtern in
Tübingen auf Grund von dreizehn ſelbſt unter—
ſuchten und zweiundneunzig in der Literatur
beſchriebenen Fällen eine ausführliche Arbeit“),
der wir das Folgende entnehmen. Fälle
von Ueberzahl der Brüſte (Polymaſtie, Pleto-
mazie) oder der Bruſtwarzen (Pleiothelie)
— Virchow's Archiv. Band 73 Heft 2
(Juni 1878).
find im Allgemeinen beim Meuſchen häufig,
aber lange Zeit nur als ein Opus mira—
pile naturae ludentis, als eine Art Ca-
price oder Bizarrerie der bildenden Natur,
ja als Verirrungen vom Organiſations-Plane
aufgefaßt worden. Prof. Dr. Leichten—
ſtern kommt durch ſeine ſorgſame Durch-
forſchung des geſammten Materials zu ganz
andern, für die Darwin'ſche Theorie ſehr
wichtigen Schlüſſen. Entgegen der Angabe,
daß dieſe Bildungen bei Männern ſeltener
ſeien als bei Frauen, findet er, daß Fälle
von rudimentärer Polythelie (mit oder ohne
Polymaſtie) im Allgemeinen ziemlich häufig
(c. einmal unter 500 Perſonen) vorkommen,
und zum Mindeſten ebenſo häufig bei Männern
als bei Frauen.
faſſer ſelbſt beobachteten Fällen betrafen ſo—
gar neun das männliche, vier das weibliche
Geſchlecht, indeſſen werden ſie aus leicht be—
greiflichen Urſachen bei dem Letzteren leichter
ſelben gelagert.
wahrgenommen. Sie wurden auch zuweilen
erſt als ſolche erkannt, wenn ſie während
und nach der Schwangerſchaft begannen,
Milch abzuſondern. Die Angaben, daß ſich
derartige überzählige Organe an beliebige
Körperſtellen „verirren“, wurden durch die
genauere Vergleichung völlig widerlegt, viel—
mehr fand ſich, daß überzählige Bruſtwarzen
und Brüſte weitaus am häufigſten (bei 91
Prozent aller Fälle) an der Vorderſeite
des Thorax vorkommen. Die Fälle, wo
acceſſoriſche Brüſte in der Achſelhöhle, am
Rücken, auf dem Akromion, an der Außen—
ſeite des Oberſchenkels angetroffen wurden,
bilden äußerſt ſeltene, häufig nur durch Unica
vertretene Ausnahmen. Die acceſſoriſchen
Von den durch den Ver
treffend.
Achſelhöhlen genähert.
444 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Sie kommen ein—
ſeitig und bilateralſymmetriſch oder unſymme—
triſch angeordnet vor, höchſt ſelten aber neben
den normalen. Die Angaben Geoffroy's de
Saint-Hilaire, Förſter's und Anderer Be—
obachter über ein regelloſes Auftreten dieſer
Organe, die auch Preyer und Darwin
irreführten ), find alſo falſch: die acceſſoriſchen
Mamillen und die normalen Warzen jeder
Seite bilden faſt immer zwei nach abwärts
convergirende Linien, ganz ähnlich der Stell—
ung, welche die Mamillen vieler mehrbrüſtiger
Säugethiere einnehmen. Sehr gut illuſtrirt
wird dieſe Normalſtellung der ſupernumerären
Warzen durch den intereſſanten Fall Fitz—
gibbon's *), einen Mann mit vier acceſ—
ſoriſchen und rudimentären Mamillen be—
Zwei derſelben hatten oberhalb,
zwei unterhalb der normalen ihren Sitz,
erſtere waren nach auswärts von der Ma—
millarlinie, letztere medianwärts von der—
Bei einſeitiger Entwicklung
finden ſie ſich häufiger auf der linken als
auf der rechten Seite (7 : 2), wie auch die
normale Bruſt auf der linken Seite nach
Cruveilhier faſt konſtant größer und
voller entwickelt zu ſein pflegt. Außer an
der Vorderſeite der Thorax hat man acceſ—
ſoriſche Brüſte und Mamillen in höchſt ſeltenen
Ausnahmefällen auch angetroffen in der Achſel—
höhle (5 Fälle), am Rücken (2 F.), auf der
Schulterhöhe (1 F.) und an der Außenſeite
des Oberſchenkels (1 F.), dagegen beruhen
die allenthalben curſirenden Angaben über
acceſſoriſche Brüſte am Bauche und in der
Inguinalgegend auf einem Irrthum. In
mehreren Fällen war die Anomalie ebenſo
Mamillen an der Vorderſeite des Thorax
haben in der Mehrzahl (94 Prozent der
Fälle) ihren Sitz unterhalb der nor—
erblich, wie ſonſt Polydactylie; in den von
) J. Darwin, die Abſtammung des
; „„ Menſchen (8, Aufl.) I. S. 47.
malen Mamillen, meiſtens etwas einwärts,
ſelten oberhalb und dann nach außen den
) The Dublin Quarterly Journal of
Med. Science Febr. 1860. Vol. XXIX.
Prof. Leichtenſtern ſelbſt beobachteten
Fällen konnte keine Erblichkeit nachgewieſen
werden.
iſt es zweckmäßig, die obwaltenden Verhält—
niſſe bei den Säugethieren zu betrachten.
Die Anzahl der Brüſte bei den Säugethieren
iſt eine verſchiedene und zwar ſowohl bei
den verſchiedenen Ordnungen als auch bei
den einzelnen Arten einer und derſelben
Ordnung. Sie ſchwankt zwiſchen 2 und 14.
Der früher aufgeſtellte, aus naturphiloſo—
phiſcher Betrachtungsweiſe hervorgegangene
Satz: „Je höher entwickelt eine Säuge—
thier-Art iſt, um jo weniger Brüſte beſitzt
dieſelbe, und um ſo mehr nähern ſich die
Brüſte dem Thorax“ hat nur eine ſehr be—
dingte Richtigkeit. Dieſes „Geſetz“ wie man
es auch genannt hat, findet ſich wohl beim
Vergleiche des Menſchen, der Affen, Halb—
affen, Chiropteren und Dermopteren mit
den andern Säugethieren beſtätigt, nicht aber
beim Vergleiche der verſchiedenen Säugethier—
arten untereinander. Die Zahl iſt viel—
mehr ſo wenig geſetzmäßig, daß ſie bei Thieren
mit vielen Brüſten, wie ſchon Cuvier be—
merkte, unter den Individuen wechſelnd iſt;
ſie ſchwankt z. B. bei Hunden in der Regel
zwiſchen 7 und 12. Dagegen beſteht an—
erkanntermaßen bei den verſchiedenen Säuge—
thierarten ein bemerkenswerther Zuſammen—
hang zwiſchen der Zahl der Brüſte einer—
ſeits und der Zahl der Jungen eines Wurfes
andererſeits. So gebären die zweibrüſtigen
Primaten in der Regel nur ein Junges,
von den tiefer ſtehenden Halbaffen dagegen
wirft der Lori mit vier Brüſten zwei Junge.
Die zahlreichen Arten der Chiropteren, Ein—
hufer, Cetaceen, Edentaten beſitzen alle nur
zwei Brüſte und werfen ein Junges. Von
den Pachydermen werfen jene, die zwei Brüſte
beſitzen, (als Elephant, Nilpferd, Nashorn
und Tapir) nur ein Junges, das Schwein
Um dieſe Erſcheinung zu verſtehen,
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
445
dagegen mit 10 Brüſten 8—10 Junge.
Die meiſten Raubthiere und die Nagethiere
beſitzen eine größere Anzahl von Brüſten
(2 — 5 Paare), ſie werfen mindeſtens zwei,
viele aber 4— 6 Junge. Dem entſprechend
war in früheren Zeiten nicht allein unter
den Laien, ſondern auch bei Aerzten die
| Meinung viel verbreitet, Frauen mit Poly—
maſtie ſeien geneigt, Zwillinge zu gebären.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde
Profeſſor Socin in Baſel und nachträg—
lich noch die mediciniſche Facultät in Tübin⸗
gen von einer Dame zu Baſel, welche vier
Brüſte beſaß, um ein Gutachten angegangen,
ob ſie ſich verheirathen dürfe, ohne Gefahr
zu laufen, ſtets Zwillinge zu gebären. Die
befragten Autoritäten entſchieden dahin, daß
Polymaſtie nicht zu Zwillingsgeburten dispo—
nire, und der Erfolg beſtätigte dieſes Ur—
theil.“) Auch hat die Unterſuchung gezeigt,
daß unter den 70 Frauen, die hier in Be—
tracht kommen, nur drei Zwillinge geboren
haben. In einigen ſeltenen Fällen konnten
die acceſſoriſchen Brüſte mit zur Stillung der
Kinder verwendet werden.
Was nun die naturphiloſophiſche Deut-
ung betrifft, ſo ſind die überzähligen Brüſte
ſchon früh mit der normalen Polymaſtie
der Säugethiere in Parallele geſtellt worden.
Ihr gewöhnliches Vorkommen und ihre Ver—
theilung an Bruſt und Bauch erinnert an
die gewöhnliche Vertheilung derſelben bei den
Säugethieren, beſonders an das Verhalten
beim Lori, bei Lemur tardigrada, und gra-
eilis, bei Castor Fiber, Mus caffer und
andern Thieren, bei denen überall vier Pec-
toralmamillen vorhanden find, Die acceſ—
ſoriſchen Axillar-Mamillen (von denen der Ver—
faſſer ein Beiſpiel abbildet) erinnern an die
) Percy, Mem. sur les femmes multi
mammes. Journ de med. chir. pharm. p. Corvi-
sart, Leroux etc. Tome. IX. p. 381.
„en
a
Achſelbrüſte gewiſſer Flatterthiere und einer
Affengattung, der ſogenannten Tarſier, die
acceſſoriſchen Dorſal-und Acromial-Mamillen
an die erſt ſpät entdeckten Dorſalbrüſte des
Stachelſchweins. Sogar der von Dr. Bar—
tels erwähnte Fall) in welchem ein Mann
fünf Milchdrüſen, eine in der Mittellinie ober—
halb des Nabels beſaß, findet nach Meckel
von Helmsbach ein Seitenſtück in dem Vor—
kommen einer medianen Mamma bei gewiſſen
Fledermäuſen. Auch inguinale Mamillen
kommen bei einzelnen Säugethieren vor, beim
Menſchen find fie nach Leichtenſtern nie—
mals beobachtet worden, und es liegt in den
betreffenden Angaben nur ein Mißverſtehen
des von Preyer *) erwähnten Falles vor,
bei welchem eine am äußern Schenkel befind—
liche Mamma Milch abſonderte. Zur Er—
klärung dieſer Erſcheinung ſind früher ver—
ſchiedene Theorien aufgeſtellt worden. Die
eine derſelben, welche von einem „Verirren“
der Milchdrüſen ausgeht, iſt aus entwick—
lungsgeſchichtlichen Gründen unhaltbar. Eine
andre von Meckel aufgeſtellte Theorie be—
hauptet, daß jeder Menſch die Anlage zur
Entwicklung von fünf Brüſten beſitzen ſoll,
nämlich zwei in den Achſelhöhlen und eine
über dem Nabel, außer den beiden regel—
mäßig entwickelten. Dieſelbe iſt augenſchein—
lich nur auf Grund des obenerwähnten Ein—
zelfalles, bei welchem es noch ſehr zweifel—
haft iſt, ob die fünfte Warze wirklich genau
in der Median-Linie lag, entworfen. Eine
richtigere Erklärung wurde bereits von Iſi—
dor Geoffroy de Saint-Hilaire,
dem Vorkämpfer der Evolutions-Theorie,
angebahnt, welcher ausſprach, daß die Ver—
vielfältigung der Brüſte beim Menſchen auf
den „allgemeinen Organiſationsplan“ der
) Reichert's und Dubois -Rey—
mond's Archiv 1872. S. 304.
* Der Kampf um's Daſein 1869. S. 45.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Säugethiere zurückzuführen ſei. Darwin
gab zuerſt die richtige Erklärung dieſer Bil—
dung, indem er ſie als einen Rückſchlag auf
die Organiſation der älteren Urzeuger des
Menſchen betrachtete, und obwohl er dieſe
Auſicht ſpäter an der obenangeführten Stelle
zu Gunſten einiger von andern Beobachtern
mißverſtandenen oder falſchgedeuteten Fälle
einſchränken zu ſollen glaubte, fügte er doch
die Bemerkung hinzu: „Im Ganzen dürfen
wir wohl bezweifeln, ob ſich in beiden Ge—
ſchlechtern beim Menſchen jemals überzählige
Bruſtdrüſen überhaupt hätten entwickeln
können, wenn nicht ſeine früheren Urerzeuger
mit mehr als einem einzigen Paare verſehen
geweſen wären“. Auf Grund ſeiner ein—
gehenden Studien mit Ausdehnung auf
das geſammte vorliegende Beobachtungs—
material erklärt Prof. Leichtenſtern:
„Ich glaube den Einwänden gegen Dar-
win's Anſicht die Spitze abgebrochen zu
haben, indem es mir gelang, zu zeigen,
daß die acceſſoriſchen Brüſte und Mam—
millen nicht, wie man bisher annahm, mit
launenhafter Wandelbarkeit bald da, bald
dort ihren Sitz haben, daß ſie vielmehr
Bildungen ſind, die in außerordentlich regel—
mäßiger Weiſe (bei 91 pCt.) unterhalb
und nach innen, ſelten oberhalb und nach
auswärts von den normalen Papillen an
der Vorderſeite des Thorax gelegen ſind.“
Nachdem der Verfaſſer ſo die Belangloſigkeit
der gegen die Darwin'ſche Auffaſſung
vorgebrachten Gründe dargethan hat, ſchließt
er den allgemeinen Theil ſeiner Arbeit,
dem ein ausführlicher literariſcher Nach—
weis folgt, mit den Worten: „Wir er—
klären mit Darwin die acceſſoriſchen Brüſte
und Mamillen als Beiſpiele von „Rück—
ſchlag“ auf unſere enorm entfernten, niedrig
organiſirten, mehrbrüſtigen Urahnen, und
ſprechen jedem Menſchen die latente Fähig—
— ̃ — —
keit oder Neigung zu, mehr als zwei Brüſte
zu produciren. Zwar iſt dieſe auf Vererb—
ung von unſern Vorahnen beruhende Neigung
oder Fähigkeit im Laufe der Millionen von
Jahren bis zur Latenz herabgemindert worden,
immerhin aber nicht in dem Grade, als man
bisher anzunehmen geneigt war, indem wir
nachzuweiſen vermochten, daß acceſſoriſche rudi—
mentäre Mamillen und Brüſte viel häufiger
(und bei den verſchiedenſten Völkern und Racen)
vorkommen, als man bisher vermuthet hatte.“
Hinſichlich der am Schluſſe von Prof.
Leichtenſtern unterſtützten Vermuthung
Darwin's, daß unter den Vorfahren
des Menſchen auch die Männchen milchab—
ſondernde Drüſen beſeſſen haben müßten,
glaubt Referent auf ſeine um Vieles wahr-
ſcheinlichere Hypotheſe verweiſen zu ſollen “),
daß die männlichen Brüſte mit allen ähn—
lichen geſchlechtlichen Merkmalen nichts als
Charaktere ſind, welche die beiden Geſchlech—
ter gegenſeitig aufeinander vererbt haben.
Die Furcht der Affen vor den
Schlangen.
Mr. A. E. Brown hat kürzlich in
dem zoologiſchen Garten von Philadelphia
über dieſen Gegenſtand einige Verſuche an—
geſtellt und dabei dieſelben Reſultate wie
früher Darwin!) erhalten. Er wickelte
eine todte Schlange loſe in eine Zeitung und
legte fie auf den Boden eines von ſehr ver-
ſchiedenen Affenarten bewohnten Käfigs. Das
Packet wurde augenblicklich von einem An⸗
0 Vergl. Kosmos I. ©. 504 u. flgde.
) Die Abſtammung des Menſchen (3.
Aufl.) S. 93.
— —
Kosmos, Band III. Heft 5.
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 447
führer der Geſellſchaft weggenommen, aber
nach wenigen Secunden ging das Papier
auseinander und die Schlange wurde ſicht—
bar. Der Affe warf es ſofort weg und
eilte davon, indem er beſtändig rückwärts
blickte. Als die andern Affen die Schlange
erblickten, näherten ſie ſich Schritt vor Schritt
und bildeten einen Kreis von ſechs bis acht
Fuß Durchmeſſer um dieſelbe. Von allen
näherte ſich nur ein Macacus, welcher vor—
ſichtig einige ſchnelle Griffe nach dem Papier
ausführte. In dieſem Augenblicke wurde
eine Schnur, die um den Schwanz der Schlange
gebunden war, leicht angezogen, die Schlange
bewegte ſich in Folge deſſen, und die Affen
flohen mit großem Lärmen und Geſchrei in
Ueberſtürzung davon. Einige Zeit nachher
kehrten ſie ſchrittweiſe in ihre frühere Stellung
zurück, und ſetzten dies mehrere Stunden
hindurch fort, einerſeits unendliche Furcht,
andererſeits ſonderbare Neugierde zeigend.
Die nämlichen Affen zeigten keine Furcht
vor einer Schildkröte oder einem kleinen todten
Alligator. Dieſelbe Schlange wurde ſodann
verſchiedenen Säugethieren anderer Ordnun⸗
gen gezeigt, aber keines von ihnen zeigte ir—
gend ein beſonderes Intereſſe. Es iſt bekannt,
daß dieſelbe inſtinktive Schlangenfurcht beim
Menſchen, beſonders bei Frauen vorhanden
iſt. Mr. Brown war in der Lage, in
den Bewegungen einer taubſtummen Frau
ein ſehr ähnliches Gemiſch von Furcht, Neu⸗
gierde und Abſcheu, wie es die Affen zeigten,
wahrzunehmen. Iſt das ein Ueberbleibſel
von uralten Daſeinskämpfen mit einem
Feinde, deſſen Biß ſehr von demjenigen an-
derer Thiere verſchiedene Wirkungen her⸗
vorbringt und den Menſchen einem lang-
ſamen, aber ſchrecklichen Tode überliefert?
(Nature Nr. 452 June 1878.)
un u —— = = —
Titeratur und Kritik.
Sonne und Mond als Bildner der
Erdſchale. Von Profeſſor Dr. J. H.
Schmid. Leipzig, Georgi. 1878. 143 S.
mit 3 Tafeln.
ie
8 ine weitere in der Reihe der Broſchüren,
‚mit denen der Verfaſſer den Beweis
x ſeiner Theorie der „ſäkularen Umſetz—
685 ung der Meere“ zu liefern verſucht.
Wie die anderen Arbeiten Schmick's
zeichnet ſich auch dieſe durch Anführung und
Zuſammenſtellung einer Fülle von Thatſachen
aus, die an ſich für das Verſtändniß der Frage
des periodiſchen Klimawechſels in beiden po—
laren Halbkugeln der Erde äußerſt werthvoll
ſind, ſelbſt wenn ſie noch nicht als genügend
angeſehen werden ſollten, um, wie Schmick
beanſprucht, ein „klares Zeugniß der Natur“
zu Gunſten der von ihm vertheidigten
Theorie abzulegen.
Während Croll (Climate and Time)
in ſeiner Ausarbeitung und Modification der
Adhemar'ſchen Theorie an der Anficht
feſthält, daß die polare Anſammlung von
Eis bald auf dieſer, bald auf jener Erdhälfte
im Laufe einer 10500 jährigen Halbperiode
des Vorrückens der Nachtgleichen und in
Folge der Excentrieität der Erdbahn eine
Verſchiebung des Schwerpunktes der Erde
und damit eine Verſetzung der oceaniſchen
Waſſermaſſen bedinge, behauptet Schmick
vielmehr, daß, abgeſehen von dieſer Eis—
anſammlung, ſchon die ſtärkere Anziehungs—
kraft, welche die Sonne direkt nach der Rich—
tung des betreffenden Poles hin auf die
oceaniſchen Waſſermaſſen ausübe, auf der
betreffenden Halbkugel das Niveau der Meere
während der 10500 jährigen Periode dau—
ernd erhöhe, auf der entgegengeſetzten Halb—
kugel alſo entſprechend erniedrige. Dieſe
Verſchiebung der oceaniſchen Waſſermaſſen
allein falle ſchon mit einer Verſchiebung des
Schwerpunktes der Erde zuſammen.
Dieſe Theorie ergänzt Prof. Schmick
in vorliegendem und in einem früheren
Werke („Die Gezeiten“) nun noch dahin, daß
nicht nur die Flüſſigkeiten der Erdoberfläche,
ſondern in ganz gleicher Weiſe auch die heiß—
flüſſigen Maſſen des Erdinnern dieſe Ver—
ſetzung „polwärts“ erleiden.
In dem „Polwärts“ liegt, unſeres Er—
achtens, die Schwäche oder das für uns
Unverſtändliche der Theorie. Denn die An—
ziehungskraft zwiſchen Erde und Sonne
(reſp. zwiſchen Erde und Mond, die, weil
in den kürzeren Perioden des Perigäums
wirkend und demnach der Beobachtung leich—
ter zugänglich, von Schmick zum Beweiſe
ſeiner Theorie herangezogen wird) wirkt doch
in der graden Verbindungslinie zwiſchen dem
Schwerpunkt der Erde und dem der Sonne,
— | —
und kann demnach nur das Reſultat haben,
an den beiden Durchſchnittspunkten dieſer
Linie mit der Oberfläche leichtbeweglicher,
d. h. flüſſiger Erdſtoffe Erhöhungen reſp.
|
|
Anſammlungen dieſer flüſſigen Maſſen zu |
bewirken, von denen die auf der der Sonne
zugewendeten Seite um ein Gewiſſes mehr
betragen muß, als die auf der der Sonne
abgewendeten Seite erzeugte. Von dieſen
Gipfelpunkten der Erhöhungen, die ſich im
Laufe der täglichen Rotation des Erdkörpers
in einem Parallelkreiſe um die Erde, und
im Laufe der jährlichen Rotation der Erde
um die Sonne vom nördlichen bis zum ſüd—
lichen Wendekreiſe verſchieben, müßte ſich die
erzeugte Fluthwelle, wenn ihrer Bildung
und Bewegung keine anderweitigen Hinder—
niſſe im Wege ſtänden, nach allen Seiten
hin regelmäßig abdachen. Die Gipfelpunkte
der Fluthwellen irdiſcher Flüſſigkeitsmaſſen
liegen alſo immer innerhalb der Wendekreiſe,
d. h. innerhalb 23½ Graden vom Aequator
(oder bei der Mondanziehung innerhalb des
Cxtrems von 28½ Grad vom Aequator)
find alfo im Minimum immer 66 ½ Grad
von den Polen entfernt. Sie liegen alſo
dem Aequator fortwährend viel näher, als
den Polen, und wir vermögen deshalb von
vornherein nicht einzuſehen, aus welchem
Grunde ſie, wie Schmick ſeiner Theorie
vorausſchickt (S. 4), „Waſſer polwärts ver—
ſetzen“ ſollen. Im Gegentheil wäre es der
richtige Schluß, daß dieſe Attraktionswellen
Waſſer aus den polaren in die tropiſchen
Regionen verſetzen, während die Hauptmaſſe
der Flüſſigkeitsanhäufung allerdings im Laufe
eines Halbjahres von einem Wendekreiſe zum
anderen verſchoben wird. Es ſcheint uns
auch, als ob die Beobachtungen des Meeres-
niveaus zu Sidney (im 35° ſüdlicher Breite)
und zu San Francisco (im 370 nördlicher
Breite), die Schmick als eclatanten Be—
449 |
Literatur und Kritik.
weis ſeiner Theorie anführt, eher auf dieſe
intertropiſche Waſſerverſetzung bezogen wer—
den können, von deren extremen Gipfel—
punkten die genannten Orte nur 12 bis 14
Grad entfernt ſind, als auf eine polare
Waſſeranhäufung, von deren etwaigem Gipfel—
punkte die Beobachtungsorte ſo viel weiter
entfernt liegen. Selbſt die Beobachtungs-
reihen des Oſtſeeſpiegels, deſſen Verbindungs—
ſtelle mit dem Weltmeere den Wendekreiſen
der Mondbahn immer noch eben ſo nahe
liegt, als dem Pole, unterliegen demſelben
Einwand. Sie könnten als Beweis ange—
ſehen werden, daß der Mond in ſeinen
4½ jährigen Perigäumsperioden den Gipfel
einer das allgemeine Meeresniveau beein—
fluſſenden Fluthwelle von ſeinem nördlichen
Wendekreiſe (im Extrem 28 ½ Grad Breite)
bis zu ſeinem ſüdlichen verſetze. Es wird
alſo durch keine der von Schmick ange—
führten Beobachtungen eine Waſſerverſetzung
nach den Polen hin auf Grund der At—
traktion von Sonne oder Mond erwieſen.
Daraus folgt nun allerdings nicht, daß
eine polare Waſſerverſetzung in Folge der
Bewegung der Attraktionsfluthwellen nicht
indirekt ſtattfinden könne. Nämlich deshalb,
weil in Folge des Dazwiſchenliegens der
Continente die durch die Attraktion erzeugte
Fluthwelle bei ihrer täglichen Bewegung um
die Erde nothwendig an die ihr im Wege
liegenden Oſtküſten anprallen, ſich dort ſtauen,
und dann — ſeitwärts oder rückläufig —
in Geſtalt einer Meeresſtrömung wieder
verlaufen muß. Dieſe rückläufigen Meeres-
ſtrömungen werden nun allerdings, haupt—
ſächlich weil ſie aus erwärmtem Meereswaſſer
beſtehen, das aus den unteren Tiefen ſelbſt
der Tropenmeere durch das von höheren
Breitengraden zufließende kältere und ſchwe—
rere Waſſer emporgedrängt wird, vorwiegend
in der Richtung nach den Polen hin ab—
2
450
Literatur und Kritik.
fließen. Die Richtung des Abfluſſes wird
aber weſentlich durch die vorhandene Ver—
theilung von Land und Waſſer beſtimmt.
Es wäre dabei vielleicht die Möglichkeit
oder ſogar Wahrſcheinlichkeit in Betracht zu
ziehen, daß die jeweilig größten Attraktions—
fluthwellen auch größere Waſſermengen in
der einmal beſtimmten Richtung der Meeres-
ſtrömungen polwärts entſenden. In Folge
der Präceſſion der Nachtgleichen und der
Excentricität der Erdbahn macht ſich aber im
ganzen Durchſchnitte je einer 10500 jährigen
Periode ein Uebergewicht der Sonnen—
attraktion auf je einer Erdhälfte (d. h. ent-
weder nach der ſüdlichen oder nördlichen
Tropen region hin) geltend, muß alſo auch
dort eine in ihrem Geſammtbetrage mäch—
tigere Fluthwelle erzeugen, die ihrerſeits wie—
der vorwiegend ihre Waſſermengen nach der
polaren Region ihrer Erdhälfte abfließen
laſſen wird. Auf dieſe indirekte Weiſe wäre
alſo eine Beſtätigung der Schmick'ſchen
Theorie wohl zu erwarten, die übrigens
ohne eine ſehr umfangreiche Reihe von Be—
obachtungen in höheren Breitegraden kaum
feſtgeſtellt werden dürfte.
Dieſe unſere Auffaſſung ſcheint uns auch
mit den von Schmick ſelbſt angeführten
Beobachtungen der Challenger-Expedition zu
harmoniren, nach welchen (S. 120) das
warme Oberflächenwaſſer am ſtärkſten unter
beiden Wendekreiſen angehäuft iſt und dort
die Tendenz hat, ein den normalen Meeres—
ſpiegel des Aequators um mehr als zwei Fuß
überſteigendes Niveau zu bilden, das ſich
fortwährend durch Abfluß ausgleicht. Gerade
ſo gut erklärt ſie die außerordentliche Stau—
ung des kalten Meerwaſſers an der Oſtküſte
Südamerika's, die Schmick auf Tafel II.
darſtellt, und ebenſo die auf Seite 115 und
Tafel III. erwähnten Variationen der Ge—
ſchwindigkeiten der Aequatorialſtrömungen.
Selbſt wenn nun eine ſäculare Verſetz—
ung der Waſſermengen, wie ſie Schmick
beanſprucht, ſtattfände, ſo kann dieſelbe doch
nur ſehr unbedeutend ſein. Die Beweiſe
eines neuzeitigen Zurücktretens des Meeres-
ſpiegels, die Schmick auf Seite 72 ge—
ſammelt, beweiſen eben mit Sicherheit, daß
dieſes Zurücktreten im Laufe der geſchicht—
lichen Zeit ein ſehr unbedeutendes geweſen
iſt, und ſeit 2000 Jahren höchſtens 5—10
Fuß betragen haben könnte. Er giebt dem—
nach auch ſeine frühere Annahme, daß die
„rein ſolare Verſetzungswirkung“ in der
10500 jährigen Halbperiode eine Senkung
des Meeresniveau's auf einer Halbkugel von
437½ Fuß hervorbringen könne, auf und
begnügt ſich jetzt mit einer Senkung von
203 Millimetern (7¾ Zoll) im Jahrhun⸗
dert (S. 22), alſo in 10500 Jahren mit
mit 21,3 Metern. Da die geologiſchen Evi—
denzen aber eben eine viel größere Senk—
ung, der zuerſt angenommenen entſprechend,
zu erfordern ſcheinen, ſo ſind wir um ſo
mehr gezwungen, auf die Croll'ſche The—
orie der allmäligen Eisanhäufung zurück⸗
greifen zu müſſen, als dieſelbe ſich mit der
Schmick'ſchen Theorie, ſoweit dieſe richtig
iſt, ganz gut vereinigen läßt.
Einige Einwendungen Schmick's gegen
die Aufſtellungen Croll's ſcheinen uns übri—
gens wohlbegründet. Namentlich gilt dies
von dem auf Seite 130 ff. und 141 aus⸗
geführten Proteſte gegen die keineswegs ein—
leuchtende Theorie, nach welcher die Meeres—
ſtrömungen durch die vorherrſchenden Winde
erzeugt werden ſollen. In einem anderen
Punkte ſcheinen uns Schmick und Croll
gleicherweiſe Recht und Unrecht zu haben,
und die Wahrheit vielmehr als Compromiß
in der Mitte der beiderfeitigen Theorien zu
liegen: „Croll behauptet, von dem Zeit—
punkte an, in welchem das Perihel das
Winterſolſtitium der einen Halbkugel, das
Aphel das Sommerſolſtitium der anderen
paſſirt, oder in welchem das Umgekehrte
ſtattgefunden habe, ſei immer eine totale
Umkehr der Klimata und ihrer Folgen auf
Erden eingetreten, und auf dieſe Behaup—
tung gründet er ſeine Schilderung der Um—
wandlung.“ (S. 141).
Schmick dagegen behauptet, daß „Maxi—
mal- und Minimalſummen einer ſich addiren⸗
den Leiſtung immer erſt da liegen, wo die
wirkenden Urſächlichkeiten durch Null in ihr
Gegentheil übergehen.“ (ibid.)
Die Frage iſt von praktiſchem Intereſſe,
inſofern als nach Croll die Nordhälfte
der Erde den diesmaligen Höhepunkt ihrer
Wärmeperiode ſchon im Jahre 1256 er—
reicht hätte, während nach Schmick der
Höhepunkt des Wärmeeffektes erſt 5250
Jahre ſpäter, alſo im Jahre 6500 unſerer
Zeitrechnung eintreten würde.
das gewöhnliche Jahr bezogen: Nach Croll
befinden wir uns am 21. Juni im höchſten
Sommer, nach Schmick dagegen ſteigert
ſich die Wärme bis zum 21. September,
weil erſt an dieſem Tage der Mehreffekt
der Sonnenwirkung auf der Nordhälfte im
Vergleich zur Südhälfte = Null wird.
Unſeres Erachtens läßt Croll außer Acht,
daß Effekte ſich ſummiren und nach dem
Tage der Maximumleiſtung und Umkehr
der wirkenden Urſache allerdings erſt aus—
geglichen werden müſſen, während Schmick
überſieht, daß dieſer Ausgleich eben zur Zeit
der Maximumleiſtung mit erhöhter Energie
vor ſich geht, und in Folge deſſen eine Ver—
ringerung des fühlbaren Effektes ſchon ein—
trifft, ehe die einſeitige Mehrleiſtung ſich in
eine Minderleiſtung verwandelt. In der
Regel ſind nicht Juni oder September, ſon—
dern Juli und Auguſt die effektivſten Som—
mermonate.
Literatur und Kritik.
Oder auf
451
Sehr intereſſant iſt das Schmick' ſche
Werk in den ſieben Kapiteln ſeiner zweiten
Abtheilung (S. 46 — 100), in denen der
Verfaſſer, mit Zugrundelegung der Arbeiten
von Lyell, Dawkins, Le Hon, Du—
pont, Croll u. a. m. die Lagerung des
ſogenannten Diluviums kritiſch unterſucht
und aus ihm, ſowie aus den in ihm ent—
haltenen Reſten in, wie uns dünkt, über—
zeugender Weiſe die Aufeinanderfolge von
Wärme- und Kälteperioden nachweiſt, deren
Effekte und Intenſität mit der wechſelnden
Excentricität der Erdbahn, wie ſie durch
aſtronomiſche Berechnung nachgewieſen, zu—
und abnahm. Raummangel verhindert uns,
auf dieſe Ausführungen näher einzugehen,
und können wir nur unſere Leſer auf das
Buch ſelbſt verweiſen. Sie ſind namentlich
für eine richtige Auffaſſung der Urgeſchichte
des Menſchen ſelbſt von Intereſſe, und ge—
nügen z. B. vollſtändig zur Widerlegung
der in neuerer Zeit von mehreren philologiſch
gebildeten Geſchichtsforſchern geäußerten An—
ſicht, daß die Heimath der ariſchen Raſſe im
oſteuropäiſchen Tieflande zu ſuchen ſei. Denn
die Annahme, daß ſich der Arier im Laufe
von 10000 Jahren aus einem Waſſer—
bewohner entwickelt habe, ſcheint uns denn
doch ein wenig zu ſtark!
E. B.
Die Arier. Ein Beitrag zur hiſtoriſchen
Anthropologie von Theodor Poeſche.
Jena, bei Coſtenoble, 1878. 238 S.
Um ſolche Kleinigkeiten, wie die am
Schluſſe des vorigen Referats erwähnte,
kümmert ſich der Verfaſſer dieſes Werkes
nun nicht.
Er iſt vielmehr der Anſicht,
daß die Arier aus — den Rokitno⸗
ſümpfen ſtammen, wo es vor 2000
Jahren ziemlich bodenlos geweſen ſein mag.
452
In dieſen Sümpfen feien ſie iſolirt ge—
weſen und hätten ſich als beſondere, ſcharf
charakteriſirte Raſſe entwickelt. Das Ver—
dienſt des Werkes beſteht darin, daß es
nicht zögert,
während
nach Weisbach der deutſche
Schädel im Durchſchnitt 1521 C. -C. faßt
. Unfere altpommerelliſchen Schädel finden
zwiſchen Neger und Eskimo ihren Platz ..
dieſen beſonderen Raſſen-
Charakter ohne Umſchweife als den der
blauäugigen und, in
blonden Raſſe em—
kräftigen,
und Hautfarbe,
großen,
Haar-
phatiſch darzulegen, und daß es damit die
kleinen, ſchwarzhaarigen Arier endlich dahin
weiſt, wohin ſie gehören, nämlich in die
Reihen der durch ariſche Eroberung zur
ariſchen Sprache gelangten Baſtardvölker.
Körperlänge war höchſtens 61 Zoll.“
„Aber ſchon auf Grund der altpom—
merelliſchen Schädel — die wahrſcheinlich
nicht über die Anfänge unſerer Zeitrechnung
zurückdatiren — wird es erlaubt ſein, ſich
die älteſten uns bekannt gewordenen Arier
als den Eskimos in der Verwandtſchafts—
reihe ganz nahe ſtehend zu denken. Was
verſchlägt es?“ ſo fragt Herr Poeſche.
N. . a N
Seine Localiſation der ariſchen Heimath ſtützt
der Verf. übrigens auf die Ausſage eines
Herrn Main ow, eines Ruſſen, der nach
Herrn von Hellwald (Archiv für An—
thropologie VIII. 3. S. 330) Folgendes ge—
ſagt habe: „Bemerkenswerth in dieſer Sumpf—
gegend von Pinsk, Minsk u. ſ. w. iſt die
dort allgemein vorkommende Erſcheinung
der Entfärbung (Depigmentation); die Fälle |
von Albinismus find ſehr häufig, die Pferde
ſind faſt alle grau oder iſabellfarbig, die
Blätter der Bäume blaß, die ganze Natur
trüb und farblos.“
Poeſche nennt dieſe Angaben mit
Recht wunderbar. Noch wunderbarer
iſt es, daß nicht dort, ſondern in Holſtein
die zur Zeit blondeſte Raſſe der Welt lebt.
Noch andere Vorfahren der Arier als die
Menſchen (oder Fröſche?) der Rokitnoſümpfe
glaubt er in den ehemaligen Beſitzern von
Schädeln und Gebeinen zu entdecken, die
Dr. Liſſauer aus Danzig in Pomerel—
len gefunden habe (S. 75).
„Unſer altpommerelliſcher Schädel“ ſagt
derſelbe, „ zeigt einen Geſichtswinkel
von 71 247, am Zahnrande des Ober—
kiefers 69“ 12“, Größen, die ihn in
der Rangordnung der Schädeltypen ſehr
niedrig ſtellen . . . Inhalt 1310 C. C.,
—
Welt
Schliemann, Mykenä. Bericht über
meine Forſchungen und Entdeckungen in
Mykenä und Tiryns. Mit einer Vor—
rede von W. E. e Leipzig
1878, Brockhaus.
Zu jeder Zeit hat es Autodidakten ge—
geben, welche ohne Contakt mit der Zunft—
gelehrſamkeit ihre eigenen Wege wandelten,
denen aber die beleidigten Zunftgenoſſen
Steine zwiſchen die Füße zu werfen keine
Mühe ſcheuten. Denn warum? Erringt
der Selbſtlerner ohne den Wegweiſer der
dazu ſich allein berechtigt dünkenden Schule
Erfolge, welche gerechter Weiſe Aufſehen
erregen, ja ſogar der Schule ſelbſt in ihrer
Entwickelung gefährlich werden können, fo
fragt man ſich nach der Nothwendigkeit der
Zunft, nach der Berechtigung der Emanzipa—
tion vom Schulzwange u. dgl., und dieſe
Frage wird in den Augen der unparteiiſchen
auch die Stimme der Kritik
beherrſcht ja das Geſetz der Maſſe und der
Schwere — gewöhnlich zum Schaden der
Schulgenoſſen und zum Triumphe des in—
geniöſen Autodidakten ausſchlagen.
Iſt im Allgemeinen dieſer Gang der
| .
Literatur und Kritik.
Literatur und Kritik.
453
Ereigniſſe oder dieſes Kampfes zwiſchen Schliemann's Verdienſte um die klaſ—
Schule und Autodidaktismus da-
mit bezeichnet, ſo werden ſeine Formen noch
verſchärft bei einer Klaſſe, die ſich zer’
S Soũ y für den Vertreter alles Wiſſens
und aller Bildung hält — dem klaſſiſchen
Philologen.
Schon der Name, den er auf der
Stirne trägt, giebt ihm einen gewiſſen
Glorienſchein und ſcheint ihm das Recht
zu verleihen, nur Denen den officiellen Ein—
tritt in den Olymp und zu den klaſſiſchen
Stätten zu geſtatten, die rite fo und fo
viel Examina abſolvirt und das jurare in
verba magistri aus dem Fundament ge—
lernt haben. Wehe dem, der es wagt,
ihre Cirkel zu perturbiren, er wird —
wiſſenſchaftlich gelyncht!
Eine ſolche Lynchjuſtiz ſucht nun dieſer
„klaſſiſche Philologenſtand“ bis jetzt an
einem Manne zu vollſtrecken, der ein bis
dato allgemein für utopiſch gehaltenes Unter—
nehmen zu realiſiren gedachte, nämlich die
Auffindung des alten heiligen Ilions, die
Entdeckung der Leichen des Agamemnon
und ſeiner Todesgefährten ꝛc., überhaupt
die Verbindung des klaſſiſchen Sagnſtoffes
Altgriechenlands mit den Funden der Ar—
chäologie. Erſt die neueſte Zeit, die An—
erkennung des Auslandes gegenüber den
Erfolgen des Autodidakten, der Beifall
eines Lindenſchmit !), die Ernennung
Schliemann's zum Ehrenmitgliede der
deutſchen anthropologiſchen Geſellſchaft“ )
und einige wenige unparteiiſche Kritiken
über ſein letztes Werk haben es vermocht,
das Eis des Zweifels in Deutſchland über
) Beilage zur Augsb. Allgem. Zeitung
1878 Nr. 22.
) Bericht über die VIII. Verſammlung
der deutſchen Anthropologen zu Conſtanz von
J. Ranke S. 76.
ſiſche Archäologie zu brechen. Daß jedoch ein
großer Theil ſeiner reichen Funde, ſo beſon—
ders die von Hiſſarlik, im Auslande herum-
wandern, und nicht einmal eine Abbildung
davon unſere Muſeen ziert, die ja ſonſt in
Erwerbung von Kleinigkeiten um hohe
Geldſummen ſich gar nicht zieren, daran
trägt der übel angebrachte Neid und die
ausgeſprochene Verleumdungsſucht der oben
erwähnten Kreiſe Schuld.?) Im Ganzen
iſt der Kampf um Schliemann, der
erſt im Jahre 1856 in einem Alter von
34 Jahren die griechiſche Sprache erlernte,
der nicht rite die Kenntniß gewonnen hat
ſein mensa, mensae, ſein amo und ſein
copie zu flektiren, jo ziemlich zu feinem
Vortheil beendet. Der Mann, den ſchon
in den Kinderſchuhen die homeriſchen Hel—
den begeiſterten, den die Homerverſe, die
ihm ein betrunkener Müllergeſelle vordekla—
mirte, hinter dem Ladentiſche die Thränen
abrangen, der nach dem Schiffbruche des
Lebens als Bureaudiener zu Amſterdam
eintrat, der als ſolcher die Hälfte ſeines
Gehaltes von 800 Franken auf das Stu—
dium der neueren Sprachen verwandte, der
durch eigenes Genie die meiſten Cultur—
ſprachen ſich aneignete und endlich durch
glückliche Speculationen in Häringen ꝛc.
ſich Unabhängigkeit und Muße erwarb,
dieſer Autodidakt, den Homer's Schatten
im „heiligen Lande“ umhertreibt, bis er
findet, was er ſucht — ſteht nach vierzehn—
jähriger Beſchäftigung mit Archäologie und
Kunſt als einer der größten Entdecker auf
dieſem Gebiete da. Er hat es für ſich
und die Wiſſenſchaft weiter gebracht als
mancher Meyer, Müller, Schmidt,
der summa cum laude das examen rigo-
rosum beſtand und jetzt, an einem alten
) Ausland 1877 Nr. 32.
454
Schmöker kauend, mit ſouveräner Veracht—
ung auf Alle herabſchaut, die nicht zum
Parnaß ſeine emendirenden und com—
mendirenden Wege wandeln.
Schliemann's Schickſal an und für
ſich war deshalb ein würdiges Objekt der
Betrachtung und des Beweiſes dafür, mit
welcher Naturnothwendigkeit ſich ein Genie
per tot diserimina rerum die Bahn zum
Ruhm brechen wird — ſelbſt noch bei Leb—
zeiten — ohne daß man nöthig hätte, ihn
erſt nach den Exſequien mit einem frommen
exegit monumentum anzuräuchern. So
hart der Kampf ums Daſein und den
Erfolg dieſem Manne gemacht wurde, ſo
hat er ihn Dank ſeiner fabelhaften Energie
beſtanden, und andere mögen auf Hellas'
heiligem Boden den Spruch beherzigen:
hie Rhodus, hie salta! Intereſſenten
für Schliemann's Schickſale verweilen
wir auf die Vorrede zu ſeinem Erſtlings—
werk: „Ithaka, der Peloponnes und Troja“,
worin er bereits 1869 ein Programm für
ſeine Unternehmungen herausgegeben hat.
Heute iſt unſere Aufgabe, die Perſpektive,
welche Schliemann mit ſeinen Aus—
grabungen auf der Agora von Mykenä
eröffnet hat, in ihrer Bedeutung für die
Culturgeſchichte kurz zu würdigen.
Das Werk, worin er ſeine Entdeckun—
gen beſchreibt, erſchien ſoeben in reicher
Ausſtattung bei Brockhaus in Leipzig in
deutſcher Ausgabe. Beigegeben ſind vor—
treffliche Abbildungen in reicher Auswahl,
ſowie eine Reihe landſchaftlicher Darſtell—
ungen und eine genügende Anzahl von
Plänen und Detailprojektionen. So erhält
auch der Laie eine deutliche Vorſtellung
von der Akropolis von Tiryns, dem Löwen—
thor von Mykenä, der Agora mit den auf—
gedeckten fünf Gräbern (woran ſich neueſtens
ein ſechſtes anſchloß), den farbigen Idolen von
Literatur und Kritik.
Terracotta, ſowie der Art des Terrains in
und um Mykenä. Das eben iſt der Vor—
zug der Darſtellung eines Laien, daß er
auch auf ein Laienpublikum Rückſicht nimmt
und nicht vom hohen Roß herab an wenige
Erwählte ſeine Weisheitsſprüche richtet.
Allerdings auch auf manche Mängel der
Laienſprache mag hingedeutet fein: Die all-
zugroße Weitſchweifigkeit an manchen Stellen,
eine hier und da vermißte Ueberſicht und
Rubrification ꝛc. Jedoch im Großen und
Ganzen übetrifft das jüngſte Opus von
Schliemann die früheren an Deutlich—
keit und Umſicht, wie in Rückſichtnahme
auf die einſchlagende Literatur, ſo daß ſelbſt
Fachmänner die Runzeln auf der Stirne
glätten können und geglättet haben.
Im Allgemeinen find die Fundlocali—
täten an der Oſtküſte des Peloponnes, im
Innern des Meerbuſens von Argolis, dem
Publikum aus der Tageslektüre und aus
periodiſchen Blättern wie „Ausland“, „Un—
ſere Zeit“ u. ſ. w. bekannt.
Einige Kilometer nördlich der See—
ſtadt Nauplia liegt die uralte Citadelle
von Tiryns, jetzt Palaeocaſtron genannt.
Im Innern dieſer nach dem Mythus von
Cyklopen gebauten Ringmauer mit 7 Fuß
langen und 3 Fuß dicken Steinen, die
einſt eine Höhe von ca. 60 Fuß hatte,
ergaben von Schliemann vorgenommene
Ausſchachtungen mehrere Schichten. Die
jüngſte gehörte der fränkiſchen Periode an,
die älteſte zeigte Reſte cyklopiſcher Häuſer,
ungedrehte Topfreſte und Idole von Terra-
cotten, die ähnlich wie zu Hiſſarlik und My⸗
kenä gehörnte Thiere (Kühe) und weibliche
Figuren darſtellen, welche wahrſcheinlich in
Verbindung ſtehen mit dem Gottesdienſte
einer alten Mondgöttin Jo (Hera). Von
ſonſtigen Artefakten fanden ſich hier nur
kleine Meſſer von Obſidian und zwar in
u.
der unterſten Schicht; in der zweiten prä—
hiſtoriſchen auch Spinnwirtel von Stein,
nur wenige aus Thon. Im Ganzen zeigen
Mauer und Scherbe hinlänglich Aehnlich—
keit mit den tiefſten Schichten von Hiſſarlik
und Mykenä, um dieſe Urcultur in eine
und dieſelbe Periode zu ſetzen. Auffallend
iſt zu Tiryns der Mangel ſonſtiger Arte—
fakte, was ſich aber zum Theil aus der
prononcirten Lage dieſer den Seeräubern
exponirten Stelle erklärt.
Mehr im Innern von Argolis, auf der
alten Straße von Argos nach Korinth, liegt
im Winkel?) zwiſchen bis 2000 Fuß hohen
Bergen Stadt und Akropolis der Pelopiden.
Schon ſeit Alters bekannt waren die The—
ſauroi, die Schatzhäuſer daſelbſt, mit ihrer
bienenkorbförmigen Conſtruktion, ſowie das
ſogenannte Löwenthor am weſtlichen Ein—
gang zu der ſüdöſtlich von der Stadt ge—
legenen Akropolis. Geſchützt ſind deren
Seiten, wovon die beiden längſten 300 Meter
einnehmen, gleichfalls durch cyklopiſche
Mauern, welche den Rand des Abhanges,
ſowie auch Abſchnitte im Innern umziehen.
Die Mauern, noch 16 — 38 Fuß hoch und
durchſchnittlich 16 Fuß dick, beſtehen theils
aus in parallelen Reihen liegenden Blöcken
mit bindenden kleineren Steinen, theils aus
Löwenthores. Die polygone Mauer findet
ſich bekanntlich häufig in Unteritalien und
Griechenland.
Es ähneln die roheſten Formen dieſer
Mauerbildung den auf mitteleuropäiſchem
Boden bekannten Ringmauern, welche man
*) Daher der Name Mvxrvn von der
Wurzel , und dem Grundwort cana, wie
in Tooı-Invn, Arta-cana, Aba-cena, Thara-
cana, vergl. Beilage zur Allgem, Ztg. 1878,
Nr. 22 ©. 318.
Literatur und Kritik.
regelmäßiger geführt.
wohlgefügten Polygonen, wie an der Weſt⸗
ſeite der Akropolis, in der Umgebung des
455
auf die älteſte keltiſche und germaniſche Ein—
wanderung in Frankreich und Deutſchland
zurückführen kann. Wir hätten ſomit in
dieſer Bauart, die ſich, auf identiſcher
Grundlage beruhend, nur im Süden mit
entwickelter Form vorfindet, die Reſte einer
allen Weſtariern gemeinſamen Befeſtigung,
denn überall, wo Kelten, Germanen, Graeko—
Italer eingewandert ſind, haben wir auch,
an ihre Spur gebunden, dieſe cyklopiſchen
Ringwälle, deren Mauern immer aus un—
verbundenen Steinen oder Blöcken beſtehen.
Das Gemeinſame iſt an allen die Lage
auf iſolirten, durch die natura loci ge—
ſchützten Bergkegeln oder Felſenmaſſen; dann
der Zug der Linie im Kreiſe, endlich die
Art des Baues und ſchließlich der Zweck,
der einer aktiven Vertheidigung. Alle dieſe
Ringwälle in Altgriechenland und Italien,
in Deutſchland und Frankreich, in England
und Oeſterreich zeichnet dieſelbe Charakteri—
ſtik aus, und alle wahrnehmbaren und un—
terſuchten Momente ſprechen dafür, ſie für
die primitiven und gemeinſamen Schutz
und Städtebauten der Weſtarier zu halten.
Im Nordweſten find dieſe Ringwälle theil—
weiſe gebrannt, die ſogenannten Schlacken—
wälle, im Süden erſcheinen die Mauern
Die uralte Cultur
der Mittelmeerländer äußerte ihren Ein—
fluß auch auf die Form der Ringmauern
bei dem ſüdlichen Zweige der Arier. Auch
die kimmeriſchen Mauern des Herodot in
Kleinaſien ſcheinen hierher zu gehören.“)
|
Innerhalb folder Bauten der Vorzeit
machte nun Schliemann zu Hiſſarlik und
Tiryns ſeine Hauptentdeckungen, und auch
zu Mykenä war es das Innere eines ſol—
chen Raumes, welches den vielbeſchriebenen
Reichthum an Gold- und Silbergefäßen,
an Intaglivarbeiten und anderen faſt unzähli⸗
*) Ausland 1878 Nr. 7 S. 122.
Kosmos, Band III. Heft 5.
58
.
456
gen Koſtbarkeiten ergab, deren Metallwerth
allein auf ungefähr 100000 Reichsmark
geſchätzt wird.
Außer mehreren Fundſtellen innerhalb
einiger in der unteren Stadt gelegenen
Schatzhäuſer iſt weitaus der wichtigſte
Fundort ſüdlich des Löwenthores gelegen.
Dort findet ſich ein 30 Meter im Durch-
meſſer haltender Kreis, der mit bedeckten
Doppelplatten umgeben iſt. Dieſe Enceinte
hielten Schliemann, Prof. Paley in
London u. A. für die Agora, den Platz
der Volksverſammlung der Mykener, in
deren Mitte ſich die P, die Redner—
bühne, ein großer Felſenblock, erhob. An—
dere, wie Adler, halten dieſen Ring für
eine Befeſtigung, eine ebenſo unnöthige als
unmotivirte Annahme. Im Innern dieſes
Umkreiſes, in welchem nach Pindar und
Pauſanias hochangeſehene Perſonen be—
graben zu werden pflegten, entdeckte Schlie—
mann fünf regelmäßig in den Felſen ge—
hauene Vertiefungen, die in einer Tiefe von
27 — 33 Fuß mit Koſtbarkeiten überladene
Leichen bargen. Eine ſechſte Höhlung mit
zwei Leichen grub daneben am Weſtende der
Enceinte zuerſt Statamaki auf.“)
Die Lage der Gräber an der impoſan—
teſten Stelle der Akropolis, die Fund—
umſtände der Leichen, die überreichen Bei—
gaben beweiſen die hohe Stellung der hier
begrabenen Perſonen und ihre Bedeutung für
die zu ihren Füßen liegende Stadt. Schlie—
mann zieht daraus und aus einer Stelle
bei Pauſanias, dem Bädecker des
2. Jahrh. n. Chr., der ein Reiſehandbuch
von Griechenland herausgab, den Schluß, daß
er hier die Gräber gefunden habe, welche
nach der Tradition des Alterthums dem
Atreus, dem Agamemnon, ſeinem Wagen—
X) Vergl. eine Nachricht der „Poſt“ vom
Februar 1878.
Literatur und Kritik.
lenker Eurymedon, der Caſſandra und ihren
Gefährten angehören. Aber damals, als
Pauſanias jene Stelle beſuchte, welche
die Alten mit Argion, Reſidenz der Pelo—
piden, himmliſche Mauern benannten, wa—
ren die Grabmonumente durch die Laſt der
Jahrhunderte und durch zwei ſpätere Nie—
derlaſſungen mit einer Schuttſchicht von
11 — 13 Fuß Dicke unſichtbar gemacht.
Erſt der Energie Schliemann's gelang
es, die Schuttdecke, welche ſeit 468 v. Chr.
die Pelopidengräber der Sage deckte, wie—
der zu lüften.
Die kammerartigen, in den Fels ge—
hauenen Gräber enthalten eine große An—
zahl von Skeletten, die theilweiſe künſtlich
petrificirt erſcheinen. Die meiſten ſind be—
deckt im Geſicht von eigenartigen, goldenen
Masken; ein ſicher der ganzen Hellenenzeit
unbekannter Uſus bei Beerdigungen, doch
hat ſich dieſe Sitte zum Schutze gegen die
Sonne bei den Frauen auf den Inſeln des
ägäiſchen Meeres erhalten. Ueber den
Leichen ſelbſt erhob ſich bei der Beſtattung
ein Scheiterhaufen, der jedoch nur zum
Scheine angezündet geweſen zu ſein ſcheint,
da ſich die Beigaben im Ganzen unver—
ſehrt daneben finden.
Was zuerſt das Material der Arte-
fafte anbelangt, jo erſcheinen die gewöhn—
lichen Metalle: Gold, Silber, Bronze,
Kupfer in Anwendung; Gegenſtände aus
Eiſen und Blei find apoeryph.“)
Gold findet ſich erſtlich als einfaches
Metall zu Gefäßen, Ornamenten, Ringen,
Kopfbändern, Knöpfen, Haften und ande—
ren Verzierungen verwandt und zwar mit
) S. 80 und 87, wo wenigſtens eiſerne
Gegenſtände als beſtimmt ſpäterer Periode
angehörig angegeben ſind, ebenſo ein großes
Quantum Blei; der Mangel an Eiſen iſt
ſehr bemerkenswerth.
Literatur und Kritik.
89,35 pCt. Gold, 8,55 pCt. Silber nach
Richard Smith's Unterſuchungen.
Dann findet ſich häufig eine Miſchung
von Gold und Silber, ähnlich dem ſoge—
nannten Elektron, mit deutlicher Goldfarbe
angewandt und zwar mit 73,11 pCt. Gold,
23,37 pCt. Silber, 2,22 pCt. Kupfer.
Vorzugsweiſe zu Waffen verwandt
treffen wir die Bronce an; aus ihr be—
ſtehen lange Schwerter, Lanzen, Dolche.
Die Unterſuchung eines Schwertes ergab:
86,36 pCt. Kupfer, 13,06 pCt. Zinn;
die eines Vaſenhenkels: 89,69 pCt. Kupfer,
10,08 pCt. Zinn, d. h. die gewöhnliche
Miſchung der alten Bronze.
Die Streitäxte aus Bronze von Troja
ergaben einen Zinnzuſatz von nur 4—9 pCt.
Aus Kupfer beſtanden meiſt die
Hausgeſchirre, wie Keſſel, Dreifuß ꝛc.; fie ent-
halten: 98,47 pCt. Kupfer, 0,09 pCt. Zinn.
Von Zinkzuſatz fanden Percy und
Smith keine Spur.
Daß die metallenen Artefakte zum Theil
in loco gefertigt wurden, bezeugen mehrere
aus Granit, Baſalt und Diorit beſtehende,
macht des Südens, mit Aegypten, hindeuten.
innerhalb der Akropolis ausgegrabene Guß—
formen.
Von Steinartefakten grub Schlie—
mann neben den Gruben polirte Beile
aus Serpentin von 6 Centimeter Länge
und einer Form aus, wie ſie vielfach in
wegt ſich ebenfalls in ziemlich reichen For—
Mitteleuropa vorkommt. Außerdem meh—
rere Pfeilſpitzen ohne Widerhaken aus Ob—
ſidian, die an hölzernen Pfeilen befeſtigt
Von Steininſtrumenten entdeckte
waren.
|
|
man auch hier die halbmondförmigen Mahl-
ſteine zum Schroten des Getreides, und
zwar von derſelben Form und demſelben
Material, nämlich Trachyt, nur kleiner,
Napoleonshüte genannten Mahlſteine vom
Mittelrhein. “)
i
i 457
Die zahlreichſten Denkmale der Vor—
zeit ſind von Mykenä in Thon erhalten.
Es finden ſich ganz rohe Scherbenreſte ohne
Anwendung der Drehſcheibe; dann hübſch
gedrehte Vaſen und Krüge, Schüſſeln und
Becher. Die Verzierungen beſtehen zum
Theil in rohen Eindrücken, dann in man—
nigfachen Bändern und Streifen, Mäan-
dern, Spiralen, Netzen, Thiergeſtalten ꝛc.,
deren beſte Exemplare ſich den ſogenannten
älteſten attiſchen Vaſen anſchließen. In
dieſen Ornamenten liegen die werthvollſten
Kriterien für den Urſprung und den Zu—
ſammenhang dieſer Cultur.
An Edelgeſtein ward zu Material
verwandt: Achat, Alabaſter, Amethyſt,
Bergkryſtall, Jaspis, Lapis ollaris, Onyx,
Opal, und zwar in Form von Schmuck—
gegenſtänden, Ringen, Amuletten, Gewich—
ten ꝛc. Außerdem noch Bernſteinperlen.
Von ſonſtigen Stoffen ſind noch Glas
als Kugeln und Cylinder, ſowie Porzellan
als Vaſe und Schleife erwähnenswerth,
beſonders deshalb, weil beide Materialien
auf einen Handelsverkehr mit der Land—
Was die Technik und den Styl
der Artefakte betrifft, ſo iſt erſtere im
Ganzen eine ziemlich hohe. Man verſtand
ſich auf Schmieden und Gießen, auf In—
taglio- und Repouſſéarbeit. Der Styl be—
men, was die Ornamentik anbelangt. Ver—
treten unter deren Gattungen ſind beſonders
Mäander und Spirale. Die ßplaſtiſchen
Verzierungen ziehen vorzüglich das Thier—
) Vergl. des Verf. „Studien“, II. Thl.
IV. Tafel; Lindenſchmit: Alterthümer
g 5 - | rer idniſchen Vorzeit. II. Bd. VIII.
wie die den Archäologen bekannten und ide 1
Heft. I. Tafel Nr. 16; Bericht über den Con-
greß der Anthropologen zu Conſtanz: Schaaff-
hauſen S. 139.
RS
458
Literatur und Kritik.
reich zu ihren Objekten an, und zwar er—
ſcheinen Thiergeſtalten von den Inſekten
und Mollusken bis zu den Vierfüßlern;
beſonders zahlreich ſind die Geſtalten des
Löwen, des Greifen, des Hirſches, der ge—
flügelten Sphinx vertreten.
Wir erhalten demnach durchaus nicht
das Bild einer primitiven, unentwickelten
Cultur für dieſen Zeitraum der Geſchichte,
der hoch in das zweite Jahrtauſend v. Chr.
hinaufreicht, ſondern einer in allen mög—
lichen Stoffen und aller Art der plaſtiſchen
und linearen Ornamentik kunſtgerechten
Culturſtufe.
Vei dem Mangel an Vergleichungs—
material für dieſe Epoche ſind wir vor
Allem auf den Prüfſtein der Keramik
hingewieſen. Und gerade dieſe, und zwar
Vaſen mit drei Henkeln und eigenthümlichen
Linearornamenten, weiſen uns nach dem
Oſten vom Peleponnes. Zu Jalyſos auf
Rhodos fanden ſich in Grabkammern die—
ſelben Vaſen und außerdem ähnliche Gold—
artefaklte. Dazu macht Prof. Köhler
zu Athen mit Recht darauf aufmerkſam,
daß die vielen zu Ornamenten angewand—
ten Seethiere: Polypen, Fiſche, dann
Ruder (2), Meereswellen, auf den Einfluß
eines die Seeküſten bewohnenden Volkes
hinweiſen. Köhlers) betrachtet als dieſes
Seevolk die Karer, welche nachweislich zwi—
ſchen dem 12. und 10. Jahrhundert v. Chr.
die Küſten von Hellas coloniſirten und
unter dem ſagenberühmten Minos von
Kreta ( Kareta?) eine Thallaſſokratie
im Archipelagos ausübten, welche erſt das
Erſtarken des joniſchen Stammes brach.
Auf eine Coloniſationsverbindung mit
dem Oſten zeigt auch eine Reihe von
Ortsnamen. So haben Mykene und
Troecene ihre Pendants, wie ſchon erwähnt,
7 Allgem. Ztg. 1878 Nr. 14 S. 198.
in den kleinaſiatiſchen Städtenamen Arta—
cana, Tharacana ꝛc. Die oſtgriechiſchen
Ortsnamen Hymettos, Lykabettos ſchließen
ſich an die öſtlichen Amamaſſos, Tamaſſos,
Jalyſos, Pedaſos, Tetmeſſos, Halicarnaſſos,
Mylaſſa, Sagalaſſos, Andraſos, ja ſelbſt
Epheſus, Edeſſa, Emeſa an, denen nach
Fligier „Beiträge zur Ethnographie Klein—
aſiens“ als Grundwort die Endung äsos,
ſanskr. aca (vergl. & %s — althd. fasti,
altn. kastr — Feſte) zu ſubſtituiren iſt.
Die Ausbreitung dieſer Ortsnamen in Lycien,
Karien, Attika, auf den Inſeln Cypern,
ſchodos, dann in Meſſenien ꝛc. beweiſt die
Einwanderung eines ariſchen Stammes aus
Kleinaſien und zwar von der Weſtküſte deſſel—
ben nach dem gegenüberliegenden Griechen—
land. Fligier in der erwähnten Schrift
zählt dieſe Stämme zu den Thrako-Phry—
giern. Ihnen ſchreibt er die vielen mäch—
tigen Grabhügel an der Weſtküſte von
Kleinaſien zu, die ſogenannten Gräber des
Tantalos, Alyattos, Gyges, Midas u. A.
Sie lieferten den Grundſtock zu den Pe—
lasgern, und einzelne griechiſche Sagen be—
zeugten deutlich auch ihre Einwanderung
aus dem Oſten. Bei den Thrako-Phry—
giern und den damit geographiſch zuſam—
menhängenden, dem Peloponnes gegenüber-
gelagerten Lyciern, Karern, Lydern war
die Hauptgöttin das Gorgobild des thra—
kiſchen Dionyſos, die Göttermutter Ma—
Kybele-Demeter. Dieſe Göttermutter De—
meter erſcheint in ſpäterer Geſtalt als Hera.*)
Da nun in unmittelbarer Nähe von
Mykenä das hochheilige Heraion, der Tempel
der Hera, lag, ſo wird es keine Schwie—
rigkeiten haben, die vielen Idole von Kuh—
köpfen, Frauen ꝛc. mit dem Culte der
E. Curtius: Die griechiſche Götter-
lehre vom hiſtoriſchen Standpunkt: Preuß.
Jahrbücher 1875 S. 1— 15.
De)
VV
Literatur und Kritik.
Hoc Powrcıs in Verbindung zu ſetzen, zu⸗
mal da ſich ganz ähnliche „Opferfiguren“
am Heraion zu Olympia in der unterſten
Fundſchicht aufgefunden haben.“)
Wir hätten hiermit beſtimmte Kriterien
dafür, daß der orgiaſtiſche Cult der phry—
giſchen Göttermutter von Kleinaſiens Höhen
durch Einwanderer nach der Oſtküſte des
Peloponnes übertragen wurde.
Für eine ſolche Coloniſation aus dem
Oſten ſprechen auch noch manche andere
Indicien, fo, wie ſchon erwähnt, die Mas—
ken, die ſich noch heute auf den Inſeln
zwiſchen Hellas und Karien finden. Ohne
Zweifel zeigt auch die ganze Kunſt und
Styliſirung der Artefakte viel mehr An—
klang an kleinaſiatiſch-ſemitiſche Typen, als
an die Culturprodukte Aegyptens, an die
nur Weniges, wie ein Straußenei und
Porzellan, erinnert.
Zudem beweiſt die wenn auch ſpätere
Sage von der Einwanderung der Pelo—
piden aus Kleinaſien, daß man auch
ſpäter ſich des hiſtoriſchen Zuſammenhanges
mit Karien noch bewußt war, wenn auch
Homer von des Pelops Abſtammung von
Tantalos nichts weiß.“ “)
Ein Hauptmotiv aber für eine Ein—
wanderung aus dem kariſchen Kleinaſien
muß die geographiſche Lage des Peloponnes
ſein. Unmittelbar gegenüber von ihm dehnt
ſich vom Vorgebirge Mykale bis zu dem von
Artemiſion das Land der Karer aus, die
zur prähiſtoriſchen Zeit und vor der joniſch—
doriſchen Einwanderung ſicher im Beſitz
der Küſten von Epheſos, Milet, Halikar—
naſſos waren. Die Inſeln Rhodos, Sa—
mos, Naxos, Paros, Melos, Cythnos (auf
dieſer noch die Masken gebräuchlich) bilden
XXI. Ausgrabungsbericht von Olym—
pia vom 21. Febr. 1878 im „Reichsanzeiger“.
*) Odyſſee XI. 581; Ilias II. 104.
459
außerdem die natürliche Brücke von Klein—
aſien zu dem nach Oſten geöffneten
Strande von Tiryns und Argos. Nichts
natürlicher, als die Niederlaſſung der
meerbeherrſchenden Karer an den frucht—
baren Küſten der Argolis. Dieſen Schluß
aus der Topographie beſtätigen auch die
Nachrichten der Autoren.
Nach Thucydides J. 4 und 8 be—
wohnten die Karer die meiſten Inſeln des
ägäiſchen Meeres, und zwar nennt ſie dieſer
gewiſſenhafte Autor in Gemeinſchaft mit
den Phöniciern als Inſelbewohner und
Seeräuber. Den eclatanteſten Beweis für
die kariſch-phöniciſche Abkunft der Leichen,
die in der Agora zu Mykenä beerdigt ſind,
giebt die Stelle des Thucydides J. 8.
Hier ſpricht er davon, daß man nach der
Einnahme von Delos durch die Athener die
Gräber der Karer an der Mitgabe der
Waffen und der Art des Begräb—
niſſes, die fie jetzt noch haben, erkannt
habe. Die Mitgabe der Waffen bildete
alſo einen Unterſchied vom griechiſchen Be—
gräbniß, und ebenſo die Art der Humation.
Nun wiſſen wir aus Homer, daß
die Todten der heroiſchen Periode verbrannt
und in Grabhügeln die Aſche ohne Waffen—
beigabe beigeſetzt wurde. Dies leitet zum
Schluſſe, daß die Karer nach ſemitiſcher
Art ihre Todten in Kammern beerdigten
unter Beigabe der Waffen ꝛc. Vergleichen
wir damit die Humation von Mykenä,
ſo finden wir ziemliche Uebereinſtimmung:
in den Boden eingehauene Grabkammern,
Beerdigung (nicht Verbrennung; der Schei—
terhaufen war nur nominell, denn Leichen
und Beigaben ſind erhalten); Mitgabe von
Waffen, Schmuck.
Und in Karien und Lycien ſelbſt fin—
den wir gleichfalls den Gebrauch, die Todten
in mächtigen Kammern zu beſtatten, welche
460
wie bei der Necropole von Myra den An—
blick einer gewaltigen Todtenſtadt bieten
und die deshalb Reber „Blockhausgräber“
nennt.
Doch wie ſich dort in Lycien in der
tempelartigen Façadenbildung ꝛc. helleniſcher
Einfluß geltend macht, ſo auch in der Argolis
in den Gräbern von Mykenä. Wir ſehen
hier auf den mit Reichthümern überladenen
Leichen einen Scheiterhaufen gethürmt, deſſen
Gluth den Einfluß helleniſcher Cultusſitte
andeutet. Die Gräber zu Mykenä deuten
alſo auf eine kariſch-phöniciſche Grundlage,
verbunden mit helleniſcher Einwirkung.
Wenn deshalb Reber mit Recht die
Südküſte Kleinaſiens als eine bedeutſame
Mittelſtation der Culturſchiebung von Me—
ſopotamien (Aſſyrien) an das ägäiſche Meer
bezeichnet hat, ſo bezeugen uns die Funde
von Mykenä das Ende, die Reſultante
dieſer Culturbewegung.
Als den offenſiven Faktor hierbei
betrachten wir ein kariſch-ſemitiſches Element,
das von Cypern, Rhodos, Karien, Lycien,
ſowie der Brücke der Cycladen aus nach
dem Feſtlande von Griechenland ſich bewegte.
Anſiedelungen zu Tiryns, Mykenä, Spata
bei Athen ſind die Produkte dieſer Coloni—
ſationsthätigkeit. Dieſe brachten das Gold
Kleinaſiens (vergl. die Sage von Midas),
ſowie die Bronce der Phönicier mit in ihre
Colonien, dann eine hoch entwickelte Technik
in der Metallurgie und der Keramik. Der
Styl ſchließt ſich an aſſyriſche Leiſtungen
an; der Höhepunkt ägyptiſcher Macht mag
ſchon vorüber geweſen fein, und die Cheta
Ramſes' II. mögen im Oſten an der
ſyriſchen Küſte den Einfluß Aegyptens pa
ralyſirt und abgewehrt haben.
Die geringe Anpaſſung an ägyptiſche
Verhältniſſe, ſowie der vorherrſchende Ein—
fluß der Karer giebt uns zugleich einen
Literatur und Kritik.
|
Limitationspunkt für die Mykenäiſche Pe—
riode. Dieſelbe muß demnach in die Zeit
nach dem Höhepunkt ägyptiſcher Macht
unter Ramſes II., d. h. nach dem Jahre
1300 v. Chr. fallen.“)
Nicht zu leugnen iſt, daß ſich aller—
dings auch Reſte beſonders in der Keramik
erhalten haben, welche anzuknüpfen ſind
an die Erſcheinungen der Ornamentik
auf den ſogenannten attiſchen Vaſen, deren
Charakteriſtikum in geometriſchen Zeich—
nungen beſteht.
Dieſe Elemente anderer Styliſtik dürfte
man geneigt ſein, einer andersartigen Be—
völkerung zuzuſchreiben, der thrafo-phrygi-
ſchen, die vom Norden und Nordweſten aus
Griechenland bevölkerte, und welche den
Grundſtock zu den Pelasgern gebildet hat.
Aus ihr beſtand das defenſive oder paſſive
Element, die rohe und unterdrückte ariſche
Urbevölkerung, zu der ſich die Karer und
Phönicier als Eroberer und Eindringlinge
verhielten. Aber darin, in dieſer cultu—
rellen Kreuzung zwiſchen Ariern und
Semiten, liegt zugleich die Bedeutung der
beiden Raſſenelemente und damit indirekt der
Werth der Entdeckungen Schliemann's.
Daß die griechiſche Cultur autochthonen
Urſprunges und gleichſam durch „Partheno—
geneſis“ entſtanden ſei, daß die Kunſt eines
Praxiteles und Apelles, eines Polygnot
und Parhaſios rein helleniſchen Urſprungs
ſei, galt lange Zeit für ein Dogma der
Unfehlbarkeit klaſſiſcher Philologen auf
deutſchem Boden. Sie ſelbſt ſcheinen da—
durch olympiſchen Urſprungs und kaſtaliſcher
Quelle näher gerückt zu werden. Dieſer
Grundanſchauung, die aller hiſtoriſch nach—
weisbaren Culturentwickelung ins Geſicht
) W. E. Gladſtone Homer S. 175 —
222 und Lenormant, Anfänge der Cultur
l. Bd. a. m. O.
Literatur und Kritik.
ſchlägt, huldigt in neuerer Zeit insbeſondere
Ernſt Curtius und ſeine Schule.“)
Allein ſo gut die Hügelgräbermenſchen
Mitteleuropas ohne den Cultureinfluß von
Maſſilia und Etrurien bei ihren ſchlecht—
gebrannten Gefäßen, ihren rohen Stein—
artefakten, ihren ſimpeln Gottesvorſtellungen
geblieben wären, ſo gut die Sabiner und
Oscer der italiſchen Halbinſel bei ihren
primitiven ſtaatlichen und ſocialen Einricht—
ungen, bei ihrer kunſtloſen Keramik und
autochthonen Metallurgie verharrt hätten
ohne Einwirkung etruriſch-griechiſcher Cultur—
elemente, ſo gut wären auch die Weſtarier
in Griechenland, die erſten Ankömmlinge
von Nordoſten, bei der simplieitas rudis
ſtehen geblieben, bei den eyklopiſchen Mauern
und dem Höhendienſte des „Vater Zeus“,
bei den Mahlſteinen aus Trachyt und den
Pfeilſpitzen aus Obſidian, bei den Umhängern
der eingehandelten Glas- und Bernſtein—
perlen ꝛc., wenn nicht die intenſive und
offenſive Berührung mit einem höher
ung, die den Menſchen zum Menſchen ge—
ſellt, producirt hätte. Vortrefflich hat dieſen
durch Culturkreuzung erfolgten Proceß
des Dichters Phantaſie dargeſtellt in der
Paramythie: „Das eleuſiſche Feſt.“
Und ein Kreuzungsprodukt nicht der
ſchlechteſten Art repräſentirt ſich uns in der
Periode, an der Schliemann durch ſeine
archäologiſche Operation den Kaiſer—
ſchnitt vornahm.
Nicht einem Wunder gleich, wie ein
Phönix aus mythiſcher Selbſterzeugung,
erhebt ſich künftig die griechiſche Cultur
vor unſeren Augen. Nein, naturge—
) E. Curtius: Jonien S. 21 und Grie-
chiſche Geſchichte 3. Aufl. J. Bd. S. 33—57
und Fligier's Kritik dazu in: Prähiſtoriſche
Ethnologie der Balkanhalbinſel S. 51—59,
461
mäß durch allmälige Zeugung,
durch Mitwirkung verſchiedener
cultureller Faktoren, durch Kampf
und Zuchtwahl unter kariſchem
und ſemitiſchem Geſchlecht, unter
Thrako-Phrygiern (Pelasgern)
und Achäern, Dorern, Joniern
(Griechen) entſtand das helleniſche
Volk und die griechiſche Cultur.
In dem Spruche: Graecia capta ferum
vietorem cepit ſteckt eine tiefe cultur—
geſchichtliche Wahrheit, und einen muſter—
gültigen Beweis dafür von rückwärts wir-
kender Kraft durch Energie und Ausdauer
beigebracht zu haben, wird das feſtſtehende
Verdienſt Schliemann's und feiner Ent-
deckungen ſein.
In dieſem Sinne: eingewurzelten Bor-
urtheilen eine ſchwere Wunde beigefügt, den
Blick auf culturelle Vorgänge in prähiſto—
riſcher Zeit gelenkt zu haben, welche ohne
dieſe peracti labores ſtets der Zielpunkt
| phantaſtiſcher Träumereien und hohler Hirn—
ſtehenden Culturvolke Keime höherer Bild-
für erhalten zu haben, daß keine Entwidel-
geſpinnſte geweſen wären, einen Beweis da—
ung unanalog, disparat, phänome—
nal — kurz unorganiſch vor ſich gehe,
muß die Culturgeſchichte, die frei von aller Bor-
eingenommenheit Höhen und Tiefen, Aufang
und Ende, Völker und Fürſten mißt und
beurtheilt, Schliemann's Entdeckungen
als einen ſtrikten Beweis für die Geſetz—
mäßigkeit ihrer Evolution begrüßen.
Mögen andere Ausgrabungen, die hoch—
trabend und auf Staatskoſten unternommen,
ein leichtes Spiel mit der Regiſtrirung ihrer
Schätze — und dem plaudite amiei haben,
die Höheepochen der helleniſchen Kunſt im—
merhin mit einzelnen neuen Bildern
und Schauſtücken illuſtriren, mögen ſolche
der Kunſt vortreffliche Dienſte leiſten — man
muß vom rein wiſſenſchaftlichen Stand—
— U—
ä ——ů —ů
462
punkte aus billig bezweifeln, daß deren
Werth ein ſo hoher ſei, als die Lärm—
trompete intonirt. Immerhin aber werden
die „barbariſchen“ Funde von Mykenä und
Hiſſarlik, Tiryns und Spata ein neues,
energiſches Licht auf dunkle Epochen der
Culturgeneſis werfen, das zwar nicht ſo
viel Schimmer und Jubel erweckt, aber
nichts deſto weniger in der Cultur—
geſchichte der Menſchheit keinen
niederen Platz einnimmt, als Hunderte
marmorner Nixen und Flußgötter.
Dr. C. Mehlis.
Die nordiſche Bronzezeit und
deren Perioden-Theilung von
Sophus Müller. Autoriſirte Aus—
gabe für Deutſchland. Aus dem Däni—
ſchen von J. Meſtorf. Mit 47 in
den Text eindruckten Holzſchnitten. Jena.
Hermann Coſtenoble 1878.
Wenn wir uns der Heftigkeit erinnern,
mit welcher die Herren Hoſtmann, Linden—
ſchmit u. A. der „Bronzezeit“ in den letz—
ten Jahren zu Leibe gegangen ſind, um ſie
für ein blaſſes Hirngeſpinſt der Archäologen
zu erklären, ſo müſſen wir in ein gewiſſes
Erſtaunen gerathen, wenn wir in dieſem
Buche der vermeintlich abgethanen Bronze—
zeit wieder begegnen, unbefangen, ohne eine
Silbe der Entſchuldigung oder Rechtfertig—
ung ihrer Exiſtenz. Vielleicht aber hat Herr
Sophus Müller Recht gethan, jene Ein—
würfe vollkommen zu ignoriren, denn wenn
man ihre Gründe genauer betrachtet, ſo ſind
ſie ſehr fadenſcheinig und können einer ge—
rechten Beurtheilung durchaus nicht Stand
halten. Weder in der alten, noch in der
neuen Welt, weder in Griechenland, noch in
Skandinavien, noch irgendwo ſonſt ſoll eine
Bronzezeit exiſtirt haben, weil erſtens, ſoweit
Literatur und Kritik.
wir zurückforſchen in der Metallzeit, auch das
Eiſen bereits bekannt geweſen, und weil zwei—
tens Schmiedeeiſen viel leichter herzuſtellen
wäre, als Bronzeguß. So ſagt uns wenig—
ſtens der Metallurge Percy, und die an—
dern Pereys, die mit ebenſo leichtem Herzen
wohlbegründete Errungenſchaften aufgeben,
als neue Hypotheſen annehmen, ſprechen
ſchleunigſt ihr Amen darüber. In der That
giebt es in der Jetztzeit kaum ein Volk,
welches das Eiſen nicht kennt; ſelbſt in halber
Steinzeit lebende Völker hat man im Beſitze
einzelner Eiſenwaffen und Werkzeuge ge—
funden, die ſie ſich aus Meteoreiſen gefertigt
hatten. Daß die alten Aegypter das Eiſen
zuerſt als Meteoreiſen kennen gelernt haben,
beweiſt der Name, den ſie dieſem Metalle
beilegten, nämlich ba en pe d. h. vom,
Himmel gefallener Stoff, welches ſich im
koptiſchen benipe (Eiſen) erhalten hat. Die
griechiſche Benennung des Eiſens oidnoos
iſt offenbar, wie Pott nachgewieſen hat, eng
mit dem lateiniſchen sidus, sideris, Geſtirn,
verwandt, es bezeichnet ſomit auch dieſer
Name ein Metall, dem man urſprünglich
einen ſideriſchen Urſprung zuſchrieb. Ver—
gleicht man damit die Mythen der Finnen
und anderer Völker von dem eiſernen auf
einem Amboß getriebenen Himmelsgewölbe,
von welchem ſich zuweilen Stücke ablöſen
und niederfallen, ſo begreift man, daß das
Meteoreiſen ein den Naturvölkern wohlbe—
kannter Stoff geweſen ſein muß, und daß
Eiſenwaffen, die man in Bronzegräbern findet,
auch bei Völkern vorkommen können, die ohne
jede Kenntniß von der Gewinnung des Eiſens
waren. In Ländern, wo ſich leicht reducir—
bare Eiſenerze in genügender Menge finden,
wird man, wenn einmal der Gewinnungs—
prozeß erkannt iſt, ſicher nach keinem andern
Material für Waffen- und Werkzeugs-Fabri⸗
kation ſuchen, und die Hoſtmann'ſche An—
Literatur und Kritik.
ſicht, daß man trotzdem die Gewinnung
des Eiſen's überall früher erkannt haben
müſſe und demgemäß erkannt habe, als die
des Bronzeguſſes, ſcheint mir einfach ver—
nunftwidrig. Einmal im Beſitze des Eiſens
verfertigt man keine Bronzewaffen und noch
weniger kupferne Schneidewerkzeuge, wie man
an ſehr alten griechiſchen Fundſtellen (auf
Santorin) und in Ungarn angetroffen hat,
und dem entſprechend verdrängte das Eiſen
die frühere Bronze überall, wo es eingeführt
wurde. Mit dieſer einfach dem geſunden
Menſchenverſtande entſprechenden Auffaſſung
ſteht denn auch die Archäologie im ſchönſten
Einklange und zwar ebenſowohl die hiſtoriſche
als die prähiſtoriſche. Man kann ſich leicht
überführen, daß in den älteſten Schriftwerken,
wie in der Bibel oder in den homeriſchen
Gedichten, die Bronze eine ganz andere Rolle
ſpielte als das Eiſen, und daß von Rechts—
wegen ſogar das klaſſiſche Alterthum noch zur
Bronzezeit gerechnet werden müßte, während
die Blütheperiode der Eiſenzeit erſt in's neun—
zehnte Jahrhundert fällt. Den alten Forſchern,
welche der Einführung des Eiſens noch näher
ſtanden, war dies auch eine zweifelloſe That—
ſache, und Lukrez wird im Großen und
Ganzen Recht behalten mit ſeinen Worten:
„Aber des Erzes Gebrauch ward früher er—
kannt als des Eiſens.“ Auch halten wir es
für vollkommen gerechtfertigt, eine Periode,
in welcher vielleicht 99 Prozent aller me—
tallenen Gebrauchsgegenſtände aus Bronze
und 1 Prozent aus Eiſen gefertigt wurden,
„Bronzezeit“ und nicht Eiſen- oder Metallzeit
zu nennen; von dem erſten Bekanntwerden des
Eiſens oder von einzelnen Stücken deſſelben,
die aus den Wolken gefallen ſein können,
nun gleich eine Eiſenzeit zu datiren, das iſt
einfach abgeſchmackt.
Außerdem muß die ſehr verführeriſch
klingende Bemerkung beſtritten werden, daß
463
Bronze ſchwerer zu gewinnen ſei, als Schmiede—
eiſen. Die Gegner gehen davon aus, daß
man zur Gewinnung der Bronze erſt Kupfer
und Zinn rein dargeſtellt haben müſſe; dies
iſt vollkommen unrichtig. Urſprünglich hat
man jedenfalls einfach die Roherze des
Kupfers, Zinn's und anderer Metalle ge—
miſcht und ein unreines Erz hervorgebracht.
Der franzöſiſche Chemiker E. J. Mau-
mene hat vor Jahren verſchiedene Proben
alter Bronzebilder, die bei der letzten Re—
volution in Japan zerſtört wurden, unter-
ſucht, und durch Vergleichung ihrer Zus
ſammenſetzung mit den älteſten griechiſchen
und etruskiſchen Bronzegüſſen die ſchon früher
ausgeſprochene Vermuthung beſtätigt, daß
alle dieſe älteſten Güſſe nicht wie die ſpäteren
aus den annähernd reinen Metallen und in
einem gleichmäßigeren Verhältniß (meiſt 10
Th. Kupfer auf 1 Th. Zinn) ſondern aus
Roherzen unmittelbar gewonnen worden ſind,
weshalb ſie viele fremde Metalle als Ber-
unreinigung enthielten. Ebenſo haben die
kürzlich auf Virchow's Veranlaſſung von
E. Salkowsky analyſirten Bronzeproben
die von ſehr verſchiedenen Fundorten in
Brandenburg und Poſen herrührten, zwar
eine große Mannigfaltigkeit in der Zu—
ſammenſetzung ergeben, aber keine derſelben
zeigte die Zuſammenſetzung der römiſchen
oder ſpäterer Bronzen“). Die Entziffer-
ungen der Ziegelſteintafeln von Ninive machen
es höchſt wahrſcheinlich, daß wir in den
Turaniern die Entdecker des Bronzeguſſes
zu ſuchen haben. Wie dieſe zweitauſend
Jahre vor unſre Zeitrechnung zurückweiſen—
den Keilſchriften beweiſen, beſaßen die tura—
niſchen Stämme, welche lange vor den Semiten
Babylon koloniſirt hatten, eine Art Berg—
manns⸗Religion, fie richteten Hymnen an
die Schätze ſpendende Herrin der Unterwelt,
) Allgem. Chemikerzeitung 1877. S. 366.
Kosmos, Band III. Heft 5.
59
464
fie verehrten einen beſonderen Kupfergott
und prieſen den Feuergott als denjenigen, der
„Kupfer und Zinn miſcht“, die Metalle
reinigt; ſie nennen auch den Feuergott einen
Gott des Kupfers und preiſen ihn als den,
der den Segen der Himmliſchen auf die
Gläubigen herniederträufeln läßt, wie „ge—
ſchmolzenes Erz“. Von dieſem Volke be—
kamen die umwohnenden Stämme und wahr—
ſcheinlich auch die Arier die Kenntniß von
Kupfer und Bronze. Es iſt ſehr wahr—
ſcheinlich, daß das Sanskrit-Wort ayas nicht,
wie man öfter angiebt, Eiſen, ſondern viel—
mehr Bronze bedeutet hat, wie ihm denn
zunächſt die Formen aes, aeris, Erz, ent- |
eines Schwertes und anderer Waffen findet.)
alle Metalle mit dieſem Namen bezeichnet |
worden find, fo daß das Wort, wie noch heute
ſprechen, wenn nicht am Ende urſprünglich
Erz, Metall u. ſ. w., Gattungs- und nicht
Artwort war. Aehnlicher Weiſe iſt erſt
aus dem turaniſchen Worte für Kupfer (urud)
der Name des Eiſens (ruta, rude, rauta)
bei den Finnen, Lappen und Letten entſtanden.
Während die ſporadiſche, und ſozuſagen un—
vermeidliche Kenntniß des Eiſens einen
merklichen Einfluß auf die Cultur nicht eher
ausgeübt hat, als bis man daſſelbe in
größerem Maßſtabe gewinnen lernte, brachte
die Bronze eine wirkliche Bronze kultur
mit ſich, ſie wurde im beſten Sinne des
Wortes epochemachend, und daher ſpricht man
meines Erachtens mit Recht von einer
Bronzezeit und Bronzekultur. Die
etwa vorhandene Kenntniß des Eiſens hat
ebenſo wenig als die des Goldes und Sil—
bers in Europa oder in Aſien und Amerika
die Zeit der ſteinernen Werkzeuge beendet;
dieſer Ruhm gebührt der Bronze und darum
kann es nichts Verkehrteres geben als die
plötzlich epidemiſch aufgetretene Negirung der
Bronzezeit.
Nachdem wir ſo die Berechtigung einer
Literatur und Kritik.
fältige Sichtung der Bronzefunde nach Ort,
Zeit und Gelegenheit an dieſer Arbeit hervor—
ſich nicht um vereinzelte Sachen oder ver—
vollkommnen Ignorirung jener Angriffe
durch den Verfaſſer und ſeine Ueberſetzerin
nachgewieſen zu haben glauben, müſſen wir
uns heute freilich darauf beſchränken, die ſorg—
zuheben. Der Verfaſſer unterſcheidet eine
öſtliche und eine weſtliche Gruppe, ſucht ihr
Zeitverhältniß zu beſtimmen, erörtert den
Wechſel der Beſtattungsarten, lehrt Männer—
und Frauengräber unterſcheiden. (Er führt
für letztere neben den reicheren Schmuckſachen
einen kleinen Dolch als charakteriſtiſch an,
ſofern ein ſolcher ſich zwar auch in Männer—
gräbern, aber dann meiſtens in Begleitung
Zu beſonders intereſſanten Bemerkungen geben
die im ſechſten Abſchnitt behandelten Moor—
und Erdfunde Anlaß, welche, wenn es
lorene Stücke handelt, meiſtens die geſammte
Ausſtattung einer Perſon an Waffen, Werk—
zeug, Geräth und Schmuck umfaßt, die in
einer ſorgfältigen Umhüllung verſenkt oder
vergraben worden ſind. Man hat dieſe
Funde zuweilen Gußfunde genannt, weil
die meiſten derſelben eine kleine Sammlung
von Gußzapfen, Bruchſtücke verſchiedener
Gegenſtände und einige untaugliche Geräthe
enthalten, als ob Alles zum Einſchmelzen
beſtimmt geweſen wäre oder aus dem Nachlaß
eines Gießers ſtamme. Sophus Müller
glaubt, daß dieſe Sammlung von Bruch—
ſtücken oder untauglichen Gegenſtänden viel—
leicht eher als Metallwerth, d. i. als
Zahlungsmittel betrachtet werden dürfe,
denen in dieſer Sammlung von Putzgegen—
ſtänden, Waffen und Geräthen ein beſonderer
Platz eingeräumt wurde. Ref. vermuthet,
daß dieſe Abfall-Sammlungen eher auf eine
allgemeine Gewohnheit deuten möchten, die
Metallbrocken als Werthſtücke ſorgfältig auf- |
Literatur und Kritik.
zuheben, um ſie den herumreiſenden Bronze—
gießern als Material in den Handel zu
geben. Ja die Gußzapfen ſcheinen ſogar
darauf hinzudeuten, daß man vielleicht dem
Gießer ein gewogenes Material zur Um—
formung übergab und ſich jeglichen Ueberſchuß,
alſo auch die Gußzapfen, zurückgeben ließ.
Dieſe Deutung der Bruchſtücke als Werth—
ſtücke erhält einen höhern Grad von Wahr—
ſcheinlichkeit, wenn die Motive der Bergung
dieſer Metallſchätze in Erwägung gezogen
werden. Es iſt nämlich von Worſaae
und Anderen geltend gemacht worden, daß
auch gleich den größeren Garnituren kleinere
Zuſammenſtellungen von ſeltenen und koſt—
baren Gegenſtänden oftmals als Opfergabe
für die Götter zu deuten ſeien, die man den
ihnen geheiligten Seen und Flüſſen, Wäldern
und Opferſteinen anvertraute. „Da indeſſen
dieſe Funde“, fährt der Verfaſſer fort, „von
Menſchen benutzte und getragene Geräthe
und Schmuckſachen enthalten, die perſönliche
Ausſtattung gleichſam, Sammlungen von
Gegenſtänden, wozu die Grabfunde Parallelen
darbieten, ſo ſcheint eine etwas abweichende
Auffaſſung näher zu liegen. Es herrſchte
möglicherweiſe in damaliger Zeit die Vor⸗
ſtellung, daß nicht nur, was dem Todten
in's Grab gelegt wurde, ſondern auch das—
jenige, was man in der Erde verbarg, in
dem Erdboden vergrub, dem Menſchen in
jenem Leben zum Nutzen und Genuß ge—
reichen würde.“ Engelhardt hat bereits
1868 eine ähnliche Vermuthung ausgeſprochen
und im 8. Capitel der Ynglingaſage wird
dieſer Gebrauch angedeutet. Darauf deutet
auch die Art der Bergung. „Die Gegenſtände
liegen nämlich bei einander und gewöhnlich
in geringer Tiefe unter der Oberfläche des
Moores. Die Gefäße ſtehen aufrecht im
Torf, und die übrigen Sachen liegen geordnet
daneben. Bisweilen ſind auch umgebende
—— DE —kk ſ—¶——
465
Steine beobachtet worden. Daß, wie oft
conſtatirt, ein Moor oder Sumpf zum
Verſteck gewählt worden, mag ſeinen Grund
darin haben, daß der Ort ſchwer zugänglich
und jedenfalls vor Störung ſicher war.
Derſelbe Gedanke dürfte bei der Niederlage
von Werthſachen unter einem größern Steine
maßgebend geweſen ſein. Man darf hiernach
vielleicht annehmen, daß dieſe von kleinen
Häufchen Metall begleiteten Sammlungen
von Schmuck, Geräth, Waffen u. ſ. w. —
zum Gebrauch in jenem Leben — von der
Perſon, der ſie zu Gute kommen ſollten,
ſelbſt verſenkt worden ſeien. Dieſe Erklärung
kann ſelbſtverſtändlich nicht auf alle Moor—
und Erdfunde angewendet werden. Einiges
kann zufällig verloren, Anderes den Er—
ſcheinungen in hiſtoriſcher Zeit analog als
Kriegsbeute verſteckt worden ſein.“ Letzterer
Erklärung könnte der Umſtand günſtig er—
ſcheinen, welcher in dem ganzen nordeuropäiſchen
Bronzezeitalter hervortritt, daß nämlich die
fremden, nicht im Inlande angefertigten
Objekte am häufigſten in Mooren und Ge—
wäſſern oder unter einem Steine niedergelegt
ſind und verhältnißmäßig ſelten in Gräbern
gefunden werden. Doch läßt ſich auch dies
im Sinne des Verfaſſers dahin deuten, daß
eben „die beſten und koſtbarſten Stücke für
das künftige Leben geſpart wurden, und
da werden die ſeltneren und zugleich beſſeren
importirten Sachen den inländiſchen oftmals
vorgezogen worden ſein.“
Man erſieht, wie anziehend der Verf. der—
artige Fragen zu behandeln weiß und wir können
dem ganzen Werke die ſorgfältigſte Prüfung
und Sichtung der Funde nachrühmen. Wir
erhalten den Eindruck, daß den Anſichten
des Verfaſſers in allen hier behandelten
Fragen ein bedeutendes Gewicht beigelegt
werden muß. Ueberſetzung und Ausſtattung
ſind vortrefflich. R
5
Offene Briefe und Antworten.
Frankfurt a M., Juli 11/78.
Hochgeehrter Herr!
n dem letzten Hefte des „Kosmos“
befindet ſich eine Notiz über die Ab—
nahme des Bienenfleißes in Auſtra—
lien. Das Mißtrauen, mit welchem
die Redaktion dieſe Zeitungsnotiz mittheilt,
iſt vollſtändig berechtigt.
1) Die einheimiſche Biene ſammelt
ſo lange draußen etwas zu finden und
Raum für die Honigablagerung vorhanden
iſt. Dieſe Eigenthümlichkeit bewahrt ſie
in allen bisher bekannten Gegenden mit
länger anhaltender Tracht, welchen verän—
derten Lebensbedingungen ſie ſich ſofort an—
paßt. So z. B. ſchränkte unſere deutſche
Biene, nach Braſilien verſetzt, ihren Brut—
anſatz zur gewohnten Zeit nicht ein, tödtete
die Drohnen nicht, ſondern gründete neue
Colonien weiter. Geſetzt wir hätten einen
nicht normalen Sommer, feuchten Juli und
Auguſt mit reicher Tracht, ſo würden die
Bienen mit dem Einſammeln fortfahren, die
Königin zur Eierablage reizen, Schwärme
erfolgen u. ſ. w.
2) Die Biene ſammelt überhaupt nicht
aus Inſtinkt, ererbter Gewohnheit, für den
Winter, denn ſie hält gar keine eigentliche
Winterruhe. Iſt das Wetter warm, ſo
fliegt ſie mitten im Winter aus, ſetzt Brut
an, verfährt, als ob es Frühling wäre.
In ein milderes Klima gebracht, beginnt
fie dieſem Klima gemäß mit dem Brut-
nn an —
anſatz; und dies ſofort, nicht erſt nach
Generationen durch Anpaſſung. Die Biene
hält bei uns „Winterruhe“, weil ſie nur
bei ca. 10% R. ausfliegen kann. Im folder
Ruhe treffen wie ſie zeitweilig im März,
April, ja mitunter noch im Mai.
3) Die Biene ſammelt, ſo lange Platz
vorhanden iſt. Die Brut wird immer
mehr eingeſchränkt, das Volk nimmt ab,
wird träge, unaufmerkſam, und der Bau
eine Beute der Wachsmotte. Für den Fort—
beſtand der Gattung hat der Mutterſtock
durch Ausſendung von Colonien geſorgt.
4) Träge werden die Bienen, wenn
die Hitze ſie beläſtigt, was bei ſehr hoher
Temperatur allerdings der Fall zu ſein
ſcheint. Im Uebrigen lebt die deutſche
Biene in Braſilien nicht von der Hand in
den Mund; ſie ſchleppt in Deutſchland ſo
viel Honig zuſammen, daß in beſonders
honigreichen Jahren die Exiſtenz des Stockes
dabei auf dem Spiele ſteht, falls der Bienen—
vater nicht Raum ſchafft. So lange alſo
der auſtraliſche Bienenvater für neue Wohn—
ungen ſorgt, wird auch er bei günſtiger
Tracht neue Colonien (Schwärme) bekom—
men. Und ſo lange er für geräumige
Wohnungen ſorgt, reſp. durch Entnahme
von Honig Platz ſchafft, werden die Bienen
im Einſammeln von Honig nicht erlahmen.
Genehmigen Sie die Verſicherung meiner
vorzüglichen Hochachtung.
Dr. Otto Buſch.
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
ind, in der That, Deſcen—
denzlehre und Darwinis—
mus unvereinbar mit aller
ze Teleologie, oder giebt es
nicht vielmehr eine Zielſtrebigkeit, welche
aus der Teleologie den Widerſpruch entfernt,
in den ſie, als Zweckmäßigkeitstheorie
aufgefaßt, mit den modernen Entwickelungs—
grundſätzen geräth?
Bald mit dieſen, bald mit andern Worten,
aber faſt immer gleich falſch geſtellt, drängt
in neueſter Zeit ſich dieſe Frage in ganz
charakteriſtiſcher Weiſe in den Vordergrund.
Es iſt ein alter Kunſtgriff, ſchon den grie—
chiſchen Sophiſten bekannt, durch die Art
der Frageſtellung nicht nur einen Gegen—
ſtand zu verwirren, ſondern auch einer er—
wünſchten Antwort die Wege zu ebnen.
Meiſtentheils geſchieht es unabſichtlich; liegt
aber auch der Grund davon in einer zur
Gewohnheit gewordenen Ungenauigkeit im
Wählen der Ausdrücke, was in vielen Fällen
auf Eigenthümlichkeiten des Gehirns zurück—
zuführen fein mag: der Erfolg bleibt alle-
mal derſelbe. Und die Sache iſt darum
von Bedeutung, weil es oft gar nicht leicht
Kosmos, Band III. Heft 6.
Ziel und Jweck.
Von
B. Carneri.
iſt, die logischen Gebrechen einer Frageſtellung
auf den erſten Blick aufzudecken, und weil
dies, je vertrauter man mit ihr im weiteren
Verlauf einer Abhandlung geworden iſt,
ſchwieriger und ſchwieriger wird. Ich glaube
wenigſtens, in obiger Frage ein paſſendes
Beiſpiel deſſen, was mir vorſchwebt, gegeben
und gezeigt zu haben, daß die Mängel im Ver—
hältniß zu deren Größe nicht auffallend ſind.
Die Frage iſt grundfalſch geſtellt, weil
ſie einen Widerſpruch herbeiführt, wo er
nicht iſt, und verſchiedenartige Begriffe als
gänzlich übereinſtimmend, identiſche dagegen
als nicht identiſch behandelt.
Deſcendenzlehre und Darwi—
nismus ſind nichts weniger als unvereinbar
mit einer teleologiſchen Weltanſchau—
ung. Sie können ganz gut den Plan bilden,
nach welchem ein allmächtiger Schöpfer ſeine
Werke zweckmäßig ſich entwickeln läßt und
einem letzten Endzweck entgegenführt. Mag
man dieſes Letzte Zweck oder Ziel nennen,
darauf kommt's gar nicht an, ſobald es ſich
um Teleologie handelt, denn das griechiſche
Wort wird beiden Ausdrücken gerecht. Das
Entſcheidende iſt der Schöpfer oder das Weſen
60
468 Carneri, Ziel und Zweck.
überhaupt, das den Zweck ſich ſetzt, das Ziel
anſtrebt. Ob ich ſage: der Jäger hatte den
Zweck das Wild zu erlegen, oder: das Wild
war des Schützen Ziel: die Kugel, die dieſen
Zweck erreicht oder dieſes Ziel trifft, ſetzt Einen
voraus, der ihr die Richtung giebt. Während
ſo gerade in der hier wichtigſten Beſtimmung
Ziel und Zweck in Eins zuſammenfallen,
und keinerlei Zielſtrebigkeit — man
müßte denn der Kugel ſelbſt Zielſtrebigkeit
andichten — den Sinn ändert, der vom
Standpunkt der Zweckmäßigkeit der Teleo—
logie zukommt, bedeuten Deſcendenztheorie
und Darwinismus durchaus nicht daſſelbe und
iſt es ganz ungerechtfertigt, ſie als identiſche
Begriffe der Teleologie gegenüberzuſtellen.
Die Deſcendenzlehre iſt um ein
Jahrhundert älter, als der Darwinismus.
Dieſer begreift jene in ſich, erweitert ſie,
ſucht ſie zu erklären und eröffnet uns damit
gleichzeitig einen Ausblick in die Möglichkeit,
die Schöpfungsgeſchichte zu erklären, ohne
zur Teleologie unſere Zuflucht zu nehmen.
Und dieſes iſt der entſcheidende Punkt.
Ueber dieſen Punkt herrſcht Unklarheit,
und was ſie vermehrt, iſt nicht jo ſehr
die falſche Frageſtellung, als das unter—
ſcheidungsloſe Acceptiren einer ſolchen. Nichts
iſt einfacher, als entrüſtet auszurufen: Wie
kann man behaupten, es ſeien Darwinis—
mus und Teleologie unvereinbare Gegen—
ſätze! — um dann ſonnenhell nachzuweiſen,
daß zwiſchen beiden kein Widerſpruch beſtehe.
Er beſteht in der That nicht. Im Gegen-
theil, die Entwickelungstheorie wird nur
gemeinfaßlicher durch die Vorausſetzung eines
Ziele oder Zwecke ſich ſetzenden und den Ent-
wickelungsproceß darnach lenkenden Weſens.
Nur darf dieſes Weſen bei der Teleologie
nicht weggedacht werden, denn in dieſem
Falle iſt der gefürchtete Widerſpruch da:
aber er liegt nicht zwiſchen den Begriffen
Darwinismus und Teleologie, ſondern
Allerdings muß das zielſtrebige Weſen
nicht Gott heißen. Aber heißt es auch nur
organiſirendes Princip: ſobald es
mehr als ein bloßes Geſetz iſt, und, in
welcher Weiſe immer, beſtimmte Ziele verfolgt,
iſt es Subjekt, und inſofern ſeine Weſenheit
unſere Erfahrung überſteigt, ein transſcen—
dentes Subjekt, mithin ein mehr oder weniger
naher, aber jedenfalls irgend ein Verwandter
des alten Gottes. Dies iſt ſo unbeſtreitbar,
daß es ganz unbegreiflich iſt, warum jene
zu ihm zurückkehren.
Der Darwinismus nimmt Nieman—
dem ſeinen Gott; aber dem, der keinen Gott
findet, bietet er ein Entwickelungs—
geſetz, durch das mit Umgehung der
einen Gott vorausſetzenden Teleologie eine
Erklärung des Lebens und Webens der
Natur angebahnt wird. Ich wenigſtens werde
mich nie, und mit mir wird kein ächter
Darwinianer je der Täuſchung ſich hingeben,
daß die epochemachende Hypotheſe des Weiſen
von Down bereits vollſtändig erwieſen ſei.
Dahin iſt es noch ſehr weit. Allein ebenſo
unzweifelhaft iſt es mir, daß noch keine
Schöpfungserklärung rein wiſſenſchaftlicher
Art ſo viel geleiſtet, zu ſo begründeten Hoff—
nungen Anlaß gegeben und ſo viele Erwart—
ungen gerechtfertigt hat. Gerade der Eruſt,
mit dem in neueſter Zeit, und der Kraft—
aufwand, mit dem von namhaften Männern
der Kampf gegen den Darwinismus geführt
wird, und der, je namhafter dieſe Männer
ſind, deſto regelmäßiger mit einer, wenn
theſe von Seite der Gegner abſchließt, beweiſt,
wie durchſchlagend und verbreitet jetzt ſchon
der Erfolg ſein muß. Und wenn ich ſage:
Der Darwinismus nimmt Niemandem ſeinen
in der Auffaſſung des Begriffs Teleologie.
ihren Gott verleugnen, die immer wieder
auch nur principiellen Anerkennung der Hypo. —
— re er
ee ein
Gott, — ſo ſage ich damit, daß ein Unter—
ſchied iſt zwiſchen dem, der behauptet, es
jet kein Gott — was kein ächter Philoſoph
je behaupten wird, — und dem, der einfach
ſagt: Mein Erkennen reicht nicht aus, um
mich vom Daſein eines Gottes zu über—
zeugen. Gott kann eben nur geglaubt und
nicht gewußt werden; und da ſtehen nur zwei
Wege offen: entweder glauben zu können
oder mit dem, was man wiſſen kann,
ſich zu beſcheiden. Und darüber ſollte noch
Streit ſein, daß der, deſſen Weltanſchauung
Umgang nimmt von einer nur dem Glauben
zugänglichen Annahme, den wiſſenſchaft—
lichen Weg geht?
Dieſe Darſtellung würde eine große
Lücke aufweiſen, wenn ich hier Herbert
Spencer's nicht erwähnen wollte, von
dem viele meinen, er breche dem Glauben
eine Bahn in das Gebiet der Wiſſenſchaft.
Allerdings geleitet er uns zu einem Punkt,
auf welchem Religion und Wiſſenſchaft als
identiſch ſich erweiſen. Es iſt dies der Punkt,
auf welchem die Religion vor einem un-
enthüllbaren Myſterium, die Wiſſenſchaft vor
einem unfaßbaren „Ding an ſich“ zu ſtehen
bekennt. Allein auf dieſem Punkte letzter
Analyſe ſtellen Wiſſenſchaft und Religion
ihre praktiſche Thätigkeit ein. Es iſt dies
die Verſöhnung zweier Feinde nach dem
Tode; wiederbelebt, würden ſie ihre Gegner—
ſchaft ſogleich wieder bethätigen. Was
Spencer nachweiſt und glänzend nach-
weiſt, iſt die ſchließliche Identität aller
pſychiſchen Thätigkeit. Nichts wäre verkehrter,
als aus ſeiner Verſöhnung der zwei größten
Gegner dieſer Erde auf ein Streben nach
der deiſtiſchen Löſung des Welträthſels
ſchließen zu wollen. Nur ſeine Aufſtellung
der Kraft neben dem Stoffe iſt dualiſtiſch
angehaucht; jedoch dieſe Kraft läßt er weder!
nach bewußten, noch nach unbewußten Vor-
1
Carneri, Ziel und Zweck. 469
ſtellungen denken oder wollen oder auch nur
ſtreben: ſie wirkt einfach nach Ge—
ſetzen, die er uns aufdeckt, und zwar in
den kosmiſchen Evolutionen, in den geo—
logiſchen Umwälzungen, im Leben der
Pflanzen und Thiere, wie in den pſpychiſchen
und moraliſchen Erſcheinungen beim menſch—
lichen Individuum, und bei der menſch—
lichen Geſellſchaft als dieſelben Ge—
ſetze aufdeckt. Daß er durchaus nicht unter
jene gezählt werden darf, die bei der Ent—
wickelungsgeſchichte über die bloße Geſetz—
mäßigkeit hinaus gehen zu müſſen meinen,
beweiſen zur Genüge die wenigen Worte,
mit welchen er in einer ſpäteren Note zu
etwas ſchon im Jahre 1857 Veröffentlichtem
ſeinem Verhältniß zu Darwin Ausdruck
giebt. Sie lauten: „Es ſei noch beigefügt,
daß, obwohl die obigen Sätze in der „Ent—
ſtehung der Arten“ nicht ausgeſprochen werden,
doch ein uns gemeinſamer Freund die An—
nahme für begründet hält, daß Darwin
mit denſelben übereinſtimmen, wenn nicht
etwa gar dieſelben als bereits ſtillſchweigend
in ſeinem Werke ausgeſprochen anerkennen
würde.“ (Grundlagen der Philoſophie, deutſch
von B. Vetter, Stuttgart 1875, S. 453.)
Ich habe hier die Teleologen im Auge,
die, mag es immerhin aus Selbſttäuſchung
geſchehen, über die Gottesfrage hinweggleiten
und aus der Zdweckmäßigkeitslehre einen
Faktor, ohne den ſie keinen Sinn mehr
hätte, anſtandslos ausmerzen zu können
glauben. Karl Ernſt von Baer's Ver-
halten zu dieſer Frage iſt bereits in dieſer
Zeitſchrift (Band III., S. 71 ff.) ein⸗
gehend beſprochen worden. Darum ſei er
hier nur ganz allgemein berührt, wie es
ſich hier überhaupt um keine Polemik handelt,
ſondern um Klarſtellung eines Begriffs, dem
| eine arge Trübung droht. Auch war der
Verfaſſer der „Studien aus dem Gebiete
m
|
Carneri, Ziel und Zweck.
der Naturwiſſenſchaften“ ein viel zu großer
Gelehrter, als daß je bei ihm ein rein
ſubjektives Bedürfniß, wie es eben im Charakter
mancher Gemüther und darum unvertilgbar
in ihnen liegt, zu einer Fälſchung der Wiſſen—
ſchaft hätte führen können. Ein Punkt ſeiner
Weltanſchaung kam aus einem leiſen Schwan—
ken nicht heraus; das war alles. Jedoch
zu welchen Schwingungen bringt es ein
ſolcher Punkt, wenn Denker ſich daran
klammern, die, anſtatt unbekümmert um
die logiſchen Conſequenzen den Gedanken
frei walten zu laſſen, eigens nach Gedanken
ſuchen, die einer vorgefaßten Meinung zur
Stütze dienen können?
Ich gehe gleich zu einem Beiſpiel über,
das den Freunden wie den Gegnern der
an die Stelle der Teleologie tretenden Geſetz—
mäßigkeit geläufig iſt, und an dem ich meine
Anſicht vollſtändig darlegen kann. Ob ich
mit Abſicht nach einem beſtimmten Ziele
einen Stein werfe, oder ob der Huffſchlag
eines Pferdes in dieſes Ziel einen Stein
ſchleudert: in beiden Fällen kann der Stein
das Ziel nur treffen, wenn dem Wurf die
nöthige Richtung gegeben wird. Im erſtern
Falle iſt das Treffen viel wahrſcheinlicher,
als im letzteren, ſicher iſt es auch im erſtern
Falle nicht; denn habe ich wenig Uebung,
ſo werde ich ſehr oft nach dem Ziele werfen
müſſen, um es einmal zu treffen. Und ſprengen
an der betreffenden Stelle einige tauſend
von einem Hufſchlage ein Stein auf das
Ziel geſchleudert werde. Allerdings ſteht
mit dem Hufſchlag in Bezug auf das
Schleudern eines Steines keinerlei Willensakt
in Verbindung, wie dabei überhaupt alle
das Treffen des Zieles erleichternden, durch
die beſtimmte Abſicht herbeigeführten Be—
dingungen nicht mit ins Spiel kommen, als
welche ſind: das auf das Ziel geheftete
Auge, die der Richtung des Auges folgende
Hand u. ſ. w., durch die dem Steine, wie
durch das Feuerrohr der Kugel, der Flug
vorgeſchrieben wird.
Denken wir uns aber an der Straße,
auf der die Reiter dahinſprengen, eine ſeit—
wärts ablaufende, durch fortgeſetzten Regen
ausgehöhlte Rinne, und an deren anderm
Ende das Ziel, nach welchem ich frei werfe:
nicht jeder Stein, den ein Hufſchlag in die
Rinne ſchleudert, wird das Ziel treffen;
aber es werden viel weniger Reiter an jener
Stelle vorüber zu ſprengen brauchen, damit
es geſchehe. Eine ſolche Rinne wäre gerade
ſo nothwendiger Weiſe durch das Fallen
des Regens und die Beſchaffenheit des
Bodens entſtanden, als zu einem ſcharfen
Auge die ſichere Hand ſich gefunden hat.
Entweder iſt alles, oder es iſt nichts
bloßer Zufall. Auch mein Wille und
das Bewußtſein, mit dem ich mir einen
Zweck oder ein Ziel ſetze, iſt nur für mich
etwas Beſonderes: von einem allgemeinern
Standpunkt aus fällt mein Thun unter
daſſelbe Cauſalgeſetz, dem alles übrige Ge—
ſchehen unterworfen iſt. Ein Zweck bei
dieſem Wurf, eine Abſicht mit dieſem Ziel
iſt nichts anderes, als die Reſultirende einer
ganzen Reihe von Empfindungen, Erregungen,
und ihnen entſprechenden Auslöſungen von
Vorſtellungen, die ſchließlich zu einer beſtimm—
Reiter vorbei, ſo wird es nicht mehr ſo
außerordentlich ſelten oder ſchwierig ſein, daß
ten Willensinnervation führen mußten.
Betrachte ich die beiden Fälle ganz unbe—
fangen, ſo muß ich mir geſtehen, daß ſie,
bis auf das Bewußtſein, das in dem Einen
nebenherläuft, nur graduell von einander
ſich unterſcheiden. Bei dem Einen iſt nämlich
durch das günſtigere Zuſammentreffen der
erforderlichen Bedingungen das Treffen des
Zieles wahrſcheinlicher, als bei dem andern.
Es kann aber auch umgekehrt der Fall ſein,
er
wenn mein Auge unverläßlich, meine Hand
ohne alle Uebung iſt. Dann wird eben
die größere Zahl der Würfe ent—
ſcheiden, und mit dem Worte Zweckmäßig—
keit genau ſo wenig und ſo viel geſagt ſein,
als mit dem Worte Zielſtrebigkeit.
Dieſe Thatſache auf die organiſche Natur
anwendend, ſchauen wir das Gelingen ihrer
Bildungen in einem ganz anderen Lichte.
Die Unzahl, in der gewiſſe Keime auftreten,
Carneri, Ziel und Zweck.
wird uns zu einer Erklärung ihrer Ent⸗
wickelung, und Karl Ernſt von Baer
iſt es, dem die Wiſſenſchaft den unſterblichen,
aber auch rein Darwin'ſchen Ausſpruch
verdankt: „Der Erfolg der Natur
iſt durch die Allgemeinheit geſichert.“
Zwecke und Ziele hat und verfolgt der
Menſch als ein denkendes Weſen. Ziel
und Zweck bedeuten daſſelbe und haben beide
keine Bedeutung, wenn nicht ein bewußter
Wille abſichtlich die zu ihrer Erreichung |
erforderlichen Mittel am rechten Ort und
zu rechter Zeit zu wählen und richtig zu
verwenden weiß. Der Schein, als würde
mit Zielſtrebigkeit etwas der unbe—
wußten Natur Verwandteres geſagt, rührt
daher, daß man, wenngleich nur in trans
latem Sinn, einer aus dem Feuerrohr ge-
triebenen Kugel leichter Zielſtrebigkeit, denn
einen beabſichtigten Zweck zuſchreiben kann.
Der Vortheil einer ſolchen Bezeichnung liegt
darin, daß einem näherliegenden Begriff
ein fernerliegender ſubſtituirt, richtiger ge—
ſprochen, der Begriff, der keiner allzugenauen
Prüfung ausgeſetzt ſein darf, etwas in die
Ferne gerückt wird. Nimmt aber auch,
gegenüber dem Ausdruck Ziel, das Denken
einen verſchwimmenderen Charakter an, als
gegenüber dem Ausdruck Zweck, ſo iſt
darum doch noch nicht das Denken aus dem
in Rede ſtehenden Falle ganz herausge—
ſchafft.
Das Nächſtgeforderte iſt es daher,
471
auch für das allzunahe liegende Denken ein
ferner liegendes Wort zu finden. Da das
Denken durch Vorſtellungen bedingt iſt, die
Natur aber, wo fie kein Gehirn aufweiſt,
auch über keine Vorſtellungen verfügt, fo
fragt man ſich, was im Stande wäre, ohne
Vorſtellung, daher eigentlich unbewußt, ein
Ziel ſich zu ſetzen und zu erreichen? Die
Genialität! — lautet die jubelnde Ant—
wort, und die Zielſtrebigkeit der Natur
iſt gerettet.
Eine gewiſſe Genialität iſt dieſer Rettung
nicht abzuſprechen. Die Bezeichnung klappt
in ganz überraſchender Weiſe. Mit genialen
Thaten und Werken verhält ſich's oft, in
der That, wie mit den ſogenannten intuitiven
Handlungen. Das Subjekt iſt ſich dabei
ſeines Zieles nicht recht bewußt, es hat davon
gar keine klare Vorſtellung, und hat es dieſe,
ſo hat ſie es nicht im Blickpunkt des Bewußt—
ſeins. Gewiß find dunkle Vorſtellungen noch
immer nicht keine Vorſtellungen; aber ſo ge—
nau nimmt man die Sache nicht, geblendet wie
man iſt von der ganzklar vorliegenden That—
ſache, daß die Genialität es iſt, die das Größte,
ja nahezu Wunderbares vollbringt. Und bei
den Werken der Natur hat man es mit
Wunderartigem zu thun. Daß Genialität
wie Intuition ausſchließlich nur bei Weſen
mit Gehirn vorkommt, daß daher die
Befähigung zu Vorſtellungen deren Grund—
bedingung ſein dürfte, während, wenigſtens
für Momente, das klare Bewußtwerden dieſer
Vorſtellungen dabei in den Hintergrund
treten kann, iſt eine Kleinigkeit, oder wird
zur Kleinigkeit und jedenfalls weniger augen—
fällig, je mehr man durch Anwendung ferner—
liegender Begriffe vom klaren Denken ſich
entfernt hat.
Ich ſpreche damit keinen Vorwurf aus.
Die Sehnſucht nach der Löſung des Welt—
räthſels iſt Eins mit dem menſchlichen Be—
e 222er RT
6
472
wußtſein: ſie iſt mit ihm erwacht, und kann
nur mit ihm entſchlummern. Die Welt—
geſchichte iſt überreich an Beiſpielen von
Naturen, die dieſer Sehnſucht alles, ſelbſt
das Leben zum Opfer gebracht haben. Mit
welcher Macht wir es da zu thun haben,
beweiſt am ſprechendſten der Umſtand, daß
ſelbſt die exakte Wiſſenſchaft ihrer Verführ—
ung erliegen kann. Die neueſte Riemann—
Helmholtz'ſche Raumtheorie iſt in
dieſer Hinſicht beſonders lehrreich. Durch
Helmholtz' zweidimenſionale Weſen wei—
tern Kreiſen zugänglich gemacht, wurde ſie,
meines Wiſſens, zuerſt von Schmitz-Du—
mont entſchieden bekämpft, dann vornehmlich
durch Wundt und Erdmann in ihrer
ganzen Unhaltbarkeit blosgelegt. Damit ſie
aber bis in die Wurzeln erſchüttert werde,
mußte ein Anhänger von Bedeutung ſie
in's praktiſche Gebiet verfolgen, und dadurch
ihren ſeltſamen Werth handgreiflich darthun.
Der vierdimenſionale Raum führte
zur Annahme vierdimenſionaler Weſen,
und da galt es vor allem, irgend einer
beſtimmten Aktion eines ſolchen Weſens auf
die Spur zu kommen. Vom exakten Stand⸗
punkte aus ſind die in dieſen Beſtrebungen
liegenden Widerſprüche nicht ſo klar erſichtlich,
als vom philoſophiſchen. Es liegt daher
in der Natur der Sache, daß in einem
ſolchen Falle ein Mann der exakten Wiſſen—
ſchaft vor allem nach einem Faktum, nach
einem Experiment verlangt. Aber leider ſind
derartige Experimente ganz beſonders
bedenklich.
Daß, was bei einer ſolchen Gelegen—
heit einem Gelehrten erſten Ranges, J. C.
F. Zöllner, arrivirt iſt, nur auf einer
Täuſchung beruhen könne, iſt für mich
wenigſtens unzweifelhaft.
nämlich erklärt, den letzten Zweifel aufzugeben,
wenn Einer im Stande wäre, vor ſeinen
Carneri, Ziel und Zweck.
Augen die beiden Enden eines Fadens an
einander zu ſiegeln, und dann in dieſen
Faden einen Knoten zu ſchürzen, wie er
gewöhnlichen Menſchenkindern nur bei freien
Enden des Fadens möglich iſt. Ein Mensch
von ſeltener Geſchicklichkeit — Slade iſt
ſein Name, und ob er mit vierdimenſionalen
Weſen verkehre oder ſeine eigene Seele vier—
dimenſional ſei, kommt dabei nicht in Be—
tracht — hat dieſer Aufgabe ſich unterzogen,
und an dem verſiegelten Faden vor den
achtbarſten Zeugen, und während Zöllner
beide Daumen auf dem Siegel hatte, nicht
nur einen, ſondern gleich vier von den ge—
wünſchten Knoten zu Wege gebracht. Zöllner
hat den Faden, und iſt bereit, ihn allen
Univerſitäten zur Prüfung vorzulegen, wie
er ſelbſt ſagt. Aber was beweiſt der Faden?
Der Gläubige braucht nicht erſt ihn zu ſehen,
und der Ungläubige wird beim Anblick des
Fadens ohne Zaudern ſich überzeugen, daß
hier die bekannte Force der Taſchenſpieler,
im entſcheidenden Moment die Aufmerkſam—
keit von der Hauptſache auf eine Nebenſache
abzulenken, einen beſonders glänzenden Sieg
gefeiert hat, und daher, als es zur Verſiegelung
kam, Zöllner, anſtatt des Fadens ohne
Knoten, bereits einen andern mit den er—
wähnten Knoten in Händen hatte. Daß
Zöllner gar nichts davon gemerkt zu haben
braucht, beweiſt bei ſeiner Mittheilung des
Faktums (Wiſſenſchaftliche Abhandlungen,
Leipzig 1878, J. Theil, Seite 276) die
Beſtimmtheit, mit der er ſagt: „Es iſt klar,
daß bei den oben angedeuteten Operationen
vorübergehend die Theile des Fadens
aus dem dreidimenſionalen Raum für Weſen
von gleicher Dimenſionalität verſchwinden
müſſen.“ — Die Täuſchung war eine voll-
Zöllner hatte ſtändige, und im genannten Buche finden
ſich auch zur lebhaftern Veranſchaulichung
Abbildungen des ominöſen Fadens, der in
Carneri, Ziel und Zweck.
der That theilweiſe aufgehört haben müßte,
ein irdiſcher Faden zu ſein.
Ich hätte dies übrigens nicht berührt,
wenn Zöllner nicht auf Kant ſich be—
riefe, und ihn als denjenigen hinſtellte,
der zu dieſer Art Forſchung ermuthigt,
und deſſen prophetiſche Andeutung nun
ſich bewahrheitet habe. Es iſt allerdings
richtig, daß Kant, weit entfernt die Mög—
lichkeit eines vierdimenſionalen Raumes und
ihm eutſprechender Weſen zu leugnen, ſogar
hinzu gefügt hat, daß wenn dies möglich, es
auch wahrſcheinlich ſei, daß Gott irgendwo
dergleichen erſchaffen habe. Aber damit hat er
nur geſagt, was jeder vernünftige Kriticis—
mus jederzeit ſagen wird: daß es im All
Manches geben mag, worüber wir hiernieden
zu keinerlei Gewißheit kommen können; damit
aber auch: daß alles Derartige für uns
einfach nicht exiſtirt. Daß vierdimen—
ſionale Weſen in vierdimenſionale Fäden
die für uns unbegreiflichſten Knoten zu
machen im Stande wären, hätte er nicht
in Abrede geſtellt. Und würde ein Slade
über einen zweidimenſionalen Faden verfügen,
ſo würde ein Kant dabei gewiß nicht die
Möglichkeit der für uns unmöglichſten Knoten
beſtreiten. Aber ebenſo gewiß würde er nie
zugegeben haben, daß ein zwei-, vier- oder |
noch ſo viel-dimenſionales Weſen an einem
dreidimenſionalen Faden Operationen vorneh—
men könne, die mit der dreidimenſionalen
Natur unvereinbar ſind.
jenem Zugeſtändniſſe nur eine Kleinigkeit
gefordert: das Vorhandenſeindernöthigen
Kant hat bei
Bedingungen. Wo das iſt, iſt alles mög— |
lich; wo das nicht iſt, beginnt das Wunder.
Es iſt dies das Reich des Transſcen—
denten, und in dieſes gelangt man nicht
an der Hand des Königsbergers.
Um
die Möglichkeit der angeführten Operation
an einem dreidimenſionalen Faden zuzugeben,
hätte er ſeine geſammte Philoſophie verleugnen
müſſen. Es iſt daher die Anlehnung an
ihn durchaus nicht gerechtfertigt.
Mit Zöllner's „unendlich dünnem
Faden“ hat es dieſelbe Bewandtniß, wie
mit dem „begrenzten unendlichen Raum“.
Die Hegel'ſche Philoſophie hat auch
über's Ziel geſchoſſen; hätte man aber, von
ihr zurückkehrend, das Kind nicht mit dem
Bade verſchüttet, man würde nicht ſo nahe
daran ſein, in den Abgrund der falſchen
Unendlichkeit die einfachſten Grundlagen
der Logik verſinken zu ſehen.
Für alle myſtiſchen Erkenntnißtheorien,
die mittelſt eines unbewußten Willens,
einer vorſtellungsloſen Genialität oder
eines undefinirbaren organiſirenden Prin—
cips, wobei an die Stelle des Zweckes ein
Ziel treten würde, der Teleolgie neuer—
dings Eingang in die Naturwiſſenſchaft bald
zu erzwingen, bald zu erſchmeicheln ſtreben,
wären vierdimenſionale Weſen, ja wäre
ſchon ein vierdimenſionaler Raum von hohem
Werth. Mit ihm wäre die Transſeendenz
gegeben, und mit dieſer der Weg zum Factor,
der das Ziel ſetzt, dem Streben die Rich—
tung giebt, und ohne den alle Teleologie
ein leeres Wort iſt. Wird man ſich darüber
klar, klar über die Quellen, aus welchen
da geſchöpft wird, und klar über das Wohin,
dem man zuſteuern würde; ſo ſtellt allmälig
von ſelbſt die Ueberzeugung von der Noth—
wendigkeit ſich ein, aus den erkenntnißtheo—
retiſchen Momenten der Weltanſchauung alles
auszuſcheiden, was die Grenzen der Erfah—
rung überſteigt. Streng wiſſenſchaftlich iſt
keine Hypotheſe ſtatthaft, die in letzter Analyſe
in ein transſcendentes Princip ſich
auflöſen müßte.
Der Monismus zeichnet ſich dadurch
vor allen andern Weltanſchauungen aus, daß
er nach keiner andern Welt ſucht, als nach
474
der wahrnehmbaren, und daß er den Geift
anerkennt, aber nur inſoweit er ihn wahr—
zunehmen vermag, und zwar als höchſte Blüthe
eines centraliſirten Nervenſyſtems.
die bloße Annahme eines empfindenden Atoms,
das mit logiſcher Nothwendigkeit zur An-
nahme eines bewußten Atoms führen würde,
pfindungen des Individuums werden, gelan—
wäre die ſchiefe Ebene ſchon betreten, über
die man unaufhaltſam in das Gebiet des
Transſcendenten hinüberrollt. Der Monis—
mus kennt keine ſpecifiſche Energien und
keine Vermögen, wie er auch keine einfache
Weſen kennt: der Monismus kennt nur
Functionen, die aus einer Wechſelwirkung
zwiſchen Körpern oder Organen hervorgehen.
Beim Atom giebt es nur das anorganiſche
Durch
Neagiren; Empfindung und Bewußtſein könn-
ten da nur von einer Beſeelung im engern
Sinn herrühren. Das Atom iſt nichts als
das kleinſtdenkbare Quantum zur Körper—
lichkeit condenſirten Stoffes; es iſt nur der
unterſte Repräſentant der Materie, weshalb
wir über die Grenzen unſerer Erfahrung
hinausgehen müßten, um ihm etwas zuzu-
ſchreiben, das wir an der Materie als folder |
nicht wahrnehmen.
Carneri, Ziel und Zweck.
|
Auch was wir Kraft
unumſtößliche Gewißheit.
Das Reagiren
der ſogenannten todten Materien entwickelt
ſich bei den lebenden?) Gebilden zur Em—
pfindung. Dadurch, daß unſere Empfindun—
gen, in das Centrum unſeres Nervenſyſtems
geleitet, dem Individuum als Ganzem ſich
mittheilen, d. h. zu Vorſtellungen, zu Em-
gen wir zum Gefühl unſere Empfindungen,
werden wir uns ihrer bewußt. Das an—
| fänglich nur in ſolchen Vorſtellungen ſich
bewegende Denken erhebt ſich allmälig durch
die Sprache, welche uns die zu Begriffen
ſich klärenden Vorſtellungen feſtzuhalten und
zu ordnen geſtattet, zum ächten Denken.
Damit werden wir uns unſeres Wiſſens
klar bewußt, und die in den Willenscentren
ſich auslöſenden Empfindungen uns zu be—
wußten Willensacten. Wir wollen und
ſtreben, wir ſetzen uns Zwecke und
haben Ziele.
Wie mangelhaft auch dieſe flüchtige Dar-
ſtellung iſt, ſo dürfte doch aus ihr in ge—
nügender Weiſe hervorgehen, wie zahlreich
und verwickelt die Bedingungen ſind, von
deren Erfüllung es abhängt, ob ernſtlich von
und Kräfte nennen, darf nicht aufgefaßt | Zielſtrebigkeit und Zweckmäßigkeit
werden als etwas an und für ſich Exiſti— | die Rede ſein kann.
Sie ſind nur die Reſultirende der
rendes.
Wechſelwirkungen zwiſchen Stoff und Stoff,
giebt, ein Bewußtſein hinzu, das dem Streben
mit deſſen Theilbarkeit die Bewegung ge—
geben iſt, die als Kraft zur Erſcheinung
kommt. Liegt aber auch der Stoff als
ſolcher außerhalb des Bereichs unſerer mög—
lichen Erfahrung, ſo iſt darum doch die
Welt der Erſcheinungen nicht ein leerer
Schein. Sie iſt die Geſammtheit der Em—
pfindungen, welche durch die allgemeine
Wechſelwirkung uns zum Bewußtſein gebracht
wird, und das daraus ſich ergebende Ver
hältniß des Subjects zum Object bildet
unſere einzige volle, aber für uns auch
|
Erſt bei den Thieren
mit Gehirn tritt zum Selbſterhaltungstrieb,
der in den einzelnen Willensacten ſich kund
den Stempel der Abſichtlichkeit aufdrückt und
die Zielſtrebigkeit zur Wahrheit macht. Was
wir Selbſterhaltungstrieb nennen, iſt bis
hinab zu den untergeordnetſten Bildungen
Allem gemein, das auf irgend einer Stufe
der Entwickelung zu einem Ganzen ſich
abgrenzt und damit allem Uebrigen ſich
entgegenſetzt. Von der Cohäſion beim An—
organiſchen iſt nur graduell verſchieden das
9 Siehe „Kosmos“ II. Bd. S. 485 flgde.
über Urzeugung und Leben.
Carneri, Ziel und Zweck.
Zuſammenhalten des Lebeweſens, das als
Individualität die ganze übrige Welt
gegen ſich hat, und im „Kampf um's Daſein“
ſiegt oder erliegt d. h. ſich fortentwickelt
oder verkümmert, je nachdem die Verhält—
niſſe, in die es geräth, das Eine oder das
Andere befördern. Den „Kampf um's Daſein“
Organe hervorgehen, und alles Wachsthum
iſt, wie Herbert Spencer an ſo vielen
Streben nach einer vorgeſetzten Richtung,
ſondern ein naturgemäßes Streben
nach Integration in der Richtung
des geringern Widerſtandes. Darum
findet das Wachsthum dort ſeine Grenze,
wo die im jugendlichen Organismus auf—
gehäufte Arbeit ſich derart abgegeben hat,
daß über das Aſſimiliren der Außenwelt
das Aſſimilirtwerden durch die Außen—
welt die Oberhand gewinnt.
Vor der winzigſten Schöpfung der Natur
ſtehen wir als vor etwas Unbegreiflichem,
wenn wir ſie als fertiges Ganzes erklären
Am auffallendſten iſt dies der Fall
beim Menſchen, bei allen ſeinen Fähigkeiten,
wollen.
zumal bei den geiſtigen. Jede Bildung iſt
in ihren früheſten Stadien zu unterſuchen,
durch ihre Entwickelung hindurch zu verfol—
gen und nach ihrem Verhältniß zu den ſie
umgebenden Bildungen zu beurtheilen. Dabei
Zielſtrebigkeit auffaßt? Es wird ihm
werden wir allerdings nur auf Geſetze
ſehr allgemeiner Natur ſtoßen, die aber eben
darum allgemeine Geltung haben.
nur ein verſchwindender Bruchtheil deſſen,
was zu erklären vorliegt. Aber die Summe
des Erklärten ſteigt fortwährend, und mehr
und mehr gewinnt die Ueberzeugung an Ver—
breitung, daß jede Erklärung, die von einer lo—
Kosmos, Band III. Heft 6.
wendigkeit ſich
kämpfen ſchon die Zellen, aus welchen die
Sicher⸗
lich iſt das, was wir uns zu erklären vermögen,
475
giſchen Unmöglichkeit ausgeht und auf jenſeits
der Erfahrung liegende Annahmen ſich ſtützt,
nur eine ſolche iſt, die auf das eigentliche
Erklären verzichtet. Daß alles Geſchehende
nothwendiger Weiſe geſchieht, wiſſen wir
erfahrungsmäßig; ebenſo, daß dieſe Noth-
auf unverbrüchliche Geſetze
zurückführen läßt. Nicht weniger erfahrungs—
mäßig wiſſen wir, daß aus der Steigerungs—
fähigkeit des Einzelnen eine Steigerungs—
Beiſpielen nachweiſt, kein übernatürliches
fähigkeit des Ganzen ſich ergiebt. Daß, da
die Steigerungsfähigkeit des Einzelnen eine
begrenzte iſt, die Steigerungsfähigkeit der
Geſammtheit auch ihre Grenze haben wird,
iſt eine unabweisbare Folgerung. Aber dieſe
Grenze liegt in ſo weiter Ferne, und, was
das größte Herz völlig auszufüllen vermag,
liegt ſo nahe, daß dieſer Gedanke keinen klar
Denkenden ernſtlich beunruhigen wird. Der
Menſch kann ſich ſo hohe Ziele ſetzen, ſo
edlen Zwecken leben, daß er die ihm zu
Gebote ſtehenden Mittel nur richtig zu
wählen und ſeinen Beſtrebungen anzupaſſen
braucht, um ſeinem Leben einen hohen Werth
zu erringen. Meint aber Einer trotz alle—
dem, das große Ganze ſei ohne Werth und
die Natur ſinnlos, wenn ſie nicht teleo—
logiſch aufgefaßt wird; dann möge er
einmal bei kaltem Blute zuſehen, wie die
Natur ſelbſt, ſein Princip rein auf den
Kopf ſtellend, die Zweckmäßigkeit und
auffallen, und ſchwerlich ohne Wirkung bleiben
auf das Gewicht, welches er der Teleo—
logie beilegt, daß ſeltſamer Weiſe in der
Natur — wie ich ſchon anderswo hervor—
gehoben habe — anſtatt daß die Mittel
nach den Zwecken und Zielen ſich richteten,
Zwecke und Ziele ſich nach den
Mitteln richten.
61
Die Infehten als unbewußte Dlumenzüchter.
Von
Dr. Hermann Müller.
DE
(Schluß.)
4. Die wespenartigen Inſekten
(Hymenoptera).
nen, dieſe einzige Familie
wespenartiger Inſekten, ſpielen
8 als unbewußte Kreuzungsver—
A mittler und Züchter von Blu-
men für ſich allein eine viel bedeutendere
Rolle als alle übrigen Inſekten zuſammen—
genommen; denn ſie ſind gleichzeitig die der
Blumennahrung bedürftigſten, die arbeit
ſamſten und die geſchickteſten aller blumen—
ſteten Inſekten. Schon zu ihrem eigenen
Lebensunterhalte bedürfen ſie eine weit größere
Menge von Blumennahrung als Schmetter—
linge und Fliegen, da ſie nicht, wie dieſe,
nur der Liebe und dem Vergnügen leben,
ſondern zur Sicherung und Beköſtigung ihrer
Nachkommenſchaft eine Reihe anſtrengender
Arbeiten ausführen, welche natürlich einen
dem Kräfteverbrauch entſprechenden Stoff—
erſatz erfordern; überdies aber beſteht das
Futter, welches ſie für ihre Nachkommen
im Voraus in einer bis zur Vollendung
ihrer Entwickelung ausreichenden Menge
anhäufen, ebenfalls aus Honig und Blüthen—
ſtaub. Die Arbeitſamkeit, zu welcher ſie
ſchon durch dieſe maſſenhafte Beſchaffung
von Blumennahrung veranlaßt ſind, wird
aber noch bedeutend geſteigert durch ihre
Lebensgewohnheit, ihren erſt lange nach
ihrem eigenen Ableben das Licht der Welt
erblickenden Kindern außer dem vollen Nahr—
ungsbedarf auch eine gegen Ungunſt des
Wetters und gegen Feinde ſorgfältig geſchützte
Entwickelungsſtätte im Voraus zu bereiten.
Aller Fleiß, alle Umſicht, alle Arbeits—
kraft nun, die ſie im Lauf unzähliger Gene—
rationen in ſtetem Bemühen um die Ver—
ſorgung ihrer Brut allmälig gewonnen haben,
kommt ihnen natürlich auch bei ihrer Blumen—
arbeit zu Gute, und da es auch den Pflanzen
ſelbſt am vortheilhafteſten ſein muß, den
nahrungsbedürftigſten, fleißigſten und ge—
wandteſten Blumenbeſuchern die Vermittel—
ung ihrer Kreuzung zu überlaſſen, ſo ſpielen
in der That nicht nur bei der Befruchtung
der einem gemiſchten Beſucherkreiſe ange—
paßten Blumen, wie z. B. Compoſiten,
Cruciferen, Roſaceen ꝛc. die Bienen meift
die wichtigſte Rolle, ſondern es ſind auch
aus den verſchiedenſten Zweigen des Meta—
ſpermenſtammes überwiegend zahlreiche Blu—
men ausſchließlich ihrer Kreuzungsvermittel—
ung angepaßt. Aber wie die Bienen ſelbſt erſt
in einer langen Stufenleiter allmäliger Ver—
vollkommnungen der Brutverſorgung ihre
ſo eben gerühmten Eigenſchaften gewonnen
haben, ſo können auch die Bienenblumen
nicht oder wenigſtens nicht alle als unmittel—
bar aus einfachen, offnen, regelmäßigen Blu—
men durch die züchtende Wirkung der Bienen
in ihre jetzige Form übergeführt betrachtet
werden. Vielmehr müſſen die bereits blumen—
ſtet gewordenen Urahnen der Bienenfamilie
in dem Grade, als ihre ſtufenweiſe ſich
ſteigernde Brutverſorgung fie zur Ausführ-
ung immer complicirterer Lebensthätigkeiten
führte und ihre geſammte geiſtige Befähig—
ung und körperliche Geſchicklichkeit ſteigerte,
auch als Blumenzüchter ſtufenweiſe immer
erfolgreicher und ſelbſtſtändiger geworden
ſein. Und ehe wir dazu übergehen, die
Blumenzüchtung der Bienen ins Auge zu
faſſen, müſſen wir über die Blumenthätig—
keit der niederen Zweige des Hymenopteren-
ſtammes wenigſtens einen allgemeinen Ueber—
blick zu gewinnen ſuchen und uns danach
umſehen, ob ſich nicht von ihrer blumen—
züchtenden Thätigkeit in der heutigen Blumen—
welt noch Spuren auffinden laſſen.
Auf der tiefſten Stufe der Brutver—
ſorgung wie der Blumenthätigkeit ſtehen
unſtreitig die Pflanzen anbohrenden Wespen,
die Holz-, Blatt⸗ und Gallwespen. Denn
ihre Brutverſorgung beſchränkt ſich darauf,
mittelſt des Legeſtachels das Ei an eine
Stelle zu befördern, an welcher die aus—
ſchlüpfende Larve ſich ſogleich von ihrem
Futter umgeben findet. Und ihre Blumen—
thätigkeit iſt eben ſo einfach. Holzwespen
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
477
wurden auf Blumen überhaupt bis jetzt
noch gar nicht beobachtet. Von den Blatt—
wespen gehen zwar zahlreiche Arten dem
Honige der Blumen nach, aber die Erlang—
ung deſſelben gelingt ihnen in der Regel
nur dann, wenn er völlig offen liegt, wie
bei den Umbelliferen, oder doch unmittel—
bar ſichtbar iſt, wie bei Salix, Ranuncu⸗
laceen, Cruciferen und Roſifloren. Das
Höchſte, was einige Blattwespen im Honig—
auffinden zu leiſten vermögen, iſt die Aus—
beutung ſolcher regelmäßiger, nach oben ge—
öffneter Blumenformen, welche zwar nicht
unmittelbar ſichtbaren, aber doch durch ein—
faches Auffliegen und Abwärtsbewegen des
Mundes erreichbaren Honig enthalten, wie
z. B. die Compoſiten. Dagegen vermögen
nach allen bisherigen Beobachtungen die
Blattwespen keine Blumen auszubeuten, die
nicht auch einer großen Zahl kurzrüſſeliger
Inſekten anderer Ordnungen zugänglich ſind
und thatſächlich von denſelben beſucht werden.
Als ſelbſtſtändige Blumenzüchter haben alſo
die Blattwespen niemals auftreten können;
ſie ſind niemals im Stande geweſen, ſich
beſondere Blattwespenblumen zu züchten.
Die Gallwespen, die dritte Familie
pflanzenanbohrender Hymenopteren, werden
überhaupt nur ſelten auf Blumen ange—
troffen, und immer nur auf ſolchen mit
völlig offenliegendem Honig; ſie ſind daher
unmittelbar als Blumenzüchter wahrſchein—
lich ohne alle Bedeutung *). Aber durch
) Ueber die Befruchtung der Feigen
durch Gallwespen irgend welche Vermuthungen
oder Schlüſſe aufzuſtellen, darf ich nicht wagen,
da ſie mir aus eigener Beobachtung nicht be—
kannt iſt und Delpino's Beſchreibung (Ulte-
riori osservazioni II. p. 239 — 241) keine An⸗
deutung darüber erhält, was denn eigentlich
die aus den angeſtochenen Ovarien geſchlüpf—
ten Gallwespen, nachdem ſie die männlichen
Blüthenſtände mit Pollen behaftet verlaſſen
den Uebergang vom Pflanzenanbohren zum
Inſektenanbohren find fie, wie ich bereits
Wespenſtammes und dadurch mittelbar für
die Weiterzüchtung der Blumen im höchſten
Grade bedeutungsvoll geworden. Sie haben
ſich durch Annahme dieſer neuen Brutver—
neues Ernährungsgebiet — die geſammte
Inſektenwelt — eröffnet und damit nicht
nur dem unabſehbaren Formenreichthume
der Schlupfwespenfamilie den Urſprung ge—
geben, ſondern auch die geiſtige Befähigung
des Wespenſtammes auf eine bedeutend
höhere Stufe gehoben. Wer den kurzen
ſteifen Flug, das plumpe Anfliegen und
die träge Ruhe einer Blattwespe mit dem
unermüdlichen, gewandten und unſichtigen,
ſchwebenden Umherſuchen, dem vorſichtigen
Auffliegen und der ſelbſt in der Ruhe ſich
unabläſſig äußernden Beweglichkeit einer
Schlupfwespe vergleicht, überſchaut mit einem
Blicke dieſen gewaltigen Fortſchritt.
Es kann nun von vorn herein kaum
einem Zweifel unterliegen und wird durch
die direkte Beobachtung ſofort beſtätigt, daß
die geſteigerte Unterſcheidungsfähigkeit und
Ausdauer im Umherſuchen den Schlupf—
wespen auch beim Aufſuchen des Blumen—
honigs zu ſtatten kommt. Denn obwohl
ſie größtentheils nur Blumen ausbeuten,
die auch den Blattwespen zugänglich ſind
— theils ſolche mit unmittelbar ſichtbarem
haben, zum Hineinkriechen in die weiblichen
Blüthenſtände veranlaßt. Das müßte man
aber vor Allem wiſſen, um beurtheilen zu
können, ob die Feigen-Blumenform (tipo si-
eioide Delp.) mit oder ohne Mitwirkung einer
von den Gallwespen geübten Blumenauswahl
durch Naturzüchtung ausgeprägt worden iſt.
) Bienenzeitung 1875. Nr. 12. 13. 14.
1876. 2. 10. 11. 14.
an einer anderen Stelle“) eingehender er-
örtert habe, für die Weiterentwickelung des
ſorgungsgewohnheit ein höchſt umfaſſendes
von den Schlupfwespen als bevorzugteſte
478 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Honig, wie z. B. Umbelliferen, Ruta, Par-
nassia, Spiraea und Cruciferen, theils ſolche,
deren Honig zwar verſteckt liegt, aber doch
durch einfaches Auffliegen und Abwärtsbe—
wegen des Mundes erlangt werden kann,
wie z. B. Gypsophila, Malva, Geranium
und Compoſiten — und nur in ganz ver—
einzelten Fällen durch einſeitige Anpaſſung
unregelmäßig gewordene, wie z. B. Mentha,
ſo benehmen ſie ſich doch durchgängig auch
bei ihren Blumenbeſuchen weit behender
und fleißiger, zugleich aber auch weit unter-
ſcheidungsfähiger, als die Blattwespen. Ihre
größere Unterſcheidungsfähigkeit ſpricht ſich
am deutlichſten darin aus, daß ſie auch die
unſcheinbarſten, in ihrer Farbe von der Um—
gebung wenig oder gar nicht abſtechenden
Blumen mit Leichtigkeit aufzufinden wiſſen,
wenn dieſelben nur offenen Honig darbieten,
wie z. B. Adoxa Moschatellina, Sibbal-
dia procumbens, Alchemilla pentaphyllea
und Listera ovata. Da es nun den Blumen
ſelbſt offenbar vortheilhafter iſt, von dieſen
umſichtigeren und fleißigeren Gäſten mit be—
ſonderer Vorliebe beſucht zu werdeu, als der
geſammten Schaar unausgeprägterer Blumen—
beſucher zwar offen zu ſtehen, aber auf keinen
derſelben eine beſondere Anziehung auszu—
üben, fo konnte es, nachdem die Entwickel—
ung des Wespenſtammes bis zur Ausbild—
ung der Schlupfwespenfamilie fortgeſchritten
war, kaum ausbleiben, daß auch beſondere
Schlupfwespenblumen zur Auspräg-
ung gelangten. Denn ſobald nun von einer
Blume, welche offenen Honig darbot, un—
ſcheinbare Abänderungen auftraten, welche
von allen oder den meiſten anderen Blumen—
beſuchern überſehen wurden und daher den
Schlupfwespen ausſchließlich oder faſt aus—
ſchließlich ihren Honig aufbewahrten, ſo
hatten dieſelben die begründetſte Ausſicht,
—: . u a
| Müller, Die Inſekten als
Lieblinge ausgewählt und in gleicher Richt—
ung weiter gezüchtet zu werden.
Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß in
jener Zeitepoche, als die Schlupfwespen—
familie noch den Gipfel der Wespenentwickel—
ung bildete, durch den ſo eben erörterten ur—
ſächlichen Zuſammenhang zahlreiche Schlupf—
wespenblumen entſtanden ſein mögen. Aber
ganz gewiß iſt es, daß die meiſten derſelben
aufhören mußten, ausſchließliche Schlupf—
wespenblumen zu bleiben, ſobald die Schlupf—
wespen von den aus ihnen hervorgegange—
nen Grabwespen und Bienen an körperlicher
und geiſtiger Befähigung überholt wurden.
Denn ebenſo wie dieſe ſpäteren Entwickel—
ungsſtufen des Wespenſtammes von ihren
Urahnen, den Schlupfwespen, die Brutver-
ſorgung und die im engſten Zuſammen—
hange mit derſelben erworbene körperliche und
geiſtige Befähigung ererbten und ſtufenweiſe
weiter vervollkommneten, ebenſo ererbten ſie
von denſelben auch die Fähigkeit, die Schlupf-
wespenblumen auszubeuten, und züchteten
dieſelben, ihren abgeänderten Lebensgewohn—
heiten und ihrem geſteigerten Nahrungsbe—
dürfniſſe entſprechend, weiter. Nur an den,
Grabwespen und Bienen beſonders un—
günſtigen Schlupfwespenwohnſtätten konnten
dann Schlupfwespenblumen von der über-
wiegenden Mitwirkung jener beiden höher
ſolchen Orten konnten auch zur Zeit der
Grabwespen und Bienen noch neue Schlupf—
wespenblumen gezüchtet werden.
Erſt an einer einzigen Pflanze ſind bis
jetzt durch direkte Beobachtung Schlupfwes⸗
befähigten Wespenfamilien noch unberührt
bleiben und ſich als ſolche erhalten, nur an
unbewußte Blumenzüchter. 479 |
I
aber paßt die jo eben gegebene Erklärung
vollſtändig. Obgleich ſie nämlich aus einer
Längsfurche auf der Mitte der gelblich—
grünen herabhängenden Unterlippe völlig
offenliegenden Honig abſondert, ſo bleibt
ſie doch von anderen Inſekten als Schlupf—
wespen, die fie in großer Häufigkeit auf-
ſuchen, faſt unberührt. Denn Grabwespen
und Bienen, welche vorzugsweiſe ſonnige
Orte aufſuchen, vermeiden überhaupt, ab—
geſehen von einzelnen Hummeln, die feuch—
ten Gebüſche und Laubwälder, wo Listera
ovata gedeiht, faſt vollſtändig; und daß
auch kurzrüſſelige Inſekten anderer Ordnun—
gen, abgeſehen von einem einzigen blumen—
ſteten Bockkäfer, Grammoptera laevis, ſich
des völlig offen liegenden Honigs dieſer
ſchmuckloſen Blumen nicht bedienen, kann
doch wohl blos darin ſeinen Grund haben,
daß ſie dazu zu wenig unterſcheidungs—
fähig und zu wenig ausdauernd im Um—
herſuchen find. Iſt aber dieſe Voraus-
ſetzung richtig, ſo läßt ſich die Ausprägung
der auffallenden Unſcheinbarkeit der Blüthe
von Listera ovata nur als von den Schlupf—
wespen, denen allein ſie ja nützlich iſt, ge—
züchtet betrachten.
Die im Schatten ſubalpiner Wälder
wachſende Listera cordata hat noch kleinere
) Die überraſchend zierliche und ſicher
wirkende Befruchtungseinrichtung der Listera
ovata, welche bei eintretendem Schlupfwespen—
beſuche Kreuzung unausbleiblich macht, iſt
bereits ſo wiederholt beſchrieben und abge—
bildet worden, daß es hier genügen wird,
auf Sprengel's entdecktes Geheimniß, auf
| 7 72 7 6 f 7
Darwin's Orchideenwerk und auf mein eige—
pen als die überwiegenden, ja faſt aus-
ſchließlichen Kreuzungsvermittler nachgewieſen
worden, nämlich an der mit grünen Hüll—
blättern ausgeſtatteten und daher äußerſt
unſcheinbaren Listera ovata *); auf dieſe
nomeno inesplicabile bezeichnet, glaube ich
nes Buch über Befruchtung der Blumen durch
Inſekten zu verweiſen. Die Aupaſſung von
Blumen an Ichneumoniden, welche Delpino
(Ulteriori osservazioni II. p. 320) als un fe-
durch obige Auseinanderſetzung ihres Räthel—
haften hinreichend entkleidet zu haben.
450
und daher womöglich noch unſcheinbarere
Blüthen mil übrigens vollkommen gleicher
Einrichtung. Ihre natürlichen Kreuzungs—
vermittler ſind noch nicht beobachtet. Es
kann aber, nach dem Geſagten, wohl kaum
zweifelhaft ſein, daß es ebenfalls vorwiegend
Schlupfwespen ſein werden.
Außerdem glaube ich als Schlupf—
wespenblume mit einiger Wahrſcheinlichkeit
die verwandte Chamaeorchis alpina an—
ſprechen zu dürfen, die mich an den kahlen
Abhängen der Alpenkämme (bei Weißen—
ſtein am Albulapaſſe) durch die regelmäßige
Kreuzung, welche ihr trotz äußerſter Un—
ſcheinbarkeit zu Theil wird, zuerſt in nicht
geringe Verwunderung verſetzte. Die kleinen
geruchloſen Blümchen werden von den nie—
drigen Grasbüſchen, zwiſchen welchen ſie
wachſen, und denen ſie ziemlich gleichfarbig
ſind, noch überragt und ſind dadurch in
der That in dem Grade verſteckt, daß ich
mich an ihren Standorten platt auf den
Raſen werfen und die kärglich bewachſene
Raſenfläche auf das ſchärfſte durchſpähen
mußte, um keines derſelben zu überſehen.
Unter ſolchen Umſtänden iſt es mir begreif—
licher Weiſe nicht gelungen, ihre Kreuzungs—
vermittler auf der That zu ertappen, aber
von der ausreichenden Wirkſamkeit derſelben
konnte ich mich auf andere Weiſe leicht ge—
nug überzeugen. Von über 50 Exemplaren,
die ich mit der Lupe unterſuchte, als die
Blüthezeit ſich ſchon zu Ende neigte (Ende
Juli 1877), hatten über zwei Drittel lauter
entleerte Pollentaſchen und befruchtete Nar-⸗
ben; von den übrigen hatten nur ein paar
einzelne die beiden oberſten Blüthen noch
im jungfräulichen Zuſtande, die übrigen
nur die oberſte.
Honig wird hier von einer grünen
Anſchwellung abgeſondert, die ſich von der
Mitte der Unterlippe bis zu ihrer Wurzel
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
erſtreckt und da in eine umwallte Fläche
am rundlichem Umriſſe verbreitert. Kleine
Beſucher, die am untern Ende der Unter—
lippe auffliegen und ſich der Anſchwell—
ung entlang bis zur umwallten Baſis hin-
auflecken, befinden ſich dann mit ihrem
Kopfe unmittelbar unter einem der Kleb—
ſtoffbeutelchen (r Fig. G) und müſſen, ſo—
bald fie nach Beendigung des Honigleckens
den Kopf erheben, gegen daſſelbe ſtoßen
und ſich den dem Klebſtoffbeutelchen auf—
ſitzenden Stiel des Staubkölbchens auf ihren
Kopf kitten k). Sobald fie nun wegfliegen,
ziehen ſie das Staubkölbchen (po Fig. 6)
aus ſeiner Taſche (al) und nehmen es,
dem Kopfe aufgekittet, mit ſich. Nachdem
daſſelbe ſodann, wie bei vielen anderen Orchi—
deen, eine Abwärtsdrehung erlitten hat, wird
es in der nächſten Blüthe, die das Inſekt be—
ſucht, gegen die Narbe (st) geſtoßen, deren kleb—
rige Fläche zahlreiche Pollenpäckchen feſthält.
Aus dieſer Befruchtungseinrichtung er—
giebt ſich, daß Schmetterlinge als Kreuz—
ungsvermittler der Chamaeorchis alpina.
gewiß nicht in Betracht kommen, daß viel—
mehr nur winzige Fliegen, Käfer oder
Hymenopteren die beſchriebene Arbeit leiſten
können. Von dieſen aber haben, nach ihren
ſonſtigen Lebensgewohnheiten und der Aehn—
lichkeit des vorliegenden Falles mit dem von
Listera, die Schlupfwespen gewiß die meiſte
Wahrſcheinlichkeit für ſich.
) Die den Klebſtoffballen umkleidende
Haut iſt äußerſt zart und zerreißt bei ſchwa—
chem Anſtoß. Sie wird aber nicht, wie
bei Orchis in eine taſchenförmige Unterlippe
und zwei an den Stielen der Staubkölbchen
haften bleibende Läppchen zerſpalten, ſondern
der ſtoßende Gegenſtand nimmt beim Zurück—
ziehen ſowohl den ganzen Klebſtoff, als das
zarte Häutchen, welches ihn umſchloß, mit
hinweg.
Müller, Die Juſekten als unbewußte Blumenzüchter. 481
ni b
N 0 ll W N _
N ee —
\
U
Fig. 10. Eine höchſt unſcheinbare Blume, die trotzdem regelmäßig durch
Inſektenvermittelung gekreuzt wird, Chamaeorchis alpina.
A Seitenanſicht einer (längſt verblühten) Blume. B Eine junge Blüthe, nach Entfernung
aller Blüthenhüllblätter mit Ausnahme der Unterlippe, gerade von vorn geſehen. (Die
Unterlippe iſt noch ſchräg nach vorn gerichtet und erſcheint daher in dieſer Anſicht bedeutend
verkürzt.) C Etwas ältere Blüthe, der Pollinien bereits beraubt. (Die Unterlippe hat ſich
nach unten gebogen und erſcheint in voller Ausdehnung.) D Noch weiter vorgerückte Blüthe
von der Seite geſehen. (A—D, Vergr. 7: 1.) 6 Die Mitte einer jungen Blüthe von vorn
geſehen. E Einzelnes Staubkölbchen von der Seite, F daſſelbe von vorn geſehen. (EG
Vergr. 35: 1.) h Honigtröpfchen, rr n Bedeutung der übrigen Buchſtaben
wie in Fig. 8.
Wie durch den Uebergang vom Pflanzen-
anbohren zum Inſektenanbohren aus den
Gallwespen die Schlupfwespen, ſo ſcheinen
aus dieſen durch die Annahme der Gewohn—
heit, die zur Nahrung für die Nachkommen
eingefangenen Inſekten durch einen Stich
zu lähmen und in einer ſelbſtgefertigten
Bruthöhle zu bergen, als neue Familie die
Grabwespen hervorgegangen zu fein). Zum
Auffinden und Ueberraſchen des erwählten
Beutethieres müſſen ſie dieſelbe Unterſcheid—
ungsfähigkeit, Umſicht, Ausdauer im Umher—
ſuchen und Gewandtheit in ihren Beweg—
ungen bethätigen, wie ihre Stammfamilie.
Aber durch die Umwandlung des Legeſtachels
in eine Angriffs- und Vertheidigungswaffe
ſind ſie weit wehrhafter und kühner geworden
und durch die Annahme der Gewohnheit,
eine Höhle anzufertigen, in dieſelbe, oft aus
weiter Entfernung, das gelähmte Beutethier
zu ſchleppen, alsdann erſt ein Ei an das—
ſelbe zu legen und nun die Höhle zu ſchließen
und jede Spur ihres Einganges ſorgfältig
zu verwiſchen, haben ſich ihre Lebensthätig—
keiten noch viel complicirter geſtaltet, hat
ſich ihre Energie, ihre körperliche und geiſtige
Befähigung wieder über diejenige der Schlupf—
wespen ein bedeutendes Stück erhoben. Wenn
wir uns daher in Gedanken in jene Zeit—
epoche zurückverſetzen, als die Familie der
Grabwespen ſich zuerſt auszubreiten und in
eine Mannigfaltigkeit verſchiedener Lebens—
formen zu differenziren begann und noch
die höchſte Entwickelungsſtufe des Wespen—
ſtammes bildete, ſo unterliegt es wohl keinem
Zweifel, daß damals die Schlupfwespen
auf allen Blumen, auf denen ſich auch die
ihnen in jeder Beziehung überlegenen Grab—
wespen einfanden, dieſen den Vorrang ein—
räumen, daß ſie mithin an allen Orten,
) Siehe Bienenzeitung, die angeführ—
ten Nummern.
—
|
|
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
wo auch Grabwespen ihren Wohnſitz auf—
ſchlugen, ihren blumenzüchtenden Einfluß
ganz oder größtentheils an dieſe abtreten
mußten. Und wenn auch weder die Ge—
ſchmacksrichtung der Grabwespen eine eigen—
artige, anderen Blumenbeſuchern antipathi—
ſche geworden war (wie bei vielen Dipteren),
noch ihre Mundtheile ſich derart einſeitig aus—
gebildet hatten, daß ſie dadurch ſich in den
Alleinbeſitz des Honigs gewiſſer Blumen
hätten ſetzen können (wie die Schmetterlinge),
ſo hatten ſie doch mit der Gewohnheit,
Bruthöhlen zu graben und häufig in ſolche
hinein zu kriechen, die Befähigung und Neig-
ung zu Bewegungen gewonnen, deren andere
Blumenbeſucher nicht fähig waren, und dieſe
Bewegungen ſetzten ſie in den Stand, ſich
Blumen zu ihrem alleinigen Genuſſe zu
züchten. Ungemein zahlreiche Blumenformen
der Jetztzeit erfordern zur Gewinnung des
Honigs ein Hineinzwängen des Kopfes
zwiſchen eng aneinderſchließende Theile, wie
es die Grabwespen und Bienen beim Graben
ihrer Bruthöhlen oder beim Eindringen in
dieſelben, wenn ſie theilweiſe verſchüttet ſind,
fortwährend ausüben müſſen, z. B. die
Papilionaceen, viele Scrophulariaceen (Pedi-
cularis, Linaria etc.), Boragineen (Borago,
Symphytum, Anchusa ete.), Reseda,
Polygala, Viola und viele andere. Andere
Blumen machen ein mehr oder weniger
vollſtändiges Hineinkriechen in wagerechte
oder ſchräg abwärts gehende Röhren noth—
wendig, wie es allen Bruthöhlen grabenden
Hymenopteren geläufig iſt, z. B. die Labia⸗
ten, Coelanthe (Gentiana), Digitalis, An-
tirrhinum u. A. Wieder andere erheiſchen
das Hineinſtecken des Kopfes oder Rüſſels
in einen engen Eingang von unten her,
alſo dieſelbe Bewegung, welche die in dürren
Brombeerſtengeln niſtenden Grabwespen und
Bienen machen müſſen, wenn die Enden
dieſer Stengel nach unten hangen, fo z. B.
Vaccinium, Erica u. A. Alle ſolche Blu-
men werden überwiegend, in normaler Weiſe
ſogar faſt ausſchließlich, von höhlengraben—
den Hymenopteren ausgebeutet und befruchtet,
offenbar, weil andere Blumenbeſucher die
dazu erforderlichen Bewegungen nicht zu
leiſten vermögen. Sie können alſo auch
erſt zur Ausprägung gelangt ſein, nachdem
die Entwickelung des Wespenſtammes bis
zur Ausbildung der Grabwespen fortge—
ſchritten war. Und wenn auch heute alle
dieſe Blumen vorwiegend von Bienen be—
ſucht und befruchtet werden und nicht wenige
derſelben (z. B. Iris Pseudacorus, Lami-
um album
Pedicularis ꝛc.) der Körperform der Hum—
meln aufs Engſte angepaßt ſind, ſo müſſen
wir es doch als in hohem Grade wahr—
ſcheinlich betrachten, daß der Anfang ihrer
Züchtung bereits von Grabwespen gemacht
worden iſt, ehe noch eine einzige Biene als
Mitarbeiterin in der Blumenwerkſtatt er—
ſchienen war. Denn fo gewiß die Grab
wespen an Eifer und Tüchtigkeit im Auf⸗
ſuchen des Blumenhonigs alle vorhergehen—
den Wespenfamilien — auch diejenigen der
Schlupfwespen — und ebenſo alle übrigen
kurzrüſſeligen Blumenbeſucher weit hinter
ſich laſſen, ſo gewiß mußte es damals, als
die Grabwespen an der Spitze der Wespen—
ausbildung ſtanden, Blumen von entſchei—
dendem Vortheile ſein, gerade auf ſie eine
beſondere Anziehungskraft auszuüben. Solche
Blumenabänderungen, welche zur Gewinn—
ung ihres Honigs die eine oder andere der
ſo eben angeführten Bewegungen erforderten
und dadurch anderen Blumenbeſuchern un—
bequem oder unzugänglich wurden, hatten
alſo, da ſie den Grabwespen vorzugsweiſe
oder allein ihren Honig verwahrten, alle
Kos mos, Band III. Heft 6.
Müller, Die Inſekten als
und viele andere Labiaten,
Ausſicht, von diefen mit Vorliebe ausgewählt,
unbewußte Blumenzüchter.
483
erfolgreich fortgepflanzt und in ihrer eigen-
artigen Geſtaltung weiter gezüchtet zu werden.
In welcher Ausdehnung ſich die Grab—
wespen beſondere Grabwespenblumen ge—
züchtet haben, nachdem ſie die Schlupfwespen
an ihren meiſten Wohnſitzen als Blumen-
züchter aus dem Felde geſchlagen hatten,
das läßt ſich heute nicht mehr ermeſſen.
Bis zu welchem Grade der Unvegelmäßig-
keit und einſeitigen Anpaſſung aber bereits
in jener Grabwespenzeit die Blumenzücht—
ung gelangt ſein mag, davon können wir
vielleicht eine annähernd richtige Vorſtellung
gewinnen, wenn wir diejenigen ihren Honig
verſchließenden oder in einer zum Hinein-
kriechen einladenden Röhre bergenden Blu—
menformen ins Auge faſſen, welche noch
heute von Grabwespen mit Vorliebe be-
ſucht werden, und welche, wenn es keine
Bienen gäbe, uns auch ſchon als Anpaſſ—
ungen an Grabwespen durchaus verſtänd—
lich ſein würden, wie z. B. Bryonia, Rese-
da, Melilotus, Thymus, Salvia silvestris,
Veronica spieata u. dgl. Ob eine oder
die andere dieſer Blumenformen wirklich ſo
wie ſie uns heute vorliegt, urſprünglich
von Grabwespen gezüchtet und ſpäter un-
verändert in den Mitbeſitz der Bienen über—
gegangen iſt, dürfte ſich ſchwerlich entſchei—
den laſſen; aber als wahrſcheinlich muß
jedenfalls zugeſtanden werden, daß die Zücht—
ung der Papilionaceen und Labiaten, welche
durch ihre reiche Verzweigung ein hohes
Alter bekunden und in ihren einfachſten
Formen noch jetzt von Grabwespen ſo gut
wie von Bienen beſucht und befruchtet wer—
den und beiden gleich gut entſprechen, ſchon
von den Grabwespen begonnen worden iſt,
daß alſo die erſten Labiaten und Papilio⸗
naceen Grabwespenblumen geweſen
ſind. Heute giebt es, ſoweit uns bekannt
iſt, keine einzige Blume mehr, die ausſchließ—
484
lich oder auch nur vorwiegend von Grab—
wespen befruchtet würde. Denn ebenſo wie
die Grabwespen ihre Stammeltern, die
Schlupfwespen, an Leiſtungsfähigkeit über—
holt und aus ihrem entſcheidenden Einfluſſe
in der Blumenwerkſtatt verdrängt haben,
ebenſo, nur weit gründlicher, ſind ſie ſelbſt
von der aus ihnen hervorgegangenen Familie
der Bienen wenigſtens in Bezug auf Blumen—
tüchtigkeit überholt und als Blumenzüchter
faſt unmöglich gemacht worden. Die An—
nahme der Gewohnheit, als Larvenfutter
anſtatt lebender Beute Blüthenſtaub und
wespen zu Stammeltern der Bienenfamilie
geworden ſind ), hat dieſen Umſchwung mit
innerer Nothwendigkeit herbeigeführt. Denn
er vervielfältigte ihr Bedürfniß au Blumen-
nahrung und lenkte den ganzen Fleiß und
Honig einzutragen, durch welche gewiſſe Grab
die ganze Ausdauer, welche von den Stamm
eltern auf die Auffindung und Ueberwäl—
tigung lebender Inſekten verwendet worden
längerung der Zunge gekommen iſt (bei
folgreiche Ausbeutung des Blüthenſtaubes
war, auf die Aufſuchung und möglichſt er—
und Honigs. Daß ſchon der bloße Ueber—
gang zu der den Bienen eigenthümlichen
Brutverſorgung dieſe Wirkung gehabt hat,
verräth ſich in unzweideutigſter Weiſe, wenn
man Bienen, die noch durchaus auf der
Organiſationshöhe der Grabwespen ſtehen
mit Grabwespen in ihrer Thätigkeit auf
denſelben Blumen vergleicht, z. B. Proso-
pis und Cerceris-Arten auf Reseda. Es
zeigt ſich dann deutlich, daß die erſteren
lich durch die Steigerung des Fleißes und
) Vergl. H. Müller, Anwendung der
Darwin'ſchen Lehre auf Bienen. Verhand—
lung des naturhiſtoriſchen Vereins für die
|
mit denſelben Werkzeugen vielmal mehr |
leiſten als die letzteren — offenbar ledig-
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
der Ausdauer, durch die Concentration ihrer
ganzen Energie auf das Einſammeln und
ſorgfältige Unterbringen der Blumennahrung.
Natürlich aber hat ſich mit jeder Vervollkomm—
nung ihrer der Gewinnung von Blüthen—
ſtaub und Honig dienenden Werkzeuge auch
ihre Leiſtungsfähigkeit noch geſteigert, und
es mußte ja jede Abänderung, welche eine
ſolche Vervollkommnung bewirkte, unaus—
bleiblich durch Naturausleſe erhalten und aus—
geprägt werden, ſobald einmal die Sicher—
ſtellung der Nachkommenſchaft einzig und
allein von der Beſchaffung und ſicheren Berg—
ung des Blüthenſtaubes und Honigs ab—
hängig geworden war. Während daher
bei den Grabwespen, da ſie nur zu ihrer
eigenen Beköſtigung Blumennahrung und
zwar meiſt nur Honig benutzen, auch nur
die Honiggewinnung erleichternde Abänder—
ungen der Mundtheile einige Ausſicht hatten,
durch Naturausleſe gezüchtet zu werden, und
es in der That nur zu einer mäßigen Ver—
Ammophila sabulosa bis zu 4, bei Bem—
bex rostrata bis zu 7 Millimeter), mußte
dagegen bei den Bienen jede Vervollkomm—
nung ſowohl der Pollen- als der Honiggewinn⸗
ung in dem durch die lebhafteſte Concurrenz
geſteigerten Wettkampfe um das Daſein in
erſter Linie entſcheidend werden; und ein
Heer mannigfachſter Abſtufungen, von der
kurzen ſtumpfen Grabwespenzunge der Pro—
sopis bis zu dem enorm verlängerten com—
plicirten Saugrohre der ſchwebend ſaugen—
den Eugloſſen und von der nackten Chitin—
haut vieler Grabwespen bis zu dem dichten
Federhaar-Kleide, den ausgeprägten Schienen—
bürſten und Sammelkörbchen der Hummeln,
legt noch heute Zeugniß ab von dem außer—
ordentlich fruchtbaren Felde, das ſich in der
preußiſchen Rheinlande und Weſtphalen 1872
Wirkung der Naturzüchtung dargeboten hat.
S. 1—96.
3
Familie der Bienen der vervollkommnenden
485
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Dieſe außerordentliche Steigerung der von Bienen nach Blumennahrung abgeſtreift
Blumentüchtigkeit ward nicht nur den Bienen, würden, während ja Schlupfwespen ſchattige
die fie erlangten, von entſcheidendem Vortheil, Wälder und Gebüſche vor ihren ſonnnelie—
ſie konnte nicht verfehlen, dieſelben alsbald benden Epigonen voraus haben.
auch zu den den Pflanzen nützlichſten Blumen— Nur eine einzige Eigenthümlichkeit der
beſuchern und damit zu den wirkſamſten Grabwespen würde überhaupt, ſoweit wir
Blumenzüchtern zu machen. Schon ihre viel die Sachlage überblicken können, im Stande
größere Emſigkeit und Ausdauer mußte da- ſein, ihnen den Alleinbeſitz gewiſſer Blumen
hin wirken. Ueberdies aber wurde auch der zu ſichern, die Gefürchtetheit ihres
den ganzen Bienenleib umkleidende Wald von Stachels, und es empfiehlt ſich, auch die
gefiederten Haaren, der ſich zunächſt zu ihrem möglichen Wirkungen dieſer Eigenthümlich—
eigenen Vortheile, eine müheloſe Steigerung keit erſt noch in Betracht zu ziehen, ehe wir
der Pollenernte bewirkend, ausgebildet hatte, | uns zu den höchſten Blumenleiſtungen des
auch für die Kreuzung der Pflanzen von Wespenſtammes, den Züchtungsprodukten der
hervorragender Bedeutung, da er viel leich- Bienen, wenden. Delpino ſah Asclepias
ter, als die nackte oder ſpärlich mit einfachen syriaca, welche auch bei uns häufig in Gärten
Haaren bekleidete Körperoberfläche der Grab- cultivirt und da von Bienen, Wespen und
wespen Pollen in ſich aufnimmt und an die Fliegen beſucht wird, bei Florenz beſonders
Narben anderer Blüthen abſetzt. Selbſt das häufig von den großen, gewaltig ſtechenden
gefliſſentliche und maſſenhafte Polleneinfam- Grabwespen Scolia hortorum und bicincta,
meln der Bienen hört auf, eine Schädigung daneben nur von der Honigbiene und der
der Pflanze zu ſein, ſobald die Kreuzung italieniſchen Hummel beſucht. Es unterliegt
derſelben durch regelmäßiges Berührtwerden wohl kaum einem Zweifel, daß eine Stei—
ihrer Narben von dem pollenbehafteten Haar— | gerung des Scolia-Bejuchs auch die beiden ein—
kleide der beſuchenden Bienen geſichert ift, und zigen ſonſtigen Beſucher noch verſcheuchen
der Akt des Pollenplünderns ſelbſt dient oft und Asel. syriaca an gewiſſen Localitäten
gleichzeitig der Pflanze als wirkſamſte Kreuz- zur reinen Grabwespenblume machen könnte,
ungsvermittlung, wie z. B. wenn Megachile | während fie in anderen, an gefürchteten Grab—
lagopoda mit ihrer Bauchbürſte von den wespen ärmeren Gegenden einem gemiſchten
Blüthenkörbchen von Cirsium eriophorum Beſucherkreiſe ausgeſetzt bleiben würde.
oder Onopordon Acanthium den Pollen zu- Ein ganz ähnlicher Fall wie dieſer in
ſammenfegt, oder wenn Hummeln an Königs- Bezug auf die Grabwespen als möglich hin—
kerzen (Verbascum) von Blüthe zu Blüthe lie- geſtellte hat ſich in Bezug auf die eigent-
gen und von den Staubgefäßen den Pollen indie lichen Wespen (Vespa) mehrfach verwirklicht.
Sammelkörbchen ihrer Hinterſchienen ftreifen. | Serophularia und Symphoricarpus näm—
Es iſt daher leicht begreiflich, daß von lich beſitzen beide ſo weitmündige Blumen—
den Bienen die Grabwespen als Blumen- glöckchen, daß ein Wespenkopf ſehr bequem
züchter vollſtändig aus dem Felde geſchlagen in dieſelben geſtreckt werden kann, und dabei
worden ſind, noch vollſtändiger als von dieſen ſo reichliche Honigabſonderung, daß ſich die
ihrer Zeit die Schlupfwespen, und zwar ſtürmiſchen, zum emſigen Sammeln kleiner
deshalb noch vollſtändiger, weil es keine Honigtröpfchen durchaus nicht geneigten Wes—
Grabwespenwohnplätze giebt, die nicht auch | pen zu dieſer lohnenden Ausbeute ganz be-
486 Müller, Die Inſekten als
ſonders hingezogen fühlen und durch ihren
häufigen Beſuch nicht ſelten die übrigen In—
ſekten (Bienen und Grabwespen), denen der
Honig ebenfalls zugänglich wäre, zurück—
ſcheuchen. In wespenreichen Gegenden (3. B.
bei Mühlberg in Thüringen) werden daher
beide fo überwiegend von Vespa- und Po-
listes-Arten beſucht, daß fie durchaus den
Namen Wespenblumen verdienen. In
wespenärmeren Gegenden (z. B. bei Lipp—
ſtadt) herrſchen an Symphoricarpus als
Blumengäſte und Kreuzungsvermittler ganz
entſchieden die Bienen vor, während Sexo—
phularia ſelbſt hier ganz überwiegend von
Wespen beſucht wird. Es liegt daher die
Vermuthung nahe, daß die von allen Bienen—
blumen abweichende ſchmutzigbraune Farbe,
kuglige Form, weite Eingangsöffnung und
vielleicht auch die reichliche Honigſpende der
Serophularia-Blüthen von den Wespen ſelbſt,
denen ſie ſo ſehr gefallen, gezüchtet worden ſind.
Dieſe Vermuthung gewinnt noch ſehr bedeu-
tend an Wahrſcheinlichkeit, wenn wir ſehen, daß
auch Epipactis latifolia, die bis jetzt ganz
ausſchließlich von Wespen beſucht gefunden
wurde ), dieſelben Liebhabereien ihrer Züchter
bekundet, indem ſie in der ebenfalls dunkel—
gefärbten, ebenfalls weit geöffneten halb-
kugeligen Schale der Unterlippe ebenfalls reich—
lichen Honig abſondert.
Wenn es hiernach den ächten Wespen
wirklich gelungen iſt, durch die Gefürchtetheit
ihres Stachels (denn nur ſaus dieſer Urſache
läßt ſich das Zurückbleiben der übrigen Gäfte |
erklären) ſich in den Alleinbeſitz gewiſſer
Blumen zu ſetzen und dieſelben, ihren be—
ſonderen Neigungen entſprechend, in eigen—
7 Siehe Darwin ss Orchideenwerk.
3
unbewußte Blumenzüchter.
nur in wärmeren, an gefürchteten Grab—
wespen reicheren Gegenden wird nach den—
ſelben zu ſuchen ſein.
Alle bisher betrachteten Hymenopteren—
familien zuſammen genommen haben der
heutigen Blumenwelt, wie ſich uns gezeigt
hat, nur ſehr vereinzelte Proben ihrer blumen—
züchtenden Thätigkeit hinterlaſſen, obwohl
zwei derſelben, die Schlupfwespen und die
Grabwespen, wahrſcheinlich ihrer Zeit in um—
faſſender Weiſe als Blumenzüchter gewirkt
haben. So vollſtändig ſind die Bienen erſt
in den Mitbeſitz ihrer Züchtungsprodukte
getreten und haben dieſelben ſodann, in dem
Grade als die ſtufenweiſe Vervollkommnung
ihrer Organiſation und Blumeneinſicht ſie
dazu befähigte, ihren eigenen Neigungen
und Bedürfniſſen entſprechend weiter ge—
züchtet! In Folge der großen Verſchie—
denheit ſowohl der Ausgangspunkte der Zücht—
ung als der Züchter ſelbſt ſind die Züchtungs—
produkte der Bienen, die Bienenblumen,
ſo außerordentlich mannigfaltig, daß wir uns
hier darauf beſchränken müſſen, an allbe—
kannten Beiſpielen der heimiſchen Flora einige
derjenigen Blumengebilde anzudeuten, durch
deren Züchtung es den Bienen überhaupt,
oder den langrüſſeligeren oder langrüſſeligſten
Arten derſelben insbeſondere, gelungen iſt,
die übrigen Blumenbeſucher vom Genuſſe
des Honigs, bisweilen auch des Blüthen—
ſtaubes, abzuhalten und dennoch für ſich ſelbſt
jede Verzögerung, welche die ſorfältige Berg—
ung dieſer Genußmittel ihnen verurſachen
könnte, nach Möglichkeit zu erſparen.
Bei Schneeglöckchen, Spargel, Maiblüm—
chen iſt es einfach die nach unten gekehrte
thümlicher Weiſe weiter zu züchten, ſo dürfen
wir gewiß die Möglichkeit nicht bezweifeln,
daß auch heute noch gewiſſe Blumen als
Grabwespenblumen beſtehen können. Aber
Stellung der Blumenglocken, welche alle In—
ſekten außer den höhlengrabenden Hymenop—
teren vom Beſuche der Blumen zurückhält.
Thatſächlich wurden nur Bienen an ihnen be—
obachtet. Bei Convallaria multiflora hat ſich
“Änjn U¹âL;:ũʃñ Ü — Y ˙—Ü nn nn 2
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenz üchter.
durch bloße Verlängerung der Blumenröhre
der Beſucherkreis auf die langrüſſeligſten
Hummeln beſchränkt.
In der Familie der Ranunculaceen
haben ſich bei Eranthis und Helleborus die
Bienen aus der Mannigfaltigkeit von Nek—
tarienformen, die uns bei Ranunculus pyre-
naeus (Fig 5.) entgegentrat, die ihnen am
beſten paſſende Täſchchen- und Schlauchform
als conſtante Eigenthümlichkeit gezüchtet; bei
Nigella ſind ſogar mit Deckel verſchloſſene
Honigbehälter erzielt worden, zu deren Oeff—
nung und Entleerung alle Nicht-Bienen zu
dumm ſind. Endlich liefern uns die allbe—
kannten Blumen von Aklei (Aquilegia), Rit⸗
terſporn (Delphinium) und Eiſenhut (Aco-
nitum) bewundernswerthe Belege dafür, was
ſo eifrige und einſichtige Blumenzüchter wie
die Hummeln ſelbſt aus Ranunculus-Blüthen
zu machen wiſſen. Und wie ſehr die Pflan—
zen ſelbſt dabei gewonnen haben, daß ihre
Blumen die begünſtigten Lieblinge der lang—
rüſſeligſten Hummeln geworden, und von
dieſen, wenigſtens was den Honig anbetrifft,
daß die meiſten derſelben ſelbſt die Mög—
lichkeit der Selbſtbefruchtung verloren haben,?)
während alle einem weiteren Beſucherkreiſe
zugänglichen Ranunculaceen dieſelbe als Noth—
entbehren können.
Bei den Papilionaceen iſt es das
enge Zuſammenſchließen und zum Theil Ver—
die nur den höhlengrabenden Wespen eigenen
) Durch ausgeprägte Proterandrie, welche
natürlich unabhängig von der Blumenauswahl
der Hummeln, durch Naturzüchtung, zu den
von den Hummeln gezüchteten Merkmalen hin—
zugetreten iſt.
487
Bewegungen erheiſcht, wenn es auch den
dünnen Schmetterlingsrüſſeln nicht ſelten ge—
lingt, in den ſo ſorglich verwahrten Blüthen—
grund einzudringen und von dem dort auf—
geſpeicherten Honig zu naſchen. Auf den
ſeitlichen Blumenblättern (Flügeln) mit den
Beinen ſich feſthaltend, müſſen nämlich die
Grabwespen oder Bienen ihren Kopf unter
die Fahne zwängen (gerade ſo wie ſie es
beim Eindringen in eine enge Oeffnung zu
thun gewohnt ſind, die ſie zur geräumigeren
Höhle erweitern wollen), um mit der Rüſſel—
oder Zungenſpitze eines der beiden Honig—
löcher zu erreichen. Und da dieſe Blumen—
eigenthümlichkeit unmittelbar nur ihnen ſelbſt
zu gute kommt, ſo unterliegt es keinem Zweifel,
daß ſie ſich dieſelbe auch ſelbſt gezüchtet haben
— durch Bevorzugung derjenigen Blumen—
abänderungen, die ihnen allein den Honig
verwahrten. Gleichzeitig aber mit dieſer durch
die Grabwespen oder Bienen gezüchteten
Eigenthümlichkeit müſſen ſich durch von ihrer
Wahl unabhängige Naturausleſe jene weiteren
Eigenthümlichkeiten der Schmetterlingsblüthen
zu ihrem ausſchließlichen Gebrauche ge⸗
züchtet worden ſind, beweiſt die Thatſache,
ausgeprägt haben, welche die in der beſchrie—
benen Weiſe arbeitenden Gäſte erſt zu regel—
mäßigen Kreuzungsvermittlern machen: die
Verwachſung der beiden unteren Blumen-
| blätter zu einem Staubgefäße und Stempel
umſchließenden Schiffchen, das Hervorragen
behelf bei ausbleibendem Inſektenbeſuche nicht
der Narbe über die Staubgefäße und die
Vereinigung der Flügel mit dem Schiffchen
zu gemeinſamer Bewegung. Denn ohne dieſe
würden auch jene erſteren Bildungen der
wachſen der Blüthentheile, welches, wenig-
ſtens zu voller Ausbeutung der Genußmittel,
Pflanze nutzlos, würde es alſo den bethei—
ligten Juſekten unmöglich geweſen ſein, ſich
dieſelben zu züchten.
Wenn unſere Vermuthung richtig iſt, daß
die erſten und einfachſten Papilionaceen,
etwa bis zur Organiſationshöhe von Meli-
lotus, Grabwespenblumen waren, ſo unter—
liegt es keinem Zweifel, daß ebenſo wie ihre
488
ſorgfältige, eine Grabwespenarbeit nöthig
machende Bergung des Honigs ausſchließlich
der Blumenauswahl der Grabwespen, ihr
Beſtäubungsmechanismus ausſchließlich der
von der Wahl derſelben unabhängigen Natur-
züchtung ſeine Ausprägung verdankt, da ja
Grabwespen von dem Blüthenſtaub, der
etwa an ihnen haften bleibt, keinen Gebrauch
machen. Im ſpäteren Verlaufe der Blumen—
entwickelung aber, nachdem die Bienen in
den Mitbeſitz der Papilionaceen-Blumen ein—
getreten waren und von den meiſten derſel—
ben, durch die von ihnen gezüchtete Ver—
längerung der zuſammenſchließenden Theile,
ſogar die Grabwespen ausgeſchloſſen hatten,
iſt bei der Ausprägung der complicirten Be—
ſtäubungsmechanismen (der Nudelpumpen—
einrichtung wie ſie Lotus, der Pollen her—
ausfegenden Bürſten, wie ſie Lathyrus,
Vicia, Phaseolus, der losſchnellenden Me—
chanismen, wie fie Genista und Sarotham-
nus darbieten) die Blumenauswahl der Pollen
ſammelnden Bienen eben ſo ſehr als die von
ihrer Wahl unabhängige Naturzüchtung be—
theiligt geweſen.
Wie bei den Papilionaceen das enge An—
einanderſchließen den Honig verdeckender Blü—
thentheile, ſo iſt bei den Labiaten das
Verſchmelzen der Blumenblätter zu einer
wagerechten oder (vom Eingange aus betrach—
tet) ſchräg abwärts gehenden Höhle von den
höhlengrabenden Hymenopteren (Grabwespen
und Bienen) zur Züchtung ihnen allein zu-
gänglicher Blumenformen benutzt worden.
Auch hier ſind die einfachſten Formen (3. B.
Mentha) nicht nur allen Bienen ohne Aus—
nahme, ſondern auch noch den Grabwespen
paßt nicht nur als Wetterdach für die unter
zugänglich. Von dieſen aus führen aber
verſchiedene Stufenreihen immer höher, bis
endlich zu den ausgeprägteſten Hummelblu—
men, die ihren reichen Honigvorrath ebenſo
allen Nicht-Hummeln unzugänglich, als allen
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter—
oder auch nur den langrüſſeligeren Hummeln
(einſchließlich natürlich Anthophora) leicht
und ohne Zeitverluſt gewinnbar bergen. Was
für mannigfache Ausrüſtungen zuſammen—
kommen müſſen, ehe dieſes Reſultat und
zugleich unausbleibliche Kreuzung bei ein—
tretendem Hummelbeſuch erreicht iſt, werden
wir uns am zweckmäßigſten an dem den
ganzen Sommer hindurch der Beobachtung
eines Jeden leicht zugänglichen Lamium
album deutlich zu machen ſuchen, deſſen
natürliche Befruchtung ich bereits vor einigen
Jahren in der Bienenzeitung (1875 Nr. 8 u.
9) mit folgenden Worten geſchildert habe:
„Durch die weiße Farbe von weitem
nach den Taubeneſſelblüthen hingelenkt, flie—
gen die Hummeln ohne Verzug nach dem
dunkler erſcheinenden Eingange einer Blüthe
hin, und zwar ſofort in der zur Honigge—
winnung paſſendſten Stellung, da ihnen die—
ſelbe durch die als bequeme Anflugfläche ſich
darbietende Unterlippe vorgezeichnet wird;
fie ſtecken ſogleich im Anfluge den Kopf
zwiſchen den beiden breiten Seitenlappen des
in Form und Weite ihnen gerade entſprechenden
Blütheneinganges hinein, indem zugleich die
Vorderbeine auf der Baſis der Unterlippe
vorrücken und Mittel- und Hinterbeine ſich
an den beiden Lappen der Unterlippe feſt—
halten, und gelangen fo. mit ihrem Rüſſel
unmittelbar in den honigführenden Grund
der etwa 10—11 mm langen Blumenröhre.
Während ſie nun ſaugen, füllt ihre Bruſt,
bei kleineren Arbeitern auch noch der
Bauch, den Zwiſchenraum zwiſchen Oberlippe
und Unterlippe gerade aus, und die rings—
um abwärts gewölbte Form der erſteren
ihr liegenden Geſchlechtstheile, ſondern auch
zum Umſchließen des Hummelleibes ſo vor—
trefflich, daß die Oberſeite deſſelben gegen
die Narbe und gegen die geöffnete Seite der
Staubbeutel gedrückt bleibt. Durch die be—
queme Anflugsfläche, durch die dem Hummel—
kopfe entſprechende Form und Weite des
Blumeneinganges und durch die der Hummel—
rüſſellänge entſprechende Länge der honig—
führenden Blumenröhre wird alſo den Hum—
meln ein raſches und erfolgreiches Honigge—
winnen ermöglicht; dies iſt aber den Pflanzen
ſelbſt von größtem Vortheile, da es zugleich
ein eben ſo raſches und erfolgreiches Fremd—
beſtäuben der Blüthen mit ſich bringt. Unter
dem gewölbten Wetterdache der Oberlippe
liegen nämlich, mit der pollenbedeckten Seite
nach unten gekehrt, die vier Staubgefäße,
und zwiſchen ihnen ragt der eine Aſt des
am Ende zweitheiligen Griffels nach unten
hervor. Die Spitze dieſes hervorragenden
Griffelaſtes iſt es, welche Blüthenſtaubkörner
empfangen muß, wenn die Befruchtung ein—
geleitet werden ſoll; ſie iſt es aber auch zu—
gleich, welche von dem Rücken anfliegender
Hummeln regelmäßig zuerſt berührt, und
daher mit dem Pollen früher beſuchter Blumen
behaftet wird. Denn da der Hummelleib
den Zwiſchenraum zwiſchen Ober- und Unter—
lippe gerade ausfüllt, wird ſein Rücken in
jeder Blüthe gegen die pollenbehaftete Unter-
ſeite der Staubgefäße gedrückt, und zahlreiche
Pollenkörner bleiben daher in dem dichten
Haarwalde des Nückens haften; da aber bei
jedem Hummelbeſuche die hervorragende Spitze
des abwärts gebogenen Griffelaſtes früher
mit dem Hummelrücken in Berührung kommt
als die Staubgefäße, ſo wird dieſe als Narbe
dienende Spitze in jeder Blüthe (natürlich
mit Ausnahme der zuerſt beſuchten) ſtets
mit Blüthenſtaub vorherbeſuchter Blüthen
befruchtet; es wird alſo durch die Hummeln
regelmäßig die für die Erzeugung zahl—
reicher und entwicklungsfähiger Samenkörner
weſentliche Fremdbeſtäubung bewirkt.
Hiermit ſind indeß die merkwürdigen
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
489
Anpaſſungen der Taubeneſſelblüthe an die
Hummeln noch nicht erſchöpft. Es würde
nämlich ja zur Sicherung regelmäßigen Hum⸗
melbeſuches und regelmäßiger Fremdbeſtäub—
ung durch denſelben durchaus nicht genügen,
daß die Hummeln den honigreichen Blüthen—
grund raſch und bequem erreichen können,
ſie müſſen vielmehr auch wirklich Honig in
demſelben finden, wenn ſie ſich zu wiederhol—
ten Beſuchen veranlaßt fühlen ſollen. Alle bis—
her erörterten ſchönen Anpaſſungen der Taube—
neſſelblüthen an die Hummeln würden daher
der Pflanze wenig nützen, wenn auch die zahl—
loſe Schaar kleinerer blumenbeſuchender Inſek—
ten, deren Körper den Zwiſchenraum zwiſchen
Ober- und Unterlippe bei weitem nicht ausfüllt,
und welche daher zur Bewirkung regelmäßiger
Fremdbeſtäubung der Taubeneſſel ungeeignet
ſind, den Honig derſelben erlangen könnten;
denn dann würden die Hummeln die Taube—
neſſelblüthen faſt ſtets ſchon ihres Honigs
entleert finden und ſehr bald die ihnen nutz—
loſe Arbeit aufgeben. Der Ausſchluß der
ungebetenen Gäſte wird nun durch zweierlei
Einrichtungen thatſächlich bewirkt, nämlich
1) werden die größeren derſelben, welche
zwar zu klein ſind, um als Befruchter der
Taubeneſſeln dienen zu können, aber doch zu
groß, um ganz in ihre Blumenröhre hinein—
zukriechen, wie z. B. die Honigbiene und
zahlreiche Fliegen, durch die (etwa 7 mm
betragende) Länge des ſenkrecht aufſteigenden
Theils der Blumenröhre verhindert, mit
ihrem Rüſſel bis zum Honige zu gelangen.
Die Honigbiene z. B. hat einen nur 6 mm
langen Rüſſel; ſie würde alſo, ſelbſt wenn
ſie den Kopf noch ein Stück in den ſenk—
rechten Theil der Blumenröhre hineinſteckte,
den Honig nicht erreichen können, da derſelbe
nur in dem unterſten, vom Stengel ſchräg
abſtehenden 3—3'/; mm langen, engeren
Stücke der Röhre enthalten iſt; 2) aber
+
490
werden alle noch kleineren ungebetenen Gäſte,
welche mit Leichtigkeit ganz und gar in die
Blumenröhre hineinkriechen können, wie z. B.
die Ameiſen, durch einen dichten Ring nach
oben zuſammenneigender Haare, welcher den
unterſten honigführenden Theil der Röhre
überdeckt, verhindert, bis zum Honige zu
gelangen.“ Nach ſo ausführlicher Darlegung
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
der Bedeutung aller einzelnen Stücke bedarf
es keines beſonderen Hinweiſes mehr, welche
derſelben durch die Blumenauswahl der
Hummeln, welche durch die von ihrer Wahl
unabhängige Naturzüchtung und welche durch
die combinirte Wirkung beider Züchtungen
zur Ausprägung gelangt ſind.
Fig. 11— 13. Ausbildung regelmäßiger Bienenblumen in der Familie der
Ericaceen.
Fig. 11.
Azalea procumbens.
A Blüthe von oben geſehen. Vergr. 7: 1. B, C Die Staub-
gefäße, mit 4 der Blüthenmitte zugekehrten Längsriſſen aufſpringend, etwas ſtärker vergrößert.
Fig. 12.
Vaccinium Vitis idaea. A Blüthe im Längsdurchſchitte. Vergr. 5: 1. B Staub⸗
gefäß, von innen geſehen. Vergr. 7: 1.
C Daſſelbe von der Außenſeite.
Fig. 13. Arctostaphylos uva ursi.
B Dieſelbe, gerade von unten geſehen.
Berar. 7 El.
A Blüthe von der Seite geſehen.
( Diejelbe, kurz vor dem Aufblühen, im Aufriß.
D Staubgefäß von der Seite geſehen.
bedeutet: s Kelchblätter, p Blumenblätter, a Staubgefäße, ov Fruchtknoten, st Narbe,
n Nektarium.
Vergr. 3: 1.
Vergr. 15: 1. — In allen Figuren
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
Während bei Papilionaceen und Labiaten
die Anpaſſungen an höhlengrabende Hyme—
nopteren von den gemeinſamen Stammeltern
ererbt und nur der ſtufenweiſen Vervollkomm—
nung derſelben entſprechend weiter gezüchtet
worden find, laſſen uns dagegen andere Fa—
milien in ihren jetzt lebenden Gliedern noch
den ganzen Abſtand der Organiſationshöhe
zwiſchen urſprünglichen, allgemein zugäng-
lichen und neueren, der ausſchließlichen Aus—
nutzung und Kreuzungsvermittlung durch
Bienen angepaßten Blumenformen erkennen.
So ſtellt uns z. B. in der Familie der
Ericaceen Azalea procumbens eine ur-
ſprüngliche, allgemein zugängliche, Vacci—
nium Vitis idaea (Preißelbeere) eine von den
Bienen bereits erfolgreich in Züchtung ge—
nommene, aber auch manchen anderen Blumen—
gäſten noch zugängliche, Aretostaphylos uva
ursi (Bärentraube) endlich eine vollendete
Bienenblume dar.
In der That find die roſenfarbigen Blüth- |
chen, mit denen die auf den kahlen Hoch-
jochen der Alpen in zuſammenhängenden
Flächen dem Boden dicht angedrückte Azalea
procumbens ſich ſchmückt, ſo einfach, offen
und regelmäßig (Fig. 11. A) ihre Staub⸗
gefäße (8 C) noch jo wenig differenzirt,
ſelbſt die Zahl ihrer Blüthentheile ſo wenig
conſtant (ſtatt 5 nicht ſelten 6 in jedem Kreiſe),
daß ſie in jeder Beziehung den Eindruck
einer urſprünglichen Blumenform macht, die
ſich über die gemeinſamen Stammeltern der
Ericaceenfamilie nur wenig erhoben haben
kann.
liegenden Honigs, der von einem die Baſis
des Fruchtknotens umſchließenden Ringe (n
Fig. A) abgeſondert wird, fand ich — in
Meereshöhen von 22— 2800 Meter — bald
Fliegen (Musciden und Syrphiden, z. B.
Cheilosia), bald Schmetterlinge (z. B. Lycae-
na orbitulus Esp., Melitaea dietynna
—— ̃ —— ean sn
Kosmos, Band III. Heft 6.
Mit dem Genuſſe ihres völlig offen
491
Esp. und asteria Frr., Erebia tyndarus
Esp., Argynnis pales S. V.), bald Hummeln
(Bombus terrestris L. und lapponicus F.)
beſchäftigt.
Wie weit fortgeſchritten erſcheint dagegen
Vaccinium Vitis idaea (Fig 12). Ihre
Blumenblätter haben ſich zu einer ſchräg
abwärts geneigten, wenn auch noch weit ge—
öffneten Glocke zuſammengeſchloſſen, offenbar
gezüchtet durch die Blumenausleſe der Bienen
die dadurch in den vorwiegenden Beſitz des
Preißelbeeren-Honigs gelangt ſind. Ihre
Staubbeutel haben ſich dicht um den die
Achſe der Glocke bildenden Griffel herum
zuſammengelegt und in Röhren verlängert,
aus denen bei jedem Anſtoße ein Theil der
loſen glatten Vierlingsſporen herausfällt,
offenbar in Folge einer von der Wahl der
Inſekten unabhängigen Naturzüchtung, da
durch dieſe Bildungen nur bewirkt wird, daß
die mit ihrem Rüſſel zum Honige vordrin⸗
genden Bienen ſich Blüthenſtaub auf den
Kopf ſtreuen und ihn in der nächſtbeſuchten
Blüthe auf der Narbe abſetzen, alſo vegel-
müßig Kreuzung vermitteln.
Und doch iſt auch Vaccinium Vitis
idaea noch auf halbem Wege ſtehen geblieben.
Denn ihre nicht ſenkrecht, ſondern nur ſchräg
abwärts ſtehenden, weit geöffneten Glocken
ſind noch manchen nutzloſen Gäſten zugäng—
lich, wie z. B. gewiſſen Schwebfliegen (Eri-
stalis, Rhingia) die, wenn ſie auch nicht
zum Honige gelangen, doch ſchon durch das
Hinweglecken der Narbenfeuchtigkeit und durch
das Betupfen und Verſchieben der Antheren
die Befruchtungsarbeit der Bienen ſtören.
Vollendete Bienenblumen bietet dagegen die
Bärentraube (Arbutus uva ursi L.) dar.
Ihre weite, ſenkrecht abwärts gerichtete Blu—
menglocke (Fig. 13.) ſchnürt ſich nach unten
hin mehr und mehr zuſammen und geſtattet
bloß denjenigen Inſekten den Zutritt zu
63
492 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
ihrem reichen Honigvorrath, die ſich von
unten an die kleinen, wagerecht ausgebreiteten
Perigonzipfel feſtzuklammern und einen langen
Rüſſel in die kreisrunde Oeffnung (Fig. 13
B) hineinzuſchieben vermögen. Nur aus—
geprägte Bienen ſind dazu im Stande, nur
ſie können alſo auch dieſe ihnen den Allein—
beſitz des Bärentraubenhonigs ſichernden
Eigenthümlichkeiten ſich gezüchtet haben. In
der That fand ich (im Heuthale am Ber—
nina, Auguſt 1877) die Blüthen der Bären—
traube ganz ausſchließlich von Hummeln (B.
alticola Kr. und B. lapponicus F.) be—
ſucht. Aber auch hier hat, von der Aus—
wahl der beſeelten Blumenzüchter unabhängig,
Naturzüchtung Eigenſchaften hinzugefügt,
welche die erfolgreiche eigennützige Thätig—
keit derſelben zu einer durch regelmäßige
Kreuzungsvermittlung für die Pflanze ſelbſt
entſcheidend vortheilhaften machen. Die
Narbe (st, Fig. 13. C) bleibt nämlich in der
Blumenglocke eingeſchloſſen, rückt aber doch
ſo nahe der kleinen Oeffnung derſelben, daß
ſie von dem eindringenden Hummelrüſſel un—
fehlbar geſtreift und, wenn derſelbe mit Pollen
beſtreut iſt, mit dieſem behaftet werden
muß. Aber auch das Behaften des zum
Honige vordringenden Hummelrüſſels mit
Pollen iſt noch mehr als bei der zuletzt be—
trachteten Art unausbleiblich geworden. Denn
die Staubbeutel ſind zwar, ebenſo wie bei
der Preißelbeere, mit nach unten gerichteten
Oeffnungen um den Griffel herum zuſammen—
gedrängt, aber die ſie tragenden Staubfäden
haben durch Dünnbleiben der Baſis und Spitze
und Verdickung ihres mittleren Theils (ſiehe
Fig. 13. D) ſo an Elaſticität gewonnen,
daß ſie zwar leicht aus ihrer Lage gebracht
werden können, aber auch ſicher, unter Aus—
ſtreuung eines Theils ihres Pollens, in die—
ſelbe zurückſchnellen. Und da an jedem Staub—
gefäße, ſtatt der beiden Röhren bei der
Preißelbeere, zwei lange, umgebogene, mit
rauhen Vorſprüngen beſetzte Schwänze durch
den Bauch der Glocke gegen deren Wandung
hin ſich erſtrecken, ſo iſt es dem Hummel—
rüſſel unmöglich, von der kleinen Oeffnung
aus durch die Glocke hindurch zum Nektarium
vorzudringen, ohne wenigſtens an einen der
20 Schwanzanhänge anzuſtoßen und ſich mit
Pollen zu beſtreuen, der dann in der nächſt—
beſuchten Blüthe an die Narbe gelangt. Auch
dieſer anſcheinend ſo unfehlbar ſicher wirkende
Beſtäubungsmechanismus iſt indeß weit ent—
fernt, vollkommen zu ſein. Denn ich fand
zahlreiche Blumenglocken der Bärentraube
von zwei Oeffnungen durchbrochen, die offen—
bar von dem Biſſe einer Hummel herrührten.
Vermuthlich iſt Bombus mastrucatus Gerst.
der Uebelthäter, welche Art ich in den Alpen,
noch weit häufiger als in der Ebene B. terres-
tris, Honig durch Einbruch gewinnen ſah.
In dem ſoeben beſprochenen Falle,
ebenſo wie bei Vaccinium Myrtilus, Erica
tetralix, Symphoricarpus und überhaupt
bei allen Grabwespen-, Wespen- und Bie—
nenblumen mit nach unten gerichteten Blu—
menglocken, aber auch faſt nur bei dieſen,
hat ſich die Ausſchließung der übrigen Gäſte
und die immer engere Anpaſſung an die
höhlengrabenden Kreuzungsvermittler mit
voller Beibehaltung der Regelmäßigkeit der
Blumenform vollzogen. In allen Fällen
dagegen, in welchen von den Grabwespen
oder Bienen eng aneinander ſchließende Blü—
thentheile oder ein Hineinkriechen erfordernde
Höhlen zur Züchtung ihnen allein gehöriger
Blumen benutzt worden ſind, haben dieſe
die Regelmäßigkeit eingebüßt und find bi-
lateral ſymmetriſch geworden, wie z. B. Pa—
pilionaceen und Labiaten, oder ſelbſt völlig
unregelmäßig, wie z. B. in der Familie der
Scrophulariaceen einige Pedicularis-Arten.
Es iſt überhaupt in der geſammten ein—
— u
u
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
heimiſchen Flora wohl kaum eine andere
Pflanzenfamilie geeigneter, die Leiſtungen
der Bienen als Blumenzüchter in ein helles
Licht zu ſtellen, als diejenige der Scro—
phulariaceen. Denn während uns einerſeits
die Verbascum- und Veronica - Arten
(ſiehe Fig. 14.) auf die einfache, offene,
regelmäßige Blumenform der Stammeltern
Fig. 14. Veronica urticaefolia.
Vergr. 7: 1.
493
hinweiſen, von welcher ſie ſelbſt noch ſo
wenig ſich entfernt haben, bieten uns ander—
ſeits die Gattungen Digitalis, Antirrhinum,
Linaria, Euphrasia, Melampyrum, Bartsia,
Rhinanthus, und Pedicularis eine Man-
nigfaltigkeit von eigenartigen Züchtungs—
produkten der Bienen dar, die zum Theil
zu erſtaunlicher Einſeitigkeit der Anpaſſung
A Blüthe gerade von vorn geſehen. Der
Griffel erſcheint ſehr verkürzt. B Dieſelbe nach Hinwegſchneidung der vorderen Hälfte des
Kelches und der Blumenkrone von der Seite, um den Griffel in ſeiner ganzen Länge und
natürlichen Stellung zu zeigen. b
Fig. 15. Pedicularis asplenifolia. A Blüthe von der linken Seite geſehen. Vergr. 3 1.
Der Pfeil bezeichnet die Richtung, in welcher der Hummelrüſſel eindringt. B Dieſelbe Blüthe,
nach Entfernung des Kelches, der Unterlippe und der linken Hälfte der Oberlippe, von; der
linken Seite geſehen. 0 Fruchtknoten, Nektarium und Griffelwurzel derſelben. D Griffel⸗
ſpitze mit Narbe. Vergr. 7: 1, E Zwei einander zugekehrte Staubgefäße.
Bedeutung der Buchſtaben wie in Fig. 11, 12, 13.
494 Müller, Die Inſekten als
und vollkommner Sicherung der Kreuz—
ungsvermittlung gelangt ſind. An Ein—
ſeitigkeit der Anpaſſung aber, im urſprüng—
lichſten Sinne des Wortes, geht keine mir
bekannte Bienenblume über Pedicularis
asplenifolia (Fig. 15.) hinaus, welche ich
im Sommer 1877 auf der Alp Falo und
im Heuthale am Bernina zu beobachten Ge—
legenheit hatte.
Die durch dichtzottige Behaarung des
Kelchs gegen aufkriechende kleine, flügelloſe
Inſekten geſchützten Blüthen ſtehen in merk—
würdiger Weiſe gebogen und gedreht am
Stengel, ſo daß jede Blüthe ihre rechte Seite
dem Stengel zukehrt und faſt anlegt, ihre
linke nach außen wendet. Die Unterlippe
fällt von rechts nach links ſo ſtark ab, daß
ihre Fläche faſt ſenkrecht ſteht. (Fig. 15 A)
Hummeln?) können daher nicht von vorn,
ſondern nur von der linken Seite in die
Blüthe eindringen. Der Pfeil in (Fig. 15 A)
bezeichnet die Richtung, in welcher ſie Rüſſel
und Kopf hineinſchieben. Die Röhre der
Blumenkrone iſt bis zur Einfügung der
Unterlippe 7mm lang, die Unterlippe aber
von dieſer Stelle an mit ihrem ſchmalen
baſalen Theile (auf der linken Seite) noch
weitere 3—4 mm aufrecht angedrückt, wo⸗
durch fie den größten Theil des Blüthen—
einganges verdeckt.
Dadurch iſt zahlreichen nutzloſen Gäſten
der Zutritt zum Honige abgeſchnitten. Jede
Hummel dagegen vermag mit Leichtigkeit
den aufrecht angedrückten Theil der Unter—
lippe herabzudrücken und überdieß durch
Ausweitung ihrer beiden Einfaltungen den
Blütheneingang ſo zu erweitern, daß ihr
Kopf, mindeſtens mit ſeinem vorderen Theile,
) Ich beobachtete als regelmäßigen Be—
ſucher ſehr wiederholt Bombus terrestris L. 8
ſaugend und Pollen ſammelnd, B. alticola Kr.
8 ſaugend und einmal Plusia gamma L. ſaugend.
unbewußte Blumenzüchter.
in demſelben Platz findet. Selbſt Bombus
terrestris L. mit dem nur 9 mm klangen
Rüſſel vermag daher raſch auf normalem
Wege zum Honige zu gelangen. Die Staub—
beutel liegen, ohne an den Rändern mit
Schließhaaren verſehen zu ſein, mit den ge—
öffneten Seiten ſo loſe gegen einander, daß
ſie bei jeder kräftigen Erſchütterung Pollen
herausfallen laſſen. Haare zur Verhinder—
ung ſeitlichen Verſtreuens herausfallenden
Pollens ſind in den Staubfäden nicht vor—
handen. Sie ſind hier auch überflüſſig;
denn gegen den Stengel hin bildet die faſt
bis in ſenkrechte Lage links abwärts ge—
dachte Unterlippe eine Schutzfläche, welche
das Verſtreuen verhindert, und von der an—
deren Seite kommt der zu beſtreuende Hum—
melkopf. Der lange, ſchnabelförmige Fortſatz
der Oberlippe hält den Griffel in ſolcher
Lage, daß der Kopf der eindringenden Hummel
die an ſeinem Ende ſitzende Narbe ſtreifen,
alſo, wenn ſie vorher Blüthen getrennter
Stöcke beſuchte, fremdbeſtäuben muß, ehe
er von neuem mit Pollen beſtreut wird.
Auch hier erhellt ohne Weiteres, welche der
genannten Eigenthümlichkeiten den Hummeln
den Alleinbeſitz des Honigs ſichern und als
von ihnen gezüchtet zu betrachten ſind.
Während in allen bisher betrachteten
Fällen die Bienen neben ihrem überlegenen
Blumenverſtande auch ihre körperliche Ge—
ſchicklichkeit benutzt haben, ſich den andern
Beſuchern mehr oder weniger unzugängliche
Blumen zu züchten, ſo beweiſt eine Beo—
bachtung meines Bruders Fritz Müller
in Südbraſilien, daß ihnen, ebenſo wie ihrer
Zeit und an concurrenzfreien Standorten
noch jetzt den Schlupfwespen, auch ihre
bloße Ueberlegenheit im Auffinden in un—
ſcheinbaren Blumen verſteckten Honigs zum
Alleinbeſitz gewiſſer Blumen verhelfen kann.
Mein Bruder ſchreibt mir nämlich, am 14.
März 1873: „Es blüht jetzt hier eine
Cucurbitacee (Trianosperma), deren zahl—
loſe Blüthen geruchlos, grünlich und ganz
unanſehnlich und noch dazu zum größten
Theil unter dem Laube der Pflanze ver—
ſteckt ſind, aber doch eine ganz beſondere
Anziehungskraft auf Bienen zu haben ſcheinen.
Es ſummt und brummt an dieſen Pflanzen
den ganzen Tag; beſonders iſt es Apis
mellifica, die ſich hier einfindet und neben
ihr zwei Meliponen.“
Schon dieſe wenigen aus der unabſeh—
baren Mannigfaltigkeit der Bienenblumen
herausgegriffenen Beiſpiele laſſen erkennen,
daß die Bienen ebenſo als Blumenzüchter
wie als Honig- und Pollenſammler allen
übrigen Inſekten weit überlegen ſind.
Wir find nun zu Ende mit der Auf-
zählung und Betrachtung derjenigen In—
ſektenabtheilungen, welchen es in der ein—
heimiſchen Flora“) gelungen iſt, ſich mehr
oder weniger vollſtändig in den Alleinbeſitz
gewiſſer Blumen zu ſetzen und dieſelben,
ihren Bedürfniſſen und Liebhabereieu ent—
ſchätzung dieſes Alleinbeſitzes vorzubeugen,
wird es gut ſein, auf die thatſächlichen Be—
ſchränkungen derſelben nochmals ausdrücklich
und eingehender, als es bereits geſchehen iſt,
hinzuweiſen. Dadurch dürfte zugleich die
von teleologiſcher Seite mit Vorliebe auf—
geſtellte Behauptung gegenſeitiger Prä—
) In wärmeren Ländern ſollen außer
den hier beſprochenen Inſektenabtheilungen
nach Delpino auch Käfer ſich beſondere Blu—
menformen gezüchtet haben; doch ſcheinen mir
die bis jetzt vorliegenden Beobachtungen des
Inſektenbeſuchs der betreffenden Blumen zur
Abgabe eines endgültigen Urtheils kaum aus—
reichend. Die blumenzüchtenden Vögel, Ko—
libris (Trochilus) und Honigvögel (Nectarinia),
liegen außerhalb unſeres Themas.
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blu menzüchter.
495
deſtination gewiſſer Blumen und gewiſſer In⸗
ſekten für einander, noch vollſtändiger als
durch die übrigen Auseinanderſetzungen allein,
in ihr rechtes Licht geſetzt werden.
An dem Genuſſe der Ekelblumen und
Fliegenfallenblumen, welche der Kreuzung
durch Koth- und Aasfliegen angepaßt ſind,
nehmen, ohne Nutzen für die Pflanzen, auch
Fäulnißſtoffe liebende Käfer Theil. — Falter⸗
blumen mit offenliegenden Antheren, wie
z. B. Nelken und Geisblatt, werden nicht
ſelten von pollenfreſſenden Schwebfliegen und
pollenſammelnden Bienen ihres Blüthen⸗
ſtaubes beraubt. — Obgleich Silene inflata
als ausgeprägte Nachtfalterblume ſich kenn—
zeichnet, und in der That auch, nach meiner
direkten Beobachtung, des Abends häufig
von Eulen beſucht wird (z. B. von Hadena
Maillardi Hb., im Suldenthale, von Plusia
gamma L. bei Weißenſtein im Albulathale),
ſo ſah ich doch in den Alpen auch Hummeln
ſehr häufig an derſelben beſchäftigt und in
ſehr verſchiedener Weiſe ſich ihrer Nahrungs-
ſtoffe bemächtigen. Bald ſammelten ſie den
Pollen dieſer Nachtfalterblume (ſo Bombus
ſprechend weiter zu züchten. Um einer Ueber-
alticola, pratorum und terrestris), bald
ſteckten ſie in vielen Blüthen nach einander
den Rüſſel und Kopf zwiſchen die Blumen⸗
blätter, offenbar um Honig zu ſaugen (ſo
B. alticola, mendax, lapidarius); bis⸗
weilen ſteckten ſie auch den Kopf neben den
Blumenblättern in den Kelch, wohl um ein
Stück der mit dem Rüſſel zu durchmeſſenden
Strecke zu erſparen (B. lapidarius), oder
biſſen die Blüthe, mitten durch den Kelch
durch, von außen an und ſtreckten dann durch
eines der beiden ſo erzeugten Löcher den
Rüſſel, um den Honig zu ſtehlen (B. mas-
trucatus), oder durchbohrten mit den zu—
ſammengelegten Kieferladen den Kelch, um
jo zum Honig zu gelangen (B. terrestris),
und zwar ſah ich dieſelbe Hummel an der—
1 496
ſelben Blüthe ringsum an drei verſchiedenen
Stellen in gleicher Höhe dieſe Durchbohrung
und Anſaugung vornehmen. Auch einzelne
Tagfalter (Lyeaena icarus und Corydon)
ſtreckten ihre Rüſſel in die Blüthen, obgleich
ſie offenbar außer Stande waren, den Honig
derſelben zu erreichen.
Selbſt unſere ausgeprägteſte einheimiſche
Schwärmerblume, Lonicera Perielyme-
num, muß es ſich gefallen laſſen, daß un—
ſere langrüſſeligſte Hummel, B. hortorum,
ihr aus einigen Blüthen, wenn auch mit
großer Unbequemlichkeit und deshalb ohne
Ausdauer, den Honig entwendet. — An der
Schlupfwespenblume, Listera ovata, iſt
auch ein Käfer (Grammoptera laevis) eifrig
beſchäftigt, und einmal ſah ich ſogar eine
Hummel (B. agrorum F.), nutzlos für die
Pflanze, einige ihrer flachen Honigrinnen
auslecken. — Die Wespenblumen werden
gelegentlich auch von Bienen und Grabwespen
heimgeſucht und die Blumenglöckchen der
Schneebeere (Symphoricarpus) von einem
Odynerus von außen angebiſſen und durch
ungen, nur in den ſeltenſten Fällen, ſich
aller „unberufenen“ Eindringlinge vollſtän-
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
dig zu erwehren. In beſonders ſchmetterlings-⸗
reichen Gegenden, wie in den Alpen, ſieht
man Falter auch in die Blüthen der Pa-
pilionaceen, Labiaten und aller möglichen
Bienenblumen, bald ohne, bald mit Erfolg,
ihre Rüſſel ſtecken, und in einigen Fällen,
wie bet Rhinanthus erista galli und Viola
tricolor, iſt es ihnen ſogar, wie wir
geſehen haben, gelungen, bereits völlig aus
geprägte Bienenblumen zu Falterblumen
(Rhinanthus alpinus, Viola calcarata)
umzuprägen.
Unausgeprägtere Bienenblumen, wie z.
N
B.
Thymus und andere kurzröhrigere Labiaten,
müſſen ſich überdieß auch die Concurrenz
zahlreicher Fliegen gefallen laſſen. Die
ausgeprägteſten Bienenblumen aber, welche
ausſchließlich den langrüſſeligſten Hummeln
ihren Honig aufſparen, ſind dadurch um ſo
mehr der Gefahr ausgeſetzt, durch den
gewaltſamen Einbruch einiger kurzrüſſeligen
Hummeln ohne Kreuzungsvermittlung ihres
Honigs beraubt zu werden. So werden in
der Ebene Aquilegia, Dielytra, Corydalis,
Trifolium pratense, Symphytum, Lamium
album und zahlreiche andere Hummel—
blumen von Bombus terrestris, in den
Alpen Aconitum Napellus und Lycoc-
tonum, Rhinanthus, Prunella grandiflora
und andre von Bombus mastrucatus theils
angebiſſen, theils angebohrt und durch Dieb—
ſtahl mit Einbruch ihres Honigs beraubt.
Wie dieſe Beiſpiele, deren Zahl ich leicht
vervielfältigen könnte, ſchon hinlänglich deut—
lich zeigen, verfolgen die Blumengäſte völlig
rückſichtslos nureigenen Vortheil und kümmern
ſich nicht im allermindeſten um ihre an—
Einbruch des Honigs beraubt. — Selbſt
den ausgeprägteſten Bienenblumen gelingt
es, trotz der mannigfachſten Schußvorridt- |
lingen oder Bienen gelungen, ſich durch
gebliche Prädeſtination für gewiſſe Blumen
oder gewiſſer Blumen für ſie. Nur verhält—
nißmäßig ſelten iſt es daher Fliegen, Schmetter—
Züchtung ihrer Lieblingsblumen in den völlig
ausſchließlichen Alleinbeſitz derſelben zu ſetzen;
in der Regel ſind vielmehr einzelne für die
Kreuzungsvermittlung nutzloſe oder weniger
wichtige Inſekten anderer Abtheilungen an
dem Mitgenuſſe der dargebotenen Genuß—
mittel betheiligt geblieben, oder haben ſich,
nachdem die ſorgfältigſte Verwahrung der—
ſelben gegen unberufene Gäſte bereits erreicht
war, räuberiſcher Weiſe nachträglich durch
gewaltſamen Einbruch wieder in den Mit—
genuß derſelben geſetzt. Für erfolgreiche
Züchtung von Blumen aber iſt es, wie wir
ebenfalls aus dieſen Beiſpielen erkennen
Müller, Die Inſekten als
unbewußte Blumenzüchter.
können, ſchon hinreichend, wenn gewiſſe In-
ſekten, die ſich beſonders zu ihrer Ausnutz-
ung hingezogen fühlen, durch irgend welche
Eigenſchaften in den Stand geſetzt ſind,
ſich in vorwiegenden Beſitz oder annähernden
Alleinbeſitz derſelben zu ſetzen.
Dies freilich war bei allen bisher be—
trachteten ſpeciellen Züchtungsprodukten be—
ſtimmter Inſektenabtheilungen der Fall und
würde bei denſelben überhaupt wohl immer
der Fall ſein müſſen, wenn es nicht unter
den Inſekten eine gewiſſe Geſellſchaft eifriger
Blumenbeſucher gäbe, die, mit geringem
Nahrungsbedürfniß und ausgeprägtem Schön—
heitsſinn ausgeſtattet, ſich in gewiſſe farben—
prächtige Blumen förmlich verliebten und
dieſelben, unbeirrt durch die Concurrenz zu—
fälliger Gäſte, regelmäßig beſuchten. Manche
Schwebfliegen, wie z. B. Syrphus baltea-
tus), Syritta pipiens, Ascia podagrica,
befinden ſich unſtreitig in dieſem Falle, und
mehrere ihrer Lieblingsblumen (einige Cir—
caea- und Veronica-Arten) find in jo zier—
licher Weiſe ihrer eigenthümlichen Beweg—
ungsweiſe angepaßt, daß ſie wohl den Namen
Schwebfliegenblumen verdienen, ob-
wohl ihr nur ſehr flach geborgener Honig
und ihr völlig offen dargebotener Blüthen—
ſtaub auch von mancherlei anderen Inſekten
gelegentlich ausgebeutet wird, die aber dabei
gar nicht oder nur zufällig fremdbeſtäubend
wirken. Zur Veranſchaulichung kann uns
die in den Alpen häufige Veronica ur-
ticaefolia (Fig. 14) dienen, deren blaßroſa—
farbene Blumen mit einem die Mitte um—
ſchließenden ausgezackten weißen Ringe und
von dieſem ausſtrahlenden dunkelrothen Linien
497
fliege im Sonnenſchein vor der Blume ſchweben
und an ihrer Farbenpracht ſich weiden, dann
mit plötzlichem Ruck auf ihr unterſtes Blumen—
blatt auffliegen, einige Schritte vorwärts
thun, bis ſie die ſo ſcharf ſich abhebende
honighaltige Mitte erreicht hat und, um den
Honig zu lecken, dicht neben derſelben Halt
ſuchen, ſodann nach dem Honiggenuſſe von
Neuem im Sonnenſcheine ſchweben, ſtoßweiſe
an eine andere Stelle rücken, an anderen
Blüthen derſelben Art in gleicher Weiſe ſich
ergötzen und ſo fort, ſo hat man ein rich—
tiges Bild der Blumenthätigkeit dieſer ſelbſt
prächtig gefärbten Fliegen, als deren Zücht—
ungsprodukt wir die ſo ſchön ausgeprägte
Färbung ihrer Lieblingsblumen zu betrachten
haben. Naturzüchtung hat nun in eben ſo
einfacher als ſicher wirkender Weiſe Staub—
gefäße und Griffel ihren Bewegungen an—
gepaßt. Denn ſobald die Schwebfliege mit
den Vorderbeinen an der Blüthenmitte Halt
ſuchte, bieten ſich ihr als einzige Haltpunkte
die verdünnten Wurzeln der beiden Staub—
fäden und wenn ſie an dieſen ſich feſt—
haltend den Mund zum Honige hinab
bewegt, dreht ſie dieſelben im Nu, ohne es
zu wollen, ſo, daß ihr die Staubbeutel an
die Bauchſeite ſchlagen und dieſe mit Pollen
behaften, und ſobald ſie dann ebenſo auf
eine andere Blüthe auffliegt, ſetzt fie un—
vermeidlich einen Theil dieſes Pollens auf
der Narbe derſelben ab.“)
) An Veronica Chamaedrys habe ich
verſchiedene Schwebfliegen, namentlich Ascia
podagrica, Baccha elongata und Melanostoma
I}
geziert find. Man denke ſich nun eine Shweb- \
Blütheneinrichtung nur durch etwas kürzeren
) Ich verweiſe auf die Schilderung, welche
ich von ihrem Verhalten an Verbascum
nigrum gegeben habe. Befruchtung der Blumen
S. 278. Anm.
|
mellina ſehr wiederholt in dieſer Weiſe ver—
fahren ſehen, an V. urticaefolia noch nicht.
Die letztere iſt aber von der erſteren in ihrer
und aufrechteren Griffel, den Mangel der
Saftdecke und feſter ſitzende Blumenkrone unter—
ſchieden und bietet ganz denſelben Beſtäub—
ungsmechanismus dar.
498
Zum Schluſſe drängen wir die allge—
meinen Ergebniſſe der vorſtehenden Aus—
einanderſetzungen in folgende Sätze zuſammen:
1) Alle unſere Blumen ſind Produkte
der combinirten Wirkung zweier verſchie—
denen Züchtungsarten. Die unmittelbar nur
den beſuchenden Inſekten nützlichen Eigen—
ſchaften der Blumen (bunte Farben, Gerüche,
Obdach, Genußmittel, Schutzmittel derſelben
gegen unberufene Gäſte und Wetterungunſt,
Erleichterungsmittel für ihre Ausbeutung
durch die berufenen Gäſte) ſind hauptſächlich
durch die Blumenauswahl der Inſekten, alle
unmittelbar nur der Pflanze nützlichen Ei—
genſchaften der Blumen (Sicherung der
Kreuzung bei eintretendem, der Selbſtbe—
fruchtung bei ausbleibendem Inſektenbeſuche,
Schutzmittel der Befrüchtungsorgane gegen
Wetterungunſt und Feinde) ſind durch eine
von der Wahl der Inſekten unabhängige
Naturausleſe gezüchtet worden: die beiden
zugleich nützlichen ſind das Produkt der
combinirten Wirkung beider Züchtungsarten.
2) Die urſprünglichſten Blumen ſind
größtentheils (Ausnahme z. B. Salix) ein⸗
fach, offen, regelmäßig geſtaltet und einer
gemiſchten Geſellſchaft verſchiedenartigſter Be—
ſucher ausgeſetzt geweſen. Dieſe haben ſich
nur auffallende Farben, Gerüche und Nektar
zu züchten vermocht.
3) Aus der urſprünglichen gemiſchten
Blumenzüchtergeſellſchaft ſind durch beſondere,
den übrigen Blumengäſten antipathiſche Ge—
ſchmacksrichtung die Fäulnißſtoffe liebenden
Dipteren, durch beſondere Befähigung zur
Bearbeitung gewiſſer Blumenabänderungen
Schmetterlinge, Schlupfwespen, Grabwespen,
ächte Wespen, Bienen und Schwebfliegen
als ſpecielle Blumenzüchter hervorgetreten.
4) Die Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren
haben ſich von andern Gäſten verabſcheute
Ekelblumen gezüchtet. Der Naturzüchtung
Müller, Die Inſekten als
unbewußte Blumenzüchter.
iſt hauptſächlich die Dummdreiſtigkeit der
Dißpteren zu ſtatten gekommen; dieſe hat
zur Ausbildung von die Kreuzung durch
Dipteren ſichernden Keſſelfallen-, Klemm—
fallen- und Täuſch-Blumen geführt.
5) Aus dem gemiſchten Beſucherkreiſe
der übrigen, in ihrer Geſchmacksrichtung an—
nähernd übereinſtimmenden Blumengäſte ſind
allmälig langrüſſeligere, einſichtigere und
geſchicktere hervorgegangen und haben ſich
dümmeren, kurzrüſſelig gebliebenen Gäſten
unauffindbaren oder unerreichbaren Honig,
Safthalter, Saftdecken und Saftmale gezüchtet.
6) Aus dieſem gewählteren Kreiſe als
ſelbſtſtändige Blumenzüchter hervorzutreten
waren die Schmetterlinge durch die Dünn-
heit, einige derſelben, die Schwärmer, durch
die Länge ihres Rüſſels befähigt. Sie
züchteten die durch Engheit der Honigzugänge
charakteriſirten Falterblumen und die lang—
röhrigen Schwärmerblumen, die ſich durch
Farbe- und Blüthezeit, entſprechend ihren
Züchtern, in Tag- und Nachtfalterblumen,
Tag⸗ und Nachtſchwärmerblumen und Zwi-
ſchenſtufen zwiſchen beiden unterſcheiden laſſen.
Der ausgeprägte Geruchsſinn der Schmetter—
linge ſpricht ſich in würzigem Wohlgeruche,
der ausgeprägte Farbenſinn der Tagfalter
in der lieblichen Farbe ihrer Züchtungs—
produkte aus.
7) Die Schlupfwespen waren ihrer Zeit
allen übrigen Blumenbeſuchern durch ihre
Fähigkeit im Umherſuchen und Auffinden
überlegen und dadurch in den Stand geſetzt,
ſich unſcheinbare Blumen zu züchten, die der
Nachforſchung anderer Inſekten entgingen.
Nach dem Auftreten der Grabwespen und
Bienen aber waren Schlupfwespenblumen
nur noch an von dieſer Concurrenz wenig
| betroffenen Standorten möglich.
8) Die Grabwespen haben wahrſchein—
lich die Schlupfwespen als Blumenzüchter
Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter.
größtentheils abgelöſt und verdrängt und Blumenzüchter haben (wenigſtens in der ein—
ſich ſelbſt Blumen gezüchtet, welche ein Aus—
einanderzwängen eng zuſammenſchließender
Theile oder ein Hineinkriechen in Höhlen,
oder andere nur Höhlengräbern eigne Be—
wegungen erfordern und dadurch den meiſten
anderen Blumenbeſuchern unzugänglich waren.
Später ſind aber die Bienen in den vollen
Mitbeſitz der Grabwespenblumen eingetreten
und haben die meiſten derſelben zu Bienen—
blumen weitergezüchtet.
9) Die ächten Wespen vermochten ſich
durch die Gefürchtetheit ihres Stachels (und
ihrer Kiefer) in den Alleinbeſitz gewiſſer
honigreicher und mit weiter Oeffnung ver—
ſehener Blumen zu ſetzen und dieſelben ihrer
Fähigkeit und Neigung entſprechend weiter
zu züchten; ihre Züchtungsprodukte werden
aber an wespenärmeren Orten auch von |
mechanismus durch Naturzüchtung zu ver
10) Die hervorragendſte Rolle als
andern Inſekten ausgebeutet.
Kosmos, Band III. Heft 6.
heimiſchen Blumenwelt) als die der Blu—
mennahrung bedürftigſten, arbeitſamſten und
geſchickteſten blumenſteten Inſekten die Bie—
nen gejpielt, Sie haben uns die zahlreichſten,
mannichfaltigſten und am ſpeciellſten aus—
gearbeiteten Blumenformen geliefert, deren
kunſtgerechte (naturgemäße) Behandlung zum
großen Theile die Ausführung derſelben
Bewegungen erfordert, welche die Bienen
bei ihrem Brutverſorgungsgeſchäfte auszu—
üben ererbt und erlernt haben.
11) Endlich iſt es auch einigen, lebhafte
Farben liebenden und ſelbſt mit ſolchen ge—
ſchmückten, nicht beſonders nahrungsbedürf—
tigen Schwebfliegen gelungen, einige Blümchen
ihrer Geſchmacksrichtung entſprechend zu
züchten und die Ausprägung eines zier—
lichen, ihnen ſpeciell angepaßten Beſtäubungs⸗
anlaſſen.
— — — > — — 0
64
Der Daltonismus.“)
Ein Bericht über eigene Erfahrungen und Theorien, ſowie über Experimente,
die in Gemeinſchaft mit Prof. W. Spring angeſtellt wurden,
von
Dr. J. Delboeuf,
Profeſſor an der Univerſität Lüttich.
1. Beſchreibung und Problem-
Stellung.
J
NN,
mus ift nach meiner Mein—
ung in gewiſſer Beziehung
eines der intereſſanteſten, wel—
begierde darbieten können. Es berührt die
Phyſiologie ebenſo wie die Phyſik, die Aeſthetik
einmal der Philologie und Geſchichte fremd.
Es reicht hin, zu ſagen, daß man, um es
). Problem des Daltonis⸗
I
|
mit Erfolg nach allen dieſen Richtungen
anzugreifen, eine gute Zahl ſehr ſchwieriger,
zum Theil noch in den Kinderſchuhen ſtecken—
der Wiſſenſchaften beherrſchen müßte.
Es iſt nicht ſeit geſtern, daß ich mich
mit dieſem Problem beſchäftige. Ich erinnere
mich einer Scene aus meiner Jugend, die
für mit ſeitdem der Gegenſtand vieles Nach—
denkens geweſen iſt. Ich mochte acht bis
neun Jahre alt ſein und beſuchte die Pri—
märſchule. Mit meinen kleinen Kameraden
in der Klaſſe vereint, ſprachen wir eines
ſo gut wie die Pſychologie, und bleibt nicht
Tages, bevor die Unterrichtsſtunde geſchlagen
hatte, dieſes und jenes. Ich weiß nicht mehr,
durch welche Veranlaſſung ich dazu kam,
) Anm. d. Red. Die Farbenblindheit
iſt in der Neuzeit ſo oft für darwiniſtiſche
Speculationen verwerthet worden (Vgl. Kos-
mos I. S. 274) daß wir die uns gebotene
Gelegenheit nicht vorüber gehen laſſen dürfen,
die beſte und gehaltvollſte Arbeit, die über
dieſen Gegenſtand überhaupt erſchienen iſt,
unſeren Leſern darzubieten. Mit freundlicher
Erlaubniß des Herrn Verfaſſers haben wir
den beſchreibenden und geſchichtlichen Theil
zu ſagen: die Zunge iſt blau. Dieſer
ſeiner Arbeit, ſowie auch die Schlußbemerk—
ungen, wörtlich wiedergegeben; die Experi—
mente und unmittelbar daran geknüpften
Schlüſſe dagegen, in Form eines Referates,
ſo daß wir für die Einzelheiten und die mathe—
matiſche Begründung der Theorie auf die aus—
führlichere und mit zahlreichen Abbildungen
erläuterte Original-Abhandlung (Revue scien-
tifique T. VII. Nr. 38. 1878.) verweiſen müſſen.
n
Ausſpruch rief allerſeits einen Ausbruch un-
ſtillbaren Gelächters hervor. Man glaubte
ohne Zweifel, daß ich Witze machen wollte.
Ich war im Gegentheil ſehr ernſt geſtimmt,
und begriff nichts von den heftigen Ver—
neinungen, die man mir entgegenwarf.
„Wie! die Lippen ſind nicht blau?!“ rief
ich mit Erregung, „dieſe Wangen da“ —
und ich zeigte auf die lebhafte Röthe, welche
das Antlitz eines meiner Mitſchüler zierte,
— „dieſe Wangen ſind nicht blau?!“
„„Roth!!““ ſchrie man mir von allen Seiten
entgegen. Dieſe einſtimmigen Rufe brach—
ten mich außer mir. Ich kannte doch, oder
ich glaubte vielmehr rothe Dinge zu kennen,
z. B. die Klatſchroſen, und ich ärgerte mich
umſomehr, als ich nicht die geringſte Aehn—
lichkeit zwiſchen der Farbe der Lippen und
derjenigen dieſer prächtigen Blume der Fel—
der finden konnte, während man dabei blieb,
die Wangen jenes roſigen und friſchen Jun—
gen beſäßen die nämliche glänzende Farbe.
Schließlich kam ich zu der Ueberzeugung,
daß ſie ein Complot gemacht hätten, um
ſich über mich luſtig zu machen, und erſuchte
ſie, freilich ohne Erfolg, mit dem Scherze
ein Ende zu machen. Darauf erſchien der
Lehrer und der Gegenſtand des Streites
war vergeſſen.
Nach Hauſe gekommen, frug ich meine
Mutter, welche mir genau dieſelben Ant-
worten gab, wie meine Schulkameraden.
Ich begriff damals oder glaubte vielmehr
zu begreifen, daß ich die Farbenbezeichnun—
gen ſchlecht anwende. Ich ließ mich be—
lehren und verſuchte genau die verſchiedenen
Farbentöne eines karrirten Tuches und die—
jenigen gemuſterten Stoffe, welche ſich in
großer Menge im Hauſe befanden, zu be—
zeichnen. Ich erwarb ſchnell genug eine
gewiſſe Geſchicklichkeit darin und bildete mir
ein, daß ich mit einiger Uebung und großer
Delboeuf, Der Daltonismus.
Aufmerkſamkeit dahin gelangen würde, mei—
nen Freunden keine fernere Gelegenheit zu
geben, auf meine Koften zu lachen. In⸗
deſſen fuhr das Roth fort, mir abſcheuliche
Streiche zu ſpielen. Es gab gewiſſe Arten
von Roth, denen ich ziemlich richtig ihren zu—
kommenden Namen beilegte, aber es gab
andere, die ich fortfuhr, blau zu ſehen,
andere, die mir braun erſchienen und end—
lich tief gelbe und grüne. Grün und Violet
ſelbſt unterließen nicht, mich häufig genug
in Verwirrung zu bringen und von dem
Augenblicke, wo man auf die Vergleichung
von blaßblauen und Lila-Tönen einging, war
ich nicht mehr zu Hauſe.
Dieſe Sonderbarkeiten hatten an ſich
nichts Schlimmes, unangenehmer waren ſchon
gewiſſe Folgen derſelben. Wenn ich in den
erſten Tagen des Sommers mit meinen
jungen Freunden die Gehölze der Umgegend
Lüttich's durchſtreifte, war ich ebenſo geſchickt
wie ſie, Heidelbeeren zu ſammeln, aber die
Erdbeeren entſchlüpften meinem Blicke immer,
oder wurden erſt entdeckt, wenn ich dicht
mit der Naſe daran war. Zuweilen mad-
ten Jene mich ſchon aus einiger Entfern—
ung auf ſchöne, mit appetitlichen Kirſchen
prangende Bäume aufmerkſam, und ich —
ich war nicht im Stande, ſie zu unterſcheiden.
Dann im Herbſte ſah ich oft ihre Augen
beim Anblicke gewiſſer, unter der Laſt ihrer
purpurnen Früchte gebeugten Apfelbäume
vor Begierde erglänzen, während allein die
gelben Aepfel den Vorzug beſaßen, meine
Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen.
Inzwiſchen verharrte ich dabei, meine
anſcheinende Schwäche einem Gedächtniß—
fehler hinſichtlich der Farben-Eigenthümlich⸗
keiten zuzuſchreiben. Im Jahre 1846 klärte
mich ein Journal-Artikel, der vom Dalto—
nismus handelte, über die Beſonderheit
501 |
meines Sehorganes auf. Ich legte mich
|
502
feit damals darauf, unter meinen Kamera—
den diejenigen zu entdecken, welche ſie mit
mir theilten, und begegnete in der That
einer gewiſſen Zahl derſelben unter ihnen.
Man erzählt, daß Dalton, weit ent—
Delboeuf, Der Daltonismus.
mit Unrecht an und dadurch paſſirt es ihnen,
daß, wenn ſie den Anderen ausſchließlich
von ihren eigenen Empfindungen Rechen—
fernt, ſich über die Unvollkommenheit ſeines
Geſichtsſinnes zu beunruhigen, vielmehr ein
gewiſſes Vergnügen daran gefunden, das
Erſtaunen oder die Freude zu bemerken,
welche ſeine Mißgriffe andern verurſachten.
Ich meinestheils empfand ein gewiſſes Ver—
gnügen, der Gegenſtand — im Allgemeinen
natürlicher — Fragen zu ſein, auf die ich eine
Antwort ſchuldig bleiben mußte.
„Wie!“ ſagt man mir noch alle Tage,
„Sie erblicken die Röthe der Lippen und
das Inkarnat der Wangen blau? die Leute
müſſen Ihnen grauenhaft erſcheinen! —
Was ſehen Sie nun eigentlich, wenn man
Ihnen Roth zeigt? — Welcher Farbe gleicht
das Grün in Ihren Augen? — Iſt es
nun das Rothe, welches Sie für Grün
halten, oder das Grüne, welches Sie für
Roth anſehen?“ Ich ſetze mich ſogar wenig
gegründeten Vorwürfen aus, wenn ich ein—
mal das Unglück habe, richtig zu rathen,
und einem Gegenſtande ſeine wahre rothe
oder grüne Farbe beizulegen. Alsdann arg—
wöhnt man ſogleich, daß ich die Welt myſti—
ficiren wolle. „Sehen Sie wohl“ ruft
man dann, „daß Sie die Farben unter—
ſcheiden können und daß Sie ſich nur täu—
ſchen, wenn es Ihre Abſicht iſt!“ — Das
iſt die Sprache, welche ich ſelbſt von den
unterrichtetſten Perſonen hören muß, und
gewöhnlich gelange ich nur mit großer Mühe
dahin, ihnen zu zeigen, wie ſehr ſchwer es
iſt, ihrer Neugierde zu genügen.
Die Daltonianer, gezwungen, ſich eines
Wörterbuches zu bedienen, welches nicht für
ſie gemacht iſt, wenden gewiſſe Worte dem
gewöhnlichen Sinne gegenüber verkehrt und
ſchaft abzulegen glauben, ſie doch bei ihren
Zuhörern ganz verſchiedene Ideen erwecken.
Es iſt nicht einmal gewiß, ob die Bezeich—
nungen Gelb und Blau, von denen ſie
manchmal einen anſcheinend correcten Ge—
brauch machen, in ihnen denſelben Empfind—
ungen entſprechen, wie in anderen Menſchen.
Es würde ſehr wohl geſchehen können, daß
wenn durch ein Wunder die Seele eines
Daltonianers ſich in den Körper einer Per—
ſon mit normalem Auge verſetzt fände,
dann derſelbe gelbe oder blaue Gegenſtand
auf ſie einen ganz anderen Eindruck machen
würde.
Wir dürfen dieſe Bemerkung kühn ver—
allgemeinern. Die Gleichförmigkeit in der
Anwendung der Ausdrücke des Wörterbuchs
der Empfindungen, beweiſt keineswegs die
Gleichheit der Eindrücke, welche ſie bezeich—
nen; man darf daraus einzig ſchließen, daß
dieſe Eindrücke bei einer und derſelben Per—
ſon gleichbleibende Eigenſchaften beſitzen.
Wenn zum Beiſpiel Peter und Paul immer
die größte Uebereinſtimmung in der An—
wendung der Farbennamen bewähren, fo
iſt damit keineswegs bewieſen, daß ſie immer
das Gleiche ſehen. Es iſt möglich, daß
das, was der Eine Gelb nennt, für den
Anderen Roth wäre, wenn man ihre See—
len die Körper tauſchen laſſen könnte. Aber
das hindert in keiner Weiſe, daß daſſelbe
Wort beiderſeits ſtets zur Bezeichnung des—
ſelben äußern Gegenſtandes gebraucht wer—
den kann.
Sollte es uns jedoch für immer ver—
ſagt ſein, die von ein und derſelben phyſi—
ſchen Erſcheinung in zwei empfindenden
Weſen erregten pſychiſchen Wirkungen mit
einander zu vergleichen? Iſt die Seele eines |
Delboeuf, Der Daltonismus.
jeden von uns abſolut abgeſchloſſen und
ſind wir darauf beſchränkt, blos zu errathen,
niemals zu durchdringen, was bei unſeres
Gleichen innerlich vorgeht? Sind die Em
pfindungen gänzlich unmittheilbar? Muß
man für immer aufgeben, jemals eine Breſche
in dieſe Mauer gelegt zu ſehen, die den
inneren Schauplatz abſchließt? Dieſe beim
|
erſten Blick fo verwegenen Fragen find im
Grunde nur die Ueberſetzung oder vielmehr
der verallgemeinerte Ausdruck der naiven
Fragen, die man ſo oft an die Daltonianer
richtet. Wenn es ſich nur darum handelte,
a priori aus der Univerſalität und Ein—
fachheit der Naturgeſetze gefolgerte Antworten
zu geben, ſo würde es nicht ſehr ſchwierig
ſein, ſie zu finden, aber die Thatſache des
Daltonismus ſelbſt ſtraft alle Erklärungen
Lügen, welche von der Einheit des Planes
der Menſchen ausgehen wollten. Das, was
ung des Problems; wir wollen, daß jede
Behauptung von leicht discutablen Proben
begleitet ſei; wir wünſchen mit einem Worte,
unſere Ueberzeugung auf etwas anderes zu
bauen, als auf den beweglichen Sand me—
taphyſiſcher Speculationen.
2. Geſchichte.
Es iſt nicht ſeit gar lange, daß die
Aufmerkſamkeit der Gelehrten auf die Un—
regelmäßigkeiten des Farbenſinnes gerichtet
worden iſt.
bis zum Jahre 1777 hinauf. Sie betraf
die Gebrüder Harris und war ſehr ſum—
mariſch in einem Briefe von Joſeph Huddart
an Joſ. Prieſtley mitgetheilt. Der erſte
wiſſenſchaftlich beſchriebene Fall iſt derjenige
des berühmten engliſchen Phyſikers und | 1810
„Im Laufe des Jahres 1790“ erzählt
Dalton, „beſchäftigte ich mich mit Botanik
und dieſes Studium lenkte im Beſonderen
meine Aufmerkſamkeit auf die Farben. Wenn
ich Weiß, Gelb oder Grün vor mir
hatte, nannte ich dieſe Farben ohne Weiteres
bei ihrem Namen, während ich beinahe keinen
Unterſchied zwiſchen röthlich Blau, Vio—
let und Karm in machte. Indeſſen wurde
mir die Eigenthümlichkeit meines Auges
erſt im Herbſte 1792 genau bekannt. Ich
unterſuchte eines Tages eine Blume von
Geranium (Pelargonium) zonale bei Ker—
zenlicht. Dieſe Blume, welche mir am
Tage blau erſchien, und welche in Wirk—
lichkeit violet iſt, erſchien mir jetzt von
einer rothen, der blauen völlig entgegenge—
ſetzten Farbe. Andern Perſonen war ein
| folder Farbenwechſel nicht bemerkbar.“
aller empfindenden Weſen, oder ſelbſt nur
„Da mir dieſe Beobachtung gezeigt hatte,
daß meine Farben-Empfindung von der—
wir hier ſuchen, iſt eine experimentale Löſ⸗
eine und dieſelbe Farbe ſehe.
Die erſte Erwähnung ſteigt
jenigen anderer Perſonen verſchieden war,
unterſuchte ich das Sonnenſpektrum und
überzeugte mich bald, daß ich anſtatt der
ſieben Spektralfarben nur drei ſah: Gelb,
Blau und Purpur. Mein Gelb enthielt
Roth, Orange, Gelb und Grün der ande—
ren Leute. Mein Blau verſchmilzt ſo mit
dem Purpur, daß ich da beinahe nur
Der Theil
des Spektrum's, welchen man als roth be—
zeichnet, erſcheint mir kaum anders als ein
Schatten oder Lichtmangel. Das Gelb,
Orange und Grün gelten für mich als die—
ſelbe Farbe in verſchiedenen Graden der
Sättigung. Der Punkt des Spektrums,
in welchem Grün und Blau ſich berühren,
bietet mir einen äußerſt ſchlagenden Contraſt
) Extraordinary Facts relating to the
ns of colours; with observations by Mr.
Chemikers Dalton, der ihn mit der ihm | John Dalton, Mem. of the Liter, and Philos,
eigenen Sorgfalt unterſucht hat.“)
|
Societ. of Manchester V. p. I (1798) p. 28.
504
und eine höchſt grelle Verschiedenheit. Am
Tage gleicht das Karmin einem Blau, dem
man ein wenig dunkles Braun beigemiſcht
hat. Ein Dintenfleck auf weißem Papier
zeigt mir dieſelbe Färbung wie das Antlitz
einer von Geſundheit ſtrotzenden Perſon.
Das Blut gleicht dem geſättigten Grün
der Flaſchen. Beim Kerzenlichte werden
Noth und Scharlach glänzender und leb—
hafter. Das Grün erſcheint mir am Tage
wenig von dem Rothen verſchieden. Orange
und Hellgrün gleichen fi ebenfalls ſehr.
Ein ſtark geſättigtes Grün iſt für mich das
angenehmſte Grün und ich unterſcheide es
Empfindung genau die nämliche, wie die—
jenige von Jedermann.“
Alle dieſe Züge charakteriſiren bis auf
menheiten meiner eigenen Farbenempfindung.
ins Gras gefallenene Stange Siegellack er—
kennen, und er würde aller Wahrſcheinlich—
keit nach, wie ich, die zinnoberrothen Früchte
des Ebereſchenbaums für braune und ſchwarze
Beeren genommen haben und die Blumen
der japaniſchen Quitte kaum von der Rinde,
oder die Beeren der Stechpalme von dem
dunklen Grün ihres Laubes unterſchieden
haben. Auch er würde, wie ich, die Farbe
eines neuen Ziegelhauſes von derjenigen
einer friſch gemäheten Wieſe ſchwer unter—
ſchieden haben. Die Thatſache iſt charakte—
riſtiſch genug, um mir zu geſtatten, auf
einige Einzelheiten einzugehen. Es war gegen
Ende des Monat Juni. Ich betrachtete in
der Ferne auf dem Abhange eines bewal—
deten Hügels einen baumloſen grünen Fleck
— die Wieſe, von der ich ſoeben ſprach —
und dennoch gelangte ich höchſtens, nachdem
| man mir das Haus gezeigt, welches ein
ſehr geringe Abweichungen die Unvollkom⸗
neuen Werke des Profeſſor Holmgren !)
Ich würde nicht beſſer als Dalton eine
um ſo beſſer, je mehr es ins Gelbe zieht.
Was Gelb und Orange anbetrifft, ſo iſt meine
Delbveuf, Der Daltonismus.
rothes Viereck aus dem Grunde ſchnitt,
dazu, die Umriſſe deſſelben zu erkennen.
Peter Prévoſt von Genf war der
Erſte, welcher dieſem Geſichtsmangel den
Namen Daltonismus beilegte. Die Deut—
ſchen und Engländer nennen ihn Farben—
blindheit (oder genauer Rothblind—
heit)... Der Daltonismus kommt häufiger
vor, als man gewöhnlich annimmt. Unter
neunzehn Zuhörern, die ich in Gent hatte,
befanden ſich zwei Daltonianer, der Eine
war es ſogar im äußerſten Grade. Viele
Perſonen ſind es, ohne es zu wiſſen, und
ich habe Gelegenheit gehabt, mehrere erſt
auf den unvollkommenen Zuſtand ihres
Sehvermögens aufmerkſam zu machen. Die
größte Mehrzahl bemerkt wohl, daß ihrem
Auge ein Mangel anhaftet, ohne ſich aber
über die Natur deſſelben klar zu werden.
Es giebt über dieſen Punkt in dem
ein durch die Klarheit der Auffaſſung und
die Feinheit der Analyſen ſo ausgezeichnetes
Kapitel, daß ich nichts beſſeres thun kann,
als den Inhalt deſſelben hier wiederzugeben.
Die Farbenblindheit, jagt Holmgren,
iſt keine Krankheit, es iſt ein wirklicher
Farbenſinn, nur einfacher als der gewöhn—
liche. Daher geſchieht es, daß der damit
Behaftete unter die nämliche Rubrik Farben
ſtellt, welche für die Andern verſchieden
ſind . . . Es ſcheint, daß die Farbenblinden
leicht zu erkennen ſein müßten, aber die Er—
fahrung beweiſt das Gegentheil. Der Ver—
faſſer hat das geſammte Perſonal einer
Eiſenbahnlinie der Unterſuchung unterworfen,
und es iſt ihm dabei offenbar geworden,
daß eine Menge von Beamten, trotzdem
ihre Stellung ſie nöthigt, Tag und Nacht
) Ueber die Farbenblindheit in ihren
Beziehungen zum Eiſenbahn- und Seeweſen.
Stockholm 1877.
Delboeuf, Der Daltonismus.
auf die Farbenſignale zu achten, einen man—
gelhaften Farbenſinn beſaßen, ohne daß ſie
ſelbſt oder andere es geargwöhnt hätten.
Die Erklärung dieſer ſonderbaren Thatſache
liegt in Folgendem:
Unſere Sinne werden zu gänzlich prak—
tiſchen Zwecken auf die Kenntniß der Außen—
welt gerichtet. Daher kommt es, daß die
Geegenſtände durch uns ſelbſt und in be—
ſtändiger Weiſe mit Eigenſchaften, welche im
Grunde nur unſre eigenen Empfindungen
darſtellen, behaftet und umkleidet werden.
Das geht ſoweit, daß ein rother Teppich
ſelbſt in der Dunkelheit und wenn wir ihn
gar nicht anſehen. Wenn man alſo einem
Kinde ſagt, dieſer Teppich iſt roth, ſo be—
hält es die Bezeichnung und wird ſie mit
Teppich ſehen wird. Thatſächlich indeſſen,
es ihn wieder erkennt, ſondern eine Vielheit
von Eigenthümlichkeiten, bei welcher die
Farbenwirkung im Grunde nur eine ſekun—
dieſe Weiſe lernen, daß der Himmel blau,
das Gras grün, und der Ziegelſtein roth
iſt, und ungeachtet deſſen, daß nach ſeinen
Augen der Ziegelſtein möglicherweiſe beinahe
dieſelbe Farbe beſitzt, wie das Gras, wird
es niemals darauf verfallen, die Dinge zu
vertauſchen, und dem einen derſelben eine
Eigenſchaft beizulegen, die ihm nicht zukommt.
Auf dieſe Weiſe — wenn mir die Paren—
theſe erlaubt iſt — glaubte ich die rothe
Farbe zu kennen, weil ich den wilden Mohn
in einem Getreidefelde zu unterſcheiden im
Stande war.
Ohne Zweifel empfinden die Farben—
blinden einige Schwierigkeiten, um ſich zu—
rechtzufinden, und verſtehen gewiſſe Unter—
für uns immerdar als rother Teppich gilt,
Genauigkeit wieder anwenden, ſo oft es dieſen
iſt es nicht einzig die rothe Farbe, an welcher
däre Rolle ſpielt. Sei es nun normal em⸗
pfindend oder nicht, das Kind wird auf
I
505
ſcheidungen nicht, welche die Andern aufjtellen;
indeſſen ſagt ſich die Mehrzahl derſelben
nach einigen fruchtloſen Anſtrengungen, daß
die Farben wohl gewiſſe kleine Probleme
darbieten, welche ſie zu löſen nicht beſtimmt
ſeien, und denken nicht weiter daran. Aber
andere Perſonen gehen weiter; ſie legen ſich
hartnäckig darauf, den unterſcheidenden Cha—
rakter der von ihnen verwechſelten Farben
zu ergründen; ſie ſuchen ihn in einer Eigen—
heit der Nüancirung oder Helligkeitsſtufe,
erlangen eine große Geſchicklichkeit, ſie dar—
nach zu unterſcheiden, und endigen damit, —
ſich über ſich ſelbſt zu täuſchen.
Es giebt indeſſen Umſtände, bei denen
anſcheinend der Farbenblinde ſeinen Mangel
nothwendigerweiſe entdecken muß, nämlich
wenn er genöthigt iſt, ſeine Handlungen nach
den Farben der Dinge zu richten, wie die
Maler, Kleidermacher, Seeleute und Eiſen—
bahnbeamten. Und ſelbſt da tragen eine
Menge von Urſachen dazu bei, ihnen ihren
Mangel zu verbergen. Auf dem Lande
und bei den untern Klaſſen achtet man wenig
auf die Farben der Gegenſtände. Iſt ein
Gefäß, ein Möbel und dergl. zu bemalen,
io verlangt man vor Allem, daß ſie eben
angeſtrichen werden und daß die Farbe
glänze, gleichviel ob ſie roth, grün oder
braun ſei. Handelt es ſich darum, ein
Kleidungsſtück auszubeſſern, ſo bleibt die
Hauptſache, daß man das Loch ſtopft, und
betrachtet es als nebenſächlich, ob der Flicken
dieſelbe Farbe wie das Uebrige habe. Der
Zugführer, welcher ſeine Lokomotive leitet
iſt dabei anfänglich niemals allein; dann,
da er ſich die Orte bald merkt, an denen
gewöhnlich Signale gegeben werden, lernt
er ſie an der beſondern Helligkeit der Farbe
unterſcheiden, und hat nachher keinen Grund,
einen Mangel an ſeinem Auge zu vermuthen.
Alle mit Fehlern Behafteten der Linie, welche
|
u
506 Delboeuf, Der Daltonismus.
Holmgren zu unterſuchen Gelegenheit
hatte, ſtimmten ſämmtlich darin überein, „daß
ſie ein ausgezeichnetes Geſicht beſäßen, daß
ſie nicht die geringſte Schwierigkeit empfän—
den, die Farbenſignale zu unterſcheiden, und |
zu ſichten. Aber es kommt auch, wie wir
ſchon ſahen, ein praktiſches Intereſſe in's
daß ſie niemals ein Verſehen begangen hätten.“
Ich habe dieſen Beobachtungen, die von
einem jo hohen pſpychologiſchen Intereſſe
man ſich im Eiſenbahn- und Seedienſt be—
dient, gründen ſich auf die Unterſcheidung
ſind, nichts hinzuzufügen, und werde mich
darauf beſchränken, einen Fall zu erwähnen,
der zu zeigen geeignet iſt, wie weit einer—
ſeits dieſer Mangel an Erkenntniß ſeines
Selbſt und ſeiner Fähigkeiten gehen kann,
und wie man auf der andern Seite den
Farbenſinn durch einen Nüancenſinn erſetzt.
Einer der erſten Zeichner Belgiens, Herr Flo—
rimond Van Loo, iſt Daltonianer. Er
hatte ſich urſprünglich der Malerei gewidmet,
und es iſt ihm in ſeinen Landſchafts Skizzen
paſſirt, das Laub der Bäume in einem
ſchönen Roth wiederzugeben. Nach einer
großen Anzahl gleich unglücklicher Probe—
ſtücke und fruchtloſer Bemühungen ſich zu
verbeſſern, entſagte er dieſer Kunſt, für die
er gleichwohl eine ausgeſprochene Vorliebe
beſaß, und hat ſeine Talente der Lithographie
gewidmet, einer Kunſt-Richtung, in welcher
er ſich einen wohlverdienten Ruf zu ſchaffen
gewußt hat. Als er mir eines Tages das
auseinanderſetzte, was er eine Bizarrerie
ſeines Geſichtsſinnes nennt, ſagte er mir,
daß er ohne Zweifel die Bäume roth er—
blicke. Indeſſen hindert ihn dieſer Mangel
keineswegs, ein ausgezeichneter Kenner von
Gemälden zu ſein, und ſich namentlich auf
die Feinheit des Tones zu verſtehen. Und,
ſoll ich es ausſprechen? ich vermuthe, daß
er grade ſeinem Daltonismus es verdankt, daß
er in alle ſeine Arbeiten ſoviel Farbe bringt.
Es giebt Werke von ihm, welche in An—
betracht des Reichthums der Tinten mit
den beſten Mouillerons wetteifern.
Ich beende ſchnell die Geſchichte des
Daltonismus. Seebeck, Purkinje,
Wartmann und A. haben ſich aus vor—
zugsweiſe wiſſenſchaftlichem Intereſſe damit
beſchäftigt, die Thatſachen zu ſammeln und
Spiel. Die Mehrzahl der Signale, deren
zwiſchen Roth, Grün und Gelb und das
Leben Tauſender kann durch die falſche Auf—
faſſung eines Signals gefährdet werden. Es
war Georg Wilſon, welcher zuerſt (1855)
die Aufmerkſamkeit der Specialiſten auf die
Gefahren richtete, welche darin liegen, Dal—
tonianern Aemter anzuvertrauen, die einen
normalen Farbenſinn beanſpruchen. Seit
damals hat dieſe Idee ſich allgemeiner ver—
breitet. In Schweden hat es der gelehrte
Profeſſor der Phyſiologie an der Univer—
ſität Upſala, Holmgren, nach mancherlei
Studien und Schriften darüber durchgeſetzt,
daß die ſkandinaviſche Regierung jede Be—
ſetzung derartiger Poſten durch Farbenblinde
unterſagt hat. In England iſt dieſelbe Maß—
regel von der Nordbahn-Geſellſchaft einge—
führt worden, in Deutſchland beginnt man
mit derſelben Frage ſich zu beſchäftigen und
in Frankreich hat der Arzt der Linie Paris—
Lyon-Mittelmeer, Dr. Favre, in derſelben
Richtung gewirkt. Dies Wenige genügt, um
die praktiſche Wichtigkeit des Studiums der
Farbenblindheit darzuthun. Gehen wir nun-
mehr zur Theorie über.
3. Referat über die angeſtellten Ver-
ſuche.
Wenn man einigen Forſchern Glauben
ſchenken darf, giebt es nicht nur verſchiedene
Grade, ſondern auch verſchiedene Arten der
Farbenblindheit. Man ſpricht von Roth—
Delboeuf, Der Daltonismus.
blindheit, Grünblindheit, Blau- und Biolet-
blindheit, aber die hier gegebenen Daten be-
ziehen ſich nur auf die häufigſte Form, die
Rothblindheit. Das ſicherſte Mittel die
vorhandene Unregelmäßigkeit feſtzuſtellen,
wird immer die Beſchreibung eines Farben—
ſpektrums durch das anormale Auge, im
Vergleiche zu dem Eindrucke des normalen
ergeben, da die natürlichen Pigmente oft
einen ſehr zuſammengeſetzten Charakter be—
ſitzen, wie z. B. der Umſtand ergiebt, daß
die grünen Blätter der Pflanzen eine be—
trächtliche Menge rothen Lichtes ausftrahlen-
Prof. Delboeuf benutzte bei ſeinen in
20 40 60 80
507
Gemeinſchaft mit Prof. Spring ange
ſtellten Verſuchen das dem Sonnenſpektrum
ziemlich ähnliche Spektrum eines im Bun⸗
ſenbrenner zur Weißgluth gebrachten Pla—
tindrahts, wobei fie zur leichteren Drien-
tirung über das Spektrum eine erleuchtete
Skala warfen, die ſo gerückt wurde, daß
die Zahl 180 ſtets mit der gelben Natron—
linie zuſammenfiel. Die Vertheilung der
Farben, wie fie Herr Spring und die mei-
ſten Menſchen mit normalen Augen wahr-
nehmen, iſt annähernd durch die mittlere
Skala angedeutet, wobei die Zwiſchenfächer
die Uebergangsfärbungen bezeichnen. Dieſe
0 100 120 140 160 180 200 220 240 2 60
D
| | Violet n Grün [Orange Roth
. Blau | 7775 Gelb —
Uebergangsregionen von unentſchiedener dem Spektrum ſehe ich, ſagt er, nur zwei
Nüance verſchieben ſich übrigens ein wenig,
je nachdem man das Spektrum von der
violetten oder von der rothen Seite zu
prüfen und zu beſchreiben beginnt; die Far⸗
ben, gegen die man ſich hinwendet, ſcheinen
nämlich dem Auge entgegen zu kommen, fo
daß das reine Blau bei 80 zu beginnen
ſcheint, wenn man von der violetten Seite
ausgeht, und bei 90 aufzuhören ſcheint,
wenn man von ihm nach der violetten Seite
ſchreitet. Wie man ſieht, war das reine Gelb
nicht ſehr ausgeprägt, es beſchränkte ſich für
Herrn Spring auf die Natronlinie (180).
In dem untern Theile iſt dagegen die
Vertheilung der Farben dargeſtellt, wie ſie
ſich bei demſelben Spektrum Herrn Delboeuf
darbot. Wie man erkennt, erſchien ihm
das Spektrum nach beiden Seiten etwas
verkürzt, und wurde gegen das violette
Ende äußerſt lichtſchwach, ſo daß die Grenze
kaum ſicher beſtimmt werden konnte. „In
— Wr.
Kosmos, Band III. Heft 6.
ſpecifiſch verſchiedene Farben, die ich Blau
und Gelb nennen will, ſie theilen ſich zu
| beinahe gleichen Theilen in das Spektrum
und verlieren ſich unmerklich in die Dunkel⸗
heit. Der Uebergang von der einen zur
andern geſchieht zwiſchen 120 bis 130.
Dieſe Region iſt äußerſt veränderlich“, ſie
erſchien bald blau, bald gelb, und je nach
dem Uebergange von der einen oder andern
Seite ſchien ſich die Grenze wohl um zwanzig
Theilſtriche zu verrücken, wobei das Auge
einem eigenthümlich erregenden und ermü—
denden Reize unterlag. Es zeigte ſich außer-
dem, daß die Begrenzungen des Spektrums
auch für die einzelnen Daltonianer ſich verſchie—
den bemaßen, und für einen der Schüler des
Herrn Delboeuf war es an der violetten
Seite noch bedeutend mehr abgekürzt.
Alle dieſe Umſtände ſchienen wenig mit
den theoretiſchen Folgerungen zu paſſen, die
man bisher über die Urſachen der Koth-
65
508 Delbveuf, Der Daltonismus.
blindheit aufgeſtellt hat. Die verbreitetſte
Im Jahre 1864 lernte Herr Del—
der vorhandenen Erklärungen iſt diejenige, boeuf, damals Profeſſor der Philoſophie
welche ſich auf die Houng-Helmholtz'ſche
Hypotheſe über die Farbenwahrnehmung
ſtützt, und welche annimmt, daß von
drei, die Farben unterſcheidenden nervöſen
Elementen der Netzhaut bei dieſen Perſonen
die eine Art, und zwar gewöhnlich die
Roth empfindende, atrophiſch, gelähmt, oder
gar nicht vorhanden ſei. Die Folge davon
würde ſein, daß das Roth nur als Grau,
das Violet als Blau, das Orange als
Gelb wahrgenommen werden könnte, indem
überall der rothe Autheil der Miſchfarben |
indem ſie einen Theil der grünen und violetten
ausfiele. Ganz ähnliche Hypotheſen haben
Maxwell und J. Herſchell aufgeſtellt,
die alle darauf hinauslaufen, daß die Farben-
keiten zu füllen, um durch die verſchieden dicke
blinden ihre Empfindungen, ſtatt wie die
andern Menſchen aus drei Grundfarben,
nur aus zweien zuſammenſetzen ſollen.
Aber die einzelnen Vorausſetzungen, die man
den Daltonianern unterſchiebt, fand Prof.
Delbo euf für ſich durchaus nicht zutreffend,
ſo z. B. dasjenige, was man über die Ver—
wechſelung von Grün und Rotherzählt. „Was
mich betrifft,“ ſagt er, „ſo mache ich aller—
dings wenig Unterſchied zwiſchen der Farbe
haltendem Waſſer aufgelöſt enthält. Die
erſtaunliche Wirkung laſſen wir uns von
des Blattes und der Blüthen des rothen
Gauchheil (Anagallis arvensis), aber das
Roth des wilden Mohus, der Erdbeere
und Kirſche find für mich vom Grün ſehr
allein die Farben, die ich gewöhnlich zuſam—
verſchieden. Die Eigenthümlichkeit, die dieſen
Färbungen in meinen Augen zukommt, iſt,
daß ſie matt, ſtumpf, düſter erſcheinen und
nicht den Blick auf ſich ziehen. Es ſind
ruhige Färbungen, in der Art des Braunen,
Dunkelgrauen, der Bronce u. ſ. w.
auf der andern Seite giebt es rothe Fär—
bungen, die für mich gar nichts unterein—
ander gemein haben, ſo das Siegellack-Roth
welches ich zum Gelb ziehe und der Karmin,
der mir blau erſcheint.“ ...
in Gent, zuerſt die Doung-Helmholtz'ſche
Hypotheſe kennen und dachte gleich anfangs
daran, daß die Lähmung der rothempfinden—
den Elemente der Netzhaut vielleicht auch
nur relativ ſein könnte, in dem Sinne, daß
ihre Empfindung am Ende nur durch die
vorwiegende Empfindung der beiden andern
Nervenelemente verdeckt ſein würde. Wenn
dieſe Annahme zutreffend war, ſo mußte
eine zwiſchen das Auge und die Gegenſtände
gebrachte rothe und durchſichtige Subſtanz,
das fehlende Gleichgewicht herſtellen können,
Strahlen auslöſchte. Er begann damit, ein
keilförmiges Glasgefäß mit rothen Flüſſig—
Schicht derſelben die Veränderung der Farben
zu prüfen. Der Zufall ließ ihn gleich an—
fangs in einer Fuchſinlöſung ein Mittel
entdecken, welches außerordentliche Veränder—
ungen in dem Anblick der Farben hervor—
brachte, und deren Wirkung durch keine ſpäter
probirte Flüſſigkeit übertroffen worden iſt.
Gewöhnlich wurde eine Auflöſung angewendet,
welche /1000 0 Gewicht Fuchſin, in Alkohol
dem Entdecker ſelbſt beſchreiben:
„Der Effekt war zauberhaft. Nicht
menwerfe, Blau, Karmin und Violet auf
der einen Seite, Scharlach und Braun auf
der andern erſchienen mir mit einem Male
merkwürdig verſchieden, ſondern auch das
Aber
der mir gänzlich unbekannt war; ſonſt ſchien
es mir matt, plötzlich wurde es flammend
Scharlachroth an ſich gewann einen Glanz,
und blendend. Es war das ein außerordent—
liches Ergebniß, und ganz gewiß, ich war
nicht darauf gefaßt.“ Schon damals und
B SL ne u Dh
ſpäter in Gemeinschaft mit Prof. Spring
prüfte der Entdecker die Wirkung der Fuchſin—
löſung auf andre Daltonianer und ſtets mit
demſelben Erfolge. „Unter ſeinem Eiufluſſe
bekleidet ſich die Natur plötzlich vor ihren
Augen mit einer ſtaunenswerthen Mannig—
faltigkeit; es heben ſich im Frühling die
Pyramidenſträuße der rothen Kaſtanie klar
von dem düſtern Grün ihrer Blätter; die
Blumen des Rhododendron und des perſiſchen
Flieders hören auf, ihnen blau zu erſcheinen;
die Früchte der Ebereſche, welche ihnen im
Herbſte wie dunkle Flecke im Laubwerk er—
ſchienen, gewinnen den Anblick glühender
Büſchel; noch immer beſſer: Violet und
Roth, welche in ihren Empfindungen nichts
Gemeinſames haben, nähern ſich einander
und zeigen unter gewiſſen Umſtänden Neigung,
einander ähnlich zu werden. . ..“
Dieſe Verſuche, und beſonders die Ver—
änderung, welche vorher gleichfarbig erſchein en—
de rothe, violette, blaue und braune Por-
zellane und namentlich Seidenbänder unter
dein Einfluſſe des Fuchſins annahmen, führten
zur Verwerfung der Houng-Helmholtz'-
ſchen Hypotheſe, da die Urſache nun nicht mehr
in einer Lähmung der rothen Elemente,
ſondern gegentheils in einer beſondern Em—
pfindlichkeit für die grünen und violetten,
oder genauer die dem Fuchſinroth comple—
mentären Strahlen geſucht werden mußte.
Schon damals bot ſich der Schluß, daß das
Fuchſin wie die Aufhebung eines Hinder-
niſſes wirke, deſſen Wirkungsmittelpunkt in
einer ihm complementären Färbung liegen
müßte, doch iſt das eben nur ein Bild.
Merkwürdigerweiſe haben ſpätere Verſuche
keinen Farbſtoff finden laſſen, der noch gün-
ſtigere Wirkungen hervorbrächte oder ſich nur
mit dem Fuchſin vergleichen ließe; Anilinviolet,
und das mehr orangefarbene Eoſin brachten
zwar auch eine gewiſſe Verbeſſerung hervor,
Delboeuf, Der Daltonismus.
509
aber das zufällig zuerſt angewendete Fuchſin
übertraf ſie alle. Sehr unvollkommen wirkte
z. B. ein mit Kupfer roth gefärbtes Glas,
welches außer der rothen alle andern Farben
verdunkelte. Die Spektralanalyſe ließ die
Wirkungsweiſe des Fuchſins genauer feſt—
ſtellen. Eine dünne Schicht Fuchſin, im
Spektroſcope unterſucht, wirft auf die grüne
Region einen Schatten, der anfangs, durch—
ſichtig genug, um die Färbung noch er—
kennen zu laſſen, ſich verdunkelt und ver—
breitert in dem Maße, in welchem man die
Dicke oder den Gehalt der Auflöſung ver—
mehrt. Man kann aus den Eigenthümlich—⸗
keiten ihres Abſorbtionsſpektrums leicht er-
kennen, warum Anilin-Violet, Eoſin und
Kupferglas nicht gleich gut wirken; die
Abſorbtionsſtreifen der erſteren haben eine
andere Lage und Ausdehnung, und das
Kupferglas löſcht faſt alle nicht rothen
Strahlen aus. Es läßt ſich daraus ſchließen,
daß es die Gegenwart der Geſammtheit
oder jenes Theiles der grünen Strahlen iſt,
die von dem Fuchſin ausgelöſcht werden, welche
gewiſſe Augen für die entgegengeſetzten Farben
weniger empfindlich macht.
Schon früher, angeſichts der Wahrſchein—
lichkeit, daß das Fuchſin ſein Auge dem
der andern Menſchen nähere, hatte Prof.
Delboeuf dieſe Vermuthung zu beweiſen
gehofft, indem er künſtliche Rothblindheit
hervorzurufen ſtrebte, und zwar vermittelſt
durchſichtiger grüner Gläſer oder Auflöſungen,
die auf das normale Auge in einem dem
Fuchſin entgegengeſetzten Sinne wirken könnten.
Er ſagte ſich nämlich, daß wenn dieſes
Ziel erreicht würde, man alsdann zu ber
ſuchen vermöchte, ob das Fuchſin auch die
künſtliche Rothblindheit wieder aufheben
und die natürlichen Sinnesempfindungen
wiederherſtellen würde. Dadurch wäre dann
ein Mittel gefunden, die Empfindungen
510 Delboeuf, Der Daltonismus.
zweier Individuen miteinander zu vergleichen,
und ſich zu vergewiſſern, ob die Menſchen
auch in dieſer Beziehung nahezu nach dem—
ſelben Modell zugeſchnitten ſind. Es gelang
ihm aber nicht, eine ſolche Subſtanz auf—
zufinden, bis er mit Prof. W. Spring
in Verbindung trat, deſſen phyſikaliſche und
chemiſche Kenntniſſe die Weiterführung dieſer
Unterſuchungen begünſtigten.
Es wurden nun mit Zuhilfenahme der
Spektralanalyſe verſchiedene grüne Flüſſig—
keiten verſucht, und es zeigten ſich z. B. Chrom—
grün, ſowie eine Miſchung aus Anilinblau
und Picrinſäure ungeeignet. Auch hier führte
aber der Zufall im Nickelchlorür bald ge—
nug zur Auffindung einer Subſtanz, welche
dem normalen Auge beim Hindurchblicken
die Welt wahrſcheinlich ebenſo zeigt, wie ſie
dem Rothblinden ſich darſtellt. Bei An—
wendung einer vierprocentigen Auflöſung
und einer Schicht von einem Centimeter
Durchmeſſer, ſah nun Prof. Spring in
der That ein violettes Seidenband ebenſo
blau wie Prof. Delboeuf mit bloßem
Auge, ein rothes erſchien auch ihm braun,
und die ganze Natur nahm auch für ihn
eine gewiſſe Einförmigkeit der Farbengebung,
Orange ſind matt geworden und haben
alle Lebhaftigkeit eingebüßt. Auch eine Platte
grünen Turmalins und durch Kupfer grün
gefärbtes Glas bringt eine ähnliche Wirk— |
ung hervor; auch hatte Prof. Holmgren
bereits bemerkt, daß gewiſſe blaugrüne Brillen
die Eigenſchaft beſitzen, ihre Träger roth
blind zu machen. Betrachtet man durch die
Nickellöſung oder die ihr entſprechenden ande—
ren durchſichtigen Subſtanzen das Sonnen—
ſpektrum, ſo findet man es, wie es auch den
Daltonianern erſcheint, an ſeinen beiden
Enden, dem Roth und Violet, beſchnitten.
Wenn man dann ſtufenweiſe die Dicke der
Flüſſigkeitsſchicht erhöht, ſo bleibt von dem
ganzen Spektrum ſchließlich nur ein grünes
Band in der Mitte übrig, welches genau
das dunkle Loch ausfüllen würde, welches
das Fuchſin bei ähnlicher Anwendung darin
aushöhlt.
Auch die Gegenprobe ſprach zu Gunſten
der Auſicht, daß man durch eine Nickelauf—
löſung mit normalem Auge die Welt wie
ein Rothblinder erblickt, denn Prof. Del-
boeuf fand für ſeine Perſon das Aus—
ſehen der Dinge durch die Nickellöſung,
ſelbſt bei beträchtlicher Dicke der Schicht,
nur wenig verändert. Dieſe Thatſachen
zuſammenfaſſend, kann man entweder ſagen,
daß das Auge des Rothblinden gleichſam
Nickelchlorür, oder das normale Auge gleich—
ſam Fuchſin enthalte, um bei gleicher Or—
ganiſation den ſo verſchiedenen Eindruck
zu empfangen. Man weiß, daß Dalton
vermuthet hat, ſein Auge enthalte eine
bläuliche Flüſſigkeit, welche Vermuthung ſich
aber bei einer nach ſeinem Tode angeſtellten
Unterſuchung keineswegs beſtätigt hat. Auch
ſoll der obige Ausdruck keine Hypotheſe,
in welcher der Glanz der Contraſte fehlte,
an. Grün, Blau und Gelb bleiben bei-
nahe unverändert, nur Roth, Violet und
ſondern nur ein bloßes Bild abgeben.
Es handelte ſich nunmehr zunächſt noch
darum, feſtzuſtellen, ob das Fuchſin auch
einem künſtlichen Daltonianer das normale
Geſicht wiedergiebt. Dies geſchieht in der
That. Wenn Jemand mit gewöhnlichem
Auge ſoviel Nickelchlorür einſchaltet, um
die Seidenbänder ſo zu ſehen, wie ein Dal—
tonianer, und dann eine paſſende Schicht Fuch—
ſin hinzunimmt, ſo erſcheinen ihm die Bänder,
durch die doppelte Farbenſchicht zwar etwas
weniger hell, aber wieder in den urſprüng—
lichen Nüancen. Dementſprechend wird um—
gekehrt ein Daltonianer, deſſen Auge durch
Fuchſin corrigirt war, durch Hinzufügung
1
Delboeuf, Der Daltonismus.
511
von Nickelchlorür von Neuem rothblind.
In ähnlicher Weiſe wirkte eine grüne Be—
leuchtung, indem ſie ähnliche Farbenänder—
ungen für normale Augen hervorrief, wie
das Nickelchlorür, und ebenſo werden bei
dem gelbröthlichen Lichte der gewöhnlichen
Beleuchtung durch Kerzen oder Oellampen
die Farben leichter unterſcheidbar für Dal—
tonianer, wie dies ſchon Dalton ſelbſt be—
merkt hat.
Der unmittelbaren Anwendung dieſer
experimentellen Thatſachen auf die Erklärung
der Rothblindheit ſtand noch eine Schwierig—
keit entgegen, nämlich die Frage, warum das
Farbenſpektrum der Sonne oder weißglühen—
der Körper, welches den Daltonianern nur
zweifarbig erſcheint, nicht mittelſt der Fuchſin—
löſung wieder mehrfarbig wird. Allerdings
erſchien der Uebergangstheil zwiſchen Blau
und Gelb in ſeiner Dämpfung durch Fuchſin
wie eine dritte Farbe, wie Grün, aber es
trat nicht Roth oder Violet an den beiden
Enden hervor. Allein, wie ſich bald ergab,
dem Vorhergehenden entnehmen können, in
der überwiegenden Wirkung der grünen
lichkeit für die rothen und violetten ganz
aufhebt, und dieſe grünen Strahlen werden
ſo blendend, daß ſie, wie jedes ſehr geſteigerte
farbige Licht, dem Auge farblos erſcheinen,
dabei zugleich die Empfänglichkeit für die
nahezu complementären Farben aufheben.
Um dieſe Vorausſetzung zu erhärten, ließ
Prof. Spring gleichzeitig, während er das
Spektrum eines glühenden Platindrahts be—
trachtete, durch Nickelchlorür grün gefärbtes
Licht, mit welchem er die Scala erleuchtete,
in ſein Auge treten, und ſiehe da, er ſah
jetzt, wie ſein Mitarbeiter, das Spektrum
nur noch zweifarbig, blau und gelb. Aber
dieſe beiden Farben ſind nicht die des ge—
wöhnlichen Spektrums, das Blau iſt ein ge—
ſättigtes Indigo und das Gelb ein Gold—
gelb, ähnlich dem der neuen Zwanzigfranc—
Stücke, es ſteckt alſo in ihnen beiden Roth.
Wurde das durch die Mitwirkung des grünen
Lichtes zweifarbig gewordne Spektrum durch
Fuchſin betrachtet, ſo erſchien es in ſeinen
natürlichen Farben.
Wurde der Verſuch nun umgekehrt, und
an Stelle des durch Nickelchlorür gegangenen
Lichtes Fuchſinlicht in das ein normales
Spektrum betrachtende Auge geſendet, fo er—
ſchien letzteres wiederum zweifarbig, nämlich
Purpurviolet und glänzend Rothorange und
damit ſcheint ſich das Verſtändniß einer zwei—
ten Art von Farbenblindheit aufzuthun, die
ſich entgegengeſetzt verhält und durch Nickel—
chlorür aufgehoben werden kann. Auf alle
dieſe Thatſachen gründen die Experimenta-
toren eine neue Theorie der Farbenempfind⸗
ung, welche nicht mehr von dem Vorhanden—
walten hier beſondere Verhältniſſe vor. Der
Fehler der Daltonianer beſteht, wie wir ſchon
ſein verſchieden empfindender Netzhaut-Ele—
mente ausgeht, ſondern die Farbenempfindung
als einen allgemeinen Erregungszuſtand der
Netzhaut, der nur nach Graden verſchieden
Strahlen, welcher bei ihnen die Empfind-
I
it, auffaßt. Nach dieſer Theorie find die
Daltonianer, wie ſich gezeigt hat, nicht über-
haupt unfähig, Roth zu empfinden, ſondern
im mittleren Theile des Spektrums für ſie
ſie ſind nur durch gleichzeitige Eindrücke für
dieſe Farbe geblendet, ähnlich wie man
durch Santonin-Genuß vorübergehend für
die Empfindung der violetten Farbe ge—
blendet werden kann, und dann die geſammte
Natur in der gelbgrünen Färbung des
Neides erblickt. In einem gewiſſen Grade
ſind wir Alle rothblind, denn das ſtumpfe
Grün der Blätter reicht hin, uns für die
anſehnliche Menge rothen Lichtes, welches die
Blätter gleichzeitig ausſtrahlen, vollkommen
unempfindlich zu machen.
Erſt wenn wir
Delboeuf, Der Daltonismus.
vermittelſt des Erythroſkops von Lommel
die überwiegende Menge der grünen Strahlen
abblenden, empfangen wir die Empfindlich—
keit für dieſes Roth, und ſehen dann das
Laub und den Raſen im Sonnenſchein leuch—
tend ſiegellackroth, während das Grün der
Fenſterläden unverändert daneben erſcheint,
und ein prachtvoll blauer Himmel ſich über
die rothen Baumwipfel wölbt. Es iſt dem—
nach möglicherweiſe der Daltonismus lediglich
die Steigerung einer in geringerem Grade
allgemeinen Eigenſchaft des Auges, für grünes
Licht viel empfänglicher zu ſein als für das
rothe, und durch das geringſte Ueberwiegen
deſſelben gegen das Roth mehr oder weniger
abgeſtumpft zu werden. Vielleicht ſpielt
hierbei das Sehroth eine dem Fuchſin ähn—
liche Rolle, und ſein Fehlen oder Vorwiegen
bewirkt vielleicht dieſe Störungen. Wegen
der mathematiſchen und phyſikaliſchen Be—
gründung jener Theorie, die ohne die er—
läuternden Figuren unverſtändlich bleiben
würde, müſſen wir auf das Original verweiſen.
Schlußbetrachtungen.
„Kommt dem Farbenſinn in allen ſo—
genannten normalen Augen derſelbe Grad
von Feinheit zu? Man würde hieran ſchon
zweifeln dürfen, einzig in Folge der Er—
fahrung, daß die Natur ſich niemals wieder—
holt. Giebt es doch nicht einmal zwei
völlig gleiche Blätter! So erhebt ſich denn
ein ſtarke Muthmaßung zu Gunſten der
Meinung, daß, was die Farben angeht, Jeder
ſie ein wenig nach ſeiner Art ſieht. Hat
nicht ſchon die Weisheit der Völker gejagt,
daß es gewiſſe Dinge giebt, über die man
niemals ſtreiten ſoll? Wir ſind jetzt in der
Stellung, auf dieſe Frage zu antworten und
die Antwort auf poſitive Beweiſe zu ſtützen.
Nicht weniger als es Gradunterſchiede
beim Daltonismus giebt, muß man auch
Mit
ſolche beim Nichtdaltonismus zugeben.
andern Worten: zwiſchen dieſen beiden äußer—
ſten Graden der Farbenmächtigkeit in einem
gewiſſen Sinne, giebt es alle möglichen
Uebergänge. In der That corrigirte ſich
das Auge der verſchiedenen Rothblinden, mit
denen wir experimentirt haben, vermittelſt
ſehr verſchiedener Fuchſinſtärken, und andrer—
ſeits bedurften die „normalen“ Augen, welche
wir unſern Experimenten unterworfen haben,
mehr oder weniger beträchtlicher Mengen von
Nickelchlorür, um einen gleichen Grad von
Rothblindheit zu erlangen. Fragen Sie eine
Geſellſchaft verſchiedener Perſonen, welche
Farbe der rothe Fingerhut (Digitalis pur—
purea) beſitze, und Sie werden — wir haben
dieſe Probe oft angeſtellt, — die wider—
ſprechendſten Antworten, begleitet von den
entſchiedendſten Beſtätigungen und Vernein—
ungen, erhalten. Man beſteht Zug um
Zug darauf, daß die Blume violet, purpurn,
roſa, lila, malvenfarbig, braunkohlfarbig ſei.
Jede Perſon ſieht das Spektrum nach ihrer
Art, die Eine ſieht darin mehr Blau und
Gelb, die andere mehr Violet und Roth,
die Einen ſehen es mehr ausgedehnt, die
Andern weniger. Wir ſind ſogar bei einem
Collegen dem ſonderbaren Falle begeg—
net, daß er Violet ſah, wo man gewöhn—
lich Roth ſieht. Aber Herr Spring hat
dieſe Erſcheinung bei ſich ſelbſt hervorbrin—
gen können, er brauchte nur ſeinen Blick
ungefähr achtzehn Sekunden lang auf dem
gelben Theil des Spektrums verweilen zu
laſſen, um dann ebenfalls den rothen Theil
violet zu erblicken.
Dieſe letztere Thatſache reiht ſich wohl—
bekannten und beſprochenen Erſcheinungen an;
aber wenn man ſie mit denjenigen, die wir ſtu—
dirt haben, vergleicht, bemerkt man, daß dieſe
angeblich irrigen Urtheile einzig auf einer
beſonderen Dispoſition der Netzhaut, dieſer
Delboeuf, Der Daltonismus.
oder jener Reaction den Vorzug zu geben,
beruhen können. Die Verſchiedenheiten in den
Augen beziehen ſich alſo auf zweierlei Urſachen,
auf den Grad der Trägheit oder des Wider—
ſtandes der Netzhaut und auf die Spektral—
lage derjenigen Strahlengattung, die ihrem
natürlichen Gleichgewichtszuſtande, ihrem
Nullpunkte entſpricht. Bis zum Beweiſe
des Gegentheils neigen wir dazu, auf dieſe
letztere Urſache die Varietäten zu beziehen,
die der Daltonismus darbieten kann. Da—
ran knüpft ſich ein fernerer Schluß: der
Daltonismus vermag unter allen ſeinen For—
men betrachtet werden, als ob er nur die
einfache, aber ausnahmsweis ſtarke Ueber—
treibung einer Beſondernheit wäre, die allen
Augen, mehr oder weniger ausgeſprochen,
eigen iſt. Aus dieſen Gründen geſchah es,
daß wir für dieſe Eigenthümlichkeit den
Namen Daltonismus beibehielten, da er an
einen großen Namen erinnert und kein Vor⸗
urtheil erweckt, denſelben ſolchen Benenn—
ungen vorziehend, welche, wie Achromatopſie
(Farbenblindheit), zu viel ſagen oder ganz
unverſtändlich ſind, wie Chromatopſeudopſie
(falſches Farbenſehen). In Wirklichkeit
giebt es ja eine allein wahre Manier, die
Farben zu ſehen, überhaupt nicht. Eine
Empfindung kann mehr oder weniger un—
vollkommen, nicht aber falſch ſein. Es iſt
ohne Zweifel gewiß, daß derjenige, welcher
eine durch einen Andern erkannte Ver-
ſchiedenheit nicht wahrnimmt, ein weniger
gutes Geſicht beſitzt, als dieſer, aber wer
möchte behaupten, daß nicht ein beſſer orga—
niſirtes Auge noch da, wo der Sieger nur
einförmige Färbung wahrnimmt, weitere
feine Nüancen unterſcheiden könnte? Sieht
nicht anderſeits der Daltonianer ſeinerſeits
Färbungen durchaus verſchieden, die zu
verwechſeln gewöhnliche Augen ſehr geneigt
find? Anderſeits ſcheint folgende That—
513
ſache ſehr geeignet, dieſe Beobachtung zu
beſtärken.
Eines Tages entwarf einer meiner
Freunde, ein talentvoller Maler, eine Land—
ſchaftsſkizze. Er hatte ſich im Angeſicht
einer der ſchönſten Maaslandſchaften nieder-
gelaſſen, und die warmen und grellen Töne
der Felſen von Chokier, welche ſich im Vor—
dergrund darſtellten, contraſtirten wunderbar
mit denen der fernen Hügel von Engis
und Engihoul, welche den Hintergrund des
Gemäldes ausmachten und deren Formen der
Duft eines heißen September-Nachmittags
verwiſchte. Als nun der Künſtler, um die
weiche und milde Durchſichtigkeit des Hori—
zontes darzuſtellen, Grau auf der Palette
zurecht machte, proteſtirte ich: für mich wären
die Hügel, welche die Ausſicht ſchloſſen, in
Blau getaucht. Derſelben Meinung war
außerdem eine anweſende junge Dame. Eine
andre Dame dagegen, welche ſich mit Malerei
beſchäftigte, urtheilte, als Schiedsrichterin
angerufen, wie der Landſchafter. Dies
Urtheil ſchien weitere Diskuſſionen abzu—
ſchneiden und der Maler entſchied ſich zu
meinem großen Mißvergnügen für die
anfangs gewählte Farbe. Im erſten Augen—
blick ſchien mir das ganz natürlich, aber
beim Nachdenken darüber fand ich die Sache
ſonderbar. Daß mein Freund die Farbe
wiedergab, wie ſie ihm erſchien, war ja in
der Ordnung, aber wie kam es, daß weder
die junge Dame noch ich den auf die Lein—
wand geworfenen gräulichen Hintergrund
blau erblickten? Es gab alſo zwiſchen der
natürlichen Farbe der Landſchaft und der—
jenigen des mit Oel durchfeuchteten Staubes,
die jene wiedergeben ſollte, einen Unterſchied,
den der Künſtler nicht empfand.
mich ſeitdem oft gefragt, ob nicht eine
ähnliche Urſache daran ſchuld ſein mag, daß
gewiſſe Coloriſten Alles in Gelb, Blau,
Ich habe
514
Grün oder Grau malen müſſen.“) Und
was den Umſtand betrifft, jetzt zu erfahren,
mit meinem Blau Recht hatte, ſo iſt das
eine müßige und durchaus unlösbare Frage.
Derjenige allein wird in der Malerei reuſſi-
ren, deſſen Augen denen der großen Menge
entſprechend empfinden.
Wir können auf den Urſprung dieſes
Auseinandergehens der ſinnlichen Urtheile
zurückgehen. Die Malerei hat in Wirklich—
keit den Zweck, die Natur und ihr leuchten—
des Aeußere mit Farbſtoffen nachzubilden,
deren färbender Stoff von anderer Natur
iſt als die nachgeahmten Färbungen. Da
nun ein Daltonianer — wie wir oben
ſahen — darauf verfallen kann, rothe
Bäume zu malen, weil ihm der Farbſtoff
auf der Palette ebenſo erſcheint, wie derjenige
des Laubwerks: wer giebt uns Gewißheit, daß
für andre vollkommnere Augen, vielleicht
für diejenigen unſerer Nachkommen, das
Gelb, die Ockerfarbe, das Blau und das
Grün, deſſen man ſich gewöhnlich in der
Malerei bedient, nicht ganz verſchieden erſchei—
nen werden, von dem Gelb, Braun, Blau
und Grün der lebenden Natur?
Das könnte uns nun wohl auf die
hiſtoriſche und philologiſche Seite der Frage
führen. Man hat behauptet, daß die Alten
weder Blau noch Violet gekannt hätten, und
daß der Farbenſinn ſich vom Roth aus
nach der andern Seite des Spektrums hin
entwickelt habe. Es iſt unleugbar, daß
Homer und die andern griechiſchen Poeten,
) Anmerkung des Ueberſetzers. Dieſen
Gegenſtand hat der Ophthalmologe Dr. R.
Liebreich in einem Vortrage behandelt,
welchen derſelbe am 8 März 1872 in London
gehalten und in welchem er den Grund,
warum einzelnen Malern gewiſſe Pigmente
anders als die Naturfarben erſcheinen, geiſtreich
erörtert hat.
ſchieden hätten, erſcheint gezwungen.
Lateiner haben kein beſonderes Wort, um
die gelbe Farbe zu bezeichnen.
Delboeuf, Der Daltonismus.
in ihren Verſen niemals der blauen Seen
noch des Azurs eines wolkenloſen Himmels,
ob mein Freund mit ſeinem Grau oder ich
gedenken, ja nicht einmal ein beſonderes Wort
beſitzen, um deren Farbe zu bezeichnen. Der
Schluß jedoch, den man hieraus zieht, daß
ſie ſie nicht vom Schwarz oder Grau unter—
Die
Wir ſelbſt
beſitzen keine Specialbezeichnungen für die
Gerüche, und für die ſo verſchiedenartigen
und beſtimmten Empfindungen des Ohres iſt
unſer Lexikon von einer äußerſten Armuth.
Zum Theil haben wir darin übrigens eine
Frage der Thatſachen von uns. Iſt in den
Malereien, welche uns aus dem Alterthum
überkommen ſind, und welche die Tempel
der Pharaonen und die Aſche Pompeji's
uns bewahrt haben, der Himmel blau oder
nicht? Findet man auf den Thonwaaren
und Moſaiken und Statuen einer entfernten
Epoche niemals Spuren von Blau oder
Violet? Darin iſt es, wo man die Ent—
ſcheidung des Streites findet.“)
Wie es auch darum ſtehen mag, es iſt
nunmehr möglich, verſchiedene Augen in
Beziehung auf den Farbenſinn zu vergleichen.
Das Fuchſin, Nickelchlorür und, wenn nöthig,
andre Subſtanzen, werden das genaue Maß
der Unterſchiede geben. Damit ſehen wir
eine Breſche gelegt in jene Mauer, welche
in jedem von uns das innere Sinnesforum
von dem des Andern trennt. Nicht mehr
alle Empfindungen widerſetzen ſich einem
Austauſche; die der Farben können nun von
einer Perſon der Andern mitgetheilt werden.
) Anmerkung des Ueberſetzers. In einer
Anmerkung zu dieſer Stelle verweiſt der Herr
Verfaſſer auf die drei gegen Magnus'
und Geiger's Theorien gerichteten Artikel im
erſten Bande des „Kosmos“, die ihm als bewei—
ſend erſchienen ſind.
Delboeuf, Der
Gewiß kann man, mit der ganzen Strenge
einer unbeugſamen Logik räſonnirend, immer
noch Zweifel gegen die Gleichförmigkeit der
Eindrücke eines natürlichen Daltonianers,
mit denen eines künſtlichen erheben. Aber
es kann ſich die Gelegenheit bieten, ſie ver—
ſchwinden zu laſſen. Wenn ſich z. B. Indi—
viduen fänden, welche ein rothblindes Auge
und ein gewöhnliches hätten, ſo würde nichts
leichter ſein, als den Werth unſrer Ergeb—
niffe zu controliren. Es reicht ſogar hin, daß
die Abweichung nicht denſelben Grad in beiden
) Centralblatt für die mediz. Wiſſenſchaften,
24. Februar 1872.
) Anmerkung des Ueberſetzers. In
einer Nachſchrift behandelt der Verfaſſer noch
kurz die Möglichkeit einer Heilung des Dal—
tonismus, die ſich ihm dadurch eröffnet hat,
daß er ſelbſt ſeit einiger Zeit das Roth leuch—
tender erblickt und nicht mehr ſo leicht mit
Braun und Violet verwechſelt als früher. Er
ſchreibt dieſen Fortſchritt der häufigen Benutz
ung der Fuchſinlöſung zu, welche gleichſam ein
im Auge vorhandenes Hinderniß beſeitigt.
Doch ſind dieſe günſtigen Ausſichten noch zu
neu, um eine ſichere Zuverſicht darauf zu be—
gründen. Eine auf Veranlaſſung der belgiſchen
Regierung von der Akademie der Wiſſenſchaften
neuerlich einberufene Commiſſion, welche aus
den Profeſſoren Van Beneden, Delboeuf,
Schwann und Spring beſtand, um über die
für den Eiſenbahndienſt wichtigen Fragen zu
berathen, hat unter Anderem für die Zugführer
Kosmos, Band III. Heft 6.
Daltonismus. 515
Augen erreicht hat. Nun, derartige Fälle
dürften relativ und in Summa nicht felte-
ner ſein, als diejenigen einer ungleichen
Kurz⸗ oder Weitſichtigkeit beider Augen. Herr
Woinow in Moskau erwähnt den Fall einer
Dame, deren rechtes Auge der Empfindung
des Grünen beraubt war, während das
linke ſämmtliche Farben erblickte. Dürften
wir es wagen Herrn Preyer, der den
Fall beſprochen hat), zu erſuchen, ſich auf's
Neue mit Herrn Woinow in Verbindung
zu ſetzen, um von ihm wohl eingeleitete
Aufklärungen zu erhalten ? **)
den Gebrauch eines Analyſators empfohlen,
der aus einer geeigneten grünen und einer
rothen Glasſcheibe beſteht. Bei Unſicherheiten
über die Farben der Signale, die durch Ermü—
dung oder Krankheit ſogar plötzlich eintreten
können, würde es genügen, das fragliche
Signal, erſt durch die eine, dann durch die
andre Scheibe zu betrachten. Ein rothes Signal
wird durch das rothe Glas an Helligkeit zu-
nehmen, und durch das grüne verdunkelt
werden, und bei einem grünen Signal wird
der umgekehrte Fall eintreten. Um dieſen
Analyſator aber für die Nachtſignale ebenſo
brauchbar wie für die Tagesſignale zu machen,
müßten für die farbigen Laternen ſorgfältig
Gläſer ausgewählt werden, welche nur ſolche
Strahlen durchlaſſen, die durch die entgegen—
geſetzten Scheiben des Analyſators möglichſt
ausgelöſcht werden. (Bull. de 1’ Acad. Royale
de Belge. P. XLV. Avril 1878.)
Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften
im vorgeſchichtlichen Europa.
Von
Ernſt Krauſe.
ir John Lubbock, Ed⸗
ward Tylor, Herbert
Spencer u. A. haben die
Urzuſtände der europäiſchen
Bevölkerung unſerm Verſtänd—
niſſe dadurch näher zu bringen geſucht, daß
ſie zur Vergleichung die Lebensweiſe, Fähig—
keiten und Sitten der außereuropäiſchen
„Wilden“ im weiteren Umfange herbei—
zogen. Sie haben gezeigt, daß noch in
der Jetztwelt eine bedeutende Anzahl von
Völkern in der Steinzeit lebt, andere die
Lebensweiſe der Ichthyophagen fortſetzen,
deren Spuren wir in den ſogenannten
Kjökkenmöddings finden, während noch an—
dere in Pfahlbauten hauſen und Stein—
monumente aufrichten, gerade ſo, wie eine
Reihe von Stämmen im vorgeſchichtlichen
Europa. Wir haben da mit einem Worte
die Vorzeit in der Gegenwart, und das
Studium der Indianerkünſte, um Stein—
waffen zu verfertigen, Feuer anzumachen, ihre
Jagd- und Fiſcherei-Praxis, ihre primitiven
Leiſtungen in den Bekleidungsgewerben und
in der Töpferei, in den Anfängen der
ornamentalen Kunſt und ſchriftlichen Auf—
zeichnung, in der Metallgewinnung und
Färberei, iſt für uns ein Mittel geworden,
die Lebensart unſerer eigenen Urväter zu
verſtehen und auch einen tiefern Blick in
ihr Seelenleben zu thun.
Die genannten Autoren und ihre Nach—
folger auf dieſem Gebiete haben bei dieſer
lehrreichen Vergleichung einen ferneren Be—
rührungspunkt vorläufig ganz außer Be—
tracht gelaſſen, der dennoch zu den intereſ—
ſanteſten Parallelen Veranlaſſung giebt:
ich meine den allgemeinen Gebrauch von
Pfeilgiften, wie ihn uns die Erforſcher
der neuen Welten geſchildert haben, im alten
Europa. Wir werden nachher ſehen, daß die
alten Griechen und Römer, als ſie das nordiſche
Europa entdeckten und erforſchten, vor 2-3000
Jahren mit demſelben unheimlichen Gefühle,
welches unſere heutigen Tropen-Reiſenden
empfinden, den Gebrauch jener furchtbaren,
bei der geringſten Verwundung ſicher tödten—
den Waffen in Nordeuropa beobachteten und
ſchilderten. Sie ſelbſt hatten dieſen, ohne
Zweifel auch bei ihren Urvätern vorhanden
geweſenen Gebrauch der Giftwaffen faſt
ebenſo vollkommen vergeſſen, wie die Nord—
europäer ſeit einigen Jahrhunderten. Dieſes
vollkommene Verſchwinden einer ehemals
gebräuchlichſten Jagd- und Kriegswaffe, die
auch wahrſcheinlich unſern eigenen Urvor—
fahren dazu diente, ihren alltäglichen Unter—
halt herbeizuſchaffen, iſt ebenſo lehrreich als
merkwürdig; um ſo mehr, als die Kunde
ſich in einigen Gegenden bis ins 14.,
15. und 16. Jahrhundert erhalten hat;
erſt die Erfindung des Schießpulvers gab
der Erinnerung an die Giftpfeile der Vor—
zeit den Todesſtoß.
Als im Jahre 1595 Walter Ra—
leigh, der Eroberer Virginiens, die erſte
Kunde nebſt Proben von einer Subſtanz
unbekannten Urſprunges, deren ſich die
amerikaniſchen Indianer auf der Jagd und
im Kriege bedienten, nach Europa brachte,
war das Erſtaunen über den bei uns un-
erhörten Gebrauch allgemein. Das Geheim
niß, in welches die Wilden ihre Bereitung
hüllten, die wunderbare Thatſache, daß ſchon
eine minimale Spur deſſelben in einer
Wunde unabwendbar den Tod nach ſich
zog, die noch wunderbarere Nachricht, daß
das Gift im Magen unſchädlich ſei und
ſogar hier und da als Heilmittel diene,
umhüllten dieſe Erzählungen mit einem
romantiſchen Schauder, der ſich bei der
Kenntnißnahme der javaniſchen Pfeilgifte
im vorigen Jahrhundert zu einem wirklichen
Romane ausbildete. Im Jahre 1775 ver—
öffentlichte nämlich der holländiſche Wund-
arzt Förſch ein Buch über Java, in
welchem der Pfeilgiftbaum dieſer Inſel den
Löwenantheil des pittoresken Intereſſes da—
vonträgt: „In einer Einöde des Innern
der Inſel ſteht der gewaltige Giftbaum,
deſſen Ausdünſtungen die Luft auf drei
Meilen im Umkreiſe vergiften, ſo daß der
Kraufe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
517
Boden rings von den Gerippen der Men-
ſchen und Thiere umgeben iſt, die ſich ihm
in Unkenntniß, oder mit der Abſicht, feinen
giftigen Saft zu bekommen, genähert haben.
Um den letzteren nämlich für die Zwecke
des Krieges, der Jagd und der Staats—
juſtiz zu bekommen, ſtellte man, wie Förſch
erzählt, verurtheilten Verbrechern die Wahl
zwiſchen ſofortiger Hinrichtung oder einem
Gange zum Upasbaume, mit der Ausſicht
auf Begnadigung, wenn es ihnen gelänge,
eine Portion des Giftes glücklich heimzu⸗
bringen. Sie zogen in der Regel die
letztere Alternative vor, da bei ſonſtiger
guter Körperconſtitution und günſtigem
Winde ein Gelingen der Expedition für
möglich galt.
An der Grenze des Upas-Thales wohnt
ein alter Heidenprieſter, deſſen alleiniges
Amt es iſt, den ausgeſandten Verbrechern für
ihr Vorhaben nützliche Winke zu geben und
ſie für den lebensgefährlichen Gang mit
religiöſer Stärkung zu verſehen. Förſch
hatte mit dieſem Prieſter eine lange Unter—
redung, aus welcher er alles Nähere über
den gefürchteten Baum und ſein verhäng—
nißvolles Gift erfuhr. Der alte Mann
wollte während eines dreißigjährigen Auf—
enthaltes in dieſer Gegend nicht weniger
als 700 Wagehälſe für die Reiſe nach
dem Upasbaume vorbereitet haben, von
denen aber nicht der zehnte Theil zurück—
gekehrt ſei. Er verſähe einen Jeden mit
einer Maske, mit einer ledernen Kapuze
und einem Käſtchen für den trefflichen Saft,
der ihnen das Leben, Andern den Tod
bringen ſollte. Die Verurtheilten warteten
in ſeiner Wohnung den Eintritt des gün—
ſtigen Windes ab, und würden dann von
ihm an einen Bach geleitet, deſſen Lauf ſie
zu dem Baume führe.“
So weit die Mittheilungen von Myn—
— EEE
518
heer Förſch, der ſich vergebens bemühte,
wenigſtens einen Zweig des Baumes als
Wahrzeichen mit nach Europa zu bringen.
Märchen gefüttert, da man den Urſprung
der gefürchteten Waffe den Holländern ver⸗
borgen zu halten wünſchte. Ein großes,
ſcheinlich ein ehemaliger Krater, welches
mit den Gerippen von erſtickten Thieren
erfüllt war, wie wir derartige Mofetten
Jia auch in Europa haben, diente um der
Sage ein Relief zu geben. Vollkommen
wahr mag indeſſen ein Bericht deſſelben
Autors über eine Execution am Hofe eines
damaligen javaniſchen Fürſten ſein, die er
als Augenzeuge beſchrieb. Es wurden mit
einem Male dreizehn Frauen deſſelben, die
ſich durch irgend ein Vergehen die Un—
gnade ihres Herrn und Gebieters zugezogen
hatten, durch Upasgift hingerichtet. Man
ritzte ſie dabei nur ganz leicht mit einer
damit beſtrichenen Lanzette, worauf ſie nach
wenigen Augenblicken todt zu Boden fielen.
Wir erinnern uns, daß auch in den An—
fängen der europäiſchen Juſtiz das Gift
eine ähnliche Rolle ſpielte.
Man hat ſpäter den Urſprung der
javaniſchen und indiſchen Pfeilgifte genau
kennen gelernt, die betreffenden Pflanzen
nach Europa gebracht, ihre Wirkungen
ſtudirt und den wirkſamen Beſtandtheil
daraus dargeſtellt. Der von Förſch ge—
meinte Giftbaum wurde von den Einge—
beornen mehrer oſtindiſchen Inſeln, nament-
lich auch auf Borneo, für ihren Bedarf
künſtlich angepflanzt und gepflegt; es iſt
ein über hundert Fuß Höhe erreichender
und der Familie der Brodbäume, dem man
nach dem Namen des aus ſeiner Rinde
bereiteten Pfeilgiftes, Upas antjar, den
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
|
|
|
Kohlenſäure aushauchendes Giftthal, wahr-
verwandte
Namen Antiaris toxicaria beigelegt hat.
Erſteres verdankt ſeine Wirkſamkeit allein
dem Antiarin, einem Harzgifte, von welchem
Man hat ihn offenbar gefliſſentlich mit ſchon außerordentlich kleine Spuren in
Wunden tödtlich wirken. Es iſt aber wie
die meiſten Pfeilgifte im Magen vollkom—
men unſchädlich, und als die Eingebornen
Borneos in den letzten Kriegen mit den
Holländern ihre Giftpfeile in Anwendung
brachten, gab man den Soldaten einfach
den Rath, ſchnell einen Kreuzſchnitt über
die Wunde zu machen, und ſie bis zur
Herbeiſchaffung von Schröpfköpfen mit dem
Munde auszuſaugen. Auf dieſe Weiſe
wurden die meiſten verwundeten Soldaten
von dem ihnen ſonſt ſicher drohenden Tod
errettet.
Die Bewohner Oſtindiens verwenden
aber neben dem Upas antiar noch ein an—
deres, mindeſtens ebenſo gefährliches Pfeil—
gift, das Fürſten-Gift (Upas radjah oder
Tieutte), welches aus einer Anzahl von
Pflanzenſtoffen bereitet wird, unter denen
eine dem ſogenannten Krähenaugen-Baum
Pflanze (Strychnos Tieuté
Lesch.) die Hauptrolle ſpielt. Merkwür—
diger Weiſe werden die ſüdamerikaniſchen,
Baum aus der Ordnung der Neſſelgewächſe
unter den Namen Curare, Woorari, Urari,
Tikuna u. ſ. w. bekannten, ſehr wirkſamen
Pfeilgifte größtentheils ebenfalls aus Strych-
nos-Arten (namentlich Strychnos toxifera
Schomb., St. cogens Benth., St. Schom-
burgkii Kl. u. A.) dargeſtellt, jo daß
man ſagen kann, die Strychnaceen ſeien
die eigentlichen Pfeilgiftpflanzen, obwohl
die ihnen im Syſtem zunächſt ſtehenden
Milchſaftpflanzen der Apocyneen und
Asklepiadeen, ſowie auch andere gar nicht
verwandte Pflanzen ebenfalls ſehr wirkſame
Blutgifte enthalten.
Jene aus Strychnos und Genoſſen
bereiteten Pfeilgifte zeichnen ſich nun meiſtens
dadurch aus, daß fie eine dem gefürchteten
Gifte der Krähenaugen (d. h. der Samen
von Strychnos Nux vomiea L.), dem
Strychnin, faſt entgegengeſetzte Wirkung
zeigen. Während dieſes das Nervenſyſtem
furchtbar erregt und dem Tode voran-
gehende ſchreckliche Krämpfe erzeugt, ſtürzen
die mit den amerikaniſchen Giftpfeilen ver—
wundeten Thiere nach wenigen Augenblicken
gelähmt nieder, ſie können nicht einmal
ſtöhnen oder ſchreien, weil die Lähmung
auch die Stimmnerven erfaßt hat, und
ſterben lautlos, ſobald dieſelbe die Athmungs—
nerven ergriffen hat. Im Magen dagegen
iſt auch dieſes Gift viel weniger ſchädlich,
ja es wird von den Ureinwohnern als
Magenheilmittel genoſſen, natürlich in klei—
nen Mengen. Das Fleiſch der ſo erlegten
Thiere wird für vollkommen unſchädlich
gehalten.
Dieſe merkwürdigen Wirkungen und
der Umſtand, daß in unſeren Breiten keine
Strychnaceen vorkommen, iſt ganz geeignet,
die irrige Vorſtellung zu erzeugen, daß ſo
furchtbar wirkende Blutgifte in den Pflan-
zen nur die Tropenſonne zeitigen könne,
wie ja auch die giftigſten Reptilien und
Inſekten nur dort vorkommen; und in der
That findet man die Meinung allgemein
verbreitet, daß es bei uns und in der
gemäßigten Zone überhaupt keine Pfeilgift—
pflanzen gäbe, und daß dergleichen in
Europa unerhört ſei. Man betrachtete
daher auch in den ethnographiſchen Samm—
lungen die mit eingedicktem Pfeilgift ange— |
füllten Muſchelſchalen und Kürbisfläſchchen,
ſowie die mit der Warnungstafel: „Ver—
giftet!“ verſehenen Pfeile mit einer Art
beſonderen Reſpekts und ſcheuem Mißtrauen;
die auf Nervenreize abzielenden Roman—
ſchriftſteller der Dumas-Sue'ſchen Schule
verſchrieben ſich ſolche mit einem Hände—
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
druck beibringbaren „extrafeinen“ Gifte für
beſonders raffinirte Ausderweltſchaffungen,
und Niemand wird die faſt abergläubiſche
Scheu vor dem Giftpfeil, wie fie Jean
Paul in Katzenberger's Badereiſe und
Balzac in einer ſeiner „drolligen“ Er—
zählungen (PApostrophe) geſchildert haben,
humoriſtiſch und ungerechtfertigt finden.
Gleichwohl iſt kein Zweifel daran und
wird von zahlreichen klaſſiſchen Schriftſtel—
lern beſtätigt, daß die Urbewohner Europas
in ihrer heimathlichen Flora allerwärts
Pfeilgiftpflanzen zu ermitteln wußten, und
ſich alſo auch in dieſem Punkte gar nicht
von den Naturvölkern Amerikas und Afrikas
unterſchieden haben. Man konnte dieſe
Pflanzen eben darum ſo vollkommen ver—
geſſen, weil ſie wahrſcheinlich im Magen
ebenfalls unſchädlich ſind, — denn ſonſt
würden ſie zum Theil das Wildpret un—
genießbar gemacht haben, — während die
Volksbotanik ſich heute doch mit gutem
Grunde nur um ſolche Giftpflanzen küm—
mert, die vom Magen aus vergiften. So
haben denn beiſpielsweiſe vor einigen Jahren
die Pharmacologen Diedulin und
Buchheim bemerkt, daß die Extrakte
zweier unſerer für ganz unſchuldig gehal—
tenen Feldpflanzen, nämlich der Hunds—
zunge (Cynoglossum offieinale L.) und
der Natternzunge (Echium vulgare L.)
dem amerikaniſchen Curare ähnlich wirken,
wenn auch nicht ganz ſo ſtark.
Bevor wir zu einer nähern Betracht—
ung der alten Zeugniſſe über den Pfeil-
giftgebrauch der europäiſchen Indianer über—
gehen, müſſen wir uns die anſcheinend ſehr
verwickelte Frage vorlegen, wie die menſchliche
Urbevölkerung auf der ganzen Welt und in
den verſchiedenſten Zonen dazu gekommen ſein
mag, Waffen der gefährlichſten Art zu entdecken
die ſo in der Natur verſteckt liegen, daß
520
unſere Botaniker und Chemiker beiſpiels—
weiſe noch vor wenigen Jahren nicht im
Stande waren, auch nur eine einzige mittel—
enropäiſche Pflanze mit Sicherheit zu be—
zeichnen, aus welcher die alten Gallier,
Franken, Belgier, Dalmatier und Scythen
im Stande geweſen wären, die Pfeilgifte
zu bereiten, mit denen ſie verſehen waren.
Aber wenn man dieſe Frage näher be—
trachtet, ſo findet man, daß ihre Löſung
weniger ſchwer iſt, als ſie erſcheint. Es
unterliegt nämlich meines Erachtens keinem
Zweifel, daß der Urmenſch überall die
Idee ſeiner Giftpfeile aus der Beobachtung
der giftigen Schlangen und Inſekten ſchöpfen
mußte. Nirgends konnte es ihm entgehen,
daß die unbedeutenden Wunden, welche der
Biß oder Stich dieſer Thiere bei Menſchen
und Thieren erzeugt, nur deshalb tödtlich
werden, weil eine fremde Subſtanz, ein
Blutgift, mittelſt der Waffe in die Wunde
gelangt. Je unvollkommner ſeine eigenen
Jagd- und Kriegswaffen waren, um ſo
ſtärker mußte er offenbar dieſe Thiere um
ihre Giftwaffe beneiden, und daran knüpft
ſich unmittelbar der Wunſch einer Nach—
ahmung derſelben. Es läßt ſich annehmen,
daß überall zuerſt ausgebrochene Giftzähne
der getödteten Schlangen als Giftpfeil—
ſpitzen gedient haben mögen. Schon der
alte Aelian hat dieſer Meinung Aus—
druck gegeben, indem er ſagt, die Menſchen
hätten den Gebrauch der Giftpfeile den
Wespen abgelauſcht, dieſe ſtürzten ſich näm—
lich, ſobald ſie eine todte Schlange fänden,
auf dieſelbe und vergifteten ihre Stacheln
daran.!) Wenn nun auch dieſe Gewohn—
heit der Wespen in das Gebiet der Mythe
gehört, ſo iſt der Grundgedanke doch ſehr
wahrſcheinlich und ſeine ſchon an ſich un—
abweisbare Annahme wird noch beträchtlich
. Hist. animal. V. 16.
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
durch die Thatſache erhöht, daß die Gift—
köche aller Völker und Zeiten Schlangen
und andere für giftig gehaltenen oder wirk—
lich giftigen Thiere (Eidechſen, Fröſche,
Salamander, Spinnen, Ameiſen, Raupen
u. ſ. w.) ihrem nach den Regeln der Hexen—
küche bereiteten Gebräu hinzuſetzten und
heute noch hinzuſetzen. In dem alten, dem
Ariſtoteles zugeſchriebenen griechiſchen
Buche: De mirabilium auseultationibus
wird die Bereitung des Pfeilgiftes der
Scythen wie folgt beſchrieben: „Das Gift
der Scythen, mit welchem fie die Pfeile
vergiften, wird, wie man ſagt, aus der
Viper bereitet. Die Seythen fangen träch—
tige Vipern und laſſen dieſelben mehrere
Tage hindurch faulen und zerfließen; ferner
graben ſie das geſammte Blut eines Men—
ſchen in einen bedeckten Topfe in Miſt.
Wenn letzteres gut durchgefault iſt, nehmen
ſie die über dem Blute ſtehende wäſſerige
Flüſſigkeit, miſchen dieſelbe mit dem Schleim
der Viper, worauf das tödtliche Gift fertig
iſt.“!) Auch Ovid erwähnt kurz?) der
mit Schlangengift beſtrichenen Pfeile der
Scythen; Aelian deutet ebenfalls die
Miſchung deſſelben mit dem menſchlichen
Blutwaſſer an und ſagt, daß man dieſe
Miſchung kurzweg das „ſcythiſche Gift“
genannt habe.?) Plinius fügt noch hin—
zu, daß es gegen dieſe ſchändliche Miſchung
aus Viperngift und Menſchenblut gar kein
Heilmittel gebe; eine auch nur oberflächliche
Berührung tödte auf der Stelle.“)
Mit Recht bezweifelte ſchon Redi eine
fo ſchnelle Wirkung dieſer Miſchung,“) bei
) Cap. 153 S. 316 der Beckmann'ſchen
Ausgabe.
2) Ovid., ex Ponto IV. Ep. 9. v. 83.
3) Aelian., Histor. animal IX. c. 15.
) Plinius, Hist. nat. L. XI. c. 53.
5) Fr. Redi, Experimenta Amstelod.
1685. p. 266.
welcher ohne Zweifel weniger das Schlangen—
gift, als das durch die Fäulniß erzeugte
ſeptiſche Gift die tödtliche Wirkung her—
vorbrachte. Derartige, mit Fäulnißgiften
beſtrichene Pfeile könnten allerdings nicht
auf der Jagd, wohl aber im Kriege mit
Erfolg benutzt worden ſein, da ſie, wenn
auch nicht auf der Stelle, ſo doch ziemlich
ſicher auch bei leichten Verwundungen tödt—
lich werden müſſen. Der Gebrauch ſolcher
Schlangen- und Fäulnißgifte bei den Vor⸗
fahren der Griechen malt ſich ſehr deutlich
in den Herakles-Mythen. In der Galle
der von ihm getödteten lernäiſchen Schlange
ſollte er ſeine Pfeile getränkt haben, wie
Diodor erzählt,“) und wenn auch die
Alten annahmen, daß von der Galle der
Schlangen aus die Giftzähne verſorgt wür—
den, ſo deutet der Verlauf der Mythe
allerdings ziemlich deutlich auf einen ſep—
tiſchen Charakter des herakleiſchen Pfeil—
giftes. Daſſelbe ſollte nämlich nach Dio—
dor's fernerer Darſtellung das geſammte
Blut des mit demſelben getödteten Cen—
tauren Neſſus derartig vergiftet haben, daß
ein mit demſelben getränkter Zeugſtoff der
Dejanira den Herakles ſelbſt unter unſäg—
lichen Schmerzen tödten konnte. Eine ſolche
Wirkung wurde noch dem Erben des mit
den Pfeilen gefüllten herakleiſchen Köchers,
dem unglücklichen Philoktet, verhängnißvoll.
Einer der Pfeile fiel durch einen Zufall
auf ſeinen Fuß und die leichte Wunde
brachte ein fürchterliches Siechthum hervor.
Dieſe Erzählungen ſind ſo charakteriſtiſch,
daß ſie offenbar auf wirklichen Erfahrun—
gen beruhen; die Benutzung des Blutes
einer durch Giftpfeile getödteten Perſon als
neuerzeugtes Gift würde aber entſchieden
auf die ſeptiſche Natur jener Pfeilgifte
deuten, und vermuthlich iſt auch bei dem
1) Diodor., IV. c. 11 u. 38.
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
|
521
durch den Pſeudo-Ariſtoteles, Aelian
und Plinius erwähnten Menſchenblut
an ſolches von durch ſeptiſche Gifte getödte—
ten Menſchen zu denken, in deren Körper
ſich das Gift immer von Neuem aufrriſchte.
Man könnte ſich, während die urſprüngliche
Erzeugung des ſeptiſchen Pfeilgiftes in dem
in Fäulniß übergegangenen Schlangenkörper
ganz klar liegt, nicht leicht ohne jene An—
nahme den Zuſatz des Menſchenblutwaſſers
erklären. Natürlich glaubte man es eigent—
lich nur mit dem übertragenen Schlangen—
gift zu thun zu haben.
Ein ähnliches Fäulnißgift bereiteten die
Indianer Nordamerikas aus faulendem
Pferde- oder Büffelfleiſch. Wenn die An-
gaben des Reiſenden Terral zuverläſſig
ſind, ließen ſie Klapperſchlangen in das
Fleiſch hineinbeißen (2) und daſſelbe be—
geifern (2), ſchnitten dann die betreffenden
Stellen aus und ließen ſie faulen, worauf
noch giftige Pflanzenſäfte dem Brei, mit
dem ſie dann ihre Pfeile beſtrichen, hinzu—
geſetzt wurden. Die Goajiro-Indianer im
Norden Südamerikas ließen Schlangen,
Kröten, Eidechſen, Scorpione, Spinnen,
Ameiſen u. ſ. w. mit einander faulen und
tauchten ihre Pfeile hinein; auch die Buſch—
männer fügen ihrem aus Euphorbienſaft
gewonnenen Pfeilgifte Schlangengift hinzu,
und andere Stämme ſollen die giftigen
Hautausſchwitzungen gewiſſer Amphibien in
gleicher Weiſe verwenden. Einige Forſcher
haben vermuthet, daß dieſe Benutzung gif—
tiger Thiere nur Aufſchneidereien der Gift—
köche ſeien, um die eigentlich wirkſamen
Pflanzentheile dahinter zu verbergen; daß
indeſſen Zähne von Giftſchlangen noch immer
mit in den Hexenkeſſel gethan werden, iſt un—
zweifelhaft, und der ausgezeichnete Toxicologe
Huſemann hat dieſelben ſogar in einem
von dem Reiſenden Appun mitgebrachten
522 Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
amerikaniſchen Pfeilgifte, welches man viel—
leicht bei der Bereitung durchzuſeihen ver—
geſſen hatte, angetroffen.
Da es den Naturmenſchen unmittel—
barer bekannt wird als den Culturmenſchen,
daß Giftſtoffe in den Pflanzen viel ver—
breiteter ſind, als in den Thieren, ſo lag
es nahe, dieſelben zur Bereitung der Pfeil—
gifte herbeizuziehen. Die Naturvölker hul—
digen faſt überall der Theorie, daß den
Thieren die Heil- und Giftſtoffe der Pflan—
zen noch viel beſſer bekannt ſeien, als den
Menſchen. So lernten nach griechiſcher Sage
die Menſchen erſt von den Hirſchen die
Heilkraft des kretiſchen Diptam bei Pfeil—
ſchüſſen, von den Schwalben diejenige der
Schwalbenwurz (Chelidonium) bei Augen—
krankheiten, von einer Schlange läßt ſich
Polyides das lebenſpendende Kraut zeigen.
Woher kann die Giftſchlange ihr Gift
haben? fragt ſich der nachdenkliche Natur—
ſohn. Offenbar von Giftkräutern, die ſie
heimlich frißt, und aus denen die Galle
das Gift abſondert und in die Zähne
ſendet. Man muß alſo ſuchen, dieſe Gift—
kräuter ausfindig zu machen, um die ge—
fährliche und mühſame Einſammlung der
Giftzähne zu umgehen.
Jedenfalls find es meiſt einzelne Per—
ſonen geweſen, in der Regel wahrſcheinlich
die Schamanen, welche die geeignetſten
Pflanzentheile ausfindig machten, denn bei
den meiſten Indianerſtämmen findet ſich noch
heute das Geheimniß bei einzelnen Familien
und erbt ſich vom Vater auf den Sohn,
von der Mutter auf die Tochter; auch ſtehen
überall einzelne Giftköche in höchſtem Rufe,
etwa wie in Kolchis Medea und wie bei
uns die Arkaniſten ſich den Ruhm ſtreitig
machen, die kräftigſte Panazee zu bereiten.
Die wunderlichen Ceremonien, die dabei
von einzelnen Meiſtern und Meiſterinnen
beobachtet werden, deuten unverkennbar auf
den Zuſammenhang mit dem alten Scha—
manenthum; der Stand der Geſtirne wird
beim Einſammeln und Kochen beobachtet,
Zauberformeln dazu gemurmelt und der
Brei durch fortwährendes Blaſen vor allzu
ſtarker Erhitzung, die den wirkſamen Stoff
zerſetzen könnte, geſchützt. Und wenn auch
der fortgeſchrittene Giftkoch recht gut wiſſen
mag, daß dieſe oder jene Wurzel oder
Rinde die Hauptſache dabei ausmacht: zu
Ehren der alten Muhme, der Schlange, von
der doch die Idee ausgegangen iſt, muß
ſie immer noch mit in den Keſſel hinein und
wir können in dieſem Umſtande eine der
mannigfachen Urſachen erkennen, aus denen
in der Urzeit Feuerprieſter und Zauberarzt
immer mit der Schlange in Verbindung
gedacht wurden. Das „Giftkochen“ iſt bei
den Naturvölkern ein höchſt wichtiges, ein—
trägliches und geachtetes Geſchäft, liefert
es doch in jenen Zuſtänden eine der Haupt—
waffen, um die Jagd erfolgreich und den
Kampf entſcheidend zu machen, und man—
ches der vorweltlichen Thiere, deren Reſte
wir mit denjenigen des vorhiſtoriſchen Be—
wohners unſerer Zonen zuſammenfinden,
mag durch Giftpfeile erlegt worden ſein.
Die Griechen legten den Gebrauch von
Giftpfeilen ausdrücklich auch ihren Erz—
vätern bei. Homer ſchildert in der
Ddyffee!), wie der herrliche Dulder in die
Ferne ſegelt, um
„Menſchentödtende Säfte zu holen, damit er
die Spitzen
Seiner gefiederten Pfeile vergiftete
und bei dem Schuß in die Ferſe, der den
Achill tödtete, kann man nur an die Wirk—
ung eines Giftpfeiles denken. Aber die
Griechen ſelbſt bedienten ſich in hiſtoriſchen
Zeiten der Giftpfeile nicht mehr, ſo große
) I. v. 261.
Te ˙.¹AA] — ů⁰wmu] —.r⅜̃ 0
Vortheile dieſe auch ſonſt bieten mochten;
dieſelben ſind eben überall eine vorhiſtoriſche
Erſcheinung; es iſt, als ob ſich mit der
beginnenden Cultur der Stolz des Men—
ſchen auflehnte, mit ſeiner geſchworenen
Feindin, der Schlange, irgend etwas ge—
mein zu haben. Selbſt in den klaſſiſchen
Schriften über die „Kriegsliſten“ der Alten
wird der Giftpfeile nicht mehr gedacht,
und es ſcheint mir das freiwillige Aufgeben
einer jo wirkſamen Waffe ein höchſt inter—
eſſantes pſychologiſches Problem darzubieten.
Nur beiläufig will ich hierbei darauf
hinweiſen, daß jener Pfeilgiftkeſſel, in wel—
chem neben den Giftkräutern Drachenleib,
told, Salamander und Unke zu Brei ge—
kocht wurden, und der nicht nur in den
tropiſchen Urwäldern, ſondern auch im alten
Europa über nächtlichen Waldfeuern bro—
delte, überall von unheimlichen Geſtalten
umtanzt und mit Zauberliedern begleitet,
daß dieſer Giftkeſſel offenbar das Vorbild
zu jenen Zauberkeſſeln der Druiden, der
Hekate und Medea, der theſſaliſchen und
nordiſchen Hexen geworden iſt, die uns
Shakeſpeare und Goethe ſo draſtiſch
geſchildert haben. Die Aehnlichkeit wird
beſonders ſtark in einer Beſchreibung, die
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
der Reiſende Tennent von der Bereitung
des gefürchteten Kabaratelgiftes bei den
Singaleſen gegeben hat. Dieſelben hängen
zunächſt eine Anzahl ihrer gefürchtetſten
Giftſchlangen, namentlich die Cobra de
Capello (Naja tripudians), die Tikpolonga
(Vipera elegans) und die Carawilla (Tri—
gonocephalus hypnalis) am Schwanze
über dem Giftkeſſel auf und machen Ein—
ſchnitte in den Kopf, durch welche angeb—
lich das Gift herabfließt. Das ſo ge—
ſammelte Schlangenblut wird ſodann mit
Arſenik und anderen zweifelloſen Giften
gemiſcht und nun unter Beiſtand der Ka—
Kosmos, Band III. Heft 6.
523
baragoyas (Varanus salvator) in einem
Menſchenſchädel fertig gekocht. Die letzt—
genannten großen Eidechſen oder Warane
werden von drei Seiten gegen das Feuer
geſetzt, ihre Köpfe gegen daſſelbe gerichtet,
in dieſer Stellung feſtgebunden und nun
mit Schlägen und Drangſalen aller Art
bedrängt, ſo daß ſie zu ziſchen anfangen
und dadurch das Feuer gewiſſermaßen an—
blaſen, wie die Thiere in Goethe's Hexen—
küche. Aller Speichel, den ſie in der Angſt
verlieren, wird ſorgſam geſammelt und dem
kochenden Gebräu zugeſetzt, welches für
fertig gehalten wird, ſobald ſich an der
Oberfläche eine ölige Flüſſigkeit anſammelt.
Vielleicht zum Theil in Folge dieſes bar-
bariſchen Gebrauches wird denn die un—
ſchuldige Kabaragoya für ein entſetzlich
giftiges Thier gehalten.
Indeſſen waren dieſe Giftthiere, wie
ſchon angedeutet, zuletzt nur noch eine De—
coration, mit der man die aus dem Pflanzen—
reiche gewonnenen Hauptbeſtandtheile ſpäter
noch maski rte, wie dies ja die gewöhnliche
Praxis der Laboranten und Geheimniß—
krämer iſt. So haben wir denn auch An—
deutungen genug, daß auch das ſcythiſche
Gift, obwohl es vermöge der Fäulniß ſehr
gefährlich wirken konnte, doch auch pflanz-
liche Beimiſchungen enthielt, durch die dann
auch der von Plinius erwähnte ſchnelle
Erfolg zu erklären wäre. Der Verfaſſer
eines dem Galenus untergeſchobenen
Buches über den Theriak erwähnt, daß
die Dalmater und Sacer (letzteres die Be-
nennung der Scythen bei den Römern),
ihre bei der leichteſten Verwundung ſchnell—
tödtenden Pfeile herſtellten, indem ſie die—
ſelben mit der Pflanze Helenium einrieben.
Wenn die damit verwundeten Hirſche und
andere wilde Thiere aber dieſe Pflanze
fräßen, würde die Verwundung unſchädlich.
67
524
Die letztere Bemerkung ift in dem Munde
eines Lobredners des Theriaks, der aus
Vipernfleiſch bereitet, den Vipernbiß heilen
ſollte, völlig angemeſſen, dieſe Herren waren
eben die eigentlichen Erfinder der dem
„großen“ Hahnemann zugeſchriebenen
Homöopathie. Nicander von Kolophon,
der älteſte auf uns gekommene Special-Schrift—
ſteller über Gifte und Gegengifte, beſchreibt in
ſeinem „Alexipharmaca“ betitelten Lehr—
gedichte die Wirkungen eines Toxicum
genannten Giftes, deſſen ſich die gerrhäiſchen
Nomaden und die ackerbauenden Völker am
Euphrat bedient hätten, um ihre Pfeilſpitzen
zu vergiften, und der Scholiaſt ſetzt hinzu,
dies ſei eben das, ſonſt das „ſeythiſche“ ge—
nanute, Gift.
Jener Name (Toxicum), welcher ſpäter
auf alle Gifte im Allgemeinen übergegangen
iſt und nach dem auch die Giftlehre oder
Toxicologie ihren Namen erhalten hat, be—
zeichnete alſo urſprünglich das Pfeilgift ganz
im Beſondern und zwar noch zu den Zeiten
des Feſtus, welcher in ſeinem Buche
über die Bedeutung der Wörter ausdrück—
lich ſagt: Toxicum wird das Hirſchgift
(cervarium venenum) genannt und zwar
weil man mit demſelben die Pfeile zu
ſalben pflegt. Plinius verſucht eine un—
glückliche Ableitung des Namens, indem er
ſagt, daß die Pfeile, welche man zu ver—
giften pflegte, aus Taxusholz geſchnitzt
worden wären und daß der Name „taxi-
corum sive toxicorum“ daher ſtamme!).
Das Alterthum war ebenſogroß in ge—
waltſamen Etymologien wie die Jetztwelt,
denn die richtige Ableitung lag hier doch
ſehr nahe. Dioscorides und mehrere
alte Grammatiker haben ſie richtiger ge—
geben: Toxrikon, jagt der Erſtere,?) ift es
brauchbar werde.
für dieſes Gift in der Eichenrinde ein
) Hist. natur. XVI. 10.
2) Alexipharm. Cap. 20.
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
Wiſſenſchaft vom Bogenſchießen.
deshalb genannt worden, weil die Pfeile
(griechiſch 7680) von den Barbaren da—
mit beſchmiert wurden. 7650 hieß ur-
ſprünglich der Bogen, von dem man Pfeile
abſchoß, und 20s mit dem Bogen ſchießen.
Wir haben darin eines der merkwürdigſten
Beiſpiele von der Uebertragung des Sinnes
der Worte in eine ganz andere Sphäre.
Strenge Etymologen würden alſo das
Wort Toxicologie und alle ähnlichen ver—
werfen müſſen, denn es heißt wörtlich die
Auch die
Akonit⸗Pflanze habe ich ſtark in Verdacht,
ihren Namen einem alten Gebrauche der
Wurzel zur Vergiftung der Wurfſpeere
verdankt zu haben, denn &rwv oder @x0V-
20% hieß der Wurfſpeer und mehrere ſo—
genannte Akonit-Arten — die keineswegs
alle zu unſerem Aconitum zu gehören
brauchen, — wurden von den Alten als
Pfeilgift-Pflanzen bezeichnet.
Der Name Toxicum wurde nun be—
ſonders häufig dem Pfeilgifte der alten
Celten und Gallier beigelegt, von welchem
übrigens ſämmtliche Autoren mittheilen,
daß es aus Pflanzenſtoffen bereitet wurde.
Auch hierüber iſt der obencitirte Pfeudo-
Ariſtoteles am ausführlichſten geweſen.
„Bei den Celten“, ſagt er, wird ein Gift
gefunden, welches fie Xenieum nennen
(d. h. das Fremde, wenn dieſes bereits in
den älteſten Handſchriften vorkommende
Wort nicht ein Schreibfehler ſtatt Toxicum
iſt) und welches mit ſo großer Schnellig—
keit vergiftet und tödtet, daß die celtiſchen
Jäger eiligſt herzuſpringen und dem nieder—
geſtreckten Hirſche das Fleiſch rings um
den Pfeil ausſchneiden, damit das Thier
nicht durch das vordringende Gift in ſchnelle
Fäulniß übergehe und zur Nahrung un⸗
Man ſetzt hinzu, daß
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
Heilmittel gefunden worden ſei; andere rüh—
men das Blatt der Rabenpflanze (korakion),
fo genannt, weil ein mit jenem Stoffe ver-
gifteter Rabe von ſelbſt das Blatt auf-
ſuchte, aß, von den Schmerzen befreit er—
ſchien, und es ſo den Menſchen verrieth.“
Daß die weite Umſchneidung der Wunde,
nicht wegen der Giftigkeit geſchah, iſt hier
bereits angedeutet. Die Alten wußten
recht gut, daß dieſe Gifte im Magen un—
ſchädlich ſind, und der berühmte römiſche
Arzt Celſus ſagt ausdrücklich: Die Jagd—
gifte, deren ſich die Gallier vorzugsweiſe
bedienen, ſchaden beim innerlichen Genuſſe
nicht, ſondern nur in der Wunde.!) Pli-
nius?) und Aulus Gellius?) erwähnen
ebenfalls der üblichen weiten Umſchneidung
der Wunde und ſetzen hinzu, daß man
dieſe mit Nießwurzſaft beſtrichenen Pfeile
auch darum auf der Jagd mit Vorliebe
anwende, weil das Fleiſch der auf dieſe
Weiſe getödteten Jagdthiere zarter ausfalle,
was wohl möglich iſt. Ob unter dem von
dieſen beiden Autoren gebrauchten Namen
Elleborus eine Art der ſchwarzen Nieß—
wurz (Helleborus) oder der weißen Nieß⸗
wurz (Veratrum) oder eine ganz verſchie—
dene Pflanze gemeint ſei, iſt unbekannt.
Plinius ſelbſt macht an einer anderen
Stelle feiner Naturgeihichte?) eine andere
Pflanze, die er Limeum nennt, namhaft,
aus welcher die Gallier ihr Hirſchgift be—
reitet hätten, und vielleicht hatten ſie, wie
die obigen Ausdrücke des Celſus anzu—
deuten ſcheinen, verſchiedene Arten von
Pfeilgiften, die aus verſchiedenen Pflanzen
gewonnen wurden. Strabo beſchreibt
einen Baum näher, aus welchem die Celten,
) De medieina V. C. 27.
2) Hist. nat. 25, 5.
) Noctes atticae 17. 15.
) Hist. nat. 27. 11.
oder, wie andere leſen, die alten Belgier,
ſich ihr Pfeilgift bereitet hätten. „Es wird
erzählt“, ſagt er, „daß in Gallien (hier
leſen Einige Kedrıny, Andere BS‘
ein der Feige ähnlicher Baum wachſe, deſſen
Frucht, in der Form dem Kapitäl der forin-
thiſchen Säule ähnlich, beim Anritzen
einen Saft ausfließen läßt, der die damit
beſtrichenen Pfeile tödtlich macht.“!
Die Botaniker haben ſich viele Mühe
gegeben, die erwähnten Pfeilgiftpflanzen
der alten Gallier und Belgier genauer zu
beſtimmen. Einige haben die Akonit-Arten
in Verdacht, die aber auch innerlich ſehr
ſtark giftig wirken, jo daß man ſchon im
alten Griechenland durch mit der Wurzel
beſtreuetes Fleiſch die Wölfe tödtete. Doch
erzählen ſchon römiſche Autoren, daß ſie
auch im Blute ſchädlich wirken ſollen und
der Wurzel vou Aconitum ferox L. ſollen
ſich aſiatiſche Stämme noch heute zur Pfeil—
gift⸗Bereitung bedienen. Conrad Ges—
ner, hat, worauf wir ſpäter genauer zu⸗
rückkommen, die Hirſchgift-Pflanze der
Gallier in einer Alpen-Ranunkel erkennen
wollen und in der That ſollen ſich die
Kamtſchadalen einer naheſtehenden Pflanze
(Anemone ranunculoides L.) zur Pfeil⸗
giftbereitung bedienen. Der belgiſche Pfeil-
gift⸗ Baum des Strabo iſt noch weniger
enträthſelt, aber um ihn ſcheinen ſich
ſchon im Alterthum ähnliche Mythen ge—
bildet zu haben, wie um den javaniſchen
Giftbaum oder den Manzanillo-Baum, den
Scribe von den Antillen nach Afrika ver—
pflanzt hat und deſſen unſcheinbare grün⸗
liche Blüthen unter den Händen unſerer
Decorationsmaler ſich in prächtige hochrothe
Monſtreblumen zu verwandeln pflegen.
Plinius erzählt nämlich, daß der Tarus-
baum, deſſen Holz die Giftpfeile lieferte,
9 Geogr. IV. c. 4.
526
die unter ihm ſchlafenden oder eſſenden
Perſonen tödte, und Lucrez ſchildert einen
Giftbaum des Gebirges, deſſen Duft töd—
ten ſollte.
Daß die alten Germanen, deren Jagd—
liebhaberei Cäſar und Tacitus jo aus—
drücklich hervorheben, ſich ebenfalls vergifteter
Pfeile bedient haben, iſt ſehr wahrſcheinlich,
obwohl ich es nicht mit ausdrücklichen
Zeugniſſen belegen kann. Die Mythen
von dem Stich des Schlafdorns, durch
welchen Odin die Brunhild in einen tiefen
Schlummer verſetzte, und von der Tödtung
Balders durch den im Spiele gegen ihn
geſchleuderten Miſtelzweig deuten darauf
hin. Hinſichtlich der fränkiſchen und helve—
tiſchen Stämme ſind dagegen ausdrückliche
Zeugniſſe noch aus ſpäterer Zeit vorhanden.
Ueber die Waffe, mittelſt welcher die
Giftpfeile in Alteuropa geſchleudert wurden,
ſind wir im Unklaren. Urſprünglich mag
es der Bogen, ſpäter auch die Armbruſt
geweſen ſein. Aber ich vermuthe, daß
man ſich mitunter auch, wegen der außer—
ordentlich leichten und ſicheren Handhabung,
wie in den Tropenländern des Blasrohres
bedient haben wird. Xiphilinus erzählt
nämlich in den Lebensbeſchreibungen der
Kaiſer Domitian und Commodus, die er
aus dem Geſchichtswerke des Dio Caſſius
ausgezogen hat, daß ſich in dieſen Zeiten
römiſche Meuchelmörder vielfach die von
den Barbaren erlernten Jagdkünſte zu
Nutzen gemacht und ihre Opfer durch
lautlos mit dem Athem fortgetriebene ver—
giftete Nadeln getödtet hätten.!) Wenn
auch die Angaben darüber kurz und unklar
ſind, läßt ſich doch die Vermuthung daran
knüpfen, daß man mit dem Blutgifte ſelbſt
auch die beſondere Waffe von den Barbaren
entlehnt haben möchte.
9 Dio Cassius h. r. 67, 11 und 72, 14.
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
Merkwürdiger Weiſe finden ſich weder
bei griechiſchen, noch bei römiſchen Schrift—
ſtellern Klagen darüber, daß ſich die Bar—
baren im Kriege der Giftpfeile gegen ſie
bedient hätten. Es ſcheint, daß die Civili—
ſation dieſer Wilden doch bereits zu hoch
geſtiegen war und daß ſie zu viel auf per—
ſönliche Tapferkeit hielten, um ſich einer jo
heimtückiſchen Waffe im offnen Männer-
kampfe zu bedienen. Dagegen finden wir
aus ſpäterer Zeit Nachrichten über den
Gebrauch von Giftpfeilen und zwar von
Seiten der Franken gegen die unter römi—
ſcher Führung mit ihnen kämpfenden Gallier.
Der Biſchof Gregor von Tours hat
uns in ſeiner im ſechſten Jahrhundert ver—
faßten Historia Francorum die Schilder—
ung eines Kampfes aufbewahrt, der im
Jahre 388 ſtattgefunden hat und in welchem
die Franken ganz nach Art afrikaniſcher
oder amerikaniſcher Wilden mit vergifteten
Pfeilen aus dem Walde, in welchem ſie
ſich verſchanzt hatten, auf die Soldaten
des römiſchen Feldherrn Quintinus
ſchoſſen. Der Kampf fand einige Tage-
märſche von Köln ſtatt. „Am Waldrande
erſchienen, jo erzählt Gregor!) nach den
Aufzeichnungen des Hiſtorikers Sulpicius
Alexander, einige dünngeſäete Feinde
auf zu Haufen gethürmten Baumſtämmen
und ſchleuderten von da aus, wie von den
Zinnen eines Thurmes und als wenn ſie
mit Kriegsmaſchinen verſehen geweſen
wären, Pfeile, die ſie in den Saft giftiger
Kräuter getaucht hatten, ſo daß, wenn die
Haut auch nur geſtreift wurde und Kör—
perſtellen getroffen wurden, an denen die
Verwundungen ſonſt ungefährlich ſind,
dennoch ein ſicherer Tod die Folge war.“
Auch in noch ſpäteren Zeiten behielten
die Franken dieſe heimtückiſche Kampfesweiſe
= Hist. Franc. 179.
bei und das ſaliſche Geſetz verbot, wie
Le Grand d' Auſſi erwähnt,!) bei
Strafe, daß ſich ein Franke gegen den
anderen der Giftpfeile bediene, nicht aber
den Gebrauch gegen Fremde. In der
Folge wurde die Verwendung von Gift—
pfeilen immer mehr durch Geſetze eingeengt
und zuletzt auf die Jagd beſtimmter Thiere
beſchränkt. In der Umgegend von Mar—
ſeille bediente man ſich ihrer noch im 14.
Jahrhundert. „Ich habe Aktenſtücke ge—
ſehen“, ſagt A. de Ruffi in ſeiner
Geſchichte von Marſeille,?) welche mir be—
weiſen, daß der Landvogt ungefähr gegen
die Mitte des 14. Jahrhunderts erlaubte,
Rehe, Hirſche und Eber mit dem Giftpfeile
zu jagen.“ Kein Zweifel, daß das Ge—
heimniß, dieſe Pfeile zu bereiten, ſich bei
Jägern und Jagdliebhabern noch viel länger
erhalten hat und auch wohl zuweilen auf
„edleres Wild“ angewendet wurde.
man die in den Chroniken Froiſſart's
ſo rührend erzählte Geſchichte lieſt, wie der
Graf Gaſton de Foix ſeinen gefangen ge—
haltenen einzigen Sohn tödtete, indem er
ihn mit einem kleinen Meſſer, welches er
in der Hand trug, um ſich die Nägel zu
putzen, „aus Verſehen“ ganz leicht am Halſe
ritzte, und wenn man ſich dabei erinnert, daß
der Graf von ſeinen Edlen und Prälaten
vorher vergeblich den Tod ſeines Sohnes
begehrt hatte, ſo wird man ſchwerlich den
Gedanken loswerden, daß die Spitze jenes
kleinen Meſſers, welches kaum um die
Dicke eines Sou's aus des Grafen Fauſt
hervorſah, von der letzten Jagd dieſes
gewaltigen Waidmanns her „aus Verſehen“
mit Pfeilgift beſchmutzt geweſen ſein könnte.
Die Entdeckung des Schießpulvers ver—
) Histoire de la vie privée des Fran-
cais Paris 1782. Vol. I. p. 349.
2) Vol. II. p. 283.
Wenn
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
nichtete die letzte Erinnerung an die Waffe,
welche der vorgeſchichtliche Menſch einſt den
Schlangen abgeſehen hatte. Nur in den
verborgenen Alpenthälern, wo die neuen
Erfindungen nur äußerſt langſam hin—
dringen, hatte ſich bei den Gemſen- und
Steinbockjägern der Gebrauch von Pfeil—
giften bis ins 16. Jahrhundert erhalten.
Hier ſah der berühmte Polyhiſtor Con-
rad Gesner, wie die Aelpler die
Thora-Pflanze (Ranuneulus Thora L.)
einſammelten, um mit dem Safte der
Wurzelknolle ihre Pfeile zu vergiften. Es
iſt dies eine kleine, von den Gattungsver—
wandten ſehr abweichend erſcheinende Hah—
nenfußart, denn der Stengel trägt in der
Regel nur ein oder zwei netzadrige, nieren—
oder herzförmige Blätter und eine kleine
intenſiv gelbe Blüthe. Sie bewahrten
den eingedickten Saft in Kuhhörnern und
überzeugten ſich durch phyſiologiſche Ver—
ſuche von der Güte des gewonnenen Prä—
parates. Dies geſchah, indem ſie eine
Nadel damit beſtrichen und einen Froſch
— alſo auch hier ſchon das beklagens—
werthe Opfer der Phyſiologie! — damit
verwundeten. Der arme Koax mußte
zum Zeichen der Güte des Giftes ſogleich
todt zuſammenſtürzen. Bei den alten ita—
lieniſchen, deutſchen und niederländiſchen
Vätern der Botanik erſcheint dieſe Pflanze
meiſt unter dem Namen Phthora Valden-
sium montis Baldi, was doch wohl heißt:
die Thora der Waldenſer (?) vom Berge
Baldo (bei Verona)? Es wird gut ſein,
die lehrreiche Nachricht, welche Lobel in
feinen Adverſarien darüber giebt, wörtlich
mitzutheilen: „Der Thora der Waldenſer,“
ſagt er, „bedienen ſich die Jäger dieſes Alpen—
volks vielfach und ſeit lange, wie auch jetzt
noch viele Andere, zur Erlegung des Wildes,
dem von dem bloßen ausgedrückten und
528 Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
auf die Waffenſpitzen geſtrichenen Safte ein
ſchnelles und ſicheres Verderben bereitet wird.
Wo nämlich das Geſchoß getroffen oder
eine Wunde gemacht hat, dringt das Gift
ſofort ein und verurſacht, daß die Wund—
ränder, wenn man nicht durch Ausſchneiden
vorbeugt, verderben und in Fäulniß über—
gehen, weshalb die Pflanze Thora ge—
nannt worden iſt, nach einer offenbar von
den Griechen hinterlaſſenen Sprach-Spur;
Phthora nämlich heißt Verweſung, Tod,
Gift. Diejenigen aber, denen aus vielen
Gefährdungen die Wirkungen aller jener
Pflanzen bekannt find, welche man gewöhn- |
lich Pfeilwurze (Sagittariae) nennt, hal—
ten die übrigen darunter für ziemlich un—
ſicher: Der Saft dieſer nun wird im An—
fange des Frühlings ausgepreßt und in
kleinen Blaſen oder lieber in Rinderhufen
oder Hörnern gekauft und auf die nächſten
Märkte geſchickt, woſelbſt ihn die Jäger
für das Waidmannsbedürfniß des Jahres
einkaufen.“ )
Dieſem Berichte zu Folge fand alſo
hier an der Grenze der Schweiz ein förm—
licher Handel mit Pfeilgiften ſtatt, ganz
wie wir ihn noch jetzt z. B. bei den Ori—
nokoſtämmen Südamerikas antreffen, und
einzelne Perſonen machten ebenſo wie dort
aus dem Pfeilgiftbereiten ein Handwerk,
deſſen große Gefahren ſie hervorhoben, um
anſehnliche Preiſe für ihre Waare zu er-
zielen. Man wird dabei lebhaft an die
Antwort des Giftkochs Tenaqua erinnert,
welcher dem Reiſenden Appun, als dieſer
den für acht Kalebaſſen Pfeilgift geforder—
ten Preis ſehr hoch fand, ſelbſtbewußt er—
wiederte: „Wir ſtellen unſere Waare in
gleichen Rang mit eurem Pulver, das ihr
uns ebenſo theuer verkauft; beide Dinge
) Mathias Lobel et Peter Pena, Stir-
pium adversaria nova etc. p. 263.
haben dieſelbe Wirkung, ſie tödten ſchnell.“
Gar ſehr wäre es zu wünſchen, daß ein
moderner Toxicologe feine Sommerfriſche
in den Alpen einmal dazu benutzen möchte,
zu unterſuchen, was den Erzählungen von
der großen Giftigkeit der Thora zu Grunde
liegen mag. Man erzählte Ges ner, daß
auch ein damit verwundeter Menſch höch—
ſtens noch eine halbe Stunde zu leben
habe, das Gift im Magen aber völlig
unſchädlich ſei.“)
Aus alledem ſchloß Gesner, daß er
nunmehr wirklich die Pflanze gefunden habe,
welche die Alten bald Limeum, bald Aco-
nitum genannt und aus welcher ſchon die
alten Gallier ihr Toxieum und Venenum
cervarium bereitet hätten. Er ſuchte nun
auch die „Rabenpflanze“ zu ermitteln, welche
nach dem Pſeudo-Ariſtoteles das
Hauptgegenmittel abgeben ſollte und fand
einen Fingerzeig in dem Glauben der Alpen—
bewohner, daß das Gift der Thorapflanze
das furchtbarſte aller Gifte ſei, gegen welches
weder bei Theriak noch Mithridat Hilfe
zu finden ſei, ſondern einzig bei einer ande—
ren Alpenpflanze, dem Giftheil (Aconitum
Anthora L.) Von dieſer letzteren Pflanze
berichtet der alte Tabernämontan,
nachdem er erwähnt hat, daß ſie wider
alles Gift und die Biſſe aller giftigen
Thiere, auch gegen Scorpionen- und tollen
Hundsbiß, wirkſam ſei, wie folgt, weiter:
„desgleichen gegen die Peſtilentz und das
erſchreckliche und tödtliche Gift des Krautes
Thora und des Napellenkraut's (Aconi-
tum Napellus L.), das alles andere Gift
weit übertrifft, alſo, daß auch der beſte
Theriak dieſem Gifte keinen Widerſtand
thun mag, dem ſoll allein mit der Wurzel
) De Aconito primo Dioscoridis. Tiguri
1577, und Historia quadrupedum I. ©. 372
und 746.
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
des „Heilgifts“ Widerſtand gethan werden,
welches die Kraft hat, ihm ſeine Kraft zu
nehmen u. ſ. w.“ “)
Es wurde ſchon oben angedeutet, wie
ſich an die Pfeilgifte die Homöopathie an—
lehnt, deren Wurzeln alſo ebenfalls in die
vorgeſchichtliche Zeit hinabreichen. Wie die
Wunde des Telephos nur durch den (Gift—
Speer geheilt werden konnte, der ſie ver—
urſacht hatte, ſo war man überzeugt, daß
Pfeil-Gift nur durch Pfeil-Gift aus dem
Felde geſchlagen werden könnte und ſuchte
durch den innerlichen Gebrauch deſſelben
die Wirkung im Blute abzuſchwächen. Wir
können hier ſogar die wahrſcheinliche Ur—
ſache dieſes Aberglaubens in der Praxis
der Phyllen und anderer klaſſiſcher Gift—
doktoren erkennen, die Giftwunde mit dem
Munde auszuſaugen, was ja, wenn es
ausführbar iſt, als erſte Hülfe durchaus
zweckmäßig iſt.
Nach alter Sage ſoll neben jedem Gifte
ſein Gegengift wachſen, und wie Strabo
erzählt?) galt im Reiche des Muſikanus
das Geſetz, bei Todesſtrafe jedes neu er—
kannte Gift ſo lange geheim zu halten,
bis man das dazu gehörige Gegengift ge |
funden. Neben der auch in Griechenland
vorkommenden Thora-Pflanze, die noch in
neuerer Zeit Kurt Sprengel für
jenes ſchlimmſte „Aconitum“ hielt, deſſen
bloßer Beſitz wegen ſeiner ſchrecklichen Gif—
tigkeit nach Theophraſt mit dem Tode
beſtraft wurde, neben der Thora ſollte die
Anthora wachſen, und das Gift des einen
Akonit wollte man mit dem eines nicht
minder gefährlichen bezwingen. Plinius
hat mit ſchönen Worten dieſen Kampf der
Gifte im Thier- oder Menſchenleibe ge—
ſchildert. „Das Akonitum“ ſagt er, „hat
1) Kräuterbuch, Ausgabe von 1687 S. 985.
2) Geogr. XV. I.
|
259
die Eigenſchaft, den Menſchen zu tödten,
ſofern es nicht in ihm etwas anderes zu
überwältigen findet; in dieſem Falle kämpft
es lieber mit einem anderen Gifte, als
einem ſeiner würdigeren Gegner. Aber
nur dann entſteht Streit, wenn es einem
anderen Gifte in den Eingeweiden begeg—
net. Merkwürdig, daß zwei für ſich todt—
bringende Gifte im Menſchen nur einander
gegenſeitig ermorden und unſchädlich machen,
den Menſchen ſelbſt aber am Leben laſſen!“
Dieſe für die einander aufhebende Wirkung
gewiſſer antagoniſtiſchen Gifte, wie Opium
und Belladonna, Chloral und Strychnin,
ſehr angemeſſene Beſchreibung und Idee
der einander bekämpfenden Gifte wurde
damals leider in dem Sinne Hahne—
mann's zu dem Wahlſpruche Similia
similibus generaliſirt und ich möchte,
da die Abſchweifung nun einmal ſchon ſo
weit gediehen iſt, wenigſtens noch die Blüthe
dieſer unſinnigen Theorie anführen. Die
Giftwirkung des blauen Akonit's ſollte nach
Avicenna ſo ſtark fen, daß gar kein
ebenbürtiger Gegner in der Pflanzenwelt
vorhanden ſei und daß nur die Thiere, die
ihn ohne Schaden genießen, die Mäuſe,
die feine Wurzeln verzehren (?), und die In—
ſekten, die ſeine Blüthen beſuchen, ein Ge—
gengift abgäben. Dieſen Unſinn haben
Matthiolus, Dodonäus, Taber—
naemontan, Lobel und viele andere
weniger berühmte Botaniker und Aerzte
gläubig nachgeſchrieben, ohne zu unterſuchen,
ob denn wohl die Mäuſe überhaupt dieſe
ſcharfgiftige Wurzel der Pflanze ver—
zehren mögen. Es wäre nicht ohne In—
tereſſe, erneuerte Verſuche auch über die gegen—
ſeitige Wirkung von Thora und Anthora
anzuſtellen, um zu ſehen, ob an dieſen
alten Geſchichten irgend etwas Wahres iſt.
Zum Schluſſe möchte ich noch auf
530
ein zweites Kapitel der Toricologie hin—
weiſen, welches ebenfalls der Vorgeſchichte
angehört: die Anwendung der Gifte in der
Juſtiz, theils zur Ausmittelung, theils zur
Aburtheilung der Verbrecher. Das Ver—
zehren giftiger Subſtanzen, um ſeine Un—
ſchuld darzuthun, finden wir nicht blos in
der bibliſchen Geſchichte und durch ganz
Afrika, ſondern auch im alten Europa und
in der neuen Welt. Und ebenſo begegnet
die im Eingange dieſes Aufſatzes erwähnte
Hinrichtung indiſcher Fürſtinnen durch Pfeil—
gifte ihrem Gegenſtück bei vielen Völkern,
die entweder erſt an der Schwelle der Kul—
tur ſtehen oder doch aus ihrer vorhiſtori—
ſchen Zeit gewiſſe primitive Juſtizformen
beibehalten haben. Der Schierlingstrank
der Athener iſt alſo keine vereinzelte, blos
für den Sokrates und Theramenes ausge—
wählte Todesart geweſen; es war die mil—
deſte der üblichen Todesſtrafen und auch
im alten Maſſilia (Marſeille) gebräuchlich.
Die alten Aegypter ſcheinen ſich der Blau—
ſäure zu ihren Executionen bedient zu
haben. Duteil theilt in feinen. Die-
tionnaire des hieroglyphes mit, daß ſich im
Louvre ein Papyrus befinde, auf welchem
die Worte vorkommen: „Sprich nicht aus
das Wort Jao, bei der Strafe, welche der
Pfirſichbaum gewährt!“ Aelian erzählt
von einem ſüßen Gifte, deſſen Gebrauch
ſich der König von Indien und ſeine
Mutter vorbehielten und nur dem Vetter
Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa.
auf dem perſiſchen Throne davon zum
amtlichen Gebrauche abließen, und in ähn—
licher Weiſe verwahrte der Timarch von
Maſſilia das Schierlings-Präparat, um
an lebensüberdrüſſige Gemeindeglieder da—
von abzugeben, wenn er nach genauer
Prüfung die Gründe derſelben für ſtich—
haltig erkannte. Könige, wie Attalus und
Mithridat, beſchäftigten ſich ernſtlich mit
einer weiteren Ausbildung der Giftkunde
für politiſche und juriſtiſche Zwecke, ja
Aelian preiſt gradezu den Gebrauch der
erwähnten indiſchen Gifte, weil man den
Menſchen damit aus der Welt ſchaffen
könne, ohne die Todesſtrafe durch körper—
lichen Schmerz zu verſchärfen. Auch hier
iſt es ein pſychologiſcher Proceß, eine Wandel—
ung und Verfeinerung der Anſichten über
Ermittelung und Beſtrafung der Verbrechen,
welche die Anwendung von Giften gänzlich aus
dem gerichtlichen Verfahren verbannt hat. Die
Rechtspflege empfand je länger je mehr die
Unwürdigkeit einer jeden Verſchwiſterung
mit dem Giftmorde, als dem abſcheulichſten
aller Verbrechen; ſie entſagte dem Hilfs—
mittel der Indianer, ſelbſt auf die Gefahr
einer Verſchärfung der Strafe. Sie ver-
bot ebenſo den Gebrauch der Giftpfeile,
als eines verführeriſchen Mittels zur hin—
terliſtigen Tödtung, und Niemand wird,
denke ich, daran zweifeln, daß ſie mit allen
dieſen Maßnahmen Recht gehabt hat.
ee eee
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Der Planet Vulkan.
| ährend der in Nordamerika am 29.
Juli c. beobachteten Sonnenfinſter—
Oe niß, deren Totalität nur gegen drei
Minuten dauerte, glaubt der durch
zahlreiche Planetoiden-Entdeckungen für ſolche
Auffindung beſtens accreditirte Aſtronom
Prof. James Watſon von Ann-Arbor
(Michigan), auf einer Station in Wyoming,
den durch Leverrier ſeit langen Jahren
verkündeten innerſten Planeten nunmehr wirk—
lich entdeckt zu haben, wenige Monate, nach—
dem ſein geiſtiger Entdecker die Augen für
immer geſchloſſen. Die Sonne mit ihrer
Corona und Chromoſphäre ſcheint diesmal
gegen die Verfinſterungen von 1869, 1870
und 1871 ein gänzlich verſchiedenes Aus—
ſehen, nämlich eine viel weniger ausgedehnte
Corona und nur wenige kleine Protu—
beranzen dargeboten zu haben, doch ſind
die bisher vorliegenden Nachrichten ſo wider—
ſprechend, daß wir einen Bericht darüber
aufſchieben, und nur erwähnen wollen, daß
der Planet Vulkan in einem Abſtande von
zwei Graden oder acht Sonnenhalbmeſſern
von der Sonne entfernt erblickt wurde und
als Stern vierter Größe erſchien. Die
Coordinaten des Vulkans waren 8h 26 m
Rektaſcenſion und 18 0 nördlicher Deklina—
tion. In anderen Nachrichten wird die
Größe als 4½ und die Entfernung von
der Sonne nur zu zwei bis drei Sonnen—
Kosmos, Band III. Heft 6.
halbmeſſern angegeben. Merkwürdig einer—
ſeits iſt, daß die anderen Beobachter einen
dem bloßen Auge noch erkennbaren Stern
ſo oft ſollten überſehen haben, und ver—
dächtig andererſeits, daß ein Stern im
Bilde des Krebſes, deſſen Größe zu 5½
— 6 geſchätzt wird, nahezu jene Stellung
gehabt hat. Da indeſſen genaue Stern—
karten der Region für den Zweck der
Vulkanentdeckung vorher entworfen worden
waren, iſt es kaum annehmbar, daß Wat—
ſon, der bereits fünfzehn kleine Planeten
entdeckt hat, eine ſolche Verwechſelung hätte
machen können. Die weitere Beſtätigung
abwartend, wollen wir einſtweilen einen
Blick auf die lange Reihe früherer Be—
mühungen um dieſen innerſten Bürger des
Sonnenſyſtems werfen, der den Merkur
von ſeiner altaſſyriſchen Rolle als „Ge—
heimſchreiber“ des Sonnengottes zu enthronen
beſtimmt ſcheint. Gleich nachdem Lever—
rier aus den Störungen des Uranuslaufes
im Jahre 1846 die Elemente eines äußer—
ſten Planeten, des Neptun, berechnet hatte,
und dieſer am 23. September deſſelben
Jahres als Stern achter Größe von Galle
in Berlin entdeckt worden war, bemühten
ſich verſchiedene Aſtronomen, namentlich der
jüngere Bradley und Henrick in New-
Haven (Connecticut) dem neuen äußerſten
Planeten einen neuen innerſten Planeten
gegenüberzuſtellen, aber die Verſuche, in der
Morgen- oder Abenddämmerung einen der
Sonne noch näher als Merkur ſtehenden
68
Planeten zu gewahren, mußten ſchon wegen
der Dicke der Atmoſphärenſchicht, welche die
Strahlen dieſes Weltkörpers in dieſen Stun—
den zu durchlaufen hätten, erfolglos ausfallen.
Dieſe Projekte nahmen eine beſtimmtere
Form an, nachdem Leverrier die Er—
gebniſſe von mehr als zwanzig genau beob—
achteten Merkurdurchgängen (ſeit 1697)
durchgerechnet und gefunden hatte, daß man
entweder die Maſſe der Venus um ein
Zehntel größer annehmen, oder intra—
merkurielle Weltkörper als Urſache der ge—
fundenen Abweichungen vorausſetzen müſſe.
Da man aber mit der erſteren Annahme
einen durchaus unwahrſcheinlichen Fehler in
der Erdtheorie in den Kauf nehmen müßte,
ſo blieb die zweite Annahme die einzig be—
rechtigte, und Leverrier erwog genau
die ſich damit darbietenden Wahrſcheinlich—
keiten. Wenn man annehmen wollte, daß
der innerſte Planet dieſelbe Maſſe wie
Merkur beſäße, ſo müßte ſeine Entfernung
von der Sonne weniger als die Hälfte der
mittleren Entfernung des Merkur, alſo
etwa 3,500,000 Meilen betragen.
man ſeine Entfernung noch geringer an, ſo
hätte er noch größer ſein müſſen, um die—
ſelben Störungen hervorzubringen, und es
war in keinem Falle wahrſcheinlich, daß
ein Planet von ſolchen Dimenſionen ſelbſt
in dieſer unbequemen Beobachtungs-Region
den Blicken der Aſtronomen ſo lange ent—
gangen ſein könnte. Leverrier gelangte
deshalb zur Annahme eines Aſteroidenringes
Nahm
Beobachtungen
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
Namens Lescarbault, daß er bereits
vor ſechs Monaten, nämlich am 26. März
1859, den Durchgang eines intramerkuriel—
len Planeten ſelbſt beobachtet, aber nicht
gewagt habe, mit einer ſolchen Beobachtung
an die Oeffentlichkeit zu treten. Da nun
auch mehrere andere Perſonen, wie gewöhn—
lich, den eben erſt aus der Theorie gefol—
gerten Planeten geſehen haben wollten, ſo
war auch die Lescarbault'ſche Mit-
theilung, trotz der größeren Genauigkeit
ihrer Angaben, verdächtig, und Leverrier
hielt für nöthig, den namenloſen und kecken
Planeten-Entdecker einem ſtrengen Verhör
zu unterwerfen. Incognito als geheimer
Poliziſt, der für die Sicherheit des Pla—
netenſyſtems zu ſorgen ſich befliſſen hält,
gelangte der große Aſtronom am letzten
Sonnabend des Jahres 1859 in dem be—
ſcheidenen Heim des Arztes an, der ganz
eingeſchüchtert von dem Inquiſitorton ſeines
Beſuchers ihm ſeine mangelhaften Beobacht—
ungs-Inſtrumente und das primitive Se—
cunden-Pendel, nach welchem er die Zeit—
angaben gemacht hatte, vorwies. Lever—
rier erwarb ſich indeſſen die vollkommenſte
Ueberzeugung von der Zuverläſſigkeit der
ſeines Examinanden und
legte deſſen Beobachtungen in der erſten
zwiſchen Merkur und Sonne, deſſen Glie— |
der ſich wegen ihrer Kleinheit leichter den
Blicken
könnten.
Gleich nach der Mittheilung ſeiner Rech—
nungen an die Pariſer Akademie (Septem—
ber 1859) meldete ein in Orgeͤres (De—
der Aſtronomen entzogen haben
partement Eure und Loire) wohnhafter Arzt,
Akademie-Sitzung des Jahres 1860 vor,
indem er dem neu entdeckten Planeten deu
Namen Vulkan beilegte und aus Les—
carbault's Beobachtungen eine Entfern—
ung von 395000 Meilen und eine Um—
laufzeit von 19 Tagen, 16 Stunden und
48 Minuten berechnete. Dieſe Berechnun—
gen ſind wahrſcheinlich falſch, denn Les—
carbault hatte das ſchwarze Pünktchen
erſt bemerkt, nachdem es ſchon einen Theil
ſeines Weges vor der Sonnenſcheibe zurück—
gelegt hatte, und ſeine Beſtimmungen waren
deshalb nicht vollſtändig, ſo daß es nicht
Rechnungen angeftellte weitere Verſuche, den
Vulkan aufzufinden, erfolglos blieben.
Inzwiſchen hatte Prof. R. Wolf in
Zürich weitere Anhaltspunkte für das Vor—
handenſein eines oder mehrerer innerſten
Planeten, aus den vorhandenen Aufzeich—
nungen über kleine Sonnenflecke, welche
ſchneller als die anderen über die Sonnen—
ſcheibe dahin gehend beobachtet worden waren,
gefunden. Die Sonnenflecke brauchen von
ihrem erſten Auftauchen an einem Rande
bis zum Erreichen des anderen, wenn ſie
ſich ſo lange erhalten, gewöhnlich die Zeit
einer halben Sonnenumdrehung, alſo etwas
über 12 Tage, während ein Planeten—
durchgang nur etwa einen Vierteltag dauert.
In der That fand Prof. Wolf Angaben
über fünfzehn derartige kleine und durch
ihre Bewegungsſchnelligkeit verdächtige Flecke,
unter denen ſich mehrere auf einen kleinen
Planeten von 38 ½ Tagen Umlaufzeit be—
ziehen ließen. Beſonders intereſſant dar—
unter iſt die gleichzeitige Beobachtung eines
ſolchen runden Fleckes durch zwei ſelbſt—
ſtändige Beobachter am 12. Februar 1820.
An dieſem Tage ſahen nämlich in den Nach—
mittagsſtunden A. Stark in Augsburg
und Steinheibel in Wien einen kleinen,
wohl umgrenzten, runden Fleck innerhalb
fünf Stunden an der Sonnenſcheibe vor—
überziehen.
Noch die Beobachtung des letzten Mer—
kurdurchganges am 6. Mai 1878 ergab
Stützpunkte für die Richtigkeit der Annahme
eines innerſten Planeten. Ein Vergleich
der Contakt-Beobachtungen mit den Ephe—
meriden des amerikaniſchen und des eng—
liſchen Nautical Almanac zeigte, daß der
engliſche der Wahrheit viel näher gekom—
men war.
rikaniſchen Almanachs ſich auf Lever—
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
zu verwundern iſt, wenn auf Grund dieſer
Da nun die Tafeln des ame-
rier's alte Theorie der Merkursbahn
ſtützen, die engliſchen aber auf ſeine neue,
ſo war auch in dem Ergebniſſe der neue—
ſten Beobachtung eines Merkurdurchganges
eine Beſtätigung von Leverrier's neuer
Theorie, die den intramerkuriellen Planeten
vorausſetzt, zu finden. Leider ſollte der
große Aſtronom den neuen Triumph ſeiner
Rechnungen nicht mehr erleben. Er hatte
bis zum letzten Athemzuge ſeine Zuverſicht
nicht verloren. Als Watſon vor vierte—
halb Jahren von Pecking, wohin er im
Auftrage der nordamerikaniſchen Regierung
zur Beobachtung des Venusdurchganges ent—
ſendet worden war, über Europa zurück—
kehrte, beſuchte er Leverrier in Paris
und wurde von demſelben von der Noth—
wendigkeit überzeugt, einen Theil ſeiner
Zeit der Aufſuchung und Beobachtung des
Vulkan zu widmen. Ob er den Vulkan
nun wirklich aufgefunden und ob derſelbe
ſich durch vollſtändige Erklärung der Un—
regelmäßigkeiten des Merkurs als alleiniger
Beherrſcher der innerſten Zone unſeres
Sonnenſyſtems darſtellt, muß der Zukunft
aufzuhellen anheimgeſtellt bleiben.
Die Kataplexie und der thieriſche
Hypnotismus.
Unter dieſem Titel hat Herr Profeſſor
Dr. Preyer in Jena eine gerade hundert
Seiten ſtarke Schrift?) veröffentlicht, auf
deren hochintereſſanten Inhalt wir um ſo
lieber etwas näher eingehen wollen, da der—
ſelbe unerwarteter Weiſe auch die Darwin'ſche
Theorie nahe angeht. Im Jahre 1646 gab
der bekannte Jeſuitenpater Athan. Kircher
in Rom ein nach unſeren Begriffen recht
” 0 Mit zwei Steindrucktafeln und einer
Photographie, Jena, Guſtav Fiſcher 1878.
534
ſeltſames Handbuch der Optik unter dem
Titel Ars magna lueis et umbrae her—
aus, in welchem er unter anderen aktiniſchen
Vorgängen auch die „Strahlung der Ein—
bildungskraft“ behandelt und folgenden „de
imaginatione gallinae* (von der Einbild—
ungskraft des Huhnes,) betitelten Verſuch
beſchreibt. „Man binde einem Huhne die
Füße zuſammen und lege es auf einen be—
liebigen Fußboden, ſo wird daſſelbe anfangs
durch Schlagen mit den Flügeln und Be—
wegungen des ganzen Körpers auf jede
Weiſe ſich von der Feſſel zu befreien trachten.
Nach dem vergeblichen Verſuche zu entkom—
men, wird es ruhig. Während das Huhn
ſtill daliegt, zieht man vom Auge deſſelben
auf dem Boden einen geraden Strich mit
Kreide, laſſe es dann nach Löſung der
Fußfeſſel liegen, ſo wird das Huhn, trotz—
dem es nicht mehr gebunden iſt, nicht fort—
fliegen, auch wenn man es dazu anregt.“
Dieſer ſchon in älteren Werken erwähnte,
aber meiſt mit dem Namen Experimentum
mirabile Kircheri bezeichnete Verſuch iſt
ſeitdem in die Sammlungen von magiſchen
Schauſtücken für geſellſchaftliche Unterhalt—
ung übergegangen und oft wiederholt wor—
den.
gnügte man ſich mit der ſonderbaren Idee
Kircher's, das Thier mit ſeiner ſtark „er—
regbaren Phantaſie“ bilde ſich ein, daß es
feſt gebunden ſei, da es das Ende des Bind—
fadens in dem langen Kreideſtrich zu ſehen
glaube. Den Taſchenſpielern war es eben—
falls ſeit lange bekannt, daß Kanarienvögel
und ihres Gleichen, wenn man ſie an den
Beinen ein Paar Mal langſam durch die
Luft ſchwenkt und dann auf den Rücken
in die offene Hand oder ſonſt wo frei hin—
legt, längere Zeit unbeweglich „wie todt“
liegen bleiben. Eine wiſſenſchaftliche Unter—
ſuchung dieſes eigenthümlichen Verhaltens
Was die Erklärung betrifft, fo be-
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
hatte ſeither nicht ſtattgefunden, bis der für
die Wiſſenſchaft zu früh verſtorbene Leip—
ziger Phyſiologe J. N. Czermak im Jahre
1872 von dem „Magnetiſiren der Fluß—
krebſe“ erzählen hörte, welches darin beſteht,
daß man ſie unter einigen „mesmeriſchen
Strichen“ mit dem Naſenſtachel (die Schee—
ren untergeſchlagen und den Schwanz in
die Höhe) auf den Tiſch ſtellt, worauf ſie
im „magnetiſchen Schlafe“ längere Zeit
unbeweglich verharren. Czermak wieder—
holte das Experiment, fand die Sache rich—
tig und erinnerte ji ſogleich der Kircher'—
ſchen Henne. Er wiederholte das Experi—
ment mit allen möglichen größeren und
kleineren Vögeln, und ſah auch Enten, Gänſe,
Truthühner und ſogar einen Schwan die
Rücken-, Seiten- oder Bauchlage, die man
den Thieren gewaltſam aufgezwängt, viele
Minuten lang unbeweglich beibehalten, ohne
daß der Strich oder ſonſtiger Hokuspokus
erforderlich waren. Aber obwohl Prof.
Czermak die Einbildungskraft und den
magnetiſchen Schlaf zurückwies, hatten ſie
unbemerkt ſeine Phantaſie beeinflußt, und
er begann in der That anzunehmen, daß
ein hypnotiſcher Zuſtand, eine Schlaftrunken—
heit, wie ſie der engliſche Chirurg Braid
im Jahre 1843 durch ſtarres Anblicken
eines kleinen glänzenden Körpers erzeugen
lehrte, die Urſache jenes unbeweglichen Da—
liegens ſei. Er hielt daher auch das nach
einem Zeitraum von verſchiedener Dauer,
der ſich bis zu einer Viertelſtunde ver—
längern kann, eintretende Aufſpringen des
Thieres, für ein wahres Erwachen, um fo
lieber, als letzteres gewöhnlich in Folge
eines plötzlichen Geräuſches, einer Erſchüt—
terung oder einer Berührung erfolgt. Das
Thier blickt ſich dann wie erſtaunt um,
und läuft davon. Prof. Czermak
glaubte deshalb auch, daß das Anſtarren
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
des Kreideſtrichs oder eines über den Schna—
bel gehängten Stückchen Bindfadens den
Eintritt des Braidismus oder hypnotiſchen
Zuſtandes befördern könnte.
Prof. Preyer, der dieſe Verſuche
ſeines Freundes ſogleich und mit dem beſten
Erfolge auch auf Meerſchweinchen, Kanin—
chen, Eichhörnchen und Fröſche ausgedehnt
hatte, erklärte gleich damals (1873) im
Centralblatt für die mediciniſchen Wiſſen—
ſchaften, daß von einem hypnotiſchen Zu—
ſtande keine Rede ſein könne. Die Thiere
ſchließen die Augen wohl vorübergehend,
aber fie find in der größten Augſt und
zittern vor Aufregung und dieſer Zuſtand
disponirt bekanntlich nicht zum Einſchlafen;
das ungewöhnliche Verhalten müſſe alſo
wohl eine Folge der Angſt und des
Schreckens ſein. Der in demſelben Jahre
erfolgte Tod Czermak's hinderte dieſen
ausgezeichneten Phyſiologen, ſeine Verſuche,
die er im Archiv für die geſammte Phy—
ſiologie des Menſchen und der Thiere von
1873 beſchrieben hat, wieder aufzunehmen.
Dies iſt indeſſen im vorigen Jahre durch
den Privatdocenten Emil Heubel in Kiew
geſchehen, der ſeine umſtändlichen Verſuche
in demſelben Archiv“) beſchrieben hat, und
gefunden haben will, daß die ſo behandel—
ten Thiere nach kurzem Feſthalten in einen
natürlichen phyſiologiſchen Schlaf verfielen,
nicht blos in eine Schlaftrunkenheit, wie
Czermak geglaubt hatte.
Dieſes unglaubliche Forſchungsreſultat
veranlaßte Prof. Preyer zur Anſtellung
neuer längerer und ſorgfältiger Verſuchs—
reihen, die er in dieſem Buche mitgetheilt
hat und die ergeben haben, daß ſeine frühere
Auffaſſung die richtige war. Die Thiere
bekunden, ſobald ſie ergriffen werden, durch
Zittern und keuchendes Athmen ihre Angſt,
) Band XIV. (1877) S. 158210.
der anfänglich vermehrte Puls geht dann
ebenſo wie die Athmungsfrequenz allmälig
ſehr ſtark herab, und das Thier iſt in
einem abnormen Zuſtande, der nichts weniger
als mit dem Schlafe Aehnlichkeit hat. Es
iſt möglich, daß der Zuſtand in Ausnahme—
fällen in einen ſchlafartigen Zuſtand über—
gehen kann, wenn die Starre eine längere
Zeit angedauert und die Angſt einer Ab—
ſpannung gewichen iſt, aber das wäre als—
dann eine ſekundäre Erſcheinung. Dr. Le—
wiſſon hat nämlich ſchon 1869 beobachtet,
daß Fröſche durch Schlingen, die man
ihnen plötzlich um den Hals oder an die
Beine legt, in einen Starrzuſtand gerathen,
aus dem ſie oft überhaupt nicht mehr her—
auskommen, und Prof. Preyer ſah Fröſche
und Tritonen, die mit einer Pincette an
einem Hinterfuße bezw. am Schwanze erfaßt
wurden, ſtarr werden und in dieſem Zu—
ſtande ſtundenlang verharren, ja am an—
deren Tage wurden ſie todt gefunden, ohne
daß ſie eine andere Stellung angenommen
hatten.
Preyer's großes Verdienſt um die Auf—
hellung dieſer dunkeln Vorgänge beſteht nun
darin, daß er ſie auf einen uns allen wohl—
bekannten Zuſtand zurückgeführt hat, näm—
lich auf die lähmende Wirkung, die der
Schreck auch auf den Menſchen äußert. Re—
densarten, wie: „Ich war vor Schreck ge—
lähmt, — ſtand wie verſteinert, — konnte
kein Glied rühren, — der Schreck war
mir in alle Glieder gefahren“ u. ſ. w.
zeigen, daß auch der Menſch vor Schrecken
ſtarr werden kann, und bei plötzlichen Ver—
wundungen, und chirurgiſchen Eingriffen
kann dieſer Lähmungszuſtand ſogar längere
Zeit andauern, gerade wie bei jenen Thie—
ren, was die Chirurgen den „Shock“
nennen. Der Unterſchied würde alſo nur
ſein, daß der Menſch ſich von jener Lähm—
536 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
ung in der Regel ſchon nach einigen Se—
kunden erholt, während das plötzlich er—
griffene Thier viele Minuten, ja ftunden-
lang vor Schrecken ſtarr bleibt und ſich
im Allgemeinen viel langſamer erholt. Es
mag dazu beitragen, daß das Thier plötz—
lich ergriffen und vielleicht gegen die Erde ge—
drückt in der geiſtigen Lähmung, welche
die körperliche begleitet und auch beim
Menſchen nicht fehlt (die dann ebenfalls
keines Gedanken und Wortes mächtig ſind),
zunächſt gar nichts davon merkt, wenn man
vorſichtig die Hand, Pincette oder Schlinge
zurückzieht, ſo daß die Urſache des Schrecks
auch länger andauert und intenſiver wirkt.
Preyer nennt dieſen Zuſtand den kata—
plegiſchen oder die Kataplexie d. h.
Schrecklähmung, von dem griechiſchen Worte
xarvarcıns, erſchrocken. Als wahrſcheinliche
phyſiologiſche Urſache ſieht er die Erregung
beſonderer Hemmungs-Centren an, welche
ſowohl die willkürliche als die Reflex-Be—
wegungen für kürzere oder längere Zeit
aufheben und das Blut aus der Haut
und vermuthlich auch aus den nervöſen
Centralorganen auf die Eingeweide zurück—
ſtauen, wodurch nicht nur die Hautbläſſe
kataplegiſcher Thiere, ſondern auch die ſtarken
periſtaltiſchen Bewegungen der Eingeweide
und häufigen Ausleerungen derſelben ver—
ſtändlich werden. Die Verlangſamung und
Vertiefung der Reſpiration beim Beginn
der Kataplexie würde zunächſt der ſtarken
reflektoriſchen Erregung des Lungen-Vagus
zuzuſchreiben ſein.
Das Hauptintereſſe dieſer Auffaſſung
beruht, wie uns ſcheint, darin, daß Preyer
damit die Allgemeinheit einer Folgewirkung
gewiſſer geiſtigen Eindrücke faſt durch
das geſammte Thierreich dargethan hat.
Kaninchen und Meerſchweinchen, mit denen
er am meiſten experimentirte, wurden, auf
den Rücken gelegt und kurze Zeit feſtge—
halten, nachher ſo unbeweglich, daß er ſie
nach entfernter Hand photographiren laſſen
konnte, ohne daß auch nur ein Augenzucken
oder die Verrückung eines Schnurrbarthaares
ſtattgefunden zu haben ſcheint. Außer Säuge—
thieren, Vögeln und Amphibien ſah er in Kairo
große, mehrere Fuß lange Wüſten-Eidechſen
(Varanus) augenblicklich ſtarr werden, wenn
er ſie auf den Rücken legte, und mit der
Uräusſchlange, die zum Stabe wird, wenn
man ſie an dem geſchwollenen Halſe ergreift,
hat es wohl dieſelbe Bewandtniß. Aber
auch Krebſe mit einem ganz verſchiedenen
Nervenſyſtem zeigen dieſelbe Wirkung, und
mit Recht zieht der Verfaſſer zu derſelben
Erſcheinung das ſogenannte „Sichtodtſtellen“
vieler Käfer und anderer Kerfe. Wie
einleuchtend iſt dieſe Erklärung und wie
ſchwerglaublich jene andere, welche darin
eine bloße Kriegsliſt oder gar Eigenſiun
ſah, wie bei jenem Käfer, den man den
wiederauflebenden „Trotzkopf“ (Anobium
pertinax) getauft hat, weil er ſich der
Angabe vieler Zoologen zu Folge, lieber
aufſpießen und lebendig braten läßt, ehe
er ſeine Falſtaffrolle aufgiebt. Was wäre
ein Mutius Scävola gegen ſolch' einen
kleinen Helden, wenn die Lähmung nicht
eine unfreiwillige wäre! Und ſollte dieſe
Erſcheinung ſich nicht noch auf andere
Thierkreiſe ausdehnen z. B. auf die Stachel—
häuter, deren einige zerbrechen, wenn man
ſie angreift, wie die Bruchſchlange, ja in
kleine Stücke zerſpringen?
Offenbar ſpielt dieſer Vorgang im
großen Kampfe ums Daſein eine wichtige
Rolle. Wie oft hat man erzählt von dem
bezaubernden Blick der Schlangen, welcher
die kleinen Vögel und Säugethiere lähme,
daß ſie weder Bein noch Flügel bewegen
können, und wem wären die daraus her—
r ˙—ü—
vorgegangenen Mythen vom vergiftenden
Baſiliskenblick und dem verſteinernden,
ſchlangenumringelten Meduſenhaupt unbe—
kannt? Vielleicht compenſirt die Natur die
ihr eigene Schonungsloſigkeit dadurch einiger—
maßen, daß ſie die von Raubthieren er—
faßten Beutethiere nach den erſten frucht—
loſen Befreiungsverſuchen bewegungs-, ge—
danken- und gefühllos werden läßt, und
vielleicht hat die Gewohnheit vieler Raub—
thiere, ihre ſicher gepackten Opfer ein paar
Mal hin und her zu ſchleudern, nur den
Zweck, dieſelben deſto ſchneller kataplegiſch
und damit wehrlos zu machen. Merkwür—
dig iſt jedenfalls der Umſtand, daß Katzen
und Hunde nicht kataplegiſch gemacht wer-
den konnten, wobei man freilich annehmen
kann, daß ſie beim Ergreifen nicht ſo ſehr
erſchreckt werden als andere Thiere. Daß
es ſich hier nicht etwa blos um eine Eigen—
thümlichkeit kleinerer Thiere handelt, be—
weiſen Pferde und Rinder, die man öfter
ſtarr werden ſah, wenn man ſie behufs
der Verladung in Schiffe vermittelſt eines
Bauchgurtes durch den Krahn emporhob.
Aber bei Raubthieren wäre es immerhin
möglich, daß ſie ſich, wie der Menſch, der
Eigenſchaft, im höheren Grade kataplegiſch
zu werden (durch die Gewohnheit, nur an—
dere Thiere, nicht ſich ſelbſt zu erſchrecken)
entwöhnt hätten.
Nur eine oberflächliche Betrachtung
könnte vermuthen laſſen, daß dieſe Eigen—
thümlichkeit den Thieren ſo ſchädlich gewor—
den ſein möchte, daß ſie alle damit Behaf—
teten dem Untergange weihen mußte, denn
die Kataplexie tritt wohl in den meiſten
Fällen nur dann ein und eben deswegen, wenn
ein Entrinnen überhaupt nicht mehr mög—
lich iſt. Andererſeits kann aber die Un—
beweglichkeit, wie ſchon der Volksmund
meint, dem Thiere von Nutzen ſein, da
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
manche Räuber eine todte Beute nicht an—
rühren, ſie unter Umſtänden auch ſchwerer
erblicken und erkennen werden, und dadurch
begreifen wir, daß ſich dieſe Eigenſchaft
ſeit den Tagen der Trilobiten, die ſich be—
reits zuſammenkugelten und dabei wahr—
ſcheinlich bewegungslos waren, bis heute
bei ſo vielen Arthropoden erhalten hat.
„Richtig iſt offenbar,“ ſagt der Verfaſſer
über dieſen Punkt, „daß ein Thier, welches
ſich bewegt, leichter von ſeinen Feinden er—
kannt wird, als ein ruhendes Thier. Im
Allgemeinen werden alſo diejenigen Indi—
viduen, welche im Augenblick der Gefahr
ſich ganz ruhig verhalten, mehr Ausſicht
haben, ſich zu erhalten, als die fliehenden,
die Ueberlegenheit des Gegners voraus—
geſetzt. Dann namentlich wird dieſes zu—
treffen, wenn die Fluchtbewegungen lang-
ſam ſind. Von einer Käferart mit träger
oder nicht ſehr behender Fortbewegung
müſſen demnach im Laufe der Zeit die
phlegmatiſchen vor den anderen einen ge—
wiſſen Vorzug haben, den ſie in verſtärk—
tem Maße auf ihre Nachkommen vererben.
Schließlich werden unter dieſen diejenigen
wieder im Kampfe um das Daſein einen
Vortheil erringen, welche nicht nur immobil
find, ſondern dem Feinde keinen Angriffs-
punkt bieten, ähnlich wie der zuſammen—
gekugelte Igel. In dieſer Beziehung iſt
beſonders der Pillenkäfer (Byrrhus pilula)
mit den Fugen, in die ſich die Extremitäten
legen, ausgezeichnet. Weshalb aber ur—
ſprünglich die betreffenden Thiere in Augen—
blicken der Gefahr ruhig ſich verhalten,
während andere ſchnellere durch die Flucht
ſich zu retten ſuchen, iſt durch dieſe An—
wendung des Darwin 'ſchen Selektions—
Princips nicht aufgeklärt. Mir ſcheint der
Grund der zu ſein, daß ſie erſchrecken, d. h.
durch eine ungewöhnliche Reizung — Be—
538
rührung, Schall, Erſchütterung — eine
Hemmung der Willkürbewegung eintritt. ..
So wird die alte anthropomorphiſche Er—
klärung von dem „Sichstodt-ſtellen“ durch
eine natürliche Erklärung verdrängt, welche
es auch begreiflich macht, daß bei den man—
nigfaltigſten Reizungen — nicht blos bei
Berührung ſeitens eines Raubinſekts —
die Bewegungsloſigkeit eintritt, und es nicht
mehr als einen Akt des Heroismus er⸗
ſcheinen läßt, daß Anobium bei lebendigem
Leibe ſich verbrennen läßt, ſondern als
Conſequenz einer ſehr ſtarken Reizung von
Mit dieſem Citat
wollen wir von einer nach den mannig⸗
Hemmungsapparaten.“
fachſten Richtungen lehrreichen Abhandlung
Abſchied nehmen und den Leſer für weitere
Information auf dieſelbe verweiſen.
Die Statiſtik der Farbenblindheit.
Wie wir zu unſrer Freude erfahren, führt
Herr Ur Hugo Magnus in Breslau den
ihm in unſerer Zeitſchrift (Bd. I. S. 272)
gemachten Vorſchlag aus, die Forſchungs—
reiſenden zur Prüfung des Farbenunter—
ſcheidungs- und Benennungsvermögens der
Naturvölker anzuregen, und hat zu dieſem
Zwecke im Vereine mit Dr. Pechuel—
Löſche ein Programm ausgearbeitet, welches
den Reiſenden zur Richtſchnur dienen ſoll.
Hoffentlich ſind darin die großen Schwie—
rigkeiten einer ſolchen Unterſuchung gehörig
hervorgehoben und die Vorſichtsmaßregeln an—
gegeben, deren man ſich, um nicht den ſchlimm—
ſten Irrthümern zu unterliegen, hierbei be—
dienen muß, wie denn nur ein vollkommen
methodiſcher Gang und Prüfung am Spek—
tralapparat hier einige Sicherheit zu geben
vermag. Wie leicht man hierbei Täuſchun—
gen unterliegen kann, haben kürzlich wieder
en
Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.
die Unterſuchungen des franzöſiſchen Bahn—
Arztes Dr. Favre gezeigt, der, obwohl er
ſich ganz ſpeciell mit dieſen Unterſuchungen
beſchäftigt hat, zu ganz falſchen Beſtimm—
ungen gelangt iſt, indem er Perſonen, die
nur die Farbennamen falſch anwendeten,
ſogleich zu den Farbenblinden rechnete. In
dem Centralblatt für praktiſche Augenheil—
kunde (April 1878 S. 79) wird ein in—
tereſſanter ſtatiſtiſcher Bericht über die Ver—
breitung der Farbenblindheit bei der nor—
wegiſchen Jugend veröffentlicht. Herr Daae
zu Kragerö in Norwegen hat 413 Schüler
beiderlei Geſchlechts und im Alter von 9
— 15 Jahren in Bezug auf ihr Farben—
unterſcheidungsvermögen geprüft. Unter 205
Knaben fand er 21 mehr oder weniger
ausgeſprochene Farbenblinde (10 völlig, 11
in geringerem Grade), im Ganzen alfo
10,24 pCt. Unter 208 Mädchen zeigten
dagegen blos 5 (d. h. 2,40 PCt.) dieſen
Mangel, und noch dazu in einem weniger
ausgebildeten Grade. Im Mäihefte deſſel—
ben Journals finden ſich ſodann Mittheil—
ungen über ähnliche Unterſuchungen, welche
die Herren Prof. Dr. Herm. Cohn und
Dr. H. Magnus in Breslau angeſtellt
haben. Unter 2761 Knaben fanden ſie
76, alſo 2,7 pCt., farbenblind, und unter
2318 Mädchen nur ein farbenblindes, =
0,04 pCt. Bei der Unterſuchung der
Schüler einer Realſchule, welche von ſehr
vielen jüdiſchen Schülern beſucht wird, ergab
ſich das überraſchende Reſultat, daß bei den
jüdiſchen Schülern die Farbenblindheit dop—
pelt ſo häufig vorkam, als bei den chriſt—
lichen. Unter 1947 chriſtlichen Schülern
befanden ſich 42 Farbenblinde, — 2,1 pCt.,
unter 814 jüdiſchen Schülern 34, — 4,1 pCt.
Von 836 jüdiſchen Mädchen wurde kein
einziges farbenblind gefunden.
———— ͤ—— — —
Ch. Darwin's Geſammelte Werke.“)
Bi
An den letzten Wochen iſt ein litera—
92 riſches Unternehmen vollendet worden,
auf welches wir Deutſche in der That
ein wenig ſtolz fein dürfen: die erfte
Gefammt-Ausgabe von Darwin's Haupt⸗
ſchriften in deutſcher Sprache.
recht berichtet ſind, ſo beſitzt nicht einmal
das Mutterland des großen Reformators
der Naturphiloſophie, jedenfalls keine andere
Nation, eine ſolche Ausgabe.
ein Dichter, noch ein Hiſtoriker, noch ein
ſchrieben, liegt ein Forſcherleben und ein
umfaſſendes Naturgemälde — nicht in Ein-
zelnheiten, ſondern in großen allgemeinen
Zügen — vor uns: Die Geſetze der Ent—
wickelung der Erde und ihres Lebens aus
ihrer allſeitigen Beobachtung und Durch-
dringung abgeleitet. Mag man es immer—
hin noch Theorie nennen; dem Studiren—
den, der mit offnem Aug' und Sinnen um
ſich blickt, iſt es bald keine mehr, oder
doch nicht mehr, als Alles, was wir zu
wiſſen glauben, Hypotheſe und Theorie iſt.
Der erſte Band giebt uns den lebensvollen
Bericht jener Reiſe um die Welt mit dem
Beagle, auf welcher der junge Naturforſcher
die erſten Anſtöße ſeiner neuen Weltauf—
5 Zwölf Bände. Ueberſetzt von J.
Victor Carus. Stuttgart, E. Schweizer—
bart'ſche Buchholg. (Ernſt Koch), 1875 — 78.
Kosmos, Band III. Heft 6.
Literatur und Kritik.
nehmen:
Wenn wir
In zwölf
ſtattlichen Bänden, wie ſie inhaltreicher weder
faſſung empfing, die uns im zweiten Bande
ausgereift vorliegt, während die folgenden
das ungeheure Gedanken-, Beobachtungs- und
Thatſachen-Material nachliefern, worauf ſich
dieſes mächtige Gebäude, wie auf dem
Fundamente der Natur ſelbſt, erhebt. Wir
brauchen hier keine Aufzählung zu unter—
ein Staunen wird es noch in
ſpäten Zeiten erwecken, eine ſolche un—
geheure Zahl wohlgeordneter Beläge und
Nachweiſe bei einander zu finden, wie der
unermüdliche Fleiß und die Arbeitsfreudig—
keit des Verfaſſers bis in ſein hohes Alter
ſie erarbeitet, geſammelt und geſichtet hat,
um den verborgenen Zuſammenhang der
Philoſoph oder Naturforſcher jemals ge |
Dinge daraus abzuleiten. Niemals haben
ſich fruchtbarer Analyſe und Syntheſe er—
gänzt, und was als geniales Apercu auf—
getaucht ſein mag, iſt nachher im harten
Kampfe geſichert worden, durch geduldiges
Beobachten des Viehhofes, durch ſorgſames
Ausſäen und Pflanzen im Garten, durch
eine Correſpondenz, vor welcher allein ſchon
gewöhnliche Geiſter zurückſchrecken würden.
Aber welcher Lohn und Ertrag auch von
dieſer fünfzigjährigen Arbeit! Wohin er
den erleuchtenden Blick gewendet, — in
die Tiefen des Weltmeeres, um das Rüthſel
der Korallenbauten zu ergründen, auf die
Vulkane und den Bau der Erde, auf die
ausgeſtorbenen oder auf die lebenden Thiere,
auf die windenden, kletternden und inſekten⸗
freſſenden Pflanzen, auf ihre Kreuzbefrudt-
ung und Wechſelbeziehung mit den Inſekten,
auf die Naturzweckmäßigkeit oder Natur-
69
Literatur und Kritik.
ſchönheit, auf die Abſtammung des Men—
ſchen oder den Ausdruck ſeiner Gemüths—
bewegungen, überall erkennen wir in ihm
den ſinnenden Weiſen, der in der Erſchein—
ungen Flucht den ruhenden Pol entdeckt
und die geſammte naturforſchende Mitwelt
willig oder widerwillig zwingt, auf ſeinen
Spuren zu wandeln, ja die Sprach- und
Sittenforſcher, Naturforſcher in ihren Fächern
zu werden. Und noch enthält dieſe Aus—
gabe einerſeits nicht Alles, wodurch er die
Wiſſenſchaft gefördert hat, und andererſeits
dürfen wir hoffen, da die Studien über
die inſektenfreſſenden Pflanzen und die Wirk—
ung der Kreuz- und Selbſtbefruchtung erſt
aus den letzten Jahren ſtammen, noch man—
chen Bauſtein zu dem Rieſenwerke dieſer
Weltanſchauung aus ſeiner Hand zu erhal—
ten. In Anerkennung dieſer ſeiner letzten
Werke hat, wie wir eben in den Zeitungen
leſen, die Pariſer Akademie der Wiſſen—
ſchaften Darwin zu ihrem Mitgliede er—
nannt; in Deutſchland iſt ſein Geiſt auch
ohne ſpecielles Diplom überall, wo natur—
forſchende Männer berathen und ſich ver—
ſammeln, mitten unter ihnen. Und wo
ſeine Würdigung noch fehlt, wird dieſe
Geſammtausgabe ſie fördern. Nichts iſt
daran mangelhaft. Allerſeits nachahmungs—
werthe Regiſter in der äußerſten Vollſtän—
digkeit erleichtern das gelegentliche Nach—
ſchlagen, eine vortreffliche Eintheilung und
Gliederung macht die Darſtellung überſicht—
lich. Aber mit nicht minderer Wärme
haben wir auch dem Ueberſetzer und dem
Verleger zu danken, die ihre beſten Kräfte
an eine würdige Wiedergabe geſetzt haben.
Wer je derartige Arbeiten unternommen
hat, der weiß, was zu einer entſprechenden
Uebertragung ſo univerſaler und neuer An—
ſchauungen, für welche die Ausdrucksformen
oft erſt gefunden werden ſollen, gehört.
Welche Selbſtverleugnung und Mühen wer—
den nicht die von ſeinem Fache weit ab—
liegenden botaniſchen und geologiſchen Ar—
beiten vom Prof. Carus verlangt haben!
Es ſind das Opfer, die man nur einem
großen Zwecke bringt. Die buchhändleriſche
Ausſtattung endlich iſt muſtergültig und
gereicht der Firma, zumal wenn man den
billigen Preis bedenkt, zur höchſten Ehre.
So hat ſich denn Alles vereint, um dem
gebildeten Deutſchen keine Entſchuldigung
zu laſſen, wenn er die Arbeiten des großen
Zeitgenoſſen nicht kennen lernt.
Descendenz - Cheorie
und Sorial- Demokratie.
Der unüberlegte Angriff, welchen Vir—
How auf der Münchener Verſammlung
gegen die Freiheit der Wiſſenſchaft und
ihrer Lehre, gegen den Werth von Theorie
und Hypotheſe, gegen die Berechtigung der
Evolutionstheorie im Allgemeinen und gegen.
die Haeckel'ſchen Ausführungen im Be—
ſonderen gethan, beginnt in einer Weiſe
auf ihn zurückzuprallen, daß er ſich von
jenem großen, von ihm ſelbſt ausgeführten
Schlage in der Achtung der Naturforſcher
kaum jemals ſo recht erholen dürfte. Nur
die ultramontane und urtheilsloſe Preſſe hat
ihm zugejauchzt, auf wiſſenſchaftlicher Seite
haben die Meiſten den Kopf geſchüttelt, und
man findet allgemein, daß er leider wieder
einmal ſo unvorbereitet und ununterrichtet wie
gewöhnlich geweſen, indem er Dinge ab—
kanzelte, die ihm völlig fremd find. Nach—
dem ihm die Angegriffenen Zeit zum Nach—
denken und zur Buße gegeben haben, er—
ſcheinen ſie nun am Vormorgen der neuen
Naturforſcher-Verſammlung wie auf Ver—
abredung, um ihm mit Zinſen die Schul—
den zurückzuzahlen, die er vor Jahresfriſt
contrahirt hat. Caſſel ſoll ſühnen, was führung dienende Afterwiſſenſchaft.
Literatur und Kritik.
541
Da
München verbrochen. Da erſcheint Cas— dieſe Anklage in Folge trauriger Berirrun-
pari, um ihm ein Collegium logicum und
ein Privatissimum über Methodologie und
ſynthetiſche Philoſophie zu leſen,“) es folgt
Klebs, der ihn auf ſeinem eigenen Felde
gen leider nicht auf ganz unfruchtbaren
Boden gefallen iſt, ſo wollen wir mit
freundlicher Erlaubniß des Verfaſſers hier
angreift, da droht Oskar Schmidt dem
berühmten Politiker über Social-Demo⸗
kratie Aufklärung zu geben, und endlich
kommt der Haupt- Angegriffene Haeckel
mit einer geharniſchten Abwehr.“) Vir—
chow erfährt hier neben andern wiſſens— |
werthen Dingen, daß die Umwandlungs⸗
lehre keine ſo beweisloſe Hypotheſe iſt, wie
er in München behauptet hat, daß er ſogar
ſelber als einer der lehrreichſten Beweiſe
dafür angeführt werden kann, ſofern er ſich
mit ſeinem ganzen Denken und Empfinden
in das gerade Gegenſtück desjenigen Vir
How verwandelt hat, dem einſt in Würz- |
burg alle Studirenden zujauchzten. Es
wird ihm nachgewieſen, daß er früher
meiſtentheils das Gegentheil von dem be—
haaptet hat, was er jetzt für wahr erklärt,
ſo daß die Metapſychoſe nicht vollſtändiger
ſein kann als ſie iſt. Das, wie Friedrich
von Hellwald “*) damals ſehr richtig be—
tonte, häßlichſte Manöver Virchow's be—
ſtand jedenfalls darin, die Darwin'ſche
Theorie für die Ausſchreitungen der Social—
Demokratie verantwortlich zu machen, ſie
vor aller Welt zu denunciren und an den
Pranger zu ſtellen, als eine zur Volksver—
) Virchow und Haeckel vor dem
Forum der methodologiſchen Forſch—
ung. Augsburg, Lampart u. Co., 1878.
* Freie Wiſſenſchaft und freie
Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolph
Virchow's Münchener Rede.
E. Schweizerbart'ſche Verlagsbuchhandlung
(E. Koch), 1878.
**) Kosmos, Bd. II. S. 180.
Stuttgart,
betreffenden
wiedergeben, was im ſechsten Abſchnitt der
vorſtehend erwähnten Vertheidigungsſchrift
(S. 70 — 78) unter obigem Titel über
dieſen Gegenſtand geſagt wird:
„Jede große und umfaſſende Theorie,
welche die Grundlagen menſchlicher Wiſſen—
ſchaft berührt und ſomit die philoſophiſchen
Syſteme beeinflußt, wird zwar zunächſt nur
die Theorie der Weltanſchauung fördern,
aber weiterhin ſicher auch eine Rückwirkung
auf die praktiſche Philoſophie, die Ethik,
und die damit zuſammenhängenden Gebiete
der Religion und der Politik ausüben.
Welche ſegensreichen Folgen nach meiner Ueber—
zeugung unſere heutige Entwickelungslehre
in dieſer Beziehung nach ſich ziehen wird,
indem die wahre, auf Vernunft gegrün—
dete Naturreligion an die Stelle der
dogmatiſchen Kirchen-Religion tritt, und
deren Grundlage, das menſchliche Pflicht—
gefühl aus den ſocialen Inſtinkten
der Thiere hiſtoriſch ableitet, das hatte ich
in meinem Münchener Vortrage nur kurz
angedeutet (S. 18).
Die Beziehung auf die „ſocialen
Inſtinkte“, die ich gleich Darwin und
vielen Anderen für die eigentlichen Urquellen
der ſittlichen Entwickelung halte, ſcheinen
nun für Virchow Veranlaſſung gegeben
zu haben, in ſeiner Gegenrede die Descen—
denzlehre für eine „ſocialiſtiſche The—
orie“ zu erklären und ihr ſomit den ge—
fährlichſten und verwerflichſten Charakter
beizulegen, den gerade in der Gegenwart
eine politiſche Theorie haben kann. Die
| erſtaunlichen Denunciationen
haben übrigens gleich nach ihrem Bekannt—
ich hier füglich darüber hinweggehen könnte.
Doch wollen wir fie wenigſtens inſoweit
kurz beleuchten, als ſie einen neuen Beweis
dafür liefern, daß Virchow mit den wich—
tigſten Grundſätzen der heutigen Entwidel-
ungslehre unbekannt und daher zu ihrer |
Beurtheilung incompetent ift. Uebrigens |
legte Virchow als Politiker offenbar gerade
predigt überaus deutlich, daß die ſocia—
auf dieſe politiſche Nutzanwendung ſeiner
Rede beſonderes Gewicht, indem er ihr den
ſonſt wenig paſſenden Titel gab: „Die
Freiheit der Wiſſenſchaft im mo—
dernen Staate.“ Leider hat er nur ver—
geſſen, dieſem Titel die zwei Worte hinzuzu—
fügen, in denen die eigentliche Tendenz ſeines
Vortrags gipfelt, die zwei inhaltsſchweren
Worte: „muß aufhören“!
Die überraſchenden Enthüllungen, in
denen Virchow die heutige Entwickelungs—
lehre, und ſpeciell die Abſtammungslehre,
als gemeingefährliche ſocialiſtiſche Theorien
denuncirt, lauten folgendermaßen: „Nun
ſtellen Sie ſich einmal vor, wie ſich die
eines Socialiſten darſtellt! Ja, meine
Herren, das mag Manchem lächerlich er-
ſcheinen, aber es iſt ſehr ernſt, und ich
will hoffen, daß die Descendenz-Theorie für
uns nicht alle die Schrecken bringen möge,
die ähnliche Theorien wirklich im Nachbar—
lande angerichtet haben. Immerhin hat auch
dieſe Theorie, wenn ſie conſequent durch—
liche Seite, und daß der Socialismus
mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird Ihnen
hoffentlich nicht entgangen ſein. Wir müſſen
uns das ganz klar machen!“
Erſtaunt frage ich mich beim Leſen dieſer
Sätze, die der Berliner „Kreuzzeitung“
oder dem Wiener „Vaterland“ entnommen
Literatur und Kritik.
werden ſolche gerechte Entrüſtung und ſo zu ſein ſcheinen: Was in aller Welt hat
eingehende Widerlegung hervorgerufen, daß
die Descendenz- Theorie mit dem Socialis—
mus zu thun? Schon vielfach, von verſchie—
denen Seiten und ſeit langer Zeit iſt darauf
hingewieſen worden, daß dieſe beiden The—
orien ſich vertragen wie Feuer und Waſſer.
Mit Recht konnte Oscar Schmidt ent—
gegnen: „Wenn die Soctaliften klar denken
würden, ſo müßten ſie Alles thun, um die
Descendenzlehre zu verheimlichen, denn fie,
liſtiſchen Ideen unausführbar ſind.“
Und er fügt weiter hinzu: „Aber warum
hat Virchow nicht die milden Lehren des
Chriſtenthums für die Ausſchreitungen
des Socialismus verantwortlich gemacht?
Das hätte noch einen Sinn! Seine in's
große Publicum geworfene Denunciation,
ſo myſteriös, ſo zuverſichtlich, als handelte
es ſich um „eine ſicher beglaubigte wiſſen—
ſchaftliche Wahrheit“, und doch ſo hohl,
vermag ich mit der Würde der Wiſſenſchaft
nicht in Einklang zu bringen.“
Bei dieſen leeren Beſchuldigungen wie
bei allen den hohlen Vorwürfen und grund—
Descendenz-Theorie heute ſchon im Kopfe
loſen Einwendungen, welche Virchow der
Entwickelungslehre macht, hütet er ſich wohl,
irgendwie auf den Kern der Sache einzu—
gehen. Wie wäre das auch möglich, ohne
zu ganz entgegengeſetzten, als zu den von
ihm proclamirten Conſequenzen zu gelangen?
Deutlicher als jede andere wiſſenſchaftliche
Theorie predigt gerade die Descendenz-The—
orie, daß die vom Socialismus erſtrebte
geführt wird, eine ungemein bedenk⸗
Gleichheit der Individuen eine Unmöglichkeit
iſt, daß ſie mit der thatſächlich überall be—
ſtehenden und nothwendigen Ungleichheit der
Individuen in unlöslichem Widerſpruch ſteht.
Der Socialismus fordert für alle
Staatsbürger gleiche Rechte, gleiche Pflichten,
gleiche Güter, gleiche Genüſſe; die Des—
cendenz-Theorie gerade umgekehrt be—
Literatur und Kritik.
weiſt, daß die Verwirklichung dieſer Forderung
eine baare Unmöglichkeit iſt, daß in den
ſtaatlichen Organiſatious-Verbänden der
Menfchen, wie der Thiere, weder die Rechte
und Pflichten, noch die Güter und Genüſſe
aller Staatsglieder jemals gleich ſein werden,
noch jemals gleich ſein können. Das große
Geſetz der Sonderung oder Differen—
zirung lehrt ebenſo in der allgemeinen
Eutwickelungs-Theorie, wie in deren bio—
logiſchem Theile, der Descendenz Theorie,
daß die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen
aus der urſprünglichen Einheit, die Ver—
ſchiedenartigkeit der Leiſtungen aus der ur—
ſprünglichen Gleichheit, die zuſammengeſetzte
Organiſation aus der urſprünglichen Ein—
fachheit ſich entwickelt. Die Eriftenz-Be-
dingungen ſind für alle Individuen von
Anfang ihrer Exiſtenz an ungleiche, ſogar
auch die ererblen Eigenſchaften, die „An—
lagen“, ſind mehr oder minder ungleich,
wie können da die Lebens-Aufgaben und
höher das Staatsleben entwickelt iſt, deſto
mehr tritt das große Princip der Arbeits
theilung in den Vordergrund, deſto mehr
verlangt der Beſtand des ganzen Staats,
daß ſeine Glieder ſich in die mannigfaltigen
Aufgaben des Lebens vielfach theilen; und
wie die von den Einzelnen zu leiſtende
Arbeit und der damit verbundene Auf—
wand von Kraft, Geſchick, Vermögen u. ſ. w.
verſchieden ſein.
Das ſind ſo einfache und
Politiker ſollte die Descendenz-Theorie, wie
z. Th
überhaupt die Entwickelungslehre, als beſtes
Gegengift gegen den bodenloſen Widerſinn
der ſocialiſtiſchen Gleichmacherei empfehlen!
Selektions-Theorie, den Virchow bei ſeiner
Denunciation wohl eigentlich mehr im Auge
gehabt hat, als den ſtets damit verwechſelten
Transformismus, die Descendenz Theorie!
Der Darwinismus iſt alles Andere eher
als ſocialiſtiſch! Will man dieſer engliſchen
Theorie eine beſtimmte politiſche Tendenz
beimeſſen, — was allerdings möglich iſt —,
jo kann dieſe Tendenz nur eine ariſto—
kratiſche ſein, durchaus keine demokratiſche,
und am wenigſten eine ſocialiſtiſche! Die
Selektions-Theorie lehrt, daß im Menſchen—
Leben wie im Thier- und Pflanzen- Leben
überall und jederzeit nur eine kleine bevor—
zugte Minderzahl exiſtiren und blühen kanu;
während die übergroße Mehrzahl darbt und
mehr oder minder frühzeitig elend zu Grunde
geht. Zahllos ſind die Keime jeder Thier—
und Pflanzen-Art, und die jungen Indi—
viduen, die aus dieſen Keimen hervorgehen.
Unverhältnißmäßig gering iſt dagegen die
Zahl der glücklichen Individuen unter jenen,
deren Ergebniſſe überall gleiche ſein? Je
die ſich bis zur vollen Reife entwickeln und
ihr erſtrebtes Lebensziel wirklich erreichen. Der
grauſame und ſchonungsloſe „Kampf
um's Daſein“, der überall in der
lebendigen Natur wüthet und naturgemäß
wüthen muß, dieſe unaufhörliche und un—
erbittliche Concurrenz alles Lebendigen,
iſt eine unleugbare Thatſache; nur die aus-
erleſene Minderzahl der bevorzugten Tüch—
tigen iſt im Stande, dieſe Concurrenz glück—
höchſt verſchiedenartig iſt, jo muß natur-
gemäß auch der Lohn dieſer Arbeit höchſt
lich zu beſtehen, während die große Mehrzahl
der Concurrenten nothwendig elend verderben
muß! Man kann dieſe tragiſche Thatſache
handgreifliche Thatſachen, daß man meinen
ſollte, jeder vernünftige und vorurtheilsfreie
tief beklagen, aber man kann ſie weder weg—
leugnen noch ändern. Alle ſind berufen,
aber Wenige ſind auserwählt! Die Se—
lektion, die „Ausleſe“ dieſer „Auserwähl—
ten“, iſt eben nothwendig mit dem Ver—
kümmern und Untergang der übrig bleibenden
Vollends der Darwinismus, die
Mehrzahl verknüpft. Ein anderer engliſcher
544
Forſcher bezeichnet daher auch den Kern des
Darwinismus geradezu als das „Ueber—
leben des Paſſendſten“, als den
„Sieg des Beſten“. Jedenfalls iſt dieſes
Selektions-Princip nichts weniger als demo
kratiſch, ſondern im Gegentheil ariſtokra—
tiſch im eigentlichſten Sinne des Worts!
Wenn daher der Darwinismus nach Vir—
cho w, conſequent durchgeführt, für den
Politiker eine „ungemein bedenkliche Seite“
hat, ſo kann dieſe nur darin gefunden werden,
daß er ariſtokratiſchen Beſtrebungen Vor—
ſchub leiſtet. Wie aber der heutige Socialis—
mus an dieſen Beſtrebungen ſeine Freude
haben ſoll, und wie die Schrecken der Pa—
riſer Commune darauf zurückzuführen ſind,
das iſt mir offen geſtanden, abſolut unbe—
greiflich!
Uebrigens möchten wir bei dieſer Ge—
legenheit nicht unterlaſſen darauf hinzu—
weiſen, wie gefährlich eine derartige unmit—
telbare Uebertragung naturwiſſenſchaftlicher
Theorien auf das Gebiet der praktiſchen
Politik iſt. Die höchſt verwickelten Ver—
hältniſſe unſeres heutigen Culturlebens erfor—
dern von dem praktiſchen Politiker eine fo
umſichtige und unbefangene Berückſichtigung,
eine ſo gründliche, hiſtoriſche Vorbildung und
kritiſche Vergleichung, daß derſelbe immer
nur mit größter Vorſicht und Zurückhaltung
eine derartige Nutzanwendung eines „Natur—
geſetzes“ auf die Praxis des Culturlebens
wagen wird. Wie iſt es nun möglich, daß
Virchow, der erfahrene und gewiegte
Politiker, der ſelbſt überall Vorſicht und
Zurückhaltung in der Theorie predigt, mit
einem Male eine ſolche Anwendung vom
Transformismus und Darwinismus macht,
eine ſo grundverkehrte Anwendung, daß ſie
den eigentlichen Grundgedanken dieſer Lehren
geradezu in's Geſicht ſchlägt?
Ich ſelbſt bin nichts weniger als Poli—
Literatur und Kritik.
tiker. Mir fehlt dazu, im Gegenſatze zu
Virchow, ebenſo das Talent und die Vor—
bildung, wie die Neigung und der Beruf.
Ich werde daher weder in Zukunft eine
politiſche Rolle ſpielen, noch habe ich früher
jemals einen Verſuch dazu gemacht. Wenn
ich hier und da gelegentlich eine politiſche
Aeußerung gethan oder eine politiſche Nutz—
anwendung naturwiſſenſchaftlicher Theorien
gegeben habe, ſo haben dieſe ſubjektiven
Meinungen keinen objektiven Werth. Im
Grunde genommen habe ich damit ebenſo
das Gebiet meiner Competenz überſchritten,
wie Virchow, wenn er ſich auf zoologi—
ſche Fragen und namentlich auf den Trans—
formismus der Affen einläßt. Ich bin in
der politiſchen Praxis ebenſo Laie, wie Vir—
chow im Gebiete der zoologiſchen Theorie.
Uebrigens machen mich auch die Erfolge,
welche Virchow während ſeiner zwanzig—
jährigen mühſeligen, unerquicklichen und
aufreibenden Thätigkeit als Politiker erzielt
hat, wahrlich nach ſolchen Lorbeeren nicht
lüſtern!
Das aber darf ich als theoretischer
Naturforſcher von den praktiſchen Politikern
wohl verlangen, daß ſie bei politiſcher Ver—
werthung unſerer Theorien ſich zuvor mit
denſelben genau bekannt machen. Sie werden
es dann in Zukunft wohl unterlaſſen, gerade
das Gegentheil von demjenigen daraus zu
ſchließen, was vernunftgemäß daraus er—
ſchloſſen werden muß. Mißverſtändniſſe
werden niemals dabei ganz ausbleiben: aber
welche Lehre iſt denn überhaupt vor „Miß—
verſtändniſſen“ ſicher? Und aus welcher
geſunden und wahren Theorie können nicht
die ungeſundeſten und wahnwitzigſten Fol—
gerungen abgeleitet werden?
Wie wenig Theorie und Praxis im
Menſchenleben übereinſtimmen, wie wenig
gerade die berufenen Vertreter herrſchender
u
Lehren ſich befleißigen, die natürlichen
Folgen derſelben für das praktiſche Leben
zu ziehen, das zeigt vielleicht Nichts ſo auf—
fallend, als die Geſchichte des Chriſten—
thums. Sicher enthält die chriſtliche Reli—
gion, ebenſo wie die buddhiſtiſche, von allem
dogmatiſchen Fabelkram entkleidet, einen
vortrefflichen humanen Kern: und gerade
jener humane, im beſten Sinne „ſocial—
demokratiſche“ Theil der chriſtlichen
Lehren, der die Gleichheit aller Menſchen
vor Gott predigt, das „Liebe deinen Nächſten
als dich ſelbſt“, überhaupt die „Liebe“ im
edelſten Sinne, das Mitgefühl mit den
Armen und Elenden u. ſ. w., gerade dieſe
wahrhaft humanen Seiten der Chriſtenlehre
ſind ſo naturgemäß, ſo edel, ſo rein, daß wir
ſie unbedenklich auch in die Sittenlehre
unſerer moniſtiſchen Naturreligion aufneh—
men. Ja die „ſocialen Inſtincte“
der höhern Thiere, auf welche wir letztere
gründen (3. B. das bewunderungswürdige
Pflichtgefühl der Ameiſen u. ſ. w.),
ſind in dieſem beſten Sinne geradezu
„chriſtlich“! *
Und was, fragen wir, was haben nun
die berufenen Vertreter, ihre „gottgelehrten“
Prieſter aus dieſer „Religion der Liebe“
gemacht? Mit blutigen Lettern ſteht es
ſeit 1800 Jahren in der Culturgeſchichte
der Menſchheit eingeſchrieben! Alles was
ſonſt noch verſchiedene Kirchen-Religionen
für gewaltſame Ausbreitung ihrer Lehren und
für Ausrottung der andersgläubigen Ketzer
geleiſtet haben, Alles was die Juden gegen
die Heiden, die römiſchen Kaiſer gegen die
Chriſten, Muhamedaner gegen Chriſten- und
Judenthum verbrochen haben, Alles das
wird übertroffen durch die Hekatomben von
Menſchen-Opfern, welche das Chriſtenthum
für die Verbreitung ſeiner Lehre gefor—
dert hat! Und zwar Chriſten gegen Chriſten!
Literatur und Kritik.
545
Rechtgläubige Chriſten gegen nichtrechtgläu—
bige Chriſten! Man denke nur an die
Inquiſition im Mittelalter, an die
unerhörten und unmenſchlichen Grauſamkei—
ten, welche die „allerchriſtlichſten Kö—
nige“ in Spanien, ihre werthen Collegen
in Frankreich, in Italien u. ſ. w. begingen.
Hunderttauſende ſtarben damals den grau—
ſamſten Flammentod, blos weil ſie ihre
Vernunft nicht unter das Joch des kraſſeſten
Aberglaubens beugten, und weil ihre pflicht—
treue Ueberzeugung ihnen verbot, die klar
erkannte natürliche Wahrheit zu verleug—
nen! Keine ſcheußliche, niederträchtige und
unmenſchliche Handlung giebt es, die damals
und bis heute nicht im Namen und auf
Rechnung des „wahren Chriſtenthums“ be—
gangen wurde!
Und wie ſteht es vollends mit der
Moral der Prieſter, die ſich als
Diener von Gottes Wort ausgeben und
die doch zunächſt die Pflicht Hätten, in ihren
eigenen Leben die Heilslehren des Chriften-
thums zu bethätigen? Die lange, ununter—
brochene und grauenvolle Kette von Ver—
brechen aller Art, welche die Geſchichte der
römiſchen Päpſte bezeichnen, giebt darauf die
beſte Antwort. Und wie dieſe „Stellver—
treter Gottes auf Erden“, ſo haben anch
ihre untergeordneten Helfer und Helfershelfer,
ſo haben auch die „rechtgläubigen“ Prieſter
anderer Confeſſionen nicht ermangelt, die
Praxis ihres eigenen Lebenswandels in
möglichſt ſchroffen Contraſt zu den edlen
Lehren der chriſtlichen Liebe zu ſetzen, die
ſie beſtändig im Munde führen!
Wie mit dem Chriſtenthum, ſo geht's
aber auch mit allen andern Religionslehren
und Sittenlehren, ſo geht es mit allen
Lehren, die in dem weiten Gebiete der prak—
tiſchen Philoſophie, in der Erziehung der
Jugend, in der Bildung des Volkes ihre
546
Kraft bewähren ſollen. Der theoretiſche Kern
dieſer Lehren kann ſtets und überall, der
widerſpruchsvollen Natur des Menſchen
entſprechend, mit feiner praktiſchen Ausbeu—
geht das alles aber den wiſſenſchaftlichen
Forſcher an? Dieſer hat einzig und allein
die Aufgabe, nach Wahrheit zu forſchen,
und das, was er als Wahrheit erkannt hat,
zu lehren, unbekümmert darum, welche
Folgerungen etwa die verſchiedenen Parteien
in Staat und Kirche daraus ziehen mögen!“
Dr. Arnold Dodel-Port und Ca—
rolina Dodel-Port, Anatomiſch—
phyſiologiſcher Atlas der Bo—
tanik für Hoch⸗ und Mittel⸗
ſchulen. In 42 colorirten Wandtafeln
nebſt Text in deutſcher, franzöſiſcher und
engliſcher Sprache, ſowie 18 Supplement—
Blättern für den akademiſchen Unterricht.
Erſcheint in 10 Lieferungen von je
6 Tafeln und deren Beſchreibung. Größe
der einzelnen Tafeln 69: 90 Centimtr.
Preis der Lieferung 15 Mark.
Wer jemals bei ſeinem botaniſchen Un—
terrichte die prächtigen Kny'ſchen Wand—
tafeln gebraucht hat, wird gewiß den leb—
haften Wunſch empfunden haben, es möchten
ihm derartige Tafeln recht bald in hinläng—
lich reicher Auswahl zur Verfügung ſtehen.
Dieſer Wunſch würde aber ohne Zweifel
Literatur und Kritik.
noch lange Jahre hindurch ein ſogenannter
frommer bleiben müſſen, wenn die Herſtell—
ung einer einzigen, wenn auch der fleißig—
| ſten und tüchtigſten, Arbeitskraft aufgebürdet
. pin arellſtem Wiederſpruch ſtehen. Was
bließe. Wir werden deshalb jeden neuen
and ſch-phyſiologiſchen Atlas der Botanik
wil men heißen, wenn er für den Unter-
richt wichtige Gegenſtände, welche in den
bereits vorhandenen Atlanten noch nicht
enthalten ſind, richtig und einem größeren
Publikum deutlich erkennbar darſtellt.
Den Dodel-Port'ſchen Atlas, von
welchem die erſten ſechs Blätter jetzt vorliegen,
begrüßen wir um ſo mehr mit Freude und
Dank, als dieſe Blätter nicht nur den ge—
nannten Anforderungen genügen, ſondern
auch durch Gruppirung und künſtleriſche
Vollendung den vortheilhafteſten Eindruck
machen. Die Abbildungen des Blattes
unſerer inſektenfreſſenden Drosera rotundi-
folia und der von Xylocopa violacea be⸗
ſuchten Blume von Salvia Sclarea ſind . .
wahre Meiſterwerke, welche die Befähigung
der Herausgeber für derartige Darjtellun-
gen in das glänzendſte Licht ſtellen. Auch
die Copien fremder Abbildungen, wie z. B.
der geſchlechtlichen Fortpflanzung von Volvox,
nach Cohn, ſind in Correktheit und co—
loriſtiſcher Ausführung vortrefflich. Der
mit Literaturnachweiſen verſehene erläuternde
Text läßt nichts zu wünſchen übrig.
Lippſtadt.
Hermann Müller.
Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.
N
4
I
EN
Wo
N W N .
. 2 * 1
5 „ *
N *
nn
3 9088 00876 3823